Die Ausstellung als Drama: Wie das Museum aus dem Theater entstand [1. Aufl.] 9783839416006

Die Ausstellung zählt zu den erfolgreichsten Medien der Gegenwart. Was aber ist eine Ausstellung? Mit den Werkzeugen der

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Die Ausstellung als Drama: Wie das Museum aus dem Theater entstand [1. Aufl.]
 9783839416006

Table of contents :
Inhalt
1. Dank
2. Einleitung
3. Wenn Handschuhe sprechen Wege zur Ausstellungsdramaturgie
3.1 Das Drama
3.2 Die Ausstellung als Drama
4. Die Geburt der Ausstellung aus dem Geiste des Theaters? Zur theatralischen Frühgeschichte der Ausstellung (1530-1750)
4.1 Die Erfindung der Ausstellung durch die Öffentlichkeit
4.2 Das Theater als Schule für Besucher
4.3 Gottfried Wilhelm Leibniz und das barocke Ausstellungstheater
4.4 Giulio Camillos Gedächtnistheater
4.5 Die Sammlungsdramaturgie Samuel Quicchebergs
5. Dramaturgie der Ausstellung
5.1 Der Besucher und die Handlung
5.2 Das Ding als Charakter
5.3 Der Raum, die Bühne und die performative Spirale
5.4 Das Ich, die Kuratoren und ihre Ausstellungsdramen
6. Nachwort
7. Literatur

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Werner Hanak-Lettner Die Ausstellung als Drama

Natalie gewidmet

Werner Hanak-Lettner (Dr. phil.) ist Kurator am Jüdischen Museum Wien. Lehraufträge zur »Dramaturgie der Ausstellung« sowohl an der Universität Wien als auch am Bard Graduate Center, New York.

Werner Hanak-Lettner

Die Ausstellung als Drama Wie das Museum aus dem Theater entstand

Gedruckt mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Der vorliegenden Publikation liegt die 2008 an der PhilologischKulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien approbierte Dissertation »Dramaturgie der Ausstellung. Über das Spiel zwischen Menschen und Dingen« zugrunde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Ausstellung »quasi una fantasia. Juden und die Musikstadt Wien«, Jüdisches Museum Wien und Wiener Festwochen, 2003; Foto: Christian Prasser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1600-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Dank | 7 2. Einleitung | 9 3. Wenn Handschuhe sprechen Wege zur Ausstellungsdramaturgie | 13 3.1 Das Drama | 15 3.2 Die Ausstellung als Drama | 17 4. Die Geburt der Ausstellung aus dem Geiste des Theaters? Zur theatralischen Frühgeschichte der Ausstellung (1530-1750) | 33 4.1 Die Erfindung der Ausstellung durch die Öffentlichkeit | 35 4.2 Das Theater als Schule für Besucher | 45

4.3 Gottfried Wilhelm Leibniz und das barocke Ausstellungstheater | 57 4.4 Giulio Camillos Gedächtnistheater | 70 4.5 Die Sammlungsdramaturgie Samuel Quicchebergs | 84 5. Dramaturgie der Ausstellung | 103

5.1 5.2 5.3 5.4

Der Besucher und die Handlung | 104 Das Ding als Charakter | 139 Der Raum, die Bühne und die performative Spirale | 161 Das Ich, die Kuratoren und ihre Ausstellungsdramen | 204

6. Nachwort | 233 7. Literatur | 235

1. Dank

Viele Personen und Institutionen haben mich bei diesem Projekt unterstützt. Mein erster Dank geht an das Institut für Theater-, Film-, und Medienwissenschaft der Universität Wien, wo ich 2002 meine erste Lehrveranstaltung zum Thema hielt und wo die Dissertation Dramaturgie der Ausstellung. Über das Spiel zwischen Menschen und Dingen, die diesem Buch zugrunde liegt, 2008 approbiert wurde. Besonders danke ich meiner Betreuerin Hilde Haider-Pregler für die zahlreichen Gespräche, Hinweise und ihren Glauben an das Projekt sowie meinem Zweitgutachter Peter Weibel, Professor an der Universität für angewandte Kunst in Wien und Direktor des ZKM in Karlsruhe, für seine kuratorisch-wissenschaftliche Kritik. Ein wichtiger Teil der Arbeit entstand 2004 während meines Lehr- und Forschungssemesters als Fulbright Visiting Scholar am Bard Graduate Center in New York City, das neben der Fulbright Kommission vor allem Leon Botstein und Susan Weber Soros ermöglicht haben. Ihnen allen gilt mein Dank, ebenso dem transcript Verlag in Bielefeld wie auch der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, die die Produktion des Buches mit einem Druckkostenbeitrag unterstützt hat. Danken möchte ich auch dem Jüdischen Museum Wien und seinem Team, dem ich seit 1994 als Kurator angehöre. Das Buch ist nicht zuletzt eine Reflexion über die täglichen kuratorischen Herausforderungen und hätte ohne dieses spannende Umfeld nicht in dieser Weise entstehen können. Großer Dank gebührt meiner Frau Natalie Lettner, die mich in unzähligen Diskussionen mit zahlreichen Hin- und Querverweisen zur Kulturgeschichte konfrontierte und versorgte. Bedanken möchte ich mich auch bei meinen Eltern Ilse und Julius Hanak für die Unterstützung beim Lektorat. Für Diskussionen, Rat und Tat danke ich Michael Freund, Harald Gössinger, Rosina Huth, Norman Kleeblatt, Arnulf Knafl, Wolfgang Kos, Herbert Lachmayer, Christian Prasser, Ulrike Spring, Fred Wasserman, Katharina Wessely und Mechtild Widrich. Ein abschließender Dank geht an Gerda Lerner für ihre konstruktive Kritik am Manuskript und die Hinweise aus ihrem erfahrungs- und publikationsreichen Leben.

2. Einleitung

Dieses Buch wagt einen neuen Blick auf das Medium Ausstellung und seine Dramaturgie. Der zugrundeliegende Denkprozess geht von dem Verdacht aus, dass Drama und Theater sowie Ausstellung und Museum nicht nur gegenwärtig, sondern auch im Laufe der gesamten europäischen Neuzeit mehr Berührungspunkte und Parallelen aufweisen, als uns gemeinhin bewusst sind. Dabei handelt das Buch weniger von der oberflächlichen Erscheinung und Gestaltung der Ausstellungen, nicht von theaterhaften Inszenierungen, sondern vielmehr von der Ausstellungen generell zugrunde liegenden Erzählstruktur, die sich auf der Bühne des Ausstellungsraums als Drama zwischen den Besuchern und den ausgestellten Dingen entfaltet. Gegenstände der Untersuchung sind in erster Linie die am Ausstellungsdrama Beteiligten: die BesucherInnen, die in der Ausstellung die Handlung individuell vorantreiben; die Dinge, die in ihrer Ambivalenz zu hintergründigen Akteuren werden; die KuratorInnen, die in ihrer mächtigen Machtlosigkeit zwar ein Narrativ anbieten, die Letztfassung der Ausstellungserzählung aber den BesucherInnen überlassen müssen. Parallel dazu zeige ich in einem historischen Teil, dass diese Struktur nicht im luftleeren Raum entstanden ist. Vier Beispiele aus dem 16. bis 18. Jahrhundert, die in diesem Zusammenhang bisher zu wenig Beachtung fanden, lassen die gemeinsamen Wurzeln von Theater und Museum erkennen und demonstrieren die Entstehung der Ausstellung aus dem Geiste des Theaters: Giulio Camillos Gedächtnistheater (Paris 1530) und Samuel Quicchebergs Umfangreichstes Theater (München 1565) orientieren sich als frühe Formen der Kunst- und Wunderkammern sowohl architektonisch als auch dramaturgisch an der Idee des antiken römischen Theaters. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Konzept für ein Theater der Natur und Kunst (Paris 1675) sowie die parallel dazu entstehenden Pariser Akademieausstellungen verdeutlichen wiederum, wie sehr auch das barocke Theater auf das Medium Ausstellung Einfluss genommen hat und sämtliche Pariser Theaterformen zur Publikumsschule für die Ausstellungs- und Museumsbesucher wurden. Die Perspektive, die ich mit Die Ausstellung als Drama eröffne, ermöglicht einen Blick auf ein Medium, dass sich im 20. Jahrhundert über weite Strecken weniger in Analogie, sondern vielmehr in Abgrenzung zu Theater

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und Film begriffen und definiert hat. Ähnlich wie in der Kunst der Moderne, die das Theater zuerst zur „verbotenen Zone“1 erklärt hat und nun Gemeinsamkeiten wiederentdeckt, mehren sich im Ausstellungs- und Museumsdiskurs Anzeichen, Gedankenspiele und Modelle, die die tieferliegenden Zusammenhänge zwischen den dramatischen Künsten und der Ausstellung entdecken, ernstnehmen und nützen wollen. Nathalie Heinich und Michael Pollak analysieren beispielsweise 1988 anlässlich der im Centre Pompidou gezeigten Schau Vienne à Paris2 die neuen Produktionsbedingungen von Ausstellungen und setzen sie mit der klassischen Spielfilmproduktion in Beziehung. Gottfried Korff und Martin Roth bezeichnen das historische Museum 1990 nicht nur als Labor und Identitätsfabrik, sondern auch als Schaubühne.3 Siegfried Mattl fragt sich 1992, ob „Ausstellungen vielleicht ein logisches Abfallprodukt des Films“4 sind, da sich beide Medien der Montage bedienen. Barbara KirshenblattGimblett stellt 1998 fest: „Exhibitions are fundamentally theatrical, for they are how museums perform the knowledge they create.“5 Und Karl-Josef Pazzini vergleicht 1999 in seiner Studie zu Museum und Psychoanalyse ersteres mit einer Unschuldskomödie.6 All diesen Texten ist gemein, dass ihre AutorInnen vereinzelt oder auch öfter den Vergleich zwischen Ausstellung/Museum und Theater/Film suchen, die Analogien und deren Hintergründe aber nicht zum Hauptthema ihrer Fragestellungen machen. Texte, die die Ausstellung konsequent im Theater, im Film oder in deren Techniken spiegeln und dabei über kurze Analysen der praktischen Museumsarbeit hinausgehen, sind rar. Zu ihnen zählen der 1995 in der skandinavischen Zeitschrift Nordisk Museologie erschienene Aufsatz The Exhibition as Theatre – On the Staging of Museum

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Vgl. Wood, Catherine (2007): Art Meets Theatre: The Middle Zone. In: Morgan, Jessica/Wood, Catherine. The World as a Stage. London, S. 18-25, S. 18. Heinich, Nathalie/Pollak, Michael (2002): From Museum Curator to Exhibition Auteur. Inventing a Singular Position. In: Greenberg, Reesa/Ferguson, Bruce W./Nairne, Sandy (Hg.): Thinking about Exhibitions. London, New York, S. 231-250. Korff, Gottfried/ Roth, Martin (Hg.) (1990): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik. Frankfurt, New York. Mattl, Siegfried (1992), Ausstellungen als Lektüre. In: Fliedl, Gottfried/Muttenthaler, Roswitha/Posch, Herbert (Hg.): Erzählen, Erinnern, Veranschaulichen. Theoretisches zur Museums- und Ausstellungskommunikation, Museum zum Quadrat, Bd. 3., Wien, S. 41-54. Kirshenblatt-Gimblett, Barbara (1998): Destination Culture: Tourism, Museum, and Heritage. Berkeley, Los Angeles, London, S. 3. Pazzini, Karl-Josef (Hg.) (1999): Unschuldskomödien. Museum und Psychoanalyse. Museum zum Quadrat, Band 10. Wien, S. 150.

E INLEITUNG

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Objects von Marc Maure7 und Heide Hageböllings Beitrag Interaktive Dramaturgien – Mediale Strategien in der Ausstellungs- und Museumsgestaltung. Nicht zufällig kam der zweitgenannte Beitrag im Rahmen eines Symposiums zur Szenografie zustande (Dortmund 2000), ist die Szenografie doch sowohl im Theater als auch im Ausstellungsraum zu Hause.8 Weitere wichtige Beiträge zum Thema stammen von Künstlern, die gleichzeitig kuratorisch bzw. kulturwissenschaftlich tätig sind. Dan Graham verknüpft 1989 den Garten mit dem Theater und dem Museum und hält seine Gedanken in dem Artikel Garden as Theater as Museum9 fest. Der Filme- und Ausstellungsmacher Peter Greenaway beschreibt 1993 die zeitgenössische Ausstellung als „a form of three-dimensional cinema with stimulus for all five senses where the viewer is not passively seated, can create his or her own time-frame of attention […]“10. Medienkünstler und –theoretiker Peter Weibel versucht 2004 mit seiner Ausstellung B-Picture, die er wie einen Film produziert, „in obskure Ideen der Autorenschaft das Licht der Transparenz zu bringen und Mythen bzw. Monster der Moderne zu kalibrieren“11. Weibels „Ausstellungsfilm-Ausstellung“ von 2004 ist paradigmatisch für die Fortsetzung und Steigerung des Trends im 21. Jahrhundert, Gemeinsamkeiten zwischen Ausstellungen und dramatischen Medien zu thematisieren und analysieren. Bemerkenswert ist auch die gegenwärtige Verbreiterung der theoretischen Diskussion. Martin R. Schärer schließt 2003 den theoretischen Teil seiner Studie Die Ausstellung. Theorie und Exempel mit der Beobachtung, dass das „semiotische Bedeutungssystem ‚Ausstellung‘ dem Theater am meisten verwandt“12 sei. Alexander Klein erweitert 2004 in seinem Buch Expositum. Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit die Diskussion um die historische Dimension und weist auf die Bühnenhaftigkeit der Kunst- und Wunderkammern hin, „manchmal in Form eines Theaters, auf dessen Bühnen sich der Interessierte begeben musste, um die ge-

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Maure, Marc (1995): The Exhibition as Theatre – On the Staging of Museum Objects. In: Nordisk Museologie, Nr. 2, S. 155-168, S. 163. 8 Der Text ist abgedruckt in: Szenografie in Ausstellungen und Museen (2004), Essen. 9 Graham, Dan (1989): Garden as Theater as Museum. In: Theatergarden bestiarium. Ausstellungskatalog PS 1. New York, Cambridge/Mass., London, S. 87. 10 Greenaway, Peter (1993): Some Organizing Principles. Swansea. Zit. nach: David Pascoe (1997): Peter Greenaway. Museums and Moving Images. London, S. 198. 11 Weibel, Peter (2003): Pressetext zur Ausstellung B-Picture. Die Ausstellung fand vom 22.11.2003 – 04.01.2004 im Künstlerhaus Palais Thurn und Taxis in Bregenz statt. 12 Schärer, Martin R. (2003): Die Ausstellung. Theorie und Exempel. München, S. 138.

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sammelten Schätze anzuschauen.“13 Auf die Ausstellung als Bühne bezieht sich auch Herbert Lachmayer in seinen Konzepten vom Inszenierten Wissensraum und von Knowledge on Stage.14 Und schließlich bezeichnet Paolo Bianchi in seiner Einleitung zum Juni/2007-Band von Kunstforum International unter dem Titel Das Neue Ausstellen die Ausstellung als „experimentelle Probebühne“.15 Die vorliegende Arbeit ist über weite Strecken von assoziativem Charakter. Von Beginn an recherchierte ich auch in Feldern, die an der Ausstellung beteiligt oder mit dieser verwandt sind, u.a. in Architektur, Stadtplanung, Park- und Spielplatzgestaltung, Designgeschichte, Werbung, Marketing, Kirchenbau, Wahrnehmungstheorie etc. Dabei haben mich aber nicht nur die kulturwissenschaftliche Literatur, sondern auch Erzählungen und Romane, die Ausstellungs- und Museumsbesuche thematisieren oder dramaturgische Gedankenspiele verfolgen, mit zahlreichen inspirierenden Hinweisen versorgt. Im Mittelpunkt steht jedoch der Ansatz, die Ausstellung im Spiegel der Theatergeschichte und der Dramentheorie näher zu beleuchten. Ziel ist ein neues und nützliches Erkenntnismodell für das Medium Ausstellung – sowohl in seiner kulturhistorischen, gesellschaftspolitischen und kunsthistorischen Form – das seine medialen Charakteristiken und Möglichkeiten hinterfragen und erkennen lässt.

13 Klein, Alexander (2004): Expositum. Zum Verhältnis von Ausstellung und Wirklichkeit. Bielefeld, S. 34. Klein bezieht sich u.a. auf: Hildegard Vieregg (1994): Fürstliche Wunderkammern und frühe Museen. Konzeption und pädagogische Dimension. In: Vieregg/Schmeer-Strum u.a. (Hg.): Museumspädagogik in neuer Sicht, Erwachsenenbildung im Museum, Hohengehren. 14 Lachmayer, Herbert (2006): Zum Geleit. In: Ders. (Hg.): Mozart. Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Ostfildern,S. 7f. 15 Bianchi, Paolo (2007): Das „Medium Ausstellung“ als experimentelle Probebühne. In: Kunstforum International (2007): Das neue Ausstellen. Band 186, 6,7/2007, S. 44.

3. Wenn Handschuhe sprechen Wege zur Ausstellungsdramaturgie

Der Begriff Dramaturgie findet sich immer öfter im Ausstellungszusammenhang. Doch was genau bezeichnet eine Ausstellungsdramaturgie? Eine Wiener Tageszeitung verwendete an zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Juni 2007 in zwei Ausstellungskritiken den Begriff Dramaturgie. Über die gerade eröffnete documenta 12 war am 15. Juni zu lesen: „Deren Dramaturgie, heißt es, würde sich nur jenen erschließen, die das nötige Rüstzeug an Bildung mitbrächten bzw. offen genug wären, den angebotenen pädagogischen Dienst in Anspruch zu nehmen.“1

Über die Ausstellung Die Entdeckung der Natur im Naturhistorischen Museum Wien hieß es hingegen am nächsten Tag: „Die lange und allzu gleichmäßige Prozession der an der Wand angebrachten Schaukästen entbehrt jeglicher Dramaturgie.“2

Die beiden Kritiken machen zweierlei deutlich: Erstens, dass der Begriff Dramaturgie im heutigen Ausstellungsdiskurs ein allgemein üblicher geworden ist. Und zweitens, dass der Begriff Dramaturgie ein sehr elastischer ist und hinsichtlich der Ausstellung – wie auch im Theater- oder Filmzusammenhang – für viele verschiedene Belange verwendet wird: Meint Markus Mittringer im Falle der documenta-Berichterstattung mit Dramaturgie mehr den Sinnzusammenhang, so bezeichnet Oliver Hochadel mit der fehlenden Dramaturgie in der Ausstellung Die Entdeckung der Natur die fehlende Spannung bzw. den spannungslosen Rhythmus im Raum. Der Begriff Dramaturgie beschreibt tatsächlich nicht mehr nur die Kompositionsprinzi-

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Mittringer, Markus (2007): Kunstunterricht für brave Schüler. In: Der Standard, 15.06.2007, S. 27. Hochadel, Oliver (2007): Lieblose Wundertüte. In: Der Standard, 16.06.2007, S. 31.

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pien des europäischen Dramas, sondern ist zu dem Begriff für die Beschreibung des Bogens geworden, der die Werke der Literatur, des Films, der Musik oder eben auch Ausstellungen in sich und in ihrer Vermittlung nach außen zusammenhält. Dramaturgie in ihrer einfachsten Definition, und in dieser werde ich sie im Rahmen dieser Arbeit immer wieder ver- und anwenden, ist nicht mehr und nicht weniger als der räumliche und zeitliche Ablauf zwischen einem Anfangs- und einem Endpunkt in einem Medium oder in einem Projekt. Dramaturgie in Ausstellungen gibt es also, seitdem es Ausstellungen gibt. Neu hingegen ist es, Ausstellungen auf ihre Erzähltechniken hin mit den Mitteln der Dramenanalyse zu prüfen, um so die Dramaturgie einer Ausstellung tatsächlich fassbar zu machen. Ich selbst bin als Theaterwissenschaftler in den Ausstellungsbetrieb gekommen, wo ich seit über fünfzehn Jahren als Kurator, vor allem für das Jüdische Museum Wien arbeite. Im Zentrum meines universitären theater- sowie filmwissenschaftlichen Interesses stand und steht das Drama, seine Struktur, seine Metamorphosen und seine Auflösungstendenzen. Dabei habe ich beobachtet, dass nicht nur das Theater oder der Film, sondern auch gänzlich andere, „außermediale“ Vorgänge unvermutet nach dramaturgischen Prinzipien ablaufen. Kriege beispielsweise, die auf dem Schlachtfeld3, im Fernsehen oder im Internet gewonnen und verloren werden, Kinderspiele, Vorstandssitzungen, Liebesspiele, Sportereignisse oder eben Ausstellungen. Ich denke aber auch an den Lauf unseres eigenen Lebens mit seinen Initiationen und Festen, die uns in immer neue Abschnitte befördern. Der Begriff Dramaturgie meint aber nicht nur den sinnvollen oder spannenden Ablauf eines Prozesses, er bezeichnet auch ganz einfach eine Aufsatzsammlung über das Wesen, die Mittel und die Wirkung des Dramas. Die Poetik4 des Aristoteles oder Lessings Hamburgische Dramaturgie5 zählen zu den bekanntesten Vertretern dieses Genres. Eine Dramaturgie im klassischen Sinne setzt dabei voraus, dass es sich bei dem Gegenstand, über den man schreibt, auch um ein Drama handelt. Dieses einführende Kapitel beschreibt meinen ersten Anlauf zu einer Dramaturgie der Ausstellung. Ich möchte darin die Frage beantworten, ob der Ausstellung ein Drama zugrunde liegt und ob es sinnvoll ist, in derselben Weise eine Dramaturgie der Ausstellung zu schreiben, wie es anscheinend sinnvoll ist, eine Dramaturgie des Dokumentarfilms6 zu verfassen. Ich möchte weiters in einer ersten Runde andeuten, warum uns die Theorie und

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Eine der englischen Bezeichnungen für Kriegsschauplatz lautet „theatre of war“. Aristoteles (1982): Poetik, griechisch-deutsche Ausgabe. Übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart. Lessing, Gotthold Ephraim (1981): Hamburgische Dramaturgie, Hrsg. und kommentiert von Klaus L. Berghan, Suttgart. Vgl. Schadt, Thomas (2002): Das Gefühl des Augenblicks. Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms. Lübbe.

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die Geschichte des Dramas und des Theaters helfen können, das Medium Ausstellung in historischer und phänomenologischer Hinsicht besser zu verstehen. Dieser Text ist sowohl eine erste Fragestunde als auch eine Thesensammlung. In ihm möchte ich vermitteln, wie ich zu diesen Fragen und Thesen, die ich in weiterer Folge theoretisch ausbauen und überprüfen werde, gelangt bin. Ein Paar weißer Lederhandschuhe wird mich dabei begleiten.

3.1 D AS D RAMA Das Drama der Neuzeit, das in der Renaissance entstanden ist, „ist absolut“7, schreibt Peter Szondi. Was aber heißt absolut? „Der Mensch ging ins Drama gleichsam nur als Mitmensch ein. [...] Das sprachliche Medium dieser zwischenmenschlichen Welt aber war der Dialog. Er wurde in der Renaissance, nach Ausschaltung von Prolog, Chor und Epilog, vielleicht zum erstenmal in der Geschichte des Theaters zum alleinigen Bestandteil des dramatischen Gewebes. [...] [Das Drama] kennt nichts außer sich.“ 8

Das Drama ist absolut und kennt deshalb nichts außer sich selbst, weil es nur aus dem besteht, was die Menschen miteinander reden oder sich deuten. Oder, um mit Szondi zu sprechen: „Alles, was diesseits oder jenseits [des Miteinandersprechens] war, musste dem Drama fremd bleiben: das Unausdrückbare [...], die verschlossene Seele wie die dem Subjekt bereits entfremdete Idee.“ 9

Das Drama kennt also nichts, was nicht der Dialog zwischen den dramatis personae hervorbringt. Denken wir aber an das neuere und das zeitgenössische Theater, an die späten Stücke von Samuel Beckett oder an das Theaterschaffen von Elfriede Jelinek, so können wir erkennen, dass sich das Theater von einer dramatischen über die epische Form eines Bertolt Brecht hin zu einer offenen Struktur gewandelt hat: AutorInnen sind in ihren eigenen Stücken präsent und SchauspielerInnen wenden sich manchmal mehr an das Publikum als an ihre Mitspieler. Der Dialog, so scheint es, hat seine Anspielstationen verloren und nicht wieder gefunden. Es ist also nicht zu übersehen, dass sich das Drama im 20. Jahrhundert vom Theater immer weiter entfremdet hat, auch wenn die Spielpläne der meisten Sprechtheater nach wie vor mehrheitlich Stücke spielen, denen ein fassbares Drama zugrunde liegt, und die Regeln des klassischen Dramas als

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Szondi, Peter (1965): Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt am Main, S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14.

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Erwartungshaltung in den Köpfen der meisten TheaterbesucherInnen nach wie vor gültig sind. Die Avantgarde konzipiert jedoch in vielen unterschiedlichen Versionen eine „Entwicklung hin zu einem Theater, das überhaupt nicht mehr auf ‚Drama‘ beruht – gleichviel ob (in den Kategorisierungen der Dramentheorie) offen oder geschlossen, pyramidal oder karussellartig, episch oder lyrisch, mehr auf den Charakter oder mehr auf Handlung zentriert.“ 10 Heute gibt es ein Theater ohne Drama. Die epische Theaterform eines Bertolt Brecht und die in ihrer raschen Fortentwicklung folgenden postdramatischen Theaterformen führen uns zu den Erzählstrategien der Ausstellungen, denn damit haben sie viel gemein. Wenn ich beispielsweise an das Theaterstück Das Werk der österreichischen Schriftstellerin Elfriede Jelinek denke, fällt mir die Polyphonie als gemeinsames Merkmal auf. Das Werk besteht wie viele andere Texte von Jelinek aus Montagen von Texten, die eigentlich von Dritten gesprochen werden. Bei älteren Arbeiten von Jelinek verhält es sich nicht anders: Clara C „ist – wie praktisch alle Texte Elfriede Jelineks – ein Geflecht aus fremden Stimmen“.11 Und bei wir sind lockvögel, baby liefern die „Massenmedien, Heftchenromane, Comics, beliebte Kinderbücher, das Musikbusiness [...] Sprachmaterial (Klischees, Phrasen), Handlungsmuster und Figuren (die Beatles, Kasper, Superman), die neu montiert und parodistisch überzeichnet ins Groteske und Monströse kippen.“12 Auch Ausstellungen entstehen häufig aus unzähligen Montagen: Montagen aus mehreren Objekten oder Objekt-Text-Montagen. Je weiter sich eine Ausstellung von einer reinen Kunstausstellung wegbewegt, desto mehr bemühen sich die AusstellungsmacherInnen um eine großzügige polyphone Erzählstruktur, die von vielen verschiedenen Quellen und Medien getragen wird. Kunstausstellungen kommen hinsichtlich ihrer Erzählstrategie meist mit einem einfacheren Rahmen aus, da schon die meisten ausgestellten Kunstwerke selbst, insbesondere die zeitgenössischen, um es in der Sprache der Musik zu sagen, einem polyphonen Konzert gleichen. Aber nicht nur das Theater hat sich im 20. Jahrhundert auf die Erzählstrukturen der Ausstellung zu bewegt. Auch die AusstellungsmacherInnen fühlen sich von den Strategien des Theaters angezogen und lassen diese in ihre Arbeit einfließen. Teilweise greifen sie dabei sogar auf Mittel zurück, die dem klassischen Drama entstammen und von denen sich das zeitgenössische Theater mehr und mehr entfernt. Wenn wir die Strukturen von Ausstellungen freilegen, werden wir bei manchen selbst so etwas wie Dialoge finden. Bewegt sich möglicherweise die Ausstellung zum Drama hin, reziprok

10 Lehmann, Hans-Thies (1999): Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main, S. 43f. 11 Jelinek, Elfriede (2003): Das Werk, Akademietheater Wien, Programmheft, Premiere: 11. 04. 2003, S. 50. 12 Ebd., S 50f; wir sind lockvögel, baby ist ein Prosatext. Sein Entstehungsprozess ist aber auch repräsentativ für die Entstehung von Jelineks Theatertexten.

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zu der Entwicklung des Theaters, das sich vom Drama verabschiedet? Hinweise finden sich überall: So hat die Ausstellung zuerst das Schlagwort Interaktivität besetzt, dann den Event und das Erlebnis beschworen. Dasselbe gilt für alle anderen Medien, die im Gegensatz zum Theater nicht an einem Ort „der realen Versammlung“13 stattfinden, an einem Ort also, an dem sich Akteure und Zuschauer eine gemeinsam verbrachte Lebenszeit teilen. Während also das Theater des 20. Jahrhunderts, insbesondere seit Brecht, versucht hat, eine illusionsbrechende Distanz zwischen dem Bühnengeschehen und dem Publikum aufzubauen, haben Ausstellungen und andere „epische“ Medien wie beispielsweise das Fernsehen danach gestrebt, diese Distanz zu überwinden, um ihre Besucher und Zuseher zu involvieren, zur Interaktion zu überreden, um letztlich mit ihnen in einen (wenn auch sehr einseitig kontrollierten) Dialog zu treten.

3.2 D IE AUSSTELLUNG

ALS

D RAMA

Eine Ausstellung ist ein für eine bestimmte Zeit in einen Raum gestelltes Bedeutungssystem, das sich aus Dingen bzw. Medien zusammensetzt, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgenommen wurden. In der Ausstellung gehen wir vom Objekt, vom Ding aus. Das Ding ist dem Darsteller vergleichbar, der sich in direkter Rede äußern kann. Da ist einmal seine sinnlich erfahrbare Oberfläche. Denken wir beispielsweise an ein weißes Paar Lederhandschuhe, das inmitten anderer Gegenstände in einem großen Glaskubus im Schaudepot des Jüdischen Museums Wien ohne benennenden Objekttext liegt.14 Sagt dieses Paar Lederhandschuhe wirklich etwas? Kann es uns etwas erzählen, so ganz ohne Beschriftungstäfelchen? Sagt es möglicherweise so etwas wie: „Ich bin ein weißes Paar Lederhandschuhe. Ich bin verwendet worden, denn es finden sich Spuren der Abnützung an mir. Auch bin ich nicht nach der neuesten Mode geschnitten. Ich bin möglicherweise ein Paar Lederhandschuhe vom Beginn des 20. Jahrhunderts.“ Auffallend ist zudem, dass es kleine Handschuhe sind, und wir,

13 Lehmann 1999, S. 12. 14 Das Schaudepot im Jüdischen Museum ist ein Raum, der hauptsächlich der Aufbewahrung von Kult- und Alltagsgegenständen dient, die an die zwischen 1938 und 1945 zerstörte Wiener jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder erinnert. Ein Teil des Schaudepots beherbergt auch Neuerwerbungen des Museums seit seiner Gründung am Beginn der 1990er Jahre. Die Objekte stehen dicht an dicht und sind nicht hierarchisch geordnet. Die BesucherInnen können diesen Raum wie jeden anderen Ausstellungsraum betreten, die Objekte sind jedoch nur mit Inventarnummern und nur in Ausnahmefällen mit Objektbeschriftungen bzw. Audioguide-Nummern versehen.

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Abbildung 1: Die Handschuhe des Lokführers Julius Brod im Schaudepot des Jüdischen Museums Wien, Foto: W. H.-L.

Abbildung 2: Das Schaudepot im Jüdischen Museum Wien, Foto: W. H.-L.

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die Besucherinnen und Besucher, können daraus schließen, dass wir ein Paar Damenhandschuhe vor uns liegen haben. Soweit, aber nicht weiter können wir als interessierte Laien, die wir das Schaudepot im obersten Stock des Jüdischen Museums besuchen, das weiße Paar Handschuhe sprechen lassen. Oder seine Signale lesen oder erschauen. Wahrscheinlich wird es dazu aber gar nicht kommen, zu viele Dinge streiten hier um unsere Aufmerksamkeit, und viele andere Gegenstände weisen eine spannendere und sinnlichere Oberfläche auf, ziehen unsere Aufmerksamkeit somit schneller auf sich. Nur wenn wir Mode- bzw. KostümspezialistInnen sind, kann uns das Paar Handschuhe vielleicht noch das genaue Jahrzehnt und sogar den ungefähren Ort kommunizieren, an dem es produziert wurde. Wie sieht dieser Vorgang aus wahrnehmungstheoretischer Perspektive aus? Prinzipiell liegt der Wahrnehmung ein Wechselspiel zwischen dem Gegenstand, dem Medium Licht als Übermittler von Information und den im Nervensystem des Betrachters herrschenden Bedingungen zu Grunde.15 Rudolf Arnheim verweist allerdings darauf, dass es nicht nur von der Netzhautprojektion in einem bestimmten Augenblick abhängt, wie wir die Gestalt eines Gegenstandes sehen: „Streng genommen, wird das Bild von der Gesamtheit der Seherlebnisse bestimmt, die wir mit diesem Gegenstand oder mit der Art von Gegenstand in unserem ganzen Leben gehabt haben.“16

Jede Seherfahrung ist laut Arnheim in einen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang gebettet.17 Und darüber hinaus natürlich in einen inhaltlichthematischen: Die weißen Lederhandschuhe finden sich weder im Kleiderdepot einer Hilfsorganisation noch im Schrank der eigenen Großmutter. Wir befinden uns im Jüdischen Museum Wien und die Handschuhe liegen hier in der Vitrine des Schaudepots. Und so denken wir, dass der einstige Besitzer oder die Besitzerin der Handschuhe wohl jüdisch gewesen ist. Gerade habe ich behauptet, die weißen Lederhandschuhe können mit ihrer sinnlichen Oberfläche zu uns sprechen. Ich möchte diesen Satz nochmals hinterfragen: Sprechen die Handschuhe wirklich? Oder lassen wir sie erst durch unser Wissen sprechen? Auf jeden Fall sendet ein Objekt Signale aus, die wir, haben wir einmal unsere Aufmerksamkeit auf das Ding gerichtet, mehr oder weniger registrieren und in unseren individuellen Kosmos einordnen. „Was sehen wir, wenn wir sehen?“ fragt Rudolf Arnheim. „Sehen heißt, einige hervorstehende Merkmale von Objekten erfassen. [...] Ein paar

15 Vgl. Arnheim, Rudolf (2000) [eng. 1954 und 1974]: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Aus dem Amerikanischen von Hans Hermann. Berlin, New York, S. 50. 16 Arnheim 2000, S. 51. 17 Arnheim 2000, S. 51.

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hervorstechende Merkmale bestimmen nicht nur die Identität eines Wahrnehmungsdinges, sondern lassen es auch als ein vollkommenes, einheitliches Muster erscheinen.“18 Wenn wir uns Bilder in Kunstausstellungen ansehen, sehen wir diese zuerst in einer Ganzheit und fragen uns nach dem stärksten Eindruck. „Wie sieht die Stimmung der Farben, die Dynamik der Kräfte aus? Bevor wir irgendein Teilelement herausgreifen, macht die Gesamtkomposition eine Aussage, die wir nicht verlieren dürfen. Wir suchen nach einem Thema, nach einem Schlüssel, zu dem alles in Beziehung steht.“19 Dennoch kann das Ergebnis ein Nichtverstehen, ein Nicht-Begreifen sein. „Sagt es uns etwas?“ lautet die Frage, die wir uns stellen, wenn wir durch eine Ausstellung gehen. „Sagt uns das Bild etwas? Es sagt mir gar nichts!“, geben wir zuweilen kopfschüttelnd von uns. Diese Form der Kommunikationslosigkeit tritt bei Gegenständen des Alltags, solange es sich um unseren eigenen Alltag handelt, selten ein: Da die meisten Menschen in Europa und Nordamerika fast alle schon einmal Handschuhe getragen oder zumindest gesehen haben, dechiffrieren die Menschen in der westlichen Welt ihre Erscheinung wie von selbst, indem sie sie mit ihren im „Alltagsfile“ gespeicherten Erfahrungen abgleichen.20 Ob in einer Ausstellung eine Kommunikation, die ich hier Geschichte oder Drama nennen möchte, entsteht, liegt also in erster Linie am Dialog zwischen dem Ding und mir, dem Besucher. Denn in der Ausstellung findet die Handlung nicht wie im klassischen Drama hinter der so genannten vierten Wand oder wie im Kino auf einer Leinwand statt, auf die die Zuschauer gebannt schauen und von der sie sich emotional anstecken und infizieren lassen. Im Ausstellungsraum sind die Besucher nicht von der Handlung ausgeschlossen, sie durchschreiten den Raum und somit die Handlung, bewegen sich also selbst auf der Bühne. Sie definieren den Abstand, die Distanz und damit die Kommunikation zu den Dingen selbst, woran auch Glasvitrinen und Sicherheitsschranken nur geringfügig etwas ändern können. Die Ausstellung ist auch deshalb ein erfolgreiches Medium geworden, weil sie ein experimentelles Labor für die Wahrnehmungstätigkeit des Menschen schlechthin ist. Doch auch ohne Selbstbewegung im Raum ist das Wahrnehmen eine äußerst aktive Tätigkeit, sie ist „keineswegs nur ein mechanisches Aufzeichnen von Sinneseindrücken“, sondern ein „schöpferisches Begreifen der Wirklichkeit“21:

18 Arnheim 2000, S. 46f. 19 Arnheim 2000, S. 9. 20 Arnheim spricht hier von „Wahrnehmungsbegriffen“, und erklärt: „Das Sehen setzt sich mit dem Rohmaterial der Erfahrung dadurch auseinander, dass es ein entsprechendes Muster aus allgemeinen Formen schafft, die nicht nur auf den gegebenen Einzelfall anwendbar sind, sondern auch auf eine unbestimmte Zahl anderer ähnlich gelagerter Fälle.“ (Arnheim 2000, S. 49.) 21 Arnheim 2000, S. 6.

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„Vielmehr greifen wir nach einem Objekt, wenn wir es ansehen. Mit einem unsichtbaren Finger bewegen wir uns durch den Raum um uns her und gehen zu entfernten Orten, wo Dinge zu finden sind; wir berühren sie, fangen sie ein, prüfen ihre Oberfläche, ertasten ihre Umrisse, erforschen ihre äußere Beschaffenheit. Das Wahrnehmen von Formen ist eine äußerst aktive Beschäftigung.“22

In diesem Sinne sind BesucherInnen einer Ausstellung doppelt dynamisiert. Denn sie beobachten nicht nur wie Zuschauer eines Theaterstücks aus den statischen Sitzreihen heraus. Neben der Dynamik, die allein das Sehen zu erzeugen vermag, verfügen sie mit ihren Beinen, ihrem Becken, Rücken, Nacken etc. über einen weiteren Bewegungsapparat mit unerschöpflichen elastischen Möglichkeiten. „Und der Ort Museum ist von allen kulturellen Orten der einzige, der dem Besucher die Freiheit seiner Bewegung läßt: denn er braucht nicht stundenlang auf dem selben Stuhlgericht zu sehen und zu hören.“ 23

Was dieser Akt des Sehens und Bewegens für unseren Körper bedeutet, beschreibt Maurice Merleau-Ponty: „Unser Leib, ein System von Bewegungs- und Wahrnehmungsvermögen, ist kein Gegenstand für ein ‚Ich denke‘: er ist ein sein Gleichgewicht suchendes Ganzes erlebt-gelebter Bedeutungen.“24

Wenn wir uns selbst bewegen und dabei einen statischen Raum durchschreiten oder befahren, tendieren wir dazu, uns an einem Gegenstand festzuhalten, sei er bewegt oder eben ruhend, da durch unsere eigene Bewegung im statischen Raum unzählige „Umweltbewegungen“ entstehen. Diese „Umweltbewegungen“ hat Viktor von Weizsäcker in seiner Studie Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen in einer „Selbstbewegung“ durch ein Zimmer beschrieben. Sie lässt auch nachvollziehen, in welcher Weise eine Ausstellung, in der die Dinge meist ganz ruhig in statischen Räumen verharren, durch unsere Rezeption in Bewegung gerät: „Ich mache demgemäß einige Schritte durch das Zimmer. Sofort erscheinen mir, am aufdringlichsten wohl durch das Auge, gewisse Bewegungen. Versucht man zu beschreiben, so fällt auf, dass die von mir wahrgenommenen Bewegungen nicht gleichartig sind. Da ist mein eigener Körper in Bewegung, sowohl als ganzer wie im Verhältnis der Glieder zueinander. Aber auch die Umgebung erscheint nicht in Ruhe,

22 Arnheim 2000, S. 46. 23 Szeemann, Harald (1981): Museum der Obsessionen. Von/über/zu/mit Harald Szeemann. Berlin, S. 81. 24 Merleau-Ponty, Maurice (1974) [frz. 1965]: Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen von Rudolf Boehm. Berlin, S. 184.

22 | DIE A USSTELLUNG ALS D RAMA sondern in Verschiebungen, mithin Bewegungen gegeneinander; zwischen mir und den Wänden lagern sich die Möbel in neue Positionen; der Rahmen des Fensters verschiebt sich gegen die Landschaft; am auffallendsten sind solche Bewegungen im Spiegel zu sehen. Wir nehmen diese Umweltbewegungen zwar nicht ernst, können ihre Wahrnehmung aber nicht hindern. Bewege ich mich rasch, z.B. entlang einem Lattenzaun, so wird dieses Phänomen der Bewegung eines in Wirklichkeit nicht bewegten Objektes noch zwingender – es ist also einer Abstufung seiner sinnlichen Stärke fähig. Man kann es bis zu einem gewissen Grade unterdrücken, indem man ihm die Beachtung entzieht oder indem man einen Gegenstand ‚fest ins Auge faßt‘.“25

Dass wir in der Ausstellung, im Supermarkt oder auf der Straße einen Gegenstand „fest ins Auge fassen“, oder wie Arnheim schreibt, nach einem Objekt „greifen“, hat natürlich zur Folge, dass wir andere vernachlässigen: „Wenn wir sagen, dass wir durch Selbstbewegung die Gegenstände erscheinen lassen, so schließt dieser Akt eine Teilung der Umwelt in eine kohärente und eine geopferte ein.“26

Letztlich ist dies das Auswahlverfahren, mit dem wir in der Ausstellung selektieren, wenn uns die Gegenstände zahlreich entgegenkommen, sie uns widerfahren und wir einen logischen oder ästhetischen Sinn in ihrer Kombination suchen. Der Theatermann Heiner Müller schrieb in diesem Sinne: „Die Identität des Subjekts kann ja nur bestehen oder sich konstituieren aus der Bewegung des Subjekts und aus der Position des Subjekts zu den Objekten. Das ist ein Raumverhältnis, das sich durch Bewegung herstellt.“27

Diese doppelte Freiheit, die uns die Dynamik des Sehvorgangs und die Bewegung der eigenen Beine beim Rezipieren einer Ausstellung verleihen, übergibt uns als Besucherinnen und Besucher damit auch das Vermögen bzw. die Verantwortung, die Erzählung der Ausstellung im Raum selbst voranzutreiben. Die Ausstellung präsentiert sich dabei als Spielraum, den die BesucherInnen mit der von ihnen eingebrachten Zeit erfahrbar machen und in dem sie mit ihrer Geschwindigkeit bzw. Intensität – abhängig von ihrem Background, ihrem Interesse, ihrer Stimmung, ihrem Aufmerksamkeitspotential und ihrem Zeitmanagement – ihre eigene Version der Ausstellungserzählung formen. Dabei gelingt es den Dingen und ihrer Inszenierung immer wieder, den Gang und die Aufmerksamkeit der Besucher zu beeinflussen, ja diese gera-

25 Weizsäcker 1990, S. 106. 26 Weizsäcker 1990, S. 111. 27 Zit. nach Siepmann 2001, S. 5.

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dezu in ihren Bann zu ziehen, wobei aber jede einzelne einem Objekt gegenüberstehende Person mit ihrem individuellen Background verschieden reagiert. Auf der Basis dieser vollkommen verschiedenen Ausgangslagen können wir uns auch BesucherInnen vorstellen, die einen sehr emotionalen Bezug zu einem Objekt, beispielsweise den weißen Handschuhen, haben. Möglicherweise eine ältere Dame, die solche Handschuhe besessen hat, als sie jung war. Oder einen Mann, der eine Frau kannte, die solche Handschuhe bis ins hohe Alter getragen hat. Oder gar jemanden, der eben explizit jenen Menschen persönlich kannte, der genau diese ausgestellten Handschuhe sein Eigen nannte. Was sich in diesen Fällen einstellt, ist eines der wirksamsten dramatischen Mittel, das Aristoteles als Wiedererkennung bezeichnet hat und das eine intensive emotionale Auswirkung auf die involvierten Personen und den Verlauf des Dramas haben kann.28 Wie unterschiedlich Ausstellungen gelesen werden können und wie sehr solche fortwährenden Wiedererkennungen einen Besucher zum Teilnehmer eines psychischen Dramas machen können, beschreibt David Pascoe: „To one contemporary theorist, they are ‚narratives which use art objects as elements in institutionalized stories that are promoted to an audience‘; to another, ‚they are modern ritual settings in which visitors enact complex and often deep psychic dramas about identity, dramas that the museum’s stated, consciously intended programs do not and cannot acknowledge‘.“29

Beschreibt nun das Abschreiten und Inspizieren des Ausstellungsraumes, bei dem ein Dialog zwischen dem Ding und uns entstehen kann, die Frontlinie im Ausstellungsdrama? Wie verhält sich dieses Ausstellungsdrama im Vergleich zum zeitgenössischen Theater? Ich komme auf Das Werk von Elfriede Jelinek zurück. Bei einer Aufführung im Wiener Akademietheater30 fiel mir einerseits die ungeheure Bühnenwirksamkeit des Stücks bzw. der Inszenierung auf, andererseits war ich überrascht, wie sehr mich die Ansprache der Schauspieler an das Publikum an das Kommunikationsverhalten der Dinge gegenüber Besuchern in der Ausstellung erinnert hat. Ich habe zuvor die Theaterbühne mit ihrer vierten Wand hin zum Zuschauerraum als

28 Vgl. Aristoteles 1982, 16. Kap. S. 51f. „Die dritte Art [der Wiedererkennung] vollzieht sich auf Grund der Erinnerung, dadurch, dass man bei einem Anblick etwas bemerkt. So im Falle der ‚Kyprier‘ des Dikaiogenes: jemand erblickt ein Bild und fängt an zu weinen. Ebenso auch in der Erzählung vor Alkinoos: jemand hört dem Zitherspieler zu, erinnert sich und bricht in Tränen aus. [...]“ 29 Pascoe 1997, S. 209. Die erste Meinung stammt von: Ferguson, Bruce W. (2002), Exhibition Rhetorics: Material Speech and Utter Sense. In: Greenberg/Ferguson/Nairne (Hg.) S. 175. Das zweite Statement findet sich bei: Duncan, Carol (1993): The Aesthetics of Power: Essays in Critical Art History. Cambridge, S. 192. 30 Die Premiere von Das Werk im Akademietheater fand am 11. April 2003 statt.

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Vergleich und Gegensatz zum Ausstellungsraum, dessen Spielfläche von den Besuchern frei durchwandert wird, in die Diskussion eingebracht. Diese vierte Wand aber existierte an diesem Abend beim jelinekschen Werk ebenfalls nicht. Sie bedeutete nur insoferne eine Grenze, als kein Zuschauer aufgefordert wurde oder von selbst auf die Idee kam, von seinem Sessel aufzustehen, um die Bühne zu betreten.31 Doch die SchauspielerInnen, die kaum miteinander kommunizierten (und wenn, dann hatte ihr Sprechen im beckettschen Sinn keinerlei Konsequenz für die folgende Handlung), redeten fast ausnahmslos auf das Publikum ein. Im Gegensatz zu den Zuschauern überschritten sie den Bühnenrand bzw. die vierte Wand in Richtung Zuschauerraum sehr wohl und eigneten sich auch diesen Raum an. Ähnlich den Objekten in einer Ausstellung traten die Schauspieler mit ihrem Publikum direkt in Kommunikation. Die Schauspieler sprachen das Publikum an, wobei es sich bei dieser Ansprache um keinen Monolog handelte, da Monologe meist Selbstgespräche sind und den Bühnenpersonen in Das Werk dazu weitgehend die dafür notwendige Individualität fehlte. Die Ansprache als theatralische Methode hat Andrzej Wirth 1980 in den damals neuen Dramen ausgemacht und in seinem kurzen Aufsatz Vom Dialog zum Diskurs32 zu Papier gebracht. Wirth legt dabei „den Akzent darauf, dass das Theater sich gleichsam in ein Instrument verwandelt, mit dem der ‚Autor‘ (Regisseur) ‚seinen‘ Diskurs direkt an das Publikum richtet. Der springende Punkt in Wirths Darstellung ist, dass das Modell der ‚Ansprache‘ zur Grundstruktur des Dramas wird und an die Stelle des Konversationsdialogs tritt. Als ‚Sprechraum‘ fungiert nicht mehr die Bühne, sondern das Theater insgesamt.“33 Wie sehr Wirths Überlegungen sowohl mit der Ausstellung, auf die seine Formel vom „dramatischen Diskurs“ gut passt, als auch mit der Auffüh-

31 Natürlich ist auch diese Form des Theaters, das vollkommen bühnenlos oder eben nach dem Prinzip „alles ist Bühne“ funktioniert, möglich. Ein Beispiel ist Paulus Mankers Inszenierung von Alma – A Show Biz ans Ende von Joshua Sobol, das in Wien von 1996-2001 und danach in anderen Städten der Welt, die einen Konnex mit Alma Mahler Werfel aufweisen, zu sehen war. 2008 ist die Produktion wieder nach Wien zurückgekehrt. Bei dieser Inszenierung muss sich das Publikum zwischen mehreren Handlungen, die gleichzeitig in mehreren Räumen eines Hauses gespielt werden, entscheiden. Wie in der Ausstellung treiben die Besucher/Zuschauer durch ihre Entscheidungen die Handlung des Stücks voran, reimen sich die angebotenen Teile zu einer eigenen Geschichte zusammen. 32 Wirth, Andrzej (1980): Vom Dialog zum Diskurs. Versuch einer Synthese der nachbrechtschen Theaterkonzepte. In: Theater Heute 1/1980, S. 16-19. 33 Lehmann 1999, S. 44f.

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Abbildung 3: Ansprache statt Dialog: „Das Werk“ von Elfriede Jelinek, Inszenierung: Nicolas Stemann, Premiere am 11. April 2003 im Akademietheater. Foto: Burgtheater.

rung von Jelineks Werk korrespondieren, zeigt auch der folgende Gedankenschritt, den Wirth vollzieht: „Und es scheint nur so, dass die Bühnenfiguren in diesem dialoglosen Theater sprechen. Es wäre richtiger, zu sagen, dass sie von dem Urheber der Spielvorlage gesprochen werden oder dass das Publikum ihnen seine innere Stimme verleiht.“ 34

Insbesondere der letzte Satz trifft einen sensiblen Punkt in der Betrachtung der Ausstellung als Drama: Die Zuschauer/Besucher leihen den Schauspielern/Objekten ihre innere Stimme. Dieser Vorgang beschreibt exakt die Kommunikationssituation innerhalb des Dramas Ausstellung: Der Urheber der Spielvorlage – in der Ausstellung ist es zumeist eine Kuratorin oder ein Kurator – lässt durch Dinge sprechen. Gleichzeitig sind es die Besucher (das Publikum), die den Dingen (den Bühnenfiguren) ihre innere Stimme leihen. Die Rezeption einer Ausstellung geschieht dabei nicht in Form eines inneren Monologs, sondern in Form eines inneren Dialogs. „Alles Wahrnehmen ist auch Denken, alles Denken ist auch Intuition, alles Beobachten ist auch Erfinden.“35 Die Handlung in der Ausstellung wird also durch einen inneren Dialog, den der Besucher mit den Dingen führt, vorangetrieben.

34 Lehmann 1999, S. 45. 35 Arnheim 2000, S. 6.

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Neben dem Dialog bzw. Diskurs zwischen dem Ding und uns existiert auch ein Dialog zwischen den Dingen selbst, zwischen zwei oder mehreren Ausstellungsobjekten. Dieser Dialog kann komparatistischer, dialektischer oder additiver Natur sein, denn wie in den literarischen Techniken gibt es auch in der Ausstellung viele Motivationen, zwei oder mehr Dinge nebeneinander „wirken“ bzw. sich entfalten zu lassen. Ich kehre zu dem Beispiel der weißen Handschuhe im Schaudepot des Jüdischen Museums zurück: Was passiert nun, wenn ich sie aus der Anonymität des Depots, wo sie sich ohne Beschriftung die Aufmerksamkeit der BesucherInnen mit so vielen anderen Dingen teilen müssen, herausnehme und ins „rechte Licht rücke“? Wie verändert sich ihre Erscheinung, wenn ich sie in eine individuelle Vitrine mit individueller Beleuchtung lege? Stellen wir uns vor, wir betreten einen Ausstellungsraum im Jüdischen Museum und sehen dort exklusiv in einer Vitrine, die einer Lichtsäule ähnlich ist, ein Paar weiß leuchtender Lederhandschuhe. Die Chance, dass wir auf diese Vitrine zugehen, um uns die Handschuhe anzuschauen, ist weit höher, als dass wir sie im Schaudepot überhaupt registrieren. Und noch etwas geschieht: Wir werden sofort die Beschriftungstafel mit dem Objekttext konsultieren. In der Vitrine des Schaudepots, wo es generell keine Beschriftungen außer den Objektnummern gibt, haben wir diese „Informationssperre“ akzeptiert. Jetzt aber, wo wir vor der Einzelvitrine stehen, in der die Handschuhe als highlight zelebriert werden, werden wir sofort wissen wollen, was es mit diesen Handschuhen auf sich hat, und den Text zumindest kurz überfliegen. Wenn wir aber kein Täfelchen entdecken können, werden wir ungeduldig. Diese Ungeduld ist verständlich und sie ist Teil jenes Spiels, das sich Ausstellung nennt. Dinge, die „im Raum stehen“ und keinen Namen haben, ärgern uns. Worüber ärgern wir uns? Wir werden im wahrsten Sinne des Wortes dumm stehen gelassen. Warum verhält es sich so in der Ausstellung, warum ist es beim Film anders? Im Film sehen wir auch oft minutenlang einer Person zu, ohne zu wissen, woher sie kommt und wohin sie geht. Ich denke an eine Frau, die zuerst eine Straße quert, in einem kleinen Laden verschwindet, aus dem sie mit einem Päckchen undefinierbaren Inhalts wieder auf die Straße tritt und den langen Boulevard hinuntergeht, bis sie am Horizont verschwindet. Wir werden nicht aus unserem Kinosessel aufspringen und sofort eine Erklärung nach dem Sinn der Aktion oder dem Inhalt des Päckchens fordern. Erstens gibt es da Drehbücher in unserem Kopf, die uns sagen, jetzt wird es spannend, und zweitens vertrauen wir, dass diese offenen Fragen irgendwann einmal geklärt werden. Wenn sie der Film letztendlich dann doch nicht liefert, werden wir ihm das möglicherweise als Schwäche anlasten, aber vorerst gilt einmal der Vertrauensgrundsatz. In der Ausstellung hingegen müssen die Informationen sofort geliefert werden. Erstens sind wir es gewohnt, Ausstellungen als primär räumliche, und nicht als zeitliche Konstruktionen zu begreifen, für die Ähnliches gilt, wie es Lessing in seinem Laokoon für die Malerei formuliert hat:

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Abbildungen 4, 5: Auf dem Weg vom Depot ins Rampenlicht. Die Handschuhe des Lokführers Julius Brod im Jüdischen Museum Wien. Fotos: W. H.-L.

„Es bleibt dabei: die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers.“36

Zweitens besitzen Dinge offenbar in beträchtlichem Maße Kraft und Macht, uns Fragen zu stellen, indem sie mit ihrer Existenz auch uns als Partner in diesem Dialog, in diesem Spiel, in diesem Drama in Frage stellen. Wenn wir keine Antwort auf die Existenz des Dings vor uns wissen, sind wir gezwungen, auch unsere Identität und unsere Fähigkeiten, die Welt zu dechiffrieren, zu hinterfragen. Hier offenbart sich wiederum die dramatische Frontlinie in der Ausstellung, die hauptsächlich zwischen uns und den Dingen verläuft. Der Film mit seiner Kamera und seiner Leinwand hat hingegen eine vierte Wand, hinter der die Akteure die Handlung vorantreiben können. Dazu ein Beispiel, auf das ich im Laufe der Arbeit immer wieder zurückkommen werde, weil es für mich zu einem Ur-Ausstellungserlebnis geworden ist, bei dem sich sowohl die Verschränkung von Ausstellung und Theater als auch die dramatische Qualität von Ausstellungen sowie der Verlauf der dramatischen Front in der Ausstellung plastisch nachvollziehen lässt: 1992 kuratierte Peter Greenaway, der damals nach Filmen wie Drowning by Numbers (1988), The Cook, the Thief, his Wife and her Lover (1989) oder Prospero’s Books (1991) als Regisseur für Furore gesorgt hatte, anlässlich der 300. Jahresfeier der Wiener Akademie der bildenden Künste eine Ausstellung mit dem Titel 100 Objects to Represent the World. Greenaway hatte die Schau als subjektiven Kontrapunkt zu der Weltrepräsentation, die mit einer Raumsonde ins All geschickt worden war, um bei einer möglichen Begegnung mit Außerirdischen die Welt repräsentieren zu können, konzipiert. Die Ausstellung fand an mehreren Orten statt, unter anderem in der

36 Lessing, Gotthold Ephraim (1990): Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Stuttgart, S. 129.

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Neuen Burg der Wiener Hofburg, wo heute die Hofjagd- und Rüstkammer des Kunsthistorischen Museums zu sehen ist. Ich erinnere mich gut, wie ich diese lange, leicht nach rechts gebogene Treppe zum Ausstellungsbeginn hinaufging. An der Plattform am Ende der Treppe tauchte ein Glaskubus mit den Maßen von etwa zwei Meter Breite, zwei Meter Tiefe und zwei Meter Höhe auf. Von Stufe zu Stufe steigerte sich meine sinnliche Gewissheit, dass es sich bei dem „Objekt“ in dem Glaskubus um zwei nackte Menschen handelte: eine junge Frau, ein junger Mann, Studenten vielleicht, so alt wie ich damals. Noch bevor ich das Ende der Stiege erreicht hatte, begann meine Suche nach einem Beschriftungstäfelchen, eine Suche, die ich, je näher ich kam, immer dringlicher betrieb. Was löste diese Hektik in mir aus? Die Analyse meiner Erinnerung ergibt, dass mehrere Imperative in mir zu streiten anfingen: Wenn du in eine Ausstellung gehst, schau dir alles genau an! Aber auch: Wenn Du nackten Menschen in der Öffentlichkeit begegnest, schau nicht hin, insbesondere, wenn dich jemand anderer oder die nackte Person selbst dabei sehen kann! Das kleine Beschriftungstäfelchen auf der riesigen Wand links neben dem Kubus war tatsächlich schwer zu finden. Als ich es aber dann doch entdeckte, kam es gewissermaßen einer Erlösung gleich: Adam und Eva stand darauf. Der Text versorgte mich nicht nur mit einem Mythos, er verschaffte mir auch mit einem Schlag alle Berechtigung zu schauen. Den nächsten Besuchern, die hinter mir die Treppe herauf kamen, ging es nicht anders als mir. Ich konnte ihren Stress in Augen und Körperbewegungen ausmachen. Auch sie begaben sich, nachdem sie sich der Nacktheit der entspannten jungen Leute in der Vitrine gewiss geworden waren, auf eine hektische, gezielte Suche nach dem Objekttext. Die einzigen, die nicht unter Druck gerieten, waren die Kinder des übernächsten Paares: Sie rannten fröhlich zur Vitrine, rieben ihre Nasen an der Scheibe und riefen: „Mama, schau!“ Nicht alle Objekte bergen ein derart provokatives Potential wie Adam und Eva in der Ausstellung von Peter Greenaway. Nicht jedes Ding ist durch seine Oberfläche so stark geladen, dass es durch einen Objekttext gezähmt werden muss. Manchmal geschieht das Gegenteil: Dinge erreichen ihre Geladenheit oft erst durch den Text, der sie beschreibt. Dinge haben, Charakteren in fiktiven Texten ähnlich, meist mehr als eine Facette. Dabei zeigen sie nur ihre im Rampenlicht der Vitrine hell angestrahlte Seite. Manch andere Seite kann im Sinne des benjaminschen Gedankens, „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“37, auch dunkel sein. Die Erzählung dieser zweiten Seite, die mit dem Glanz der Oberfläche in Widerspruch stehen kann, gibt dem Ding eine plastische Identität.

37 Benjamin, Walter (1977): Über den Begriff der Geschichte. In: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt am Main, S. 254.

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Abbildung 6: „Adam und Eva“. Objekt 14 aus „100 Objects to Represent the World“, Ausstellung von Peter Greenaway. Akademie der Bildenden Künste Wien, Neue Burg, 1992. Foto: Manu Luksch.

Was hat es beispielsweise mit dem Paar weißer Lederhandschuhe auf sich? Diese Handschuhe haben, so lange sie im Schaudepot gelegen sind, nur in ihrer Gesamtheit mit den anderen Objekten der Erinnerungsinstallation die Besucher in ihren Bann gezogen. Jetzt, wo sie in der hohen, schlanken und beleuchteten Milchglas-Vitrine liegen, versprechen sie auch eine individuelle Geschichte, die aber durch ihr bloßes Erscheinen noch nicht enträtselt werden kann. Die Inszenierung der Handschuhe in der Vitrine ist quasi eine These, die durch einen Text argumentiert, von einer Erzählung eingelöst werden soll. Kuratoren entscheiden nicht nur, auf welche Dinge die Besucher treffen sollen, sie entscheiden auch, mit welchen Geschichten die Dinge entschärft oder aufgeladen werden und ob daraus eine additive oder widersprüchliche Botschaft werden soll. Hinsichtlich der weißen Handschuhe stehen mir als Kurator viele Möglichkeiten offen, die Geschichte/n der Handschuhe zu erzählen. Ich kann es spannend machen oder die Information eher technisch bzw. beiläufig halten. Unweigerlich aber schlüpfe ich dabei in die Rolle des epischen Erzählers, wie ihn Bertolt Brecht forderte. Der Prozess ist jener des Dichtens: Ich verdichte, selbst wenn ich mich an historischen Fakten orientiere.

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Ich könnte beispielsweise erzählen, dass die Handschuhe im Jahr 1995 in die Sammlung des Jüdischen Museums Wien gekommen sind. Dass sie aus Sarajewo stammen. Dass sie die Enkelin jener Person, die die Handschuhe getragen hat, an das Jüdische Museum verkauft hatte. Dass die Verkäuferin vom Jüdischen Museum Wien Kenntnis hatte, weil dort 1994 eine Ausstellung über die Jüdische Gemeinde Sarajewos während der Zeit des Bosnischen Krieges in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zu sehen war.38 Dass sie die Handschuhe an einem sicheren Ort wissen wollte, und da sie sich auch als Alt-Österreicherin fühlt, war ihr Wien als Aufbewahrungsort recht. Als textender Kurator könnte ich natürlich auch damit anfangen, dass die Person, die diese Handschuhe getragen hatte, ein Mann war und dass dieser 1859 im heutigen Tschechien zur Welt gekommen war. Dass er Lokführer, dann Cheflokführer der k.u.k. Bosnischen Eisenbahnen wurde, und dass er sich nach der Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn wie viele aschkenasische Juden in der Stadt Sarajewo niederließ, die traditionell von sephardischen Juden bewohnt worden war.39 Ich könnte erzählen, dass er die Handschuhe immer dann trug, wenn er eine hohe offizielle Persönlichkeit, vor allem ein Mitglied der kaiserlich-königlichen Familie mit dem Zug chauffierte. Dass er sie auch im Sommer 1914 trug, als er den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand nach Sarajewo brachte. Meine Geschichte führt also geradewegs zum Anlass für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Und diese zierlichen weißen Lederhandschuhe waren irgendwie dabei.40 Jetzt habe ich mehr erzählt, als auf ein Täfelchen, das alle Besucher lesen, passt, wobei ich noch nicht einmal die Namen der beteiligten Personen genannt habe. Ein solches Täfelchen mit allen „Pflichteinträgen“ könnte beispielsweise folgendes Aussehen haben:

38 Überleben in Sarajewo. Fotografien von Edward Serotta, Ausstellung im Jüdischen Museum Wien, 30. September – 20. November 1994. 39 Als aschkenasische (deutsche) Juden werden die Juden Mittel- und Osteuropas bezeichnet. Die sephardischen (spanischen) Juden kamen nach der Vertreibung aus Spanien 1492 auf Einladung des osmanischen Sultans auf den Balkan. 40 Die Urfassung dieses Textes ging aus einem Referat hervor, das ich 2003 am Jüdischen Museum Wien in der Reihe Museum unter der Lupe zu den Handschuhen des Zugführers Julius Brod gehalten habe. Eine schriftliche Fassung des Beitrags erschien unter: Hanak, Werner (2004): Des Lokführers neue Handschuhe – Gedanken zur Ausstellung als Drama. In: Landsmann, Hannah (Hg.): Wiener Jahrbuch für jüdische Geschichte, Kultur & Museumswesen, Band 6. Wien, S. 64-70.

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Die Handschuhe des Lokführers Julius Brod Weißes Leder, Messing, genäht Sarajewo, um 1910 Jüdisches Museum Wien, Inv. Nr. 2040 Ankauf 1995 Julius Brod war Cheflokführer der k.u.k. Bosnischen Eisenbahnen. Er trug die Handschuhe immer, wenn er ein Mitglied der kaiserlichen Familie fuhr. Er trug sie auch, als er den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand im Sommer 1914 nach Sarajewo brachte.

Die Texte und die sie beschreibenden Dinge geben einen Blick auf die Arbeit der KuratorInnen frei. Im Ausstellungsspiel, in dem die BesucherInnen auf die Dinge treffen, sind die Kuratoren die unsichtbaren Mitspieler. Sie suchen die Dinge aus und bringen Texte ins Spiel, mit denen sie die Dinge zähmen oder aufladen. Die Besucher können diese Texte in Anspruch nehmen, um ihre inneren Dialoge mit den Dingen in Gang zu bringen. Die Vermittlungstätigkeit der Kuratoren ist zwar eine Grundvoraussetzung für die Ausstellung, ihre Präsenz im Dialog zwischen den Dingen und den Besuchern ist aber nur begrenzt gefragt. Es scheint, als sollten die KuratorInnen, die ohnehin nicht mehr im Ausstellungsraum sind, wenn ihn die Besucher betreten, nicht zu sehr in Erscheinung treten. Sie sollen die Zweierbeziehung zwischen Besucher und Ding nicht unnötig in eine Dreieckskonstellation verkomplizieren. Von ihnen werden knappe Texte gewünscht. Und scheinbar verbietet die Konvention den Kuratoren, diese Texte in der Ich-Form zu schreiben. Kuratoren sollen zwischen Besuchern und Dingen vermitteln, sie miteinander verkuppeln, indem sie auf kürzestem Weg Sinn zwischen dem Besucher-Ich und dem Ding herstellen und stiften. Beinahe im Widerspruch dazu steht die Beobachtung, dass sich die Kuratoren seit dem Beginn der Moderne mehr und mehr in den Mittelpunkt spielen. Doch Kuratoren gab es – ohne dass sie als solche bezeichnet wurden – seit Beginn jeglicher Ausstellungstätigkeit. Ähnlich den Regisseuren gelang es ihnen aber im Laufe des 20. Jahrhunderts, sich eine einzigartige Position zu erarbeiten, die es ihnen ermöglichte, individuell für ihre Leistung wahrgenommen und kritisiert zu werden. Und dennoch unterscheidet sich die Ausgangslage der Kuratoren ganz massiv von jener der Theaterleute. Während Dramatiker und Regisseure ihre Stücke in ihrer Entwicklung von Anfang bis Ende als Ganzes formen können, müssen sich die Kuratoren mit den Besuchern als Koproduzenten einigen: Während die Kuratoren zwar ein Narrativ vorschlagen können, liegt es schließlich an jedem einzelnen Besucher, das Drama selbst voranzutreiben bzw. sich Geschichte selbst fertig zu erzählen.

4. Die Geburt der Ausstellung aus dem Geiste des Theaters? Zur theatralischen Frühgeschichte der Ausstellung (1530-1750)

In den einleitenden Überlegungen habe ich meinen Zugang zu einer Dramaturgie der Ausstellung dargelegt und meine Gedanken zur Rollenverteilung innerhalb der Ausstellung und zum inneren Dialog skizziert. Im dritten Kapitel komme ich auf diese Dreiecksbeziehung zwischen BesucherInnen, ausgestellten Dingen und KuratorInnen auf der Bühne des Ausstellungsraumes zurück. Zuvor aber versuche ich, den im Ausstellungsdiskurs meist auf die Gegenwart gerichteten Fokus zu weiten und eine historische Basis für die aufgerissenen Fragestellungen zu finden. Auf der Suche nach gemeinsamen strukturellen Wurzeln der Medien Ausstellung und Theater unternehme ich eine historische Reise in die europäische Neuzeit und damit in die Frühzeit der Ausstellung. Die Erzählstruktur dieses Kapitels hat die Form eines Kreises und ist von einer Reihe von Rückblenden geprägt: ausgehend von der Zeit der Aufklärung über das Barock bis zurück in die Renaissance. Es ist ein Weg der Überraschungen, der zumeist nach Paris führt. Mein Ausgangspunkt ist sowohl die erstmalige als auch die dauerhafte Eroberung des „Salons“ und damit des Mediums Ausstellung durch die Öffentlichkeit in Paris im 17. und 18. Jahrhundert. Den Fokus richte ich dabei auf die Rolle des Pariser Theaters als Schule für das angehende Ausstellungs- und Museumspublikum. In der Folge breche ich zu drei weiteren Reisen in noch frühere Zeiten auf. Zweimal komme ich nach Paris zurück, einmal führt mich der Weg nach München. Gefunden habe ich an diesen Orten drei sehr verschiedenartige Projekte, die sowohl Merkmale des Theaters als auch der Ausstellung in sich tragen und zeigen, in welcher gedanklichen und räumlichen Nähe sich die beiden Medien trotz aller Differenzen in der europäischen Neuzeit formiert haben. Mit den Augen eines jungen Deutschen, der schon in seinen frühen Jahren zahlreiche Kunst- und Wunderkammern in Europa besucht hat, kehre ich 1675 in das Paris des Sonnenkönigs Ludwig XIV. zurück. Der

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junge Reisende ist Gottfried Wilhelm Leibniz, er wird in Paris einen „Gedankenscherz“ zu Papier bringen, der sich als handfestes Konzept für seinen Traum eines Theaters der Natur und Kunst entpuppt. Sein Projekt steht für ein barockes Ausstellungstheater, das das geistige Potential der zahlreichen Wissensdurstigen auf einer wissenschaftlichen und spielerischen Bühne herausfordern und bündeln will. Knapp 150 Jahre früher überschreite ich dann nochmals die Stadtgrenzen von Paris und begleite den venezianischen Gelehrten Giulio Camillo an den Renaissance-Hof von Franz I. Dort präsentiert Giulio Camillo dem König das Modell seines Gedächtnistheaters in Form eines antiken römischen Theaters. In Camillos Theater gibt es keine Schauspieler, dafür stehen die Zuschauer auf der Bühne und betrachten auf der ansteigenden Arena angebrachte Zeichen, Symbole, Bilder und Schriften. Camillos Ausstellungstheater entsteht just zu jener Zeit, in der die antiken Theater ausgegraben und untersucht werden, aber weder Theater noch Kunst- und Wunderkammern einen neuen baulichen Formenkanon ausgebildet haben. Auf der letzten Station in München steht ein Mann im Mittelpunkt, der die Ideen von Giulio Camillo und seine Schrift L’idea del theatro bereits rezipiert hat. Es ist der Belgier Samuel Quiccheberg, der 1665 in München die erste museumstheoretische und –praktische Schrift im deutschen Sprachraum herausgegeben hat. Seine Schrift Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi (Überschriften oder Titel des umfangreichsten Theaters) ist aber nicht nur als Sammlungsdramaturgie für Kunst- und Wunderkammern richtungsweisend, sondern zeigt eindrucksvoll, dass es sich bei Quicchebergs Projekt und anderen Kunstkammern der Zeit tatsächlich um „Theater der Kunstwerke“ gehandelt hat. Über sein eigenes Projekt und auch über jenes seines Vorbildes Giulio Camillo schreibt er: „der Name ‚Theater‘ wird ihm hier nicht uneigentlich beigelegt“, er wird nicht, wie bei anderen, die ihre Lexika und Enzyklopädien Theatrum nennen, „metaphorisch benutzt“1. Quicchebergs Projekt, das bereits nach einer Öffentlichkeit strebt und durchlässiger als jenes hermetische Theater des Giulio Camillo war, ist ein bedeutender Schritt in die Ausstellungs-Zukunft. Mit ihm schließe ich den Kreis und kehre wieder an meinen Ausgangspunkt zurück: an jenen Moment, in dem die Öffentlichkeit, wie wir sie heute verstehen, die Ausstellung erobert und sie damit zu einem Medium macht, das heute zu den wichtigsten diskursiven Kulturtechniken der westlichen Welt gehört.

1 Quiccheberg, Samuel (2000) [lat. 1665]: „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi“. In: Roth, Harriet (Hg.): Der Anfang der Museumslehre in Deutschland. Das Traktat „Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi“ von Samuel Quiccheberg. Berlin, S. 108f.

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4.1 D IE E RFINDUNG DER AUSSTELLUNG DURCH DIE Ö FFENTLICHKEIT „Ich behaupte, dass die Ausstellung, in der die Gemälde gezeigt werden, zwanzigmal am Tag ihr Publikum wechseln sieht. Was die Öffentlichkeit noch um zehn Uhr morgens bewundert, das verdammt sie bereits am Nachmittag. Jawohl, ich sage Ihnen, dieser Schauplatz bietet zwanzig verschiedene Arten von Publikum, jedes Mal mit anderem Tonfall und Charakter im Verlauf nur eines einzigen Tages: ein schlichtes Publikum zu bestimmten Zeiten, ein Publikum mit Vorurteilen, ein oberflächliches Publikum, ein boshaftes Publikum, ein Publikum, das sich sklavisch der Mode verschrieben hat, alles zu sehen wünscht, aber nichts zu beurteilen imstande ist. Ich kann Ihnen versichern, dass eine endgültige Auflistung des Publikums zu keinem Ende führen würde [...].“2

Das, was Antoine Coypel, Direktor der Französischen Akademie und erster Maler des Königs, im Jahr 1747 über das Publikum der AkademieAusstellung, des sogenannten „Salons“, schreibt, klingt verwundert bis wütend. Coypel staunt hier über die überwältigende und destruktive Kraft des Publikums, jenen „Geist“ also, den die Akademie selbst vor kurzem in ihre Leistungsschau gerufen hatte, und den sie nun nicht mehr los zu werden scheint. Erst ab 1737 finden die für ein größeres Publikum zugelassenen Akademieausstellungen in einem regelmäßigen Rhythmus von zwei Jahren statt. Zehn Jahre später, als Akademiedirektor Coypel versucht, die heterogene Phänomenologie des Publikums zu erfassen, erreicht der Konflikt zwischen Künstlern und Publikum seinen ersten Höhepunkt. In der Literatur zur Geschichte der Ausstellung werden gerade diese Jahre, in denen es in Paris zur „Veröffentlichung“ des Salons kommt, als Geburtsstunde der Ausstellung im heutigen Sinne angesehen. Das heißt nicht, dass zuvor nicht ausgestellt wurde. Doch der Ausstellung hatte die Öffentlichkeit, sowohl das breite Publikum als auch die kritische Auseinandersetzung, gefehlt. Erst der bewusste Akt, einen Raum mit Exponaten zu „veröffentlichen“, d.h. ihn einer Öffentlichkeit, die sich in der offenen Kommunikation zwischen Besuchern und Kritikern herausbildete, preiszugeben, ließ das Medium Ausstellung, das heute zu den wichtigsten und dynamischsten kulturellen Kommunikationsräumen zählt, entstehen. Das Theater dient in dieser Studie als Vergleichsmedium, da im Spiegel der Theater- und Dramengeschichte die historisch gewachsenen Charakteristiken des Mediums Ausstellung in neuem Licht erscheinen und daher plastischer hervortreten können. Stellen wir nun die Geburt der Ausstellung in der erste Hälfte des 18. Jahrhundert neben die Geburt des Theaters im 5. Jh. v. Chr., müssen wir vor allem einmal eine ungeheure zeitliche Differenz

2 Coypel, Antoine (1986) [frz. 1747]. Zit. nach Mai, Ekkehard (1986): Expositionen. Geschichte und Kritik des Ausstellungswesens. München, Berlin, S. 17f.

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von über 2000 Jahren und damit alles andere als eine „Verwandtschaft“ zur Kenntnis nehmen: Hier eine Kunstform, die im antiken Griechenland ihren Ursprung hatte, die die westliche Welt nicht nur wissbegierig erforscht, sondern noch heute zelebriert, indem sie selbst die frühen griechischen Tragödien und Komödien mit ungebrochener Begeisterung aufführt. Dort wiederum die Ausstellung, die eher als kulturelle Technik denn als Kunstform angesehen wird, die angeblich nicht älter als 270 Jahre alt sein soll, die erst mit jener Öffentlichkeit zu existieren beginnt, die das Zeitalter der Aufklärung ankündigt, und deren Geschichte und Gestalt im Gesamten wesentlich weniger intensiv erforscht ist als das Theater und dessen antiker Ursprung. Die Frage, ob dieser Vergleich zwischen dem Ursprung des Theaters und der Ausstellung hinkt oder sinnvoll ist, werde ich im Laufe der historischen Betrachtung nicht aus den Augen verlieren. Vorerst stelle ich die Beobachtung in den Vordergrund, dass die Ausstellung im Moment ihrer „Veröffentlichung“ zu sich selbst gefunden hat, da diese den Fokus auf das „Publikum“ oder auf die „Besucher“, wie die Ausstellungsrezipienten heute genannt werden, lenkt. Der Besucher und die Besucherin bilden einen Schwerpunkt innerhalb der gesamten Studie, nicht nur in diesem historischen Überblick, sondern auch im phänomenologischen Teil, da die Besonderheit des Mediums Ausstellung auch in dramaturgischer Hinsicht zu einem Großteil durch die spezielle Rolle des Besuchers geprägt wird. Die BesucherInnen schalten sich als Suchende aktiv ein, rezipieren relativ frei von zeitlichen Zwängen Dritter, bewegen sich selbst durch den inszenierten Raum, sind KoproduzentInnen im konfrontativen Spiel mit den ausgestellten Dingen im inszenierten Ausstellungsraum, erzählen sich das, was sie sehen und was sie sehen wollen, letztlich selbst. Auch wenn ich mich in dieser Studie eingehend mit den Positionen und der Macht der AusstellungsmacherInnen beschäftige und intensiv auf die Charakteristik und die Möglichkeiten der Objekte im Ausstellungsspiel eingehe, so steht die Aufmerksamkeit gegenüber den BesucherInnen stets im Vordergrund. Die vorliegende Betrachtung soll die Geschichte und Phänomenologie des Ausstellens erfassen und keine Geschichte des Sammelns erzählen, in der zweifelsohne die Perspektive der Sammler oder Museumskustoden bestimmend wäre. Die These von der Entstehung der Ausstellung durch die Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts besticht, gerade weil sie die existentielle Bedeutung der Besucher für die Ausstellung betont. Andererseits schafft die Gleichsetzung der Geburt dieses Mediums mit dem Moment ihrer Entdeckung durch die Öffentlichkeit auch Probleme. Vor allem verstellt sie den Blick auf die frühere Geschichte des Ausstellens, die unter anderem den Reliquienkult, die Präsentation weltlicher Machtsymbole, beispielsweise der Reichskleinodien des Heiligen Römischen Reiches oder in antiker Zeit die Ausstellung des athenischen Staatsschatzes während der großen Dionysien3, die Kunst-

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Neben dem Staatsschatz Athens wurden auch die Tribute der Bündnispartner des Attischen Seebundes sowie das Kultbild des Dionysos aufgestellt. Dadurch

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und Wunderkammern und die fürstlichen Galerien hervorbrachte. Diese Vorgänge, Ereignisse und Phänomene entstanden und existierten auch schon in einer Zeit, in der die Öffentlichkeit im heutigen Sinn den „Ring“ noch nicht betreten hatte, und funktionierten dennoch in vielerlei Hinsicht nach denselben oder ähnlichen Prinzipien und Gesetzen, die auch heute zeitgenössischen Ausstellungen zu Grunde liegen. Wie problematisch die These von der Entstehung der Ausstellung durch die Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts letztlich ist, zeigt der Vergleich mit dem Theater. Niemandem käme es in den Sinn, dem höfischen oder kirchlichen Theater die Bezeichnung „Theater“ abzusprechen, nur weil sich dieses nicht einer Öffentlichkeit im heutigen Sinn geöffnet hat. Ich habe mich entschieden, diese Widersprüchlichkeit zu nützen und die Analyse der Ausstellungsgeschichte im Spiegel der Theater- und Dramengeschichte im Paris der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beginnen, in der die überraschten Künstler sich und ihre Bilder mit der verstörenden Kraft eines neuen Publikums konfrontiert sahen. Wenn ich die Geschichte der Ausstellung von hier aus betrachte, wenn ich von hier aus vor allem Ausflüge in die Frühgeschichte unternehme, problematisiere ich die These von der Geburt der Ausstellung durch die Öffentlichkeit und akzeptiere sie dennoch in einem beträchtlichen Maße. Ich nütze diesen Moment der Eroberung der Ausstellung durch die Öffentlichkeit in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem als Podest, von dem aus ich noch weiter in die Vergangenheit zurückblicken kann. In dieser meist von Rückblenden geprägten Betrachtung ist es mein Ziel, die Charakteristik der Ausstellung im Vergleich mit dem Theater zu erfassen und die Berührungspunkte der beiden Medien zu bestimmen, um schließlich jene Geschichte beschreiben zu können, die zu dem Paukenschlag, der uns die öffentlich zugängliche Ausstellung im modernen Sinn geschenkt hat, geführt hat.

Am Anfang war die Dekoration Als am 1. Februar 1648 die Académie Royale de Peinture et Sculpture gegründet wird, deutet noch nichts darauf hin, dass sich einmal ein Publikum, geschweige denn eine Öffentlichkeit finden würde, die sich an Ausstellungen der Akademie erfreuen oder erregen würde, die sich mit den darin ausgestellten Bildern auseinandersetzen würde. Eine Auseinandersetzung, die sich im Rahmen einer solcher Leistungsschau nach dem Verständnis der Professoren und Künstler ohnehin, wenn überhaupt, nur zwischen den Wer-

wurde der Theaterraum nicht nur zum Ausstellungsraum sondern auch einmal mehr zum Kultraum. Die Statuen der Dramatiker, die das antike griechische Theater dann in der Zeit des steinernen Theaters schmückten, erweiterten den Theaterraum um die Dimension der Erinnerung. Ich bedanke mich für den Hinweis bei Hilde Haider-Pregler.

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ken selbst und Auftraggebern oder Käufern abspielen sollte. Nichts deutet darauf hin, dass die Akademieausstellungen 100 Jahre später zu einer Bühne für ein Publikum werden würden, das mit der Selbstgerechtigkeit eines Kunstrichters über die Werke der Künstler herfallen würde. Das alles ist wenig überraschend, denn noch existiert im Vokabular der gerade erst gegründeten Akademie der Begriff exposition überhaupt nicht. Doch selbst als die Akademieleitung 1663 erstmals das Wort exposition in ihre Statuten aufnimmt, denkt noch niemand an ein Publikum, wie es in der Welt des Theaters damals bereits existiert, geschweige denn an eine Öffentlichkeit im heutigen Sinn. Im Artikel 25 legt die Akademie fest, dass jedes Mitglied zur Generalversammlung, die jährlich am ersten Samstag im Juli stattfindet, „ein Werk seiner Hand für einige Tage zur Dekoration des Akademiesaales zur Verfügung stellen und es nach Beendigung der Feierlichkeiten wieder zurücknehmen“ 4 soll. Aus dieser „Dekoration des Akademiesaales“ sollte später einmal der berühmte Salon entstehen, doch vorerst entwickelt sich der Wunsch nach einer Ausstellung, der im wesentlichen vom Akademiegründer und -kanzler Charles Le Brun ausgeht, nur äußerst zaghaft. Die Künstler schieben Gründe vor, warum sie keine Bilder zur Generalversammlung bringen können, sodass die Ausstellung bei ihrer Premiere im Jahr 1664 gleich einmal ausfällt. Auch in den darauffolgenden Jahren scheint das Interesse der Künstler spärlich zu sein. Vor allem sehen sie nicht ein, warum sie sich wegen der Dekoration des Festsaales der Kollegenkritik aussetzen sollen, insbesondere, da die ganze Aktion keinen wirtschaftlichen Nutzen verspricht: Weder die Kollegen noch eine eventuelle Öffentlichkeit kommen zu dieser Zeit als wirtschaftliche Förderer bzw. Käufer in Frage.5 Im historischen Rückblick zeigt sich jedoch, dass die Akademie, die 1648 genau zum Zeitpunkt der Fronde, der Auseinandersetzung der Adeligen mit der jungen absoluten Monarchie des aufstrebenden Ludwig XIV. entstand, eine dritte Kraft brauchte, um sich unabhängig von den Adeligen und dem absoluten König wirtschaftlich zu entwickeln. Diese dritte Kraft

4 Koch, Georg Friedrich (1967): Die Kunstausstellung. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Berlin, S. 127. Diesem Satz liegt der Artikel 25 der Statuten der Pariser Akademie von 1663 zugrunde, der in der Fußnote 302 auf der selben Seite zitiert ist. «Il sera tous les ans fait une assemblée générale dans l’Académie, au premier samedi de Juillet, où chacun des officiers et académiciens seront obligez d’apporter quelque morceau de leur ouvrage, pour servir à décorer le lieu de l’Académie quelques jours seulement et après les remporter si bon leur semble, auquel jour se fera le changement et élection des dits officiers, si aucuns sont à élire dont seront exclus ceux qui ne présenteront point de leurs ouvrages et seront conviez les Protecteurs et Directeurs d’y vouloir assister.» Zit. nach: Vitet (1861): L’Académie royale de peinture et sculpture, S. 270. 5 Koch 1967, S. 125.

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sollte einmal die Öffentlichkeit mit ihrer diskursiven, manipulativen und wirtschaftlichen Energie werden. Den Künstlern, die sich anfangs nur schwer an die Aggressivität der „Besucher“ gewöhnen wollten, blieb auf lange Sicht nichts anderes als eine Union mit der Öffentlichkeit übrig.

„La festa dei quadri“ – Vorbild Italien Für die Pariser Akademie und ihre Ausstellungsambitionen sind die einschlägigen Aktivitäten in den italienischen Städten ein wichtiges Vorbild. Die Akademien von Florenz und Rom entstehen bereits 100 Jahre vor jener in Paris. In Florenz hatte Giorgio Vasari 1562 die Accademia del Disegno gegründet. Sie ist sowohl Unterrichtsanstalt als auch offizielles Organ der gültigen Kunstlehre. In Rom eröffnet die Accademia di San Luca 1577, wo ab 1596 jedes Akademiemitglied verpflichtet wird, ein Werk zu stiften. Durch diese Maßnahme schmücken mit der Zeit viele Werke von hervorragender Qualität die Wände der Akademie.6 Ab 1607 öffnet die römische Akademie am Tag des Heiligen Lukas die Pforten für ein Publikum, womit der erste Keim der öffentlich zugänglichen Akademieausstellung gelegt ist. In Rom tritt diese Akademieausstellung in Konkurrenz mit anderen, älteren bzw. traditionsreicheren Ausstellungen, die vor allem im Einflussbereich der Kirchen und kirchlichen Bruderschaften entstanden sind. Verglichen mit diesen Ausstellungen nehmen sich die italienischen Akademieausstellungen des 17. Jahrhunderts noch geradezu bescheiden aus. Die kirchlichen Ausstellungen kommen anlässlich von Feiertagen, heiligen Wochen bzw. Jahren zustande und werden von den Malergilden in barocker Manier zur Inszenierung von Festen und Räumen organisiert. Höhepunkt des römischen Ausstellungsjahres ist die Schau am Tag des San Giuseppe im mächtigen Säulenportikus der Kirche Santa Maria Rotonda7, wie die katholische Kirche das römische Pantheon nun nennt. Träger dieser Veranstaltung, die mit dem Namen La festa dei quadri in die Geschichte eingeht, ist die schon 1542 als gegenreformatorische Bruderschaft

6 Es ist daher wenig überraschend, dass Jahrzehnte später der 1665 auf Einladung Ludwig XIV. in Paris verweilende römische Barockarchitekt Giovanni Lorenzo Bernini in einem nicht umgesetzten Entwurf für den Neubau des Ostflügels des Louvres richtungsweisend die Unterbringung der Akademie und die Einrichtung eines ständigen Ausstellungssaales mit hervorragenden Werken der Mitglieder in diesem Gebäude empfiehlt. Vgl. Chantelou, Paul Fréart de (1919) [frz. 1885]: Das Tagebuch des Herrn von Chantelou über die Reise des Cavaliere Bernini nach Frankreich. Übersetzt von Hans Rose. München, S. 162ff und 197. 7 Die Ausstellung wird erstmals 1651 erwähnt, fand mit großer Wahrscheinlichkeit aber schon in früheren Jahren statt. (Koch 1967, S. 112.)

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Abbildungen 7, 8: Der Ort der ersten Jury-Ausstellung: Die Säulenhalle des Pantheon in Rom. Fotos: W. H.-L.

gegründete Congregazione Pontifica dei Virtuosi al Pantheon. Ihre Mitglieder präsentieren ihre Gemälde vor Teppichen, die zwischen den Säulen des Pantheons aufgespannt werden. Eine Besonderheit der Ausstellung im Pantheon ist, dass ihre Bilder von einer Jury ausgewählt werden, in dieser Hinsicht ist sie die erste ihrer Art. Wie andere Ausstellungen zu dieser Zeit in Rom erreicht sie eine gewisse Öffentlichkeit. Die Ausstellungen sind nur kurz zu sehen, meist hängen die Bilder nicht einmal eine Woche, wodurch das Interesse fokussiert wird. Dennoch lässt sich die Öffentlichkeit, die diese Ausstellungen generiert, nicht mit jener vergleichen, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris mit der Öffnung der zweijährlichen Akademie-Ausstellung entsteht, da die römischen Ausstellungen ausschließlich an den Jahrestagen spezieller Heiliger, in heiligen Wochen oder Jahren, d.h. anlassbezogen zu Stande kommen.8 Die römischen Ausstellungen tragen eine Ambivalenz in sich, denn sie dienen zwei Zielen: Einerseits bedeuten sie für die Mitglieder der Gilde eine wichtige Präsentationsmöglichkeit, andererseits dient die Gesamtheit der ausgestellten Bilder als „Bühnenbild“ für ein religiöses und gesellschaftliches Ritual. „In seinen verschiedenen Möglichkeiten und Abstufungen ist es [das italienische Ausstellungsleben des 17. Jahrhunderts] ein Teil des barocken Gesellschaftskultes, der alle Kräfte der Bildung und der Repräsentation in ihrer autonomen Gestalt zur Dekoration der eigenen Lebenssphäre und zur Steigerung des Daseins in eine ideale Größe benutzt und für das ständig wechselnde Schaubild dieser umfassenden gesell-

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Ein Merkmal, das sich diese Ausstellungen mit den kirchlichen Prozessionen teilen. Im Kapitel Vom Pilger zum Besucher werde ich auf die Qualität dieser Gemeinsamkeit näher eingehen.

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schaftlichen Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit auch die Kunstausstellung als eine gemäße Ausdrucksform entwickelt.“9

Diese Beobachtung zur Kultur der römischen Ausstellung im 17. Jahrhundert könnte auch zur Beschreibung des barocken Theaters herangezogen werden, denn auch das Theater war „Teil des barocken Gesellschaftskultes“. Doch war das barocke Welttheater in seiner Struktur noch komplexer und galt den gesellschaftlichen Verhältnissen als Äquivalent, während die Ausstellung im Barock (und nicht zufällig in dieser Epoche) sich gerade erst einen eigenen Raum erarbeitete. Man könnte auch sagen, dass es der Ausstellung gelang, einen gesellschaftlichen bzw. religiösen Raum als Dekor „verkleidet“ für sich selbst zu erobern. In Rom war dieser Raum mit seinen rundum gespannten Teppichen und den darauf platzierten Bildern sowohl sakral-theatralischer Stimmungsraum als auch in Form von Vorhallen und Innenhöfen von Kirchen und Gemeindehäusern ein der Quasi-Öffentlichkeit angehörender Außenraum.

Die Öffnung der Pariser Akademie In Paris laufen die Ausstellungsaktivitäten nur sehr langsam an. Im Jahr der geplanten „Uraufführung“ 1664 kommt keine Schau zustande. 1665 wird die Eröffnung von Anfang Juli auf Ende August verschoben. Im darauffolgenden Winter ändern die Akademiker die Statuten10: Aus der jährlichen Akademie-Ausstellung wird eine Biennale, also eine Ausstellung, die nur alle zwei Jahre stattfindet. Beim nächsten Anlauf 1667 scheint sich alles zu bessern. Dies legt zumindest eine retrospektive Reportage nahe, bei der es sich wohl um den ersten Bericht aus einem Pariser „Salon“ überhaupt handelt. Er ist nicht nur wegen seiner Erzähl-, sondern auch wegen seiner Wahrnehmungsstrategie interessant: „… while crossing the Palais-Royal, where some errands had drawn me, I found myself unexpectedly in the midst of a confusion of traffic involving a number of carriages blocking the entire entrance to the vast rue de Richelieu. I was, it seemed the only one present who knew nothing of a famous gathering of men and women of every age and rank, who had brought themselves to the grand courtyard of the Hôtel Brion in order to admire the rich pictures and the superb statues which the Royal Academy of Painting and Sculpture had laid out on that day by the express order of his Majesty. Words could not express what an agreeable spectacle this was for me to see all at one time a prodigious quantity of every kind of work in all the diverse aspects of painting; I mean history, portrait, landscape, seascape, flowers, fruits; nor could

9 Koch 1967, S. 121f. Erläuterungen in eckiger Klammer von W. H.-L. 10 Zu den frühen Salons: Crow, Thomas E. (2000): Painters and Public Life in Eighteenth-Century Paris. New Haven and London, S. 33ff.

42 | DIE A USSTELLUNG ALS D RAMA they convey by what sort of magic, as if I had been transported to strange climes and to the remotest centuries, I found myself a spectator at those famous events the extraordinary written accounts of which had so often stirred my imagination. I could barely comprehend how I could find myself able to converse with the celebrated dead whom I had known before now only by the aura of their fame, or how, by some change of scenery, I could find myself instantly in the solitude of the fiercest deserts, or just as quickly, in the fertility of the happiest countryside or the horror of storms and shipwrecks, all the while remaining in the midst of the streets of the most populous city on earth, which is forty leagues from the nearest sea.“ 11

Der Autor dieser Zeilen ist Jean Rou, ein protestantischer Intellektueller und Freund des damaligen Akademie-Sekretärs Henry Testelin. Der Text bemüht eine rhetorische Technik, die auch die späteren Berichte über den Salon immer wieder strukturieren wird. Er beginnt mit dem heftigen Verkehr in der Stadt und gleitet dann in die ebenfalls betriebsame, aber verzaubernde Welt des Salons hinüber. Thomas E. Crow weist in seiner Schrift Painters and Public Life in Eighteenth-Century Paris darauf hin, dass die Brauchbarkeit dieser Quelle nicht überstrapaziert werden darf, da es sich dabei um die ersten Seiten eines Entwurfs einer weder fertiggeschriebenen noch publizierten Geschichte der Akademie aus den Jahren um 1690 handelt, was bedeutet, dass sie aus mehr als zwanzig Jahren Distanz geschrieben wurde. Rou stellt sich am Beginn der Geschichte als ungebildeter Kunstbewunderer dar (der er 1667 sicher nicht mehr war), der sich im Laufe der Besuche im Salon zum Connaisseur wandelt. Für uns zahlt es sich aus, diesen „naiven“ Ausstellungsbewunderer am Anfang des modernen Ausstellungszeitalters genauer zu betrachten, denn Jean Rous Begegnung mit den Bildern gestaltet sich einerseits zu einer illusionistischen Reise durch Raum und Zeit, andererseits zu einer handfesten Konfrontation des Besucherindividuums mit den auf den Bildern dargestellten Menschen, Handlungen, Landschaften oder Jahreszeiten: Er „unterhält sich“ mit berühmten Toten, er „findet sich selbst wieder“ in der Einsamkeit der Wüste oder dem Sturm der Meere, während er doch selbst in der „dichtestbesiedelten Stadt fernab vom Meer“ steht. Für Rou, den „naiven“ Ausstellungsbesucher des 17. Jahrhunderts ist die Begegnung mit den Bildern ein Dialog, eine Unterhaltung und auch eine Konfrontation mit einer neuen Realität, einer Virtualität, die die Wirklichkeit der Stadt Paris immer wieder überwältigt und zum Verschwinden bringt, selbst wenn sich die Ausstellung – ähnlich wie im wärmeren Italien – noch nicht in einen illusionistischen Innenraum, sondern nur in einen großen Pariser Innenhof zurückgezogen hat. Die Akademie-Ausstellung floriert, zumindest vorerst. Mit der Osterwoche wird ein neuer symbolträchtiger Termin festgesetzt, der an die „Anlass-

11 Washington, Francis (Hg.) (1857): Mémoires inédits et opuscules de Jean Rou (1638-1711). Bd. II., Paris, S. 19. Übersetzt ins Englische und zit. nach: Crow 2000, S. 34.

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ausstellungen“ entlang des christlichen Festkalenders in Rom erinnert und das Medium der Ausstellung als „festa dei quadri“ in den Kontext eines Fests bzw. einer Prozession stellte. Vier Jahre später, im Jahr 1671, werden so viele Bilder eingereicht, dass diese nicht nur den Innenhof des Hôtel Brion bespielen, sondern auch jenen des Palais Royal in Besitz nehmen. JeanBaptiste Colbert, Minister von Ludwig XIV., zeigt sich von der Initiative der Künstler beeindruckt und spricht die erste heute bekannte Verlängerung einer Ausstellung – statt einer Woche zwei – aus. Für die darauffolgende Ausstellung 1673 werden zusätzlich alle Akademie-Aktivitäten abgesagt, um sich voll auf die Ausstellung und den Ansturm des Publikums einstellen zu können. Doch es scheint, als hätte die Akademieleitung die Rechnung wieder ohne ihre Mitglieder gemacht: Zuerst wird die Ausstellung auf Grund der niedrigen Temperaturen in der Osterwoche verschoben, dann kommt auch der Termin zu Pfingsten nicht zustande. Als die Ausstellung dann schließlich am 25. August eröffnet, fehlen die Einsendungen von 45 Künstlern. Über die Ausstellung zwei Jahre später im Jahr 1675 ist wenig bekannt. 1677 kommt sie sicher nicht mehr zu Stande, was auf die geschwächte Führung der Akademie zurückzuführen ist. Trotz erheblicher Anstrengungen kann diese die Künstler bis ins Jahr 1699 zu keiner weiteren Konfrontation ihrer Bilder mit der Öffentlichkeit überreden.12

Vom Innenhof in die „Galerie“ Genau genommen schläft die Idee der biennalen Ausstellungen über 60 Jahre ein, denn erst ab 1737 wird der Salon zur dauerhaften Institution. Einzig einer persönlichen Initiative ist es zu verdanken, dass zwischen 1675 und 1737 zwei Ausstellungen, beide herausragend bestückt, zustande kommen. Die treibende Kraft hinter den Unternehmungen von 1699 und 1704 ist Surintendant J. H. Mansart, der der Akademie nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch ein theoretisches Fundament durch die Intensivierungen der conférences zurückbringt. Die Ausstellung übersiedelt vom Innenhof des Hôtel Brion in den Innenraum der grande galerie des Louvre am SeineUfer, in der sie einen schmalen, aber gut 200 Meter langen Raum in Besitz nimmt, an dessen Ende ein Thron für König Ludwig XIV. platziert ist. Mansart sieht im Medium Ausstellung die Möglichkeit, die Kunst der kritischen Beurteilung durch die Öffentlichkeit auszusetzen, was seiner Meinung nach eine produktive Konkurrenz unter den ausstellenden Malern fördern würde. Eindrücke von der Erzähl- und Wahrnehmungsstrategie der damaligen Ausstellungsmacher und auch -besucher vermitteln eine bildliche Darstellung der grande galerie aus dem Jahre 1699, eine Reportage von Florent Le Comte sowie das livret, das eine Frühform des Ausstellungskatalogs darstellt. Auffallend ist, dass der Raum noch nicht in der Weise vollgepackt ist,

12 Vgl. die Daten dazu in: Koch 1967, S. 128, und: Crow 2000, S. 35.

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wie das bei den späteren überbordenden Ausstellungen im 18. und 19. Jahrhundert der Fall sein wird. Überhaupt scheint der Privatraum noch als Vorbild für den Ausstellungsraum zu gelten. „Le Comte’s description, which leads the reader from point to point as if one were physically traversing the room is exactly the way he elsewhere describes the works of art in palaces and private dwellings. The official livret too follows the same program. Its text begins by carefully laying out the architectural setting and supporting décor; the works of art are initially located and identified for the visitor as part of that décor, and the name of the artist is only supplied after the location and subject matter of each work have been firmly established.“13

Noch immer scheint es, als würde sich die auf den Akademie-Ausstellungen gezeigte Kunst in ihrer Rolle als Dekor gefallen, in genau jenem Sinne, in dem die Statuten der Akademie die Künstler „zur Dekoration des Akademiesaales anlässlich der jährlichen Generalversammlung“ aufgerufen haben. Noch hat die Kunst den Raum, in dem sie zur öffentlichen Begutachtung aushängt, nicht in den eigenen Schatten gestellt. Noch lädt sie die Öffentlichkeit in einen Raum ein, der privat organisiert ist. Die Kunst borgt sich ihre Strahlkraft von der grande galerie des Louvre, anstatt diesen Raum als Projektionsfläche für die eigene Strahlkraft zu nützen. Wichtig ist vor allem die visuelle Struktur, die Bild und Raum ergeben, weniger die Information über das Bild selbst und den Künstler. Als J. H. Mansart fünf Jahre später, im Jahr 1704 eine weitere Ausstellung organisiert, findet diese aus einem feierlichen Anlass statt, der nicht mehr im kirchlichen Festkalender, dafür im absolutistisch-königlichen Lebenszyklus begründet ist. Die Ausstellung feiert, gemeinsam mit Trionfi und Prozessionen, die Geburt eines Thronfolgers14. J. H. Mansart stirbt vier Jahre später und mit ihm auch das Medium der Akademie-Ausstellung. Für die Ausstellung als dauerhafte öffentliche Einrichtung scheint die Zeit noch nicht reif. Erst 30 Jahre später wird diese Idee wieder „auferstehen“, diesmal möglicherweise für immer.

13 Crow 2000, S. 38. 14 Louis, Duc de Bretagne, geb. 1704, ist ein Enkel von Louis XIV. Er stirbt jedoch schon im Jahr nach seiner Geburt.

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Abbildung 9: Der Salon von 1699. Im Hintergrund der Thron für Ludwig XIV. Stich von Hadamart. Bibliothèque national de France, Paris, Cabinet des Estampes.

4.2 D AS T HEATER

ALS

S CHULE

FÜR

B ESUCHER

„Gesegnet sei für immer das Andenken des Mannes, der diese öffentliche Ausstellung von Gemälden ins Leben rief, den Wetteifer unter den Künstlern anregte, allen Ständen der Gesellschaft und insbesondere den Menschen von Geschmack eine nützliche Motion und eine angenehme Erholung verschaffte, den Niedergang der Malerei bei uns aufhielt und vielleicht noch für weitere hundert Jahre aufhält und die Nation in diesem Zweige der Kunst wieder gebildeter und anspruchsvoller machte.“15

Diese Zeilen schreibt der „empfindsame Aufklärer“ Denis Diderot anlässlich des Salons von 1763. Der Mann, zu dessen Andenken Diderot feierlich und dankbar aufruft, war Philibert Orry, Finanzminister und Generalintendant der königlichen Bauten. 1737 hatte er die regelmäßige AkademieAusstellung wiederbelebt16, die nun im Salon Carré im Louvre stattfand (und deshalb von da ab kurz der Salon genannt wurde) und die ein Beispiel für die Präsentation neuer Kunst in die Welt setzte, das bald in London, Rom, Wien und anderen europäischen Städten begeistert aufgriffen wurde.

15 Diderot, Denis (1968): Ästhetische Schriften. Band 1. Frankfurt am Main, S. 432. 16 Der „Wiederbelebung“ der Akademie-Ausstellung 1737 sind Bemühungen vorausgegangen, die bis in die 1720er Jahre zurückreichen. 1725 hatte erstmals im Salon Carré anlässlich der Hochzeit von „Louis le Bien-Aimé“ eine kleine Ausstellung stattgefunden, 1727 gibt es einen Concours der Akademie, bei dem der König 5000 Livres für die beiden besten Bilder stiftet. Seit 1734 kündigt die Akademieleitung wieder an, dass zum Tag der Generalversammlung alle Amtsbewerber die im betreffenden Jahr geschaffenen Werke ausstellen müssen.

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Diderot, der sich in den Jahren zuvor intensiv mit dem Theater auseinandergesetzt hatte17, steigt jetzt zu einem der wichtigsten Kritiker des Salons auf, dessen Beobachtungen anfangs in der von Melchior Grimm herausgegebenen Correspondance littéraire erscheinen. Schriftsteller wie Diderot bilden eine wichtige Säule jenes noch vagen Begriffs, den man zuerst „Publikum“ und bald „Öffentlichkeit“ nennen wird. Und jene Öffentlichkeit ist drauf und dran, sich mit all ihren diversen Vertretern – man denke nur an die „zwanzig verschieden Arten von Publikum“ – den Ausstellungsraum genauso anzueignen, wie es die in ihm hängenden Bilder getan haben. Die Panik der Künstler vor dem unberechenbaren Publikum sowie ihren Wort- und Schriftführern, den Kritikern, hat einen handfesten Hintergrund: 1747 publiziert der Kunstkritiker La Font de St. Yenne die Reflexions sur quelques causes de l’état présent de la peinture en France, in denen er grundlegende Rechte für den Betrachter von Kunst bzw. den Besucher von Ausstellungen fordert. Dabei verlangt er nicht nur „das Recht auf Kritik für jedermann“18, er macht auch klar, dass in Zukunft die Wahrheit, wenn es um die Qualität der Bilder (und auch Ausstellungen) geht, beim gebildeten Besucher, nicht bei der Akademie liegen wird: „Nur in den Mündern der entschiedenen und gerechten Männer, aus denen sich die Öffentlichkeit zusammensetzt und die keine Verbindungen zu den Künstlern haben, finden wir die Sprache der Wahrheit.“19

Die Antwort der Akademie lässt nicht lange auf sich warten und ist bezeichnend für das Unverständnis der Künstler und ihrer Lobby gegenüber dieser neuen Form von Öffentlichkeit. Ihr Vertreter Charles-Nicolas Cochin, der kritische Salonberichterstatter gerne „als unoffizielle Kritiker“ abwertet, meint: „Ich stehe auf dem Standpunkt, dass ein Gemälde oder eine Statue nicht in derselben Weise wie ein Buch der Öffentlichkeit gehört.“20

17 Denis Diderot (1713-1784) hatte 1757 das Drama Le Fils naturel und 1758 Le Père de famille geschrieben, im selben Jahr erschien die Abhandlung De la poésie dramatique, in der er das drame bourgeois im Gegensatz zur aristokratischen Tragödie umriss. 1773 verfasste er einen „theoretischen Dialog“ mit dem Titel Le paradoxe sur le comédien (Paradox über den Schauspieler). 18 Mai 1986, S. 18. 19 Anonym [La Font de St.-Yenne] [o. Jahr]: Lettre de l’auteur des Réflexions sur la peinture et de l’examen des ouvrages exposés au Louvre en 1746, Delonynes Nr. 22, S. 10. Übersetzung: W. H.-L. 20 Anonym [Charles-Nicolas Cochin] (1747): Réflexions sur la critique des ouvrages exposés au Salon du Louvre. In: Mercure de France, Octobre 1747. Übersetzung: W. H.-L.

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Die Künstler wollen auch in Zukunft mit ihren Auftraggebern nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandeln und sich nicht mit Zwischenrufen aus anonymen Schriften oder Zurufen aus der Masse abgeben. Doch scheint es für diese Ausgrenzungsversuche bereits zu spät. Die Öffentlichkeit in ihrer noch schwer fassbaren Gestalt hat bereits den Ausstellungsraum erobert und es bleibt selbst den Künstlern nicht verborgen, dass ihr Ruf und damit auch ihr Marktwert zunehmend von publizierenden und selbsternannten mündlichen Kritikern abhängt. Sie müssen feststellen, dass sich selbst die aristokratischen Käufer und die anderen Auftraggeber mehr und mehr nach dieser „unfassbaren“ Öffentlichkeit richten. Wie aber konnte es dazu kommen? Wie waren die Künstler derart überrumpelt worden? Und woher hatte das Publikum die Energie und das Selbstbewusstsein genommen, sich im Ausstellungsraum so respektlos auszubreiten? In welche „Schule“ waren diese Besucher gegangen?

Der Salon als Bühne im parterre Einen wichtigen Hinweis auf eine mögliche Besucherschule liefert ein weiterer Schlagabtausch zwischen La Font de St. Yenne und den Akademikern, der damit beginnt, dass La Font ein Bild in einer Ausstellung mit einem Buch, das sich in Druck befindet oder einem Theaterstück, das gerade auf der Bühne aufgeführt wird, vergleicht. Letztere Behauptung bezüglich des Theaters versetzt die Akademiemitglieder in einen Alarmzustand. Denn es ist die Zeit, in der das berüchtigte parterre in der Pariser Theaterwelt über das Schicksal von Theaterstücken und Dramatikerkarrieren entscheidet. Auch in der Comédie-Française, der ersten Bühne des Landes, ist das parterre, das anders als heute aus Stehplätzen besteht, bestimmend geworden. Das geht soweit, dass Dramatiker, unter ihnen Voltaire, claqueurs organisieren bzw. bezahlen, um die Stimmung im parterre zu ihren Gunsten zum Kippen zu bringen. Von Diderot ist bekannt, dass er solche Claques für befreundete Künstler organisiert. Selbst Aristokraten verlassen ihre petites loges, um sich auf den billigen Plätzen unter das stehende Volk zu mischen, da das Schicksal der Stücke nun von diesem Ort aus ganz spontan entschieden werden konnte. „This was a precise picture of the Academy’s nightmare: a loud, demonstrative parterre transferred to the Salon, the critics leading the claques, the painters’ clientele mixed in with it and swayed by its volatile responses.“ 21

21 Crow 2000, S. 15. Crow war der erste, der die Verbindungen zwischen dem Publikum des Salons und des parterre systematisch analysierte. Dieses Kapitel baut auf seinen Ergebnissen auf.

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Der Vergleich mit dem Pariser Theater der Zeit, den der Kunsthistoriker Thomas E. Crow hier anstellt, ist in mehrerlei Hinsicht zielführend. Zum einen stecken die Ausstellungsberichte voller Theatervergleiche und wir können daher erkennen, dass die Öffentlichkeit, die es nun im Ausstellungsraum, in diesem neuen experimentellen Ort für Kunst und Gesellschaft, gibt, wohl etwas mit der Welt des Theaters zu tun hat, einer Welt, in der der polyphone Diskurs noch früher zu keimen begonnen hatte. „Unterscheidet gut zwischen dem Publikum, das nur wiederholt und dem Publikum, das auch zu sehen im Stande ist“, schreibt ein anonymer Kritiker 1773, und setzt fort: „Es ist das letztere, das die Kritik aus dem parterre heraus und im Salon formuliert; ersteres sagt nur, was es hört.“22 Während dieser Schreiber also parterre und Salon gleichsetzt, bezeichnet Louis de Carmontelle, Komödienschreiber, Landschaftsarchitekt und Berichterstatter der Pariser High Society die Ausstellung überhaupt als „gewaltiges, riesiges Theater, wo einen weder Rang, Gunst noch Reichtum vor schlechtem Geschmack schützen kann.“ Dieses „Theater“ ist für Carmontelle wiederum gleichbedeutend mit einem Ort des demokratischen Pluralismus, der vor der Revolution außerhalb der Mauern, die das Theater und den Salon umschließen, noch nicht existiert. Wir schreiben das Jahr 1783: „Hier erwacht Paris zum Leben, alle Klassen kommen, um den Salon zu füllen. Die Öffentlichkeit als natürlicher Richter über die Künste fällt ihr Urteil über die Gemälde, die in den letzten zwei Jahren entstanden sind. Ihre Meinung, zuerst noch unsicher und vorsichtig, gewinnt schnell an Stabilität. Die Erfahrung der einen, die Aufgeklärtheit der anderen, die extreme Empfindsamkeit mancher, vor allem aber der gute Wille der großen Mehrheit lassen hier zusammen ein gerechtes Urteil entstehen, in der die größtmögliche Freiheit den Vorsitz führt.“23

Carmontelle hielt seinen Optimismus nicht lange durch. Bald schlug seine Utopie des „gewaltigen, riesigen Theaters“, in dem sich die Besucher als stabile Akteure im Angesicht der Kunst etablieren würden, in eine Hinterfragung und Beschimpfung desselben Publikums um. 1785, also nur zwei Jahre später, beschrieb er ein Theater der ungleichen Charaktere auf der Bühne des Salons: „Der Salon öffnet und die Menge drängt sich durch den Eingang. Wie störend ist doch ihre Ungleichheit und Unruhe! Dieser hier, getrieben von seiner Eitelkeit, will nur der erste sein, der seine Meinung kundtut. Ein anderer, getrieben von seiner Langweile, ist nur auf der Suche nach einem neuen Spektakel. Da wiederum ist einer,

22 Anonym (1773): Dialogues sur la peinture, seconde édition, enrichie de notes. Paris, S. 19. Übersetzung: W. H.-L. 23 Anonym [Carmontelle] (1783): Le Triumvirat des Arts ou Dialogue entre un peintre, un musicien et un poëte sur les tableaux exposés au Louvre. Paris, S. 3f. Übersetzung: W. H.-L.

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der Gemälde als kommerzielle Güter begreift und sich nur damit beschäftigt, welche Preise sie erzielen werden; dort hingegen sieht einer in den Bildern nichts anderes als ein Material für sein faules Geschwätz. Der amateur durchleuchtet alles mit einem leidenschaftlichen aber besorgten Blick; des Malers Blick hingegen ist durchdringend aber eifersüchtig, wohingegen der Blick des vulgären Menschen lustig aber dumm wirkt. Die unterlegene Klasse der Menschen, die es gewohnt ist, sich dem Geschmack ihrer Meister anzuschließen, wartet nur darauf, eine berufene Person zu hören, um sich ihr Urteil zu bilden. Und wo immer man hinschaut, sind da zahllose Sekretäre, Handelsleute und Hilfsverkäufer, deren sich niemals ändernde, ermüdende tägliche Arbeit jeglichen Sinn für Schönheit absterben hat lassen: Das aber sind unzweifelhaft die Menschen, denen zu gefallen sich alle Künstler bemühen.“24

Das Staunen über die Menschen, die kommen, um die Kunst zu besuchen, ist groß und endlos. In den Berichten über den Salon mehren sich die Beobachtungen über das Spektakel, das die Besucher durch ihr Aussehen, ihre Unterschiedlichkeit und ihre Interaktionen im Ausstellungsraum entwickeln. Es scheint, als treten die Besucher mit den Bildern an der Wand in Konkurrenz. Hier eine vielzitierte Publikumsbeobachtung von Pidansat de Mairobert über den Salon von 1777: „Dieses hinreißende spectacle erfreut mich noch mehr als die ausgestellten Werke in diesem Tempel der Kunst. Hier reibt sich der savoyische Gelegenheitsarbeiter an den Schultern des Adeligen in seinem cordon bleu; dort vermischt sich das Parfum der Frau des Fischhändlers mit jenem der noblen Dame, worauf die Letztere ihre Nase zuhält, um den starken Geruch nach billigem Brandy, der sich auf sie zubewegt, zu bekämpfen; der grobschlächtige Handwerker, einzig geleitet von seinem natürlichen Gefühl, macht eine berechtigte Bemerkung. Weil er sie aber in einem komischen Akzent ausspricht, bricht ein ungeschickter Witzbold in Gelächter aus, während ein in der Menge versteckter Künstler den tieferen Sinn von all dem zu enträtseln und für seinen Vorteil zu nützen sucht.“25

Diese Gesellschaftsreportage offenbart erneut Parallelen zum parterre des Pariser Theaters. Denn die Art, wie die Autoren des 18. Jahrhunderts das heterogene Publikum des Salons charakterisieren, erinnert an Beschreibungen, die sich auf das ebenfalls heterogene Publikum des Theaters, insbesondere im parterre konzentriert haben. Hier eine Einschätzung, die gut 100 Jahre vor der Beschreibung des Salon-Publikums durch Mairobert erschien.

24 Carrogis, Louise [recte Louis de Carmontelle] (1785): Le Frondeur ou Dialogues sur le Salon par l’auteur du Coup-de-patte et du Triumvirat, Deloynes Nr. 329, S. 19f. Übersetzung: W. H.-L. 25 Mairobert, Pidansat de (1777): Lettres sur l’Académie Royale de Sculpture et de Peinture et sur le Salon de 1777. Zit. nach: Revue Universelle des Arts (1864), XIX, S. 185f. Übersetzung W. H.-L.

50 | DIE A USSTELLUNG ALS D RAMA „Das parterre ist wegen der hineingepressten Meute sehr schwierig: In dem Raum stehen um die tausend Rohlinge, darunter auch ehrbare Leute. Von Zeit zu Zeit werfen ihnen die niedrigen Typen Beleidigungen an den Kopf. Aus dem Nichts kommt es zu einem Streit, Schwerter werden gezogen und das ganze Stück wird unterbrochen. Wenn sich die Schurken wieder beruhigen, hören sie dennoch nicht zu schwätzen, schreien und pfeifen auf.“26

Die Passage beschreibt das Publikum im parterre des Hôtel de Bourgogne, einer der Pariser Haupttheaterorte, der ab dem 16. Jahrhundert von diversen Truppen bespielt wurde. Schätzungen zufolge konnten rund 2000 Menschen das Bourgogne besuchen, etwa die Hälfte davon fand in den Logen und auf der Galerie Platz, die andere Hälfte im parterre, einem großen Stehplatzraum vor der Bühne. Das parterre weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Ausstellungsraum, der sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert

Abbildung 10: Die Besucher als Konkurrenz zu den Bildern an der Wand: Der Salon von 1787, Stich von Pietro Antonio Martini. Bibliothèque national de France, Paris, Cabinet des Estampes.

26 Diese Stelle findet sich bei Pierre David Lemazurier, der es als das Zitat eines „ungenannten“ Autors ausgegeben hat. Zugeschrieben wird es dem 1602 geborenen Charles Sorel. In: Les Frères Parfaict: Histoire du théâtre, VI, 128. Zit. nach: Wiley, William Lee (1960): The Early Public Theatre in France. Cambridge, S. 211f. Übersetzung W. H.-L.

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konkretisierte, auf: Sowohl im Theater als auch im Salon war der wichtigste Ort, von dem aus sowohl Bühne als auch Kunst betrachtet wurde, ein Raum ohne Sitzfläche, also ein Ort, an dem man stand und sich unter gewissen Umständen frei bewegen konnte. Die Ähnlichkeit des parterre und des Salons, wo sich die neue Pariser Öffentlichkeit seit dem 17. Jahrhundert stehend und gehend, jedenfalls nicht sitzend, manifestierte, ist signifikant. Das parterre ist ein dem Salon ähnlicher Raumtyp und die Verhaltensweisen, die die Pariser im Ausstellungsraum des 18. Jahrhundert entwickeln, wurden, wie wir sehen werden, schon zuvor im parterre „erprobt“. Bevor ich aber näher auf die Ähnlichkeit von Theater- und Salonbesuchern eingehe, stelle ich – ähnlich einer Parallelhandlung im Film – noch einen anderen Weg, der in den Salon des 18. Jahrhundert mündet, kurz vor.

Vom Pilger zum Besucher Bevor sich in den 1730er Jahren der Salon zu einer regelmäßigen Veranstaltung entwickelt, prägt sich die „Besucheridentität“ in Paris auch bei (kirchlichen) Prozessionen und an den Orten, an denen sie stattfinden, aus: auf den Plätzen und Straßen der Stadt. Die Prozession lässt die Grenzen zwischen Akteur und Zuschauer verschwimmen. Menschen, die gerade noch am Wegesrand in der Menge warteten, um die prunkvolle Spitze der Prozession zu betrachten, schließen sich kurz später selbst der Prozession an. Den heutigen AusstellungsbesucherInnen, die im Angesicht der Objekte den Raum mit der von ihnen gewählten Geschwindigkeit durchmessen, ist ein ähnlich ambivalenter „Aggregatszustand“ eigen: Sie sind BesucherInnen bzw. ZuschauerInnen einerseits und ProtagonistInnen und DialogpartnerInnen andererseits. Den Raum, den sie durchmessen, nennt man Ausstellungsraum, und dieser ist von ähnlich ambivalentem Charakter wie die Besucher-ProtagonistInnen selbst: Der Ausstellungsraum ist eine Mischform, er ist Bühne und Zuschauerraum zugleich. Wie im restlichen katholischen Europa gibt es an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert auch in Paris am fête-Dieu, dem Fronleichnamstag, den Brauch einer bzw. mehrerer lokaler Prozessionen. Die Stadtteile, die an der Prozessionsroute liegen, kommen mit ihren „ambulanten“ Altären, die von Zünften, Bruderschaften und wohlhabenden Einzelpersonen gestiftet wurden, einer von innen nach außen gestülpten Kirche gleich: Teppiche, Tapisserien und nicht zuletzt Gemälde schmücken die Altäre und den Weg selbst. Am Place Dauphine auf der Île de la Cité entwickelt sich anlässlich der Fronleichnamsprozession die Tradition einer Ausstellung.27 Ein Zeitungsbe-

27 Zur Geschichte der Ausstellungen am Place Dauphine: Chavignerie, Emile Bellier de la (1864): Notes pour servire à l’histoire de l’Exposition de la Jeunesse. Revue Universelle des Arts, XIX, S. 38-72.

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richt – man könnte ihn ein Negativ-Zeugnis nennen – belegt die Ausstellung am Beginn der 1720er Jahre eindrucksvoll: 1724 heißt es im Mercure de France: „In diesem Jahr waren am Fronleichnamstag weder am Place Dauphine noch am darangrenzenden Pont-Neuf, wo die Prozession von St. Bartholomäus vorbeizieht, Bilder aufgehängt. Die Öffentlichkeit war darüber überrascht und verärgert.“28

Der Hinweis verdeutlicht, wie verwurzelt diese Open-Air-Ausstellungen am Place Dauphine bereits 1724 sind und wie groß die Erwartungshaltung der Teilnehmer der Prozession gegenüber dieser Ausstellung war, die sowohl aus zeitgenössischen Gemälden als auch aus Alten Meistern bestand. Die Bilder stammten von durchaus arrivierten Malern, darunter auch von Akademiemitgliedern wie Coypel, Bonnart, Allegrain und Rigaud, die Leihgaben von Kunsthändlern oder Würdenträgern wie dem französischen Botschafter in Spanien, Comte de Rothenbourg29. Die Ausstellung, deren Ursprungsjahr nicht zu rekonstruieren ist und die ähnlich den römischen Vorbildern aus der Festdekoration einer Prozession entstanden war, hat in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts quasi den Rang der AkademieAusstellung eingenommen, da diese ja nur in den Jahren 1699 und 1704 zustande gekommen war und erst 1737 eine dauerhafte Institution werden sollte. Die Dokumentation dieser Ausstellung erweist sich als besonderer Glücksfall, da sie auf die Herkunft des Mediums verweist, auf einen kultischen Ursprung, auf ihre mobilen und stationären Bühnen- und Zuschauerraumelemente, und letztlich auch auf die Stadt, die mit ihrer Vielzahl von möglichen Wegen auch der Ausstellung als topographisches Vorbild zu Grunde liegt. Die oben beschriebene Prozession, die an den Bildern am Place Dauphine vorbeizog, trägt in ihrer Struktur gleichermaßen theatralische als auch ausstellerische Merkmale in sich: An ihrer Spitze wurde die Hostie getragen und der Menge, die als Publikum entlang des Weges wartete, in einer Monstranz – also in einer Schauvitrine und wortwörtlichen „Zeigung“ – „ausgesetzt“30. Gleichzeitig war es die Menge selbst, die sich dem Zug anschloss, also an der „Demonstration“ der Hostie teilnahm. Und schließlich wurde dieselbe marschierende Menge zum modernen Ausstellungsbesucher, indem sie sich durch die Ausstellung der Bilder am Place Dauphine bewegte. An einer Kreuzung zwischen Kultort und Kultweg entstand die Bilder-Ausstellung quasi als Station eines Stationendramas.

28 Anonym (1724): Exposition de tableaux à la place Dauphine le jour de la fêteDieu. Mercure de France, 1724, S. 627, Übersetzung W. H.-L. 29 Vgl. Crow 2000, S. 84. 30 Der exakte Begriff für die Präsentation der Hostie lautet im Deutschen „Aussetzung“. Die Nähe zum Begriff „Ausstellung“ ist evident. Ich danke Julius Hanak für diesen Hinweis.

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Die Commedia dell’arte und das Jahrmarkttheater als Schule der Interaktion Das parterre, wo sich im Pariser Theater im 18. Jahrhundert und davor die öffentliche Meinung experimentell konstituierte, und die Prozession am Fronleichnamstag, die sich durch die Ausstellung am Place Dauphine schob, sind zwei wesentliche Schulen, in denen die kommende Ausstellungsöffentlichkeit des Pariser Salons eine Ausbildung erhielt, bevor sie die ab 1737 sich regelmäßig etablierenden Akademie-Ausstellungen stürmte. Die beiden „Kurse“ vermittelten den künftigen Ausstellungsbesuchern nützliche Werkzeuge, sich im Ausstellungsraum, der ihnen laut Diderot „eine nützliche Motion“ verschaffen würde, zu orientieren, zu bewegen und ihn schließlich in Besitz zu nehmen. Um aber den Grad der kritischen Auseinandersetzung verstehen zu lernen, mit der das Pariser Publikum den Werken in den frühen AkademieAusstellungen auf den Leib rückte, und um die entfesselte Energie dieser Menschengruppen zu begreifen, die auf die Künstler vorerst als nur destruktiv, respektlos und anmaßend wirkte, erscheint es mir zielführend, genauer auf die überlieferten Interaktionen zwischen dem Publikum und den darstellenden Künstlern am Pariser Theater in der Zeit vor den regelmäßigen Salon-Ausstellungen einzugehen. Dazu macht es Sinn, sich auf den großen Jahrmarkt in Saint-Germain31, der jährlich mindestens vom 3. Februar bis zum Palmsonntag stattfand, zu begeben. Die Foire de Saint-Germain war nicht nur ein riesiger temporärer Markt, der die strengen Zunftgesetze während seiner Laufzeit außer Kraft setzte, sondern auch ein Ort des Kunsthandels und insbesondere des Theaters. Für die Pariser wurde er zu einem Kurs in Gruppendynamik und zu einem Training in öffentlicher Kommunikation. Die Foire de Saint-Germain zog die unterschiedlichsten Menschen und Klassen an. „The fair, like the Salons attracted the broadest range of classes and types.“32 Dieses „Besucherpanoptikum“ bestätigte 1727 auch der deutsche Parisreisende Joachim Nemeitz. Er fand hier Herren mit Dienern und Lakaien, Diebe mit ehrlichen Leuten, feine Kurtisanen, die schönsten jungen Damen, und alle sind miteinander verstrickt.33 Wir sehen, die Frühjahrsmesse mit ihrer durchmischten Besucherstruktur kündigte bereits das von Pidansat de Mairobert beobachtete „Nebeneinander von Fischhändlerin und nobler Dame“ im Salon an.

31 La Foire de Saint-Germain war genau genommen die Frühjahrsmesse. Die Herbstmesse in Paris war der Foire de Saint-Laurent. Vgl. Frenzel, Herbert A.(1984): Geschichte des Theaters, Daten und Dokumente 1470-1890. München, S. 86. 32 Vgl. Crow 2000, S. 46. 33 Nemeitz, Joachim C. (1727): Séjour à Paris, c’est à dire, Instructions Fidèles pour les Voyageurs de Condition, Leiden, S. 180ff.

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Seit dem Jahr 1595 war es Wandertruppen erlaubt, auf der Frühjahrsmesse in Saint-Germain zu spielen. Gut 100 Jahre später, im Jahr 1697, kam es hier zu einer gravierenden Veränderung. Ausgerechnet eine gegen eine spezielle Form des Schauspiels gerichtete Weisung des Sonnenkönigs Ludwig XIV. ließ die Theaterlandschaft am Jahrmarkt von neuem aufleben, popularisierte und radikalisierte sie geradezu. Gemeint ist die Ausweisung der Comédie-Italienne und ihrer Schauspieler aus Paris. Die satirische Spielweise der Italiener, die einst gerngesehene Gäste am Hof waren, hatte auf die neue religiöse und pietistische Wendung des Königs am Ende des 17. Jahrhunderts zu wenig schnell und „absolut“ reagiert. Im Laufe des 17. Jahrhunderts hatte sich die Comédie-Italienne zu einer verfeinerten und französisierten Form der Commedia dell’arte gewandelt. Jetzt, da sie vom Hof und regulären Theaterbetrieb verstoßen waren, hatten ihre Schauspieler zwei Möglichkeiten: Sie konnten entweder die Stadt und mit ihr die gewohnte Umgebung verlassen oder sich auf die volkskünstlerischen Wurzeln der ComédieItalienne besinnen und am Théâtre de la Foire „untertauchen“.34 Gerade hier, im Kampf um die Ausübung des Könnens durch die Schauspieler am Jahrmarkttheater dieser Zeit, der versuchten Verhinderung durch die Behörden und ihrer Überwindung liegt das Fundament für das Kommunikationstraining in Sachen Kultur in der Öffentlichkeit, das das Publikum am Théâtre de la Foire in Saint-Germain erhielt und das es beim späteren Besuch der Salons nutzen konnte. Eine Institution, die das Théâtre de la Foire mit Argusaugen beobachtete, war die Comédie-Française, die als Dramen-Monopolistin darüber wachte, dass jegliche Theaterproduktion in Saint-Germain tatsächlich ohne Text auskam. Dieses Verbot zwang das Jahrmarkttheater und mit ihm die italienischen Schauspieler, die ohnehin nur Konzessionen als Akrobaten erhalten hatten, ihre kurzen Stücke als Pantomimen aufzuführen. Da die Typen der Commedia dell’arte in Paris jedoch längst eingeführt waren und dort bereits ihre eigene Charakteristik erhalten hatten – so war aus dem frechen Arlecchino der melancholischere Pierrot geworden –, konnte diese Sprachsperre kein ernstes Kommunikationsproblem zwischen Schauspielern und Zuschauern auslösen. Im Gegenteil: Die Sprachsperre erhöhte noch die Aufmerksamkeit, involvierte das Publikum und machte es zu einem Komplizen. Genau genommen war es die dauernde Beschneidung durch die Behörden, die sowohl für eine steigende Popularität der Jahrmarkt-Künstler sorgte als auch zur gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber ihrer Kunst beitrug.

34 Vgl. Crow 2000, S. 49; Crow bezieht sich u. a. auf folgende Quellen: Frères Parfaict (1743): Mémoires pour servir à l’histoire des spectacles de la foire. Paris; Jules Bonnaissies (1875): Les Spectacles forains et la Comédie française. Paris; Compardon, Emile (1877): Les Spectacles de la foire, documents inédits recueillis aux Archives Nationales, Paris; Albert, Maurice (1900): Les Théâtres de la Foire (1660-1789). Paris.

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Abbildung 11: Der Jahrmarkt in Saint-Germain. Anonymer Stich. Bibliothèque national de France, Paris, Cabinet des Estampes.

Die Schauspieler waren endlos kreativ im Überwinden und Ausweichen der Ge- und Verbote und die Zuschauer entwickelten Fähigkeiten, um diesen Innovationen folgen zu können, ihnen geradezu entgegenzukommen. Als das Sprachverbot in ein Dialogverbot aufgeweicht wurde, entwickelten die Bühnen die Technik, die Stücke in Form von Schein-Monologen zu präsentieren. Dabei war nie mehr als ein Schauspieler auf der Bühne. Hatte dieser fertiggesprochen und war von der Bühnenfläche verschwunden, kam der nächste auf die Bühne, um den versteckten Dialog und damit die Handlung voranzutreiben. Hinsichtlich der heutigen Kommunikation in Ausstellungen mit Objekttexten auf Beschriftungstäfelchen ist die Technik der sogenannten écriteaux besonders bemerkenswert. Die écriteaux waren Schrifttafeln, die die Dialogteile wie Zwischentitel im Stummfilm transportierten. So umgingen Schauspieler und Publikum gemeinsam das Sprechverbot, indem die Schauspieler ihre eigenen Texte als Spruchbänder vor sich hertrugen, die dann vom Publikum laut vorgelesen, gebrüllt oder mithilfe von populären Melodien gesungen wurden. „Zur Wirklichkeit des Theaters gehörte die Frontalität seiner Gruppen, ihr Kontakt mit dem Beschauer und die oft rampenhaft bühnenmäßige Spielfläche. Dazu die ei-

56 | DIE A USSTELLUNG ALS D RAMA gentümliche Atmosphäre, die aus dem Reiz der Wechselwirkung zwischen Schauspieler und Publikum entsteht.“35

Diese Zeilen gelten generell für das französische Theater des Barock. Für das Théâtre de la Foire in Saint-Germain passen sie aber insbesondere. Denn hier entstand eine besondere Solidarität zwischen Künstlern und Zuschauern und ein Vorbild für eine aktive Rolle des Publikums, egal welcher sozialen Schicht, das zu einem wichtigen Baustein für die entstehende Öffentlichkeit wurde, die sich im 18. Jahrhundert im Ausstellungsraum des Salons weiterentwickelte, bevor sie sich auf den Straßen und anderen öffentlichen Orten von Paris ausbreitete. Die Zuschauer des Barock waren an der Realität des Theaters bzw. an der Theaterhaftigkeit der Realität sozialisiert worden und konnten im großen Stil Räume mit Sinn und Dramatik füllen. Sie lebten in einer Zeit, in der die Grenzen von Schein und Wirklichkeit verwischt schienen und in der sich das Leben selbst hin zu einem ausgeklügelt festlichen Schaubild bzw. –spiel entwickelt hatte, in dem jeder im Rahmen der gesellschaftlichen Hierarchie zugleich Spieler und Zuschauer war. Mit diesem Background war es ihnen leicht möglich, die Bühne des Ausstellungsraumes zu betreten, wo sie sich sicher bewegen und nun anhand der Kunst ihre Selbstfindung in Richtung Aufklärung vorantreiben konnten. Das parterre des Hôtel de Bourgogne, die Commedia dell’arte und das von ihr unterwanderte Théâtre de la Foire in Saint-Germain hatten eine starke Bindung zwischen Darstellern und Publikum entstehen lassen. Vor allem das Theater in Saint-Germain hatte das Publikum zum Mitmachen eingeladen, wodurch es an Selbstbewusstsein gewann. Als die Akademie in den 1730er Jahren nun die Öffentlichkeit in den Salon rief, kam ein Publikum, das sich trotz seiner Verschiedenartigkeit bereits einen selbstbewussten kollektiven Gestus angewöhnt hatte. Als dieses Publikum an die Bilder der Künstler geriet, die sich bisher nur mit Auftraggebern und Connaisseuren abzugeben hatten, und die keineswegs gewillt waren, mit diesem Publikum Kontakt aufzunehmen und zu kommunizieren, kam es zum Krach. Die Geschichte der Ausstellungen, die mit diesem big bang im Salon einen Gründungsmythos erhielt, war von nun an auch immer ein Kräftemessen zwischen Künstlern und Publikum, wobei die Ausstellungsorganisatoren bzw. Kuratoren, je nach Ausstellungsart mal stärker und schwächer in dieses Kräftemessen eingebunden waren oder selbst zur Zielscheibe wurden. Die Künstler begannen tatsächlich, auf das vom Publikum provozierte Spiel einzugehen und mussten sich in weiterer Folge Vorwürfe gefallen lassen, die zwar widersprüchlich klangen, aber doch in dieselbe Kerbe schlugen: einerseits nur noch „Ausstellungsbilder“ zu produzieren, andererseits Bilder nur aus dem Motiv zu schaffen, um das Publikum zu schockieren.

35 Lemmer, Klaus J. (1963): Französisches Barock-Theater im Bild. Berlin, S. 9.

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Das Ausstellungspublikum, das im Theater zu großen kommunikativen Leistungen herausgefordert worden war und so gelernt hatte, als CoProduzent aufzutreten, sah in der Ausstellung einen Raum, in dem es ebenso aktiv werden konnte und sich ebenso gut ausleben konnte wie im Theater, obwohl das Theater als „Ort der realen Versammlung“ durchaus den Vorteil der spontanen Reaktion bot und die Ausführenden diese Reaktion ungefiltert präsentiert bekamen. Doch das Publikum erfand und erfindet für die Ausstellung laufend neue Strategien, und viele Charakteristiken des Ausstellungsraumes kommen ihm dabei entgegen: Der Austausch der Meinungen kann beispielsweise im Ausstellungsraum zwischen den Besuchern schon während der „Vorstellung“ geschehen, die Rezipienten können während ihres Aufenthaltes im „Stück“ dieses bereits ungestört analysieren, die Präsentation loben oder verdammen. Weder beim Lesen eines Buches, ein Vorgang, den ja jeder für sich erledigt, noch beim Besuch eines Konzerts oder Kinos ist das in dieser Weise möglich. Und gerade dieser Austausch der Meinungen macht die Besucherinnen und Besucher zu einem Teil dieser Aufführung. Zwar ist nicht die Ausstellung, sondern das Theater der einzige Raum der „realen Versammlung“, wo „sowohl der ästhetische Akt selbst (das Spiel), als auch der Akt der Rezeption (der Theaterbesuch) als reales Tun in einem Hier und Jetzt“36 stattfindet, doch ist die Ausstellung der Ort, wo die Rezeption und die kritische Diskussion darüber in der Öffentlichkeit zusammenfallen können, ohne dass dies per se schon als provokante Regelverletzung gesehen werden muss wie im Theater. Nicht zuletzt diese Möglichkeit gibt den BesucherInnen die Macht, den Besuch einer Ausstellung zu einer Aufführung ohne voraussehbares Ende machen zu lassen. Die Pariser Besucher des 18. Jahrhunderts, die ihre aktive Rolle in den verschiedenen Theatern der Stadt gelernt hatten und nun als Massen in die Ausstellungen der Akademie strömten, gingen ihren Part gewohnt aktiv an. Jetzt mussten sich nur noch die Künstler daran gewöhnen und einer neuen medialen Erfolgsgeschichte stand nichts mehr im Wege.

4.3 G OTTFRIED W ILHELM L EIBNIZ UND DAS BAROCKE A USSTELLUNGSTHEATER Eine beliebte Technik der Kulturgeschichtsschreibung ist es, Kategorien für gewisse Epochen herausarbeiten, die es nach dem Dafürhalten der Historikerinnen und Historiker zuvor nicht gegeben hat, die eben in dieser Epoche „erfunden“ wurden. Die „Öffentlichkeit“ ist eine dieser Kategorien. Behauptungen wie „Die Erfindung der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert“ zieren Titel oder Untertitel von Büchern, Aufsätzen oder Ausstellungen. Dabei werden die Prozesse, die zu der Bildung von „Öffentlichkeit“ führen, zu-

36 Lehmann 1999, S. 12.

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meist so plausibel dargestellt, dass auf die Frage, wie ähnliche kulturelle Phänomene in Zeiten „vor der Öffentlichkeit“ entstanden und von der Gesellschaft verarbeitet werden, nicht mehr beantwortet werden müssen. Auch ich habe gerade die „Erfindung der Ausstellung durch die Öffentlichkeit“ sowie die „Erfindung der Öffentlichkeit durch das Theater und den Ausstellungsraum“ ausführlich beschrieben. Nun gehe ich daran, diese „Erfindung“ zu hinterfragen, um nach der Öffentlichkeit in den Zeiten vor der Öffentlichkeit, zumindest hinsichtlich der Ausstellung, zu suchen.

Die offene und die geschlossene Kunstkammer Die europäischen Kunstkammern des 16. und 17. Jahrhunderts waren weder öffentliche noch geheime Sammlungs- bzw. Ausstellungssorte. Auskunft darüber geben beispielsweise die Reisen eines jungen deutschen Philosophen mit einschlägigem Interesse am Ende dieser Epoche. Die Rede ist von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), der seit 1670, also vom Beginn seiner Anstellung am Mainzer Hof von einem Theater der Natur und Kunst träumte und an seiner Realisierung ein Leben lang arbeitete. Leibniz standen im Laufe seines Lebens mehrere Kunstkammern offen. Zuerst in seiner Heimatstadt Leipzig, wo der Bürgermeister Christian Lorenz von Adlersheim eine nicht unbedeutende Sammlung besaß. Wenig später in seiner Universitätsstadt Jena, in der sein Lehrer, der Mathematiker Erhard Weigel eine berühmte Kunstkammer aufgebaut hatte, dann in Nürnberg, wo er 1667 an der Reformuniversität Altdorf studierte, an der es neben dem Theatrum anatomicum auch ein Naturalienkabinett, ein chemisches Labor und den botanischen Garten des Mediziners Mauritius Hofmann gab.37 1670 erhielt der vierundzwanzigjährige Leibniz eine Anstellung am Mainzer Hof, aber schon 1672 brach er nach Paris auf, wo er in den nächsten vier Jahren diverse Sammlungen besuchen konnte. In Hannover erhielt er nach seiner Rückkehr 1676 eine weitere Anstellung als Bibliothekar und Historiograph, von wo er 1687, also mehr als zehn Jahre später, auf eine dreijährige Reise nach Süddeutschland, in das Habsburgerreich und nach Italien aufbrach. Auf dieser Bildungs- und Forschungsreise sah er das Naturalienkabinett des Arztes Friedrich Lachmund in Hildesheim, die landgräfliche Kunstkammer in Kassel, die naturkundliche Sammlung der Maria Sybille Merian in Frankfurt am Main sowie mehrere Kunstkammern und Sammlungen in Nürnberg. Er kam in die hervorragende Münchner Kunstkammer und reiste nach Wien, wo er die kaiserliche Schatzkammer und die Hofbibliothek besuchte. Und schließlich sah er in Italien das Museum von Antonio Magliabecchi in Florenz, die Kunstkammer des Ferdinando Cospi in Bologna, in Rom die Antikensammlung des Antiquars Rafael Fabretis und

37 Vgl. Bredekamp, Horst (2004): Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin, S. 29.

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höchstwahrscheinlich auch die von ihm so geschätzte Kunstkammer des Athanasius Kircher sowie die berühmte Kunstkammer des Ferrante Imperato in Neapel. Horst Bredekamp, der Leibniz’ „Ausstellungsreise“ sowie seine Anstrengungen um ein Theater der Natur und Kunst erforscht und nachgezeichnet hat, fasst zusammen: „Kunstkammern waren kein Privileg von Herrschern, und Leibniz hat ihnen auf Schritt und Tritt begegnen können.“38

Doch machte die Zahl von gebildeten und privilegierten Reisenden vom Range Leibniz’, die durch ihr Ansehen und ihre Kontakte nicht nur Zutritt in die Institutionen erhielten, sondern meist auch ihre Besitzer selbst trafen, noch keine Öffentlichkeit aus. Dennoch wäre es nicht richtig, sich Leibniz als elitären Connaisseur vorzustellen, dem daran gelegen wäre, alleine in einem erlesenen Zirkel bleiben zu wollen. Im Gegenteil: Leibniz gehörte jener zukunftsweisenden Generation von Wissenschaftlern an, die mit der Öffentlichkeit spekulierten, denen die Vermittlung von Wissen jenseits des Expertengesprächs dringend erschien und die daran gingen, größere Kommunikationswege zu bauen, auf denen die Begegnung zwischen vielen gebildeten Menschen stattfinden könnte, wovon er sich wiederum mehr Bildung und noch mehr gebildete Menschen versprach.

Leibniz’ Ausstellungstheater als Gedankenscherz Leibniz’ zwar unausgeführter, aber dennoch großer Wurf, in dem er in einer barocken Art und Weise, die heute unfassbar modern wirkt, eine Verbindung zwischen Museum, Theater und Wissen sucht, entsteht gegen Ende seines vierjährigen Aufenthaltes in Paris (1672-1676). Leibniz leidet hier zwar darunter, dass er in den Akademikerkreisen zu wenig Beachtung findet, ist aber vom intellektuellen und großstädtischen Leben wie elektrisiert. Drôle de Pensée39, also Gedankenscherz, ist ein pragmatisches Projektkonzept und entsteht im September 1675. Im selben Jahr kommt die letzte Akademie-Ausstellung der ersten Staffel zustande, die 1665 begonnen hatte.40

38 Bredekamp 2004, S. 29. 39 Das Original befindet sich in der Niedersächsischen Landesbibliothek in Hannover. LH, XXXVIII. 40 Die nächsten Ausstellungen werden erst wieder 1699 und 1704 stattfinden, regelmäßig werden sie sich erst ab 1737 etablieren.

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Abbildung 12: Die Kunstkammer des Ferrante Imperato in Neapel. Darstellung aus dem Katalog „Dell’historia naturale“ von 1599, den Imperato selbst herausgegeben hat. Der zeigende Gestus – möglicherweise ist es Imperato selbst – ist bis heute ein konstantes Merkmal in der Ausstellungsperformance.

Bevor er seinen Gedankenscherz im September 1675 niederschreibt, hatte er mit großer Wahrscheinlichkeit die Ende August für zwei Wochen laufende Leistungsschau der Akademie besucht, mit Sicherheit aber das ihn so faszinierende Phänomen der „Öffentlichkeit“ zur Kenntnis genommen, das die ersten Ausstellungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bereits hervorgerufen haben.41 Der sogenannte „Gedankenscherz“ gliedert sich in mehrere Abschnitte, die fließend und assoziativ ineinander übergehen. Geradezu spielerisch dringt Leibniz hier in den Kern des Theaters der Natur und Kunst vor, das er erstmals 1670 in Mainz, also vier Jahre zuvor postuliert hat. Ein kleiner „Rundgang“ durch den Text wird nicht nur Leibniz’ assoziative Gedankenkette freilegen, sondern auch die faszinierende Fähigkeit des Autors aufzeigen, eine Brücke zwischen Theater und Ausstellung zu schlagen. Der Text ist ein Zeugnis dafür, dass Ausstellung und Theater bereits vor der Zeit, in der die Ausstellung als öffentliches Unternehmen Fuß fassen konnte, in konzeptiver Hinsicht eine Symbiose eingegangen waren. Diese Beobachtung lässt sich noch pointierter formulieren: Möglicherweise war es viel-

41 Jean Rou hatte retrospektiv über die zweite Ausstellung 1667 bezüglich des „Publikums“ geschrieben, dass sich hier „Männer und Frauen jeden Rangs und Alters versammeln würden“. Vgl. Kapitel 4.1, S. 43 f.

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mehr so, dass Theater und Ausstellung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch in einer Symbiose lebten, dass Ausstellung und Theater gewissermaßen eins waren, sodass der Begriff „Ausstellung“ noch nicht notwendig geworden war und sich unter „Theater“ bzw. „Schaustellung“ all das subsumieren ließ, was zur Schau gestellt, ausgestellt, vorgespielt, gezeigt wurde? Ich werde auf die zahlreichen Bedeutungen des Begriffs Theater zur Zeit von Leibniz etwas später genauer eingehen, um diese Frage zu klären. Doch nun einmal zum Text selbst: „Die Vorführung, die im September 1675 in Paris auf der Seine mit einer Apparatur durchgeführt wurde, die dazu dient, auf dem Wasser laufen zu können, hat mich auf die folgende Idee gebracht.“42

Nachdem uns Leibniz über das Ereignis informiert, das seinen Text auslöst, wendet er sich den Kunst- und Wunderkammern zu und appelliert an unsere Vorstellungskraft: „Nehmen wir an, dass einige Personen von Ansehen, die sich auf schöne Kuriositäten und vor allem auf Maschinen verstehen, gemeinsam darin übereinkämen, diese in öffentlichen Vorführungen zeigen zu lassen.“43

Während zu Beginn mit der Apparatur, mit der man über Wasser schreiten kann, ein magisch-performatives Element steht, setzt hier gleich ein Pragmatismus ein, der auf die in der Ausstellungspraxis so wichtigen Leihgeber zu sprechen kommt, die ihre Objekte für eine „öffentlichen Aufführung“, die quasi ein „Theater der Dinge und Exponate“ evoziert, zur Verfügung stellen sollten. Wie sehr es Leibniz in seinem Text auch um die Umsetzbarkeit seiner Idee geht, lässt sich daran erkennen, dass er weiterhin die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen skizziert, ohne die Idee selbst zu beleuchten: Für die Finanzierung sollte ein Fonds gegründet werden, als Träger schlägt er in erster Linie Künstler wie den Hofkomponisten Jean-Baptiste Lully, den Theater- und Militärmechaniker Marquis de Sourdéac oder den Hofmaler Charles Le Brun vor, erst in zweiter Linie will er auf die „Grandseigneurs“ des Hofes zurückgreifen, denn, „ein mächtiger Herr könnte sich als alleini-

42 Leibniz, Gottfried Wilhelm (2004) [frz. 1675]: Gedankenscherz, eine neue Art von REPRÄSENTATIONEN betreffend [Drôle de Pensée, touchant une nouvelle sorte de REPRESENTATIONS]. Übersetzung aus dem Französischen von Horst Bredekamp. In: Bredekamp, Horst (2004): Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst. Berlin, S. 237. 43 Ebd., S. 237.

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ger Herr über die Geschäfte aufschwingen wollen, wenn er den Erfolg sähe. Läuft die Sache gut, könnte man immer noch Gönner am Hofe suchen.“44 Nach der Finanzierung beschreibt Leibniz das „Casting“: Er möchte höchstens zwei oder drei permanente „Erfinder“ dabei haben, der Großteil der Mitarbeiter soll frei und bei Bedarf angestellt werden. „Die Personen, die man engagieren würde, sollten Maler, Bildhauer, Zimmerleute, Uhrmacher und andere vergleichbare Berufsvertreter sein. Nach und nach kann man mit der Zeit auch Mathematiker, Ingenieure, Architekten, Trickkünstler, Scharlatane, Musiker, Dichter, Bibliothekare, Schriftsetzer, Stecher und andere hinzunehmen, ohne Hast.“45

Leibniz denkt in erster Linie an Erfinder und Handwerker bzw. Künstler, die diese Erfindungen umsetzen können. Auch hier steht die Kunst- und Wunderkammer im Vordergrund. „Nach und nach“ können dann weitere dazu kommen: zuerst Naturwissenschaftler, Techniker und kreative Konstrukteure für größere Bauaufgaben wie „Mathematiker, Ingenieure, Architekten“, dann „Trickkünstler, Scharlatane, Musiker, Dichter, Bibliothekare, Schriftsetzer, Stecher“. Es sind also die darstellenden Künstler und auch jene, die diese mit Stoffen versorgen können wie Dichter und Musiker. Die Berufe zur Schrifterzeugung wie Stecher und Schriftsetzer können hier zur Dokumentation, aber auch für den kreativen Produktionsprozess herangezogen werden. Der Bibliothekar, und als solcher war Leibniz am Hof von Mainz selbst angestellt, steht wohl für den Universalisten, Philosophen und Horter der Wissenschaft. Der folgende Abschnitt ist der mit Abstand längste: In ihm skizziert Leibniz, was in seinem Unternehmen dargeboten werden soll. Es ist ein Feuerwerk an Ideen: „Die Darbietungen könnten beispielsweise die Laterna Magica sein (damit könnte man beginnen), sowie Flüge, künstliche Meteoriten, alle Arten optischer Wunder, eine Darstellung des Himmels und der Sterne. Kometen. Ein Globus wie jener in Gottorf oder Jena; Feuerwerke, Wasserspiele, ungewöhnlich geformte Schiffe, Alraunen und andere seltene Pflanzen. Ungewöhnliche und seltene Tiere. Die königliche Manege. Tiergestalten. Der königliche Pferderenn-Automat. Eine Verlosung. Darstellungen von Kriegshandlungen. Aus Holz gefertigte und auf einer Bühne errichtete Festungsanlagen, offener [Graben], usw. Alles nach dem Muster des Projektemachers [...], den ich gesehen habe. Ein Festungsbaumeister würde den Gebrauch des Ganzen erklären.“46

44 Ebd., S. 237. 45 Ebd., S. 238. 46 Leibniz 2004, S. 238.

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Dieser erste Absatz macht nur etwa ein Achtel von Leibniz’ Überlegungen zu den Darbietungen aus. Dass er sogleich die Laterna Magica in den Mittelpunkt rückt, dürfte mit den unschätzbaren Vorzügen dieser optischen Apparatur zu tun haben, mit der sich leicht und billig eine große Anzahl von Bildern in einen Raum projizieren lässt, ohne die wertvollen Originale selbst auf diese Wissensbühne47 zu bringen. Die Laterna Magica ist die erste Form eines immateriellen visuellen Mediums und kann daher wie die audiovisuellen Medien heute eine unbegrenzte Zahl von Bildern in einen Ausstellungsraum liefern. Doch Leibniz gibt sich mit den vermittelten Bildern nicht zufrieden, er will auch Originale und unmittelbare „Aufführungen“: Flüge und künstliche Meteoriten sowie „alle Arten optischer Wunder“. Zudem Darstellungen des Himmels, der Sterne und Kometen. Darunter kann man sich ein gemaltes Panorama oder eben einen „Globus wie jene[n] in Gottorf oder Jena“ vorstellen. Nach diesen Kunst- und Wunderkammer-Utensilien möchte Leibniz in sein Theater der Natur und Kunst auch die fürstlich-barocken Vergnügungen wie Feuerwerke, Wasserspiele und „ungewöhnlich geformte Schiffe“ einbringen. Schließlich noch Pflanzen und Tiere. Von hier aus wird auch die Assoziationskette immer freier: Von den Tieren kommt er zu einem Tierautomaten, nämlich dem königlichen „Pferderenn-Automat[en]“, der wiederum eine „Verlosung“, also ein Glückspiel nach sich zieht48, um von diesem wieder zu „Darstellungen von Kriegshandlungen“, also einem Themenkreis zurückzukehren, in dem ebenfalls viele technische Neuerungen bzw. Automaten zur Anwendung kommen. Leibniz rückt ihm bekannte Objekte, Mittel und Handlungen der barocken Kunst- und Wunderkammer, vor allem aus den Kapiteln Wissenschaft und Natur sowie der barocken Fest- und Vergnügungskultur, in den Mittelpunkt. Er assoziiert frei, hantelt sich durch die vier Elemente (Luft: Flüge, Meteoriten, Himmel, Sterne, Kometen, Globus; Feuer: Feuerwerke; Wasser: Wasserspiele und ungewöhnlich geformte Schiffe; Erde: Alraunen und andere seltene Pflanzen, ungewöhnliche und seltene Tiere etc.) und landet dann bei den Automaten, mit denen sich die Menschen als göttliche Schöpfer probieren. Ebenso lässt sich beobachten, dass Leibniz sowohl den Dingen, als auch den Handlungen bzw. der action im heutigen populären Sinn große Bedeutung zumisst. Leibniz plant hier vor allem Bewegung und audiovisuelle Elemente, die beim potentiellen Publikum Aufmerksamkeit erregen und für Wohlbefinden sorgen sollen. Sein Programm ist im wesentlichen das Programm des populären Kinos oder des Hauptabendprogramms im Fernsehen, das sich aus Actionfilm, Quiz- und Glückspielsendungen so-

47 Vgl. Schramm, Helmar u.a. (Hg.) (2003): Bühne des Wissens. Berlin. Sowie das Konzept „Knowledge on Stage“, das Herbert Lachmayer geprägt hat. 48 Bredekamp interpretiert die auf den ersten Blick verwirrende „Verlosung“ auf folgende Art: „Die sich anschließende ‚Verlosung‘ aber folgt einer quergelagerten Assoziation, die vom Gewinnspiel des Automatenrennens ausgelöst wurde.“ Bredekamp 2004, S. 58.

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wie naturwissenschaftlichen Dokumentationen zusammensetzt. Weg vom action-Theater und hin zu epischeren Ansätzen geht es erst am Ende des Absatzes, wo er aus Holz gefertigte Festungsanlagen auf einer Bühne errichten lassen will, deren Gebrauch dann von einem Festungsbaumeister erklärt werden soll. Letztlich ist es dieser epische Ansatz eines technischkulturwissenschaftlichen Theaters, wie es sich Leibniz erträumt, der den Weg zur heutigen kulturhistorischen Ausstellung weist, deren Bühne der Ausstellungsraum und deren alles erklärender Festungsbaumeister der Kurator bzw. Museumsführer ist. Leibniz breitet seine Ausführungen im „Gedankenscherz“ spiralartig aus: Noch einmal greift er die Darstellung des Krieges auf, die besonders viel action und Anschauung der neuen technischen Entwicklungen verspricht: „Nachgestellter Krieg. Exerzierübungen der Infanterie gemäß Martinet. Kavallerieübung. Kleine Seeschlacht auf einem Kanal. Außergewöhnliche Konzerte. Seltene 49 Musikinstrumente. Sprechende Trompeten. Jagd. Lüster und imitierte Edelsteine. Die Aufführung könnte zudem jederzeit mit einigen Geschichten oder Komödien vermischt werden. Theater der Natur und der Kunst. Kämpfen, Schwimmen. Außergewöhnliche Seiltänzer. Salto mortale. Zeigen, wie ein Kind ein schweres Gewicht mit einem Faden heben kann. Anatomisches Theater. Heilkräutergarten. Später auch ein Labor. Denn neben den öffentlichen Darbietungen wird es besondere geben, wie die von kleinen Rechenmaschinen und anderen, Gemälde, Medaillen, Bibliothek.“50

Diese weitere assoziative Route des Teppichs, auf dem Leibniz fliegt, hat folgende Struktur: Vom Krieg ausgehend51 erreicht er die Musik, möglicherweise über den Marsch oder die Militärmusik im allgemeinen: Außergewöhnliche Konzerte und seltene Musikinstrumente sollen gespielt oder gezeigt werden, wodurch diese Unternehmung zu einem synästhetischen Gesamterlebnis wird. Während der Schritt von der Trompete zur Jagd gut nachvollziehbar ist, ist das Motiv für den abrupten Sprung zu den „Lüstern und imitierten Edelsteinen“ nicht leicht zu erkennen.52 Besonders bemerkenswert ist aber dann der Einschub: „Die Aufführung könnte zudem jederzeit mit einigen Geschichten oder Komödien vermischt werden. Theater der Natur und Kunst.“ Leibniz, und das ist hinsichtlich der Form seiner Unternehmung bemerkenswert, spricht von der Aufführung, also von nur einer

49 Die „sprechende Trompete“, ein Vorläufer des Megaphons, war in den 1670er Jahren eine vielkommentierte Erfindung, deren erstmalige Konstruktion scheinbar mehrere Erfinder für sich reklamierten. 50 Leibniz 2004, S. 238f. 51 Ritualisierte Kriegsschaustellungen wie beispielsweise das Rossballet waren damals sehr beliebt. 52 Möglich ist, dass der Wald als Ort der Jagd mit den Bäumen und Lichtspielen sowie seiner mystischen Rolle im Volksmärchen Leibniz auf Edelsteine brachte.

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Aufführung, nicht von vielen. Er plant also eine Aufführung, wo all diese Handlungsstränge und ästhetischen Mittel ineinander greifen, worauf auch das Wort „vermischen“ hindeutet. Und er will sowohl die epische „Geschichte“ als auch das Theater in Form der „Komödie“ in sein Theater der Natur und der Kunst integrieren.

Die vielen Gesichter des Theatrums Was aber genau verstand Leibniz unter dem Theater der Natur und Kunst, das für meine Suche nach den frühen Verwandtschaften zwischen Ausstellung und Theater so vielversprechend erscheint? War damit wirklich ein Theater gemeint? Wie ich bereits erwähnt habe, hat Leibniz das Theater der Natur und Kunst bereits am Beginn seiner Karriere in Mainz im Jahr 1671, also vier Jahre, bevor er den „Gedankenscherz“ erstmals schriftlich niedergelegt hat, verwendet. Der Begriff Theater der Natur und Kunst stammte jedoch nicht von ihm selbst. Vor ihm verwendet (und mit größter Wahrscheinlichkeit geprägt) hat ihn sein Mainzer Vorgänger, Johann Joachim Becher. In seinem 1668 in München erschienenen Buch Methodus Didactica, einer Schrift zur Didaktik des Spracherwerbs, hält er gleichsam als Formel fest, durch das „Theatrum Naturae & Artis die Wörter mit den Sachen vereinigt“53 zu haben. Dieses Theatrum Naturae et Artis stellt uns Becher als vierstöckiges Haus vor, wo wir im ersten Stock ausgestopfte und nachgebildete Tiere finden, im zweiten nachgebildete und dadurch immergrüne Pflanzen, darüber dann Mineralien und wiederum darüber Gegenstände und Instrumente aus Menschenhand. Leibniz erschien diese Konzeption zu leblos, doch wollte auch er die „Wörter mit den Sachen vereinigen“, wenn auch nicht zum Spracherwerb, sondern zur Erkenntnisvermittlung. „Was ihn von Becher unterschied, war vor allem die Erweiterung des Theaterbegriffs. Bechers Formel des Theaters der Natur und Kunst bedeutete zunächst eine Variante der Kunstkammer. Diese Bestimmung hat Leibniz zwar übernommen, ihr aber weitere Sphären hinzugefügt und vor allem einen theatralen Zusammenhang hergestellt, der den Begriff des Lebendigen insofern zu realisieren versuchte, als dass er auf allen Ebenen die Eigenmotorik und Dynamik als Zeichen der Lebendigkeit stärkte. [...] Durch alle Bereiche, und dies ist der entscheidende Gedanke, wirkt ein dynamischer, die Kunstkammern mit dem Theater verbindender Begriff des Sammelns, Forschens und Vermittelns.“54

Dass Leibniz die Kunstkammer und die Wissensvermittlung mit dem Theater verschränkte, ist aus seiner Zeit erklärbar. Mehrere Faktoren spielen dabei eine Rolle: Generell ging das Barock über eine heute nachvollziehbare

53 Becher, Johann Joachim (1668): Methodus didactica. München, S. 4r-4v. 54 Bredekamp 2004, S. 43f.

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Theaterbesessenheit hinaus, indem es die shakespearesche Formel „All the world’s a stage“55 ernstnahm und die ganze Welt und das Dasein auf Erden zu einer großen Aufführung, eben zum barocken Welttheater, erklärte. Darüber hinaus bedienten sich die Wissensvermittlung und auch die Wirtschaft auf Jahrmärkten und Messen theatralischer Mittel, wie beispielsweise beim Verkauf von Arzneimitteln durch die Darstellung der Wirkung und der darauffolgenden Genesung.56 Und schließlich bezeichnete das Theater, das sich vom griechischen théātron (Zuschauerraum, Theater) und dessen Stammwort théā (das Anschauen, die Schau, das Schauspiel)57 ableitet, seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und möglicherweise auch schon früher Kunstkammern, Enzyklopädien und natürlich Vortragsräume wie anatomische Theater. So publizierte 1590 Jean Bodin beispielsweise das Universae naturae Theatrum, das eine systematische, aber nicht illustrierte Beschreibung der Welt war. 1615 brachte der Nürnberger Arzt und Humanist Michael Rötenbeck hingegen ein Theatrum Naturae heraus, an dem die über 500 Tier- und Pflanzenaquarelle von Lazarus Rötting das Besondere waren. Den Titel hat Rötenbeck gewählt, „weil darin, wie in einem offenen Schauplatz, mancherlei Kreaturen Gottes jedermann gleichsam lebendig vor Augen gestellt werden“58. Das Theater als Schaubühne mit Vorhang zierte wiederum das Titelblatt von Georg Andreas Böcklers Theatrum Machinarum Novum, das 1661 in Nürnberg erschien und Geräte, Maschinen und Werkzeuge thematisierte. Und genau einen solchen Theatervorhang wünschte sich auch Leibniz in seinem Pariser „Gedankenscherz“, den er 1675, also 14 Jahre später niederschreibt: „Den Vorhang zuzuziehen wäre nicht schlecht, weil man während der Pause dadurch etwas in der Dunkelheit zeigen könnte; die magischen Laternen könnten genau hier ihre Anwendung finden.“

Leibniz wollte tatsächlich ein actiongeladenes Wissenschaftstheater, eines, das auf einer Bühne stattfindet, eines mit Szenenunterbrechungen und staccatohafter Reizzufuhr. Es ist sicherlich Vorsicht angebracht, wenn wir den

55 Shakespeare, William: As You Like It, 2. Akt, 7. Szene, Auftritt Jacques. 56 Diese Wissensvermittlung ist dem heutigen Genre der darstellenden Verkaufsförderung, dem Werbefilm und den sogenannten infomercials sehr ähnlich. Vgl. Baumbach, Gerda (Hg.) (2002): Theaterkunst und Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie. Köln, Weimar, Wien. 57 Duden (1989): Das Herkunftswörterbuch, S. 742. 58 Handschriftliche Vorrede Michael Rötenbecks, nach der Transkription von Sabine Hackethal. Betrachtungen zur Tierdarstellung in der Renaissance anhand der Aquarelle von Lazarus Rötting (1549-1614). In: NTM-Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin (1990), Bd. 27, S. 56.

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Abbildung 13: Titelblatt von G. A. Böcklers „Theatrum Machinarum Novum“, Stich, Nürnberg 1661.

Theaterbegriff des 17. Jahrhunderts einfach nur „offener“ als heute begreifen. Der Begriff „Theater“ deckte nicht exakt dasselbe Bedeutungsfeld wie heute ab. In Frankreich sprach man beispielsweise, wenn man das Theater bzw. das Schauspiel meinte, meist von der comédie oder dem spectacle und nicht so oft vom théâtre. Doch müssen wir uns andererseits vor Augen halten, dass Leibniz sein Theater der Natur und Kunst in einer Zeit erträumte, in der das Theater, wie wir es heute verstehen, tatsächlich die ganze Welt erklären konnte, in der alles Theater war, sowohl die Darstellung durch Lexika als auch die Erklärung des Makrokosmos durch den Mikrokosmos in den Kunst- und Wunderkammern. Leibniz sah jedenfalls den Übergang zwischen der Kunst- und Wunderkammer und dem Theater als fließend an. In „Kunstkammern wurde sozusagen die Welt nachgespielt. Auch ihre Bretter ‚bedeuteten die Welt‘. Sie waren ein theatrum mundi, und das meinte damals auch, dass sie Ort der Erinnerung und der Vergegenwärtigung waren, der ars memorativa und der ars combinatoria. Sie waren Gedankenspiel-Orte [...]. Unter diesen Umständen konnte die Kammer natürlich auch nicht mehr einfach eine ‚Stube‘ oder ein ‚Studiolo‘ sein.“59 Dies heißt nicht unbedingt, dass zwischen den kleinen Museen und den Theatern, auf denen Schauspiele aufgeführt wurden, nicht mehr unterschieden wurde. Doch die Kunstinteressierten des 17.

59 Holländer, Hans (1998): Kunstkammerspiele. In: Seipel, Wilfried (Hg.): Spielwelten der Kunst – Kunstkammerspiele. Wien, S. 15.

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Jahrhunderts erkannten und anerkannten die Verwandtschaft der Orte, an denen zur Schau gestellt wurde – die Wunderkammer, die Bühne, das politische Parkett etc. Meine folgenden Untersuchungen zu Giulio Camillos L’idea del theatro und Samuel Quicchebergs Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi werden diese These verdeutlichen. Entscheidend für die ähnliche Erscheinung von Bühne und Kunst- und Wunderkammer war die Art der Begegnung, die sich in den Wunderkammern zwischen den Besitzern und Gästen sowie zwischen den Betrachtern und den Dingen abspielte. Sie war ritualhaft und erinnerte an eine Aufführung. Stephen Bann hat in seinem Aufsatz Shrines, Curiosities, and the Rhetoric of Display den englischen Reisenden und Sammler John Bargrave porträtiert und sich dessen Leben, nachdem dieser von mehreren langen Reisen durch Europa nach Canterbury zurückgekehrt war (etwa zeitgleich, als Leibniz Paris erreichte), vorgestellt: „Bargrave commissioned his own cabinets, installed them in his study, and fulfilled his reputation as a collector, or ‚virtuoso‘, by receiving visitors, as he did the diarist John Evelyn on May 13, 1672. What went on? What did he say to them? Or rather, how did he perform for them?“

Nach der Lektüre von Bargraves eigenem Sammlungskatalog erlaubt sich Bann schließlich folgende Spekulation: „We can imagine the cabinets, open and not closed […]. We can imagine this little theatre being set up before its audience, and Bargrave launching into an animated description that would simultaneously tell the story of an object’s acquisition and venture into speculation on its scientific origins.“60

Die Geburt der Ausstellung aus dem Geiste des Theaters? Hier bin ich als Schreibender an einer Stelle angelangt, an der mir eine neue Standortbestimmung angebracht erscheint: Ich frage mich nach dem Ort, in den ich mich selbst hineingeschrieben habe. Wie auf einem Stadtplan oder einem Orientierungsplan eines Nationalparks, eines Weltausstellungsgeländes versuche ich den roten Punkt zu lokalisieren, neben den ich erleichternd die Worte „Sie befinden sich hier / You are here“ anbringen kann. Wie aber heißt die Karte und wo ist der Punkt? Ich versuche eine Antwort: Die Karte beschreibt eine raum-zeitliche Landschaft, in der die Ausstellung entstanden ist, während und noch vor ihrer Zeit als öffentlich betretund benutzbares Medium im heutigen Sinn. Auf der Karte sind zudem die

60 Bann, Stephen (1998): Shrines, Curiosities, and the Rhetoric of Display. In: Cooke, Lynne/Wollen, Peter (Hg.): Visual Display. Culture beyond Appearances. New York, S. 28.

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Verbindungswege und Kreuzungspunkte zwischen der Ausstellung und dem Theater zu erkennen. Denn, so die vereinfachte Hypothese dieser Arbeit, Ausstellung und Theater bzw. Drama haben mehr miteinander gemein als angenommen. Auf meiner Suche nach Parallelen, Verwandtschaften und gegenseitigen Beeinflussungen habe ich bisher die Verbindungen zwischen dem Publikum des Jahrmarkttheaters, der Commedia dell’arte und dem Ausstellungspublikum im Paris des 18. Jahrhunderts ausmachen können, aus denen ein wesentlicher Beitrag zur Qualität der öffentlichen Auseinandersetzung, zum öffentlichen Diskurs entstanden ist. Ich bin weiters auf die Bedeutung der kirchlichen Prozession, insbesondere der FronleichnamsProzession im Paris des frühen 18. Jahrhunderts gestoßen, anlässlich derer die Teilnehmer durch einen Wald von Bildern schritten. Und ebenfalls in Paris habe ich die Bekanntschaft mit einem jungen deutschen Philosophen und Mathematiker gemacht, der dort im Jahr 1675 – als die gerade beginnende Akademie-Ausstellungs-Bewegung bereits wieder ihr vorläufiges Ende gefunden hatte – ein Konzept für ein Theater der Natur und Kunst entwarf, das die Wissenschaft und die Dinge der Kunst- und Wunderkammer in das Rampenlicht einer spectacle-Bühne stellen sollte. Dieser Überblick provoziert mich zu zwei generellen Aussagen: Erstens erscheint mir Leibniz’ Versuch der Theatralisierung der Wissenschaft sowie der Kunst- und Wunderkammer wie ein origineller, vielleicht aber auch verzweifelter Versuch, eine Öffentlichkeit für das Medium „Ausstellung“ bzw. ein adäquates Medium für die sich formierende Öffentlichkeit zu schaffen. Da es den Raum, durch den die BesucherInnen frei und vor allem selbstständig gehen können bzw. dürfen, noch nicht gibt, nimmt Leibniz den Umweg über das Theater, das sowohl als Vergnügungsort des Adels als auch der breiten Schichten etabliert ist. Sein action-geladenes und nach Publikum lechzendes Theater der Natur und Kunst ist eines der zahlreichen „Balzspiele“ eines unvollkommenen Mediums für die Öffentlichkeit, das erst zum vollkommenen Medium Ausstellung werden konnte, nachdem es sich mit der Öffentlichkeit vereinigt hatte. Die zweite Überlegung betrifft die Bezeichnung von Leibniz’ Theater der Natur und Kunst und die Tatsache, dass der Begriff Theatrum im 16., 17. und 18. Jahrhundert generell nicht nur das Theater im heutigen Sinn, sondern auch Lexika in Buchform und eben auch Kunst- und Wunderkammern bezeichnete. Das Theatrum meinte damals laut Bredekamp nichts weiter als einen „Ort oder ein Mittel, das die Anschauung von einem Gegenstand oder einer Idee intensivierte“61. Doch ich meine – und das ist das zweite Ergebnis, das mir der Blick auf die Landkarte meiner bisherigen Reise bietet –, dass die Bezeichnung Theatrum für die Kunst- und Wunderkammer sowie die schematische Darstellung der Welt in Druckwerken keinesfalls „zufällig“ passierte, dass die Bezeichnung als Theatrum ein tatsächliches Integriertsein der Kunst- und Wunderkammer in die Welt des Thea-

61 Bredekamp 2004, S. 34.

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ters implizierte. Entstand die Ausstellung, so möchte ich an dieser Stelle provokant und in Anlehnung an Friedrich Nietzsche fragen, aus dem Geiste des Theaters? Am Ursprung der Tendenz, die Kunst- und Wunderkammern sowie die systematischen Darstellungen der Welt in Druckwerken als Theatri zu bezeichnen, scheint es jedenfalls eine starke „Gemeinsamkeit“ mit dem Theater gegeben zu haben, ein gemeinsames „Ereignis“, ein gemeinsames Vorbild, ein Bedürfnis, eine Stoßrichtung. Der Urknall der modernen Ausstellung hat jedenfalls im Theatrum stattgefunden.

4.4 G IULIO C AMILLOS G EDÄCHTNISTHEATER Ich starte einen weiteren Versuch, den Wurzeln der Ausstellung und ihrer Verbundenheit mit dem Theater auf die Spur zu kommen. Wieder kommen wir nach Paris, aber nicht in die barocke Stadt um 1675, die Leibniz so lieben gelernt hatte. Wir zählen das Jahr 1530 und betreten die RenaissanceStadt gemeinsam mit einem Bürger der Venezianischen Republik. Der Mann, den wir nun begleiten dürfen, heißt Giulio Camillo. Er wurde 1480 im venezianischen Portogruaro geboren, kannte den Maler Tizian und bekleidete in jungen Jahren einen Lehrstuhl an der Universität von Bologna. Als er sich 1530 nach Paris aufmacht, ist er 50 Jahre alt und ein angesehener Mann. Aber Camillo ist nicht unumstritten. Die meiste Zeit hat er damit verbracht, ein „Theater“ zu bauen, worauf auch Franz I. von Frankreich über seinen venezianischen Botschafter aufmerksam wird.62 Camillo geht nach Paris und erhält vom König Geld für sein Projekt. Der französische König ist ein kunstsinniger Herrscher: Zehn Jahre nachdem Giulio Camillo an seinen Hof kommt, wird er sich von Benvenuto Cellini ein Salzfass herstellen lassen, das sein Nachfolger dem Habsburger Ferdinand II. von Tirol schenken wird, und das als die Saliera des Kunsthistorischen Museums in Wien heute weltberühmt ist. Giulio Camillo kehrt bald wieder mit der vom König vorgestreckten Summe nach Venedig zurück, um sein Projekt weiter zu entwickeln. Woran aber arbeitet Camillo genau? Wie sieht dieses „Theater“ aus? Warum wurde daraus ein Geheimnis gemacht, dessen erster Eingeweihter der König von Frankreich sein sollte? Wofür bewunderten die großen Dichter Ariost und Torquato Tasso den Theaterbauer Giulio Camillo, während andere behaupteten, er wäre ein Scharlatan? Ist sein Theater vielleicht ein Vorläufer des Teatro Olimpico, das Andrea Palladio um 1580, also 50 Jahre später beginnen wird, und das man noch heute in Vicenza bewundern kann? Und warum greift der Belgier Samuel Quiccheberg 1565, also 20 Jahre nach Camillos Tod, in seiner Schrift Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi (Über-

62 Yates 1994, S. 123.

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schriften oder Titel des umfangreichsten Theaters63), die er am Münchner Hof herausgeben wird und die heute als der „Anfang der Museumslehre in Deutschland“64 angesehen wird, Camillos Theater wieder auf?

Camillos Theater als „Modell“ Es ist nicht ganz einfach, die Gestalt und das Konzept von Camillos Theater zu begreifen. Eine kurze Schrift, die er knapp vor seinem Tod diktiert hat, sowie einige Briefe können unser Vorstellungsvermögen unterstützen. Viglius65, ein niederländischer Jurist und Staatsmann, schreibt beispielsweise 1532 an Erasmus von Rotterdam von seinem Aufenthalt an der Universität von Padua, wo ein gewisser Giulio Camillo von sich reden macht: „Man sagt, dieser Mann habe ein gewisses Amphitheater errichtet, ein Werk mit der wunderbaren Fähigkeit, dass jeder, der als Zuschauer reingelassen wird, über jedes Thema nicht weniger gewandt disputieren kann als Cicero.“66

Es erscheint erwiesen, dass es sich bei Camillos Theater vorerst nur um ein Modell gehandelt hat. Da die Übersetzung der betreffenden Stelle aus dem Lateinischen aber nicht eindeutig geklärt ist, gibt es in der Forschung widersprüchliche Meinungen, ob dieses Theater nur in Koffergröße, wie es Wenneker67 beschrieben hat, oder als menschengroßes Modell existiert hat und begehbar war. Weder das Theater noch ein Modell sind heute existent. Ich teile die Meinung von Yates, die von einem begehbaren Modell ausgeht. Yates zitiert noch einen zweiten, eindeutigeren Brief von Viglius an Erasmus. Er entstand, nachdem Viglius nach Venedig gereist war und sich mit Camillo getroffen hatte. Viglius schreibt von sich in der dritten Person: „Du sollst also wissen, dass Viglius in dem Amphitheater war und alles sorgfältig angesehen hat.“68

63 Ich schlage vor, „theatri amplissimi“ mit dem Superlativ „des umfangreichsten Theaters“ zu übersetzten. Auch der Elativ („sehr umfangreich“ oder „überaus umfangreich“) wäre denkbar. 64 Vgl. Roth 2000. 65 Wigle Aytta van Zwichem (1507-1577). 66 Die Bezeichnung Amphitheater kommt zwar in mehreren Quellen vor, beruht aber auf einem Missverständnis: Das Vorbild von Camillos Projekt war das klassische römische Theater mit einem halbrunden Zuschauerraum. Brief von Viglius an Erasmus vom 28. März 1532. In: Allen, P. S. u. a. (1906-1955): Erasmi Epistolae, Bd. IX. Oxford. S. 479. Zit. nach Yates 2004, S. 123. 67 Wenneker, Lu Beery (1970): The Examination of L’idea del theatro of Giulio Camillo. Dissertation. Pittsburgh. 68 Allen u. a. 1906-1955, Bd. X, S. 29f. Zit. nach Yates 1994, S. 124.

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Schenken wir Viglius Glauben, so heißt das, dass ein erwachsener Mensch in das Theatermodell hineingehen konnte und sich darin möglicherweise sogar mit Giulio Camillo, dem Schöpfer des wundersamen Theaters, unterhalten konnte. Folgendes hat Viglius darin gesehen: „Das Werk ist aus Holz, im Inneren mit vielen Bildern versehen und voll von kleinen Kästchen; es gibt verschiedene Ordnungen und Zonen darin. Er gibt jeder Figur und jedem Ornament seinen Platz, und er zeigte mir eine solche Menge Papier, daß ich, obwohl ich immer gehört hatte, daß Cicero die Quelle der reichsten Beredsamkeit sei, wohl kaum gedacht hätte, daß in einem Autor so viel enthalten sei oder daß aus seinen Schriften solche Massen zusammengetragen werden könnten. [...] Als ich ihn nach der Bedeutung seines Werkes fragte, nach dessen Absichten und Ergebnissen – wobei ich die religiöse Sprache benutzte und mich stellte, als sei ich durch die Wunderbarkeit dieses Dinges benommen –, warf er mir etliche Papiere hin und trug sie so vor, daß er die Zahlen, Paragraphen und alle Kunstgriffe des italienischen Ausdrucks brauchte, doch wegen seiner Sprachbehinderung ziemlich ungleichmäßig. Der König soll ihn sehr drängen, mit dem großartigen Werk nach Frankreich zurückzukehren. [...] Er hat für dieses sein Theater viele Namen, mal nennt er es einen gebauten oder gestalteten Geist oder Seele, mal sagt er, es sei mit Fenstern versehen. Er gibt vor, daß alles, was der menschliche Geist erfassen kann und was wir mit dem körperlichen Auge nicht sehen können, nachdem es durch sorgfältige Meditation gesammelt sei, durch gewisse körperhafte Zeichen in einer solchen Weise zum Ausdruck gebracht werden könne, daß der Betrachter mit seinen Augen sogleich alles begreifen kann, was sonst in den Tiefen des menschlichen Geistes verborgen ist. Und wegen dieser körperlichen Anschauung nennt er es Theater.“ 69

Die Möglichkeit der körperlichen Anschauung einer geistigen Materie rechtfertigte für Camillo also den Begriff des Theaters. Einer solchen Rechtfertigung hätte es 100 Jahre später sicher nicht mehr bedurft, als sich zahlreiche private Sammlungen selbst als Theatrum bezeichneten. Aber Camillo lebte in einer anderen Zeit. Er benutzte nicht nur den Begriff des Theaters, er baute auch eines, und zwar ein „Gedächtnistheater“ in der Form des wieder in Mode gekommenen, weil wiederentdeckten antiken römischen Theaters. Diese Tatsachen deuten darauf hin, dass wir im Jahre 1532, als Viglius von Camillos Theater berichtete, nahe an oder sogar unmittelbar vor jenen Moment gerückt sind, an dem jeder Ort oder jedes Mittel, „das die Anschauung von einem Gegenstand oder einer Idee intensivierte“70, Theater genannt werden konnte und wurde. Eine Anmerkung in Richard Bernheimers Aufsatz Theatrum Mundi stößt in dieselbe Richtung:

69 Allen, Bd. IX, S. 479. Zit. nach Yates 1994, S. 124. 70 Bredekamp 2004, S. 34.

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„It is striking that the vast majority of books having the word theatrum in their title came out after Camillo’s death, beginning in the second half of the sixteenth century. There are, however, occasional earlier examples, best known among which is the Theatrum sanitatis, Codes 4182 of the Biblioteca Casanetense in Rome (early fifteenth century), […]. Since among the meanings of the word theatrum in the Middle Ages were those of a place of assembly or of a market place, where merchandise was laid out, this early use of the word in a book title is not surprising (see Ducange’s Dictionary s.v. ‚Theatrum‘): a ‚theatre‘ was a complete exhibit of a certain kind of specimens.“71

Die Passage weist uns auf die interessante mittelalterliche Bedeutung des Wortes „Theater“ als Versammlungsort, Marktplatz und „komplette Ausstellung einer bestimmten Art von Dingen (Mustern)“ hin, worauf ich im phänomenologischen Teil dieser Arbeit zurückkommen werde. Vorerst greife ich einmal nur den Hinweis auf, dass die häufige Bezeichnung der enzyklopädischen Schriftwerke (und wohl auch der Kunst- und Wunderkammern) als Theatri trotz der mittelalterlichen Tradition, die für diese Benennung sicher förderlich war, um 1530, vielleicht sogar erst nach Camillos Tod im Jahr 1544 begann. Hier ist also ein Ausgangspunkt des gemeinsamen Weges von Theater und Ausstellung zu finden, hier entsteht gewissermaßen das Ausstellungs-Theater der Renaissance, das, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, auch die erste systematische Museumslehre, die Schrift Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi von Samuel Quiccheberg (1565) mitbestimmen wird. Gute 100 Jahre später wiederum wird dieses Ausstellungs-Theater von Gottfried Wilhelm Leibniz (1675) in barocke Welttheatersphären gehoben werden. Und von hier sind es dann nur noch wenige Jahrzehnte bis zum ersten spektakulären Aufeinandertreffen der Kunst und ihrer Öffentlichkeit bei den Ausstellungen der französischen Akademie in den 1730er Jahren. Zurück zum Inhalt und zur Gestalt von Camillos Theater. Viglius’ Beschreibung ist einer der wenigen Augenzeugenberichte, die heute existieren. Doch seine Beschreibung reicht nicht aus, sich das Wesen, die oberflächliche Gestalt und den Zweck von Camillos Theater vorstellen zu können. 1534, also zwei Jahre nach der Zusammenkunft mit Viglius ist Giulio Camillo wieder in Paris. Aus diesem Jahr existiert ein Brief von Jacques Bording an den Gelehrten Etienne Dolet, der ebenfalls zwischen dem Veneto und Paris pendelt. Hier heißt es, dass Camillo gerade erst in Paris eingetroffen sei, um dem König Bericht zu erstatten: „Er errichtet hier ein Amphitheater für den König, das den Zweck hat, Abteilungen des Gedächtnisses abzustecken.“72 Und auch aus einem Brief von 1558 (14 Jahre nach Camillos Tod) von Gilbert Cousin (1506-1572) geht hervor, dass Camillo

71 Bernheimer, Richard (1956): Theatrum mundi. In: The Art Bulletin, Band 38/4, 12/1956, S. 230. 72 Zit. nach Yates, 1994, S. 125.

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sein Theater in Paris aufgestellt hat und dass dort ebenfalls viel über dieses wunderliche Gebilde gesprochen wird. 1543 ist Camillo dann wieder in Italien. Die Finanzierung durch Franz I. dürfte ausgelaufen sein. Sein letztes Lebensjahr – Camillo stirbt 1544 als 64-jähriger – verbringt er im Dienste des Marchese del Vasto, des spanischen Gouverneurs von Mailand. Jetzt, knapp vor seinem Tod, diktiert Camillo an angeblich sieben Vormittagen seinem Freund und Schüler Girolamo Muzio die Grundzüge seines Theaters. 1550, also erst sechs Jahre nach seinem Tod, wird die Schrift in Florenz und Venedig publiziert.

Gedächtnistheater und Ausstellung Camillos Theater gründet sich auf den Prinzipien der klassischen Gedächtniskunst. Es ist sozusagen ein „Gedächtnistheater“. Und obwohl manche Zeitzeugen von einem Amphitheater sprachen, orientierte sich Camillo wahrscheinlich eher am antiken römischen Theater, wie er es in der Schrift De architectura des antiken römischen Baumeisters Vitruv kennen gelernt haben könnte, die 1521 durch Cesariano wieder aufgelegt worden war.

Abbildung 14: Grundriss des Römischen Theaters nach Vitruv. A,B: scaenae frons; D, E: proscaenii pulpitum; O: valvae regiae; L, N: compositio hospitaliorum. Aus: Pollio Vitruvius: „De architectura libri decem“. Hrsg. und übersetzt von Curt Fensterbusch, Darmstadt 1964.

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„Das Theater steigt in sieben Rängen oder Stufen an, die durch sieben Gänge als Repräsentanten der sieben Planeten, unterteilt werden. Wer es erforscht, soll sozusagen ein Zuschauer sein, vor dem die sieben Maßeinheiten der Welt ‚in spettaculo‘, in einem Theater, gestellt sind. Und weil im antiken Theater die angesehensten Personen ganz unten saßen, befinden sich auch in diesem Theater die größten und wichtigsten Dinge ganz unten.“73

Soweit Frances Yates’ Interpretation von Camillos Theater. Camillo hält sich also einerseits an das vitruvsche Theater, in dem die Sitze im Zuschauerraum des Theaters durch sieben Gänge geteilt sind und in dem die Oberschicht unten, die Unterschicht oben sitzt. Andererseits interpretiert er es völlig neu: „Denn in Camillos Theater wird die sonst übliche Funktion des Theaters umgekehrt. Es gibt kein Publikum, das von seinen Sitzen aus ein Schauspiel auf der Bühne betrachten würde. Der einsame ‚Zuschauer‘ des Theaters steht dort, wo sonst die Bühne ist, blickt in Richtung Zuschauerraum und betrachtet die Bilder auf den sieben mal sieben Bögen über den sieben ansteigenden Rängen.“74

Bevor ich auf die Konstellation rund um den auf der Bühne stehenden Zuschauer zurückkomme – sie ist für meine Arbeit der wohl wichtigste Aspekt an Camillos Theater – möchte ich in aller Kürze auf den Inhalt und den Aufbau von Camillos Theater eingehen.75 Camillo hat sein Gedächtnistheater auf den sieben Säulen des salomonischen Hauses der Weisheit aufgebaut.76 Diese sieben Säulen entsprechen auch den sieben Planeten und schließlich den sieben Gängen durch den Zuschauerraum. Dieser Zuschau-

73 Yates 1994, S. 128. Yates bezieht sich auf die Florentiner Ausgabe von Camillos Schrift L’Idea del theatro dell’eccellen. M. Giulio Camillo, S. 14. 74 Ebd. 75 Eine genauere Beschreibung von Camillos kompliziertem Gedächtnistheater lenkt von den Zielen dieser Arbeit ab. Daher verweise ich hier auf die ausführlichen Arbeiten von: Bernheimer 1956; Yates 1994; Wenneker 1970; Kahle, Manuela (2005): Zwischen Mnemotechnik und Sammlungstheorie. Eine Untersuchung zu Giulio Camillos „L’idea del theatro“ und Samuel Quicchebergs „Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi“. Dipl. Arb. München. 76 Die Übersetzung dieser Stelle in Camillos Schrift, die von der Welt der Kabbalisten, wie sie Pico della Mirandola erklärt hat, zeugt, lautet: „Salomon sagt im neunten Kapitel der Proverbien, dass sich die Weisheit selbst ein Haus gebaut und es auf sieben Säulen gegründet hat. Durch diese Säulen, die die beständige Ewigkeit bezeichnen, können wir die sieben Sefiroth der überhimmlischen Welt verstehen, die die sieben Maßeinheiten des Gefüges der niederen Welten darstellen, in dem die Ideen aller Dinge sowohl in den himmlischen wie in den niederen Welten enthalten sind.“ Zit. nach Yates, 1994, S. 128f.

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Abbildung 15: Camillos Theater als Kabinettschrank, nach Lu Beery Wenneker. Aus: „The Examination of L’idea del theatro of Giulio Camillo“, Dissertation, Pittsburgh 1970.

Abbildung 16: Ein „Bühnenbild“, das Camillos Theater visuell sehr ähnlich kommt, tauchte 2008 in einer Spielshow auf, die u. a. vom Österreichischen Rundfunk (ORF) unter dem Titel „1 gegen 100“ produziert wurde. Die im Kölner Endemol-Studio gebaute Bühne sieht einen Quizmaster und einen Kandidaten vor der Tribüne eines „Kolosseums“ mit 100 Mitspielern vor. Foto: ORF, Milenko Badzic.

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erraum, der bei Camillo zur Projektionsfläche wird, hat neben seinen sieben vertikalen auch sieben horizontale Unterteilungen, die man sich wie die Ränge eines Zuschauerraumes vorstellen kann. „Die sieben Ränge stellen das Universum durch die Stufen der Schöpfung dar, beginnend bei den ersten Ursachen (Rang 1), folgend die einfachen Elemente (Rang 2), die Vermischung der Elemente (Rang 3), die Erschaffung von Geist und Seele (Rang 4), die Vereinigung von Seele und Körper (Rang 5), sämtliche natürlichen Tätigkeiten des Menschen (Rang 6) und die Künste, Wissenschaften, Religion und Gesetze der Menschen (Rang 7).“77

Der „einsame Zuschauer“ sieht sich also einem halbrunden Auditorium von 49 Feldern gegenüber. Camillo baut sein Theater auf den klassischen mnemotechnischen Lehren des Cicero auf, oder auf den Lehren, die lange für ciceronisch gehalten wurden: „In der Schrift Ad Herennium werden als Hauptpunkte der Mnemotechnik das Anlegen von Orten und das Bestücken dieser Orte mit Bildern genannt. Beides hat Camillo getan. Er hat sich einen Ort gesucht, nämlich ein Theatergebäude, hat es unterteilt in wiederum 49 kleinere Orte in dem Gebäude und hat diese 49 Orte mit Bildern verschiedenster Art bestückt.“78

Doch seine Bilder, Formen und Zeichen sind nicht austauschbar, wie es in der antiken Rhetorik gefordert wurde, sondern fix, denn bei seiner Methode geht es für den Gelehrten darum, die Essenz der Dinge zu erfassen und für immer zu memorieren. Neben der klassischen Mnemotechnik integriert Camillo aber auch die Lehren des Pico della Mirandola und des Marsilio Ficino, setzt auf Elemente des Hermetismus, Neuplatonismus und der Kabbala. Er ist ein mystischer Renaissance-Denker und interpretiert die klassische Gedächtniskunst in dieser Weise: „Gerade weil er an die Göttlichkeit des Menschen glaubt, erhebt der göttliche Camillo den ungeheuren Anspruch, er könne das Universum durch einen Blick von oben, von den ersten Ursachen her, als ob er Gott wäre, in Erinnerung behalten. In dieser Atmosphäre gewinnt die Beziehung zwischen dem Menschen – dem Mikrokosmos – und der Welt – dem Makrokosmos – eine neue Bedeutung.“79

Camillos Gedächtnistheater ist eine Kommunikationsplattform zwischen Mikro- und Makrokosmos, worin es dem Welttheater bzw. den Kunst- und Wunderkammern ähnlich ist. Hier wird verständlich, warum nachfolgende „Museumstheoretiker“ wie Samuel Quiccheberg in einer Zeit, in der weder

77 Kahle 2005, S. 34f 78 Ebd. S. 39. 79 Yates 1994, S. 137.

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das Wesen der heutigen „Ausstellung“, noch die Form des heute gebräuchlichen geschlossenen Theatergebäudes bekannt waren, auf dieses hybride Gebilde Camillos mit seiner Gestalt zwischen Theater und Ausstellung zurückgreifen, um ihre neuen Ideen zu formulieren.

Der einsame Zuschauer auf der Bühne Ein Phänomen verdient in Camillos Theater besondere Beachtung: Es ist der „einsame Zuschauer“. Er ist ein gelehrter Besucher, der auf der Bühne steht und in den aufsteigenden Zuschauerrang eines römischen Theaters blickt. „Camillo erwähnt nie eine Bühne und die von Camillo genannten gelehrten Zuschauer müssen die von ihm gestalteten Ränge betrachten, um sein Gedankengebäude verstehen und anwenden zu können und werden sich somit nicht im Zuschauerraum, sondern im Bereich davor, auf der eigentlichen Bühne, aufhalten müssen. So ist die normalerweise gebräuchliche Aufteilung eines Theaters und auch die gebräuchliche Interaktion zwischen Publikum und Schauspieler auf der Bühne außer Kraft gesetzt bzw. umgekehrt. Der Zuschauer ist nicht nur Zuschauer, sondern auch Agierender, der in Interaktion mit den auf den Zuschauerrängen befindlichen Dingen tritt.“80

Mit der Rolle des Zuschauers in Camillos Theater beschreibt Kahle exakt die Rolle des modernen Ausstellungsbesuchers. Wie in meiner These zur dramatischen Konstellation der Ausstellung, in der der Ausstellungsraum eine Bühne darstellt, auf der sich das Drama zwischen den Besuchern und den Dingen abspielt, interagiert der Zuschauer in Camillos Theater ebenfalls von der Bühne aus mit den Dingen, die sich hier allerdings auf den Zuschauerrängen befinden. Wenn wir in unserer Vorstellung aber die stark ansteigende Zuschauertribüne durch eine vertikale Wand, auf der Bilder, Gegenstände und Texte hängen, ersetzen, so wird unmissverständlich klar, wie viel Camillos Theater tatsächlich mit der heutigen Ausstellungssituation zu tun hat. Das Theater des Giulio Camillo ist eine Urform der Ausstellung, wie wir sie heute kennen. Es ist sowohl Theater als auch Ausstellung und beeinflusste beide Medien nachhaltig. In seinem Aufsatz Garden as Theater as Museum beschreibt der amerikanische Künstler Dan Graham diese zwei Entwicklungslinien, die von Camillos Theater ausgingen am Beispiel des Gartentheaters der Renaissance und des heutigen wissenschaftlichen Museums: „Giulio Camillo’s Teatro del Mundo was the ultimate model for the garden as a memory theater. It attempted to create an association between memory and symbolic images. These images were magic, talismatic representations of a coded system of the world. Camillo’s encyclopaedic memory machine […] was intended to exist as an

80 Kahle 2005, S. 23.

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actual miniature theater large enough for one spectator-scholar, who could stand in the central stage area. The spectator was to use the device to learn the structure of the universe from microcosm to macrocosm, as in a modern science museum’s representation of subatomic physics or outer space.“81

Trotz aller Erklärungsversuche und Interpretationen bleibt Camillos Theater in vielerlei Hinsicht ein Rätsel. Warum drehte er tatsächlich Bühne und Zuschauerraum um, stellte den Zuschauer auf die Bühne und verlegte die „Show“ in den Zuschauerraum? Ein Schlüssel zu einer möglichen Antwort könnte sich aus dem Konzept der Renaissancebühne und der Form des „wiederentdeckten“ römischen Theaters in den Schriften des Vitruv ergeben. Noch einmal rufe ich in Erinnerung, dass geschlossene Theaterhäuser in der heutigen Form zur Zeit Giulio Camillos, also in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, noch nicht existierten. Die Aufführungen fanden in Ballsälen, im Freien, in Gärten statt. Die Bühnenbildner schufen Environments, die Bühne und Zuschauerraum mehr in einen Zusammenhang stellten, als dass sie sie von einander trennten. So zum Beispiel Girolamo Genga82, der in Urbino 1513 für die Produktion von La Calandria die dargestellte Città ferrarese in die sala, also von der Bühne in den Zuschauerraum, übergehen ließ. Oder Bastiano da San Gallo, genannt Aristotile, der zur Hochzeit von Cosimo Medici und Eleonora von Toledo den Hof des Florentiner Palastes schmückte, oder schließlich Giorgio Vasari, der 1542 für die venezianische Sempiterni-Truppe eine Bühne und ein temporäres Theater für Pietro Aretinos La Talanta bauen sollte und größtes Augenmerk auf die sala legte, die er nicht nur mit venezianisch-topografischen Allegorien, sondern auch mit Zeit-Allegorien, die Aristoteles’ Einheit der Zeit illustrieren sollten, schmückte. Mit der heutigen strikten Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum hätte Vasari wohl seine Probleme gehabt. Er würde sie schlichtweg langweilig finden.83 Strukturell glichen die damaligen temporären Theaterräume, die nur für einzelne Produktionen zu solchen gemacht wurden, dem modernen Ausstellungsraum, in dem – wie in einem Filmstudio – der Raum für jede neue Ausstellung neu definiert und eingerichtet wird.84 Die italienischen Bühnen-

81 Graham 1989, S. 88. 82 Diese Beispiele finden sich bei: Pallen, Thomas A. (1996): Decking the Hall. Italian Renaissance Extension of Performance Motifs into Audience Space. In: Castagno, Paul C. (Hg.): Theatrical Spaces and Dramatic Places. The Reemergence of the Theatre Building in the Renaissance. Tuscaloosa, S. 91-100. 83 „Genga, Aristotle, and Vasari created temporary theatres intended to house a single production and could therefore link the entire space to a single image or theme, which they called the invenzione.“ (Pallen 1996, S. 98.) 84 Diese Trennung, die auch durch die Trennung von Bühnenbildner und Theaterarchitekt hervorgerufen wurde, wurde zum ersten Mal im Teatro Olimpico in Vicenza in den 1580er Jahren sichtbar: „Andrea Palladio, whom Vasari mentions

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bildner der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts waren in keiner Hinsicht an einer markanten Trennung von Bühne und Zuschauerraum interessiert, sie suchten daher auch nicht die Illusion der vierten Wand. Im Gegenteil, es existierte auch hinsichtlich der Lichtführung keine ausgeprägte Dialektik zwischen den heute streng getrennten Bereichen der Bühne und des Zuschauerraums. Wie in der Ausstellung stand die Inszenierung des gesamten Raumes, in dem sich auch die Zuschauer (und unter ihnen der Fürst) befanden, im Mittelpunkt des Interesses.85 Die Summe dieser Merkmale könnte ein Hinweis darauf sein, warum es dem sinnlichen Renaissance-Denker Giulio Camillo leicht fiel, den Zuschauerraum in eine Projektionsfläche zu verwandeln, auf der er die Zeichen, Schriften und Dinge seines Gedächtnistheaters ausbreiten konnte. Doch Camillos Ideen führten nicht direkt zum heutigen Ausstellungsraum, er nahm sich nicht die zeitgenössische Sala mit Bühnenbereich zum Vorbild, sondern das damals ebenso diskutierte antike römische Theater, das über einen steil aufsteigenden Zuschauerbereich verfügte, wodurch die in der Renaissance ansonsten verwischte Trennung von Zuschauerraum und Bühne wieder extrem verdeutlicht wurde. Erst am Beginn der 1970er Jahre hat man durch den Fund eines Dokuments erkannt, dass Giulio Camillo mit dem Architekten, Architekturhistoriker und Bühnenbildner Sebastiano Serlio, der sich intensiv mit der Rekonstruktion antiker römischer Theater auseinandergesetzt hat, in enger Verbindung gestanden haben muss. Zwar gibt es keine Korrespondenz, die diesen Austausch dokumentiert hätte, doch fand sich ein Testament Serlios, in dem dieser Giulio Camillo als seinen Universalerben eingetragen hatte.86 Dies zeigt vor allem eines: Giulio Camillo konnte nicht nur auf die von Cesariano 1521 herausgegebenen zehn Bücher des römischen Baumeisters Vitruv De architectura und dessen Rekonstruktionen des griechischen und römischen Theaters zurückgreifen, sondern stand auch in regem Kontakt mit einem der wichtigsten Kenner der antiken und zeitgenössischen Theaterarchitektur und

only briefly in the Lives, was among the first to cleave theatre design from scenic design: In part, this split occurred because Palladio’s death left Vincenzo Scamozzi to add the now famous scenic vistas to the Teatro Olimpico schema, but in a sense it originated when Palladio accepted the Olympic Academy’s commission to design and build a permanent theatre intended to house multiple productions. Such a commission, completely unlike those accepted by Genga, Aristotile, and Vasari, obliterated thematic connections between stage and sala.“ (Pallen 1996, S. 98.) 85 Zudem rekrutierten sich die Spieler des Hoftheaters zum Teil aus den Mitgliedern des Hofes, die die Bühne direkt aus dem Zuschauerraum betraten und so den Gegensatz zwischen Bühne und Zuschauerraum zusätzlich nivellierten. 86 Ein Erbe fiel jedoch nie an, da Serlio Camillo um einige Jahre überlebte. Siehe: Olivato, Loredana (1971): Per il Serlio a Venezia: Documenti nuovi e documenti rivistati. In: Arte Veneta, Bd. XXV. Venedig, S. 284-291.

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Bühnenkunst: Camillo nahm zu einer Zeit, in der sich die fest gebauten Theaterhäuser zwar wieder ankündigten, aber noch nicht wirklich existierten, an einem intensiv geführten Theater-Diskurs Teil und entwickelte inmitten dieses Diskurses sein Gedächtnistheater-Konzept.

Am Umkehrplatz zwischen Mittelalter und Renaissance, Simultan- und Sukkzessionsbühne, Poly- und Monofokalität Giulio Camillos Gedächtnistheater markiert in zeitlicher Hinsicht jene Stelle, an der ich in der Analyse der Entstehung der Ausstellung und des Museums aus dem Geiste des Theaters, umkehre. Ich werde nicht weiter in die Geschichte zurückgehen, um die Verwandtschaften zwischen dem Theater und der Ausstellung aufzuspüren. Auf Schaustellungen, die noch früher und ebenso wie die bisher präsentierten Beispiele an der Nahtstelle zwischen Theater und Ausstellung entstanden sind, werde ich erst im phänomenologischen Teil, wo es auch um die Eigenschaften des Exponats geht, zurückkommen.87 In aller Kürze möchte ich aber das Umfeld und die Brüche rekapitulieren, die Giulio Camillos Schrift L’idea del theatro entstehen ließen. Als Umkehrpunkt ist Camillos Gedächtnistheater deshalb gut geeignet, weil es in einer Übergangsperiode entstanden ist, in der es noch keine neugebauten Häuser für Theater und noch keine theoretisch untermauerten Anleitungen für die Einrichtung von Kunstkammern gab. Es ist die Zeit, in der sich die Strukturen und Hüllen der beiden Medien neu formen, was auch die große Zahl an Ähnlichkeiten und Anknüpfungspunkten nachvollziehbar macht. Auf der Bühne vollzieht sich durch die Wiederentdeckung der Antike, insbesondere der sogenannten Terenzbühne, der Schritt von der mittelalterlichen Simultanbühne hin zum Sukzessionstheater.88 Liegt in diesem Übergang vielleicht der Schlüssel für die Trennung in zwei neue Medien, ein antikes, aber dennoch neues Theater einerseits und die Kunst- und Wunderkammer, die dann von der Ausstellung und dem Museum abgelöst wird, andererseits? Beim ersten Medium widmen sich die Zuschauer ganz einem Ablauf an einem festgelegten Ort (Bühne), beim zweiten müssen die Zuschauer ihre eigenen Körper einsetzen, um die Handlung zwischen den simultanen Schauplätzen zu erfahren und um sich die darin verpackte Geschichte selbst erzählen zu können, wie das auch auf der mittelalterlichen

87 Beispiele dafür sind die performativen Handlungen rund um die Reliquien oder die „Heiltumsweisungen“, jene dem Volk gewährten Vorführungen der Reichskleinodien, die Kaiser Karl IV. nach 1350 mit Erlaubnis des Papstes durchführte. 88 Eckardt, Eberhard J. (1931): Der Übergang von der Simultanbühne zur Bühne der Neuzeit im deutschen Theaterwesen des 16. Jahrhunderts. Leipzig, S. 12ff.

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Simultanbühne in Ansätzen angelegt war und in der heutigen Ausstellung eine Grundvoraussetzung ist. Die Schrift De architectura des römischen Baumeisters Vitruv, die 1521 wieder aufgelegt wird, und die Forschungen und Arbeiten des Architekten und Architekturhistorikers Sebastiano Serlio beeinflussen Giulio Camillo bei der Konstruktion seines Theaters. Camillo nützt allerdings nicht das Bühnenhaus als Aktionsraum und Projektionsfläche für seine Ideen, sondern den in sieben mal sieben Felder zerteilten Zuschauerraum. Auf diesen verteilt er Schriften, Symbole und Dinge und lässt sie die Zuschauer auf einen Blick überschauen, bietet den Betrachtern einen Blick auf das Ganze. In diesem Konzept können wir noch die mittelalterliche Tradition der Polyfokalität erkennen. Während sich im ausgehenden Mittelalter im Theater und auch in der bildenden Kunst, wie Werner Hofmann nachgewiesen hat, die Monofokalität durchsetzt, indem sie empirische Zusammenhänge vermittelt, bleibt die Sinnzusammenhänge entwerfende Polyfokalität in Camillos Theater und in dessen Nachfolge auch in den Kunst- und Wunderkammern erhalten.89 Dabei fällt auf, dass Theater und bildende Kunst erst wieder in der Moderne, die die Komplexität der Welt in gewissen Hinsichten ähnlich verarbeitet wie das Mittelalter, das monofokale Einfeldbild zugunsten des Mehrfachbildes verlassen. Als Konsequenz können wir beobachten, dass sich im 20. Jahrhundert Theater, bildende Kunst sowie das Medium Ausstellung wieder angenähert haben. Camillos Polyfokalität stellt natürlich gerade in der Möglichkeit der totalen Überblickbarkeit aller 49 Felder bereits eine paradoxe Zähmung der polyfokalen Idee dar. Die totale Überschaubarkeit der Zuschauertribüne macht diese in gewisser Weise auch schon zu einem Einfeldbild. Diese „moderne“ Richtung, die paradoxe monofokale Polyfokalität, können wir auch in den uns bekannten frühen Darstellungen der Kunst- und Wunderkammern erkennen: Wir sehen alles, und dieses Alles sehen wir auf einen Blick (siehe Abbildungen 12 und 17).

89 Werner Hofmanns Beschreibung der mittelalterliche Polyfokalität, die zum Mehrfachbild tendiert, kommt tatsächlich der Beschreibung einer Ausstellungsgrammatik nahe: „Die Strukturen der christlichen Kunst sind von Polyfokalität geprägt. Vermittelt das monofokale Bild eindeutige empirische Zusammenhänge, wie sie im dreidimensionalen Erfahrungsraum zwischen Menschen und Dingen, zwischen Körpern und Räumen sich einstellen können, so entwirft das polyfokale Bild Sinnzusammenhänge, die sich primär nicht dem Augenschein, das heißt den unmittelbaren Wahrnehmungsdaten entnehmen lassen. Die Polyfokalität tendiert zu komplexen, übergreifenden Gebilden beziehungsweise Aggregaten, zu denen das Mehrfeldbild zählt, indes die Monofokalität sich vorzugsweise im Einfeldbild ausspricht.“ (Hofmann, Werner (1998): Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte. München, S. 31)

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Abbildung 17: Die Sammlung des Dänen Ole Worm, veröffentlicht 1655 im Museum Wormianum. Der Stich ist ein gutes Beispiel für das paradoxe monofokal-polyfokale Darstellungskonzept der Kunst- und Wunderkammern: Wir sehen alles, und dieses Alles sehen wir auf einen Blick.

Dass die Lebenszeit von Giulio Camillo und die Jahre nach seinem Tod auch jene Epoche darstellen, in der Aristoteles’ Poetik in Camillos Heimat Italien wieder erforscht, kommentiert und diskutiert wurden, könnte auch mit dieser ordnenden und Überblick gewinnenden Tendenz in Zusammenhang gestanden haben. Denn zeitgleich entstehen in Europa, nördlich wie südlich der Alpen die ersten Sammlungsanleitungen und - theorien, die man auch als Sammlungsdramaturgien begreifen kann: Sie sind eine Anleitung zur Beherrschung und Zähmung der Welt und ihres polyfokalen Modells, der Kunst- und Wunderkammer. Die Renaissance ist jene Zeit, in der sich sowohl die Welt als auch das Wissen um ihren Charakter in rasendem Tempo vergrößert und in der die Intellektuellen danach streben, den Horizont permanent geistig wie physisch zu überwinden und das dabei Entdeckte und Analysierte nicht wieder zu verlieren.

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4.5 D IE S AMMLUNGSDRAMATURGIE S AMUEL Q UICCHEBERGS Eine Schrift, die diese Zähmung der Welt, dieses Kunststück im MikroMakrokosmos-Verfahren erschließen sollte, heißt Inscriptiones vel Tituli Theatri Amplissimi (Überschriften oder Titel des umfangreichsten Theaters) und stammt von Samuel Quiccheberg. Er schreibt und druckt sie 1565 in München am Hof des Herzogs Albrecht V. von Bayern. Der volle Titel des lateinisch verfassten Werks lässt keinen Zweifel am Motiv des Autors: Quiccheberg will mithilfe eines brauchbaren Modells den Überblick über die Welt gewinnen. ÜBERSCHRIFTEN ODER TITEL DES UMFANGREICHSTEN THEATERS, welches einzelne Stoffe aus der Gesamtheit aller Dinge und herausragende Bilder umfasst, so dass man mit Recht auch sagen kann: ein Archiv kunstvoller und wundersamer Dinge, eines vollständigen seltenen Schatzes und kostbarer Ausstattung, Aufbauten und Gemälde, was hier alles gleichzeitig zum Sammeln im Theater empfohlen wird, damit man durch dessen häufige Betrachtung und die Beschäftigung damit schnell, leicht und sicher eine einzigartige, neue Kenntnis der Dinge sowie bewundernswerte Klugheit erlangen kann. Vom belgischen Autor Samuel von QUICCHEBERG.90

Ein Gebäude für das Umfangreichste Theater Diese Schrift gilt als Beginn der museumstheoretischen und -praktischen Auseinandersetzung im deutschen Sprachraum und hat Einfluss auf die Entwicklung der Kunst- und Wunderkammern und damit auf die gesamte Museumsgeschichte Europas. Ich werde zeigen, dass Quiccheberg bei seinem Versuch, ein gestrafftes Narrativ für die Welt zu entwerfen, der damaligen dramentheoretischen Diskussion nicht nur in struktureller und logischer, sondern auch in architektonischer Hinsicht nahe kommt: Seine Schrift

90 Das Original erschien 1565 in München, gedruckt wurde es von Adam Berg; die Übersetzung des Titels und anderer Stellen stammt aus: Roth 2000, S. 37.

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vom Umfangreichsten Theater ist wie Giulio Camillos Projekt des Gedächtnistheaters von der Suche nach der richtigen baulichen und strukturierenden Form, genau genommen nach dem richtigen „Theatergebäude“, geprägt. Während Quiccheberg in der Überschrift allgemein vom „Sammeln im Theater“ schreibt, präzisiert er das Theaterhafte seines Entwurfs in der Einleitung zu seinen Erörterungen und Erklärungen: „Auch der Name ‚Theater‘ wird ihm hier nicht uneigentlich beigelegt, sondern vielmehr wegen des großen, mit Bögen errichteten, ovalen Baus in der Form einer Wandelhalle von der Art, die die Einheimischen selbst in Basiliken und Klöstern Umgänge nennen, von hohen Stockwerken auf den vier Seiten gebildet, in deren Mitte ein Garten liegt. Oder man kann die Vorhalle weglassen haben [sic!] – denn so sieht das bayerische Theater der Kunstwerke aus –, so dass vier riesige Hallen in den vier Himmelsrichtungen weit offen daliegen. Deshalb kann man ihm nach einer anderen Methode auch den Namen des Amphitheaters beigeben. Es ist angebracht hier das Museum des Julius Camillus mit seinem Halbkreis zu tadeln, nachdem es richtigerweise auch als Theater bezeichnet werden könnte. Andere haben diesen Namen aber metaphorisch benutzt, wie Christoph Myläus, Conrad Lycosthenes, Theodor Zwingger, Wilhelm de la Perriere und vielleicht auch andere [...].“91

Dieser Absatz enthält viele Informationen, teils aufschlussreich, teils schwer zu entschlüsseln, sodass ich sie einzeln betrachten und miteinander in Verbindung setzen möchte. Es ist nicht bekannt, ob Quiccheberg, der ab 1559 Angestellter am Hofe Albrecht V. in München war, diese Schrift im expliziten Auftrag des Fürsten geschrieben hat. Vieles spricht jedoch dafür. Sicher wissen wir jedoch, dass er mit der Sammlung des Fürsten beschäftigt war und sie stets vor Augen hatte. Wenn er schreibt, dass „das bayerische Theater der Kunstwerke“ genauso wie seine abstrakte Vision aussieht, orientiert er sich selbstverständlich an der Kunstkammer seines Fürsten. Er besteht darauf, dass dieses im eigentlichen Sinne ein Theater ist, so wie er auch das „Museum des Julius Camillus“92 ein Theater nennt, im Gegensatz zu anderen, die den Begriff Theater nur metaphorisch benützt haben, und damit zumeist Enzyklopädien93 bezeichnen. Er beschreibt sein Theater als Amphitheater. Er nennt es Theater „vielmehr wegen des großen, mit Bögen errichteten, ovalen Baus in der Form einer Wandelhalle“. Der „ovale Bau“ ist heute nicht mehr nachvollziehbar, das tatsächliche Gebäude in München ist, wie im zweiten Teil von Quicchebergs Beschreibung, eine nach den vier Himmelsrichtungen offene Säulenhalle, die einen Garten umschließt.

91 Quiccheberg 2000, S. 108f 92 Quiccheberg verwendet die latinisierte Form von Giulio Camillo. 93 Beispiele sind Druckwerke wie Theatrum Vitae Humanae von Theodor Zwinger und Conrad Lycosthenes, Basel 1565, oder das Nachschlagewerk für Embleme Le Théâtre des bons Engins von Guillaume de la Perriere, Paris 1539.

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Abbildung 18: Das Münchner „Amphitheater“: Hof des Marstall- und Kunstkammergebäudes, in dem heute das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege untergebracht ist. Foto: Michael Forstner, Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege.

Bemerkenswert ist, dass der „Zuschauerraum“ des Theaters für Quiccheberg – ähnlich wie für Camillo – als Ort für die Betrachtung der Kunstwerke von besonderem Interesse ist. Die Bögen, die die Wandelhalle einem Kreuzgang ähnlich umschließen, machen das Gebäude zu einem Amphitheater, aus dem wir von jeder Seite des „Zuschauerraumes“ auf eine Bühne hinunter schauen, wo es, wie bei Camillo, nichts zu sehen gibt. Bei Quiccheberg wird die Bühne vom Betrachter nicht einmal mehr betreten, da dieser nicht wie bei Camillo auf der Bühne stehen muss, um auf die 49 Felder der aufsteigenden Sitzreihen zu schauen. Der Betrachter bleibt in Quicchebergs Theatrum mit seinem Körper, seinen Blicken und seiner gesamten Aufmerksamkeit auf der Tribüne, die mit ihren großen Bögen eine „Galerie“ im doppelten Sinn94 darstellt, und schreitet durch eine Landschaft von Kunst- und Wunderwerken, die in Vitrinen und Schaukästen ausgestellt sind. Dass Quiccheberg Camillos Theater kritisierte, da es seiner Meinung nach nur aus einem „Halbkreis“ geformt ist, zeigt vor allem, dass ein „Museumstheoretiker“ wie Quiccheberg in der Mitte des 16. Jahrhunderts nicht an Giulio Camillo vorbei kam, dass er sich mit ihm auseinandersetzen muss-

94 Das Wort wurde im 16. Jahrhundert aus der Gartenarchitektur aus dem Italienischen und Französischen entlehnt und bedeutete „langer, bedeckter Gang“. Heute bezeichnet man im Italienischen nicht nur die Gemäldegalerie, sondern auch einen Straßentunnel als Galleria. (Vgl. Duden 1989: Das Herkunftswörterbuch).

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te.95 Doch auch wenn er die Form bemängelte und überhaupt mit den mystischen Ideen des Italieners nicht viel anzufangen wusste, übernahm er die Idee des Theaters als Gebäude für sein Konzept und stellte sich nicht nur diesbezüglich, sondern auch hinsichtlich der Mnemotechnik in dessen Tradition, „schlägt aber vor, eine einfachere Ordnung anzuwenden, die der Gestalt der Dinge gerecht wird, d.h. eine sichtbare, physische und materielle Ordnung, u.a. auch nach ästhetischen Gesichtspunkten“96. Was hatte es genau mit der Kritik Quicchebergs an Camillos Theaterform auf sich? Hierzu merkt Harriet Roth an: „Quicchebergs Ablehnung der halbrunden Form ist irreführend. Grund hierfür war vermutlich die falsche Überlieferung der Zeitgenossen.“ Denn, so argumentiert sie: „Camillos Theater entsprach äußerlich einem tholos, einem runden Kreis, der auf der Basis von vier gleichschenkeligen Dreiecken entworfen wurde.“ (Siehe Abb. 14) Roth sieht hier möglicherweise einen größeren Widerspruch, als tatsächlich vorhanden war, denn ein nach römischem Vorbild auf dem Grundriss eines tholos entworfenes Theater teilte den Kreis ja tatsächlich in eine Hälfte für den Zuschauerraum und eine Hälfte für die Bühne, die diesen Halbkreis noch dazu überlagerte und unsichtbar machte. Bei Camillo ging es ja tatsächlich um den halbkreisförmigen Zuschauerraum und nicht so sehr um die kreisrunde Bühne, die noch bei den Griechen, aber nicht mehr bei den Römern bespielt wurde. Das von Quiccheberg explizit geforderte Amphitheater97 (amphi, griechisch für „ringsum, um-herum; beidseitig; zweifach“98) steht zu Camillos Theater tatsächlich im Gegensatz, denn es hat ja einen „beidseitigen“, rundumschließenden Zuschauerraum, genau wie Quiccheberg es für die von ihm geschätzte Münchner Kunstkammer beschrieb. Es bestand also durchaus ein Unterschied zwischen den „Theaterkonzepten“ von Quiccheberg und Camillo, und Quiccheberg vermerkte die Differenz

95 Quiccheberg kam 1529, also genau ein Jahr, bevor Camillo nach Paris ging, um dem französischen König Franz I. sein Theater vorzustellen, in Antwerpen zur Welt. Er war also fünfzig Jahre jünger als der 1480 geborene Venezianer, doch Camillos Schrift war erst 1550 publiziert worden. Wahrscheinlich hat sie Quiccheberg auf einer seiner beiden Reisen nach Italien kennen gelernt. Vielleicht aber auch, wie Manuela Kahle vermutet, durch Conrad Gessners Bibliotheca universalis, in der sich Camillos Werk L’idea del theatro findet. (Vgl. Kahle 2005, S. 75.) 96 Roth 2000, S. 31. Zur Mnemotechnik bei Camillo und Quiccheberg siehe auch: Kahle 2005, S. 82ff. 97 In der Renaissance, der Zeit der Wiederentdeckung der Antike, war das Amphitheater nicht das Symbol der leichten, groben Unterhaltung. Man sah im Amphitheater vor allem ein Theatergebäude, das sich aus zwei einfachen Theaterhälften zusammensetzte. Die bauliche Tradition entstand in der Antike jedoch voneinander unabhängig. Die Amphitheater zeigten vor allem Spiele, Gladiatorenkämpfe und inszenierte Wasserschlachten. 98 Duden 1989: Das Herkunftswörterbuch, S. 33.

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nicht ohne Grund: Er wollte den Zuschauer, der bei Camillo nur von der Bühne in das Halbrund des Theaters schauen konnte, um dieses zu verinnerlichen, von seiner körperlich statischen Rolle erlösen. Und er erreichte dieses Ziel, indem er ihn auf einen Rundgang durch den Zuschauerraum des Amphitheaters, die „Galerie“ schickte, durch jenen Raum also, der mit seinen ausgestellten Dingen ebenfalls zur inszenierten Zone, ja paradoxerweise ebenfalls zur Bühne wurde. Quiccheberg hatte trotz oder wegen dieser Abgrenzung – aber stets in der „Diskussion“ mit Camillo – den Schritt vom statischen und verinnerlichten „Gedächtnistheater“ zum „Theater der Kunstwerke“ geschafft, das durch seine sichtbare Materialität reizt und von den Betrachtern, aus denen Besucher bzw. Suchende geworden sind, zu Fuß erobert werden muss. Darüber hinaus hatte er den Kunstkammern Europas ein erstes Papier geliefert, das sowohl eine theoretische als auch praktische Diskussion stimulierte. Er sah in seiner Idee und in dem von ihm beschriebenen Gebäude tatsächlich ein Theater99, grenzte es von denen ab, die den Theaterbegriff nur „metaphorisch“ benützten und damit Lexika und Enzyklopädien meinten.

Abbildung 19: Die Kunstkammer als inszenierter Raum: Schematische Rekonstruktion der Münchner Kunstkammer von Lorenz Seelig nach den Beschreibungen von Johann Baptist Fickler (1598) und Philipp Hainhofer (1611). Aus: Bayerisches Jahrbuch für Denkmalpflege, Bd. 4, 1986.

99 „Es sind diese Möglichkeiten der Dramaturgie und Inszenierung, die Quiccheberg faszinieren und welche innerhalb des Traktates durchwegs eingesetzt werden.“ (Roth 2000, S. 261.)

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Aristoteles in der Wunderkammer Dramaturgie ist das Stichwort für die folgende Überlegung zur Form von Quicchebergs Traktat Überschriften und Titel des umfangreichsten Theaters. Quiccheberg erarbeitet seine Schrift genau in jener Zeit, in der nicht nur die Bauten des römischen und griechischen Theaters neu bewertet werden, sondern in der auch die Poetik des Aristoteles neu und lebhaft diskutiert wird. Doch diese Diskussion findet Mitte des 16. Jahrhunderts vor allem in Italien, weniger in Deutschland oder Frankreich statt. Dennoch ist es möglich, dass der nahe am Theater denkende Universalist diese Diskussion rezipiert. Der 1529 in Antwerpen geborene Quiccheberg, der als Zehnjähriger mit seinen Eltern nach Nürnberg übersiedelt war, ging 1548 nach Basel, wo er Philosophie, Medizin und Philologie studierte. 1550 ist er in Ingolstadt inskribiert, geht von hier nach Augsburg, wo er die Sammlung und Bibliothek des Humanisten und Bankfamilien-Sprosses Hans-Jakob Fugger betreut. Ab 1553 ist er zudem als Agent für Herzog Albrecht V. tätig, reist und besichtigt von München aus Bibliotheken und Sammlungen. 1559 erhält er eine feste Anstellung am Münchner Hof, aber auch in dieser Zeit ist er offensichtlich viel unterwegs. Pantaleon schreibt, dass Quiccheberg 1563 eine Reise durch ganz Italien unternimmt‚ „damit er viel antiquiteten zu samen brechte.“100 Die Jahre am Münchner Hof, in denen er die Überschriften und Titel des umfangreichsten Theaters herausbringt, sind vermutlich für den theatralischen Inhalt des Konzeptes und seine verknappte Gestalt, die an die Form eines Dramas erinnert, entscheidend. Zum einen findet 1560 zum ersten Mal eine Aufführung am neugegründeten Jesuitengymnasium statt.101 Die Theateroffensive der Jesuiten macht einen wichtigen dramatischen Input der Renaissance aus. Quiccheberg nimmt davon sicher Notiz, vielleicht ist er im weiteren oder engeren Sinne sogar involviert, denn es ist das JesuitenKollegium, das 1565 bei seinem Traktat als Herausgeber fungiert.102 Zum zweiten macht Quiccheberg im Jahr 1563 eine Reise „durch ganz Italien“, und spätestens dort nimmt er Notiz von Giulio Camillos Schrift L’idea del theatro. Hier stellt sich zudem die Frage, ob der Humanist, Arzt und Universalgelehrte Quiccheberg auf seiner italienischen Reise (oder möglicherweise schon zuvor während seiner philosophischen Studien in der Schweiz oder in Bayern) nicht auch die in Italien im vollen Gang befindliche Diskus-

100 Pantaleon, Heinrich (1570): Der dritte und letste Theil Teutscher Nation Heldenbuch, S. 560. Zit. nach: Roth 2000, S. 8. 101 Festschrift zur Vierhundert-Jahrfeier des Wilhelms-Gymnasiums 1559-1959 (1959): München, S. 8. 102 Am Kopf des Titelblatts der Transkription der Überschriften und Titel des umfangreichsten Theaters ist zu lesen: „Collegii Societatis JESU Monachii“. Siehe Roth 2000, S. 36f.

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sion und Kommentier-Wut zur Poetik des Aristoteles rezipiert und sich dabei Anregungen für seine Gedanken zum „Sammeln im Theater“ geholt hat. „Aristoteles rückte hierbei zum obersten Gesetzgeber der damaligen Produktion auf, und seine Poetik war gleichsam die Klammer, die den europäischen Literaturen der frühen Neuzeit den inneren Zusammenhang verlieh. Die Blüte der italienischen Dichtungstheorie fiel in das halbe Jahrhundert von 1520 bis 1570.“103

Quicchebergs Schrift ist der Form nach nicht der Poetik des Aristoteles nachempfunden, sie hat wenig strukturelle Ähnlichkeit mit der schlecht editierten, weil nicht zur Publikation vorgesehenen antiken Schrift. Dennoch sind sich die Werke im innersten Kern ähnlich, verfolgen ein ähnliches Ziel: Sie sind Gebrauchsanleitungen, anhand derer die Leser „das Ganze“ zu verknappen lernen sollen, sodass es zwar beeindruckend und groß bleibt, aber als Ganzes mit „Anfang, Mitte und Ende“ präsentier- und konsumierbar wird. Daher ist es inspirierend, in Quicchebergs Schrift eine Poetik für das Museum bzw. das „Theater der Kunstwerke“ zu sehen. Quiccheberg verlässt nie den Pfad des Gebrauchsanweisers. Er variiert gegenüber Aristoteles nur seine Ausdrucksform.

Das Umfangreichste Theater – eine Analyse Am dichtesten gestaltet Quiccheberg den ersten Teil und Kern seiner Schrift. Es sind die Inscriptiones, die Überschriften selbst. In meiner Betrachtung will ich mich vor allem auf sie konzentrieren. Die 53 Überschriften teilen sich in fünf Kapitel („Klassen“), wobei manche zehn, andere wiederum elf beinhalten. Den Inscriptiones folgen Hinweise zur Errichtung von Museen, Werkstätten und Archiven, wobei es sich bei dem Ausdruck „Museum“ eher um eine Bibliothek im heutigen Sinn handelt. Es folgt das Kapitel mit den Ermahnungen und Ratschlägen, in die der Autor vieles aus seiner Berufserfahrung einfließen lässt. In den Erörterungen und Erklärungen kehrt er schließlich zum Herzstück der Schrift, den Inscriptiones zurück und geht darin auf ausgewählte Kapitel genauer ein. Die Beispiele für den Leser bestehen schließlich aus „Ausflügen“ in die bekannten Kunst- und Wunderkammern seiner Zeit. Die 53 Inscriptiones bestechen vor allem durch ihre Knappheit. Quiccheberg merkt an, sie seien „nach meinem Willen verdichtet und von ihren eigenen Grenzen beschränkt“. Die Überschriften selbst bestehen aus 25 bis 40 lateinischen Wörtern. Die Ordnung in fünf Klassen mit zehn bis elf Überschriften lässt an ein Skript für ein fünfaktiges Ideales Drama der Kunstwerke denken. Die Überschriften beschreiben Objektgruppen, die sich innerhalb der Gruppe einerseits durch ihre Ähnlichkeit, andererseits durch

103 Fuhrmann, Manfred (1982): Nachwort. In: Aristoteles: Poetik. Stuttgart, S. 174.

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ihre Differenz auszeichnen. Quiccheberg nennt dabei keine real existierenden Objekte, beispielsweise Kunstwerke aus der Sammlung von Albrecht V., sondern nur Objektgenres allgemeiner Art. Hier zwei Beispiele104: ERSTE KLASSE / 2. Überschrift Die Ahnengalerie des Gründers des Theaters. Diese enthält eine Aufzählung seines gesamten Geschlechts und der näheren Verwandtschaft in bestimmter Reihenfolge. Dazu treten auch gesondert die von diesem Fürstengeschlecht abhängigen Stammbäume der wichtigeren Verwandtschaft und der vom Gründer verehrten Vettern.

Während in dieser Überschrift – es ist die zweite der Gesamtreihenfolge – der Fürst bzw. „Gründer des Theaters“ als Hauptcharakter der Erzählung eingeführt wird, zeigt die nächste von mir ausgewählte Überschrift aus der 2. Klasse, wie Quiccheberg die Charakteristiken der Objekte durch die Gegenüberstellung von Gegensatzpaaren wie „alt und neu“ bzw. „heimisch und auswärtig“ plastisch hervortreten lässt. ZWEITE KLASSE / 7. Überschrift Alte und neue Münzen, zum Beispiel ebenso jene antiken römischen wie andere fremdländische und heimische, die von den Urgroßvätern und den Großvätern der Urgroßväter als Königen und Fürsten geprägt und wegen deren Geschichte und Wappen aufbewahrt wurden. Es gibt aber goldene, silberne, eherne, die sowohl geprägt, gegossen, geformt als auch bedruckt sein können.

Eine komplette Lesung dieser 53 hochverdichteten Überschriften, die überbordend und prall vollgepackt von bedeutungsvollen Dingen der damaligen Welt sind, lässt tatsächlich so etwas wie ein Skript für ein Welttheater des 16. Jahrhunderts erkennen. Welcher Geschichte und welchem Mythos es folgt, möchte ich abschließend hinterfragen. Doch zuvor, um den Eindruck und das Leseerlebnis der 53 Inscriptiones einigermaßen nachvollziehbar zu machen, gebe ich sie hier in stark gekürzter Fassung, d.h. mit den ersten Worten wieder:

104 Auch hier verwende ich die Übersetzung von Harriet Roth (Roth 2000, S. 37ff.).

92 | DIE A USSTELLUNG ALS D RAMA ERSTE KLASSE 1/1 Bilder aus der Heilsgeschichte ebenso gemalte wie auch modellierte oder durch irgendeine andere Kunstfertigkeit geschaffene. [...] 1/2 Die Ahnengalerie des Gründers des Theaters. [...] 1/3 Die Porträts des Theatergründers in verschiedenen Lebensaltern, dann auch seiner Eltern, Geschwister [...] 1/4 Landeskundliche Tafeln, die gemeinhin auch Karten genannt werden: Weltkarten und Ausschnittskarten [...] 1/5 Veduten in Europa, dem Deutschen Reich, Italien, Frankreich, Spanien und anderswo [...] Außerdem die Hauptstädte des Theatergründers. 1/6 Feldzüge, Kriege, Belagerungen, Schlachtordnungen, Seeschlachten und andere berühmte Kämpfe [...] die für die unsrigen ruhmreich [...] 1/7 Schauspiele, Triumphzüge, Festlichkeiten, Spiele und anderen Handlungen dieser Art [...] 1/8 Große Tierbilder, zum Beispiel recht selten gezeichnete Hirsche, Wildschweine, Löwen [...] und was immer die Heimat des Gründers außerhalb des gemeinen Nutzens an Bedenkenswertem hervorbringt [...] 1/9 Modelle von Gebäuden aus der Handwerkskunst, zum Beispiel von Häusern, Burgen, Tempeln, Städten [...] 1/10 Verkleinerte Modelle von Maschinen [...] ZWEITE KLASSE 2/1 Alte und neue steinerne Standbilder: von Kaisern, Königen, berühmten Männern, göttlichen Wesen [...] 2/2 Kunstvolle Handwerksarbeiten, die aus irgendeinem Metall gefertigt wurden [...] 2/3 Handwerksarbeiten jeder Gattung: aus Holz, Stein, Edelsteinen, Glas, [...] 2/4 Erfindungsreiche und bewunderungswürdige Gerätschaften, sei es wegen ihrer Seltenheit oder wegen ihrer Herkunft, sei es wegen der begrenzten Zeitabschnitte [...] 2/5 Fremdländische Gefäße: metallene, tönerne, geschnitzte, hölzerne [...] teilweise aus antiken Ruinen ausgegraben, teilweise aus der Ferne herbeigeschafft, [...] 2/6 Maße, Gewichte, Klafter, Fuß und alles für die Erdvermessung Nötige, [...] 2/7 Alte und neue Münzen, zum Beispiel ebenso jene antiken römischen wie andere fremdländische und heimische, [...] 2/8 Porträts, die Münzen ähnlich sind: aus Metall, Stein, Holz, Wachs, Gips [...] 2/9 Bedeutende tragende Zeichen: sowohl jene nach dem Vorbild von Münzen, geschnitzte, gegossene, geprägte, gedruckte [...] 2/10 Verkleinerte Figuren von Goldschmieden [...] 2/11 Kupferne Druckplatten, auf denen dreidimensionale Bilder in der Ebene eingeritzt sind [...] DRITTE KLASSE 3/1 Wundersame und recht seltene Tiere, zum Beispiel seltene Vögel, Insekten, Fische, Muscheln etc. [...] 3/2 Gegossene Tiergestalten: aus Metall, Gips, Ton und beliebig durch Kunstfertigkeit geschaffenen Stoffen. [...]

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3/3 Teile größerer, aber auch kleinerer Tiere, wenn sie erwähnenswert sind. 3/4 Verschiedene Skelette oder miteinander verbundene Knochen, z.B. die eines Mannes, einer Frau, eines Affen, eines Schweins [...] 3/5 Samen, Früchte, Gemüse, Körner und Wurzeln [...] Hier haben die ausländischen, wundersamen, duftenden immer den Vorzug. 3/6 Kräuter, Blumen, kleine Äste, Zweige, Rinden, Hölzer, Wurzeln [...] natürlich getrocknet […] 3/7 Metalle und metallische Stoffe aus Bergwerken [...] 3/8 Juwelen und kostbare Steine, z. B. Diamanten, Saphire, Smaragde, Rubine, etc. 3/9 Recht auffällige Steine, nach jenen kostbaren, zum Beispiel besonders vorzüglicher Marmor [...] 3/10 Farben und Pigmente, zum Beispiel Gussfarben, zerreibbare Farben, Mineralfarben, Wasserfarben, Ölfarben [...] 3/11 Irdene Stoffe und Säfte, ebenso frei vorkommende wie durch Kunstfertigkeit gewonnene [...] VIERTE KLASSE 4/1 Musikinstrumente, zum Beispiel Knochenflöten, Rohrpfeifen, Orgeln, [...] 4/2 Mathematische Instrumente, zum Beispiel Astrolabien, Himmelsgloben, [...] 4/3 Schreib- und Zeichenwerkzeuge und –ausrüstung [...] 4/4 Sehr starke Werkzeuge, um z. B. die schwersten Gewichte zu heben, um Türen, Türangeln, Riegel und anderes aufzubrechen. [...] 4/5 Die Werkzeuge der Werkstätten und der Arbeitshütten, die von den künstlerisch tätigen Handwerkern benutzt werden [...] 4/6 Chirurgische und anatomische Instrumente und Gebrauchsgegenstände zum Schmücken, zum Beispiel Scheren, Aderlasseisen, [...] Spiegel, Kämme, Brillen, [...] 4/7 Jagdwerkzeuge, und was immer für ein Landgut und für die Pflege der Gärten notwendig ist [...] 4/8 Spielzeug, dabei findet sich sowohl solches für die Übung der Begabung und recht großer Unterhaltung als auch solches, das sich [...] auf die Beweglichkeit des Körpers bezieht [...] 4/9 Die Waffen der ausländischen Stämme und andere sehr seltene und brauchbare Waffen [...] 4/10 Ausländische Kleidung, zum Beispiel indische, arabische, türkische und seltenere [...] 4/11 Seltenere haltbare Kleider, z.B. die der altehrwürdigen Ahnen des Theatergründers [...] FÜNFTE KLASSE 5/1 Gemälde, die mit Ölfarben fertiggestellt sind und von allen überaus vorzüglichen Malern vervollkommnet wurden. [...] 5/2 Auch Aquarelle von berühmten Malern von überallher [...] 5/3 Stiche und andere Bilder aus Papier auf großen und kleinen Blättern, [...] 5/4 Tafelbilder mit religiösen und profanen Themen. Außerdem historische Verzeichnisse und Chronologien, […]

94 | DIE A USSTELLUNG ALS D RAMA 5/5 Sehr umfangreiche Stammbäume von überall her: von Königen, Herzögen Grafen und berühmten und adeligen Familien […] 5/6 Porträts berühmter und außerordentlicher Männer [...] Kaiser, Könige, Fürsten und andere Männer von herausragender Tugend, an deren Gedenken sich der Gründer des Theaters erfreute [...] 5/7 Die Wappen der adeligen Familien, dann auch Waffen und gezeichnete „Beutestücke“ der Beamten, die für bestimmte Regionen und Abteilungen zuständig sind, [...] 5/8 Teppiche und Vorhänge: solche von erlesener Kunstfertigkeit und nicht zu großer, sondern erträglicher Gestalt. [...] 5/9 Spruchbänder und Sinnsprüche: solche, die in bestimmte Zwischenräume des Theaters eingeschrieben sind, [...] 5/10 Überall bereitstehende Archivmöbel, um einzelne Dinge in sich aufzunehmen oder zu verschließen, z.B. kleine Schränke, Truhen, Schreine, Vitrinen, [...]

Lässt sich aus den Inscriptiones so etwas wie eine Storyline lesen? Wenn ja, welche? Hören wir uns an, was Quiccheberg zu seiner Exposition, dem Beginn seines Theaters selbst in den Erörterungen und Erklärungen schreibt: „Ich stelle hier die erlesensten sakralen Tafelbilder vor, [...] damit der beste Anfang des Theaters oder des Archivs von den göttlichen Bildern gemacht werde. Wir lassen aber sofort die Ahnengalerie des Gründers folgen, sein Porträt und anderes, dem hier Vorrechte geschuldet werden. Ohnehin folgen nach der fünften Klasse die Ahnengalerie aller möglicher berühmter Menschen und ohne Unterschied gesammelte Porträts.“105

Am Beginn empfiehlt Quiccheberg ein „göttliches Entree“, in dem die Bilder der Heilsgeschichte in einer „heiligen Schatzkammer“ verehrt werden sollen. Aber im Gegensatz zu Giulio Camillo bleibt diese Zone in Quicchebergs Theater der einzige „göttliche Bezirk“ von 53 Objektgruppen. Quiccheberg lenkt die Aufmerksamkeit sofort auf den Theatergründer, den humanistisch gebildeten Renaissancefürsten, leitet seine Macht über die Ahnen her und führt ihn schließlich mit Porträts in sämtlichen Lebensaltern als Hauptperson in die Geschichte ein, die er in seinem Theatrum erzählt. Der Fürst bleibt auch in weiterer Folge im Zentrum des Geschehens, er ist die wichtigste Bezugsperson inmitten der Sammlung, die die Welt bedeutet. Mitsamt den folgenden Überschriften erinnert diese erste „Klasse“ tatsächlich an ein etablierendes Szenen-Gefüge, wie es den ersten Akt eines Dramas ausmacht: Wir lernen die unmittelbare Welt des Fürsten kennen, seinen Einflussbereich, seine Repräsentationsmittel und Errungenschaften, die auch seinen Untertanen zugutekommen, immer aber im Verhältnis zur ganzen bekannten Welt und ihren Wundern. So finden sich hier: einerseits eine

105 Quiccheberg 2000, S. 109.

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Landkarte des Herrschaftsgebietes, andererseits globale Karten, die die Welt, die Meere und die Sterne zeigen (I/4); Veduten von Europa, dem Deutschen Reich, aber auch von den Hauptstädten des „Theater“-Gründers (I/5); Bilder von gewonnenen Kriegen, Feldzügen, Schlachten (I/6); zeitgenössische theatralische Formen wie Schauspiele, Triumphzüge und Festlichkeiten, die von Gladiatorenkämpfen und Schiffskämpfen alla romana ergänzt bzw. konterkariert werden (I/7); große Bilder von Tieren (I/8). Die erste Klasse schließt mit Modellen von Gebäuden aller Art (I/9) sowie mit Maschinenmodellen (I/10) ab. Vor allem die letzten beiden thematischen Gruppen verdeutlichen, dass es sich beim ersten Akt um eine gewisse Leistungsschau handelt, in der die Größe des Fürsten und seines Fürstentums vor der Folie von größeren Einheiten gezeigt wird. Im Gegensatz zu späteren Kapiteln bleibt das „Fremde“ mehr im Hintergrund, wobei auch später immer wieder auf den Fürsten selbst, seine Familie oder sein Fürstentum Bezug genommen wird. Einen Schlüssel zum Verständnis, was im Theatrum des Samuel Quiccheberg prinzipiell „gespielt wird“, gibt die siebte Überschrift, deren erste beiden Zeilen „Schauspiele, Triumphzüge, Festlichkeiten, Spiele und andere Handlungen dieser Art“ aufzählen. Das umfangreichste Theater, für das Quiccheberg Überschriften und Titel entwirft und in deren Mitte er den Renaissancefürsten als zentrale Figur installiert, kommt genau genommen einem in räumlicher Form gespeicherten Trionfo bzw. einem Huldigungsspiel für eben diesen Renaissancefürsten gleich. Die Allegorien, die die Trionfi und Huldigungsspiele der Renaissance bevölkerten, hat der Philosoph Quiccheberg durch Objekte der Natur, der Kunst und des Kunsthandwerkes ersetzt. Mit seiner Dramaturgie erreicht er aber dasselbe Ziel: die Huldigung des Fürsten, eingebettet in eine Geschichte, erzählt durch Objekte. Den Untertanen präsentiert er den Fürsten einerseits als einen der wichtigsten und größten weltlichen Herrscher, und betont andererseits mit seiner „heilige Schatzkammer“ am Beginn des Parcours seine Legitimation durch das Gottesgnadentum. Nachdem Quiccheberg den Fürsten und seine Familie etabliert hat, treffen wir im zweiten Akt auf eine große Menge weiterer Figuren, die die Welt bewohnen oder bewohnt haben. Es sind alte und neue Standbilder aus allerlei Materialien, die vor allem gekrönte Häupter und berühmte Männer, aber auch Engel und Fabelwesen darstellen (II/1). Auf dieses erweiterte Arsenal an dramatis personae folgen kunstvolle Handwerksarbeiten und Gerätschaften sowie Maße und Gewichte für die Erdvermessung. Aus Quicchebergs Ausführungen spricht der mechanistische Ansatz, der ganz mit dem Weltbild seiner Zeit korreliert.106 So lassen sich auch die vermischte Präsentation

106 Im mechanistischen Weltbild wird Gott als obererster Mechaniker begriffen. Zur Fürstenerziehung gehörte auch eine Handwerksausbildung, beispielsweise das Drechseln, weil auch das Staatsgeschäft als Handwerk betrachtet wurde. „Die Liste der drechselnden Souveräne ist lang: Die Habsburger Maximilian I.,

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von Standbildern, Porträts und Handwerkskunst erklären. Denn neben den obengenannten Überschriften fasste Quiccheberg in dieser zweiten Abteilung, die im Großen und Ganzen der artificialia-Sammlung einer Kunstund Wunderkammer entspricht, auch noch Münzen und Porträtmedaillen sowie weitere Medien menschlicher Darstellung zusammen. Die dritte Klasse enthält die naturalia. Wir finden Repräsentationen von Tieren, Pflanzen und Skeletten, wobei Quiccheberg mit großer Lockerheit und in Vorwegnahme darwinistischer Theorien die Knochen von Mensch und Tier mischt bzw. miteinander verkettet, indem er die Skelette eines Mannes, einer Frau, eines Affen sowie eines Schweins zusammen präsentieren will. Weiters stellt er Metalle, Steine, Farben und die Grundstoffe für alchemistische Experimente in den Raum. Der vierte Akt – er besteht vorrangig aus scientifica – ist den menschlichen Kulturtechniken und jenen Tätigkeiten gewidmet, die die Menschen erlernen mussten, um die im dritten Akt präsentierte Natur zu bändigen bzw. auszubeuten, weshalb hier auch Instrumente aller Art im Mittelpunkt stehen: mathematische Instrumente, Schreib- und Zeichengeräte, grobes Werkzeug und solches für Kunsthandwerk, musikalische und ärztliche Instrumente, Jagd- und Gartenutensilien, schließlich Spielzeuge, Waffen und Kleidung. Die Kunst sowie die Genealogie und Heraldik der herrschenden Schicht stellen den Grundstock der fünften und letzten Klasse dar: Neben Wappen und Stammbäumen finden sich hier Gemälde, Aquarelle, Stiche und Tafelbilder. Den Abschluss bilden, und das ist für die Form-Inhalts-Betrachtung von Quicchebergs Theater besonders interessant, Hinweise zur Gestaltung des Theatrums selbst. Quiccheberg nennt hier grafische Elemente wie im Raum applizierte Spruchbänder und Sinnsprüche, also eine Art Ausstellungsbeschriftung, sowie Elemente der Ausstellungsarchitektur: Schränke, Truhen, Schreine und Vitrinen. Quiccheberg war nicht nur Theoretiker. Er zeigte auch ein ausgeprägtes praktisches Problembewusstsein für das Medium Ausstellung. Horst Bredekamp schlägt vor, die Sammlung Albrecht V., an der sich Quiccheberg in seiner Schrift vom Umfangreichsten Theater orientiert, in Zusammenhang mit der idealen Ordnung des studiolo, wie es Francesco I. de Medici im Palazzo Vecchio in Florenz ab 1569 etablierte, zu sehen. Bredekamp sieht diese Ordnung durch die vier Begriffe Naturform, antike Skulptur, Kunstwerk, Maschine geprägt und meint, dass dieses Sammlungskonzept „seine richtungsweisende Formulierung“ von Quicchebergs 1565

Rudolf II., Ferdinand III. und Leopold I. übten sich ebenso in dem populären Zeitvertrieb wie die Wittelsbacher, die Kurfürsten von Sachsen, die Großherzöge von Toskana, die Könige von Dänemark und Schweden, Ludwig XVI. von Frankreich und Zar Peter der Große von Russland.“ (Haag, Sabine (2007): Meisterwerke der Elfenbeinkunst. Kurzführer durch das Kunsthistorisches Museum. Wien, Milano, S. 180.) Diesen Hinweis verdanke ich Natalie Lettner.

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publizierter Schrift erfuhr.107 Während Rudolf Berliner (1928) im quicchebergschen Konzept „überhaupt kein System, das mit innerer Folgerichtigkeit die Zusammenordnung von Kunstsammlungen“108 darstellt, erkennen kann, weist Manuela Kahle wiederum darauf hin, dass bei Quiccheberg zwar „alle von Bredekamp genannten Elemente vorhanden“109 sind, sie aber nicht der im Florentiner studiolo vorgefundenen Ordnung entsprechen. Auf einem virtuellen Rundgang durch Quicchebergs ideales Theater kann sie zwar die Ordnung „GOTT – MENSCH – HANDWERK – NATUR – WISSENSCHAFT – MENSCH/GALERIE – BIBLIOHTEK“ ausmachen, kommt aber zu dem Schluss, dass es bisher niemandem gelungen ist, „ein übergeordnetes geistesgeschichtliches Konzept für Quicchebergs Methode zu finden.“110

Das Umfangreichste Theater als Trionfo Quicchebergs Konzept erinnert mit seinen fünf Akten an die Form des Dramas, es ist dabei weniger von sich steigernden und entspannenden Höheund Ruhepunkten als von einer seriellen Struktur geprägt. Daher komme ich hier nochmals auf meinen Ansatz zurück, Quicchebergs Theaterkonzept mit der Dramaturgie eines Trionfo zu vergleichen. Kahle selbst hat mir dabei den entscheidenden Hinweis geliefert. Sie beobachtete: „Die Klassen zwei bis vier sind als die eigentliche Kunst- und Wunderkammer zu bezeichnen, denn diese Klassen umfassen die gängigen, in Kunst- und Wunderkammern vorzufindenden Objekte.“111

Nun ist es notwendig zu fragen, warum Quiccheberg auch eine erste und eine fünfte Klasse erfand, welchen Zweck sie für ihn erfüllten. Quiccheberg hat eine Kunst- und Wunderkammer eingerichtet, hat in dieser aber, da er sein Konzept nicht nur als Theater im „metaphorischen“ Sinn begreift, einen Hauptcharakter, der das Zentrum der Sammlung bildet, gleich zu Beginn etabliert. Dafür braucht er, wie im Drama, den ganzen ersten Akt, den er, wie auch die folgenden Abschnitte, in der Form eines Triumphzugs gestal-

107 Bredekamp, Horst (1993): Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. In: Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 41. Berlin, S. 33. 108 Berliner, Rudolf (1928): Zur älteren Geschichte der allgemeinen Museumslehre in Deutschland. In: Münchner Jahrbuch der bildenden Kunst, Bd. V, 1928, S. 330f. 109 Kahle 2005, S. 65. 110 Kahle 2005, S. 64. 111 Ebd., S. 66.

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tet. Einen wesentlichen Unterschied gibt es jedoch: Nicht die Symbole der Macht und des Reichtums des Fürsten ziehen an uns vorbei, wir sind es selbst, die sie aufsuchen und sie „wohl zum Lob des Fürsten und der Repräsentation seines Reiches bzw. des Fürsten im Reich“112 abschreiten. Prozessionen, Trionfi und Huldigungsspiele waren wichtige theatralische Ausdrucksformen seit der Frührenaissance. 1454 ließ Papst Martin V. in Rom eine Prozession inszenieren, in der die gesamte Weltgeschichte vom Sturz Luzifers bis zum Jüngsten Gericht dargestellt wurde.113 Hinsichtlich Quicchebergs „Sammlungs-Theater“ ist auch das berühmte und gut dokumentierte Mailänder „Hochzeitstafelspiel“ von 1488 bemerkenswert. Es zeigt, dass Spiele, in denen Geschenke, Dinge oder Objekte eine Rolle spielen, durchaus üblich waren. Schon der Grundriss jenes Saals, in dem das Mailänder Spiel stattfand, erinnert an das Münchner Theatrum von Albrecht V., denn „es fand in einem ‚mit herrlicher Galerie umgebenen‘ Prunksaal statt“ 114. Zu Beginn des Spiels befand sich in dem Saal nichts als eine „große Tafel“. In der ersten Szene treten, begleitet von Musik, Jason und die Argonauten auf, tanzen ein Huldigungsballett und lassen das Goldene Vlies zurück. Die Tänzer des Merkur schenken ein Kalb. Nach und nach füllt sich die Tafel bei jeder Szene mit Geschenken, organischen und anorganischen, mythischen, symbolischen, allegorischen und solchen, die vor allem wertvoll sind. Bei den Trionfi stand der Fürst meist leibhaftig selbst im Mittelpunkt, seine Auftritte waren spektakulär. Francesco de Medici, der sich das oben besprochene studiolo eingerichtet hatte, ließ sich in einem Festzug, der für ihn und Bianca Capello 1579 organisiert wurde, auf dem ersten Bühnenwagen auf einem Thron präsentieren. Seinen Wagen zogen zwei Elefanten, die von je einem äthiopischen Jüngling geritten wurden.115 Der Einzug des Fürsten am ersten Wagen findet sich im übertragenen Sinn auch in Quicchebergs Theater, das dieser wenige Jahre vor dem berühmten Mailänder Triumphzug konzipiert hatte. Nicht der Fürst fährt bei Quiccheberg am Publikum vorbei.

112 Ebd. 113 Vgl. Kindermann, Heinz (1959): Theatergeschichte Europas. Das Theater der Renaissance, S. 22. Sowie: Wilhelm Creizenach (1911): Geschichte des neueren Dramas, Bd. 1. Halle, S. 303f. 114 Diese Beobachtung stammt von Stephano Arteaga (1747-1799), der das Mailänder Hochzeitsspiel nach zeitgenössischen Quellen (Tristano Calchi, 1628) beschrieb. Seine Schrift wurde 1789 von Nicolaus Forkel in der Geschichte der italienischen Oper ins Deutsche übertragen. 115 Diese luxuriöse Ausstattung macht verständlich, dass der von Francesco Sbarra inszenierte Festzug angeblich 300.000 Dukaten gekostet hat. (Vgl. Kindermann 1959, S. 31. Kindermann gibt folgende Quelle an: Schrade, Leo (1956): Les Fêtes du Mariage de Francesco di Medici et de Bianca Capello. In: Jean Jacquot: Les Fêtes de la Renaissance, Paris, S. 107ff)

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Das Publikum selbst wandelt entlang der fürstlichen Porträts, Familie und Errungenschaften. Wie nahe sich Wunderkammer und Trionfo im 16. Jahrhundert auch in ästhetischer Hinsicht standen, demonstrieren Quicchebergs Erörterungen und Erklärungen zu den Archivmöbeln, Schränken und Vitrinen, die er in der letzten seiner 53 Überschriften beschreibt. „Dann gibt es in der gegenwärtigen Kategorie die genannten Schränke in der Gestalt von Triumphbögen, Türmchen und Pyramiden. Diese also werden vielleicht nur von dem Gewicht sein, dass zwei Lastträger einen tragen können. Im übrigen wird es hier nicht schaden, auch antike Rundtempel und andere nachzubilden, des gleichen Theater oder gar Weltwunder. [...] Indes sollten sie so gewölbt und für diesen Zweck eingerichtet sein, dass ihre Bestandteile abgenommen, geöffnet und schließlich wieder geschlossen werden können, weshalb sie alles in sich aufnehmen können, was man ihnen richtigerweise zuweist, jedoch gänzlich so, dass sie die schöne Vielfalt der Schränke offenbaren.“116

Quiccheberg behandelt in seinen 53 Überschriften, die vornehmlich dem Inhalt der Sammlung gewidmet sind, auch die Mittel der Ausstellungsgestaltung. Sein Zugang zum Medium Ausstellung bzw. Schaustellen mutet aus heutiger Sicht modern an, da er die Form als Inhalt und den Inhalt als Form begreift. Indem er die Architekturelemente zu Exponaten werden lässt, antizipiert er sowohl Marshall McLuhans Gedanken vom Medium, das gleichzeitig die Botschaft ist, als auch Roland Barthes’ Analyse zum modernen Text, dessen Eigenart es ist, immer auch seine eigenen Möglichkeiten zu problematisieren. Neben der Form-Inhalt-Diskussion geht Quiccheberg auch auf mögliche Praktiken der Ausstellungsarchitektur ein. Dabei orientiert er sich an der Bühnenarchitektur, indem er das Phänomen Zeit und die Veränderung der „Bühne“ während der Aufführung mitdenkt: „Theater aber und Archive, die ich den Fürsten empfehle, könnten an ihren Wänden vor den aufzuhängenden Tafelbildern jedes Genres ringsum Flügeltüren von einer angemessenen Größe haben, die, wie es bei den meisten Altären zu geschehen pflegt, geöffnet werden, damit sie zwei- oder dreimal ein neues Antlitz offenbaren können. Im Inneren wird folglich eine Abteilung aller Dinge zu finden sein, wie Porträts und Ölgemälde, in der Mitte vielleicht das Schauspiel eines Stammbaums, außen schließlich eventuell Landkarten, Stadtansichten, Tiere und anderes oder schlichtere Bilder von Feldzügen oder Prospekten, die auf dünnen Leinwänden mit Wasserfarben gemalt sind, so dass, sooft ein Betrachter die äußeren Bilder im Vorübergehen mustert und dann an den Anfang zurückgekehrt ist, ein neues Aussehen vorfindet, weil ein Diener inzwischen die Flügeltüren der Wände umgeklappt hat und so fort.“117

116 Quiccheberg 2000, S. 153f. 117 Quiccheberg 2000, S. 149f.

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Quiccheberg ist der Faktor Zeit in der Kunstkammer nicht fremd. Da er ein während des Besuchs veränderbares Setting baut, können in seinem Theatrum tatsächlich Aufführungen entstehen. In der oben zitierten Passage lässt sich der Unterschied zwischen einer Aufführung in einer Ausstellung und der interaktiven Ausstellungsgestaltung im heutigen Sinn erkennen: Werden die fokussierenden Ausstellungselemente wie die Flügeltüren von einem Diener während des Ausstellungsbesuches verändert, entsteht ein „performativer“ Akt. Nimmt der Besucher die Veränderung selbst in die Hand, handelt er „interaktiv“.

Der Öffentlichkeit entgegen Das Bayerische Theater der Kunstwerke am Münchner Hof, das für Quicchebergs Umfangreichstes Theater Pate gestanden hat, war keine öffentliche Einrichtung im heutigen Sinn. Es war kein modernes bürgerliches Museum, es war nicht zu bestimmten allgemein bekannten Zeiten, unter Einhaltung einer in Grundzügen nachvollziehbaren Hausordnung und gegen ein Entgelt prinzipiell für alle betretbar. Doch die Münchner Kunstkammer im ausgehenden 16. Jahrhundert stand nicht nur fürstlichen und diplomatischen Besuchern, sondern auch dem gelehrten und interessierten Publikum nach Anmeldung offen, was auch Quicchebergs Wunsch nach einer sich verbreiternden Wissensvermittlung und einer interdisziplinären Diskussion entsprach. Den Zugang würde man heute als schichtspezifisch eingeschränkt und damit als „voröffentlich“ bezeichnen. Doch die voröffentlichen Einschränkungen nahmen nicht gleichmäßig progressiv ab, um schließlich im Lauf der Zeit in die heutige Museumsöffentlichkeit zu münden. Zwischenzeitlich wurde in München selbst diese eingeschränkte Öffentlichkeit restriktiver interpretiert, auch wenn hinter diesen Entscheidungen ganz banale Gründe stehen konnten. So berichtet beispielsweise Philipp Hainhofer (1578-1647), dass der Zutritt in die Münchner Kunstkammer um 1611 stark beschränkt wurde, da in den Jahren zuvor viele Gegenstände abhandengekommen waren.118 Doch trotz dieser Rückschläge sind die Schienen in Richtung öffentliche Ausstellung und öffentliches Museum gelegt. Weniger als 40 Jahre später wird in Paris die Akademie gegründet. Eine ihrer ersten öffentlichen Ausstellungen im Jahr 1675 – sie wird allerdings für mehrere Jahre die letzte gewesen sein – wird der junge Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz sehen, und er wird noch im selben Jahr in Paris ein Konzept für „öffentliche Aufführungen“ von Objekten und wissenschaftlichen Experimenten schreiben. Wiederum 60 Jahre später, in den 1730er Jahren, werden die AkademieAusstellungen zu regelmäßigen Veranstaltungen, und hier zeigt sich das Publikum selbstbewusst, die Verantwortlichen werden geschockt von „zwanzig verschiedenen Arten von Publikum“ sprechen, die ihre Kommu-

118 Vgl. Roth 2000, S. 263.

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nikationsstrategien unter anderem im parterre des Hôtel de Bourgogne und am Théâtre de la Foire in Saint-Germain gelernt hatten und mit den Kunstwerken nun jenen Umgang pflegen, den sie für richtig halten. Von den ersten regelmäßigen öffentlichen Ausstellungen vergehen nur mehr einige Jahrzehnte bis zur Französischen Revolution, in der Gleichheit und Öffentlichkeit einen qualitativen Sprung nach vorne machen. Aus dem Louvre wird ein Nationalmuseum, die königlichen Sammlungen gehen in den Besitz des Gemeinwesens über. An dieser Stelle habe ich den historisch-argumentativen Kreis, den ich mit meinen Überlegungen zur Akademie-Ausstellung und ihrer Eroberung durch die Öffentlichkeit begonnen habe, nicht nur geschlossen, sondern auch schon hinter mir gelassen. Die Periode, die nun kommt und bis in unsere Zeit reicht, werde ich in den zweiten, phänomenologischen Teil meiner Arbeit einfließen lassen. „Das Publikum“ wird immer wieder selbstbewusste Zeichen von sich geben, doch wird es im 19. Jahrhundert vorerst einmal eine Zeit der Zähmung durchleben. Es wird sich selbst einem Verhaltenskodex für den Ausstellungsbesuch unterwerfen, der in der neuen tempelhaften Architektur der Museen ein bauliches Äquivalent findet und diesem gerecht werden wird. Doch das Ausstellungs-Publikum wird wieder zur Konfrontation zurückfinden, beginnend mit dem frühen 20. Jahrhundert, als die BesucherInnen im Pariser Salon d’Automne erbost die Bilder zerkratzen und so die Grundkonstellation in der Ausstellung, in der sich das Drama zwischen den BesucherInnen und den Dingen abspielt, wieder sichtbarer hervortreten lassen. Das Verhalten der AusstellungsbesucherInnen entwickelt sich dabei analog zu dem Verhalten der TheaterbesucherInnen, die im 19. Jahrhundert ebenfalls in Schauspiel-Kathedralen „zivilisiert“ werden, um sich an der Wende zum 20. Jahrhundert mit neuen Theaterströmungen, die sich aus den Krisen des Dramas speisen, auf ein neues provozierendes Spiel einzulassen. Der Erfolg der Performancekunst hat uns in den letzten Jahrzehnten dazu verleitet zu glauben, dass eine Verschmelzung von Theater und Ausstellung erst in den Jahren nach 1960 stattgefunden hat. Ich habe mit einigen Beispielen versucht, Gemeinsamkeiten und signifikante gegenseitige Beeinflussungen zwischen dem Theater und der Ausstellung zwischen 1530 und 1750, als sich die Ausstellung noch keiner breiten Öffentlichkeit stellte oder stellen konnte, herauszuarbeiten. Das Ergebnis dieser stichprobenartigen Fokussierung legt den Schluss nahe, dass sich auch in den späteren Epochen aussagekräftige Beispiele finden könnten, die die Ähnlichkeiten in der Entwicklung und der Struktur der Medien Ausstellung und Theater belegen. Die in diesem historischen Teil gewonnenen Erkenntnisse helfen zudem, den folgenden phänomenologischen Teil auch in historischer Hinsicht zu verorten.

5. Dramaturgie der Ausstellung

„Es ist nun nicht so, dass wir festgestellt hätten, dass das Museum in Wirklichkeit ein Theater sei. Das ‚als‘ im Titel versucht wiederzugeben, dass wir auf der Suche sind nach Strukturen, die in die gegenwärtige Institution Museum eingewandert sind, um es immer wieder von anderen Aspekten her ein wenig besser zu deuten.“1

Karl-Josef Pazzini hat die Nützlichkeit des Theaters für die Charakterisierung des Museums bzw. der Ausstellung in seinem Text mit dem sprechenden Titel Das Museum als Unschuldskömodie klar beschrieben. Ich hole das Theater aus dem selben Grund wie Pazzini an Bord. Auch mir ist es wichtig, die Ausstellung „von anderen Aspekten her ein wenig besser zu deuten“. Dass die theatralischen und dramatischen Strukturen, wie Pazzini annimmt, erst „in die gegenwärtige Institution Museum eingewandert sind“, und nicht, wie ich im historischen Teil meiner Arbeit zeigen konnte, bereits seit der Renaissance ein grundlegendes Element des Ausstellens darstellen, entspricht der heute gängigen Einschätzung. Doch das Theater und das Ausstellen sind über weite Strecken in der neuzeitlichen europäischen Geistesgeschichte einen gemeinsamen Weg gegangen. Ihre Annäherung im 20. Jahrhundert fällt heute vor allem wegen der scharfen Trennung der Medien und der Zähmung ihres Publikums im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. Paradoxerweise wird die Sicht, derzufolge Ausstellungen erst in den letzten Jahrzehnten zu Ereignissen bzw. Aufführungen geworden sind, gerade durch den performative turn, also den performativen Ansatz in den Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren, bestärkt.2 Dabei ist auch meine hier vorlie-

1 Pazzini, Karl- Josef (Hg) (1999): Das Museum als Unschuldskomödie. In: Unschuldskomödien. Museum und Psychoanalyse. Museum zum Quadrat, Bd. 10. Wien, S. 150-174, S. 150. 2 So schreibt beispielsweise Eckhard Siepmann in „Ein Raumverhältnis, das sich aus Bewegung herstellt“. Die performative Wende erreicht das Museum: „[...] gegenwärtig schickt sich die performative Wende an, alle Sphären der Gesellschaft in Bewegung zu setzen und sogar vor den Pforten jener Institution nicht zurückzuschrecken, die durch Jahrhunderte hindurch der Inbegriff reglosen Ver-

104 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA

gende Arbeit, in der ich über die Grenzen der Medien hinweg die Ausstellung mit Hilfe der Dramenanalyse überdenken und untersuchen will, ein „geistiges Kind“ der performativen Wende. Gerade deshalb war es mir gegensteuernd wichtig, die Geschichte der performativen Qualitäten der Ausstellung diesem phänomenologischen Kapitel voranzustellen, um zu zeigen, dass nicht so sehr die medialen Charakteristiken, sondern hauptsächlich das Interesse der Kulturwissenschaft und ihre Fragestellungen neu sind. Aufbauend auf die historische Entdeckungsreise, in der die Analogien und Wechselwirkungen zwischen Theater und Ausstellung im neuzeitlichen Europa im Mittelpunkt standen, kehre ich also in das 20. Jahrhundert zurück und beginne von hier ausgehend eine konzeptiv kontrapunktisch angelegte Studie, die sich methodisch an der phänomenologischen Dramenanalyse orientiert. Ausstellungsbeispiele, sowohl kulturhistorischer als auch kunsthistorischer Art werden mich auch in diesem Teil unterstützen, im Mittelpunkt stehen jedoch keine historischen Ereignisse, sondern die Kontrahenten im Ausstellungs-Spiel: die BesucherInnen, die ausgestellten Dinge, die KuratorInnen. Ebenso werde ich die in der Dramenanalyse untersuchten Phänomene Raum, Zeit und Text thematisieren und dramatische Mittel wie Wiederkennung oder Katharsis auf ihre Relevanz im Ausstellungsraum prüfen.

5.1 D ER B ESUCHER

UND DIE

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Ausstellungen lassen sich aus vielen Perspektiven beschreiben. Die Sicht der KuratorInnen ist beispielsweise folgende: Der Kurator verfasst einem Dramatiker ähnlich ein Konzept, dann schlüpft er in die Rolle des Regisseurs und zusammen mit einem Gestalter, Architekten, Grafiker, Designer, Szenographen oder Bühnenbildner inszeniert er mit Hilfe von Dingen3 im

harrens vor einer reglosen Dingwelt war.“ In: Museumsjournal, III, 2001, in: http://www.kunsttexte.de/download/bwt/siepmann-raumverhaeltnis.pdf, S. 2; Zugriff: 08.07.2007. 3 Ich bevorzuge zumeist den Begriff „Ding“ gegenüber „Objekt“ oder „Gegenstand“, auch wenn ich letztere Begriffe im Rahmen dieser Arbeit ebenfalls verwende. In dieser Hinsicht orientiere ich mich an Martin R. Schärer, der sich in seiner Definition wiederum an Jean Baudrillards Le système des objets (Paris 1968), und an François Dagognets Eloge de l’objet. Pour une philosophie de la marchandise (Paris 1989) anlehnt. Schärer schreibt: „Dinge sind alles, was physisch-konkret ist. Es sind mit den Sinnen wahrnehmbare und dadurch für den Menschen erst in ihrer Bedeutung konstituierte materielle Einheiten. Der Begriff ‚Ding‘ (den wir für den allgemeinen Gebrauch den Begriffen ‚Sachen‘, ‚Gegenstand‘ und ‚Objekt‘ vorziehen) wird hier sehr weit verstanden als das außerhalb der menschlichen Vorstellungswelt Befindliche und eine Ich-Es-Beziehung Sym-

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Raum ein Thema, eine Biografie, eine Geschichte. Bei den Dingen im Raum kann es sich um Kunstwerke, Dinge des Alltags oder historische Objekte handeln, sie sind die Textbausteine einer Ausstellung. Diese Sicht ist durchaus üblich, schmeichelt in nicht geringem Maße dem Berufsbild des Kurators, der in den letzten Jahren nicht nur als Dramatiker oder Regisseur, sondern auch als Künstler, Autor und selbst als Gott4 beschrieben wurde. „One can see the exhibition as a performance with the museographer as the director. The museographer creates the scene he or she wishes the public to see.“5

Ich kann dieser Sicht auf die Ausstellung aus der Perspektive der KuratorInnen vieles abgewinnen, denn Teile der hier vorliegenden Analyse lassen sich nur aus dieser Perspektive beschreiben. Bleibt diese Perspektive jedoch die einzige und wird sie nicht durch die Sichtweisen anderer Akteure in der Ausstellung konterkariert, endet die Suche nach einer Dramaturgie der Ausstellung rasch in der Sackgasse der Eindimensionalität. Ich lasse also Kuratorin und Kurator einmal beiseite und konzentriere mich zuerst auf die BesucherInnen.6 Diese Strategie spiegelt auch die Tatsache, dass die KuratorInnen in der Ausstellung die großen Abwesenden sind. Denn immer, wenn wir als BesucherInnen die Ausstellung betreten, sind die KuratorInnen nicht mehr da. Also analysiere ich zunächst das Verhalten der BesucherInnen in der Ausstellung sowie die Ausstellung aus BesucherInnenperspektive, wobei ich einige Beobachtungen aus meiner Einleitung Wenn Handschuhe sprechen konkretisiere und theoretisch fundiere: Im Ausstellungsraum kommt es zu einer Konfrontation zwischen dem Besucher, der sich sowohl als Zuschauer als auch als Akteur auf einer Bühne (dem inszenierten Ausstellungsraum) bewegt, und den dort ausgestellten Dingen. Wenn es ein Drama in der Ausstellung gibt, dann spielt es sich zwischen den Dingen untereinander, vor allem aber zwischen den Dingen und den Be-

bolisierende, das sich dank seines materialen Charakters durch des Menschen Sinne begreifen und erfahren lässt; der lateinische Ursprung des Wortes ‚Objekt‘, das Hingeworfene, der Gegen-Stand, weist in diese Richtung.“ (Schärer 2003, S. 11.) 4 Siehe: Heinich/Pollak 2002, S. 231-250; Hans Dieter Huber (2002): Künstler als Kuratoren – Kuratoren als Künstler?; Justin Hoffmann (2002): God is a Curator. Letztere Aufsätze in: Huber, Hans Dieter/Loicher, Hubert/Schulte, Karin (Hg.): Kunst des Ausstellens. Beiträge-Statements-Diskussionen. Ostfildern-Ruit, S. 225-228 und 249-259. 5 Maure 1995, S. 163. 6 Einer, der selbst Kurator ist, aber den Blick geradewegs auf die Aktivität der Besucher gelenkt hat, ist Hans-Ulrich Obrist: (Hans-Ulrich Obrist (1996): Delta X. Der Kurator als Katalysator. Regensburg) In seiner Ausstellung Take Me (I’m Yours) in der Londoner Serpentine Gallery ließ er 1996 die Besucher selbst die Ausstellung bespielen.

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suchern ab. Der Dialog zwischen Dingen und Besuchern ist ein innerer Dialog, in dem der Besucher den Dingen, je nach seinem Wissen und seiner Erfahrung seine Stimme leiht. „Objects are the actors and knowledge animates them.“7

Dem Objekttext kommt dabei die Rolle des „legitimen Schwindelzettels“ zu, der den Dialog in Gang bringt, falls die sinnliche Oberfläche des Dings und der Kontext, in dem es positioniert ist, bzw. das Vorwissen des Besuchers nicht ausreicht. Die Zwischentitel im Stummfilm haben eine ähnliche Funktion, auch sie bringen die Bilder zum Sprechen. Für die Ausstellung habe ich diesen Vorgang in meiner Einleitung sowohl am Beispiel des nackten Paares mit dem Titel Adam und Eva in der Ausstellung 100 Objects to Represent the World von Peter Greenaway als auch am Beispiel der weißen Lederhandschuhe des Lokführers Julius Brod, der den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand im Sommer 1914 nach Sarajewo fuhr, durchgespielt und gezeigt, dass die Objekttexte die Dinge nicht nur zähmen, indem sie ihnen einen Namen geben, sondern sie auch zum Sprechen bringen.8 Ein ähnliches Phänomen lässt sich heute auch im zeitgenössischen Theater beobachten, das teilweise keinen Dialog mehr zwischen Schauspielern, sondern nur eine „Ansprache“ von den Akteuren an die Zuschauer kennt: „Und es scheint nur so, dass die Bühnenfiguren in diesem dialoglosen Theater sprechen. Es wäre richtiger zu sagen, dass sie von dem Urheber der Spielvorlage gesprochen werden oder dass das Publikum ihnen seine innere Stimme verleiht.“9

Die Besucherinnen und Besucher sind einzigartig unter den Kunst- und Kulturrezipienten, da ihre Rezeption mit ihrer eigenen physischen Bewegung gekoppelt ist. Sie befinden sich auf einem Weg, auf einem Gang, einer Entdeckungsreise. Sie sind verwandt mit allen, die sich selbst bewegen und dabei gezwungen sind, ihre Aufmerksamkeit im Raum zu verteilen: mit dem Flaneur in der Stadt, mit den Einkaufenden im Supermarkt, mit den Urmenschen im ungeschützten Gebiet, mit dem Helden im Abenteuerroman. Der Besucher ist ein Suchender, auf der Suche nach den Dingen, die da kommen, aber auch auf der Suche nach einem Ablauf im Raum. Hier kommt die Dramaturgie ins Spiel: Denn alles, was einen Anfang und ein Ende hat, hat einen Ablauf. Und die Qualität dieses Ablaufs nenne ich Dramaturgie. Jeder einzelne Ausstellungsbesuch hat seinen eigenen Ablauf, ist eine einzigartige Geschichte für sich, und jeder Ausstellungsbesucher sucht und findet bei

7 Kirshenblatt-Gimblett 1998, S. 3. 8 Siehe Kapitel 3.2 Die Ausstellung als Drama. 9 Lehmann 1999, S. 45.

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Abbildung 20: Die BesucherInnen, die Handlung und der „innere Dialog“. Jeder Ausstellungsbesuch generiert eine singuläre Geschichte. Im Museo del Prado. Foto: W. H.-L.

jedem Ausstellungsbesuch – selbst wenn er ein und dieselbe Ausstellung mehrmals besucht – einen eigenen neuen Gang. Eine weitere besondere Fähigkeit des Ausstellungsbesuchers als Kulturrezipient ist die Eigenzeitverwaltung. Der Ausstellungsbesucher verwaltet seine Zeit selbst und verfügt über die relative Freiheit, die Geschwindigkeit des Ausstellungs-Handlungsablaufes zu bestimmen. Relativ nenne ich die Freiheit deshalb, weil die Gestaltung der Ausstellungsarchitektur und die Intensität der sich darin befindlichen inhaltlichen Zeichen dem Besucher immer mehr oder weniger Geschwindigkeit suggerieren oder ihm mehr oder weniger Aufmerksamkeit abverlangen. „Autoritär“ gestaltete Ausstellungen – ich denke beispielsweise an strikt vorgegebene Serpentinenwege, wie man sie auch in der verwandten Welt des Einkaufshauses, in einer Ikea-Filiale beispielsweise, antrifft – lenken die Besucher in berechenbare Bahnen.10

10 Es ist bezeichnend, dass es ein prominenter Vertreter der Moderne war, der erstmals mit der Besucherführung grafisch experimentierte: Zur „Besucherlenkung“ brachte Herbert Bayer 1938 in der Ausstellung Bauhaus 1919-1928 im Museum of Modern Art erstmals Fußabdrücke und andere gedruckte Zeichen auf dem Fußboden an. Siehe: Hall, Margaret (1987): On Display. A Design Grammar for Museum Exhibitions. London, S. 16f. Herbert Bayer (1900-1985) geboren in Haag am Hausruck in Oberösterreich, Studium bei Itten und Kandinsky am Bauhaus in Dessau, ab 1928 Meister am Bauhaus, Leiter der hauseigenen Reklame-

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Doch bis heute ist es den Ausstellungsmachern weder möglich, die Rezeptionsrichtung exakt zu steuern, noch das Verhalten der Besucher vorherzusagen. Die Erzählzeit – sie konkretisiert sich durch die Aufmerksamkeit gegenüber einem Gegenstand, einem Text, durch die Gehgeschwindigkeit im Raum – obliegt immer dem Besucher. Den RezipientInnen einer Ausstellung ist es sogar möglich, einzelne Passagen derselben zu wiederholen, eine Freiheit, die weder beim Besuch im Theater, Kino oder Konzert gegeben ist.11 Letztlich, und diesen Punkt werde ich in diesem Kapitel noch ausführlich behandeln, machen die Besucher auch in Ausstellungen, die durch die Architektur und Grafik strikt geführt werden, „was sie wollen“. Mit den LeserInnen sind die AusstellungsbesucherInnen vor allem hinsichtlich der Eigenzeitverwaltung12 verwandt, denn die Leser können ebenfalls über die Geschwindigkeit der Rezeption entscheiden. Ein wichtiger Unterschied liegt jedoch darin, dass wir eine Ausstellung meist in „einem Stück“ konsumieren, da wir sie nicht wie ein Buch aus der Hand legen können. Hinsichtlich der Eigenzeitverwaltung unterscheidet sich die Rezeption der Ausstellung am auffälligsten von der Rezeption im Theater oder im Kino.13 Hier wird von Autoren sowie Theater- bzw. Filmemachern in der Re-

werkstatt, 1928-30 Art Director der Zeitschrift Vogue in Paris, 1930 Gestalter der Ausstellung Deutscher Werkbund gemeinsam mit Walter Gropius in Paris. 1935 entwirft er Plakat und Katalog der Nazi-Ausstellung Wunder des Lebens, 1937 werden seine Werke in der Ausstellung Entartete Kunst ausgestellt, 1938 emigriert er in die USA und gestaltet am MOMA u.a. die Ausstellungen Bauhaus 1919-28 (1938), Road to Victory (1942), und Airways to Peace (1943). Bayer stirbt 1985 in Santa Barbara, mehr zu seiner Biographie auf der Homepage Deutschsprachige Architekten im Exil 1933-1945 der Universität Karlsruhe: www.ikg.uni-karlsruhe.de/projekte/exilarchitekten; Zugriff: 02.02.2008. 11 Nur die heutigen meist im Privaten verwendeten Speichermedien wie DVD- und CD-Player sowie Computer bieten diese Möglichkeit. 12 Diese Verwandtschaft gilt in eingeschränktem Rahmen auch für die Eigenraumverwaltung, da die Leser ein Buch oder ein Magazin von hinten lesen oder mittendrin anfangen können. Leser können aufgrund der Übersichtlichkeit eines Druckwerks besser vorhersehen, wann sie mit der Geschichte fertig sein werden. Sie sehen, wie viele Seiten sie noch vor sich haben. Ausstellungen bieten dieses Wissen über ihre eigene exakte Größe selten an. Diese Unübersichtlichkeit teilen sie sich mit Städten oder Landschaften, für die man weder eine Ortskenntnis noch einen Stadt- oder Orientierungsplan besitzt. 13 In diesem Zusammenhang ist eine Beobachtung Harald Szeemann interessant: „Gerade die Ausstellung bringt Freiheiten, die andere Vermittlungsorte wie Kino und Theater nicht haben mit ihrer Ausrichtung auf ein Geschehen. In dem Zusammenhang sei auch meine Skepsis gegenüber reinen Videoausstellungen erwähnt, die die Betrachter erneut abstumpfen lassen.“ (Szeemann, Harald (1981): Museum der Obsessionen. Von/über/zu/mit Harald Szeemann. Berlin, S. 26.) Ähnlich verhält es sich auch mit den meisten sogenannten „interaktiven“ Statio-

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gel der Ablauf Sekunde für Sekunde, Kader für Kader fix und fertig an die Rezipienten übergeben. Diese Beobachtung ist ein wichtiges Indiz dafür, dass der Besucher einer Ausstellung nicht nur Rezipient, sondern vermehrt auch Akteur, Protagonist oder Co-Produzent ist, der die Handlung durch seine Vorwärtsbewegung in welche Richtung auch immer vorantreibt und sich die Geschichte, die anhand von Dingen und architektonischen Strukturen von Ausstellungsmachern „in den Raum gestellt wurde“, selbst fertig erzählt. „At an exhibition, the public itself is on the stage. The public neither sits nor stands still but moves about the stage. This is a main difference between an exhibition and a theatrical performance.“14

Der Besucher ist Protagonist, Erzähler und Rezipient in einem. Seine Wahrnehmung lässt sich auch filmisch begreifen, wobei er die Signale nicht rezipierend wie ein Zuschauer, sondern konstruktiv wie ein Filmemacher aufnimmt: „For the public, the exhibition is more like a movie than a theatre performance. The exhibition’s narrative structure consists of a montage of various ‚images‘, which is the result of the viewers’s movements in the room.“15

Peter Greenaway sieht als ein Ziel der Besucher in der Ausstellung, „to find their own wide shots, mid shots and close-ups – rather than being shown them, however imaginatively – within a series of rectangular frames selected by the limited perspective of the camera.“16 Siegfried Mattls Argumentation weist in eine ähnliche Richtung. Wie Marc Maure verwendet er den Begriff der Montage, der zeigt, dass es sich bei der Ausstellung um ein modernes Medium handelt:

nen in einer Ausstellung, da sie dem Besucher die Eigenzeitverwaltung streitig machen. Vielen Besuchern sind diese Stationen lästig, da ihnen ihre Autonomie abhandenkommt, indem das sogenannte interaktive Gerät beginnt, Kontrolle über die Zeit an sich zu reißen. Dies widerspricht der Rolle des Besuchers als Akteur im Drama. „Interaktive Einheiten“ sind in einer Ausstellung letztlich deshalb problematisch, da die Ausstellung an sich schon interaktiv ist, jedenfalls wesentlich mehr Aktivität und Eigenverantwortung vom Besucher einfordert als die meisten anderen Medien. 14 Maure 1995, S. 162. 15 Maure 1995, S. 162. 16 Greenaway, Peter (1994): The Stairs. London, S. 20. Zit. nach: Pescoe 1997, S. 197.

110 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA „Fragen wir nach dem genuinen Wahrnehmungsschema von Ausstellungen, so kann die Antwort nur lauten: Ausstellungen sind Nichtbeziehungen. Die einzige Technik, die ihnen zur Verfügung steht, ist die Montage.“17

Die dramatische Handlung und der epische Rahmen Liegt der Ausstellung eine dramatische Struktur zugrunde? Ist sie ein dramatisches Medium oder doch eher ein episches? Oder ist ihre narrative Form den postdramatischen Theaterformen ähnlich? Nimmt man die Dramaturgien und Dramentheorien von Aristoteles18, Lessing19, Szondi20, Brecht21, Esslin22 und anderen zur Hand und vergleicht deren Beschreibungen des Dramas mit den Erzählstrukturen der Ausstellung, so kristallisiert sich diese als dramatisch-epische Mischform heraus. Das Dramatische an der Ausstellung entsteht beim Aufeinanderprallen der Besucher und der Dinge. Die dialoghafte Auseinandersetzung baut sich, unterstützt von der Textierung, zwischen der äußeren Erscheinungsform des Objekts und dem kulturellen Background bzw. der Befindlichkeit des Besuchers in Form eines inneren Dialogs auf. Aristoteles vermerkt im dritten Kapitel seiner Poetik, dass die Werke von Sophokles und Aristophanes „wie einige meinen, [...] ‚Dramen‘ genannt“ werden: „sie ahmen ja sich Betätigende (drōntes, von drān) nach.“23 Diese Stelle hilft uns, auch das Dramatische am Medium Ausstellung zu verstehen. „Handeln“, „tun“24, „to act“ und „to perform“25 sind Bedeutungen des von Aristoteles hier genannten Wortes drān, aus dem der Begriff Drama entstanden ist. Dieses Verb drān eignet sich auch, um die Tätigkeit des Besuchers zu beschreiben, der die Handlung der Ausstellung durch sein Interesse und seine Bewegung im Raum vorantreibt, indem er sich mit den Dingen konfrontiert, die, wie wir noch genauer sehen werden, auch einen ak-

17 Mattl 1992, S. 43. 18 Aristoteles (1982): Poetik, griechisch-deutsche Ausgabe. Übersetzt von Manfred Fuhrmann. Stuttgart. 19 Lessing 1981. 20 Szondi, Peter (1965): Theorie des modernen Dramas (1880-1950). Frankfurt am Main. 21 Brecht, Bertolt (1989): Schriften zum Theater. Über eine nicht-aristotelische Dramatik. Zusammengestellt von Siegfried Unseld. 21. Auflage. Frankfurt am Main. 22 Esslin, Martin (1989): Die Zeichen des Dramas. Film, Theater, Fernsehen. Reinbek bei Hamburg. 23 Aristoteles 1982, 3. Kapitel, S. 9f. Es ist die einzige Stelle in der Poetik, in der Aristoteles den Begriff „Drama“ verwendet und erklärt. 24 Duden 1989: Das Herkunftswörterbuch, S. 135. 25 Chambers (2003): Dictionary of Etymology. Edinburgh, New York, S. 299.

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teurhaften Charakter annehmen können und so ebenfalls zu Protagonisten der Ausstellung werden. In das Konzept seiner aufsehenerregenden Ausstellung Les Immatériaux, die 1985 im Centre Pompidou gezeigt wurde, schrieb Jean-François Lyotard: „– the visitor is a body in movement. What is the aim of this movement? Is it similar to that of the ‚character-forming novels‘ of the eighteenth or nineteenth centuries? Our young hero travels the world, has all sorts of adventures, puts them to use to test his intelligence, his courage and passions, and then returns home fully ‚formed‘. Such an organisation of the space-time-subject is strongly marked, from the Odyssey up to Joyce’s Ulysses and many a western;“26

Soweit zum dramatischen Element, das der Ausstellung eigen ist, und das zu einem großen Teil durch die einzigartige Rolle, die den Besucherinnen und Besuchern zukommt, entsteht. Was aber ist das Epische an der Ausstellung? Episch ist der Rahmen, in dem sich die dramatische Handlung abspielt. Der epische Rahmen wird hauptsächlich vom Ausstellungsraum und von den Kapitel- und Raumtexten getragen. Die Kapitel- und Raumtexte sind, wie ich im abschließenden Kapitel27 dieser Arbeit genauer beschreiben werde, in ihrer narrativen Struktur dem Chor der antiken griechischen Tragödie einerseits, der innerhalb des Dramas für Orientierung sorgt, und der distanzschaffenden Erzählstrategie von Brechts epischem Theater andererseits ähnlich. Das epische Element der Ausstellung ist durch die zahlreichen Texte und Zitate in schriftlicher und akustischer Form viel leichter als das dramatische zu erkennen. Die Textlastigkeit in Ausstellungen ist dabei ein Kind des 19. Jahrhunderts, in dessen zweiter Hälfte sich die Vorherrschaft der Objekte über den Text umdrehte. 28 Die Textlastigkeit der Ausstellungen findet in den 1920er Jahren im Theater von Erwin Piscator und Bertolt Brecht ein Pendant. Beide setzen Projektionen, Schrifttafeln und Collagen für die Inszenierung ihrer Fabeln ein, bedienen sich ähnlicher Mittel, die man damals auch schon aus dem Ausstellungsraum kennt. Brechts Theaterästhetik, die von seinem Willen geprägt ist, komplexe Vorgänge der modernen Welt mithilfe von Zahlen, Dokumenten und Statistiken auf den Punkt zu bringen, erinnert an die grafisch-statistischen Errungenschaften von Otto Neurath, die dieser ab 1924 im Wirtschafts- und Gesellschaftsmuseum in Wien und für zahlreiche Aus-

26 Lyotard, Jean-François (2002) [frz. 1985]: Les Immatériaux. Übersetzt ins Englische von Paul Smith. In: Greenberg/Ferguson/Nairne 2002, S. 159-173, S. 167. 27 Siehe Kapitel 5.4, Unterkapitel Der Chor und das Ich – Subjektive Gehversuche vs. Ich-Schwäche des Kurators. 28 „The priority of objects over texts in museum settings was reversed during the second half of the nineteenth century.“ (Kirshenblatt-Gimblett 1998, S. 30.)

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stellungen und volksbildnerische Zwecke verwirklichte.29 Auf die Ausstellung selbst kommt Brecht noch im selben Text Vergnügungstheater oder Lehrtheater zu sprechen, indem er dem epischen Theater einen Ausstellungscharakter attestiert: „In stilistischer Hinsicht ist das epische Theater nichts besonders Neues. Mit seinem Ausstellungscharakter und seiner Betonung des Artistischen ist es dem uralten asiatischen Theater verwandt.“30

Größe, Verdichtung und Fassbarkeit Von Brecht wieder zurück zu Aristoteles und zur grundsätzlichen Gestalt des Dramas und der Ausstellung: Im folgenden Kapitelabschnitt geht es um ihre Größe, ihre Verdichtung und damit auch um ihr Wirkungspotential. Zur Orientierung nehme ich wieder Aristoteles Poetik zur Hilfe. Im sechsten Kapitel stellt er seine Hauptdefinition der Tragödie vor, in der er Grundsätzliches klärt und unmissverständlich zeigt, dass es ihm in seiner Poetik im Wesentlichen um die Wirkung des Dramas geht: „Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“31

Setzten wir nun statt Tragödie den Begriff Ausstellung ein, so scheint das Experiment nicht ganz zu gelingen, denn wir begreifen eine Ausstellung gemeinhin nicht als geschlossene Handlung. Auch besuchen wir Ausstellungen nicht vorsätzlich, um zu jammern und zu schaudern, selbst wenn der Ton dort eher ernst denn komisch32 ist. Doch es gibt etwas in der aristotelischen Definition der Tragödie, das auch die Ausstellung betrifft und das einen Schlüssel für weitere Erkenntnisse anbietet. Es ist die „Handlung von bestimmter Größe“, die Aristoteles in der Tragödie ausmacht. Ist auch die Ausstellung „von bestimmter Größe“?

29 Siehe auch: Neurath, Otto (1930): Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk. Leipzig. Brecht und Neurath kannten sich, inwieweit sie sich über diese Fragestellung austauschten, ist nicht bekannt. 30 Brecht 1989, S. 72. 31 Aristoteles 1982, 6. Kapitel, S. 19. 32 „Museum exhibitions are serious performances. Comedy is a type of performance seldom found in the museum world.” (Maure 1995, S. 168.)

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Nehmen wir beispielsweise die Zeitdauer, die wir als Besucherinnen und Besucher gewöhnt sind, in einer Ausstellung zu verbringen. Im statistischen Durchschnitt ist es nicht mehr als eine Stunde, die wir dort verweilen. Wenn wir aus inneren oder äußeren Gründen Stress verspüren oder müde sind, haben wir Ausstellungen auch schon innerhalb von 20 Minuten und weniger abgehakt und wieder verlassen. Das dürfen und können wir, weil wir in einer Ausstellung unser Zeitbudget im Gegensatz zum Theater oder zum Kino selbst verwalten. „Ich habe noch immer das Ziehen in den Füßen, und das Nachschlagen und das lange Stehen vor den Bildern strengt mich an“33, lässt Theodor Fontane Effi Briest an ihre Eltern von der Hochzeitsreise schreiben. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre sie kürzer in den Galerien verweilt, aber ihr Bräutigam Geert ist einer, der „bei der Gelegenheit jede Galerie neu katalogisieren will“. Heute veranschlagen wir bei einer Ausstellung nur in Ausnahmefällen vorsätzlich eine höhere Verweildauer als zwei Stunden, wobei es durchaus vorkommen kann, dass uns eine sogenannte „Großausstellung“ – auch diese Bezeichnung verweist auf „eine bestimmte Größe“ – in einer Weise in den Bann zieht oder in Schach hält, dass wir den Ausstellungsort erst wieder nach vier Stunden verlassen. Eine so zeitintensive und -extensive Rezeption „passiert“ uns meist nur fern der Heimat, in Städten, die wir als Städte- bzw. Kulturtouristen bereisen, wo wir unsere „Auszeit“ genießen und weniger Stress und Zeitzwängen ausgesetzt sind, wie eben Geert und Effi auf ihrer Hochzeitsreise. Oder Gantenbein von Max Frisch: „Eigentlich hatte ich vor, ein Museum zu besuchen, zuerst zu frühstücken, dann ein Museum zu besuchen, da mein beruflicher Kram erledigt war und da ich in dieser Stadt niemanden kannte, [...]“34

Bei Zeitspannen zwischen 20 Minuten und vier Stunden handelt es sich um Längen, die wir auch aus den traditionellen dramatischen Medien kennen: von der Fernsehserie bis hin zum Sprechtheater und zur Oper. Ausstellungen weisen also sehr ähnliche zeitliche Ausdehnungen und einen ähnlichen „Verdichtungsgrad“ wie gängige dramatische Produktionen in Fernsehen, Kino und Theater auf. Mit dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich Ausstellung, Fernsehen, Kino und Theater wiederum von den klassischen epischen Produkten, den Epen aus der Zeit Aristoteles’ oder unserem heutigen Roman, und nicht zuletzt auch vom wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Sachbuch. Aristoteles geht auf diese äußere Beschränkung in der Poetik im siebten Kapitel ein. Er erläutert: „Die Begrenzung der Ausdehnung ist nicht Sache der Kunst, soweit sie auf die Aufführungen und den äußeren Eindruck Rücksicht nimmt. Wenn nämlich hundert Tra-

33 Fontane, Theodor (o. J) [1896]: Effi Briest. Wiesbaden, Berlin, S. 27. 34 Frisch, Max (1964): Mein Name sei Gantenbein. Frankfurt am Main, S. 7.

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Diese „hundert Tragödien“ stehen hier für die Unmöglichkeit der unendlichen Rezeption. Bei den Großen Dionysien, den Athener Dramenwettkämpfen wurden an drei hintereinanderfolgenden Tagen insgesamt 12 Dramen aufgeführt (pro Tag eine Tragödientrilogie inklusive einem dazugehörigen Satyrspiel). Aristoteles weist damit pointiert darauf hin, dass an einem Tag nur eine bestimmte Anzahl von Aufführungen möglich ist, die Dramatiker schon wegen äußerer Zwänge eine gewisse Länge nicht überschreiten dürfen. Im übertragenen Sinn steht in einer modernen westlichen Großstadt auch die Ausstellung im Wettkampf mit zahlreichen anderen Angeboten: Mit anderen Ausstellungen36 und diversen kulturellen Veranstaltungen, Vergnügungen, Sozialkontakten und privaten Aktivitäten. Dieser Konkurrenzkampf bestimmt auch die Konvention des Ausstellungsbesuchs mit. Neben den äußeren Rahmenbedingungen und Zwängen haben auch innere Notwendigkeiten einen Einfluss auf die „Begrenzung der Ausdehnung“. Sie sind Aristoteles besonders wichtig, weil sie im Einflussbereich des Dichters liegen: „Wir haben festgestellt, dass die Tragödie die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung ist, die eine bestimmte Größe hat; es gibt ja auch etwas Ganzes ohne nennenswerte Größe. Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“37

Mit dieser Struktur visiert Aristoteles vor allem die Bedürfnisse des Zuschauers an.38 Und wie es sich für einen klassischen Lehrer des Creative

35 Aristoteles 1982, 7. Kapitel, S. 27. 36 Eine relativ neue, an Tragödienfestspiele erinnernde Idee, die seit einigen Jahren in vielen europäischen Städten praktiziert wird, ist die Nacht der Museen, in der die BesucherInnen nächtens von Museum zu Museum ziehen können. Die in den Tagen darauf publizierten Besucherzahlen erinnern an Einschaltquoten im Fernsehen und Hitparadenlisten im Radio. 37 Aristoteles 1982, 7. Kapitel, S. 25. 38 Zwar ist das aristotelische Dramenkonzept noch heute in vielen Sprechtheaterstücken die bestimmende Struktur, noch mehr prägt es aber die Filmdramaturgie. Hinweise darauf finden sich in: Field, Syd (1979): Screenplay. The Foundations of Screenwriting. New York; Hiltunen, Ari (2001): Aristoteles in Hollywood. Das neue Standardwerk der Dramaturgie. Bergisch Gladbach; Tierno, Michael (2002): Aristotle’s Poetics for Screenwriters: Storytelling Secrets from the Greatest Mind in Western Civilization. New York.

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Writing39 gehört, stehen hinter seinen Lehrsätzen Fragen wie: Was kann der Zuschauer letztlich fassen? Wie weit kann er dem Dichter folgen? „Für die Begrenzung, die der Natur der Sache folgt, gilt, dass eine Handlung, was ihre Größe betrifft, desto schöner ist, je größer sie ist, vorausgesetzt, dass sie fasslich bleibt.“40

Dieser Gedanke Aristoteles’ ist ausstellungsrelevant, insbesondere da er in der Stelle davor die Ausdehnung der Handlung mit der Größe von „Lebewesen“ und „Gegenständen“ gleichsetzt.41 Ihm kommt es darauf an, dass die Zuschauer die Handlung fassen können. Ohne Zuschauer kein Drama. Mehr als zwei Jahrtausende später wird Martin Esslin dieses Thema noch publikumsaktiver und damit noch ausstellungsadäquater formulieren: „Der Prozess, durch den die Zeichen, die in jedem Moment der Aufführung wahrgenommen werden, im Verlauf der Aufführung zu ‚Strängen‘ und ‚Strukturen‘ oder Mustern solcher Stränge verschmelzen, hängt wesentlich von der Gedächtnisarbeit des einzelnen Zuschauers ab.“42

Logischer Ablauf zwischen Anfang und Ende In dem von Aristoteles als „ein Ganzes“ Bezeichneten findet sich eine brauchbare Beschreibung einer gut gebauten Ausstellung. Auch eine Ausstellung weist einen Anfang und ein Ende, in der genaueren analytischen Betrachtung sogar eine Mitte, auf. Die aristotelische Beschreibung dieses „Ganzen“ kommt meiner These von der Dramaturgie als räumlichem und

39 So bemerkt beispielsweise Hanns-Josef Ortheil: „Dabei erscheinen seine [Aristoteles’] poetologischen Festlegungen plötzlich verblüffend aktuell, kommen sie jedem Leser, der einen Blick in Lehrbücher der amerikanischen ‚Creative Writing‘Schulen geworfen hat, doch vertraut und bekannt vor.“ (Ortheil, Hanns-Josef (2006): Aristoteles und andere Ahnherren. Über Herkunft und Ursprünge des „Kreativen Schreibens“. In: Haslinger, Josef/Treichel, Hans-Ulrich (Hg.): Schreibenlernen – Schreibenlehren, Frankfurt am Main, S. 21) 40 Aristoteles 1982, 7. Kapitel, S. 27. 41 „Demzufolge müssen, wie bei Gegenständen und Lebewesen eine bestimmte Größe erforderlich ist und diese übersichtlich sein soll, so auch die Handlungen eine bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis leicht einprägt.“ (Aristoteles 1982, 7. Kapitel, S. 27) Bei Aristoteles’ Beschreibung der Lebewesen und Gegenstände und ihrer richtigen Größe fallen mir die Kunst- und Wunderkammern ein, in denen aber nicht nur Dinge von „richtiger“, sondern auch von abnormer Größe gesammelt wurden. 42 Esslin 1989, S. 118.

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zeitlichem Ablauf einer Ausstellungshandlung, die ich am Beginn dieses Kapitels vorgestellt habe, sehr nahe: Alles, was einen Anfang und ein Ende hat, hat einen Ablauf. Die Qualität dieses Ablaufs ist die Dramaturgie. Begreift man Dramaturgie in dieser simplen Weise, so haben auch Fernsehnachrichten, Kriege, Firmenfeiern und das menschliche Leben eine Dramaturgie. Gerade das menschliche Leben, das von einem Anfang und einem Ende begrenzt wird, liefert ein, wenn nicht das Vorbild: Ähnlich wie den Beginn und das Ende einer Ausstellung beschreibt der Psalm 121 Geburt und Tod des Menschen mit „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang [...]“. Strukturiert wird der „Lebenslauf“ durch mehr oder weniger vorhersehbare Wendepunkte, die man als familiäre und berufliche Initiationsriten bzw. rites des passages bezeichnet: Beschneidung, Taufe oder eine ähnliche Begrüßung durch die Gemeinschaft, erster Schultag, Aufnahme in die religiöse oder soziale Gemeinschaft als vollwertiges Mitglied, der erste Geschlechtsverkehr, Hochzeit, Elternschaft, Arbeitsaufnahme, Pensionierung sowie diverse Krisen, wovon eine den dramentheoretischen Namen MidlifeCrisis erhalten hat. Auch die Ausstellung weist eine solche Dramaturgie auf. Anfang und Ende einer Ausstellung fallen dabei wie im Psalm 121 mit dem Eingang und Ausgang zusammen. Die Dramaturgie ist, was sich auf dem Gang des Besuchers vom Eingang bis zum Ausgang ereignet. Die AusstellungsmacherInnen können sich stärker oder schwächer in diese Dramaturgie, die vom Gang der Besucherin und des Besuchers bestimmt wird, einmischen, können diesen Ablauf stärker oder schwächer kontrollieren: Sie können einen Gang bestimmen, in dem in zwingend vorgegebener Reihenfolge ein Ding auf das andere folgt, so wie im Film ein Filmkader auf den nächsten. Gehen die AusstellungsmacherInnen in dieser „quasi-diktatorischen“ Art und Weise vor, können sie auch eine Mitte festsetzen. Sie können bei dieser Mitte sogar, wenn es ihnen ein Anliegen ist, einen Umschlag von Glück auf Unglück einbauen, wie es Aristoteles aus Gründen der Wirkung, die Jammern und Schaudern hervorrufen sollte, jedem Drama empfohlen hat. Sie können sogar versuchen, eine „geschlossene Handlung“ zu konstruieren, auch wenn sie nie sicher sein können, dass diese auch in der von ihnen intendierten Weise rezipiert wird. Wenn die Ausstellungsmacher hingegen die Räume offener gestalten, einen großen Raum ohne architektonische Schranken und hierarchische Anordnung bauen, in dem von jedem Standort im Raum gut lesbare Kapitelüberschriften die einzelnen Teile kennzeichnen, delegieren sie die Verantwortung des Zusammenfügens der einzelnen Teile stärker an die BesucherInnen und geben ihnen damit eine größere Freiheit, ihre eigene Dramaturgie, ihren eigenen Gang, ihre eigene Geschichte zu erstellen.43

43 Ein „strenges“ kuratorisches Konzept steht dabei nicht notwendigerweise in Widerspruch zu einem offenen Raum. Die AusstellungsmacherInnen können die Objekte beispielsweise nach dem Alphabet, nach dem Entstehungsjahr oder nach ih-

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In seiner Poetik geht es Aristoteles hauptsächlich darum, die Gründe und Regeln für einen gut gebauten, weil logischen, weil wahrscheinlichen Ablauf für die Tragödie zu finden und diesen zu skizzieren. Er nennt den Ablauf die „Zusammenfügung der Geschehnisse“ oder den Mythos, der in der Nachahmung der Handlung entsteht: „Die Nachahmung von Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, [...].“44 „Der wichtigste Teil ist die Zusammenfügung der Geschehnisse. Denn die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit.“45 […] „Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos.“46

Der Mythos, der für Aristoteles im Zentrum der Tragödie steht, den Bertolt Brecht später einmal die Fabel und Syd Field den Plot47 nennen wird, ist also für Aristoteles die Zusammensetzung der Geschehnisse: „Der Ausdruck „Geschehnisse“ (πράγµατα) deutet auf das Geflecht, das aus den Handlungen (πράξεις) mehrerer resultiert. Unter Mythos versteht Aristoteles ein bestimmtes Arrangement solcher Geschehnisse, die Handlungsstruktur, die Fabel, den Plot.48

Diese „Zusammensetzung der Geschehnisse“, und das „Geflecht, das aus den Handlungen resultiert“ findet sich auch in den collagenhaften, ineinandergreifenden Strukturen der Ausstellungen, die sich aus originalen Objekten, Texten, Zitaten, architektonischen und medialen Elementen aller Art ergeben. Soweit ist eine Ähnlichkeit zwischen der aristotelischen „Zusammensetzung der Geschehnisse“ und der Dramaturgie der Ausstellung gut zu erkennen, insbesondere, da es in der Ausstellung eine dramatische Arbeitsteilung gibt, die der griechischen Tragödie ähnlich ist: Auch hier treffen die Protagonisten – Objekte und Besucher – konfrontativ im inszenierten Ausstellungsraum aufeinander, während der Chor bzw. die Raum- und Kapiteltexte einen epischen Rahmen bieten, der den eigentlich allgemein bekannten Hintergrund des gerade besprochenen Mythos zur besseren Orientierung in stark verdichteter Weise verfügbar macht. „Das ‚Ganze‘ der Handlung,“ schreibt Hans-Thies Lehmann über das aristotelische Drama, „eine theoretische Fiktion, begründet den Logos einer Totalität, in der Schönheit wesentlich als beherrschbar gewordener Zeitver-

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rer Größe ordnen. Sie suggerieren damit eine inhaltliche Leserichtung, müssen dabei aber dennoch keine räumliche Rezeptionslinie vorgeben. Aristoteles 1982, 6. Kapitel, S. 19. Aristoteles 1982, 6. Kapitel, S. 21. Aristoteles 1982, 6. Kapitel, S. 23. Field 1979. Fuhrmann 1982, S. 110.

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lauf gedacht wird. Drama heißt beherrschter, übersehbar gemachter Zeitstrom.“49 In diesem Sinne stellt die Ordnung im Ausstellungs-Drama, um mit Lyotard zu sprechen, einen übersehbar gemachten Raum-Zeitstrom dar, der sich auch mit dem ausstellungs-theatralischen Begriff der Zeit-Passage von Peter Weibel50 deckt. Was der Ausstellung im Gegensatz zum aristotelischen Drama abgeht, ist die strikte Zielgerichtetheit: Auch wenn Ausstellungen durchaus in der Lage sind, einen Umschlag von Glück ins Unglück erzählen zu können – als Kurator des Wiener Jüdischen Museums fallen mir dabei Ausstellungen über Menschen ein, die in den Jahren vor 1938 in Österreich in kreativer Umgebung künstlerische Spitzenleistungen vollbracht haben oder einfach ihr Leben in relativer Ruhe und Sicherheit gelebt haben, ab 1938 von ihren Nachbarn denunziert und von den Nazis verfolgt wurden – so glaube ich nicht, dass es prinzipiell ein primäres Bedürfnis der Besucher ist, in jeder Ausstellung einen Umschlag von Glück ins Unglück zu suchen und zu erleben.51 Das „Vergnügen“ bzw. die Wirkung, die wir von einer Ausstellung erwarten, lässt sich nicht so allgemeingültig erklären, wie es Aristoteles mit dem Umschlag vom Glück ins Unglück, der „Jammern und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt“52, für die griechische Tragödie tun konnte. Wenn wir Aristoteles weiterlesen, so bemerken wir, dass er bezüglich des Dramas und sogar im Sinne der Ausstellung differenzierter argumentiert, wenn er erklärt, warum wir „mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen“53, sehen wollen: „Ursache hiervon ist folgendes: Das Lernen bereitet nicht nur den Philosophen größtes Vergnügen, sondern in ähnlicher Weise auch den übrigen Menschen (diese haben freilich nur wenig Anteil daran). Sie freuen sich also deshalb über den Anblick von Bildern, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen, was ein jedes sei, z.B. dass diese Gestalt den und den darstelle. (Wenn man indes den Gegenstand noch nie erblickt hat, dann bereitet das Werk nicht nur als Nachahmung Vergnügen, sondern wegen der Ausführung oder der Farbe oder einer anderen derartigen Eigenschaft.)“54

49 Lehmann 1999, S. 61. 50 „Ein Museum darf also nicht nur Ort von Beständen sein, sondern muss zu einer Zeit-Passage werden, wo durch neue, hoch entwickelte Aufführungs- und Ausstellungstechniken visuelle und akustische Schauplätze und Schaustücke entstehen.“ (Peter Weibel. Zit. nach Siepmann 2001, S. 4.) 51 Oder doch? Eine Frage, auf die ich bisher keine Antwort gefunden habe. 52 Aristoteles 1982, 6. Kapitel, S. 19. 53 Aristoteles 1982, 4. Kapitel, S. 11. 54 Aristoteles 1982, 4. Kapitel, S. 11f.

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Tatsächlich liegen die Gründe, Ausstellungen zu besuchen, oft darin, dass die Besucher mehr über die Kunst, ein spezielles Thema, eine Persönlichkeit oder über eine ganze Epoche, der die jeweilige Ausstellung gewidmet ist, erfahren wollen, also im Bildungshunger und Wissensdurst. Genau diese Antwort würden wir auch zu einem hohen Prozentsatz erhalten, wenn wir die Besucher bei kunst- oder kulturhistorischen Ausstellungen am Eingang nach ihrer Motivation fragen würden. Doch wären damit die Gründe, die tiefer liegen, die sich in der Lust, sich unmittelbar mit Dingen der Kunst oder der Geschichte quasi distanzlos und physisch zu konfrontieren, nicht erfasst. Was nährt tatsächlich unser Verlangen, uns auf Objekte in einem Ausstellungsraum „einzulassen“? Uns auf sie zuzubewegen, Nähe und Distanz zu spüren? Hängt dieses Verlangen eventuell doch mehr mit dem aristotelischen „Jammern und Schaudern“ sowie mit der daraus resultierenden Katharsis zusammen, als die aufgeklärten und wissensbegierigen Ausstellungsbesucher annehmen und zugeben wollen?55

Erzählen wie Bertolt Brecht Einer, der die suggestiven Fragen am Ende des letzten Absatzes wohl verneint hätte, ist Bertolt Brecht. Er hat die aristotelische Dramaturgie genau studiert und daraufhin seine nicht-aristotelische Dramaturgie entworfen. Seine Schriften zum Theater möchte ich auf den folgenden Seiten hinsichtlich der Ausstellungsdramaturgie überprüfen. Gerade sein antithetisches Herangehen an Aristoteles, das sich heute in mancherlei Hinsicht mehr als eine Synthese denn als eine Antithese darstellt, erscheint vielversprechend. Brecht verband seinen epischen Theateransatz mit „Ratio“56 und jenen des aristotelischen Theaters mit „Gefühl“.57 Er war nicht an Affekten wie

55 Mehr dazu im Kapitel 3.2., Unterkapitel Noli me tangere – Mit den Dingen sprechen lernen und Die condition humaine und der Dialog der Generationen. 56 Brecht, Bertolt (1931): Das moderne Theater ist das epische Theater. In: Brecht 1989, S. 20. 57 Eine Zwischenstufe dazu stellen Lessings Gedanken zum Theater dar. Er beschrieb den Genuss des Zuschauers bereits intellektuell, wie Hilde Haider-Pregler festhielt: „Auch Lessing sieht die Aufgabe des Schauspielers darin, den Zuschauer durch Wahrscheinlichkeit zu überzeugen. [...] Der Zuschauer findet im Theater Genuß, indem er das Gebilde des Schauspielers in seiner Annäherung an die Wirklichkeit vergleicht. Die Illusion der Sinne durch das Rollenkunstwerk wird also nicht mehr emotionell, sondern intellektuell verarbeitet. Lessings ‚Schauspieler‘ setzt damit von vornherein ein gehobenes Bildungsniveau beim Zuschauer an. Diesen darf man also getrost als den literarisch gebildeten Bürger identifizieren, der im Theater individuell auch ethische Einsichten gewinnt, ohne daraus notwendig Handlungsimpulse abzuleiten.“ (Haider-Pregler, Hilde (1977): Theorien der Schauspielkunst im Hinblick auf ihre Publikumsbezogenheit. In: Institut

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„Jammern und Schaudern“ interessiert, weil er in der Katharsis, der Reinigung von diesen Affekten, nicht den dringlichen Sinn des Theaters der Moderne sah. Brecht wollte vielmehr eine theatralische Antwort auf das „wissenschaftliche Zeitalter“, suchte den kritischen Zuschauer, der mitdenkt und aus dem Gesehenen selbstständige Schlüsse zieht. Er wollte das Publikum für die undurchschaubaren Zusammenhänge des Lebens in der modernen Welt rüsten. 1936 schrieb er: „Das Öl, die Inflation, der Krieg, die sozialen Kämpfe, die Familie, die Religion, der Weizen, der Schlachtviehhandel wurden Gegenstände theatralischer Darstellung. [...] Die Gründung einer Zeitung wie des Völkischen Beobachters oder eines Geschäftes wie der Standard Oil ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit, und diese Dinge werden einem nicht ohne weiteres auf die Nase gebunden. [...] Man wird sagen: das wird aber kompliziert. Ich muß antworten: das ist kompliziert. Vielleicht wird man sich überzeugen lassen und mit mir darin übereinstimmen, dass ein ganzer Haufen Literatur reichlich primitiv ist, aber doch mit schwerer Sorge fragen: wird da nicht solch ein Theaterabend eine ganz beängstigende Angelegenheit? Die Antwort darauf ist: nein.“58

Brecht strengte sich an, Themen der Zeit verdichtet und „fiktiv“ anzugehen. Sein Herangehen erinnert dabei an die Konstruktion von kulturhistorischen und gesellschaftspolitischen Ausstellungen. Brecht wollte dieselben Stoffe behandeln, die auch Themenausstellungen oder Dokumentarfilme aufgreifen. Seine Hauptsorge galt dabei dem Vorwurf, seine epischen Dramen und Aufführungen wären wegen der zeitbezogenen und gesellschaftlichen Themen langweiliges Lehrtheater.59 Doch Brecht gelang es, Widersprüchliches genial zu verbinden und trotz aller „wissenschaftlicher“ Vorsätze ganz Dichter zu bleiben. Der Forderung „Auch in die Dramatik ist die Fußnote und das vergleichende Blättern einzuführen“, schickte er folgende gleich hinterher: „Was immer an Wissen in einer Dichtung stecken mag, es muss völlig umgesetzt sein in Dichtung. Seine Verwertung befriedigt eben gerade das Vergnügen, welches vom Dichterischen bereitet wird.“60

für Publikumsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Hg.): Das Theater und sein Publikum. Wien. S. 97f.) 58 Brecht, Bertolt (1935): Vergnügungstheater oder Lehrtheater? In: Brecht 1989, S. 64 und 68f. 59 Sein Aufsatz Vergnügungstheater oder Lehrtheater, aus dem das obige Zitat stammt, ist nicht die einzige Schrift Brechts, in der er betont, dass diese Theaterform unterhaltend sei. Die Tendenz, sein Theater als vergnüglich herauszustreichen, verstärkt sich in seinen Schriften nach dem 2. Weltkrieg, insbesondere im Kleinen Organon. 60 Brecht 1935. In: Brecht 1989, S. 70.

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Das Gemeinsame der Struktur des von Brecht entworfenen epischen Theaters und der Ausstellung, insbesondere der kulturhistorischen und der gesellschaftspolitischen, liegt in der Stoffwahl, im intendierten Realitätsbezug und im Willen der Macher, komplizierte Sachverhalte sinnlich, teilweise auch poetisch zu verdichten sowie präzise zu vermitteln, maßgeschneiderte konzeptive Lösungen für jeden einzelnen Inhalt zu liefern, vor allem eine kritische Auseinandersetzung der RezipientInnen zu fördern, dabei aber nie zu langweilen. Diese Herausforderungen ließen einen ähnlichen Raum entstehen: Mit der Aufgabe des Illusionstheaters, dem „Abriss“ der vierten Wand und der fallweisen Positionierung von Schauspielern bzw. Chören im Publikum61 half Brecht mit, den Theaterraum vom strikt zweigeteilten hin zu einem gemeinsamen Raum von Schauspielern und Publikum zu gestalten. In dieser Hinsicht wurde er dem Ausstellungsraum, in dem sich die Besucher selbst durch die Inszenierung bewegen, immer ähnlicher.62 Brecht und seine Vorgänger nahmen Anleihen bei der Ausstellung, ihr Theater kam quasi in den Ausstellungsraum zu Besuch. Wenn er anstatt der „Spannung auf den Ausgang“ die „Spannung auf den Gang“63 forderte, bewegte er sich nicht nur auf den Raum, sondern auch auf die Dramaturgie der Ausstellung zu, deren Spannung ebenfalls nicht auf ein Ziel, nämlich auf den „Ausgang“ gerichtet ist, sondern die im „Gang“ des Besuchers durch die Ausstellung immer wieder neu entsteht. Die ähnliche Stoffwahl, der Realitätsbezug, der aktive Rezipient und auch der Wille, komplizierte Sachverhalte in einem spannenden und auch vergnüglichen Rahmen verstehbar zu machen, ließen im Theater und der Ausstellung ähnliche Erzähl- und Informationsstrategien entstehen: Beide Medien arbeiten vor allem mit Raum und Licht. Doch sie besitzen auch die Fähigkeit, sich alle anderen existierenden Medien und Präsentationstechnologien einzuverleiben und diese in ihre Dienste zu stellen. Gemeinsam ist ihnen auch das erzählende Spiel sowie der Erzähler, auf dem Brecht sein Theater aufbaute, und den man – wenn man an die Texte oder Erzählweisen der Kuratoren, der Museumsführer oder des Audioguides denkt – auch als Leihgabe aus der Welt des Museums und der Ausstellung an das Theater begreifen kann. Episches Theater und Ausstellung teilen die Information und Kommunikation in einen Kanon von vielstimmigen Textsorten auf. Dies war notwendig geworden, um den vielen Ebenen unserer modernen Welt und ihrer Wahrnehmung gerecht zu werden. Bei der Ausstellung kennen wir Titel,

61 Brecht, Bertolt (1932/36): Mittelbare Wirkung des epischen Theaters. Anmerkungen zur Mutter. In: Brecht 1989, S. 47. 62 Diese Tendenzen waren schon vor Brecht entstanden und verstärken sich im postdramatischen Theater, für das Lehmann konstatiert: „Als ‚Sprechraum‘ fungiert nicht mehr die Bühne, sondern das Theater insgesamt.“ (Lehmann 1999, S. 45.) 63 Brecht 1931. In: Brecht 1989, S. 20.

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Kapitel-, Raum-, Objekttexte, Zitate, Texte auf originalen Objekten wie Briefen oder Dokumenten, sowie Projektionen aller Art. Ähnliches kam auch bei Brecht zum Einsatz, der auf Zwischentitel und Texttafeln als dramatische Mittel und Informationsträger in seinem neuen Theater setzte. Wenn Brecht 1936 von der Inszenierung der New Yorker Aufführung seines Stücks Die Mutter schwärmt, die im Jahr davor stattgefunden hatte, meint man, einen Ausstellungskurator oder –architekten über eine seiner inszenatorischen Lösungen sprechen zu hören: „Auf einer großen Leinwand des Hintergrundes wurden Texte und Bilddokumente projiziert, welche während der Szene stehenblieben, so daß diese Tafel ebenfalls den Charakter einer Kulisse bekam. Die Bühne zeigte also nicht nur in Andeutungen wirkliche Räume, sondern auch durch Texte und Bilddokumente die große geistige Bewegung, in der die Vorgänge sich abspielten. Die Projektionen sind keineswegs einfache mechanische Hilfsmittel im Sinne von Ergänzungen, keine Eselsbrücken; sie nehmen keine Hilfsstellung für den Zuschauer ein, sondern Gegenstellung: sie vereiteln seine totale Einfühlung, unterbrechen sein mechanisches Mitgehen.“64

Martin R. Schärer hat in Die Ausstellung. Theorie und Exempel vier Typen von Ausstellungssprachen vorgestellt. Eine davon ordnet er Brechts epischem Theater zu: „Die ästhetische Ausstellungssprache stellt die Form der Objekte in den Vordergrund und ermöglicht Kunstgenuß. [...] Die didaktische Ausstellungssprache verweist auf die Bedeutung der Objekte und vermittelt Wissen. [...] Die theatrale Ausstellungssprache schafft durch Objektensembles Erlebnisräume und erlaubt Teilnahme. [...] Die assoziative Ausstellungssprache kombiniert die Objekte mit dem Ziel, Denkprozesse auszulösen. [...] Brechts Ausführungen zum Verfremdungseffekt im Theater lassen sich erstaunlich gut auf die assoziative Ausstellungssprache übertragen.“65

Anhand Schärers Analyse wird klar, dass auch die Ausstellung inzwischen eine aristotelische und eine Brecht’sche Tradition kennt: Während sich die assoziative Ausstellungssprache, wie Schärer analysiert, Brecht zuordnen lässt, orientiert sich die theatrale Ausstellungssprache, die „durch den Aufbau konkreter Situationen Erlebnisse, Stimmung und emotionale ‚Teilnah-

64 Brecht 1932/36. In: 1989, S. 38. 65 Schärer 2003, S. 123ff. Brecht zum Ziel des Verfremdungseffektes: „Der Zweck dieser Technik des Verfremdungseffektes war es, dem Zuschauer eine untersuchende, kritische Haltung gegenüber dem darzustellenden Vorgang zu verleihen. [...] Die Voraussetzung für die Hervorbringung des V-Effektes ist, dass der Schauspieler das, was er zu zeigen hat, mit dem deutlichen Gestus des Zeigens versieht.“ (Brecht, Bertolt (1940): Kurze Beschreibung einer neuen Technik der Schauspielkunst, die einen Verfremdungseffekt hervorbringt. In: Brecht, Bertolt (1967): Gesammelte Werke, Bd. 15. Frankfurt am Main, S. 341-357.)

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me‘ schaffen“66 will, an der aristotelischen Dramaturgie. Eine ähnliche Trennung vollzieht auch Barbara Kirshenblatt-Gimblett, wenn sie von in situ- und in context-Installationen spricht: „I distinguish [...] between in situ displays (dioramas, period rooms, and other mimetic re-creations of setting) and in-context displays (objects arranged according to such conceptual frames of reference as a taxonomy, evolutionary sequence, historical development, set of formal relationships). These two modes of display differ in their approach to the performativity of objects and the nature of their mis-en-scène.“67

Während Kirshenblatt-Gimblett bei der in situ-Inszenierung auf die Gefahr des Spektakels hinweist, gibt sie bei der in context-Inszenierungen zu bedenken, dass diese eine starke kognitive Kontrolle über die Objekte ausüben können. Ihre Beschreibung der in context-Inszenierung erinnert dabei stark an Brechts epische Theaterkonzeption: „In context approaches to installation establish a theoretical frame of reference for the viewer, offer explanations, provide historical background, make comparisons, pose questions. […] There are as many contexts for an object as there are interpretive strategies.“68

Die „Fabel“ und die Realität Während sich Brecht mit dem Verfremdungseffekt tatsächlich in strikte Opposition zu Aristoteles begab, behielt er in anderen Teilen seiner nichtaristotelischen Dramaturgie wesentliche aristotelische Gedanken bei. Am auffälligsten ist seine Fixierung auf die „Fabel“, die er stets unter Anführungszeichen stellte, und die wir in ganz ähnlicher Weise von Aristoteles kennen. Sein Lehrsatz „Auf die ‚Fabel‘ kommt es an, sie ist das Herzstück der theatralischen Veranstaltung“69 kommt einer Neufassung von Aristoteles’ „Das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist also der Mythos“70 gleich. In den neueren Theaterformen seit den 1960er Jahren ist diese „Fabel“, eine nachvollziehbare Erzählung, die das „Ganze“ nach logischen und spannenden Gesichtspunkten ordnet, zumeist abhandengekommen. In dieser Hinsicht ist Brecht mehr ein Erneuerer und Vollender der

66 67 68 69 70

Schärer 2003, S. 125. Kirshenblatt-Gimblett 1998, S. 3. Kirshenblatt-Gimblett 1998, S. 21. Brecht, Bertolt (1948): Kleines Organon für das Theater. In: Brecht 1989, S. 165. Aristoteles 1982, 6. Kapitel, S. 23.

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klassischen Dramaturgie, der nicht eine Antithese, sondern eine Synthese zu Aristoteles erarbeitet hat.71 Der Begriff „Fabel“ enthielt für Brecht das Gesamte, bzw. Ganze nach innen und nach außen: Er umschrieb sie sowohl als „abgegrenztes Gesamtgeschehnis“72 als auch als „die Gesamtkomposition aller gestischen Vorgänge, enthaltend die Mitteilungen und Impulse, die das Vergnügen des Publikums nunmehr ausmachen sollen“73. Bertolt Brecht wusste als Denker und Dramatiker um die Unüberschaubarkeit der modernen Welt im wissenschaftlichen Zeitalter. Doch er glaubte an die Möglichkeit der Überschaubarkeit des „Gesamtgeschehnisses“ innerhalb einer „Fabel“, genauso wie er auch an die Vermittelbarkeit dieser Unüberschaubarkeit durch die Fabel glaubte. Er sollte einer der letzten Avantgardisten bleiben, der diese Quadratur des Kreises suchte und auch fand. Die Fabel war für Brechts Theater existentiell. Da er an einer kritischen Öffentlichkeit und einer gerechteren Gesellschaft mitarbeiten wollte, war er überzeugt, dass es sich auszahlt, Wissen, das für die Überprüfung der komplizierten Mechanismen der modernen Welt nützlich ist, in Dramen zu verdichten. Um dies zu erreichen, musste er verständliche Dramen schaffen, musste er sie für das Publikum fassbar machen. Für Brecht konnte der Inhalt kompliziert bleiben, so lange er für die Zuschauer im aristotelischen Sinne „fasslich blieb“. Auch die Arbeit der AusstellungsmacherInnen besteht zu einem großen Teil darin, Kompliziertes in ein fassliches Modell zu gießen. Wenn zwar nicht alle AusstellungsmacherInnen mit demselben politischen und aufklärerischen Engagement wie Brecht an ihre Projekte herangehen, handeln sie in ihren Ausstellungen doch genauso wie Brecht mit Stoffen, die der Realität auch außerhalb der Ausstellungsmauern standhalten müssen. Genau genommen sind die Ausstellungsmacher dazu verpflichtet, sich in ihren Verdichtungen noch genauer als der Theatermann Brecht an die Fakten der Realität zu halten74, da sie im Gegensatz zu Brecht mit der Konfrontation von „originalen“ Dingen der Kultur- oder Naturgeschichte arbeiten und der Paratext Ausstellung in der westlichen Gesellschaft in der Regel die Verhandlung faktualer Inhalte festschreibt. Darin liegt letztlich auch der Grund, warum Ausstellungen, ganz im brechtschen Sinn, an der „Fabel“ festhalten, warum sie sich auch als „abgegrenztes Gesamtgeschehnis“ präsentieren.

71 „In Brechts Theorie steckte eine höchst traditionalistische These: die Fabel blieb ihm das A und O des Theaters.“ (Lehmann 1999, S. 48.) 72 Brecht 1948. In: Brecht, 1989, S. 164. 73 Brecht 1948. In: Brecht 1989, S. 165. 74 Während das Theater hingegen die Schwelle zum faktualen nur sehr selten überspringt, sind der Film und sein naher Verwandter, das Fernsehen, sowohl in den fiktiven als auch den faktualen „Wirklichkeits-Hemisphären“ zu Hause. Nicht zuletzt deshalb werden Filme und Fernsehsendungen durch Paratexte wie Spielfilm, Dokumentarfilm, Reportage, Telenovela etc. unmissverständlich gekennzeichnet.

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Genauso wie Brecht ist es den meisten Ausstellungsmachern wichtig, über die Kompliziertheit der Realität zu sprechen und diese den Besuchern mithilfe einer einfachen Fabel, die als Modell für diese Realität begriffen werden kann, verständlich zu machen. So verbergen sich auch hinter offen und komplex gestalteten Ausstellungen zumeist sehr einfache Mythen bzw. Fabeln. Ausstellungstitel wie Künstler X, Leben und Werk (Rembrandt, Edgar Degas, Egon Schiele); Das Volk, das Herrschergeschlecht, die politische Organisation Y (Germanen, Römer, Habsburger, Nazis); Die Sammlung Z (Berggruen, Guggenheim, Ludwig), die variierend immer nach ähnlichen Mustern funktionieren, legen die Kuratoren zwar nicht auf eine narrative Struktur fest, vermitteln den der Ausstellung zugrundeliegenden Mythos aber sehr direkt und wirkungsvoll. Das Festhalten an der „Fabel“, an der Struktur, die in die verwirrende Chaotik und Fülle des Seins eine logisch-dramatische Ordnung bringt, unterscheidet die meisten Ausstellungen von den Erzählstrategien der neuen Theaterformen. Diese Beobachtung ist in gewisser Weise widersprüchlich, da Ausstellungen jenseits der „Fabel“ sehr wohl mit modernen und postmodernen Mitteln arbeiten, diese dem zeitgenössischen Theater – beispielsweise das Serielle, das Kollagenhafte, die visuelle Dramaturgie und Rhythmisierung, die Fragmentierung oder die polyphone Erzählstruktur – geradezu zur Verfügung gestellt haben.75 Die Bindung an die „Fabel“, die insbesondere in kulturhistorischen und gesellschaftspolitischen Ausstellungen durch deren besonderes Verhältnis zur Realität entsteht, ergibt daher nicht zwangsläufig konservative oder rückwärtsgewandte Erzählmuster. Analog zu Roland Barthes’ Beobachtung, dass jeder Text der Moderne auch das Problem seiner eigenen Möglichkeit aufwirft, gelingt es diesen Ausstellungskonzepten immer wieder, ihre Möglichkeiten zu hinterfragen. So präsentieren sich Ausstellungen prekär, gewagt oder provokativ, gerade weil ihre Konzeption zwischen Realitätsbezug und erzählerischer Struktur, die sich in ihrer Gestalt vom Inhalt der Fabel inspirieren ließ, entstanden ist.

Kunst vs. Kunstausstellung Die letzten Überlegungen beschrieben vor allem den Charakter und die Struktur der kultur- und sozialhistorischen Ausstellungen. Diese verwenden häufig eine weitverzweigte polyphone Erzählstrategie, zu der die verschiedensten Textsorten, Medien sowie konzeptiv-erzählerischen Kunstgriffe beitragen. Doch was für diese variantenreiche Ausstellungsform gilt, trifft in mancher Hinsicht auch auf die Kunstausstellung zu. Auch sie hat einen starken Bezug zur historischen und gesellschaftlichen Realität. Ausgestellte Kunst bringt für die Ausstellungsmacher Verpflichtungen gegenüber denje-

75 Siehe Kapitel 3.1 Das Drama

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nigen mit sich, die diese Kunst erzeugt haben oder besitzen, denn die Künstlerinnen und Künstler stellen mit den Aussagen, die ihre Kunstwerke beinhalten, auch ihre Intentionen in den Raum, egal ob diese sich mit dem Narrativ des Ausstellungskonzeptes vereinbaren lassen oder nicht. Brauchen aber nun Kunstausstellungen jenseits der einzelnen Aussagen der in ihnen gezeigten Kunstwerke überhaupt einen erzählerischen Rahmen in der Weise, wie ich ihn für die kulturhistorische Ausstellung definiert habe? Funktioniert die Betrachtung von Kunst nicht vor allem in der reinen, vollkommenen und daher „unepischen“ Konfrontation mit dem Besucher? Wurde Kunst nicht gerade für diese Art der dramatischen Begegnung geschaffen? Ich versetze mich, um der Antwort auf diese Frage näher zu kommen, in eine zeitgenössische Galerie. Nach Paris, Düsseldorf oder New York. Dort scheint mir der epische Rahmen weit zurückgedrängt: Die Bilder hängen an weißen Wänden, Installationen okkupieren helle, Videos dunkle Räume. Zusätzliche Informationen, die über die Sprache der sinnlichen Oberfläche des Kunstwerks hinausgehen, finden wir auf den weißen Wänden zumeist nicht. Um mehr zu erfahren, müssen wir zurück zum Rezeptionstisch, da die GaleristInnen mit nichtvorhandenen Wandtexten und ausgeblendeten räumlichen Strukturen versuchen, die Unmittelbarkeit zwischen Bild und Betrachter/Besucher zu fördern. Doch auch wenn diese Bemühungen den narrativen Rahmen ausblenden bzw. an den Rand drängen, um eine ungestörte Konfrontation zu ermöglichen, findet man ihn selten vollkommen ausgespart. Zumindest auf der Rezeptionstheke muss die Titelliste liegen, daneben auch eine Mappe mit der Künstlerbiografie, Presseartikel, Interviews und anderen Informationen für Presseleute, potentielle Käufer und sonstige Besucher. Der epische Rahmen hält sich bedeckt, bleibt aber stets präsent. In zeitgenössischen Ausstellungen, die von Museen moderner Kunst oder Kunsthallen veranstaltet werden, macht sich dieser epische Rahmen lauter als in den kleinen Galerien bemerkbar. Hier verteilen sich die Texte, die in der Galerie quasi unter Verschluss gehalten werden, meist schon im Foyer über die Wände. Zu den Künstlerbiografien kommt das Narrativ der Kunstgeschichte, verfasst von den KuratorInnen, die diese Bilder, Videos oder Installationen ausgewählt haben, die das Werk assoziativ beschreiben und erste stilistische Einordnungen versuchen. Doch Interpretation geschieht nicht nur durch Text: Die narrative Struktur entsteht auch durch die Juxtaposition, das Nebeneinander- und Hintereinanderstellen der Kunst im großen Ausstellungsraum. Der narrative Rahmen bleibt also, auch wenn er wenig komplex ist, stets präsent. Selbst bei avantgardistischen Versuchen an subkulturellen Ausstellungsorten, die absichtlich auf eine schriftliche Erzählung in Form von Beschriftungen, Raumtexten oder Biografien verzichten, treten bald mündliche Versuche – ob gewollt oder nicht – an die Stelle des fehlenden schriftlichen Erzählrahmens, um die gezeigte Kunst zu vermitteln, sie zu zähmen, ihr und ihren Schöpfern eine nachvollziehbare Absicht oder

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Handlung zuzuschreiben oder sie einem Stil oder einer Richtung der Gegenwartskunst zuzuordnen. Warum das so ist, warum Interpretation in der Konfrontation zwischen Kunst und Besucher notwendig ist, hat Slavoj Žižek in seinem Aufsatz Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung festgehalten, indem er auf wundervoll ironische Art die unterschiedlichen Gründe für die Interpretationsnotwendigkeit in Anbetracht moderner im Gegensatz zu postmoderner Kunst herausgearbeitet hat. Das Ergebnis liefert auch neue Erkenntnisse über das Drama zwischen den Dingen und Besuchern, über den inneren Dialog und den Ausstellungsraum als Bühne: „Ein modernes Kunstwerk ist seiner Definition nach ‚unverständlich‘, es wirkt als Schock, als das Hereinbrechen eines Traumas, das die Selbstgenügsamkeit unserer täglichen Routine untergräbt und sich nicht in das symbolische Universum der vorherrschenden Ideologie integrieren lässt. Nach diesem ersten Aufeinanderprallen betritt die Interpretation die Bühne und ermöglicht es uns, diesen Schock zu integrieren – sie informiert uns z.B., dass dieses Trauma die schockierende Leere unseres ‚normalen‘ täglichen Lebens widerspiegelt und auf sie verweist. [...] Was der Postmodernismus macht, ist genau das Gegenteil: seine Gegenstände par excellence sind Produkte mit entschiedenem Massen-Appeal (Filme wie Blade Runner, Terminator oder Blue Velvet) – und es ist die Aufgabe der Interpretation, darin Darstellungen der esoterischsten theoretischen Finessen von Lacan, Derrida oder Foucault zu erkennen. Wenn also die Freude der modernistischen Interpretation im Effekt einer Wiedererkennung besteht, die das Beunruhigende und Unheimliche ihres Gegenstandes plausibel und vertraut macht (‚Aha, jetzt verstehe ich, was dieser augenscheinliche Unsinn soll!‘), so ist es das Ziel einer postmodernistischen Behandlung, das anfänglich Vertraute des Gegenstandes zu verfremden.“76

Dieses Ausstellungs- und Interpretationstheater, das die potentiell komplexe, vielschichtige Kunst (oder auch ihr Gegenteil) zu entfalten vermag, setzt in der Gesamterzählung auf eine meist simple und unaufdringliche epische Fabel. Zu dieser Fabel gehören zuerst nur der Ausstellungsraum mit seiner Geschichte, der sich als Ort eines sich immer wiederholenden Ausstellungsrituals kommuniziert, sowie die Antworten auf die Fragen, wer hier was aus welcher Zeit ausstellt. Diese simple epische Fabel wird im Allgemeinen als adäquate Erzählstruktur für Kunstausstellungen angesehen, da ihre Unaufdringlichkeit den Kunstwerken und den sich jeweils aus ihnen ergebenden Interpretationsbedürfnissen eine maximale Entwicklungsfreiheit zu bieten scheint.

76 Žižek, Slavoj (2002): Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung. In: Žižek, Slavoj/ Dolar, Mladen u.a. (Hg): Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt am Main. S. 11f.

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Doch selbst diese im Hintergrund bleibende Art der Erzählung, die der Kunst und ihrer Konfrontation mit den BesucherInnen einen maximalen Platz einräumt, mag sich mit ihren knappen Auskünften zu den Fragen „Wer? Was? Von wann?“ als Korsett entpuppen, das sich auch gegen die Kraft wenden kann, die diese Kunstwerke in der Konfrontation mit den Besuchern zu entwickeln im Stande sind. Denn dem Kunstausstellungsraum kann gerade durch seine Ritualhaftigkeit, die dem Besucher signalisiert, dass ihm hier nicht wirklich etwas passiert, und durch die zähmenden Antworten auf die Fragen „Wer? Was? Von wann?“, die das Ausgestellte in eine einfache, aber „wasserdichte“ Fabel verpacken, einen festen Boden unter den Füßen anbieten, der weitere Fragen und Diskussionen nicht notwendig erscheinen lässt und damit verhindert. Eine Ausstellung, die dieses Phänomen thematisierte und problematisierte, war 2003 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen. Die Schau hieß Auf eigene Gefahr77. Das Besondere an den präsentierten Kunstwerken war, dass sie für die Besucher eine Gefahr bzw. eine Verunsicherung im Zuge der Rezeption darstellen konnten oder sollten. Während die Verantwortlichen der Schirn Kunsthalle dieses Thema im Rahmen der Ausstellung einerseits reflektierten und vermittelten, mussten sie auf der anderen Seite die Rezeption der Kunstwerke und Installationen gemeinsam mit den Künstlern so konstruieren, dass jegliche tatsächliche Verletzungsgefahr ausgeschlossen werden konnte. So beispielsweise bei der Installation Landscape with Exit und Exit II der brasilianischen Künstlerin Ana Maria Tavares von 2003: „Zwei Rollfeldtreppen aus Leichtmetall flankieren einen großformatigen Spiegel, der auf dem Boden liegt. Nur unsicheren Fußes sind die Plattformen zu erreichen: Ein wenig solider Weg führt den Besucher nach oben und dazu, sich selbst zu exponieren. Hat er diese Schwelle überwunden, erwartet ihn, der nun über dem Raum thront, wahlweise die Konfrontation mit dem Gegenüber auf der anderen Treppe oder mit sich selbst im Spiegel. Letzteres jedoch zwingt ihn in die Instabilität, wenn er sich dem eigenen Bild entgegenneigt. Einmal mehr wird „Ich sehe mich selbst sehend“ zu einer riskanten Erfahrung.“78

Oder der sechseckige Brunnen mit dem Titel Discovering Your Own Wall des dänischen Künstlers Jeppe Hein aus dem Jahr 2001: „An jeder der sechs Seiten bilden senkrecht nach oben gerichtete Wasserstrahlen jeweils eine Wasserwand in der Form einer Häuserfront. Immer dann, wenn sich ein Kunstfreund mutig den kräftigen Wasserstrahlen nähert, versenkt sich das vor ihm

77 Schirn Kunsthalle Frankfurt, 27. Juni – 7. September 2003. 78 Heinzelmann, Markus/Weinhart, Martina (Hg.) (2003): Auf eigene Gefahr. Ausstellungskatalog. Frankfurt am Main, S. 219.

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Abbildung 21: Ana Maria Tavares: Entwurf für „Landscape with Exit and Exit II (Rotterdam Lounge)“, 2003.

liegende der sechs Seitenteile des Brunnens, und die versiegenden Wasserstrahlen geben den Weg in das Innere des Brunnens frei. Ist man einmal eingetreten, dann steigt hinter einem die Wasserwand wieder empor. Erneut muss man sich dieser nähern, damit man trockenen Fußes den Brunnen verlassen kann.“79

Die verunsichernden Kunstwerke sind also, wie der Brunnen von Jeppe Hein, entweder in letzter Konsequenz sicher oder die Verantwortlichen konnten, wie bei Ana Maria Tavares Rollfeldtreppen, im Sinne eines Vertrauensgrundsatzes mit einer vernunftgeleiteten Selbsteinschätzung der Besucher rechnen.80 Darüber hinaus gab es auch noch Kunstwerke, die im klassischen Sinne durch räumliche Barrieren entschärft wurden. Hinzu kam bei jedem Kunstwerk einiges an Text, also ein epischer Rahmen, der den Schwerpunkt auf das Nachdenken über die Konsequenzen der prekären Rezeption lenkte und damit auch gleich über die „Enttäuschung“ der entschärften, nicht mehr wirklich risikoreichen Rezeption hinweghalf.

79 Heinzelmann/Weinhart (Hg.) 2003, S. 161. 80 Eine andere Methode wandte die Dwan Gallery in New York 1969 an, als sie Walter de Marias Beds of Spikes ausstellte, deren Oberfläche aus zahlreichen spitzen, scharfkantigen Eisenstäben besteht. Sie klärte die Besucher auf, dass sie die Galerie auf eigene Gefahr besuchen und ließ sie dies auch unterschreiben.

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Das Spiel der Kräfte im Ausstellungsraum Zurück zu Brecht. Ein Vergleich seiner epischen Theaterkonzeption und der zeitgenössischen Ausstellungsdramaturgie bringt unweigerlich den Zuschauer ins Blickfeld. Brecht richtete seine Dramen dahingehend aus, den Zuschauer vor einer „totalen Einfühlung“ und einem „mechanischen Mitgehen“81 zu bewahren. Voraussetzung für das ihm vorschwebende emanzipatorische Theater war ein aktives Publikum, das Entscheidungen trifft, studiert, das sich selbst und die Menschen auf der Bühne als veränderlich begreift. „Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. – So bin ich. – Das ist nur natürlich. – Das wird immer so sein. – Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. [...] Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. – So darf man es nicht machen. – Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. – Das muss aufhören. Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe.“82

Die Ausgangsposition für eine kritische Mitarbeit scheint beim Besuchen einer Ausstellung eine bessere zu sein als beim Zuschauen im Theater, wo sich die RezipientInnen meist gegenüber einer Bühne inmitten einer Vielzahl statisch platzierter Menschen in einem absichtlich verdunkelten Raum wiederfinden. AusstellungsbesucherInnen hingegen sind Menschen, die sich durch einen Raum voller Objekte, die mit Bedeutung aufgeladen wurden, bewegen, die über die Intensität ihrer Aufmerksamkeit und der „Erzählgeschwindigkeit“, also über die Geschwindigkeit, in der sie sich selbst etwas erzählen, selbst entscheiden. Sie können alleine, aber auch zu zweit, zu dritt oder in einer Gruppe kommen, in der es ihnen noch während des Rezeptionsaktes möglich ist, sich in normaler Lautstärke auszutauschen, da sie nicht wie im Theater die spielenden Akteure stören. Diese „in Ruhe gelassene“ kleine Gruppe kann eine scharfe, weil gleichzeitig kollektive und anonyme Kritik formulieren, wobei es keine Rolle spielt, ob sich diese Kritik im brechtschen Sinne auf das in der Ausstellung angerissene Thema bezieht oder ob sie sich gegen die Ausstellung und ihre MacherInnen selbst richtet. Wenn wir uns die Beschreibungen der emotionalisierten Ausstellungsbesucher im Pariser Salon des 18. Jahrhunderts nochmals vor Augen führen, so wird klar, wozu diese „alleingelassenen“ Besucher fähig sind, wie sehr jeder neue Besucher im Ausstellungsraum eine neue Aufführung sowohl realisiert als auch erlebt, und dass es sich beim Rezipiententypus Besucher von Beginn an um kritische, ungestüme und wilde Geister handeln konnte. Wie sieht nun dieses Kräfteverhältnis zwischen den Ausstellungsmachern, die Räume mit bedeutungsvollen Dingen bzw. Zeichen hinterlassen

81 Brecht 1932/36. In: Brecht 1989, S. 38. 82 Brecht 1935. In: Brecht 1989, S. 63f.

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haben, und den Besuchern, die die von den Kuratoren und Architekten suggerierten Bausteine vorfinden und sich daraus eine eigene Geschichte erarbeiten, tatsächlich aus? Ist es den AusstellungsmacherInnen möglich, die BesucherInnen oder ZuschauerInnen kritisch bzw. kritischer zu „stimmen“, wie Brecht es sich wünschte? Oder sie in den Bann zu ziehen, wie es das Konzept der aristotelischen Dramaturgie vorsieht? Welche Macht haben die BesucherInnen unabhängig von ihrer erweiterten oder verminderten Kritikfähigkeit? Wie frei sind die BesucherInnen wirklich, über ihre Rezeptionsgeschwindigkeit und über die Verteilung ihrer „geschätzten Aufmerksamkeit“ zu verfügen, die so entscheidend für die Geschichte ist, die sie sich im Ausstellungsraum „zusammenreimen“? Können AusstellungsmacherInnen, die sich intensiv um diese Aufmerksamkeit der Besucher bemühen, zumindest davon ausgehen, dass die für sie wichtigsten Objekte von wirklich allen Besuchern gesehen und zur Kenntnis genommen werden? Oder müssen sie davon ausgehen, dass es BesucherInnen gibt, die gerade diese zentralen Objekte trotz raum- und lichttechnischer Betonung durch Nichtbeachtung „strafen“? Besucher und Besucherinnen gehören zur Gruppe der Rezipienten. Das lateinische Wort recipere, von dem sich der Rezipient herleitet, wird in der passenden Bedeutungsgruppe mit „annehmen, nehmen, einnehmen, aufnehmen, übernehmen, auf sich nehmen, gestatten, zulassen, gutheißen“83 übersetzt. Die Summe der Bedeutungen weist dem Besucher damit vor allem eine nehmende und schließlich auch eine richtende Rolle in dieser Beziehung zu. Der Besucher, und das beschreibt auch seine Einmaligkeit in der Gruppe der Rezipienten, ist aber auch ein Suchender. Er ist der sich bewegende, der aktive Teil auf der inszenierten Fläche einer Ausstellung. Die anderen, das Ding und der hinter ihm stehende Ausstellungsmacher bilden den statischen Teil dieser Beziehung. Der Ausstellungsmacher entpuppt sich in diesem Akt der Begegnung als höchst unflexibel, da er den Raum bereits verlassen hat und prinzipiell keine Veränderungen mehr vornehmen kann, jedenfalls nie schnell genug, um in die Begegnung zwischen Besucher, Raum und Objekt eingreifen zu können. Eine Ausnahme gibt es natürlich: Wenn der Ausstellungsmacher selbst durch die Ausstellung führt und zwischen den Besuchern und den Dingen erneut vermitteln kann. Oder wenn ein Führer, ein Guide, dies für ihn tut. Doch die grundsätzliche Verlassenheit des Ausstellungsraumes durch den Kurator bzw. den Gestalter ist für diesen nicht notwendigerweise ein Nachteil. Der mit Zeichen gefüllte Raum stellt eine machtvolle, weil unveränderliche Manifestation seines Willens dar. Dass er so bleibt, wie er ist, dafür garantieren nicht zuletzt die Museumswärter. Sie passen auf, dass der Besucher diesen Raum und die darin liegenden Dinge in keiner Weise verändert. Natürlich passiert auch manchmal das Gegenteil. Wenn die Kom-

83 Der kleine Stowasser (1980): Lateinisch-Deutsches Schulwörterbuch. Wien, S. 384.

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munikation innerhalb einer Ausstellung in manchen Teilen eklatant nicht funktioniert, kann es vorkommen, dass das Museumspersonal zur Selbsthilfe greift und nach massiven Besucherbeschwerden die Ausstellung selbst verändert, beispielsweise mit Hinweisschildern in Form von A4-Zetteln, die Botschaften wie „Hier drücken!“ oder „Zum Ausgang“ tragen, die auf dem Computer ausgedruckt wurden und nicht dem allgemeinen Ausstellungsdesign entsprechen.

Das Gleichnis vom Swimming Pool Um mir das Kräftespiel zwischen AusstellungsmacherInnen und AusstellungsbesucherInnen besser vorstellen zu können, habe ich mich auf die Suche nach einem Vergleichsraum bzw. Vergleichsrahmen begeben. Gefunden habe ich einen, der auf den ersten Blick weit hergeholt wirkt. Doch da er das Kräftespiel von Ausstellungsmacher und Besucher bzw. Betreiber und Benutzer auf eine ganz nüchterne räumliche Ebene reduziert84, erweist er sich als durchaus tauglich. Der „Raum“ ist das Schwimmbecken. Parallel zum Schwimmbecken stelle ich mir einen offenen Ausstellungsraum ohne Zwischenwände vor. Ausstellungsraum und Schwimmbecken haben eine wesentliche Gemeinsamkeit: Sie haben einen Eingang und einen Ausgang. Dabei ist es egal, ob der Eingang beim Ausgang ist oder ob es zwei Türen bzw. Einstiegsleitern gibt oder ob die Schwimmer überhaupt selbstständig vom Rand hineinspringen und an einer anderen Stelle wieder heraussteigen. Entscheidend ist, dass BesucherInnen und SchwimmerInnen in beiden „Räumen“ zwischen Ein- und Ausgang einen Weg zurücklegen, über dessen Streckenführung sie selbst entscheiden. Prinzipiell könnte man sagen: Was sie sowohl in der Ausstellung als auch im Swimmingpool zwischen Einund Ausgang machen, ist ihre Sache. Ist es wirklich ihre Sache? Ich stelle mir einen großzügigen HotelSwimmingpool vor, der von der Hotelgesellschaft betrieben und den Hotelgästen benützt wird. Das Schwimmen wird zum einen von Vorschriften reguliert, die man als offen ausgesprochen bezeichnen könnte, weil sie auf einer Hausordnung oder auf Hinweisschildern zu finden sind. Doch wir kennen die meisten dieser Regeln ohnehin: Weder ist uns neu, dass in HotelSwimmingpools Randspringen und Nacktbaden verboten ist, noch dass wir in der Ausstellung Gemälde nicht berühren und kein Eis essen dürfen. Doch zum anderen existieren jenseits dieser offen ausgesprochenen Verbote und Regeln in beiden Räumen Einflussnahmen durch den Betreiber des Raumes, die der Schwimmer/Besucher hinnehmen muss, egal, ob er sie überhaupt bewusst wahrnimmt oder nicht. Fest steht, dass jede technische oder gestalterische Entscheidung des Betreibers enormen Einfluss auf die „Entfaltung“ des Schwimmers/Besuchers im Schwimmbad bzw. Ausstellungsraum hat.

84 In der Ausstellung wird jedes Zeichen räumlich, auch Texte und Projektionen.

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Als erstes Beispiel nenne ich die Wassertemperatur. Die Entscheidung der Betreiber wird mitbestimmen, wie viele Gäste ins Wasser gehen, wie schnell sie schwimmen und wie lange sie im Wasser bleiben werden. Die offen ausgesprochenen Regeln würden zwar allen Schwimmern erlauben, innerhalb der Öffnungszeiten, so lange sie wollen, in beliebiger Geschwindigkeit zu schwimmen. 17 Grad Wassertemperatur werden jedoch nur wenige Schwimmer ins Wasser locken. Und diejenigen, die dennoch ins Becken gehen, werden kurz bleiben, dafür aber schnell schwimmen. Die Möglichkeiten der Einflussnahme durch den Schwimmbadbetreiber auf das Schwimmbecken und damit auf die Schwimmenden selbst sind zahlreich. Wir können uns vorstellen, dass der Bademeister mit schwimmenden Ketten das Schwimmbad in Bahnen teilt, was den Schwimmverlauf begradigen und in einzelnen Fällen sogar die Geschwindigkeit der Schwimmenden, ähnlich dem kalten Wasser, erhöhen wird. Diese Maßnahme kommt der räumlichen Unterteilung des Ausstellungsraums in Gänge und Räume durch den Einbau von Zwischenwänden nahe. Einen konträren Effekt, nämlich Verlangsamung, haben warmes Wasser, schwimmende Fauteuils und Drinks, die am Schwimmbeckenrand auf die Hotelgäste warten. Diese Maßnahmen zur Reduktion der Geschwindigkeit sind wiederum mit der Idee eines Ausstellungsarchitekten vergleichbar, der beispielsweise in einer Ausstellung über Musik einen leeren Raum mit Schaukelstühlen bestückt und die Besucher so einlädt, Musik zu hören. Weder Schwimmer noch Ausstellungsbesucher müssen die vorgeschlagenen Angebote annehmen: Der Pool mit den schwimmenden Sesseln und Drinks kann links liegen gelassen, oder, wenn nicht allzu viele angeheiterte Nichtschwimmer auf den Sesseln kreisen, auf geraden Längen durchschwommen. Der mit den Sesseln ausgestattete Ausstellungsraum kann wiederum von Besuchern als Zeitverschwendung empfunden und ohne Verzögerung durchschritten werden, die Idee des Architekten ins Leere gehen und eine Zurückweisung erfahren. Viele werden das Angebot annehmen, einige nicht.85

85 Architekt Christian Prasser, auf den dieses Beispiel zurückgeht, entwarf 2003 einen solchen Raum für die von Leon Botstein und mir im Jüdischen Museum Wien kuratierte Ausstellung quasi una fantasia. Juden und die Musikstadt Wien. (Siehe Abbildung 23) Der Raum war mit den Correalistischen Möbeln von Friedrich Kiesler (Nachbauten durch Wittmann, Wien) ausgestattet, die vor allem als Schaukelstühle, aber auch als Vitrinen dienten. An den Wänden fanden sich stellvertretend für alle aus Wien 1938 und danach vertriebenen jüdischen Musiker über 100 Namen. Mittels Audioguide konnten die Besucher zahlreiche Musikstücke von den Genannten anwählen. Während einige Besucher den Raum, der sich nach zwei Drittel der Ausstellung auch als Ruheraum anbot, schnell wieder verließen, nutzen ihn zahlreiche (tlw. exzessiv) und blieben über eine halbe Stunde. Vgl. Hanak, Werner (2003): quasi una fantasia. Zur Dramaturgie einer Ausstellung. In: Botstein, Leon/Hanak, Werner (Hg.): quasi una fantasia. Juden und die Musikstadt Wien. Ausstellungskatalog. Wien, Hofheim, S. 23-42.

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Abbildung 22: Der Swimmingpool und die Ausstellung. Detail aus der Installation „The Collectors“, kuratiert und inszeniert von Elmgreen & Dragset im Dänischen und Nordischen Pavillon, Biennale Venedig, 2009. Foto: W. H.-L.

Ideen, Objekte, Texte, Räume werden in Ausstellungen täglich und dauernd zurückgewiesen und mit Nichtbeachtung gestraft. Die Nichtbeachtung durch die Besucher kann an Fehlern in der Erzählstruktur, am räumlichen Ablauf, an der Objekt-Text-Montage im Raum, am nicht übersehbar gemachten Raum-Zeitstrom liegen, in dem sich das Sinnliche nicht „dem Gesetz des Begreifens und Behaltens“86 fügt; kurz: an der Dramaturgie der Ausstellung. Gründe für die Zurückweisung können aber auch mangelhafte inszenatorische Umsetzung der Erzählung, die Unsinnlichkeit der Objekte oder deren oberflächliche Unattraktivität sein. Auch an qualitativ mangelhaften Texten, die weder strukturiert sind noch strukturieren, weder orientiert sind noch orientieren, kann das Problem liegen. Die nicht erfolgte Rezeption kann aber auch ausschließlich mit der Verfassung des Besuchers zusammenhängen, der ein Objekt, eine Objektgruppe oder einen ganzen Raum aus Zeitmangel, Müdigkeit, Desinteresse oder aggressiver Abwehr ignoriert. Nichtbeachtung ist weder Ausnahme noch Regel, ebenso wie ihr Gegenteil, die aufmerksame Beachtung und sinnliche Aufnahme, die in Ausstellungen ebenfalls dauernd und täglich passiert. Immer wieder gelingt es Ausstellungsmachern, Ausstellungsbesucher auf ihrem Gang erfolgreich „anzu-

86 Lehmann 1999, S. 62.

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Abbildung 23: Die Ausstellung als Swimmingpool? Der Exil-Raum in der Ausstellung „quasi una fantasia. Juden und die Musikstadt Wien“. Jüdisches Museums Wien und Wiener Festwochen, 2003. Foto: Christian Prasser.

halten“. So wie ein Autowrack und ein Einsatzfahrzeug mit blinkendem Blaulicht am Pannenstreifen sofort Staus auf der Autobahn verursachen, selbst wenn sie die Fahrbahn physisch gar nicht berühren, so können drastische Signale an den Ausstellungswegen für niedrige Gehgeschwindigkeit und große Aufmerksamkeit sorgen. Doch Signalisierung, kurze Aufmerksamkeitsschübe und niedrige Geschwindigkeit bedeuten nicht notwendigerweise das Verweilen des Besuchers, und sein Verweilen bedeutet nicht notwendigerweise eine tiefe Auseinandersetzung mit Ding, Raum und Text. BesucherInnen können die Zeichen, die sich mittels sinnlicher Oberfläche oder Verpackung in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gespielt haben, auf den zweiten Blick für uninteressant befinden und ihren Gang gleich wieder fortsetzen. Dies ist eine oft bittere, aber notwendige und letztlich auch sehr heilsame Einsicht für AusstellungsmacherInnen: Selbst wenn ihre Ausstellungen keine der oben beschriebenen Mängel aufweisen, wenn sie versucht haben, durch flächendeckende, raumfüllende, versteckte oder drastisch sichtbare Inszenierungsmaßnahmen den Ausstellungsraum (und damit den Ausstellungsbesucher) „in den Griff zu bekommen“, bleibt ihre Kraft auf das Suggestive beschränkt. „Exhibition: to hold out, to offer“87, notiert Jean-François Lyotard

87 Lyotard 2002, S. 167.

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und beschreibt damit prägnant die Möglichkeit der KuratorInnen im Ausstellungsspiel. Sie haben ein Vorschlagsrecht, können aber auf keiner Ausund Durchführung ihrer Vorschläge durch die Besucher bestehen. Ausstellungsbesucher besitzen als Gruppe oder als Einzelne die Kraft, das Selbstbewusstsein, die Lust, die Schwäche und die Destruktivität, in einer Ausstellung zu tun und zu lassen, was sie wollen. Nie können sich Ausstellungsmacher sicher sein, dass ihre Ausstellung in dem Sinn rezipiert wird, wie sie sich das vorgestellt haben. Die Verweigerungen oder Fehlinterpretationen können immer und überall erfolgen. Der Besucher sucht sich als Suchender im Raum seinen Weg selbst. Als „Rezipient“ übernimmt er im Sinne des lateinischen Begriffs recipere die Ausstellung, nimmt sie für die Zeit seines Verweilens und in seiner Erinnerung in Besitz, oder weist die Dinge, die Räume, die suggerierten Angebote zurück. Die Ausstellung, verstehbar als Raum-Zeitstrom, wird also immer durch Dinge und andere Zeichen, die der Ausstellungsmacher in den Raum gestellt hat auf der einen Seite, durch den Besucher auf der anderen Seite überschaubar gemacht. Während der Ausstellungsmacher im Ausstellungsspiel die Rahmenbedingungen herstellt und die ersten Züge macht, ist es am Ende der Besucher, der das Angebotene in eine für ihn nachvollziehbare logische Ordnung führt, das Begangene, Gesehene, Gehörte, Gelesene, in Ausnahmefällen auch Berührte seinem geistigen und körperlichen Kosmos einverleibt.

Exkurs: Wie das Erlebnis vom Theater in die Ausstellung kam Im Zentrum der bisherigen ausstellungsdramaturgischen Betrachtung standen die BesucherInnen der Ausstellung, wobei ich immer wieder ihre Verstrickung mit der und in die Handlung der Ausstellung thematisiert und auf Basis der aristotelischen Poetik und Brechts Thesen zum epischen Theater untersucht habe. Detaillierte Überlegungen zum Objekt, Raum, den AusstellungsmacherInnen und ihren Texten, werden folgen. Im Kapitel über den Raum gehe ich auf die postmodernen und postdramatischen Entwicklungen sowohl am Theater als auch in der Ausstellung ein. Sie bilden aber auch den Hintergrund für diesen nun folgenden Exkurs zum heute vielbeschworenen Begriff des „Erlebnisses“, der am Ende des Kapitels Der Besucher und die Handlung steht. An der Schwelle vom „epischen“ zum „postdramatischen“ oder „performativen“ Zeitalter, um mit Lehmann88 oder Fischer-Lichte89 zu sprechen, an der das Theater heute und in abgewandelter Form auch die Ausstellung steht, möchte ich an ein Paradoxon erinnern, das seinen Ausgang in der Zeit

88 Lehmann 1999. 89 Fischer-Lichte 2004.

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nahm, in der Brecht sein episches Theater schuf, das aber erst heute in seiner ganzen Blüte zu erkennen ist. Um den kritikfähigen Zuschauer zu erreichen, entschied sich Brecht für folgende Strategie: „Von keiner Seite wurde es dem Zuschauer weiterhin ermöglicht, durch einfache Einfühlung in dramatische Personen sich kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben.“90

Die Ausstellung bot – sowohl in ihrer kunst- als auch in ihrer kultur- und gesellschaftshistorischen Variante – in den 1920er Jahren, als Brecht das Theater in Deutschland mitgestaltete, im allgemeinen wenig Möglichkeiten, um sich in ihr „kritiklos (und praktisch folgenlos) Erlebnissen hinzugeben“. Die temporären oder permanenten Ausstellungen waren stark an der Vermittlung von Bildung interessiert, die wenigen erlebnisorientierten Ausstellungen waren zumeist von den Avantgardisten organisiert, die wiederum auf Grund ihrer Herangehensweise ein gewisses Maß an „kritischer Distanz“ einforderten. Zwar verbanden sich auch schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Weltausstellungen Ausstellung, Kommerz und Entertainment, stellten Vergnügungsparks Menschen und Merkwürdigkeiten aus. Das Medium der kulturhistorischen Ausstellungen funktionierten im 20. Jahrhundert aber erst die Nationalsozialisten in Erlebnisausstellungen im großen Stil um, beispielsweise mit Das Wunder des Lebens91 (Berlin 1935), Entartete Kunst (München 1937, dann Ausstellungstournee), Der Ewige Jude (1937, dann Ausstellungstournee). Doch zu dieser Zeit hatte sich Brecht bereits ins Exil gerettet. So lange er in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg kulturell tätig war, hatte der erzählerische Rahmen der Ausstellungen vor allem epische Züge aufgewiesen. Mit dem Theater hingegen, von dem Brecht schrieb, man könne sich in ihm „kritiklos Erlebnissen“ hingeben, meinte er das deutsche Vergnügungstheater der 1920er Jahre, in dem Komödien, Melodramen und Sensationen

90 Brecht 1935. In: Brecht 1989, S. 63. 91 Diese „rassenkundliche“ Ausstellung in Berlin besuchte auch der damals junge Schweizer Autor Max Frisch als Reiseschriftsteller für die Neue Zürcher Zeitung, der darin einerseits von Bildnissen „von blonden Jünglingen mit Spaten und Mädchen mit langem Haar, rein und tapfer und treu“ zu berichten wusste, andererseits von Fotos von Kindern von Epileptikern, Trinkern und Syphilitikern, die „offenbar als Auswirkung nichtarischer Rasse“ ausgestellt wurden. Frisch beschreibt auch eindrücklich das zurückgezogene, inaktive Verhalten der Besucher: „[...] ausdruckslos betrachten sie das Gebotene, ohne mit ihrem Begleiter ein Wort zu tauschen. [...] Hier ist alles stumm.“ Frisch, Max (1976): Kleines Tagebuch einer deutschen Reise. (Erstveröffentlicht in vier Folgen in: Neue Zürcher Zeitung, 30.04., 07.05., 20.05. und 13.06. 1935). In: Frisch, Max (1976): Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Band 1. Hrsg. v. Hans Mayer u. a. Frankfurt am Main, S. 90ff.

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dominierten. Brecht und auch Erwin Piscator packten mit ihrer Strategie den Stier gleichsam bei den Hörnern und besetzten genau den Begriff des Vergnügungstheaters – Brecht bezeichnete sein Theater fast gebetsmühlenartig als solches – und mit diesem auch gleich die neueste Gattung, die dieses Vergnügungstheater gerade hervorgebracht hatte: die Revue. Doch Brechts und Piscators Strategie hatte einer Medaille gleich noch eine zweite Seite: Ihr Theater, in das sie das von ihnen eroberte Vergnügungstheater umbauten, sollte auch eine Bildungsanstalt sein, dem bürgerlichen Museum nicht unähnlich, wenn auch unter proletarischen Vorzeichen. Während Brecht zu seiner Zeit also versuchte, das durch Einfühlung erreichbare Erlebnis, das es in der Ausstellung noch sehr unterentwickelt gab, durch mehr Distanz und Verfremdung vom Theater zu verbannen, können wir seit geraumer Zeit in den USA und auch in Europa, diesem Kontinent der Museen und der Ausstellungen, in temporären und permanenten Ausstellungsshows die Tendenz zum Erlebnis, zu dem die Besucher lautstark eingeladen werden, erkennen. Das Erlebnis, von dem Brecht meinte, es wäre der Feind jeglicher kritischer Besucherhaltung, ist eine der zentralen Werbebotschaften der heutigen Ausstellungshäuser, Museen, Shopping Malls, Sportstätten oder Erholungsregionen, kurz all jener Orte geworden, die sich nicht in Bühne und Zuschauerraum teilen, sondern in denen BesucherInnen, KonsumentInnen, BenutzerInnen etc. selbst Teil des inszenierten Raumes sind und die Handlung selbst als EntscheidungsträgerInnen vorantreiben. Auffällig dabei ist, dass Ausstellungsmacher sowie kulturelle und kommerzielle Marketingstrategen gerade eben jenen Rezipienten, der sich diese aktive Rolle durch seine eigene geistige wie körperliche Bewegung, durch das dauernde Entscheiden für einen eigenen Weg erarbeitet, nun in besonderem Maße mit einem meist oktroyierten Erlebnis versorgen wollen: Den Käufer beim Erlebniseinkauf, den Schwimmer im Erlebnisschwimmbad, den Erlebnisreisenden, den Erlebniswanderer, die Familie auf ihrem Ausflug in die Erlebniswelt. Das Theater und die ihm verwandten Orte „der realen Versammlung“92, an denen sich wie im Zirkus oder in der Revue die Akteure und Zuschauer eine gemeinsam verbrachte Lebenszeit teilen, stellten einst die klassischen Erlebnisorte dar. Heute entfremden sie sich, vor allem durch die neuen theatralischen Entwicklungen, die in der Folge Brechts mit zunehmend schwieriger begreifbaren und nachvollziehbaren Theaterformen (sowohl in sinnlich-emotionaler als auch im logisch-dramatischer Hinsicht) entstanden sind, von der Möglichkeit, den Zuschauern durch Einfühlung ein Erlebnis zu bieten. In Ausstellungen lässt sich dahingegen eine Tendenz zu einer aristotelischen Dramaturgie beobachten, die mit Aufforderungen wie „Tauchen sie ein in die Welt von ...“ durchaus verkrampft auf eine Einfühlung in das inszenierte Environment und in die Aura der dargestellten Dinge pocht. Die kritischen BesucherInnen im Sinne Brechts sind dabei nicht mehr Ziel der

92 Lehmann 1999, S. 12.

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Werbestrategie. Und es bleibt die Frage, ob die BesucherInnen der Ausstellung, die diese durch ihre Aktivität zu einem der erfolgreichsten kulturellen Medien der Gegenwart gemacht haben, müde geworden sind, ihren eigenen Weg zu suchen, zu finden und zu gehen.

5.2 D AS D ING

ALS

C HARAKTER

Über den ehemaligen Direktor eines Wiener Museums sagt man, er habe das Publikum als „Bestie, vor der man die Objekte schützen muss“, bezeichnet. Die Drastik des Gesagten wirft Fragen zur Beziehung zwischen dem Ding und den BesucherInnen auf. Steckt in den BesucherInnen tatsächlich eine Bestie? Wollen sie die Dinge zerstören? Was hätten sie davon? Im historischen Rückblick auf die Frühgeschichte der Ausstellung habe ich die „wilden Zeiten“ der unberechenbaren Besucher im frühen Pariser Salon beschrieben. Mithilfe der Thesen von Thomas E. Crow habe ich das von den Künstlern missmutig beobachtete Ausstellungsverhalten der Besucher auf ihre Aktionismus-Schulung im parterre der Pariser Theaterspielstätten und am Jahrmarkt-Theater zurückgeführt.93 Dem 18. Jahrhundert und seinem anfänglich forschen Publikum folgte das 19. Jahrhundert mit seinen sakralen Museumskathedralen und Weltausstellungspavillons. Die Würde der neuen bürgerlichen Musentempel sollte aus den „zwanzig verschiedenen Arten von Publikum“ kultivierte Kenner von Kunst, Kultur und Fortschritt machen. „Im 19. Jahrhundert wurde das Museum zu einer bürgerlichen Institution. Dies bedeutete auch, dass ein bestimmter Verhaltenskodex für Ausstellungsbesucher festgeschrieben wurde, der das Besondere, über dem Alltag Stehende der Institution Museum unterstreichen sollte. In einer Museumsausstellung hatte man seine Triebe in jeder Hinsicht zu kontrollieren. Lautes Reden, Anfassen von Exponaten und Herumrennen war zu unterlassen. Das korrekte Benehmen im Museum zeichnete sich durch Gedämpftheit, Gemessenheit und Diskretion aus, ein Benehmen also, wie es einem quasi sakralen Ort angemessen war, allerdings ohne dass das eigene Verhalten – wie etwa beim Gottesdienst – von einem unverrückbaren Ablauf bestimmt worden wäre. Man hatte sich zu benehmen, blieb aber frei, kurzum: Gerade im Museum konnte der Bürger Bürger sein.“94

Dieser Verhaltenskodex hat sich bis heute nicht wesentlich geändert, auch wenn in den letzten Jahrzehnten mehr Lockerheit und ein gestiegener Lautstärkenpegel in die Räume Einzug gehalten hat. Nicht gelockert wurde hingegen das Verbot, die Dinge im Museum zu berühren. Da den BesucherIn-

93 Siehe Kapitel 4.2 Das Theater als Schule für Besucher. 94 Klein 2004, S. 143.

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nen in dieser Frage nicht vertraut wird, werden die Dinge durch Glas, Distanzbarrieren oder Alarmanlagen gesichert. Und trotz dieser Sicherungen kommen die BesucherInnen den Dingen regelmäßig zu nahe, sodass der Alarmton in Ausstellungen mit wertvollen Exponaten den Lautstärkenpegel zusätzlich erhöht. Weisen diese Objekt-Sicherungen vor den BesucherInnen möglicherweise auf die „Bestien“ hin, die in diesen stecken? Wenn die Ausstellungsobjekte in den BesucherInnen schlummernde Bestien wecken, was sagt dies über die Dinge aus? Welche Eigenschaften oder gar Persönlichkeiten verbergen sich in den Dingen, die hier geschützt werden? Wovor schützt das Glas, die Distanzbarriere, der Alarmton? Vor Diebstahl? Vor Abnützung? Und wen schützt das Glas wirklich? Die Dinge? Oder vielleicht uns? Sind vielleicht auch die Dinge gefährlich, nicht nur die Besucher? Im vorhergehenden Abschnitt, in dem es um die Rolle und die Perspektive der Besucher ging, habe ich die Ausstellung als Konfrontation zwischen dem Besucher, der sich sowohl als Zuschauer als auch als Akteur über eine Bühne bewegt, und den dort ausgestellten Dingen beschrieben. Folgende These habe ich dabei aufgestellt: Wenn es ein Drama in der Ausstellung gibt, dann spielt es sich zwischen den Dingen untereinander ab, vor allem aber zwischen den Dingen und den Besuchern. Denn nicht nur die Besucher, auch die Dinge sind Akteure einer Ausstellung. Dieser Ansatz ist jenem von Bruno Latour ähnlich, der im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie für eine neue soziologische Betrachtung plädiert und dabei den Dingen eine große Bedeutung zumisst, da „jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur ist“95. In dramentheoretischer Hinsicht ist dabei hinzuzufügen, dass die Dinge menschlichen Charakteren, egal ob diese der realen oder fiktiven Welt entstammen, nicht unähnlich sind. Dinge sind vielschichtig und widersprüchlich: „Paintings and other objects, like people, have careers, lives. These objects have meanings to those who brought them into the world, other meanings to those who worked with or used them, yet others to historians who try to explain them, to curators who organize exhibitions around them. They exist in as many different forms as the number of people who happen to come across them. Objects are not static; they are the accumulation of all their meanings.“96

Ein Ding hat eine sinnliche Oberfläche, die über die Zeit und Art seiner Entstehung berichten kann, meist aber nichts über den weiteren Weg, den es bis

95 Latour, Bruno (2007): Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßler. Frankfurt, S. 123. Ich danke Peter Weibel für den Hinweis. 96 Kimmelman, Michael (2006): A Heart of Darkness in the City of Light. In: The New York Times, 02.07.2006.

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ins Hier und Jetzt der Ausstellung genommen hat. Dabei kann ein Ding mit einer schönen Form eine schreckliche Geschichte mitbringen, ein ungestaltes, verletztes Objekt hingegen eine schöne. Auffallend oft klebt an wertvollen Objekten sinnbildlich gesprochen besonders viel Blut, wie beispielsweise die zahlreichen „Arisierungen“ von Kunstwerken während des NSRegimes zeigen. „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein,“ schreibt Walter Benjamin und setzt fort: „Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist.“97

Die geraubten, problematischen Gegenstände sind insbesondere unter den älteren, außereuropäischen Objekten eher der Normalfall, nicht die Ausnahme. Sie haben häufig den Grundstock für Museumsgründungen gebildet, „sind niemals durch das Stadium des Abfalls gegangen, sondern als Trophäen sofort zu Musealien geworden“98. Im vorletzten Absatz habe ich Dinge als Charaktere und sogar als Persönlichkeiten bezeichnet. In vielerlei Hinsicht verhalten sich die DingCharaktere ganz ähnlich wie die Figuren im Theater, Film und Fernsehen, denn sowohl in der Ausstellung als auch in der darstellenden Kunst gewinnen Charaktere besonders durch widersprüchliche Eigenschaften an Profil. Christian Mikunda hat dieses Phänomen anhand des Plots eines Spielfilms, der wiederum die Produktion von Fernsehserien zum Inhalt hat, auf den Punkt gebracht: „Im Spielfilm ‚Network‘ prüft Faye Dunaway als TV-Producer die Konzepte für drei neue Fernsehserien. Ihre Assistentin hat für sie die Entwürfe gelesen und faßt zusammen: ‚Die erste spielt an einer juristischen Fakultät, wahrscheinlich Harvard. Hauptperson ist ein kantiger, aber gütiger Bundesrichter. Die zweite heißt ‚Weibliche Polizei‘. Durchgehende Figur ist ein kantiger, aber gütiger Polizeioffizier, dem sein Vorgesetzter immer Dampf macht. Die nächste ist eine von diesen ‚rasenden Reporter Serien‘. Ein kantiger, aber gütiger Chefredakteur ...‘“99

„Kantig, aber gütig“ steht hier für die zwei Seiten, die ein Mensch mindestens braucht, um als Charakter in einem dramatischen oder epischen Werk interessant zu werden. Charaktere, die nur gut oder nur böse sind, empfinden wir als eindimensional, unrealistisch, langweilig, wenig überzeugend, schlecht. Dinge, die vielfältig erscheinen, haben eine ähnliche „Bühnenpräsenz“ wie Menschen, die im theatralischen Rampenlicht stehen oder die Handlung

97 Benjamin 1977, S. 254. 98 Klein 2004, S. 45. 99 Mikunda, Christian (1992): Die Drehbücher im Kopf. Wie wir Städte, Romane und Filme „lesen“. In: Psychologie Heute, 3/1992, S. 68.

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von Filmen vorantreiben. Ausstellungen sind voller Dinge, die im grellen oder gedämpften Licht der Scheinwerfer, also ebenfalls im Rampenlicht, stehen. Bemerkenswerterweise repräsentieren gerade diese beleuchteten Dinge das Unsichtbare, insbesondere in kulturhistorischen Ausstellungen: „Ohne Ausnahme spielen sie alle die Rolle von Vermittlern zwischen den Betrachtern und einer unsichtbaren Welt, von der Mythen, Erzählungen und Geschichten sprechen.“100

Diese Gegenstände ohne Nützlichkeit, die das Unsichtbare repräsentieren, dafür aber mit einer Bedeutung versehen sind, nennt Krzysztof Pomian Semiophoren, und er vergleicht ihre Kommunikationskompetenz und -leistungen mit der von Grabbeigaben und Opfergaben, die ebenfalls ein Bindeglied zwischen zwei Welten bzw. zwischen den Lebenden und den Toten darstellen: „Die einen Gegenstände – nämlich Grabbeigaben und Opfergaben – gehen von der ersten in die zweite [Welt] über. Die anderen kommen aus der zweiten in die erste, zum Teil unmittelbar, zum Teil, weil sie Elemente jener Welt in gemalte oder plastische Bilder umsetzen.“101

Dinge werden in Ausstellungen gezeigt, weil sie eine andere Welt repräsentieren. Sie kommen aus dem Dunklen und werden hell angestrahlt. Dinge in Ausstellungen haben wie Charaktere in Theaterstücken, Filmen und Romanen mehrere Facetten: helle, dunkle, offensichtliche, versteckte.

Freud, Schelling, Jentsch und die unheimlichen Dinge Das Dunkle und Versteckte führt zum Unheimlichen, oder, um mit Freud zu denken, zum Heimlichen. Sigmund Freud macht in seinem 1919 geschriebenen Text Das Unheimliche darauf aufmerksam, „dass dies Wort heimlich nicht eindeutig ist, sondern zwei Vorstellungskreisen zugehört, die, ohne gegensätzliche zu sein, einander doch recht fremd sind, dem des Vertrauten, Behaglichen und dem des Versteckten, Verborgengehaltenen“102. Freud weist dabei auch auf die hilfreiche Bemerkung Schellings hin:

100 Pomian, Krzysztof (2001): Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Berlin, S. 44. 101 Pomian 2001, S. 43. 102 Freud, Sigmund (1999): Das Unheimliche. (Erstveröffentlicht in Imago, 1919, Bd. 5, S. 297-324.) Zit. nach: Freud, Sigmund: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Eingeleitet von Peter Gay. Frankfurt am Main, S. 135-172, S. 143.

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„Unheimlich sei alles, was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist.“103

Meine erste durch diesen Satz hervorgerufene Assoziation ging in Richtung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Geschichten und Fabeln, die mit Mischwesen, Hexen und Monstern bevölkert sind. Auch die klassischen Horrorfilme der Universal Pictures wie Frankenstein104 (USA, 1931), The Mummy105 (USA, 1932), in denen Monster hervortreten und das Licht der Welt erblicken, fielen mir ein. Doch der Hinweis passt auch auf kulturhistorische Ausstellungen. Diese sind voller Dinge und Bilder, die oft gerade deshalb ausgestellt werden, weil sie jenseits der Ausstellung unzugänglich und daher unsichtbar sind, weil sie im Bauch irgendeines Museums schliefen oder in der Villa eines steinreichen, von der Welt abgewandten Milliardärs hingen. Nun präsentieren sie sich im glänzenden Licht einer öffentlichen Ausstellung, entdeckt von einem Kurator, der die Rolle eines Detektivs eingenommen hat. Gehen wir möglicherweise in Ausstellungen, weil wir Dinge sehen wollen, die gerade aus ihrem Versteck „befreit“ worden sind? Genießen wir an Ausstellungen das Unheimliche dieses Spiels? Generieren ehemals versteckte, nun ins Licht gestellte Dinge öffentliches Interesse? Anhand von drei Beispielen – teilweise stammen sie aus meinem eigenen Erfahrungsbereich – möchte ich den Antworten auf diese Fragen näher kommen. Mein erster Auftrag für das Jüdische Museum Wien im Jahr 1994 bestand darin, eine Ausstellung mit frühen Gemälden von Marc Chagall aus russischem Besitz, darunter auch die riesigen Wandgemälde für das Moskauer Jüdische Theater, für das Haus zu adaptieren.106 Die Ausstellung wurde aus drei Gründen sehr gut besucht. Erstens zählte Marc Chagall in den vorangegangenen Jahrzehnten zu den zugkräftigsten Künstlern, zweitens hatte es vor 1994 keine größere Chagall-Ausstellung in Wien gegeben107 und drittens waren die in der Ausstellung gezeigten Bilder in der Sowjetunion jahrzehntelang „unerwünscht“ gewesen. Bis zur Perestrojka blieben sie in den Depots der Museen und in den Wohnungen der privaten Leihgeber versteckt. Eine Zeitung brachte das Interesse an den versteckten, weggesperrten Bildern mit dem

103 Zit. nach Freud 1999, S. 143. 104 Frankenstein, Regie: James Whale, mit Colin Clive, Mae Clarke und Boris Karloff, Universal Pictures, 1931. 105 The Mummy, Regie: Karl Freund, mit Boris Karloff, Universal Pictures, 1932. 106 Chagall. Bilder–Träume–Theater 1908-1920. Jüdisches Museum Wien, 10.03. – 12.06. 1994. 107 Vgl. Natter, G. Tobias (1994): Chagall und Wien. Stationen eines Versäumnisses. In: Jüdischen Museum Wien (Hg.): Chagall. Bilder–Träume–Theater 19081920. Wien, S. 74-88.

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Titel „Die Bilder, die aus der Kälte kamen“108 auf einen boulvardesken Punkt. In den darauffolgenden Jahren versuchte ich für das Jüdisches Museum Wien, das erst am Anfang der 1990er Jahre gegründet worden war, ein Archiv aufzubauen. Ich wurde zur ersten Person, die die zahllosen Dokumente, Fotografien, Grafiken oder Architekturzeichnungen systematisch durchforstete, die sich aus Überbleibseln des ersten Wiener Jüdischen Museums (1895-1938), aus dem Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde vor 1945 und aus weiteren, zum damaligen Zeitpunkt noch nicht übersehbaren Quellen zusammensetzte. Die aus dieser Aufbauarbeit resultierende Ausstellung Papier ist doch weiß?109 wurde zur Veröffentlichung von verschütteten und verdrängten Dingen, die sowohl von der einst reichen und vielschichtigen Geschichte der Wiener Juden – wir konnten beispielsweise Sigmund Freud als Stifter des alten Jüdischen Museums identifizieren110 – als auch von der katastrophalen Zerstörung, die daraufhin in Wien verdrängt wurde, erzählte. So fanden wir Fotos und Tagebücher von den 1924 in Wien geborenen Zwillingen Kurt und Ilse Mezei, die den Holocaust in Wien bis in das Jahr 1945 hinein überlebt hatten und dann doch noch wenige Tage vor Kriegsende ermordet wurden.111 Oder die 1943 eilig mit Bleistift geschriebene Nachricht auf der Rückseite einer Visitkarte des ehemaligen österreichischen Offiziers Hermann Hostowsky an seine Tochter Dora: „Liebe Dora! Komme sofort! Wir wurden abgeholt! Papa“.112 Auch auf diese Karte passt Schellings Hinweis, dass alles unheimlich sei, was im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist. Jeder Besucher und jede Besucherin konnte dieses jahrzehntelang verschollene, verdrängte

108 Der volle Titel und Untertitel lautete: Eine Kunst-Sensation im Jüdischen Museum: Die Bilder, die aus der Kälte kamen. In Österreich waren sie noch nie zu sehen – die Bilder aus dem „Russischen Frühwerk“ Marc Chagalls. Jetzt werden sie in Wien ausgestellt. In: Unser Wien, 4/1994. 109 Papier ist doch weiß? Eine Spurensuche im Archiv des Jüdischen Museums. Jüdisches Museum Wien. 30.01.- 22.03.1998. 110 Freud hatte dem Museum 1927 ein Porträt von sich selbst und ein Porträt seines Schwiegervaters, dem Rabbiner Isaak Bernays (1792-1849) geschenkt. Beide Objekte waren durch die Beschlagnahmung der Nazis 1938 bei der Rekonstruktion des Archivs nicht mehr auffindbar. 111 Ilse Mezei kam am 12. März 1945 bei einem Fliegerangriff, bei dem ihr als Jüdin der Eintritt in den Luftschutzkeller verwehrt blieb, ums Leben. Kurt Mezei wurde am 12. April 1945 bei einer Razzia gemeinsam mit anderen Juden im 2. Wiener Gemeindebezirk aus einem Haus in der Förstergasse in einen Bombentrichter gejagt und dort erschossen. Siehe: Hanak, Werner (Hg.) (1998): Papier ist doch weiß? Eine Spurensuche im Archiv des Jüdischen Museums Wien. Wien, S. 130ff. 112 Hanak (Hg.) 1998, S. 138.

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Abbildung 24: Nachricht von Hermann Hostowsky über seine eigene Deportation an seine Tochter Dora. Wien 1943. Jüdisches Museums Wien.

Stück Papier selbst entdecken, konnte die über die Jahre in keiner Weise eingebüßte Dringlichkeit der Botschaft spüren, auf die zu reagieren aber für niemanden mehr möglich war. Das Wort „unheimlich“ passt auch auf die Veröffentlichung jener weggesperrten bzw. verheimlichten Bilder, die in der Ausstellung Inconvenient Evidence: Iraqi Prison Photographs from Abu Ghraib im New Yorker International Center for Photography (ICP) im September 2004 ausgestellt wurden. Die Fotos zeigten irakische Gefangene, die von US-Truppen misshandelt und gefoltert wurden, wobei es sich bei Fotografen und Folterern um dieselbe Personengruppe handelte. Die amerikanischen Gefängniswärter hatten sie nicht nur als sadistische Trophäenbildnisse, sondern auch als Einschüchterungsmittel für neu angekommene Gefangene hergestellt. Die Ausstellung im ICP in New York war ein Glied in der Kette der Veröffentlichungen, die der Pressetext der Ausstellung auflistet und die das Unheimliche, das durch die Veröffentlichung von Verheimlichtem entsteht, illustriert: „First revealed on CBS’s 60 Minutes II on April 29, 2004, the photographs quickly began to proliferate on a number of Internet sites, and were subsequently published in the May 5, 2004 issue of The New Yorker with Seymour M. Hersh’s article entitled ‚Torture at Abu Ghraib.‘ From the covers of weekly news magazines to the front pages of national and locals newspapers, the images began to invade the American consciousness.“113

113 Inconvenient Evidence: Iraqi Prison Photographs from Abu Ghraib. 17.09.28.11.2004. Pressetext des International Centers for Photography, New York City. http://museum.icp.org/museum/exhibitions/abu_ghraib/; Zugriff: 02.08.2008.

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Das Monster und die Show Was trägt nun die Erkenntnis vom unheimlichen Element, das den Dingen in einer Ausstellung und damit den Ausstellungen selbst innewohnt, zu einer Dramaturgie der Ausstellung bei? Wie viele andere Autoren veranlasst die Arbeit mit Freuds Texten auch mich, aus meiner Kindheit zu erzählen: Als ich etwa zehn Jahre alt war, verbrachte ich ein Wochenende bei einer Tante, da meine Eltern verreist waren. Sie ging mit mir ins Haus der Natur, ein kleines, aber sehr aktives Museum für Naturgeschichte in Salzburg. Wie in anderen Museen dieser Art gab es dort riesige Bergkristalle, einen sogenannten gläsernen Menschen und Dioramen, das heißt landschaftliche Szenerien, in denen ausgestopfte Tiere und Menschen aus Wachs oder Kunststoff die Hauptrolle spielten. Und dann war da noch ein Raum, der durch einen Vorhang vom Rest der Schauräume getrennt bzw. versteckt wurde. In diesem Raum waren Gläser aufgestellt, in denen missgebildete menschliche Föten, sogenannte „Missgeburten“, in Flüssigkeit präpariert und präsentiert wurden. Diese Missgeburten waren die „Stars“ zahlreicher schauriger Erzählungen gewesen, in denen jene Kinder, die sie schon gesehen hatten, den Inhalt der Gläser den noch nicht eingeweihten Kindern ausmalend vermittelten. Ich habe die Begegnung mit den „Missgeburten“ beim Besuch mit meiner Tante am Beginn der 1980er Jahre lange vergessen. Erst als ich 2004 am New Yorker Bard Graduate Center mit meinen StudentInnen im Seminar über loaded objects sprach, fiel mir die Geschichte wieder ein und ich begann zu recherchieren, ob es die „Missgeburten“ tatsächlich in der Form, wie ich sie erinnerte, gegeben hatte bzw. was mit ihnen in der Zwischenzeit passiert war. Via Internet stellte ich fest, dass die Sammlung der „Missgeburten“ noch bis 1988 in der Schausammlung des Hauses der Natur zu sehen war. Ich fand weiters Presseberichte, dass im Dezember 2003 eine Debatte entbrannt war, ob die „konservierten Präparate von verunstalteten und missgebildeten Kindern“114, die sich inzwischen im Depot des Hauses der Natur befanden, nun beerdigt oder ins Wiener Pathologische Museum gebracht werden sollten. Ebenfalls aus dem Internet erfuhr ich, dass die Präsentation der „Missgeburten“ von Eduard Paul Tratz (1888-1977) stammte, der das Museum 1924 gegründet und bis knapp vor seinem Tod 1976, also mehr als 50 Jahre geleitet hatte. 1938 war das Haus der Natur unter seiner Führung der von Heinrich Himmler gegründeten SS-Stiftung „Forschungsund Lehrgemeinschaft Ahnenerbe“ angegliedert worden. Tratz postulierte daraufhin die „Erb- und Rassenkunde unseres eigenen Geschlechts“115 als

114 Shortnews 01.12.2003, http://www.shortnews.de/star.cfm?id=490257; Zugriff: 02.08.2008. 115 Eduard Paul Tratz (1939): Über die Aufgaben der naturwissenschaftlichen Museen im allgemeinen und über Arbeiten im Haus der Natur in Salzburg im be-

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zentrales Anliegen des Museums und gab bei dieser Gelegenheit auch seine Meinung über missgestaltete Kinder kund: „In freier Natur werden solche Krüppel oder Mißgeburten daher rücksichtslos ausgemerzt. Auch viele ursprüngliche Völkerstämme halten an dieser natürlichen Auslese fest. Ja, sie wird sogar vom ungetrübten Instinkt des Naturmenschen eingefügt in die Grundgedanken seiner Stammeskultur. Nur der zivilisierte Mensch hat als Folge seiner naturfremd gewordenen Verweichlichung und anders gearteten Moralvorstellungen den klaren Blick für solche Härte gegen sich selbst eingebüßt. Doch kann ein Volk an Körper und Seele nur dann gesund und kräftig bleiben, wenn es sich auch diesem Naturgesetz wenigstens in bedingtem Maße über Gefühlsregungen hinweg unterstellt.“116

Bei der Übersetzung meiner Gedanken ins Englische begriff ich, dass das Wort „Missgeburt“ im Englischen auch mit monster übersetzt wird, womit ich wieder zu den Monstern zurückgekehrt war, die die unheimlichen Geschichten und die Horrorfilme bevölkern, an die aber auch die Gefolterten mit ihren Kapuzen und Schläuchen im Abu Ghraib Gefängnis erinnern und die mir bei Freuds Bemerkung zum Unheimlichen zuallererst eingefallen waren. Indem er die „Missgeburten“ als Monster im wahrsten Sinne des Worte ausstellte, war der Ahnenerbeforscher Eduard Paul Tratz in der Konzeption seiner „Monster Show“ im Salzburger Haus der Natur sehr konsequent vorgegangen: Denn das Monster, das sich aus dem lateinischen Wort monere, also warnen gebildet hatte, und das wiederum das Wort monstrare, also zeigen mit sich brachte117, ist ein Ding, vor dem gewarnt werden muss. Tratz stellte also diese Monster als vor sich selbst warnende Warnzeichen in der Schausammlung des Hauses der Natur aus und leistete so seinen Beitrag zum „gesunden Volkskörper“ und zur Legitimation der Euthanasie. Am Beginn des Jahres 2008 richtete ich eine Anfrage an das Haus der Natur in Salzburg, um zu erfahren, was in der Zwischenzeit tatsächlich mit der Sammlung der „Missgeburten“ passiert sei. Direktor Eberhard Stüber klärte mich per Email auf, dass die Sammlung noch im Jahr 2003 „zur Gänze dem Pathologisch-anatomischen Bundesmuseum in Wien“ übergeben wurde. Außerdem schrieb er:

sonderen. In: Der Biologe, 8/1939. Zit. nach Fliedl, Gottfried (o. J.): Das Haus der Natur in Salzburg als Institut des SS-Ahnenerbes. In: http://homepage.univie.ac.at/gottfried.fliedl/mouseion/hausdernatur.html; Zugriff: 02.08.2008. 116 Tratz 1939. 117 „Beachte noch das von lat. monstrum abgeleitete Verb lat. monstrare ‚zeigen, weisen, hinweisen, bezeichnen‘ in den Fremdwörtern Monstranz, demonstrieren, Demonstration, demonstrativ, ferner in unserem Lehnwort Muster und dessen Ableitungen.“ (Duden 1989: Das Herkunftswörterbuch, S. 467) Siehe auch: Chambers 2003: Dictionary of Etymology, S. 675)

148 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA „Zu Ihrer Frage darf ich Ihnen mitteilen, dass ich, als ich die Direktion des Hauses der Natur im Jahre 1976 übernommen habe, das kuriose Kabinett mit den Missbildungen gemeinsam mit dem Salzburger Landeskrankenhaus in einen medizinischen Raum umgestaltet habe mit jeweiligen Angaben, wie es in der Embryonalentwicklung des Menschen zu Missbildungen kommen kann (Strahlung, Medikamente, ungesunde Lebensführung während der Schwangerschaft usw.). Dieser Raum war auch dann nur noch für Schülergruppen mit Führung zugänglich, wenn dies der Lehrer ausgesprochen gewünscht hat.“118

Hatte ich mich geirrt? Habe ich den Raum mit den „Missgeburten“, der laut der Aussage des Direktors damals gar nicht mehr frei zugänglich war, nicht um 1979 als Zehnjähriger mit meiner Tante, sondern noch vor 1976, also als maximal Siebenjähriger gesehen? Spukten die „Missgeburten“ 1980 nur mehr in meinem Kopf, nicht mehr tatsächlich vor mir im Museum herum?

Über das Eigenleben der Dinge Noch am selben Wochenende, an dem ich das Haus der Natur besucht hatte, musste ich einen Erlebnisaufsatz für die montägliche Deutschstunde schreiben. Das von der Lehrerin gestellte Thema des Aufsatzes lautete in etwa Eine Geschichte, die noch einmal gut ausgegangen ist. Da die Lehrerin uns ermutigte, Geschichten frei zu erfinden, entschied ich mich für folgenden

118 Email von Eberhard Stüber an mich vom 21.01.2008. Stüber, der auf die Ausstellung der „Missgeburten“ durch Tratz in der Zeit des Nationalsozialismus in dem Email nicht einging, schrieb weiters: „Bei der Neuerrichtung unserer Abteilung ‚Reise durch den menschlichen Körper‘ haben wir schließlich diesen Raum überhaupt geschlossen und die Präparate deponiert. Wie Nachforschungen ergaben, stammen die menschlichen Präparate (Missbildungen und einige Organe) aus einer k.k. anatomischen Sammlung, die von Dr. Matthias Aberle (dem Leiter der medizinisch-chirurgischen Lehranstalt in Salzburg) 1813 begründet wurde. Die Sammlung mit etwa 2.000 Exponaten war im Salzburger Studiengebäude bis 1899 ausgestellt und wurde dann dem Salzburger Museum übergeben, wo die Sammlung auch eine Zeitlang im Erdgeschoss des Schlosses Mirabell ausgestellt war. 1923 wurde ein Teil dieser Sammlung dem neu gegründeten Haus der Natur übergeben bzw. an verschiedene Lehrmittelkabinette, auch der Schulen, verteilt. Ich war eine Zeitlang an der früheren Lehrerbildungsanstalt tätig und kann mich erinnern, dass auch in unserer naturkundlichen Sammlung einige Präparate waren, die wahrscheinlich aus dieser anatomischen Sammlung stammten. Einige Exponate sind auch in den 30er Jahren noch von der damaligen Prosektur des Landeskrankenhauses in das Haus der Natur gekommen. Da wir diese Sammlung im Haus der Natur nicht mehr benötigen, wurde sie zur Gänze dem Pathologisch-anatomischen Bundesmuseum in Wien übergeben.“

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Plot: Ich besuche das Haus der Natur – alleine wohlgemerkt – und übersehe die Schließzeit des Museums. Die Aufseher übersehen wiederum mich und so bleibe ich im Museum eingesperrt zurück. Ich versuche, auf mich aufmerksam zu machen, klopfe an die Scheiben und Türen, aber umsonst, niemand kann mich hören. Mit der hereinbrechenden Nacht wird es auch im Museum dunkel. Die Bergkristalle und die ausgestopften Tiere entwickeln ein Eigenleben. Sie fangen an zu leuchten, nehmen die Formen von Gesichtern und Masken an, bewegen sich. Unheimlich. Bemerkenswert ist, dass dieser fast archaisch anmutende Plot auch andere angeregt hat. Beispielsweise Sascha Hommer und Jan-Frederik Bandel, die 2008 das Cartoon-Buch Im Museum. Die Treppe zum Himmel herausbrachten. Oder Shawn Levy mit seinem Film Night at the Museum (2006), in dem Ben Stiller einen naiven, aber liebenswerten Nachtwächter im New Yorker Museum of Natural History spielt. Auch in seinem Museum erwachen die Saurierskelette, die ausgestopften Tiere und die KunststoffMenschen in den Dioramen Nacht für Nacht zum Leben.

Abbildung 25: „Everything comes to life.“ Das Filmplakat von „Night at the Museum“ (USA 2006, 20th Century Fox).

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Einen Hinweis auf tote, aber animierte Dinge und Lebewesen fand ich in Freuds Schrift Das Unheimliche. Freuds Überlegungen bezogen sich dabei auf einen Gedanken in Ernst Jentschs Artikel Zur Psychologie des Unheimlichen, den dieser bereits 1906, also 15 Jahre zuvor publiziert hatte. Bei Jentsch heißt es: „Unter allen psychischen Unsicherheiten, die zur Entstehungsursache des Gefühls des Unheimlichen werden können, ist es ganz besonders eine, die eine ziemlich regelmässige, kräftige und sehr allgemeine Wirkung zu entfalten im Stande ist, nämlich der Zweifel an der Beseelung eines anscheinend lebendigen Wesens und umgekehrt darüber, ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei, und zwar auch dann, wenn dieser Zweifel sich nur undeutlich im Bewusstsein bemerklich macht. Der Gefühlston hält so lange an, bis diese Zweifel behoben sind und macht dann sehr gewöhnlich einer anderen Gefühlsqualität Platz.“119

„Der Zweifel, [...] ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei“, ist ein Schlüssel zur Betrachtung der toten, aber gleichzeitig animierten Objekte einer Ausstellung, die ihre lebensspendende Ambivalenz aus toter Materie, glänzender Oberfläche und den ihnen innewohnenden versteckten Geschichten gewinnen. Der zweifelnde Gedanke ist aber auch ein Schlüssel zu den sich bewegenden Dingen in der Dunkelheit des geschlossenen Museums, die ich in meinem Schulaufsatz heraufbeschworen hatte und zu denen Ernst Jentsch eine noch weitere, detaillierte Erklärung liefert: „Umgekehrt lässt sich die Wirkung des Unheimlichen leicht erzielen, wenn man in dichterischer oder phantastischer Weise irgend ein lebloses Ding als Theil eines organischen Geschöpfs, besonders auch in anthropomorphistischer Weise umzudeuten unternimmt. So wird in der Dunkelheit ein mit Nägeln beschlagener Dachsparren zum Kiefer eines fabelhaften Thiers, ein einsamer See zu dem gigantischen Auge eines Ungeheuers, der Umriss eines Gewölks oder Schattens zur drohenden Satansfratze.“120

Ich habe diese Kindheitsgeschichte aus dem Naturkundemuseum erzählt, weil ich als Zehnjähriger den Dingen im Museum zutraute, dass ihr nächtliches Leben und Treiben für eine gute und unheimliche Fantasy-Geschichte

119 Jentsch, Ernst (1906): Die Psychologie des Unheimlichen. In: PsychiatrischNeurologische Wochenschrift, Band 8, Nr. 22, 25.09.1906. Halle, S. 197-198. Der zweite Teil des Textes ist in Nr. 23, 01.09.1906, S. 203-205, erschienen. Freud schreibt in seinem Beitrag über das Unheimliche als Forschungsgegenstand: „Von seiten der ärztlich-psychologischen Literatur kenne ich nur die eine, inhaltsreiche, aber nicht erschöpfende Abhandlung von E. Jentsch.“ Die oben zitierte Stelle bezeichnet Freud als „ausgezeichneten Fall“. Ansonsten ist er selten mit Jentsch einer Meinung, verwendet seinen Aufsatz aber als Leitfaden. 120 Jentsch 1906, S. 203f.

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taugen könnte. Knappe drei Jahrzehnte später bin ich durch meine Erfahrung als Ausstellungskurator und durch Krzysztof Pomians Beobachtung, dass Dinge im Museum zwischen der jetzigen und der vergangenen Welt vermitteln, und nicht zuletzt durch Sigmund Freuds und Ernst Jentschs Orientierungshilfe hinsichtlich des Unheimlichen zur Überzeugung gelangt, dass die Dinge im Museum nicht nur ein unheimliches Nachtleben entwickeln können. Tote bzw. leblose Dinge können auch am Tag lebendig erscheinen, sind, wenn wir wollen, beseelt: Nicht nur im Museum, aber insbesondere dort.

Noli me tangere – Mit den Dingen sprechen lernen Kinder unterhalten zu Dingen eine grundsätzlich andere Beziehung als Erwachsene. Ausstellungen demonstrieren diese Differenz eindrucksvoll, da sie sich in ihrer klassischen Form nur für Erwachsene eignen. Die Beziehung zu den Dingen ist im Kindesalter körperlicher, intensiver und experimenteller. Als Kinder haben wir die Dinge mit allen Sinnen getestet, mit unserem Tastsinn, mit unserer Muskelkraft, wir haben sie abgeschleckt und in sie hineingebissen. Nichts davon ist Kindern in einer klassischen Ausstellung erlaubt. Dennoch tragen wir als Erwachsene die Ergebnisse unserer kindlichen Beziehung zu den Dingen noch immer in uns. Denn viel von dem, was heute unser Leben mit den Dingen bestimmt, haben wir bereits in unserer Kindheit geklärt, frei nach der Beobachtung von Ernst Jentsch aus dem Jahr 1906: „[...] kleine Kinder sprechen in allem Ernste mit einem Stuhle, ihrem Löffel, einem alten Fetzen u.s.w. und schlagen voll Zorn auf leblose Dinge ein, um sie zu strafen.“121 Als Erwachsene nehmen wir die Dinge, die wir genauer kennen lernen wollen, in der Regel nicht in den Mund. Wir zerbrechen sie nicht mehr, um ihre Materialbeschaffenheit zu testen, wir treten mit ihnen nicht mehr in denselben intensiven körperlich-sinnlichen Kontakt, denn wir haben die Dingwelt schon in unserer Kindheit gezähmt. Damals haben wir die Dinge mit unseren Empfindungen konfrontiert, die Dinge haben uns mit ihren Eigenschaften und Beschaffenheiten eine Antwort gegeben und diese Antwort haben wir dann in unsere Sprache rückübersetzt. Aus welchem Grund haben wir als Kinder diesen Dialog überhaupt begonnen? Warum haben wir die Sprache der Dinge erlernt, bevor wir uns überhaupt mit der Sprache der Menschen ausdrücken konnten? Weil die Dinge unser Überleben gefährdeten? Sind die Dinge gefährlich? In unserer Kindheit waren sie es tatsächlich. Denn wir Menschen brauchen nach unserer Geburt Jahre, bis wir alleine überlebensfähig sind. Solange wir nur liegen können, werden wir von den Erwachsenen vor allem gegen Kälte und Hunger geschützt. Sobald wir uns aber bewegen und unsere ersten Ausflüge

121 Jentsch 1906, S. 204.

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durch die Wohnung oder ins Freie unternehmen, stoßen wir auf die Dinge des täglichen Lebens. Viele von ihnen tun uns weh oder können uns töten: scharfe Messer, heiße Töpfe, schöne Rosen, schnelle Autos. Die Dinge sind faszinierend und gefährlich zugleich. Indem wir sie mit all unseren Sinnen berühren, schmecken, riechen, biegen, brechen, sie auf ihre Gefahren abschätzen, ihnen Namen geben, gelingt es uns, sie zu zähmen. An der Schwelle zum Erwachsenwerden beginnt dann ein neuer Dialog. Die Dinge, mit denen wir nun Kontakt aufnehmen, sind zwar jenen des Alltags ähnlich, unterscheiden sich jedoch grundlegend: Gemeint sind die Dinge im Museum, in der Ausstellung. Die erste Lektion mit diesen neuen Dingen hatten manche schon in der frühen Kindheit erhalten. Sie lernten, dass sie die Bilder und Dinge nicht berühren sollten, dass sie in der Nähe von den Dingen in der Ausstellung nicht laufen und schreien dürfen. Andernfalls waren die Gesichter der Museumsaufseher streng bzw. geschreckt. Ihre Reaktion erinnerte sie an die ihrer Eltern, wenn sie sich der Glasvitrine des Wohnzimmerschranks näherten, denn auch darin waren die Dinge tabu. Die Aufseher in der Ausstellung aber, und das war neu, waren fremde Menschen. Sie kamen belehrend oder panisch auf die Kinder zu. Auch die Mutter und der Vater, die sonst meist alles im Griff hatten und den Kindern ein adäquates Museumserlebnis gönnten, mussten sich dem Argument des bedingungslosen Schutzes der Objekte ohne Widerspruch fügen. In gewisser Weise durchlaufen die Kinder heute den Prozess der Anpassung des Menschen an das System Museum, den Alexander Klein mit der Verbürgerlichung des Museums im 19. Jahrhundert beschrieben hat, der gleichbedeutend mit Triebkontrolle, Nichtanfassen von Gegenständen, Gedämpftheit, Diskretion etc. ist.122 Bei unseren ersten Museumsbesuchen lernten wir vor allem, dass die Dinge und Bilder, die wir hier vorfanden, unberührbar sind.123 Sie sind heilig, tabu und nichts für Kinder. Hatten wir dies einmal begriffen, blieb uns in diesem frühen Alter nichts anderes übrig, als uns von den Dingen des Museums abzuwenden. „Um Dinge wahrnehmen zu können, müssen wir sie erleben“124, sagten wir mit Maurice MerleauPonty und fast schien es, als erlangten wir durch unseren Rückzug unsere kindliche Würde wieder. Erst als angehende Erwachsenen gelang uns wieder eine Annäherung an die Dinge des Museums. Dabei standen uns zwei Wege offen: Entweder wir erfassten die Dinge (in ihrer Schönheit) sinnlich-optisch und kamen auf den Geschmack des künstlerischen Mehrwertes. Oder wir begriffen diese Dinge,

122 Vgl. Klein 2004, S. 143. 123 Dies gilt natürlich nicht für die eigens für Kinder eingerichteten Museumsräume und ebenso wenig für die speziellen Kinderführungen, wo teilweise auch mit „berührbaren“ Objekten gearbeitet wird. Trotz dieser Errungenschaften bleibt kaum einem Kind, das gemeinsam mit anderen Erwachsenen ohne spezielle Kinderprogramm ein Museum besucht, diese Erfahrung erspart. 124 Meleau-Ponty 1974, S. 376.

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die wir nicht angreifen durften, als Manifestationen einer oder der Geschichte. In letzterem Fall interessierten wir uns für die historische Dimension, die diese Dinge in sich tragen. Wir lernten die in ihnen gespeicherte Tragik und ihre Widersprüche zu schätzen. Erfahrenen Museumsbesuchern ist der folgende Moment sehr vertraut: Ich gehe in einer Ausstellung auf einen anscheinend harmlosen, „normalen“ Gegenstand zu. Innerhalb einer Sekunde aber entpuppt sich das dort liegende, stehende oder hängende Ding als Zeuge bzw. als Symbol einer weltpolitischen oder privaten Tragödie. Wie etwa die im Kapitel Wenn Handschuhe sprechen zitierten Handschuhe des kaiserlich-königlichen Zugführers Julius Brod. Oder ich gehe in ein technisches Museum, um mich über Flugzeuge zu informieren. Im Steven F. Udvar-Hazy Center, einem hangarähnlichen Gebäude, das zum National Air and Space Museum in Washington gehört, finde ich mehrere historische Flugzeugtypen im Original vor. Eines davon ist eine Boing-29 und trägt den Namen Enola Gay. Am 6. August 1945 hat sie die erste Atombombe der Geschichte abgeworfen. Das Flugzeug ändert mit einem Mal seine Aura. Es ist nun nicht mehr nur ein Wunderwerk der Technik und des Designs, wie all die anderen hier ebenfalls ausgestellten Flugzeuge, sondern je nach Sichtweise ein Symbol für eine barbarische militärische Aktion, die mehr als 100.000 Menschen das Leben kostete oder eben ein Symbol für eine notwendige, das Ende des 2. Weltkriegs beschleunigende Tat. Unbestritten ist, dass der Auftrag, der mit dem Flugzeug Enola Gay ausgeführt wurde, die Sicht auf die Welt maßgeblich verändert und das sogenannte Atomzeitalter unwiderruflich eingeläutet hat. Die Enola Gay ist also kein normales Flugzeug, kann nie wieder eines sein. Sie ist, so makaber es in diesem Fall klingen mag, animiert bzw. beseelt. Animiert durch eine Geschichte, die hinter ihrer von den Scheinwerfern des National Air and Space Museum angestrahlten glatten und glänzenden Metallhaut steckt. Hinter diesem strahlenden Schein tut sich eine dunkle, grausame Seite auf, die spürbar, fühlbar, offensichtlich aber dennoch nicht sichtbar ist und über die im Ausstellungsraum in Washington keine Textzeile verloren wird, mit der Begründung, dass das Flugzeug bei seiner früheren Präsentation in den 1990er Jahren nicht nur Gegenstand hitziger Debatten, sondern auch Ziel tätlicher Angriffe geworden ist.125

125 Das Flugzeug erhielt diesen Namen nach der Mutter des Piloten. Seit 2003 ist das gesamte Flugzeug im Steven F. Udvar-Hazy Center zu sehen. Zuvor war sein Rumpf in der Ausstellung The Crossroads: The End of World War II, the Atomic Bomb and the Cold War 1995 ausgestellt, doch die Air Force Association und die American Legion – beiden Interessensverbänden lag der Focus der Ausstellung zu stark auf den Opfern der Bombe und zuwenig auf ihrer Bedeutung für ein schnelles Ende des Krieges – erreichten, dass die Ausstellung Ende Jänner 1995 geschlossen wurde. Der Rumpf verblieb noch bis 1998 im Smithsonian National Air and Space Museum, danach wurde das gesamte Flugzeug restauriert. Seit ihrer vollständigen Aufstellung im Steven F. Udvar-Hazy Cen-

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Die Enola Gay ist ein Paradebeispiel für ein geladenes Objekt. Ihr Doppelleben führt uns zurück zu Walter Benjamins Beobachtung, dass ein Dokument der Kultur auch immer ein Dokument der Barbarei ist. Aber auch zurück zu Jentsch und Freud und dem Zweifel, „ob ein lebloser Gegenstand nicht etwa beseelt sei“. Es ist das Schöne, das Unheimliche, das Abwegige, das Ambivalente, kurz, es ist das Doppelleben der Dinge, das uns ins Museum gehen lässt, das uns einen Weg zurück zu den unberührbaren Dingen, die uns als Kinder so kalt zurückgewiesen haben, finden lässt. Wenn wir uns für die Dinge hinter den Glasvitrinen und die Bilder hinter den Alarmschranken zu interessieren begonnen haben und ihre Unberührbarkeit akzeptieren, haben wir die Sandkiste und das Kinderspielzimmer mit den bunten Spielsachen endgültig hinter uns gelassen und gegen die Ausstellung, diesen Ort des distanzierten Begreifens, einen der beliebtesten Spielplätze für Erwachsene, eingetauscht.

Die condition humaine und der Dialog der Generationen Welche Motivation steht nun hinter unserem Besuch in der Ausstellung? Was interessiert uns am Doppelleben der Dinge? Warum gehen wir beispielweise in eine Ausstellung mit dem Titel Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele126, was suchen wir im Musée du Quai Branly, dem 2006 in Paris eröffneten ethnografischen Museum? Die Dinge, die wir in historischen, archäologischen, ethnographischen und auch vielen Kunstmuseen und -ausstellungen vorfinden, sind, menschheitsgeschichtlich gesehen, die Dinge unserer Vorfahren. Während sich noch ein Teil der heute lebenden Bevölkerung an die Nachrichten vom todbringenden Flug der Enola Gay erinnern kann, gibt es keine Zeitgenossen mehr, die uns ihre Eindrücke von der Revolution des Jahres 1848 erzählen könnten. Da wir aber in Ausstellungen mit den Dingen im übertragenen Sinn sprechen, kann die Rezeption einer historischen Ausstellung dem Versuch gleichkommen, mit den Menschen, die mit den Dingen in Zusammenhang stehen oder standen, zu kommunizieren: mit den Künstlern, die die Werke geschaffen haben, mit den Menschen, die die Dinge benützt haben,

ter begleitet die Enola Gay – wie alle anderen Flugzeuge – nur noch ein Text mit technischen Daten. Zudem ist das Flugzeug besser geschützt als in den 1990er Jahren. Neben anderen Webpages berichtet im Internet auch die Homepage des National Air and Space Museum unter dem Titel Enola Gay – Former Exhibitions – National Air and Space Museum über die Ausstellung im Jahr 1995. Dort finden sich auch die ehemaligen Ausstellungstexte. Vgl.: http://www.nasm.si.edu/exhibitions/gal103/gal103_former.html; Zugriff: 02.08.2008. 126 Diese Wiener Festwochenausstellung, kuratiert von Cathrin Pichler, fand vom 26.04.-06.08.1989 im Messepalast, dem heutigen Museumsquartier statt.

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mit denen, die sie besessen, geliebt, verabscheut haben. Das gilt für ein Kunstwerk von Giuseppe Arcimboldo oder Frida Kahlo genauso wie für die Totenmaske von Tut Anch Amun oder den Mercedes von Konrad Adenauer. „The exhibition is actually the scene where people long ago and in another society made or used the objects which are now exhibited. These people can be considered as the true actors. But as living beings they are now absent from the scene. They are either dead or in any case not in the museum.“127

Wenn wir also einen Dialog mit den Dingen führen, die den Menschen in früherer Zeit gehört haben, von ihnen gebraucht oder verehrt wurden, so steigen wir in gewisser Weise in einen Dialog der Generationen ein. „An exponierter Stelle wachsen die Gegenstände über sich selbst hinaus: Sie können die Wahrheit versunkener oder noch gegenwärtiger Lebenswelten, das Jenseits, das räumlich weit Entfernte, das historisch Vergangene, aber auch die Gültigkeit von Naturgesetzen verkörpern. Museale Bedeutungsträger führen uns das vor Augen, was wir nie und nimmer haben können. Sie verweisen auf eine Fundamentalbestimmung unserer Existenz, nämlich auf unsere Endlichkeit.“128

Ist die Ausstellung ein Ort, an dem wir uns mehr als an anderen Orten der Tatsache bewusst werden, dass unser Leben endlich ist? Und dass aus diesem Bewusstwerden folgt, dass wir, insbesondere in Anbetracht der musealen Zeitrechnung, die nicht in Jahren, sondern in halben Jahrhunderten zählt, schon bald tot sein werden? Sind Museen säkularisierte Visualisierungen des Spruches „Was ihr seid, das waren wir, was wir sind, das werdet ihr“, dem man oft in Beinhäusern begegnen kann?129 Das Erkennen der condition humaine im Rahmen einer Ausstellung ist von der Form her auch ein Wiedererkennen im aristotelischen Sinn. Aristoteles hat die Wiedererkennung neben der Peripetie, dem Umschlag von Glück ins Unglück, und dem schweren Leid als eines der stärksten dramatischen Mittel identifiziert. Im 11. Kapitel seiner Poetik schreibt er: „Die Wiedererkennung ist, wie schon die Bezeichnung andeutet, ein Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis, mit der Folge, dass Freundschaft oder Feindschaft eintritt, je nachdem die Beteiligten zu Glück oder Unglück bestimmt sind. Am besten ist die Wiedererkennung, wenn sie zugleich mit der Peripetie eintritt, wie es bei der im

127 Maure 1995, S. 162. 128 Klein 2004, S. 34. 129 Siehe beispielsweise die Kapuzinergruft in Brünn, Tschechien, oder das Gebeinhaus in Naters im Kanton Wallis in der Schweiz. Danke für den Hinweis an Natalie Lettner.

156 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA ‚Ödipus‘ der Fall ist. Es gibt auch andere Arten der Wiedererkennung, z.B. von leblosen Gegenständen, und zwar von beliebigen.“130

Die Wiedererkennung in der Ausstellung bezieht sich nicht nur auf leblose Gegenstände. Sie ist auch jener Wiedererkennung, die Aristoteles im Ödipus analysiert, ähnlich, denn sie kann Konsequenzen für unser Leben haben: Indem wir das Leben unserer Vorfahren durch ihre übriggebliebenen Bildnisse und Dinge wiedererkennen, erkennen wir ihre Stärke und Leibhaftigkeit. Das kann angenehm, aber auch unheimlich sein, da wir sie als vergangen und begraben imaginierten. Wir erkennen darüber hinaus auch die Ausweglosigkeit, mit der die Vorfahren trotz ihrer einst vor Kraft strotzenden Lebendigkeit unweigerlich dem Tod entgegengeschritten sind. Und wir erkennen in einem dritten Schritt auch unsere eigene Vergänglichkeit und Ausweglosigkeit inmitten der Gegenstände, die zu zahllosen mementi mori geworden sind, wieder. So antiquiert und unpassend die aristotelische Formel vom Jammern und Schaudern heute klingen mag, und so sehr wir in den bürgerlich-heiligen Hallen des Museums gewohnt sind, diese Affekte nicht aufkommen zu lassen, so sehr können sie immer wieder Teil eines Museums- und Ausstellungsbesuchs sein, dem in diesem Sinne folglich auch eine kathartische Funktion zukommt: „To one contemporary theorist, they [exhibitions] are ‚narratives which use art objects as elements in institutionalized stories that are promoted to an audience‘; to another, ‚they are modern ritual settings in which visitors enact complex and often deep psychic dramas about identity, dramas that the museum’s stated, consciously intended programs do not and cannot acknowledge‘.“131

Exkurs: Fremde Verwandte? Reliquien, Ikonen und Ausstellungsexponate Es gibt Gegenstände, die mit den in Ausstellungen gezeigten Dingen Parallelen aufweisen, wenn es um die Beschreibung ihrer formalen Phänomenologie und Charakteristik geht: Reliquien und Ikonen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass die Ähnlichkeit nicht in der Bedeutung, die sie für die Gläubi-

130 Aristoteles 1982, 11. Kapitel, S. 35. 131 Pascoe 1997, S. 209. Der erste von Pascoe präsentierte Gedanke stammt von Bruce W. Fergurson, der zweite von Carol Duncan. Siehe: Ferguson, Bruce W. (2002): Exhibition Rhetorics. Material Speech and Utter Sense. In: Greenberg/Ferguson/Nairne (Hg.), S. 175. Sowie: Duncan, Carol (1993): The Aesthetics of Power. Essays in Critical Art History. Cambridge, S. 192.

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gen des Mittelalters bis hinauf in die Gegenreformation132 hatten bzw. für heutige Museumsbesucher heute haben, liegt. Vielmehr sind es Parallelen formaler Natur. Die erste Parallele betrifft den Zustand des „Übriggebliebenen“. Reliquien sind im wörtlichen Sinne Überbleibsel von Heiligen, zumeist sind es Körperteile wie Knochen oder Folterwerkzeuge, die mit dem Tode Christi in Zusammenhang stehen, beispielsweise Kreuznägel. Es kann sich bei Reli-

Abbildung 26: Extravagantes „Vitrinendesign“ aus der Gegenreformation: Reliquiar für einen Kreuznagel. Augsburg, Mitte 17. Jahrhundert. Geistliche Schatzkammer, Kunsthistorisches Museum Wien.

132 Im Volksglauben hielt sich der Reliquienkult noch länger, bisweilen bis heute. Josef Haydn vererbte beispielsweise sowohl seiner Nichte als auch seiner Köchin jeweils ein Stück vom Heiligen Kreuz. Beide Kreuzpartikeln hatten sich schon in den Zimmern der beiden Frauen in Haydns Wiener Wohnhaus befunden. (Siehe Joseph Haydn, Testament vom 07.02.1809. Fasz. 1, Testament 402/1809. Wiener Stadt- und Landesarchiv).

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Abbildung 27: Die Heilige Lanze, 8. Jahrhundert mit Hinzufügungen aus dem 11. und 14. Jahrhundert. Mit dem eingearbeiteten Kreuznagel wurde die zu den Insignien des Heiligen Römischen Reiches gehörende Lanze selbst zum Reliquiar. Weltliche Schatzkammer, Kunsthistorisches Museums Wien.

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quien aber auch um einen persönlich besessenen Gegenstand eines Heiligen handeln. Hier tut sich die erste Ähnlichkeit auf: Auch kulturhistorische Museen sind voller Gegenstände, die sich einst im Besitz von mehr oder weniger berühmten Menschen befanden und von diesen „übriggeblieben“ sind. Im Unterschied zu diesen Memorabilien erinnern oder repräsentieren die Reliquien (und Ikonen) jedoch die Heiligen nicht nur, sie sind in ihnen, sind sie selbst, von ihnen werden Wunder erwartet. Dennoch können die Eigenschaften von Memorabilien, die an berühmte Menschen erinnern, weit über jene eines Erinnerungsobjektes hinausgehen. Sie können magische Qualitäten annehmen, Objekte der Sehnsucht bzw. Fetische werden. Nicht zufällig spricht man ab dem bürgerlichen 19. Jahrhundert auch von Künstlerreliquien133 oder werden Totenmasken von Künstlern und berühmten Mitbürgern, zu einem Sammelziel des öffentlichen und privaten Interesses134. Eine weitere Parallele zwischen Reliquien und Ausstellungsobjekten bzw. zwischen Ausstellungsbildern und Ikonen betrifft die „Handlungsfähigkeit“ von Dingen. Folgende Beobachtung zu den Ikonen von Hans Belting hilft, das Gemeinsame und das Trennende zu distinguieren. „Authentische Bilder schienen zum Handeln befähigt, also Dynamis, übernatürliche Wirkkraft, zu besitzen. [...] Eine [...] Marienikone, die später nach S. Sisto kam, zwang den Papst zu öffentlicher Buße, weil er sie widerrechtlich in seine Residenz im Lateran überführen wollte. Sie kehrte bei Nacht und Nebel zu den armen Nonnen zurück, deren einziger Besitz sie war.“135

133 Vgl. Dürhammer, Ilija/Janke, Pia (Hg.) (2002): „Erst wenn einer tot ist, ist er gut“. Künstlerreliquien und Devotionalien. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Palais Harrach, Wien. 134 Vgl. Sylvia Ferino-Pagden (Hg.) (2009): Wir sind Maske. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Kunsthistorischen Museums Wien. Wien und Milano; sowie: Mattl-Wurm, Sylvia: Wahrhaftige Gesichter? Die Totenmaskensammlung des Historischen Museums der Stadt Wien. In: Gerchow, Jan (Hg.) (2001): Ebenbilder. Kopien von Körper-Modellen des Menschen. Katalog zu einer gleichnamigen Ausstellung im Ruhrlandmuseum Essen. Ostfildern-Ruit. 135 Belting 2000, S. 16. Die Mobilität von Ikonen und Heiligenstatuen ist ein häufiger Topos. So erzählt man sich im Salzburger Lungau, dass die Statue des heiligen Leonhard im Jahr 1421 aus der Tamsweger Stadtpfarrkirche mehrere Male hintereinander verschwand und in einem Wacholderstrauch am Schwarzenbergbühel oberhalb der Stadt wieder aufgefunden wurde. Daraufhin wurde sie in die Sakristei gesperrt und nach nochmaligem gelungenen Fluchtversuch in einer Truhe mit drei versiegelten Schlössern gesichert. Als man die Heiligenstatue dann wieder im Busch oberhalb der Stadt fand, beschlossen die Tamsweger 1430, die Wallfahrtskirche von St. Leonhard zu bauen. Vgl. Steiner, Gertraud (1999): Winkelwelt. Sagen aus dem Lungau. Tamsweg, S. 199f.

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Abbildung 28: Blick in einen bürgerlichen Reliquienschrein. Ein Schrank mit Totenmasken im Wien Museum (Beethoven, Grillparzer, Klimt, Kraus etc.). Wien Museum.

Die von Belting für die Ikonen konstatierte Dynamis sowie das „zum Handeln befähigt“ sein, gilt in eingeschränkter Art und Weise auch für Ausstellungsobjekte, deren „Akteurstatus“ im Ausstellungsdrama ich in der bisherigen Arbeit eingehend beleuchtet und beschrieben habe. Doch auch wenn Ausstellungsobjekte zu Recht als „geladene“ Objekte bezeichnet werden können, besitzen sie keine „übernatürliche Wirkkraft“, weshalb moderne Ausstellungsbesucher auch nicht ins Museum gehen, um von Ausstellungsobjekten eine Unterstützung zu erbitten oder sich ein Wunder zu erwarten, wie es Belting für die Marienikone in S. Sisto beschrieb. Das Museum als Tempel der bürgerlichen Kultur entstand vielmehr als Ort, sich der eigenen Geschichte und Kreativität zu vergewissern und sich an dieser zu erbauen. Ein drittes gemeinsames Charakteristikum zwischen Reliquien bzw. Ikonen auf der einen und Ausstellungsobjekten bzw. –bildern auf der anderen Seite liegt in ihrer Präsentationsform, an ihrem ausgestellten „Aggregatszustand“: Auch Reliquien und Ikonen sind ausgestellte Dinge, selbst wenn der Rahmen (Kirche oder Privatraum) und der Hauptzweck (Anbetung, Bitte um Unterstützung etc.) ihrer Ausstellung ein anderer ist als von Dingen oder Kunstwerken in historischen, kultur- oder kunsthistorischen Ausstellungen. So sind sich auch die Hilfsmittel der Präsentation in struktureller Hinsicht nicht unähnlich: Kostbare bzw. einbruchssichere Vitrinen, die einerseits den hohen Wert des darin ausgestellten Objektes anzeigen und andererseits für eine sichere Distanz zwischen Mensch und Ding sorgen sol-

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len, finden sich sowohl bei Reliquien, Ikonen136 als auch Objekten in modernen kultur- und kunsthistorischen Ausstellungen. Die Bewusstseinslagen der heutigen MuseumsbesucherInnen unterscheiden sich von jenen der Gläubigen des Mittelalters und auch jenen der frühen Neuzeit und der Gegenreformation. Die Erkenntnis der Parallelität zwischen Reliquien bzw. Ikonen und Dingen in heutigen Ausstellungen und Museen hinsichtlich ihres „Übrigseins“, „Ausgestelltseins“ und Daseins als geladene Objekte legt jedoch eine longue-durée-Verbindung in formaler Hinsicht zwischen der Präsentation von Reliquien und Ikonen und Objekten in modernen Ausstellungen nahe, deren Richtigkeit jedoch nur in einer groß angelegten Studie, die auch die Bewusstseinslagen der „Benützer“ in den jeweiligen historischen Kontexten in Betracht zieht, überprüft werden könnte.

5.3 D ER R AUM ,

DIE B ÜHNE UND DIE PERFORMATIVE

S PIRALE

Der Besucher hat Zeit, aber die Ausstellung ist ein Raum.137 In diesem Kapitel geht es um den Raum und um jene, die Ausstellungsräume schaffen und weiterentwickeln: Architekten, Designer sowie Raum- und Objektkünstler.138

136 Wie die Reliquien, die man zu ihrem Schutz in Reliquienschreine legte, wurden die Andachtsbilder entweder in die Hochaltäre eingebaut, die in räumlicher Hinsicht als architektonische Schutzvorrichtungen, zu denen man einen gewissen Abstand zu halten hat, funktionierten, oder sie wurden an den Seitenwänden in die Höhe verbannt. 137 Siehe Kapitel 5.1 Der Besucher und die Handlung. 138 „The true poets of the twentieth century are the designers, the architects and the engineers,“ heißt es im Official Guide Book der New Yorker Weltausstellung von 1939. Im dialektischen Sinn ist dieser Gedanke eine Antwort auf Stalins Definition der Schriftsteller als Ingenieure der menschlichen Seele. Die Designer-Laudatio von der New Yorker Weltausstellung 1939 entstand sieben Jahre nach Stalins Ausspruch. In einer vollständigeren Version lautet das New Yorker Zitat: „The true poets of the twentieth century are the designers, the architects and the engineers, who glimpse some inner vision, create some beautiful figment of the imagination and then translate it into valid actuality for the world to enjoy. Such is the poetic process; […] But instead of some compelling pattern of words you have a great articulation that is far more tangible and immediate; exhibits that embody imaginative ideas, buildings, murals, sculpture and landscapes. […] The designer articulates the vision for you and for me; that is the function and the glory of the poet.“ (The New York World’s Fair 1939. Official Guide Book. New York, S. 19.)

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Ein Grund, warum das Medium Ausstellung schwer zu fassen ist, liegt darin, dass eine Ausstellung heute an vielen, vielleicht sogar an allen Orten entstehen kann. Neben den Ausstellungen in Museen, Kunsthallen und Galerien kennen wir Ausstellungen an außermusealen, öffentlichen wie halböffentlichen Orten: an bedeutungsvollen öffentlichen Plätzen wie dem Wiener Heldenplatz genauso wie in der örtlichen Sparkasse oder im Café am Eck, wo die lokalen Aquarellisten ihre Werke präsentieren. Bedeutet die Tatsache, dass Ausstellungen quasi an allen Orten stattfinden, im Umkehrschluss vielleicht auch, dass es zahlreiche räumliche Typen gibt, die mit der Ausstellung verwandt sind? Ich habe das Theater, insbesondere die Bühne als eine dem Ausstellungsraum vergleichbare Raumkonzeption vorgestellt. Die Ausstellung als inszenierter Raum, so meine These, ist eine Bühne, auf der die Besucher auf die Dinge treffen und mit ihnen in einen inneren Dialog treten. Um die Ausstellung und unser Verhalten als BesucherInnen im Ausstellungsraum zu verstehen, erscheint es deshalb sinnvoll, andere Raumtypen zu analysieren, die analoge Wesensmerkmale mit dem Ausstellungsraum und der Bühne aufweisen. Ich begebe mich dabei vor allem auf die Suche nach Räumen, die erstens eine ähnliche Öffentlichkeit herstellen, beispielsweise ein öffentlicher Stadtplatz oder eine Kirche, die zweitens als Versuchsorte für eine verdichtete Weltlandschaft fungieren wie beispielsweise ein botanischer oder zoologischer Garten oder in denen drittens Dinge wie in einer Ausstellung auf- und ausgestellt werden, ohne dass das Präsentierte jedoch Ausstellung genannt wird wie etwa im Supermarkt oder in der Boutique139. Die Suche nach und in diesen Räumen soll sowohl Aufschluss über die „Herkunft“ des Ausstellungsraumes geben als auch zeigen, welche Raumtypen er in sich in ideeller und ideologischer Hinsicht vereint hat.

Vergleichsraum 1: Der Weg als Ausstellungsort Um diese Räume zu finden, verlasse ich zuallererst den gebauten Raum und gehe ins Freie: in den Raum, der nur vom Himmel begrenzt wird. Eine Ausstellung zu besichtigen heißt für jede Besucherin und jeden Besucher einen Weg zurückzulegen. Dieser Weg kann im räumlich-materiellen Sinn vorgegeben oder wie auf einem großen Stadtplatz frei wählbar sein. Von der Außenwelt sind uns Wege in verschiedenster Form bekannt: Wanderwege, Straßen, Autobahnen, Gehsteige, Fußgängerzonen etc. Besonders die Fußgängerzone bzw. ihre Weiterentwicklung zur Indoor-Shoppingmall mit zahlreichen Geschäftsauslagen und leicht betretbaren Geschäftslokalen, die sich mit ihrer Ware auch auf den Weg hinaus verbreitern, kommt der Struktur

139 Hier gibt es fließende Grenzen: Während die deutsche Sprache für die Präsentation der Waren in einem Supermarkt oder einer Boutique kein ausstellungsrelevantes Verb kennt, verwendet man im Englischen den Begriff display sowohl für das künstlerische als auch das kommerzielle Ausstellen.

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des Ausstellungsraumes sehr nahe. Doch das Ausstellen am Weg ist nichts Neues. Eine grausame Begebenheit, die einen Weg bzw. eine Straße in einen Ausstellungsort verwandelte, lässt sich von der „Königin“ der antiken römischen Straßen, der Via Appia erzählen. Zweck der „Ausstellung“ war es, die alte Ordnung wieder herzustellen. Nachdem Crassus im Jahr 71 v. Chr. die entscheidende Schlacht gegen Spartacus und sein aufständisches Sklavenheer bei Paestum geschlagen und gewonnen hatte, nahm er die über 6000 überlebenden Sklaven gefangen und ließ sie „allesamt entlang der Via Appia zwischen Capua und Rom kreuzigen – ungefähr alle zweihundert Meter stand ein Kreuz.“140 Crassus gab in den darauffolgenden Tagen, Monaten und Jahren keinen Befehl zur Wiederabnahme der Körper von den Kreuzen, sodass die Reisenden an der Via Appia die Leichen und Gerippe noch jahrelang ansehen mussten. Die Kreuzigung war bekanntermaßen eine der bevorzugten römischen Hinrichtungsarten. Sie war eine besonders grausame Tötungsart, weil der Tod nur sehr langsam eintrat. Diese Langsamkeit verlieh der Kreuzigung mehr einen Ausstellungs-, denn einen Aktionscharakter. Dadurch war der Kreuzigung ein lang anhaltendes Abschreckungspotential inhärent, was der Staatsmacht in der Zeit vor den Massenmedien entgegenkam. Die Ausstellung von 6000 gekreuzigten Sklaven auf der Via Appia, deren Überreste dort jahrelang hingen, hatte in diesem Sinn etwas durchaus Massenmediales.141

Vergleichsraum 2: Der öffentliche Platz Im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa wurde die Wiederherstellung der Ordnung durch die Tötung von Straftätern bzw. missliebigen politischen Gegnern vor allem an öffentlichen Plätzen demonstriert. Die Tötungsarten wie das Verbrennen am Scheiterhaufen oder das Köpfen durch die Guillotine hatten im Gegensatz zur Kreuzigung einen stärkeren Aktions- als Ausstellungscharakter und mussten daher, um ihrem Abschreckungs- und Spektakelcharakter gerecht zu werden, von vielen Menschen gleichzeitig gesehen werden, weshalb sich große Plätze gut eigneten. So beispielsweise am Campo de’ Fiori in Rom, wo laufend Exekutionen durch Hängen, Verbrennen oder Vierteilen stattfanden. Im Februar 1600 wurde hier Giordano Bruno

140 Raith, Werner (1981): Spartacus. Wie Sklaven und Unfreie den römischen Bürgern das Fürchten beibrachten. Berlin, S. 128. 141 Dass das Bild von der Kreuzigung von Jesus von Nazareth, die ca. 100 Jahre nach der Massenkreuzigung an der Via Appia in Jerusalem stattfand, von seinen Anhängern in eine Ikone umfunktioniert werden konnte, die bis heute in fast allen christlichen Kirchen ausgestellt bzw. verwendet wird, bestätigt das „Ausstellungs-Potential“ dieser Tötungsform.

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durch die Inquisition bei lebendigem Leib am Scheiterhaufen verbrannt. Für den Platz hatte diese Aktion ein besonderes Nachspiel in ausstellerischer Hinsicht, denn seit 1900 steht auf dem Campo de’ Fiori eine Bronzestatue Giordano Brunos.142 Doch es gab auch Plätze, an denen die toten Körper oder die abgeschlagenen oder abgetrennten Körperteile wie auf der antiken Via Appia länger ausgestellt blieben, um noch mehr Menschen zu erreichen und zu ermahnen. Dass sich städtische Plätze, an denen Menschen ihre Kommunikation und Aktivität ausleben, auch als Ausstellungsorte eignen – nicht nur für tote Körper, sondern auch für bunte Waren und wichtige Mitteilungen – beschreibt Ivo Andrić auf faszinierende Weise in seinem Roman Die Brücke über die Drina. In diesem Buch spielt die Wischegrader Brücke an der bosnisch-serbischen Grenze, die 1571 vom Großwesir Mehmed Pascha erbaut und 1914 von der österreichisch-ungarischen Armee gesprengt wurde, eine titelgebende Hauptrolle. Im Zentrum des Interesses steht dabei das Leben auf der Kapija, also auf dem Mittelstück der Brücke, wo sich die enge Fahrbahn durch zwei Balkone über dem Wasser räumlich verdoppelt und sich so zu einem „Platz“ erweitert: „An der Kapija und um die Kapija erleben sie die ersten Liebesschwärmereien, erste Blicke treffen sich im Vorübergehen, erste Zurufe und erstes Geflüster. Hier spielen sich auch die ersten Handelsgeschäfte ab, die ersten Streitereien und Verabredungen, die ersten Zusammenkünfte und das erste Warten. Hier auf der steinernen Brüstung der Brücke werden die ersten Kirschen und Melonen verkauft, der morgendliche Trank, der Salep, und warme Brötchen. Aber hier versammeln sich auch Bettler, Lahme und Kranke, ebenso wie die Jungen und Gesunden, die sich zeigen oder andere suchen wollen, wie auch alle, die irgend etwas Besonderes an Früchten, Kleidung oder Waffen vorzuweisen haben. Oft setzen sich hier die reifen, angesehenen Männer nieder, um über öffentliche Angelegenheiten und gemeinsame Sorgen zur beraten, aber noch häufiger die jungen Burschen, die nichts als Scherze und Lieder im Kopf haben. Hier werden bei großen Ereignissen und historischen Veränderungen die Bekanntmachungen und Aufrufe angeschlagen (an jener erhöhten Wand, unter der Marmorplatte mit der türkischen Inschrift, über dem Quell), aber hier wurde auch, noch bis 1878, gehängt, oder es wurden die Köpfe aller derer aufgespießt, die aus irgendeinem Grunde hingerichtet wurden; und solcher Hinrichtungen gab es in dieser Stadt an der Grenze, besonders in unruhigen Jahren, viele; zu manchen Zeiten, wie wir noch sehen werden, sogar täglich.“143

142 Die Aufstellung der Skulptur war durch den im späten 19. Jahrhundert gegründeten italienischen Nationalstaat betrieben worden und war der römischkatholischen Kirche von Beginn an ein Dorn im Auge. 143 Andrić, Ivo (2003): Die Brücke über die Drina. Eine Wischegrader Chronik. Roman. Aus dem Serbokroatischen von Ernst E. Jonas. Frankfurt am Main, S. 15f.

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In Andrićs Beschreibung dieses Brückenplatzes, an dem die am Brückenweg forcierte Geschwindigkeit zum Erliegen kommt, auf dem sich das Leben der Stadt Wischegrad kaleidoskopartig konzentriert, lässt sich der Zusammenhang zwischen dem Leben auf einem interessanten öffentlichen Platz, das aus Sprechen, Zeigen, Aussuchen, Anbieten, Konsumieren, Bekanntmachen, Erfahren, Warnen, Unterhalten etc. besteht, und der Welt der Ausstellung plastisch ausmachen, die vieles mit einem Marktplatz und einer Agora, mit den dort angebotenen Waren und politischen Orientierungen gemein hat. Auf den Weg und den Platz werde ich in einem der nächsten Kapitel144 zurückkommen, wenn ich die Orientierung in der Stadt und in der Ausstellung vergleichen werde. Vorerst genügen die grausamen Beispiele und der märchenhafte Text Andrićs als Denkanstoß über die unzähligen Facetten und Dimensionen, die dem Ausstellungsraum in historischer und phänomenologischer Hinsicht eigen sind.

Vergleichsraum 3: Der Tempel Die Welt unter dem freien Himmel ist auch auf zahlreichen flämischen und niederländischen Gemälden der Spätrenaissance und des Barocks zu sehen. Viele dieser Bilder zeigen südliche Landschaften und Genredarstellungen nebst antiken Ruinen. In ihrer Entstehungszeit waren sie Verkaufsschlager, heute sind sie vor allem Zeugnisse des damals wieder entflammten Interesses an der Antike. Auf ihnen sehen wir verfallene Tempel, Ruinen und Säulen. Und das alles in einer Landschaft, die von Hirten und deren Tieren bewohnt und bevölkert wird. Die Bildmitte der von Jan Baptist Weenix 1654 gemalten Ruinenlandschaft mit Taverne bestimmt beispielsweise die Säulenreihe eines Tempels, davor ist eine riesige steinerne Vase auf einem steinernen Sockel zu erkennen. Im linken Vordergrund sitzen von den Betrachtern abgewandt zwei diskutierende Hirten-Philosophen, der rechte zeigt auf die steinernen Zeugnisse der Antike. Die Szene in diesem gut 150 Jahre vor Winckelmanns Geburt aus der niederländischen Ferne erschaffenen Italienbildnis erinnert an die Darstellungen von Connaisseuren in Galerien und Wunderkammern. Genau genommen nimmt dieses Bild der südlichen Landschaft die Diskussion zweier gelehrter Besucher in einem antiken Museum vorweg. Rund 200 Jahre später entstanden in den großen europäischen Metropolen königliche und/oder nationale Museen, die solche Gemälde, aber auch die darauf abgebildeten antiken Gegenstände in sich aufnahmen und ausstellten. Darüber hinaus, und diese Beobachtung ist für meine Überlegungen die wichtigste, sahen diese Museen den auf den Gemälden abgebildeten antiken Tempeln ähnlich. Die Museen mit ihren Säulenreihen und Portikussen

144 Kapitel 5.3, Unterkapitel Die Orientierung, ihr Verlust und nochmals das Unheimliche.

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hatten sich die antiken Tempel aber nicht nur in ihrem Äußeren zum Vorbild genommen145, sie hatten bei ihnen auch im Inneren mit ihren großen Hallen, Korridoren und Rotunden merkliche Anleihen geholt. Den tempelhaften Gestus der Museumsbauten des 19. Jahrhunderts hat Carol Duncan in ihrem Buch Civilizing Rituals: Inside Public Art Museums herausgearbeitet: „Certainly when Munich, Berlin, London, Washington, and other western capitals built museums whose facades looked like Greek or Roman temples, no one mistook them for their ancient prototypes. […] Museums resemble older ritual sites not so much because of their specific architectural references but because they, too, are settings for rituals. […] They are approached by impressive flights of stairs, guarded by pairs of monumental marble lions, entered through grand doorways. […] One is also expected to behave with a certain decorum.“ 146

Wenn wir in die Gegenwart schwenken, werden wir bemerken, dass sich zahlreiche neue Museumsbauten nach wie vor eines sehr tempelhaften Gestus bedienen. Beispiele dafür sind etwa der 2007 durch die Architekten

Abbildung 29: Jan Baptist Weenix: „Ruinenlandschaft mit Taverne“, 1654. Sammlungen des Fürsten von Liechtenstein, Vaduz – Wien.

145 An dieser Stelle sei an La festa dei quadri erinnert, die bereits im 16. Jahrhundert stattfindende jährliche Werkschau der Congregazione Pontifica dei Virtuosi al Pantheon im Säulenportikus des Pantheon. 146 Duncan, Carol (2002): Civilizing Rituals. Inside Public Art Museums. London and New York, S. 9f.

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Abbildung 30: Die Glyptothek in München, errichtet ab 1815. Sie ist das erste von zahlreichen europäischen Museen in der Tradition der antiken Tempelarchitektur. Foto: W. H.-L.

Coop Himmelb(l)au fertiggestellte Erweiterungsbau des Kunstmuseums in Akron, Ohio, dessen architektonische Teile die Namen „Kristall“, „Galeriebox“ und „Dachwolke“ erhielten, der weiße und der schwarze Kubus im Wiener Museumsquartier der Architekten Ortner & Ortner (2001), oder das Kiasma Museum for Contemporary Art in Helsinki von Steven Holl (1998).147 Doch zurück in die Vergangenheit und zu den christlichen Kirchen im speziellen, die mit ihrer ausgeklügelten und beeindruckenden Raumstruktur, mit ihren in Glasvitrinen präsentierten Reliquien und ihrem an den Wänden ausgestellten Bilderreichtum einen wesentlichen Einfluss auf den Ausstellungsraum ausübten. Wie ähnlich die Bilder in beiden Räumen gehängt bzw. platziert wurden und wie sehr die überbordenden Bilderwände jeweils an den anderen Raumtypus erinnern, zeigt beispielsweise ein Vergleich der fast vollständig ausgemalten Sixtinischen Kapelle mit der von David Teniers um 1651 gemalten Darstellung von Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Brüsseler Galerie oder der Vergleich der bereits am Beginn des 14. Jahrhunderts von Giotto mit Fresken ausgestatteten Arenakapelle in Padua mit frühen Darstellungen aus den Salons (siehe Abbildung 10),

147 Vgl. das Kapitel The Museum as Sacred Space, in: Newhouse, Victoria (1998): Towards a New Museum. New York, S. 46-72.

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Abbildung 31: Wand- und flächendeckende Bemalung. Sixtinische Kapelle. Vatikanische Museen.

dem Louvre oder anderen Gemäldegalerien des 19. Jahrhunderts: Die Galerien weisen trotz ihres späteren Entstehungsdatums eine große Ähnlichkeit hinsichtlich der Abdeckung der gesamten verfügbaren Wandfläche mit Bildern auf. Der Vergleich dieser Kirchenfresken und frühen Galeriedarstellungen mit Ansichten heutiger Galerien und Ausstellungshäuser zeigt hingegen frappierende Unterschiede: Die Werke sind weniger geworden, die Wände weißer. Mit der Moderne, in der Ausstellungshäuser wie die Wiener Secession (1898) oder die Londoner Whitechapel Gallery (1901) entstanden sind, setzte ein regelrechtes „Schlägern im Bilderwald“ ein. Das Tempelhafte und das Rituelle des Raumes verschwindet deswegen jedoch aus der Ausstellungsarchitektur nicht. Im Gegenteil, der vollkommen weiße Galerieraum, der sogenannte white cube, der die Ausstellungshäuser und Galerien bis heute dominiert, ist eine kraftvolle Re-Inszenierung des Bildertempels mit modernen Mitteln. Brian O’Doherty, der dem white cube in der Mitte der ansonsten sehr bunten 1970er Jahre ein kritisches Denkmal setzte, verglich seine Aura nicht nur mit jener einer mittelalterlichen Kirche, sondern schrieb ihm sogar eine limboähnliche Ausstrahlung zu. „A gallery is constructed along laws as rigorous as those for building a medieval church. The outside world must not come in, so windows are usually sealed off. Walls are painted white. The ceiling becomes the source of light. […] Art exists in a

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Abbildung 32: David Teniers d. J.: Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Brüsseler Galerie, um 1651. Kunsthistorisches Museum Wien.

kind of eternity of display, and though there is lots of ‚period‘ (late modern), there is no time. This eternity gives the gallery a limbolike status; one has to have died already to be there. Indeed the presence of that odd piece of furniture, your own body, seems superfluous, an intrusion. The space offers the thought that while eyes and minds are welcome, space occupying bodies are not – or are tolerated only as kinesthetic mannequins for further studies.“148

Vergleichsraum 4: Der Konsumtempel Weitere Räume, die einiges sowohl mit dem Tempel als auch mit dem Museum teilen, sind das Einkaufszentrum und die Boutique. Mit den Warenhäusern der Moderne entstand der Konsumtempel. Knapp nach, aber auch parallel zum Neubau vieler Nationalmuseen konstruierte man riesige Gebäude, in denen sich die üppige Vielfalt der neuen industriellen und handgefertigten Warenwelt inszenieren ließ. Und auch diese neuen Riesen zitierten die tempelhaften Architekturversatzstücke der Antike: Das erste große Warenhaus dieser Art, das Bon Marché in Paris, 1852 von Aristide Boucicault gebaut und 1876 von Gustave Eiffel und Louis Charles Boileau erweitert,

148 O’Doherty 1999, S. 15.

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zeigt eine Kuppel, einen Tempelgiebel und Säulenpartien, die von einem monumentalen Bogenportikus getragen werden. „Es war ein Wunderwerk der Architektur: Das untere aus Ziegel und Stein bestehende Geschoss diente als Fundament für einen Aufbau aus Stahl und Glas, der ein prachtvolles Ambiente ermöglichte, lichtdurchflutet und weitläufig. Dieses Bauwerk, zweifellos die erste monumentale Verkörperung bürgerlicher Kultur, der erste Magnet des neuen Verlangens, diente Emile Zola als Vorbild für sein Paradies der Damen.“149

Die großen frühen Warenkaufhäuser der Welt mit ihren neuen Bauten, die Galerie Vittorio Emmanuele II. in Mailand (1877), das Harrods in London (1894), das Gum in Moskau (1893), das Herzmansky in Wien (1898) oder die Galeries Lafayette in Paris (1912) zeigen tatsächlich große Ähnlichkeiten innen wie außen mit den zeitgenössischen Museumsbauten der Zeit. Doch wie stehen Warenhäuser und Museen, Boutiquen und Galerien zueinander, nach welchen Bedürfnissen orientieren sie sich? Und wer erfand das display? Lernten die Ausstellungsmacher von den Kaufleuten oder umgekehrt? „Der Flaneur entdeckte im Kaufhaus wie zuvor in den Passagen ein wahres Universum der Sehnsüchte, der Verlockung und Verführung. Hier stand es ihm frei, herumzubummeln, zu betrachten, anzufassen, nachzugeben, zu kaufen ... oder auch nicht. [...] Die neue Erfahrung beruhte auf dem Verlangen nach Objekten der Massenproduktion und auf der Möglichkeit, dieses Verlangen auch zu befriedigen. Damit unterschied sich das Warenhaus vom Museum – dem es sonst mit seinen großzügigen Räumen, der Gliederung in Abteilungen, der Auslage von Gegenständen so sehr glich –, denn die im Museum zu besichtigenden Exponate waren einzigartig und nicht käuflich. Das heißt, schon von Anfang an stand das Warenhaus in Konkurrenz zum Museum – das möglicherweise sein Vorbild war.“150

Auch in den letzten Jahrzehnten ließ sich eine Tendenz zur Nachahmung der Kunstpräsentation durch die Warenwelt beobachten. Ein Besuch im New Yorker Stadtteil SoHo und ein Hinterfragen seiner heutigen Gestalt und Dichte an zeitgeistigen sowie pompösen Boutiquen und In-Lokalen, die in den USA ihresgleichen suchen, ist aufschlussreich. In den 1960er Jahren präsentierte sich SoHo als heruntergekommener urbaner Industriestandort. Leben kam wieder in manche Häuser, als Künstler in die sich leerenden Manufakturgebäude, die sogenannten Lofts, in das an Downtown grenzende

149 Béret, Chantal (2002): Warenlager, Kathedrale oder Museum? In: Hollein, Max/Grunenberg, Christoph (Hg.): Shopping. 100 Jahre Kunst und Konsum. Ausstellungskatalog. Ostfildern-Ruit, S. 69. 150 Béret 2002, S. 70.

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Abbildung 33: Das Bon Marché eröffnete 1852 und war das erste große Warenhaus seiner Art. RIBA Library Photographs Collection, London.

Gebiet südlich der Houston Street151 zogen. Die Hausbesetzungen durch die Künstler waren in zweifacher Hinsicht illegal. Erstens gehörten ihnen die Häuser nicht, zweitens war das Wohnen in diesem Manufakturbezirk generell verboten. Ein Haus, das einen Prozess ins Rollen brachte, der bis heute in SoHo sichtbar ist, war das Haus Wooster Street 80. 1967 kauften es der Künstler George Maciunas und seine KollegInnen mit Hilfe der J. M. Kaplan Foundation von der Miller Family, die in dem 1895 errichteten Gebäude seit 1931 eine Papierfabrik unterhalten hatte. Mit Maciunas zog die von ihm, Yoko Ono und anderen gegründete Fluxus Group in das Gebäude ein, nannte es Fluxhouse Cooperative II und gestaltete es zu einem Zentrum der New Yorker Avantgarde der 1960er Jahre. Nach einem „avantgardistischen Abwehrkampf“152 wurde das Wohnrecht im Industriebezirk SoHo 1971 legalisiert.

151 Während der Stadtteilname Soho in London angeblich aus einem Ruf der Jäger in diesem Bezirk vor den Stadtmauern Londons entstand, ist das New Yorker SoHo eine geografische Abkürzung und setzt sich aus „South of Houston Street“ zusammen. 152 Vgl. Gray, Christopher (2003): New York Streetscapes. Tales of Manhattan’s Significant Buildings and Landmarks. New York, S. 47.

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Den Künstlern folgten die Galerien, jene white cubes, die Brian O’Doherty 1976 in seinem gleichnamigen Buch für ihre tempelhafte und körperfeindliche Aura kritisierte. Den Galerien wiederum zogen Boutiquen hinterher und verdrängten sowohl Künstler, die sich die Mieten nicht mehr leisten konnten, als auch die Galerien, die sich daraufhin im einst heruntergekommenen Manufakturviertel Chelsea nahe dem Hudson River ansiedelten. Hier spielt sich derzeit dieselbe Verwandlung und gentrification ab, sodass einige Galerien inzwischen bereits den Künstlern in das Brooklyner Williamsburg gefolgt sind, das infolge dieses Prozesses ebenfalls bereits vor Boutiquen und In-Lokalen strotzt. Die Boutiquen und Szenelokale, die in den jeweiligen, von der Kunst einst transformierten Stadtteilen „zurückbleiben“, sind zur Avantgarde des käuflichen und verkaufsfördernden displays geworden. Sie sind Experimentierstationen für das Shopping-Design in größerem und kleinerem Maßstab, sie haben die gestalterischen Anregungen der Avantgarde für die Kunstpräsentation aufgenommen, transformieren sie und geben sie unter gewissen Umständen an diese wieder zurück. Ende des Jahres 2001, knapp nach dem Anschlag am 11. September auf das World Trade Center in Downtown Manhattan, öffnete im benachbarten SoHo ein zeitgeistiger Konsumtempel der monumentalen Art seine Pforten. An der Ecke Broadway und Prince Street hatte der Niederländer Rem Koolhaas, einer der einflussreichsten Architekten seiner Generation, in einem der Manufakturgebäude einen Flagship Store für das Mailänder Modehaus Prada entworfen. Dabei hatte erst 1992, also nur knapp zehn Jahre zuvor, die Solomon R. Guggenheim Foundation ihre Downtown-Dependance in denselben Räumlichkeiten eröffnet153. War die Ausstellungshalle des Guggenheim-Museums dem Ruf der Künstler und der Galerien nach SoHo gefolgt, ermöglichten die finanziellen Probleme der Guggenheim-Stiftung einige Jahre später dem europäischen Modegiganten Prada, die Mega-Galerie Guggenheim am selben Standort zu ersetzen und so in einen höchst prestigeträchtigen Ort „einzuheiraten“. Das Mode-Imperium schloss sich so dem bereits seit zwei Jahrzehnten bewährten SoHo-Weg an, Kunsträume in Moderäume zu verwandeln und sich gleichzeitig die Aura des Ausstellungsortes zu sichern: „Forget the shoes, Prada’s new store stocks ideas [...] Think of this as a museum show on indefinite display“154, schrieb Herbert Muschamp in seiner Architekturkritik zur Eröffnung in der New York Times. Rem Koolhaas’ architektonische Idee äußert sich auf den ersten Blick als Welle. Die wave ist eine Treppe von der Breite des gesamten Geschäftes, die die „BesucherInnen“ gleich nach Betreten des Raums in die Tiefe führt. Auf der Treppe selbst werden meist einige Mannequins, also Schaufensterpuppen platziert, die mehr einer choreografischen Idee als der Präsentation

153 Die Adaption für Guggenheim stammte von Arata Isozaki. 154 Muschamp, Herbert (2001): Forget the Shoes, Prada’s New Store Stocks Ideas. New York Times, 16.12.2001.

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von kaufbaren Gütern dienen. Der hintere Raum jenseits der Welle bietet dann viel Platz für die wenigen ausgestellten Taschen, Schuhe und Kleidungsstücke, die in einfachen, aber edel gestalteten hängenden und liegenden kubischen Elementen präsentiert werden. „Space itself is the ultimate luxury at Prada; space, and the dedication of so little room to stuff you can buy.“155

Vom Tal der Welle, also am untersten Ende der Treppe, führt der Weg in den Bereich der Umkleidekabinen, wo sich auch die Anzahl der Spiegel und der Videoclips zeigenden Großbildschirme erhöht und die geringe Raumhöhe das Gefühl vermittelt, dem „Allerheiligsten“ des Shopping-Tempels nahe gekommen zu sein. Das Allerheiligste entpuppt sich dann als die Umkleidekabine von luxuriöser Größe, die dem Käufer und der Käuferin für die Zeit der Anprobe zum privaten, intimen Raum wird, wo er oder sie sich mit den hier angebotenen Kleidern, Schuhen, Taschen oder sonstigen Accessoires vereinigen kann. Die hier gelisteten Beispiele lassen vermuten, dass im 19. und 20. Jahrhundert vor allem die kommerzielle Welt von der Welt des Museums und der Ausstellung profitierte und sein display – es bezeichnet im Englischen

Abbildung 34: Blick in den Prada Store in SoHo (2004), wo sich zuvor die Guggenheim Downtown-Depandance befunden hatte. Foto W. H.-L.

155 Muschamp 2001.

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sowohl die künstlerische Präsentation als auch jene der kommerziellen Waren – der Welt der Ausstellung nachempfand. Doch ist heute vielmehr von einer kaum rekonstruierbaren Wechselwirkung auszugehen, denn längst sind die Gestalter und Designer, die heute unter dem Begriff der Creative Industry zusammengefasst werden, die „Medien“ bzw. Übermittler der Ideen und ihrer Umsetzung: Viele von ihnen arbeiten in allen Sparten und verpflanzen mit Höchstgeschwindigkeit Ideen quer durch ihre Einsatzgebiete: von der Werbung in die Ausstellung, vom Internet in den Film, vom Shopdesign ins Theater und natürlich umgekehrt.

Vergleichsräume 5: Der Zoo, der Park, die Stadt Der Konsumtempel in seiner alltäglichen Erscheinung ist der Supermarkt. Seine wichtigste Ähnlichkeit mit der Ausstellung besteht in seiner Wegführung. Diese Qualität der Wegführung macht auch noch einen weiteren Ort zu einem Verwandten: den Zoo. Hier können wir von einem Gehege zum nächsten gehen und die darin wohnenden bzw. eingesperrten Tiere bewundern. Bei den lebenden, ausgestellten Tieren handelt es sich ähnlich den ausgestellten Dingen um Akteure mit Geschichten. So kommt denn auch Alanna Heiss auf den Gedanken, die Arbeit an Kunstausstellungen mit der Arbeit im Zoo zu vergleichen: „In some ways the task of the contemporary art organizer is more like working in a zoo than in a museum. The environmental problems constantly change, and one’s responsibility is first to the living exhibits, and secondly to the public. The decisions about how one cares for the exhibits can have an immediate and serious effect on the lives of the animals.“156

Auch das Erfolgsprinzip der Ausstellungsobjekte und Zootiere ist sich in gewisser Weise ähnlich: Je prächtiger der Gegenstand, je drolliger das Aussehen des Tieres und je bewegender ihre Geschichte, desto mehr Aufmerksamkeit wird ihnen zuteil. Prominentestes Beispiel der letzten Jahre in der Welt des europäischen Tiergartens war ein kleiner, von seiner Mutter verstoßener Eisbär im Berliner Zoo, der den Namen Knut erhielt. Insbesondere seine Symbiose mit dem Tierpfleger Thomas Dörflein machten die tägliche Ausstellung von Knut zur Mega-Show. Als der Bär zu groß wurde und seinen Pflegevater beim Spielen immer öfter verletzte, fasste die Süddeutsche Zeitung den Kern dieser Perfomance in einem satirischen Nachruf hintergründig zusammen:

156 Heiss, Allana (1989): The Exhibition as a Zoo. In: Theatergarden bestiarium 1989, S. 7.

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„Am Wochenende gab der Berliner Zoologische Garten bekannt, dass seine beiden größten Stars in Zukunft getrennte Wege gehen. Der Eisbär Knut und der Pfleger Thomas Dörflein wollen nie wieder zusammen auftreten. Ihre Trennung erfolge in gegenseitigem Einvernehmen, hieß es aus dem Management. [...] Obwohl die Show immer nur aus den gleichen Nummern bestand – mal sah man sich die beiden um eine Wolldecke balgen, mal im Sand wälzen, mal gemeinsam schwimmen gehen – wurden sie von der Weltpresse gefeiert.“157

Der Name Tiergarten oder Zoologischer Garten verrät einiges über seine Konzeption und Geschichte. Wie sein Äquivalent, der Botanische Garten, liegen seine Wurzeln in der Begeisterung für die Naturwissenschaft und die antike Mythologie in der Renaissance und im Barock. Der Zoologische und der Botanische Garten sind die ideengeschichtlichen Freiland-Äquivalente zur Kunst- und Wunderkammer. Räumlich und architektonisch ist der Zoologische Garten Teil der neuen Gartenkunst. Dies lässt sich noch heute gut in der Gartenanlage von Schloss Schönbrunn, der kaiserlichen Sommerresidenz in Wien, beobachten: Sie beherbergt den ältesten heute noch existierenden Zoo der Welt, der mit seinen baulichen Elementen durch Sichtachsen voll in den Park integriert ist. Die Garten- und Parkgestaltung der Renaissance und des Barock steht nicht nur mit der Beherrschung und Zivilisierung der Natur, sondern auch mit der Stadtplanung, der städtischen Architektur, der bildenden Kunst und dem Theater in Zusammenhang. Das gemeinsame Schlagwort ist die Perspektive, die durch die Wiederentdeckung der Antike an Bedeutung gewinnt und sowohl die neue Stadt, den neuen Garten, die Bühne und die Verbildlichung all dieser Sujets bestimmt: „While elements of the actual landscape were transported to the stage, the garden itself became the mise en scène for a wide variety of theatrical presentations. […] Its very layout exploited new discoveries in perspective and optics and thereby introduced hitherto unexplored spatial dimensions, while fountains and grottos functioned as scenographic elements.“158

Doch der Renaissance-Garten ist nicht nur ein Theater, er ist auf seine Art auch ein Museum, ein Studienort, eine rhetorische Gedächtnisübung im Sinne von Giulio Camillos Gedächtnistheater159, ein Themenpark im heuti-

157 Jauner, Marcus (2007): Es ist aus. In: Süddeutsche Zeitung, 10.07.2007, S. 10. 158 Miller, Naomi (1989): The Theater in the Garden: From Artifice to Artifact. In: Theatergarden bestiarium 1989, S. 77f. 159 Siehe Kapitel 4.4 Giulio Camillos Gedächtnistheater. Einen Zusammenhang zwischen Camillo und den Gärten der Renaissance hat Dan Graham herausgearbeitet: „Giulio Camillo’s Theatro del Mundo was the ultimate model for the garden as a memory theater. It attempted to create an association between memory and symbolic images.“ (Graham 1989, S. 88.)

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gen Sinn, ein Modell der Welt, und somit ein tatsächliches Vorbild für die Ausstellung: „The first Italian Renaissance gardens, built astride Roman ruins on hillsides, were sculpture gardens, theaters, archaeological museums, alfresco botanical encyclopaedias, educational academies, and amusement parks that drew on special effects to entertain the public. Their meaning was either moral or allegorical, natural or scientific, and political lessons were incorporated into their designs.“160

Abbildung 35: Luciano Laurana zugschrieben: Città ideale, ca. 1470. Mit einer Breite von 240 cm feiert dieses extreme Panorama die Vorteile der perspektivischen Übersicht in der neuen Stadt. Tempera auf Holz. Galleria Nazionale delle Marche, Urbino.

Während Gartenarchitekten bei neuerbauten Schlössern und Palästen die Perspektiven in den neuen Parks relativ leicht umsetzen konnten, blieb die ideale Stadtplanung der Renaissance, vor allem ihre perfekte Ausführung, der virtuellen Welt zahlreicher Gemälde vorbehalten, wo sie als Hintergrund bzw. Szenenbild für biblische Handlungen diente, oder sich, wie beispielsweise im Falle der Panoramaansicht Città ideale von Luciano Laurana um 1470 sogar verselbstständigte. Die städtischen Architekten und Stadtplaner der frühen Renaissance mussten sich hingegen noch mit den Realitäten der mittelalterlichen, gewachsenen Stadt herumschlagen. Achsen wie die 1500 Meter lange Via del Corso, die Papst Paul II. vor 1470, also genau zu der Zeit, als Laurana seine Città ideale malte, durch die römische Innenstadt von Norden nach Süden schlagen ließ, um die Piazza del Popolo mit der Piazza Venezia zu verbinden, sind in der Frührenaissance eine Seltenheit und noch nicht stadtbildprägend.161

160 Graham 1989, S. 87. 161 Papst Paul II. legte diese Achse u.a. auch an, um darauf Pferderennen veranstalten zu können. Das Alter der Palazzi an der Straße bezeugt, dass die Straße jedoch erst in den Jahren nach 1500 bewohnt und populär wurde.

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Städtische Gesamtkunstwerke wie die von den Venezianern gegründete, mit einem radialen Straßennetz und einem völlig überdimensionierten Hauptplatz in ihrer Mitte ausgestattete Festungsstadt Palmanova wurden erst gegen das Ende des 16. Jahrhunderts, also 100 Jahre später, umgesetzt.162 Im Barock rissen dann zahlreiche Fürsten, wie beispielsweise der Salzburger Erzbischof Wolf Dietrich von Raitenau (1559-1617), die mittelalterlichen Stadtstrukturen nieder und verschafften sich durch große Plätze und Achsen in ihrem innersten Machtbereich idealstädtische Übersichten mit ständig wechselnden Perspektiven.

Die Orientierung, ihr Verlust und nochmals das Unheimliche Die Möglichkeit, die Perspektiven wechseln zu können, zusammenhängende Strukturen aus verschiedenen Standpunkten betrachten zu können, um sich des eigenen Standpunkts bewusst zu werden, ist Grundvoraussetzung für die Orientierung im Raum. Die Fähigkeit, sich zu orientieren, ist wiederum eine Grundvoraussetzung für den Menschen, sich in der ungezähmten Wildnis, in der Stadt, im Park, im Zoo oder in der Ausstellung zurechtzufinden. Ein Besucher einer Ausstellung ist genauso wie ein Besucher einer Stadt oder eines Parks auf seine Orientierungsfähigkeiten angewiesen, denn eine Ausstellung ist in räumlicher und narrativer Hinsicht nicht automatisch selbsterklärend. Während uns ein Buch immer gleich wissen lässt, wie viele Seiten wir bis zum Ende des Kapitels, der Geschichte oder des Romans noch vor uns haben, wir die Länge eines Films oder eines Theaterstücks meist aus dem Programmheft oder aus der Zeitung erfahren können, verraten uns Ausstellungen zwar im Normalfall die empfohlene Gehrichtung, nicht immer aber etwas über die Position ihres Endes bzw. des Ausgangs.163 Nur in Ausstellungen, die im Wesentlichen mit einem großen Raum oder einer offenen Raumkonstellation operieren, haben wir das Ende bzw. den Ausgang immer vor Augen. Diese offene und gut überblickbare Raumstruktur liegt auch dem Swimming Pool zugrunde, dessen räumliche Qualitäten und dramaturgische Möglichkeiten ich bereits mit jenem des offenen Ausstellungsraums verglichen habe.164 Im Swimmingpool ist der Ausgang bzw. Ausstieg von jedem Punkt aus sichtbar, was auch eine gewisse Voraussetzung für seine Benützung darstellt. Denn würde sich der Swimming

162 Palmanova liegt nördlich der norditalienischen Küstenstadt Grado und südlich von Udine. Es wurde von den Venezianern 1593 als Bollwerk gegen die Türken gegründet und später als Sicherung gegen die Habsburger verwendet. 163 So gut wie nie bekommen Besucher in Ausstellungen Orientierungspläne in die Hand gedrückt, die ihnen ihre eigene Position vermitteln können. Eine Ausnahme bilden große Museen, in denen es Übersichtspläne für die Stockwerke und permanenten Sammlungs-Schauräume gibt. 164 Siehe Kapitel 5.1, Unterkapitel Das Gleichnis vom Swimming Pool.

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Pool als Labyrinth erweisen, in dem wir nicht mehr wissen, wo sich der Ausstieg befindet, hätte er darüber hinaus noch eine Wassertiefe, in der wir nicht stehen können und würden auch seine Wände bis hinauf zur Decke keine Möglichkeit zum Anhalten bieten, wäre Panik eine schnell eintretende Reaktion der Benützer. Der Ausstellungsraum birgt zwar im Gegensatz zum Swimming Pool keine Ertrinkungsgefahr, kann aber durch Beliebigkeit, Uneingegrenztheit oder ausufernde Unendlichkeit eine Reihe an negativen Gefühlen verursachen, die von plötzlichem Energie- bzw. Blutdruckverlust bis zur Platzangst reichen. Insbesondere in größeren Ausstellungen verlangen wir nach brauchbaren Orientierungshilfen, wofür ich im Folgenden einen Erklärungsversuch liefern möchte. Sigmund Freud ging in seiner berühmten Schrift Das Unheimliche nicht nur auf die unheimlichen Dinge165, sondern auch auf die Orientierung im Raum und auf die Angst vor ihrem Verlust ein. Eines seiner Beispiele bringt uns nochmals in den städtischen Raum zurück: „Als ich einst an einem heißen Sommernachmittag die mir unbekannten, menschenleeren Straßen einer italienischen Kleinstadt durchstreifte, geriet ich in eine Gegend, über deren Charakter ich nicht lange in Zweifel bleiben konnte. Es waren nur geschminkte Frauen an den Fenstern der kleinen Häuser zu sehen, und ich beeilte mich, die enge Straße durch die nächste Einbiegung zu verlassen. Aber nachdem ich eine Weile führerlos herumgewandert war, fand ich mich plötzlich in derselben Straße wieder, in der ich nun Aufsehen zu erregen begann, und meine eilige Entfernung hatte nur die Folge, dass ich auf einem neuen Umwege zum drittenmal dahingeriet. Dann aber erfasste mich ein Gefühl, das ich nur als unheimlich bezeichnen kann, und ich war froh, als ich unter Verzicht auf weitere Entdeckungsreisen auf die kürzlich von mir verlassene Piazza zurückfand.“166

Freud hat hier den Grund für das Unheimliche im Zusammenspiel von Orientierungslosigkeit und Wiederholung ausgemacht. Er vergleicht sein Abenteuer in der italienischen Kleinstadt in weiterer Folge mit einer Wanderung durch einen Hochwald, bei der man, vom Nebel überrascht, dreimal hintereinander an derselben markierten Stelle vorbeikommt. Oder mit der nächtlichen Situation, in der man in einem fremden Zimmer aufwacht, den Lichtschalter sucht und zum „xtenmal mit demselben Möbelstück zusammenstößt“.167 Die Wiederholung führt uns die Ausweglosigkeit der Situation, in der wir uns befinden, vor Augen, wobei das Erkennen von ein und derselben Stelle eine Form der Wiedererkennung im aristotelischen Sinn darstellt. Kevin Lynch, der Entdecker der kognitiven Landkarte, also jener Landkarte, die jeder Mensch sich in seinem Kopf und Körper zur Orientierung

165 Siehe Kapitel 5.2, Unterkapitel Freud, Jentsch und die unheimlichen Dinge. 166 Freud 1999, S. 156. 167 Freud 1999, S. 156f.

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anfertigt, schrieb 1960 in The Image of the City zum Verlust der Orientierung in einer Stadt: „To become completely lost is perhaps a rather rare experience for most people in the modern city. We are supported by the presence of others and by special way-finding devices: maps, street numbers, route signs, bus placards. But let the mishap of disorientation once occur, and the sense of anxiety and even terror that accompanies it reveals to us how closely it is linked to our sense of balance and well-being. The very word ‚lost‘ in our language means much more than simple geographical uncertainty; it carries overtones of utter disaster.“168

In Ausstellungen stellt sich ein „utter desaster“ noch seltener als in einer Stadt ein, es sei denn, es wird auf Konzepte, die Haunted Houses, Geisterbahnen, oder Spiegelkabinetten zugrunde liegen, zurückgegriffen. Das negative Gefühl, das einen in einer Ausstellung beschleichen kann, ist vielmehr das einer „Ausweglosigkeit“. Diese Empfindung, die letztlich eine „zu große Entfernung zum Ausgang“ zum Ausdruck bringt, wird in einer Ausstellung dann erreicht, wenn wir uns als Besucher im Gefüge aus Raum, Objekt und Kontext verlieren, wenn wir einen Ausweg aus der Überforderung, der Unterforderung, der Textlastigkeit, der Überfülle, der Leere oder der Unmöglichkeit suchen, mit dem Ausgestellten in Beziehung zu treten. Wenn wir die Orientierung im Gefüge von Raum, Objekt und Kontext verlieren, können wir mit Platzangst, vor allem aber mit Verweigerung bzw. Langeweile reagieren. Wie bei einer Begegnung mit dem Unheimlichen erhöht sich unsere Gehgeschwindigkeit und wir werden erst wieder bremsen, wenn es der Umgebung wieder gelingt, uns einzuladen, sie zu entziffern. Ausstellungen gehören aus diesem Grund prinzipiell zu Orten mit ausgezeichneten Orientierungssystemen und gutem Orientierungsservice, wobei dieses gerade dann am wirkungsvollsten ist, wenn es die Besucher nicht als solches erkennen und sich dennoch wohlfühlen. Und obwohl wir nur in großen Nationalmuseen mit unzähligen Räumen Orientierungspläne vorfinden, funktioniert die Orientierung im Ausstellungsraum im Regelfall deshalb gut, weil Ausstellungsarchitekten die Erkenntnisse und Tricks der Stadtplanung sowie der rituellen Architektur anwenden können und auf Tiefenwirkung, Achsen, Knotenpunkte, landmarks, mnemonic points oder districts setzen. Christian Mikunda beschreibt einige dieser Ausdrücke anhand einer der berühmtesten straßenbaulichen Achsen Europas: „Was Achsen können? Sie stellen Beziehungen zwischen Orten her. In Paris wurde mit Hilfe der ‚gedachten Linie‘ das hypermoderne La Défense an die glorreiche Vergangenheit des historischen Zentrums angebunden. Der Schnittpunkt mehrerer Achsen ergibt einen Knoten, so wie der Pariser Étoile die sternförmige Kreuzung von

168 Lynch, Kevin (1960): The Image of the City. Cambridge, Mass., and London, S. 4.

180 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA zwölf großen Straßen ist. Das Knotenhafte stellt psychologisch den Eindruck eines Zentrums her, macht einen solchen Ort enorm bedeutsam. Aus diesem Grund postiert man in Knoten auffällige Denkmäler: den Triumphbogen in Paris, die Nelson Säule am Trafalgar Square. In Knoten werden Helden verehrt.“169

Die Ausstellung als Selbsterzählung Helden und andere wichtige Charaktere werden nicht nur in Knotenpunkten von Städten, sondern auch von Ausstellungen, die sich als wesentlich verknapptere und verdichtetere Ereignisräume präsentieren, verehrt. Bedeutende Dinge erhalten in Ausstellungen bedeutende Plätze, was wiederum ihre Bedeutung steigert. Zwei mit Bedeutung aufgeladene Dinge können eine Achse konstruieren und damit im lessingschen Sinn eine erzählerische Sukzessivität suggerieren. Wie in der Stadt, so wird auch in einer Ausstellung alles Raum: der Weg, das Ding, der Text. Als Besucher werden wir zu „Raumwanderern“. Wir kommen nicht in die Ausstellung, um ein Buch zu lesen oder uns ein Stück anzuschauen und wir lassen uns daher keinen fixen Platz zuweisen. Wir sind hergekommen, um uns durch den Raum zu bewegen und uns dabei selbst eine gute Geschichte zu erzählen. Voraussetzung dafür ist, dass das Script, das man uns in diesem Raum zu vollstrecken bzw. zu performen anbietet, gut genug ist bzw. unsere Ansprüche befriedigt: Dass es uns herausfordert, überrascht, neugierig macht, uns von Ding zu Ding, von Raum zu Raum, von Anfang bis Ende – aber auf selbstgewählten Umwegen – zieht. Der Raum, durch den uns das Ausstellungsskript lockt, muss immer neu und spannend sein. Auf den Wegen, die durch ihn führen, müssen wir uns aber – ohne sie vorher zu kennen – sicher und selbstverständlich wie im Schlaf bewegen können, ohne wie in Freuds Beispiel nachts im fremden Zimmer immer wieder mit demselben Möbelstück zusammenzustoßen. Wichtig für das Verstehen von Ausstellungen ist auch der Hinweis, dass die Menschen nicht nur von Städten und anderen topographischen Konstellationen kognitive Landkarten anfertigen, sondern auch beim Rezipieren von fiktiven Erzählungen, Filmen oder Theaterstücken Daten sammeln, um sich die Orientierung innerhalb dieser Narrative zu ermöglichen. Dieser Hinweis stammt ebenfalls von Christian Mikunda, der in einem inspirierenden Gedankenexperiment die kognitiven Landkarten eines James-BondFilms, des Stadtbilds von Paris und des Geländes von Disneyland vergleicht. Hier wird klar, dass hinter der Orientierung im Spielfilm, in der Stadt und in der Märchenwelt einer fiktiven Großausstellung, wie sie Disneyland darstellt, die gleichen Mechanismen stecken. Immer geht es darum, dass wir

169 Mikunda, Christian (2002): Der verbotene Ort oder Die inszenierte Verführung. Unwiderstehliches Marketing durch strategische Dramaturgie. Frankfurt am Main, Wien, S. 47. Kursive Hervorhebungen im Text von Christian Mikunda.

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uns „im Dunklen“ zurecht finden. Dass wir die dramatis personae (Personen oder Gebäude) richtig zuordnen. Dass uns einzelne Großbauwerke wie der Eiffelturm sogar Aufschluss über die Lage von dritten Orten geben, sodass wir diese auf Abkürzungen, die wir noch nie zuvor begangen haben, finden können. Das Beziehungsgeflecht bei James Bond besteht im Wesentlichen aus zwei Gruppen. Die eine ist der britische Geheimdienst, in dessen Zentrum James Bond steht, um ihn herum Sekretärin Miss Moneypenny, Direktorin M und Waffenschmied Q. Die andere Seite beherrscht ein größenwahnsinniger Gangster, der die Welt bedroht und sich mit brutalen Killern umgibt. Den guten und den bösen Helden verbindet die Hauptachse, in deren Mitte das Bond Girl zu finden ist, das im Einflussbereich beider steht. Diese „Achse des Guten und des Bösen“ ist letztlich eine ganz ähnliche Verbindung wie jene, die in Paris den historischen Louvre auf der einen und das moderne Wolkenkratzerviertel La Défense auf der anderen Seite in Beziehung setzt. Wie das Bond Girl und die Kämpfer der jeweiligen Seite, so helfen auch der Arc de Triomphe, der Obelisk und der kleine Triumphbogen nahe am Louvre, die Achse zu beleben und zu begreifen. „Was anderes sind solche Verbindungswege, als Ausdruck von Beziehungen? Die große Achse in den Bond-Filmen ist die Gegnerschaft zwischen 007 und dem Bösewicht, die rituell damit endet, dass das Imperium des ‚Goldfingers vom Dienst‘ in Feuer und Flammen aufgeht. Viele kleine Achsen bilden Beziehungen innerhalb der Gruppen ab, so zwischen Bond und Miss Moneypenny, die 007 in jedem Film neuerlich verehren und sich von ihm aufziehen lassen muß, um dieses Achsenelement

Abbildung 36: Achsen und Beziehungsmuster in James-Bond-Filmen. Aus: Christian Mikunda: „Der Verbotene Ort oder Die inszenierte Verführung“.

182 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA kognitiv herzustellen. Bond und sein Gegenspieler erscheinen nicht zuletzt deshalb als Hauptfiguren, weil sich innerhalb ihrer jeweiligen Gruppe alles um sie dreht.“170

Der kognitiven Landkarte von Paris ist wiederum jener von Disneyland, die man als große Freiluft-Ausstellung bezeichnen kann, ähnlich. Disneyland hat eine Hauptachse und mehrere districts, die mit einzelnen Merkpunkten markiert sind. So entsteht für die Besucher die Herausforderung, alles, was sie erahnen, auch sehen zu wollen. „Orte gewinnen an Attraktivität, wenn man sie kognitiv herstellen kann, sie werden unterhaltsam.“171

Nicht anders, wenn auch im geringeren Maßstab als Disneyland, werden kunst- und kulturhistorische Ausstellungen organisiert. Die Sichtachsen werden von schillernden und prominenten Dingen bzw. Bildern besetzt, die als Magneten die richtige Richtung vorgeben. An Schnittpunkten, die alle passieren, werden Schlüsselobjekte platziert, die für das Verstehen der Geschichte, wie sie die AusstellungsmacherInnen sehen, wichtig sind. Die Tatsache, dass die Gestaltung der verschiedenen Kapitel einer Ausstellung häufig von ihrem Inhalt inspiriert ist, gibt den Besuchern die Gelegenheit, schon bei ihrer ersten Annäherung an das neue Kapitel über die Beschaffenheit des verpackten Inhalts zu rätseln und sich dabei über ihre eigene Scharfsinnigkeit zu freuen. Ihre Taktik ist dabei nicht anders als jene der Spazierenden und Suchenden in der Stadt, die sich ebenfalls mithilfe ihrer kognitiven Landkarten orientieren und vortasten: „Am Stil der Häuser, der Art der Geschäfte und Menschen, dem Licht, dem Geruch erkennt man, in welchem Stadtviertel man sich befindet, ob in Montparnasse oder in Montmartre. Districts sind durch ihr unverwechselbares Flair sichere Bezugspunkte, und sie sagen: Hier ist das zu Hause und dort kannst du jenes erwarten: das Bankenviertel, das Rotlichtviertel usw.“172

In Ausstellungen können sich diese kognitiven Landkarten, die aus der Konstruktion des Ausstellungsraumes und aus der Konstruktion der Erzählung entstehen, merklich oder unmerklich überlappen. Aus diesem Grund funktionieren fast alle biografischen Ausstellungen oder Künstler-Retrospektiven nach demselben chronologischen Schema. Hier fällt die Erzählung in zeitlicher und räumlicher Hinsicht zusammen, wird die zeitliche und räumliche Sukzession eins, was einen besonders „logischen“ Erzählfluss suggeriert, der bisweilen aber auch langweilig erscheinen kann: Der Anfang des Lebens oder des Schaffens wird an den Anfang bzw. den Eingang gerückt, von dem

170 Mikunda 1992, S. 67. 171 Mikunda 1992, S. 67. 172 Mikunda 2002, S. 47.

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man dann das Leben oder Werk einer oder mehrerer Personen bis zu seinem oder ihrem Ende bzw. Ausgang abschreitet.173 Im Gegensatz zur einfachen räumlich-zeitlichen Sukzession können die Dinge in Ausstellungen auch in einer Weise nebeneinander- bzw. hintereinandergelegt werden, dass sich mehrere Verbindungen und Beziehungen sowohl untereinander als auch zu den Besuchern ergeben. Diese meist verdeckten, wie Fallen ausgelegten Verbindungen, die zu entdecken jedem Besucher und jeder Besucherin selbst überlassen bleiben, machen zu einem großen Teil die Qualität einer Ausstellung aus. Während in der Parkgestaltung die sogenannten desire lines174, also jene Wege, die sich durch die oft unberechenbaren Wegbedürfnisse der Besucher (beispielsweise Abkürzungen) im niedergetrampelten Gras manifestieren, ein Problem darstellen, weil sie den Rasen und die Blumenbeete ruinieren, entsteht eine interessante Ausstellung gerade durch das unaufdringliche Suggerieren von desire lines, also verdeckten Achsen, deren Entdeckung die Trophäe eines jeden einzelnen Besuchers bleibt, wobei es egal ist, ob diese Verbindungen innerhalb des Ausstellungstextes und –kontextes bestätigt werden oder nicht. An dieser Stelle, wo es um das Aufdecken von Verbindungen zwischen den Dingen geht, drängt sich die Frage auf, ob es in einer Ausstellungsdramaturgie so etwas wie Suspense im theatralisch-filmischen Sinn geben kann. In Wenn Handschuhe sprechen175 habe ich eine Filmszene skizziert, in der eine Frau in einen Laden geht, mit einem Päckchen unidentifizierbaren Inhalts herauskommt und auf einem Boulevard in Richtung Horizont verschwindet. Ich habe behauptet, dass wir nicht aus unserem Kinosessel aufspringen werden und sofort eine Erklärung nach dem Sinn der Aktion oder dem Inhalt des Päckchens fordern, weil es im Film einen Vertrauensgrundsatz gibt, der uns versichert, dass sich angedeutete unverständliche Aktionen später auflösen werden. Gerade dieser Mechanismus erzeugt Spannung bzw. Suspense. In einer Ausstellung hingegen wollen wir immer alles gleich und jetzt wissen. Wir haben kein Vertrauen, dass Auflösungen später nachgeliefert werden und außerdem stellen die Dinge uns und unser Nichtwissen hier und jetzt in Frage. Auflösungen im Nachhinein sind prinzipiell nur dann möglich, wenn die BesucherInnen gar nicht das Gefühl vermittelt bekommen, dass ihnen eine Information vorenthalten wird. Ein Beispiel: In der Ausstellung quasi una fantasia. Juden und die Musikstadt Wien habe ich versucht, mehrere Verbindungen zwischen Objekten einzubauen, deren Sinn sich für die Besucher

173 Hier wird der Psalm 121 „Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang [...]“, den ich schon im Kapitel 5.1, Unterkapitel Logischer Ablauf zwischen Anfang und Ende zitiert habe, zu einem Gleichnis der biografisch-chronologischen Ausstellungserzählung. 174 Rosenzweig, Roy/Blackmar, Elisabeth (1992): The Park and The People. A History of Central Park. Ithaca, London, S. 5. 175 Siehe Kapitel 3.

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erst im Laufe des Ausstellungsrundganges erhellt. Der Ausstellungsraum hat also durch die autonome Erzählzeit jedes Besuchers nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension bekommen. Im Raum, in dem es um die jüdischen Operettenkünstler, ihre Liebe zu Wien und um den Antisemitismus ging, projizierten wir zahlreiche historische Fotos, auf denen man Operettenkomponisten, -librettisten und Sängerstars in österreichischen Trachten sehen konnte. Im Text konnten die Besucher erfahren, dass es den Juden, also auch den Operettenstars in Österreich nach 1938 von den Nazis verboten wurde, Trachten zu tragen. Im allerletzten Raum dann, in dem es um Positionen nach 1945 ging, bauten wir eine Wiedererkennung ein, die sich für die Besucher als eine Fortsetzung der 1938 begonnenen TrachtenGeschichte entpuppte. Wir zeigten das erste Interview, das Leonard Bernstein im österreichischen Fernsehen anlässlich seines Engagements mit den Wiener Philharmonikern gegeben hat.176 Bei diesem Interview erschien Bernstein, der New Yorker Komponist und Dirigent mit jüdischem Background in einem österreichischen Trachtenanzug. Die beiden Stationen – die jüdischen Operettenkomponisten und das Bernstein Interview – verbanden sich über die österreichischen Trachten zu einem Handlungsstrang.177 Auch wenn wir es gewohnt sind, Ausstellungen als primär räumliche, nicht als zeitliche Konstruktionen zu begreifen, so halte ich fest, dass Ausstellungen zwar nicht in jenem Sinn Suspense aufbauen, wie wir das meist aus Theater oder Film kennen, dass Ausstellungen aber ganz im Sinne des analytischen Dramas, wie beispielsweise beim König Ödipus von Sophokles, Spannungen im Nachhinein spürbar machen können, indem sie sie auflösen. Diese These möchte ich mit einem zweiten Beispiel aus meiner Ausstellungserfahrung erklären. In der Ausstellung Eden. Zion. Utopia. Zur Geschichte der Zukunft im Judentum, die ich 1999 gemeinsam mit Architekt Christian Prasser im Jüdischen Museum Wien gestaltete, positionierten wir in die Mitte der Ausstellung die Skulptur The Bird of Choice des israelischen Bildhauers Avraham Ofek.178 Der hölzerne Bird of Choice befand sich in einem matt, aber grell ausgeleuchteten weißen, mit Styroporchips angefüllten Raum und drehte sich langsam um seine eigene Achse. Die übrigen

176 Ihr Auftritt bitte. Leonard Bernstein im Gespräch mit Heinz Fischer-Karwin, 23.03.1966. ORF Archiv. 177 Während Heinz Fischer-Karwin Bernstein im österreichischen Fernsehen auf den Trachtenanzug nicht ansprach, antwortete dieser einem britischen Journalisten: „Das trage ich als Therapie gegen deutschen Nationalismus.“ (Zit. nach: Botstein/Hanak (Hg.) 2003, S. 168.) 178 Der Bildhauer und Maler Avraham Ofek lebte von 1935 bis 1990. Der Bird of Choice entstand 1980, besteht vor allem aus Holz und zum Teil aus Eisen, misst 80 x 230 x 129 cm und gehört der Ofek-Familie in Jerusalem.

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Abbildungen 37, 38: „The Bird of Choice“ von Avraham Ofek in der Ausstellung „Eden. Zion. Utopia. Zur Geschichte der Zukunft im Judentum“, Jüdisches Museum Wien, 1999. Fotos: Peter Rigaud.

sechs Ausstellungsräume waren um diesen Raum gelagert. Aus fast jedem dieser Räume war der sich drehende Bird of Choice durch eine gazebespannte Fensteröffnung zu sehen. In den Räumen179 tauchte der Vogel immer wieder in einem Fenster auf und forderte die BesucherInnen durch seine bewegte und poetische Erscheinung zu Assoziationen heraus, die unter dem Einfluss der Themen und Objekte des jeweiligen Raum standen, in dem sich die BesucherInnen gerade befanden. Einen Objekttext mit dem Titel The Bird of Choice und den üblichen Hinweisen zum Künstler und der Technik brachten wir erst am Fenster des letzten Raumes, der den Titel Von der Möglichkeit der Wahl – Über die Bewältigung der Zukunft trug, an. Zusätzlich fanden die Besucher hier ein Zitat des Philosophen Abraham Joshua Heschel vor. So gaben wir unser Script zur Einordnung des sich drehenden Vogels erst im letzten Moment der Ausstellung preis, hatten den Besucherinnen und Besuchern eine zeitlich lang hinausgezögerte Interpretationshoheit ermöglicht. Mit dem Zusammentreffen von Objekttext, Objekt und dem Zitat von Heschel „im letzten Moment“ der Ausstellung boten wir dann aber doch noch einen Hinweis auf die vom Künstler und den Ausstellungsmachern intendierte Botschaft und eine mögliche Antwort auf die Frage, wie wir als selbstbestimmte Menschen mit der Tatsache umgehen, dass es ein Morgen und eine Zukunft gibt, die von niemandem außer uns selbst bewältigt werden kann. Hier der Gedanke von Abraham Joshua Heschel:

179 Die Themen der Räume lauteten: Last Exit Eden – Das Wissen um den nächsten Tag; Der Kreislauf des Jahres – Die Orientierung in der Zeit (1); Das Leben und der Tod – Die Orientierung in der Zeit (2); Zwischen Utopia und Makom – Auf der Suche nach dem idealen und dem sicheren Ort; Propheten und andere, die mit der Zukunft in Kontakt stehen; „Die Zeit wird Zukunft“ – Messias und Messianismus; Von der Möglichkeit der Wahl – Über die Bewältigung der Zukunft.

186 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA „Wir mögen zwar frei sein, die Freiheit zu gebrauchen oder zu ignorieren; wir sind aber nicht frei, Freiheit zu haben. Wir sind frei, zwischen Gut und Böse zu wählen; wir sind aber nicht frei von der Wahl. Tatsächlich sind wir zum Wählen gezwungen.“180

Eine Ausstellung konstituiert sich durch Dinge im Raum, die von den Besuchern entdeckt werden. Diese unglaublich einfache und spannende, an eine Schatzsuche erinnernde Grundstruktur ist letztlich dafür verantwortlich, dass Ausstellungen funktionieren: Das Angebot bzw. die Aufgabe, die in den Raum gelegten Objekte zu erkennen und sie auf ihre möglichen Beziehungen untereinander und zu sich selbst hin zu testen, hat ein Medium entstehen lassen, das heute erfolgreicher ist denn je. Woraus aber besteht der Schatz, den wir in einer Ausstellung suchen? Ziehen uns mehr die Dinge selbst an, die auf uns im Ausstellungsraum warten oder unsere Lust, ein Puzzle zusammenzusetzen? Genau genommen scheint es eine Kombination aus beiden Elementen zu sein, denn schon die einzelnen Dinge können in der Ausstellung ein Puzzle für sich darstellen. Über „alte Objekte“ beispielsweise, die wir vor allem in kulturhistorischen Ausstellungen antreffen, schreibt Alexander Klein: „Man braucht nicht Ästhet oder Romantiker zu sein, um das Defekte, vielleicht sogar das Heruntergekommene höher zu schätzen als das Intakte, das der Norm Entsprechende oder das Funktionierende. In der Gewichtung eines jeden Betrachters kann Verfallenes, Kaputtes, Angejahrtes, mit anderen Worten: kann der Rest wichtiger werden als das Ganze, von dem der Rest ein Rest ist, denn nur der Rest, und nicht das scheinbar Vollständige, ermöglicht die Befriedigung des Komplettierens im Geiste.“181

Diese Beobachtung gilt nicht nur für die sogenannten alten Objekte, die bereits selbst ein Fragment ihrer ursprünglichen Form sein können. Sie gilt für jeden Gegenstand, der ja, indem er in die Ausstellung gekommen ist, bereits aus seinem ehemaligen Kontext herausgerissen wurde, und diesen alten Kontext nun als Zeichen bzw. als Fragment im neuen Kontext der Ausstellung repräsentiert. Die Beobachtung gilt auch für die Kunst, insbesondere für die zeitgenössische, in der Objekttexte wie „Ohne Titel“ dominieren, die die BetrachterInnen zur „Komplettierung im Geiste“ durch einen inneren Dialog auffordern. Die Ausstellungsbesucher sind zu diesem Spiel bereit, weil sie auch im alltäglichen Leben Botschaften komplettieren müssen, um sich zurechtzufinden. Dass die Menschen aus diesem „Rätsellösen“ einen

180 Heschel, Abraham Joshua (1989): Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums. Neukirchen-Vluyn, S. 316. Zit. nach: Hanak, Werner (Hg.) (1999): Eden. Zion. Utopia. Zur Geschichte der Zukunft im Judentum. Wien, S. 192. 181 Klein 2004, S. 47.

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Lustgewinn ziehen, benützt auch die Werbung und das Marketing, deren Dramaturgie Christian Mikunda untersucht hat. „Erfolgreich erzählen bedeutet also – nicht alles sagen, nicht alles zeigen. Der Konsument soll die strategischen Lücken ergänzen können. Dafür braucht er natürlich das Script, die Gebrauchsanweisung, mit der er die Leerstellen spielend füllt.“182

Die Scripts, von denen Mikunda spricht, und die er auch als „Brain Scripts“ oder Drehbücher im Kopf bezeichnet, speisen sich meist aus persönlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen, die sich wiederum in alte und neue Mythen eingeschrieben haben. Sie werden vom Besucher, vom Rezipienten, vom Stadtwanderer abgerufen, um sich im Zeichenwald zu orientieren. Die möglichen Scripts werden den AusstellungsbesucherInnen von den Dingen, die durch ihre sinnliche Oberfläche selbst schon ihr eigenes Script anreißen können, oder durch deren Titel, durch ihre Positionierung im Raum oder durch ihre Vernetzung mit anderen Dingen suggestiv übermittelt. Ein Beispiel für ein Kunstwerk, dass sein Script bereits mitliefert, ist die antike Laokoon-Gruppe, die in den Vatikanischen Museen zu bewundern ist und auf die sich Lessing in seinem Laokoon bezieht. Während der Titel Laokoon in diesem Fall einen präzise abrufbaren Mythos bereitstellt, tut der von Lessing geforderte und von ihm in der Laokoon-Skulptur beobachtete „günstige Augenblick“ sein Übriges dazu: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzudenken können. [...] Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlicheren, folglich uninteressanteren Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon tot.“183

Die Zurückhaltung mancher KünstlerInnen oder KuratorInnen, Scriptanleitung zu geben, Dinge selbsterklärend auszustatten, ist daher – ob bewusst oder unbewusst – immer eine dramaturgisch-strategische Entscheidung, da sie die Ausstellungsbesucher in die Gruppe derer, die sich vor zu viel Hermetik abwenden, und jene, die imstande sind, sich ein eigenes Script zurechtzulegen, spaltet. Über den Konsumenten schreibt Mikunda: „Wenn keines für ihn vorgesehen ist, wird er ein beliebiges heranziehen, nur um irgendwie einen Sinn in dem Ganzen zu finden.“184

182 Mikunda 2002, S. 28. Kursive Hervorhebungen im Text vom Autor. 183 Lessing 1990, S. 23. 184 Mikunda 2002, S. 31.

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Hier offenbart sich ein großer Unterschied zwischen der Geschäfts- und der Ausstellungswelt: Mikunda gibt als mögliche Folge für den Konsumenten, der alleine gelassen wird und nun nach einem möglicherweise falschen Skript frei assoziiert, „falsche Fährten, Missverständnisse, Aggressionen“ an. Aggressive Reaktionen werden auch in Ausstellungen provoziert. Dabei werden aber gerade Anleitungsverweigerungen dieser Art durch KünstlerInnen und/oder KuratorInnen immer wieder zur Förderung kreativer Denkund Kommunikationsprozesse bei Besuchern eingesetzt. Denn falsche Fährten zu legen, Missverständnisse und Aggressionen zu produzieren, gehört zu den Strategien moderner Kunst, aber auch moderner Ausstellungsdidaktik: Im Medium Ausstellung, das sich erst durch die Mitarbeit des Besuchers konstituiert, werden eigene Fährten hoch bewertet, selbst wenn sie falsch sind. Daher verzichten Ausstellungen, die die Kunst der Moderne in ihrer jeweiligen Entstehungszeit als zeitgenössische, neue und provokante Kunst ausstellen, häufig auf vermittelnde Scriptanleitungen, die diese falschen Fährten oder Aggressionen „unnötig“ entschärfen würden. An dieser Stelle erinnere ich nochmals an die Ausstellung 100 Objects to Represent the World 185 von Peter Greenaway, bei der ich am Ende des langen gebogenen Stiegenhauses jene zwei nackte junge Menschen in einem Glaskubus entdeckte, deren Präsenz in mir sowohl einen Impuls zum Schauen als auch zum Wegschauen hervorrief und mich und alle anderen Besucher verunsichert nach einem Objekttext an der Wand suchen ließ. Das Script, das uns Greenaway auf einem kleinen versteckten Objekttext anbot und das uns Besuchern ein behagliches Gefühl zurückgab, war, wie auch bei Laokoon, den Lessing beschrieb, ein alter Mythos, der unter seinesgleichen vielleicht heute bekannteste der christlich-jüdischen Welt: Adam und Eva.

Die Ausstellung als Performance „Die seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Künstlern, Kunstkritikern, Kunstwissenschaftlern und Philosophen immer wieder proklamierte bzw. beobachtete Entgrenzung der Künste lässt sich also als performative Wende beschreiben. Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater – alle tendieren dazu, sich in und als Aufführungen zu realisieren. Statt Werke zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind.“186

So fasst Erika Fischer-Lichte die Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen. Die zuvor beschriebene „Eröffnungsszene“ in Peter Greenaways Ausstellung ist dafür ein plastisches Beispiel. Nicht mehr das „von seinen Produzenten wie von seinen Rezipienten losgelöste und unabhängig existie-

185 Vgl. Kapitel 3.2 Die Ausstellung als Drama. 186 Fischer-Lichte 2004, S. 29.

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rende Kunstwerk“ ist bestimmend, sondern das Ereignis, „das durch die Aktion verschiedener Subjekte – der Künstler und der Zuhörer/Zuschauer – gestiftet, in Gang gehalten und beendet wird.“187 Fischer-Lichtes 2004 erschienene Studie gibt mir eine Möglichkeit, bisher im Fluss dieser Arbeit Gedachtes zu rekapitulieren. Das von ihr beschriebene „Ereignis“ – sie exemplifiziert es an Marina Abramovićs legendärer Performance Thomas Lips188 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck im Jahr 1975 – erinnert mich dabei stark an die von mir erarbeitete Definition von der dramatischen Struktur der Ausstellung und dem Kräfteverhältnis zwischen den Ausstellungsbesuchern und den von den Ausstellungsmachern hinterlegten Dingen und Raumstrukturen. Auch in der Ausstellung finde ich agierende Subjekte, die Handlungen stiften, und ich finde insbesondere Besucher-Akteure, die durch ihre Bewegung im Raum die Handlung in Gang setzen und auch selbstständig wieder beenden. Es drängt sich die Frage auf, ob der Besuch einer Ausstellung möglicherweise nichts anderes als ein performatives Ereignis ist? Entweder, so denke ich, ist die Ausstellung in ihrer als Raumkonstruktion auf den Rezipienten wartenden passiven Dimension, in der sie diesen zu einer äußerst aktiven Haltung provoziert, eines jener prototypischen Medien, die das performative Ereignis vorangetrieben bzw. ermöglicht haben. Diese Variante wird von meinen historischen Recherchen, in denen ich das Verhalten der Öffentlichkeit in den Pariser Akademie-Ausstellungen des 18. Jahrhunderts und die performative Lust von Leibniz, Camillo und Quiccheberg, Wissenschaft und Sammlungen in Raum und Zeit zu inszenieren, untersucht habe, gestützt. Oder – und hier schiebe ich eine Selbsthinterfragung als Autor ein – es ver -

187 Fischer-Lichte 2004, S. 29. 188 Fischer-Lichte verwendet den Titel Lips of Thomas für die Performance. Ursula Krinzinger wies mich jedoch darauf hin, dass die Performance damals den Titel Thomas Lips trug. Von der Performance existiert folgendes Script von Marina Abramović: „Performance. Ich esse langsam 1 Kilo Honig mit einem Silberlöffel. Ich trinke langsam 1 Liter Rotwein aus einem Kristallglas. Ich zerbreche das Glas mit der rechten Hand. Ich ritze mit einer Rasierklinge einen fünfzackigen Stern auf meinen Bauch ein. Ich peitsche mich heftig, bis ich keinen Schmerz mehr empfinde. Ich lege mich auf ein Kreuz aus Eisblöcken. Die Wärme eines auf meinen Bauch gerichteten hängenden Heizstrahlers bringt den eingeritzten Stern zum Bluten. Der Rest meines Körpers fängt an zu frieren. Ich bleibe 30 Minuten auf dem Eisblock liegen, bis das Publikum das Stück durch Abräumen der Eisblöcke unterbricht.“ (aus: Stooss, Toni (Hg.) (1998): Marina Abramović. Artist Body. Performances 1969-1997. Milano, S. 102.)

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Abbildung 39: „Thomas Lips“. Performance von Marina Abramović in der Galerie Krinzinger in Innsbruck, 1975. Foto: Galerie Krinzinger.

hält sich vielmehr so, dass ich als „geistiges Kind“ der sogenannten performativen Wende die Ausstellung in einem wesentlich stärkeren Maße als performativen Akt sehe, als es frühere Generationen getan haben. Vielleicht sind meine Wahrnehmungen, mein Interesse und meine Interpretationsfertigkeiten, die ich seit den späten achtziger Jahren am Wiener Institut für Theaterwissenschaft, beim Filmemachen und als Ausstellungskurator herausgebildet habe, bereits von der performativen Wende derart erfasst und geprägt, dass ich auch im Phänomen Ausstellung nichts anderes als ein dramaturgisch strukturiertes und performatives Medium sehen kann oder will. Beide Antworten erscheinen mir plausibel. Sowohl: Die Ausstellung gleicht in ihrer Struktur einem performativen Ereignis, weil sie durch ihre räumliche und dramaturgische Konzeption die RezipientInnen zu einer äußerst aktiven Haltung provoziert. Als auch: KünstlerInnen, WissenschaftlerInnen und KuratorInnen, die erst seit den 1990er Jahren an Ausstellungsprozessen beteiligt sind, neigen eher dazu, performative, interaktive und dramatische Eigenschaften, die wir heute in Ausstellungen erkennen und möglicherweise auch schätzen, für selbstverständlich und zum Medium gehörend zu betrachten. Es scheint, als wäre die Ausstellung ein Prototyp des performativen Ereignisses und als hätte die Performanz in Ausstellungen durch die performative Wende zugenommen. Ein Text, der über die Selbstwahrnehmung der AusstellungsmacherInnen Aufschluss gibt, die schon eine Generation vor mir am Werk waren, ist „Ein Raumverhältnis, das sich aus Bewegung herstellt“. Die performative Wende erreicht das Museum. Er erschien erstmals 2001 und stammt vom ehemaligen Direktor des Berliner Werkbund-Archivs Eckhard Siepmann,

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der in seiner Institution für mehrere aufsehenerregende Ausstellungen wie beispielsweise die Walter Benjamin gewidmete Schau Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte verantwortlich war. Siepmann erinnert daran, dass der „performative turn, der überall Prozess, Vollzug, Ereignis sieht und schafft“, in den 1990er Jahren dem linguistic turn folgte, „der alles in der Welt zum Text machte“189. Er beschreibt das „performative Fieber“, das am Beginn der 1990er Jahre auf die Kulturwissenschaften übergesprungen war und von dort schließlich auch das Museum und die Ausstellungen erreichte. Die Kulturwissenschaften entdeckten, „dass sie die Erkenntnis des kulturellen Handelns und Hervorbringens zugunsten kultureller Objektivationen vernachlässigt hatte.“ Und weiter: „Die Ansteckung blieb indessen nicht auf die Wissenschaften beschränkt; gegenwärtig schickt sich die performative Wende an, alle Sphären der Gesellschaft in Bewegung zu setzen und sogar vor den Pforten jener Institution nicht zurückzuschrecken, die durch Jahrhunderte hindurch der Inbegriff reglosen Verharrens vor einer reglosen Dingwelt war.“190

Siepmann skizziert in seinem Text eine kurze Ahnengeschichte des Performativen und beginnt bei der Pariser Uraufführung von Ubu Roi von Alfred Jarry 1896, bei der der Ausruf „Merdre!“191 – es war das erste Wort im Stück – einen mehrminütigen Tumult im Publikum auslöste. Nach den „Performances“ der Futuristen in Italien und Russland nach 1910 sieht Siepmann die Dadaisten dann als Protagonisten des Wendepunkts: „Mit der internationalen Dada-Bewegung vollzog sich um 1920 weltweit eine Gewichtsverlagerung vom Kunstwerk zum Ereignis, vom Produkt zum Prozess.“192 Da Siepmann die museale Ausstellung als „Inbegriff reglosen Verharrens vor einer reglosen Dingwelt“ begreift, sieht er auch die Ausstellung nicht als Vorbild für das performative Ereignis, sondern eher als einen schwer zu bekehrenden Nachzügler. Daher fordert er für die Ausstellung eine Verzeitlichung und eine Verräumlichung, um eine Aufführung in der Ausstellung zu ermöglichen: „Verräumlichung der Ausstellung bedeutet die Einbeziehung der Raumbeziehungen in die Bedeutungsproduktion. Der Raum wird zum Medium der Aufhebung des ‚starren‘ Gegenüberstehens von ‚Besucher‘ und ‚Objekt‘: der Raum räumt die Möglichkeit wechselnder Relationen zwischen Passanten und Objekten ein, er ermöglicht einen Prozess, der an der Bedeutungsproduktion beteiligt ist.“193

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Siepmann 2001, S. 2. Siepmann 2001, S. 2. Das Kunstwort „Merdre!“ wurde im Deutschen mit „Schreiße“ übersetzt. Siepmann 2001, S. 3. Siepmann 2001, S. 4

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Siepmann spricht dem Besucher erst mit dem Eintreffen der performativen Wende bzw. nur in Ausstellungen, die von der performativen Wende erfasst wurden, eine aktive Haltung zu, mit der er die Handlung im Museum und in der Ausstellung mitbestimmen und vorantreiben kann. Er baut einen Gegensatz aus den herkömmlichen „bewährten Angeboten für ein Augenpaar“ einerseits und dem neuen „Wahrnehmen-mit-dem-ganzen-Körper“ und dem „Körper-in-Bewegung“ andererseits auf und fordert einen „Austausch der verharrenden Besucheraugen gegen Körper-in-Bewegung“. Er porträtiert damit einen Besucher, den ich in der Ausstellungsgeschichte bisher nicht in dieser Weise gefunden habe. Weder in den Beschreibungen noch in den grafischen und fotografischen Darstellungen des 18., 19., und 20. Jahrhunderts. Einzige Ausnahme ist eine literarische Figur, nämlich Reger, Protagonist im Roman Alte Meister194 von Thomas Bernhard, der im Wiener Kunsthistorischen Museum konstant vor Tintorettos Weißbärtigem Mann sitzt, um in diesem Bild einen Fehler zu finden. Doch Regers Reglosigkeit ist nachvollziehbar: Er ist ein Aufseher, kein Besucher, verurteilt zu acht Stunden Museum pro Tag.195 Auch in anderen Gemäldegalerien des 19. Jahrhunderts, wo sich die Bilder in ihren massiven Rahmen bis unter die hohen Decken der historistischen Gemäuer schoben, waren Besucher in starkem Maße gefordert, sich die Rezeption der Bilder durch bewegte Betrachtungen und Gespräche zu sichern. Klar ist, dass die moderne Ausstellungsdramaturgie und –inszenierung Praktiken für eine gesteigerte Ausstellungsaktivität im räumlichen und motorischen Sinne entwickelt hat. Doch erscheint es mir ein Trugschluss, das Rezept für die Aktivitätssteigerung des Besuchers allein in der erhöhten Aktivität der Ausstellungsmacher und der von ihnen hinterlassenen Räume und Dinge zu suchen. Gerade aber das passiert, wenn wir den Ausstellungsbesuchern keine Aktivität gegenüber sogenannten „reglosen Gegenständen“ zutrauen. Siepmanns Ausführungen zeigen mir aber auch, dass ich mich zu Recht als „Kind der performativen Wende“ hinterfragt habe. Sein Ansatz, demzufolge all die performativen Eigenschaften in der Ausstellung neue Errungenschaften seit den 1990er Jahren sind, zeigt möglicherweise, dass ich, als genau in jenen Jahren sozialisierter Geisteswissenschaftler und Kurator die performativen Möglichkeiten der Ausstellung als wesentlich selbstverständlicher betrachte als Teile der Kuratoren-Generation vor mir. Ich schließe daraus, dass es Zeiten gibt, in denen das Medium Ausstellung von sich aus performativer agiert als in anderen, dass BesucherInnen in manchen Zeiten lauter sprechen und manchmal schneller zur absoluten Stille ermahnt werden und dass das Ende einer solchen strengen, leisen und unbeweglichen Phase registriert und gefeiert wird. Gleichzeitig beharre ich aber darauf, dass

194 Bernhard, Thomas (1993): Alte Meister. Frankfurt am Main, 1993. 195 Herzlichen Dank für den Hinweis auf Reger an die Thomas-BernhardSpezialistin Hilde Haider-Pregler.

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dem Besucher in jeder Ausstellung, wie statisch sie von den AusstellungsmacherInnen auch immer hinterlassen wurde, immer schon eine aktive Rolle zugekommen ist und dass eine höhere Aktivität der BesucherInnen nicht automatisch durch eine gesteigerte Verräumlichung bzw. Verzeitlichung einer Ausstellung erreicht wird. Oft geschieht das Gegenteil: Ausstellungsräume, in denen theaterhafte Szenen mittels menschlicher Akteure oder Videoprojektionen aufgeführt werden, neigen dazu, die aktiven Möglichkeiten eines Besuchers einzuschränken und ihn zu einem statischen Zuschauer zu degradieren.

Von der performativen Wende zur performativen Spirale Die performative Wende ist eine Konsequenz der Entgrenzung der Künste seit den 1960er Jahren. Da die Ausstellung das Medium zur Präsentation von Kunst ist, musste sich diese Entgrenzung – Stichwort Performance – auch auf das Medium Ausstellung auswirken. Darüber hinaus zeigt der Begriff performativ eine Nähe zum Theater an. Grund genug, dieses Wort und die Entgrenzung der Künste, die zeitlich, räumlich und intermedial vor sich ging, in diesem Buch, das die Ausstellung als Drama begreift und die Verwandtschaft zwischen Ausstellung und Theater untersucht, genauer zu analysieren. Den Begriff performativ prägte John L. Austin um das Jahr 1955 in seinen sprachphilosophischen Vorlesungen in Harvard, in denen er zeigte, dass „sprachliche Äußerungen nicht nur dem Zweck dienen, einen Sachverhalt zu beschreiben oder eine Tatsache zu behaupten, sondern dass mit ihnen auch Handlungen vollzogen werden.“196 Das Wort leitete Austin vom Verb to perform ab, das in seiner theaternahen Verwendung mit „aufführen“ und „darstellen“ übersetzt werden kann, im ursprünglicheren Sinn aber eher „vollziehen“ und „ausführen“ hieß. Die Performance wurde zumeist von bildenden Künstlern entwickelt. Diese Künstler entließen ihre Skulpturen und Tafelbilder – vereinfacht und verknappt gesprochen – nicht nur in den Raum, sondern auch in die Zeit. Doch ist daraus nicht Theater geworden, auch wenn sich das Theater seit den 1960er Jahren im Gleichklang mit der Performance und unter gegenseitiger Beeinflussung mit dieser vom klassischen Drama, seinem Konversationsdialog, in manchen Fällen sogar selbst von seiner literarischen Vorlage getrennt hat. Dennoch sind Theater und Performance keine austauschbaren Begriffe, auch wenn ihre Grenzen oft wenig konturiert sind: Das Theater ist meist als wiederaufführbare Produktion geplant, die Performance in der Regel nicht197. Selbst wenn sich in vielen neueren Theaterformen die Spannung ebenfalls zwischen den Schauspie-

196 Fischer-Lichte 2004, S. 31. 197 Bisweilen gibt es aber mehr Ausnahmen, als dass diese nur die Regel bestätigen würden.

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lern und den Zuschauern aufbaut, und nicht mehr, wie in der Zeit der vierten Wand durch die Binnenspannung auf der Bühne, an der die Zuschauer dann einfühlend teilhaben können, bleibt der Schauspieler ein Schauspieler, der vor jedem neuen Publikum seine einstudierte Rolle wieder spielen wird, selbst dann, wenn er „nur“ ein Sprachrohr für Textflächen ist und nichts Figürliches darstellt. Im Gegensatz zum Performancekünstler legt aber der Schauspieler in der Regel nicht seine ganze Identität in die Waagschale, die dann das eine Ende von jenem Spannungsbogen ausmacht, an dessen anderem Ende sich der Zuschauer einklinkt und durch seine Anwesenheitsmacht und Reaktionsmöglichkeit den Fortgang der Performance gleichberechtigt mitbestimmen oder sogar beenden kann.198 Die PerformancekünstlerInnen, daran erinnere ich hier nochmals, haben ihre Skulpturen und Tafelbilder nicht nur in den Raum, sondern auch in die Zeit entlassen. Mit ihren Kunstprozessen sind die KünstlerInnen in den neuen subkulturellen Galerien wiederum auf „BesucherInnen“ gestoßen. Auf BesucherInnen nämlich, die sich dann von dieser neuen, oftmals schockierend konfrontativen Kunst sofort abwendeten oder aber auch auf sie zugingen. Jedenfalls auf BesucherInnen, die schon als BetrachterInnen von Kunstwerken und anderen Dingen im konventionellen Ausstellungsraum gelernt hatten, eine aktive Rolle und Verantwortung für den Handlungsprozess der Ausstellung zu übernehmen. Diese „Grundausbildung“ hat AusstellungsbesucherInnen mehr noch als TheaterbesucherInnen qualifiziert, den Fortgang der Performance gleichberechtigt mitzubestimmen bzw. gemeinsam mit den KünstlerInnen aus der Performance das werden zu lassen, was aus ihr geworden ist. Die aus der bildenden Kunst entstandene Performance hat dem Ausstellungsraum, vor allem dem Galerieraum, die Möglichkeiten seiner eigenen Erweiterung vor Augen geführt, ihm aber auch gleichzeitig seine Grenzen aufgezeigt, da sich viele neue Kunstrichtungen wie Fluxus, Performance oder Land Art der Musealisierung vorerst einmal verweigerten. Eine weitere Kunstentgrenzung, die weniger durch den Künstlerkörper getragen wurde und weniger auf Verzeitlichung, sondern vielmehr auf Verräumlichung setzte, hatte noch direktere Folgen für das Medium der Ausstellung und seine performativen Fähigkeiten als die Performance: die Entgrenzung der bildnerisch-skulpturalen Kunst mit dem Ziel, den das Objekt umgebenden Raum neu zu strukturieren und zu definieren. Environments,

198 „In der Performance dient die Handlung des Künstlers weniger dazu, eine außer ihm befindliche Wirklichkeit zu transformieren und aufgrund der ästhetischen Bearbeitung vermitteln zu können, sondern es wird vielmehr eine „Selbsttransformation“ angestrebt. [...] Auch im Theater kann es zum Moment der Selbsttransformation kommen, doch an der Schwelle zu ihrer Verabsolutierung macht es halt. Der Schauspieler will zwar einmalige Momente realisieren, aber sie auch wiederholen.“ (Lehmann 1999, S. 246f.)

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Installationen, Ensembles und minimalistische Skulpturen nahmen den Raum in Besitz, rhythmisierten ihn oder erschufen ihn vollkommen neu: „[Artists] brought real life into art through the creation of environment – actual spaces, often filled with real objects and materials. These artists, however, many of whom began as assemblage sculptors, used visual strategies that owe more to Abstract Expressionism than to the conceptual framework established by Johns and Rauschenberg. The environments of Allan Kaprow, George Segal, Lucas Samaras, Claes Oldenburg, Jim Dine and Red Grooms are assembled with a spontaneity, visceral energy, and gestural expressiveness, that create a three-dimensional assemblage extension of an Abstract Expressionist sensibility.“199

Die abstrakt-expressionistischen Verräumlichungen (z.B. Allan Kaprows Yard, 1961, oder Words, 1962) blieben nicht die einzigen unter den jungen amerikanischen Avantgardisten. Künstler wie George Segal (Cinema, 1963) und Claes Oldenburg (The Store, 1961, oder Bedroom Ensemble, 1969), die sich bald der Pop Art zuwandten, installierten Konstellationen in den Raum, die in ihrer Struktur durchaus an barocke Tableaus erinnern. Andy Warhol stellte 1964 seine Campbell’s Soup Cans, Del Monte, and Heinz 57 Boxes in die New Yorker Stable Gallery, womit er nicht nur den Warencharakter von Kunstobjekten ohne Umschweife thematisierte, sondern auch die gemeinsame Struktur von Supermärkten und Ausstellungen. Von eminenter Bedeutung für die räumliche Struktur und Rhythmisierung von Ausstellungsräumen sowie die sinnliche Oberflächengestaltung von Ausstellungsarchitektur sollte auch das Werk der Minimalisten werden. Diese setzten, und das hatten sie mit den Pop Art Künstlern gemeinsam, auf serielle Wiederholung. Darin waren sie nicht nur von der Avantgarde der 20er Jahre beeinflusst, sondern auch von der Zen-Philosophie, von der auch John Cage sein legendäres Rezept zum Seriellen ableitete: „In Zen they say: if something is boring after two minutes, try it for four. If still boring, try it for eight, sixteen, thirty-two, and so on. Eventually one discovers that it’s not boring but very interesting.“200

Wiederholung als notwendiges Organisations- und Ordnungsprinzip in der Perfektion der Minimalisten wurde von Ausstellungsmachern in weiterer

199 Philips, Lisa (Hg.) (1999): The American Century. Art and Culture 1950-2000. New York, S. 94. 200 Cage, John (1966): Silence. Lectures and Writings by John Cage. Middletown, S. 93.

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Abbildung 40: Claes Oldenburg: „Bedroom Ensemble“, Replica I, 1969, Mixed Media Environment. Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Foto: Rudolf Nagel, Frankfurt am Main.

Folge begeistert aufgenommen, räumlicher Rhythmus und Wiederholung sind heute tragende Prinzipien in Ausstellungen, da sie es Ausstellungsmachern und –besuchern erleichtern, die „Massen“, aus denen die Welt besteht, modellhaft zu vermitteln und zu verstehen. Wenn wir uns das Charakteristische der Kunst von Donald Judd, Sol Levitt, Dan Flavin, Carl Andre, Tony Smith und Robert Morris vor Augen führen, erkennen wir darin auch die Stoffe, das Vokabular und die Grammatik der heutigen Ausstellungsarchitektur. Dies liegt nicht nur an der perfekten „minimalistischen“ Verarbeitung von industriellen Werkstoffen, die teilweise gerade erst auf den Markt gekommen waren, wie poliertes Aluminium, Fiberglas oder Neonlicht, sondern auch an den Formen. Donald Judd gestaltete 1961/62 noch Reliefs, bevor er vollkommen in die dritte Dimension wechselte und Zeit seines Lebens Formen, insbesondere jene des hohlen Quaders variierte. Sol LeWitt exemplifizierte unendlich wiederholbare Sequenzen nicht nur in seinen Wandgemälden, sondern auch in Installationen wie den Incomplete Open Cubes von 1974. Dan Flavin brachte das Licht in Form von fluoreszierenden Skulpturen aus Neonleuchten als strahlenden Inhalt ohne Grenzen in die Galerie. Sein Kollege Carl Andre wiederum positionierte Strecken von an

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einander gereihten Ziegeln (Lever, 1966) und quadratischen Zinkplatten (144 Peaces of Zinc, 1967), die auf dem Fußboden des Ausstellungsraums ein großes Quadrat ergaben. Indem er den BesucherInnen erlaubte, seine Bodenskulpturen zu betreten, riss er nicht nur die Diskussion um die Unberührbarkeit von Kunst und Dingen generell in Ausstellungen an, sondern gab dem Besucher die seltene Möglichkeit einer haptischen Konfrontation, die die von mir bereits beschriebene Regel der „unberührbaren Dinge“201 im Museum außer Kraft setzte: „[To] involve the audience in the ‚experience‘ of the sculpture, viewers were permitted to walk on Andre’s work, which, like a rug, ran along the plane of the floor.“202

Die Avantgardisten der 1960er und 1970er Jahre erweiterten ihre Kunst in den Raum. So gelang es ihnen, Kunst und Ausstellung in einem Akt zu vereinen, womit sie auch mehr als bisher die Kontrolle über den Akt des Ausstellens erlangten. Sie gewannen Macht gegenüber den Ausstellungsmachern, „schenkten“ diesen aber dafür räumliche Vorbilder für Ausstellungskonstellationen und auch Hinweise darauf, wie sich die Ausstellung als mediale Form selbst hinterfragen und in Frage stellen lassen könnte. Das Bild von der performativen Wende, die von den subkulturellen Ausstellungsräumen und Galerien der amerikanischen und europäischen Avantgarde seit den 1960er Jahren ausgeht, macht in dieser Rückschau Sinn und ist dennoch, ähnlich den Beobachtungen zur Ausstellungs- und Museums-

Abbildung 41: Carl Andre: „144 Pieces of Zinc“, 1967. Zinkplatten (30,48 x 30,48 x 0,95 cm). Milwaukee Art Museum, Ankauf durch National Endowment for the Arts Matching Funds M1969.22. Foto: Larry Sanders. © VBK, Wien 2010.

201 Vgl. Kapitel 5.2, Unterkapitel Noli me tangere – Mit den Dingen sprechen lernen. 202 Philips (Hg.) 1999, S. 154.

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welt, unexakt, weil auch die Avantgarde um und nach 1960 auf performative Vorbilder zurückgreift. Während sich bei den Performern und Aktionisten eine geistige Traditionslinie zu den Futuristen, Dadaisten und Antoine Artaud ausmachen lässt, finden die Environments in Kurt Schwitters’ Merzbau (1924-33), einer konstruktivistischen Skulptur mit Erinnerungsstücken, ein Vorbild. Auch die Minimalisten, die wenig mit der Eroberung der Zeit und des „schmutzigen“ Raums durch die abstrakten Expressionisten und die Happening-Künstler zu tun haben wollten, konnten auf ein funktionierendes Traditionsnetz zurückgreifen: Sie fanden sich im amerikanischen Arts and Crafts Movement eingebettet und konnten sich mit den Modulsystemen eines Frank Lloyd Wright und anderer Architekten des Internationalen Stils identifizieren. Auch Friedrich Kiesler wurde mit seinem Endless House und seiner Installation Blood Flames, mit der er 1947 die New Yorker Hugo Gallery in ein sculptural environment verwandelte, ein Vorbild für die jungen amerikanischen Künstler, die eine Verschränkung von Kunst, Raum- und Ausstellungsinstallation suchten. Kiesler ist in dieser Hinsicht von besonderem Interesse, da er nicht nur Erfahrungen mit Ausstellungen, sondern auch mit dem Theater hatte. Er war Bühnenbildner, Architekt, Ausstellungsarchitekt und Künstler in einer Person und konnte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf einen enormen Erfahrungsschatz zurückgreifen: 1942 gestaltete er für Peggy Guggenheim die Räume für die Ausstellung Art of this Century, die Galerie und Museum in einem war, und in der er seine Correalistischen Möbel als Sitzgelegenheiten, Podeste, Staffeleien, strukturelle Raumelemente und Objekte multifunktional zum Einsatz bringen konnte. Ein ähnliches, wenn auch wesentlich konstruktivistischeres System hatte er bereits 1924 mit dem Leger-Träger-System vorgestellt, das wie seine Correalistischen Möbel die Verräumlichung der Ausstellung forcierte, indem es die Bilder von der Wand zu den Objekten im Raum holte. Im selben Jahr 1924 führen die Spuren des Ausstellungsmachers Kiesler aber auch zum Theater, das er als Bühnenbildner vor allem in Berlin genau studiert hatte. Auf der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik im Konzerthaus im Rahmen des Musik- und Theaterfestes der Stadt Wien 1924 war er mit seiner Raumbühne nicht nur einer der zentralen Künstler und Leihgeber, sondern auch Ausstellungsarchitekt und -kommissär.203 Die performative Wende verwandelt sich in Anbetracht der zahlreichen Beispiele zu einer performativen Spirale bzw. zu einer Welle, die nicht einmal, sondern immer verändert, aber dennoch in ähnlichem Gewand und mit ähnlichen Begleiterscheinungen wiederkommt. Problemlos lassen sich Verbindungen von Kunstobjekten und Ausstellungsgestaltungen sowohl der Gegenwart als auch der 1960er Jahre zu Kieslers Konzept für Art of this

203 Vgl. Lesak, Barbara (1988): Die Kulisse explodiert. Friedrich Kieslers Theaterexperimente und Architekturprojekte 1923-1925. Wien.

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Abbildung 42: Friedrich Kiesler: Der Surrealisten-Raum mit den Correalistischen Möbeln in Peggy Guggenheims Art of this CenturyGallery. New York, 1942. Foto: Berenice Abbott, © 2010 Österreichische Friedrich und Lilian Kiesler-Privatstiftung.

Century 1942 oder zu seinem Leger-Träger-System und auch zu seiner Raumbühne von 1924 herstellen, die wiederum mit den Ideen korrelieren, die Samuel Quiccheberg in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu seinem Sammlungs- und Ausstellungskonzept des Umfangreichsten Theaters204 inspiriert haben. Oder mit Giulio Camillos Gedächtnistheater205 von 1530, das der zeitgenössische amerikanische Raumkünstler Dan Graham im „performativen“ Jahr 1990, in Garden as Theater as Museum206 aufgegriffen hat. Zurück in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, in der die Verflüssigung der Kunstgrenzen einen enormen Schub erhielt, der auf die heutigen Kunst- und Ausstellungskonzeptionen nach wie vor großen Einfluss ausübt. Ich habe zuvor das Bild von den Künstlern, die den Raum erobern und den Ausstellungskuratoren und -architekten damit den Weg zu einer verräumlichten Ausstellung weisen, skizziert. Stimmt diese Linearität tatsächlich? Im Rahmen meiner Recherchen bin ich auf ein europäisches Beispiel aus den 1960er Jahren gestoßen, das diese Chronologie fragwürdig erscheinen 204 Siehe Kapitel 4.5 „Sammeln im Theater“. Die Sammlungsdramaturgie Samuel Quicchebergs. 205 Siehe Kapitel 4.4 Giulio Camillos Gedächtnistheater. 206 Graham 1989, S. 86-105.

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lässt. Vergleicht man die Herangehensweise der Künstler und Kuratoren an das Konzept des Ausstellungsraums zwischen der documenta 3 von 1964 und der documenta 4 von 1968, zeigt sich, dass zuerst die Kuratoren und Architekten die Künstler bzw. ihre Werke in den Raum drängten (1964), bevor diese ihn 1968 quasi in einer Gegenwelle selbst in Besitz nahmen. Beide „Weltkunstshows“ kuratierte noch Arnold Bode, der sogenannte „Vater der documenta“. Gemeinsam mit anderen zeichnete er auch für die Ausstellungsarchitektur verantwortlich. Bode hatte bereits die documenta 1 und 2 organisiert und sie zu einer „Experimentierbühne“ gemacht, deren tatsächliche Bühnencharakteristik sich beispielsweise in der Entscheidung von 1959 widerspiegelt, die zerbombte Orangerie des Kasseler Schlosses Wilhelmshöhe als Präsentationsort für die Skulpturen zu wählen, worauf Werner Haftmann die documenta 2 als „Bühne für das Drama des verletzbaren Menschen in einer verletzten Welt“ bezeichnete.207 1964 inszeniert Bode nun seine Idealvorstellung vom Kunstmuseum der Gegenwart in der Sektion Bild und Skulptur im Raum. Er lädt Emilio Vedova ein, dieser entfaltet sein Plurimi di Berlino „als chaotisches, auseinanderdriftendes Ensemble zerrissener, gehängter, gestellter Fragmente zwischen Malerei und Plastik in einem schwarzen, doppelgeschossigen Raumkubus: ein Stückwerk furioser abstrakter Materie auf unregelmäßigen Spanplatten, die einseitig bemalten Elemente mit Scharnieren und Seilen aneinander gefesselt, ineinander verkeilt, von einem Balkon der oberen Etage auch vertikal einsehbar, den Raumeindruck verunklärend und den Betrachtungspunkt verunsichernd.“ 208 Bode errichtet außerdem für die Drei Wandbilder für das Treppenhaus in der Kunsthalle Basel von Sam Francis einen eigenen sechseckigen Oberlichtschacht, wo diese gegeneinander gesetzt über den Köpfen der Besucher schweben. Für einen weiteren Raum gibt er nicht nur das Raumgefüge, sondern sogar die Kunst in Auftrag, um das „visuelle Begreifen“ zu fördern: Die 4 x 4 Meter großen Drei Bilder im Raum von Ernst Wilhelm Nay hängt er „schräg unter die Decke eines eigens dafür gebauten Korridors, [...] um sie als ‚Dreiklang‘ in einem Bewegungsablauf schrittweise erlebbar zu machen.“209 Mit dieser Installation von Nays Bildern, unter denen die BesucherInnen durchgehen, lässt sich ein Kreis von den 1960ern in die 1990er Jahre schließen, von Arnold Bodes Konzept, „mit der Umwandlung des Tafelbilds zum ‚Raumbild‘“210 hin zu Eckhard Siepmanns Versuch der Verräumlichung in der Walter-Benjamin-Schau Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte in Berlin 1991:

207 Das Konzept eines Skulpturengartens inmitten von Ruinen erinnert an die Darstellung der antiken Ruinen in den südlichen Landschaften auf den Gemälden der Niederländer des 16. und 17. Jahrhunderts. 208 Kimpel, Harald (2002): documenta. Die Überschau. Köln, S. 47. 209 Kimpel 2002, S. 45. 210 Kimpel 2002, S. 45.

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Abbildung 43: Ernst Wilhelm Nay: „Drei Bilder im Raum“, 1964, documenta 3, Kassel 1964. Foto: Günther Becker, documenta Archiv Kassel.

„Statt eines bewährten Angebots für ein Augenpaar wurde auf das Wahrnehmen-mitdem-ganzen-Körper eines Körpers-in-Bewegung gesetzt. Der schmale lange Raum war durch sechs in gleichem Abstand hintereinander gestaffelte senkrecht stehende Flächen unterteilt, die ganzflächig Bildträger waren und zugleich den Passanten den Durchgang ermöglichten. Für jede Richtung wurde ein Motiv ausgewählt, das sich auf sämtlichen Flächen wiederholte.“211

Geschichte und Kuratorenideen kehren auf einer Spirale in neuem Gewand wieder. Als Arnold Bode 1968 seine letzte documenta zusammenstellt, nimmt er sich in der Raumgestaltung zurück. Nicht, weil er plötzlich zu einer anderen Überzeugung gelangt war. Seine „Raumgreifungen“ waren vielmehr nicht mehr notwendig, denn erstmals waren auf der documenta auch die amerikanischen Minimalisten und Pop-Art Künstler sowie deren europäische Kollegen zu sehen, die die Räume nun durch eigene Installationen in Besitz nahmen. „Ausgehend von der Beobachtung einer zunehmenden Verräumlichung des Tafelbildes und dem gleichzeitigen Abstieg der Skulptur vom Sockel, exemplifiziert der documenta-Vater in der Galerie an der Schönen Aussicht einen neuen Gattungsbe-

211 Siepmann 2001, S. 3.

202 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA griff, für den seine Raumergreifungen anlässlich der documenta 3 als Vorübungen gesehen werden können: ‚Ambientes‘ bzw. ‚Environments‘ wie Edward Kienholz’ Roxy’s, Christos Corridor Store Front, Christian Megerts allseits verunsichernder Spiegelraum, Dan Flavins gespenstische Lichtzone, Joseph Beuys’ rätselhafter Experimentiersaal sind Beispiele dafür, wie die neue visuelle Realität den Raum mitgestaltet. In den begehbaren Räumen ist die traditionelle Rezeptionshaltung, die eindimensionale Konfrontation mit dem Werk, durch ein ‚umfassendes ästhetisches Erlebnis‘ ersetzt worden.“212

Der documenta-Vergleich zeigt die vielfältig verzahnte Raumgreifung, in der sich Kunst und Ausstellungskonzepte gegenseitig bestätigten. Es war Künstlern wie Kuratoren ein Anliegen, den Raum zu besetzen, den Besuchern entgegenzuarbeiten, sie zu involvieren. Das „umfassende ästhetische Erlebnis“ durch die Verräumlichung der Kunst war zwar nicht in den 1960er Jahren erfunden worden, aber dennoch unter großem Aufsehen wiedergeboren worden.213 Die Entgrenzung der Künste brachte in weiterer (postmoderner) Folge auch entgrenzte Ausstellungen mit sich, die das Medium weiterentwickelten. Künstler aus anderen Bereichen, vor allem aus Film und Theater wie Peter Greenaway214, Robert Wilson215 oder Jean-Luc Godard 216 bekamen Lust, Ausstellungen zu kuratieren, quasi in Ausstellungen Regie zu führen. Der Künstler-Kurator Peter Weibel hingegen, der schon 1969 in einer Videoarbeit das Publikum als Exponat217 hinterfragt hatte, entschied sich 2003 dafür, eine Ausstellung als Film zu produzieren. Die Ausstellung BPicture, ein Film über Peter Weibel von Markus Huemer nach einem Treatment von Peter Weibel, Drehbuch und Regie: Markus Huemer, Produktion:

212 Kimpel 2002, S. 62. 213 Als Referenz in die Vergangenheit dient beispielsweise der synästhetische Versuch von Wassily Kandinsky mit der Bühnenkomposition Der gelbe Klang von 1912, der zusätzlich zur Verräumlichung auch eine Verzeitlichung mit sich brachte. 214 Greenaway kuratierte u.a. 1991 The Physical Self im Museum Boymans-vanBeuningen in Rotterdam und 1992 100 Objects to Represent the World anlässlich der Dreihundertjahrfeier der Akademie der Bildenden Künste in Wien. 215 Wilson kuratierte u.a. 2000 Anna did not come home that night im Kunstindustrimuseet Kopenhagen und 2004 die „Wieder-Eröffnungsausstellung“ des Isamo Noguchi Museums in New York. 216 Godard kuratierte 2006 Voyage(s) en Utopie im Centre Pompidou in Paris. Diese Ausstellung war jedoch nur ein Ersatz für die wesentlich größere Ausstellung Collage(s) de France, die laut Presseaussendung knapp vorher aus „finanziellen, technischen und künstlerischen Gründen“ abgesagt worden war. 217 Diese Arbeit mit einer Länge von 80 Sekunden ist auf der DVD Edition Peter Weibel. Depiction is a crime. Video Works 1969-1975, hrsg. von Arge Index, o. J., zu sehen.

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Wilhelm Meusburger218 war Ende 2003 im Künstlerhaus Palais Thurn und Taxis in Bregenz zu sehen. Folgendermaßen kam es zu der Produktion: „Vierzehn Tage vor Ausstellungsbeginn schickte der ‚Autor‘ sein ‚Treatment‘ in Form von 50 A4-Blättern nach Bregenz, darauf sparsame Skizzen und/oder Notizen, jede mit ‚PW‘ signiert. Die vagen Anweisungen, etwa: ‚Bild als Handlungsform Spiegel Silberfolie Krawatte Schal‘, wurden vom ‚Regisseur‘ in ein ‚Drehbuch‘ umgesetzt, das wiederum nur aus wenigen Kohlestrichen auf A2 Bögen besteht. Entsprechend dieser Vorlage ‚drehte‘ der ‚Produzent‘ die Ausstellung in nur zwei Tagen ab. Willi Meusburger: ‚Produktionstage kosten Geld.‘ Und Geld ist knapp. So verwendete er ausschließlich Gegenstände, die Keller, Dachboden und der 70-Cent-Shop hergaben. So wurde etwa im Foyer eine gefundene Silberfolie auf eine vorhandene Spanplatte genagelt. Daran: ein gelber Schal und eine Plüschkrawatte, gespendet vom Produzenten.“ 219

Über seine Motive und das Ziel dieser Ausstellung schrieb Peter Weibel selbst: „Seit einigen Jahren wird im ‚Betriebssystem Kunst‘ [Thomas Wulffen] gelegentlich die Produktion einer Ausstellung mit der Produktion eines Filmes verglichen, ohne dies allerdings näher zu spezifizieren. [...] Wir gehen also davon aus, dass zwischen Filmproduktion und Ausstellungsproduktion Überschneidungen existieren, und zwar schon immer existierten, aber erst ab einem bestimmten historischen Moment auffallend und dadurch signifikant werden. Dieser historische Moment, in dem eine Metapher sich gleichsam von selbst anbietet, weil die historische Situation sie förmlich erzwingt, ist genau jene Diagnose der Postmoderne, die bestimmte Dogmen, Übereinkünfte und Kriterien der Moderne kritisch überprüft. Der vielfach von Barthes bis Foucault postulierte bzw. konstatierte Tod des Autors ist eine Reaktion auf jene Produktionsweisen der Kunst, wie beispielsweise in Andy Warhols Factory, wo Assistenten des Künstlers Siebdrucke nach Fotografien herstellen, deren Urheber anonym bleiben. [...] Die folgende Ausstellung hat also das Ziel, in obskure Ideen der Autorenschaft das Licht der Transparenz zu bringen und Mythen bzw. Monster der Moderne zu kalibrieren. Zu den Monstern der Moderne gehören aber nicht nur Begriffe wie Autor, Produktion und Kreativität, sondern sogar die Begriffe des Bildes wie der Kunst selbst.“220

Der Ausstellungsraum zeigt sich aufnahmefähig und für weitere Experimente in der Zukunft gerüstet. Er lädt weiterhin die Besucher als Akteure ein und hat sich als Ort der Handlung gegenüber dem Theaterraum emanzipiert.

218 Ausstellungsdauer: 22.11.2003 – 04.01.2004. 219 Heinzel, Michael (2003): Ich denk ich bin im Kino. „B-Picture“ – eine Ausstellung als Film. In: Der Standard, 16.12.2003, S. 24. 220 Weibel 2003.

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5.4 D AS I CH , DIE K URATOREN UND IHRE AUSSTELLUNGSDRAMEN Die Person, die den Raum bereits verlassen hat, wenn die BesucherInnen die Ausstellung betreten. So habe ich die Kuratorin und den Kurator in meiner Einleitung beschrieben. Bisher habe ich diese Kuratorenposition, jene dritte Position in der ausstellerischen Dreieckskonstellation Besucher-DingKurator, wenig beachtet und mich in meiner Dramenanalyse auf die unmittelbare Begegnung bzw. den Dialog zwischen den BesucherInnen und den Dingen im Raum konzentriert. Über die Position der KuratorInnen ist seit den 1970er Jahren, insbesondere aber in den 1990er Jahren, viel geschrieben worden.221 Zahlreiche Texte untersuchten die gegenseitige Annäherung und die Grenzübertretungen zwischen den einst klar definierten Berufsbildern der Kuratoren und Künstler222, vor allem problematisierten sie den Machtzuwachs Ersterer auf Kosten Zweiterer.223 Die Entgrenzung der Kunst, der Kunsträume und des Kunstdiskurses hat aber nicht nur den Vergleich Kurator-Künstler, sondern auch jenen zwischen Kurator und Autor bzw. Film- und Theaterregisseur herausgefordert. Ich nütze diese Vergleiche als Ausgangsbasis für eine Untersuchung, inwieweit KuratorInnen das Narrativ der Ausstellung, das ich als Drama zwischen den BesucherInnen und den Dingen beschrieben habe, steuern bzw. steuern können und wollen. Besonderes Interesse bringe ich dabei der Frage nach der Möglichkeit einer subjektiven Erzählweise in einer Ausstellung entgegen. Das Spannungsfeld skizzieren die beiden Positionen Ich bzw. Nicht-Ich: Auf der einen Seite steht der Anspruch der Kuratoren seit den 1970er Jahren, Ausstellungen nach subjektiven Kriterien zusammenzustellen. Harald Szeemann hat diesen Vorgang 1972 als Generalsekretär der documenta 5 als „eine spontane Entscheidung aufgrund einer Intensität, die ich in dem Werk spüre“224, auf den Punkt gebracht. Auf der anderen Seite, die ich mit dem beckettschen Stücktitel Nicht ich bezeichnet habe, steht die einfache, aber wichtige Beobachtung, dass das Wort „ich“ in KuratorenAusstellungstexten so gut wie nie vorkommt.

221 Siehe z. B.: Obrist, Hans Ulrich (1996): Delta X. Der Kurator als Katalysator. Regensburg. 222 Siehe z. B.: Huber, Hans Dieter (2002): Künstler als Kuratoren – Kuratoren als Künstler?; Hoffmann, Justin (2002): God is a Curator. Beide Aufsätze in: Huber, Hans Dieter/Loicher, Hubert/Schulte, Karin (Hg.): Kunst des Ausstellens. Beiträge-Statements-Diskussionen. Ostfildern-Ruit, S. 225-228 und 249-259. 223 Siehe z. B.: Graw, Isabelle (1993): Leben und Werk des Kurators. In: Artis, 10/1993, S. 36-41. Schöllhammer, Georg (1996): Kuratiert von... In: Springer, 3,4/1996, S. 36-40. 224 Interview mit Harald Szeemann von Willi Bongard. In: Die Welt, 21.03.1972.

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Mit der Frage nach dem Ich der KuratorInnen begebe ich mich auf die Suche nach dem kuratorischen Selbstverständnis und seiner Tradition, wobei ich mich von der Gegenwart in die Frühzeit der Ausstellung vorarbeite und so den Kreis, den ich mit meiner historischen Rückschau zu ziehen begonnen habe, schließe.

RegisseurIn, AutorIn, KünstlerIn? Am Ende des vorhergehenden Kapitels, in dem es um die Entgrenzung der Kunst seit den 1960er Jahren geht, habe ich die begeisterte Aufnahme der Regisseure Greenaway, Wilson und Godard im „Ausstellungszirkus“ als Beispiel angeführt und auch Peter Weibels Ausstellung B-Picture vorgestellt, eine Ausstellung, die Weibel als Film produzierte, da er den seit einigen Jahren im Raum stehenden Vergleich der Produktion von Filmen und Ausstellungen praktisch überprüfen wollte. In theoretischer Weise verglichen erstmals Nathalie Heinich und Michael Pollack in den späten 1980er Jahren Film- und Ausstellungsproduktionen miteinander. „The cinema would seem to be particularly suited for such a comparison since, on the one hand, the notion of auteur has developed with a particular profile and, on the other the economic characteristics of film production have several points in common with those governing the production of exhibition.“225

Heinich und Pollack stellen die Idee der Autorenschaft ins Zentrum ihrer Studie, die im französischen Original Du conservateur de musée à l’auteur d’expositions: l’invention d’une position singulière226 heißt. Hier lässt sich auch ein zeitlicher Bogen in der Betrachtung und Hinterfragung des Kurators als Autor ausmachen: Während Weibel die Konstruktion Autor sowohl in der Ausstellung als auch im Film 2003 als „obskure Idee“ hinterfragt, sahen die beiden anderen Autoren vor dem Hintergrund des französischen Autorenkinos am Ende der 1980er Jahre den Typ des starken autonomen Autors trotz Barthes und Foucault227, die bereits den Tod des Autors festgestellt hatten, noch im Kommen. „Both cases require the conjunction of a team working under a director whose identity can (and this above all is what interests us here) undergo major variations: pro-

225 Heinich/Pollak 2002, S. 239. 226 Ersmals erschienen in: Sociologie du Travail, 31/1, 1989, S. 29-49. 227 Siehe beispielsweise den Aufsatz Was ist ein Autor? von Michel Foucault. In: Foucault, Michel (1988): Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer und Anneliese Botond. Frankfurt am Main, S. 7-31.

206 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA ducer, scriptwriter, director, in-house curator, specialized guest curator, creator or architect [...].“228

Wie hatte sich der Kurator, der doch eigentlich ein „Konservator“ war, in den letzten Jahrzehnten plötzlich das Image eines Autors, Regisseurs und Künstlers zulegen können? Wie war diese Metamorphose vor sich gegangen? Heinich und Pollak beschreiben die traditionellen Aufgaben des Conservateurs als die folgenden: Sicherung des kulturellen Erbes, Vervollständigen der Sammlungen, Recherche und Ausstellen. Dabei fällt ihnen auf, dass gerade die Tätigkeit des Ausstellens noch in den sechziger Jahren das geringste Image für KuratorInnen besaß: „And it is precisely this one which traditionally occupied the lowest level in the hierarchy of functions. Thus museum staff are readily suspected – if not accused outright – of working only for their peers, of ignoring the aesthetics of display, of neglecting the comfort of the visitors, of not concerning themselves with pedagogy and of setting out unreadable captions, etc.“229

Das alles hat sich geändert.230 Die Arbeit des Kurators hat sich innerhalb von nicht einmal einer Generation nicht nur in arbeitsstruktureller Hinsicht revolutioniert. Sie hat sich sowohl professionalisiert – Kuratorenausbildungen sind dafür ein Beispiel – als auch entprofessionalisiert, denn mehr denn je werden KuratorInnen geschätzt, die „von außen“ kommen, die als Qualifikation Originalität und weniger das Kennen und Befolgen branchenüblicher Regeln mitbringen. KuratorInnen werden heute teilweise als KünstlerInnen begriffen und in einem breiten Diskurs besprochen. In Metzlers

228 Heinich/Pollak 2002, S. 239. 229 Heinich/Pollak 2002, S. 235. 230 Sehr plastisch schildern Heinich und Pollak diese Änderung anhand eines Kurators, der 1966 in Paris die Ausstellung Pierre Bonnard, Centenaire de sa naissance in der Orangerie des Tuileries organisierte. Er beschrieb seine damalige Arbeit so: Er wählte die Werke ohne besondere wissenschaftliche Fragestellungen aus, kontaktierte die Leihgeber, um die Bilder zu bekommen, ließ den Eingangstext auf einer Schreibmaschine tippen, hing die Werke nach einer chronologisch-ästhetischen Ordnung und gab einen dünnen Katalog mit SchwarzWeiß-Abbildungen heraus. 20 Jahre später kuratierte er für das Centre Pompidou eine Ausstellung über denselben Maler. Nun war der Katalog eine immense Monographie geworden mit einer spezifischen Fragestellung (Bonnards Modernität), derselbe Kurator koordinierte ein großes Team, großes Augenmerk wurde auf Architektur, Hängung, Visualisierung und Sensibilisierung auch der wenig informierten Öffentlichkeit gelegt.

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Historischem Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe231 findet sich unter dem Stichwortpaar „Autor/Künstler“ eine kritische Beobachtung von Daniel Buren: „Vieles von dem, was den Künstler auszeichnet, von der Autonomie des Werkes, der vermeintlichen Irrationalität seiner Assoziationen in der Rezeption bis zum Utopieanspruch in der Produktion und dadurch das gestörte Verhältnis zur Macht, ist auf den Kunsthallenleiter oder den Ausstellungsorganisator übergegangen.“232

Eine Beobachtung, die auch mit einer pointierten Grundaussage von Heinich und Pollak übereinstimmt: „In other words, in extremis, it is as auteur, that an exhibition curator will eventually be regarded.“233

Wären KuratorInnen AutorInnen, was würden sie schreiben? Was lässt sich aus einer vermeintlichen Autorenidentität für die Persönlichkeit des Kurators schließen? Welche Art Autor könnte er sein? In David Lodges The Practice of Writing findet sich ein Kapitel mit der Überschrift Novel, Screenplay, Stage Play: Three Ways of Telling a Story. Darin setzt sich Lodge mit der Psyche der Roman-, Bühnen- und Filmautoren auseinander. Dieser Versuch einer Autorentypologie provoziert in mir die Frage nach den idealen psychischen Voraussetzungen, die eine Person mitbringen sollte, die den Kuratorenberuf anstrebt. Hier der inspirierende Text, der meinen Überlegungen als Hintergrund dient: „From reading literary biographies it is my impression that novelists are very often people who were somewhat lonely and isolated in early life. […] They tend to be introspective and depressive; they like to observe rather than participate; in the Freudian sense they are anal-retentive types, hoarders of information, jealously possessive about their work, often perversely reluctant to finish it and let it go. Playwrights, in contrast are likely to be more extrovert, exhibitionists, gregarious, manic and oral. It would be hard to draw the profile of the typical screenplay writer

231 Barck, Karlheinz/Fontius, Martin u.a. (Hg.) (2000): Historisches Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe, Band 1. Stuttgart, S. 487. Für diesen Hinweis bedanke ich mich bei Arnulf Knafl. 232 Das Zitat stammt aus: Buren, Daniel (1995): Ausstellung einer Ausstellung. In: Fietzek, Gerti/Inboden. Gudrun (Hg.): Daniel Buren. Achtung! Texte 19671991. Dresden, S. 181ff. 233 Heinich/Pollak 2002, S. 238.

208 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA in the same way, partly because of the overlap of this role with that of director. People who have a natural bent towards making movies usually want to be directors, writing their own screenplays.“234

Kontrolle, oder besser der Drang, Kontrolle über das eigene Werk auszuüben, ist also mitentscheidend dafür, in welchem literarischen bzw. künstlerischen Genre AutorInnen reüssieren. Welchem Autorentyp ließe sich der Kurator nun am besten zuordnen? Eine passende Analogie zu finden, ist schwer, denn genau genommen scheint es genauso viele Kuratoreneigenschaften zu geben, wie es Autorentypen gibt: Ausstellungskuratoren gibt es manische wie depressive, nicht einmal das zur Ausstellung passende Wort „exhibitionistisch“ trifft auf alle zu, denn es gibt auch zurückhaltendhortende. Es gibt stumme und solche, die nicht aufhören zu sprechen, solche, die sich im Team wohlfühlen, und solche, die, wie der oben zitierte Harald Szeemann alle Beiräte abschaffen, selbst bei der documenta, der alle fünf Jahre stattfindenden internationalen „Monsterschau“ in Kassel, in deren Namen „documenta“ eigentlich programmatisch die „objektive“ Auswahl und Dokumentation des neuen Kunstschaffens festgeschrieben ist.235 Macht durch radikalen Einsatz von Subjektivität war bisher ein Vorrecht einiger weniger freier Künstler gewesen: Komponisten, bildende Künstler, Romanautoren. Schon Drehbuch- und Theaterautoren wissen, dass sie sich die Deutungshoheit mit dem Regisseur und mit den Produzenten teilen würden müssen, von den Schauspielern, die ihre Rollen interpretieren werden, ganz zu schweigen. Diese Tatsache ließ in Europa den Autorenfilm, in dem AutorInnen und RegisseurInnen dieselben Personen sind, entstehen. War die Entwicklung der „Autoren-Ausstellung“ eine ähnliche, dem Film hinterherhinkende, im Sinne Barthes’ und Foucaults letztlich anachronistische Entwicklung? Die Frage ist berechtigt, denn es scheint, dass sich das Medium Ausstellung mit seiner collage- und montagehaften Syntax, mit seinen unzähligen Stimmen in Form von historischen Gegenständen und Zitaten ideal als postmodernes Kunstwerk eignet, weshalb es wohl in den letzten Jahrzehnten eine herausragende Stellung innerhalb der Kulturwelt eingenommen hat. Und gerade deshalb ist es nicht unwahrscheinlich, dass mitten in der Blüte dieses Mediums, im Abfeiern dieser perfekten postmodernen Ausdrucksform eine Sehnsucht nach einem Autor, der die Fäden und Stränge in

234 Lodge, David (1997): The Practice of Writing. Essays, Lectures, Reviews and a Diary. London, S. 203. 235 „Harald Szeemann, der erste auf dem neuen Posten eines Generalsekretärs, beendete mit weitgehenden Vollmachten die Funktion des früheren DocumentaRates und ersetzte das umständliche Abstimmungsverfahren durch seine eigenen Entscheide.“ (Bätschmann, Oskar (1997): Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem. Köln, S. 222f.) Bätschmann zitiert darin ein Interview mit Harald Szeemann von Willi Bongard, in: Die Welt, 21.03.1972.

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der Hand hält, der schließlich und endlich dieses chaotische Medium zähmen und personell zuordenbar machen würde, entstanden ist.

Ausgestellte Kunst vs. Kunstwerk Ausstellung Im zeitgenössischen Kunstbetrieb stieß das subjektive Kuratorenprinzip auf einen speziellen Widerstand, der von den KünstlerInnen ausging. Ihnen ging es darum, die Autonomie ihrer eben erst geschaffenen Werke zu verteidigen und sie nicht kampf- und willenlos den KuratorInnen als Bausteine für deren Gesamtkunstwerk zu überlassen. Beim Stuttgarter Symposium Kunst des Ausstellens griff Hans Dieter Huber 2001 diesen Konflikt in seinem Einleitungsreferat zum Panel Kuratoren als Künstler – Künstler als Kuratoren auf: „Die Frage ist, ob wir es wollen, dass sich die Definitionsmacht für zeitgenössische Kunst in der Hand einer Person konzentriert. Die Frage ist also, wo befinden wir uns? In einer Zeit des kuratorialen Absolutismus oder schon in einem Zeitalter der kuratorialen Aufklärung?“236

Eine Weiterentwicklung dieser künstlerischen Gegenbewegung stellt die Initiative des Ausstellungsmachers Jens Hoffmann 2003 auf der Internetplattform e-flux dar: The Next Documenta Should be Curated by an Artist hieß die Diskussion, an der Marina Abramović, Dara Birnbaum, John Baldessari, Lawrence Weiner und andere KünstlerInnen teilnahmen. Hoffmann schildert die Motivation für seine Initiative so: „Exhibitions became the creative principle of so-called exhibition makers who were described as exhibition directors and who became catalysts between the creative individual and society. Yet in recent years the focus has shifted and exhibitions in which art works are employed to illustrate the fixation of curators have been widely criticized.“237

Trotz der kuratorischen Offensive innerhalb der letzten vier Dekaden fällt auf, dass renommierte KuratorInnen – und dies insbesondere im Gegensatz zu großen KünstlerInnen – „sterbliche“ Wesen geblieben sind. Nicht nur, weil ihre Werke wie jene des Theaters transitorischer Natur sind. Ein Beispiel: Am 18. Februar 2005 starb der große Ausstellungskurator Harald Szeemann, der mit der documenta 5 (1972) und anderen Ausstellungen das Medium subjektiviert und damit revolutioniert hatte. Auf den Kulturseiten

236 Huber 2002, S. 226. 237 http://www.e-flux.com/projects/next_doc/index.html; Zugriff: 02.08.2008.

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Abbildung 44: Harald Szeemann, Generalsekretär der documenta 5, 1972. Foto: Eberth, documenta Archiv, Kassel.

vieler europäischer Tages- und Wochenzeitungen erschienen nach Szeemanns Tod zahlreiche Nachrufe. Im Mittelpunkt standen Szeemanns einzigartige Karriere und seine künstlerische Identität: „Ausstellungsmacher. Den Beruf gab es gar nicht, den hat Harald Szeemann, 1933 geboren, erst erfunden. Lange bevor das Nomadenvolk der Kuratoren von einem Projekt zum anderen zog. [...] Szeemann hat seine Ausstellungen mit den Künstlern als Künstler inszeniert. Er war der Künstler unter den Ausstellungsmachern, war nicht nur auf ihrer Seite, nicht nur ihr Anwalt und Anreger, er war einer von ihnen.“238

Geht es nach Hans-Joachim Müller, hat Harald Szeemann nicht nur den Kuratorenberuf auf eine künstlerische Stufe gehoben, sondern ihn in seiner Person sogar mit dem Künstlersein versöhnt. Doch in den SzeemannHuldigungen fällt ein deutliches Form-Inhalt-Problem auf, das verrät, dass die Vorstellung vom Kurator als Künstler auch in Zukunft ein Wunschtraum

238 Müller, Hans-Joachim (2005): Leben im Überschwang. Zum Tod des großartigen Kurators und Kunstliebhabers Harald Szeemann. In: Die Zeit, 24.02.2005, S. 53.

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der Kuratoren selbst und ihrer Anhänger bleiben wird, denn das inhaltliche Lob für den Künstler-Kurator Szeemann kontrastiert ganz prosaisch mit der Kürze der Artikel. So war der Feuilleton-Redaktion der Zeit ein Flop der damals 26jährigen Regieanfängerin und nunmehrigen Bayreuth-Erbin Katharina Wagner am Staatstheater München sowohl in textlicher als auch visueller Hinsicht um einiges mehr an Platz wert als die Zusammenfassung von Szeemanns Lebenswerk.

Zeigen als Performance Auf welche Vorbilder können sich KuratorInnen tatsächlich berufen? Sind wirklich Konservator, Bewahrer und Verwalter auf der einen Seite, Künstler, Regisseur und Autor auf der anderen Seite die einzigen Identitätsstifter, die ihnen zur Verfügung stehen? Welche Vorbilder lassen sich in der Geschichte noch entdecken? Ein role-model ist in gewisser Weise der Renaissance-Fürst mit seiner Sammlung. Über Erzherzog Ferdinand II. von Tirol heißt es beispielsweise: „Der persönliche Geschmack des Mäzens bedingte ihre Struktur und ihren Anspruch, sodass ähnlich wie das Einzelkunstwerk selbst der Sammlungskomplex als Ganzes die individuelle Schöpfung einer bestimmten Persönlichkeit ist. Ganz besonders trifft das dann zu, wenn, wie im Fall Erzherzogs Ferdinands II., der Sammler selbst künstlerisch tätig war bzw. seine Anweisungen soweit gingen, dass letztlich der Ausführende zum Handlanger des Auftraggebers wurde. Dieser Umstand wird vor allem beim Komplex Glas deutlich: Ferdinand II. betätigte sich selbst als Glasbläser, und es ist aus dem Jahre 1570 die schriftliche Bitte des Erzherzogs um einen Glasarbeiter aus Venedig erhalten, der keine fantasey in ihm hat, also nicht durch großen Erfindungsreichtum den Intentionen des Auftraggebers im Wege steht.“239

Ferdinand II. baute seine Kunstkammer auf Schloss Ambras nahe Innsbruck auf. Zwar ist die Kunstkammer heute in den Räumlichkeiten der ehemaligen Bibliothek untergebracht, die aktuelle Präsentation gibt aber dennoch einen guten Einblick in die Art ihrer einstigen Aufstellung.240 Bei der Rekonstruk-

239 Scheicher, Elisabeth/Gamber, Ortwin/Wegerer, Kurt/Auer, Alfred (Hg.) (1977): Die Kunstkammer. Kunsthistorisches Museum – Schloss Ambras. Führer durch das Kunsthistorische Museum, Nr. 24. Innsbruck, S. 16f. 240 Ambras ist einer der seltenen Fälle, in denen sich die renaissancefürstliche Kunstkammer überhaupt noch in jenem Ensemble befindet, in dem sie einst zusammengeführt worden war und in dem sich noch der Großteil der damals gesammelten Gegenstände befindet. Zwar sind Teile der Sammlung in der Zwischenzeit nach Wien in das Kunsthistorische Museum und in andere Institutionen getauscht worden und aus Wien wiederum neue dazugekommen. Aufgrund

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tion fällt auf, wie modern dieses alte Konzept im heutigen Sinne ist und wie nahe es zeitgenössischen Ausstellungsstrukturen kommt. Hier eine kurze Beschreibung der 1977 mithilfe der Inventare versuchten Rekonstruktion: 18 Vitrinen-Kästen stehen in einem länglich-rechteckigen Raum Rücken an Rücken241. Jeder Schrank beherbergt eine einzelne Materialgruppe: Holz, Gold, Korallen, Musikinstrumente etc. Die Innenseiten der Schränke sind mit jeweils einer eigenen kräftigen Farbe ausgemalt. Die Farbe und das Material sind aufeinander abgestimmt, sodass das jeweilige Material bestmöglich zur Geltung kommt. Insgesamt sind in jedem Schrank zwischen 10 und 30 Objekte zu sehen. „Demnach waren die Objekte in 18 Rücken an Rücken in der Hauptachse des Raumes stehenden Kästen auf Fächern nach Art einer Kredenz (Tatten) angeordnet. Dazu kamen zwei an den Schmalseiten postierte Zwerchkästen und freistehende, als Repositorien (=Ablagen) dienende Schränke, in deren Laden Zeichnungen und Aquarelle aufbewahrt waren, Gemälde – Porträts und Historien – füllten dicht gedrängt die Wände, von der Decke hingen präparierte Tiere, Fische, Echsen und Tierknochen. Das Prinzip der Aufstellung war das der Materialgleichheit, d.h. Gold, Silber, Stein, Porzellan, Holz etc. waren, unabhängig von Herkunft und Thema, in jeweils einem Kasten vereinigt. Was sich dieser Einordnung entzog, d.h. wo der jeweilige Bestand nicht zur Füllung eines ganzen Kastens reichte, wurde im sogenannten Variokasten zusammengefasst.“242

Die historische Präsentation, wie sie sich hier liest und im heutigen Ausstellungsraum betrachten lässt, erscheint tatsächlich als ein Ausstellungsraum im modernen Sinne. Mein Moderne-Enthusiasmus wurde jedoch im Gespräch mit der Ambras-Kustodin Veronika Sandbichler wieder etwas gedämpft. Sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf zwei wichtige Details: Zum Ersten, erklärte sie, müsse ich mir diese Kästen, die sich heute mit einer Vorderseite aus Glas präsentieren, prinzipiell als geschlossene Möbelstücke vorstellen, vielmehr also wie einen zu öffnenden Kleiderkasten, denn als eine hochformatige Schauglasvitrine. Und zweitens waren diese Kästen bis obenhin voll, teilweise sogar wiederum mit kleinen Kästchen, in deren Lädchen und Fächern unzählige Dinge versteckt waren. Die Farben, mit denen die Innenseiten der Kästen laut Inventar schon damals ausgemalt wurden, waren also keineswegs so bestimmend wie heute, wo die Vitrinen nur mit durchschnittlich 20 Objekten bestückt sind und die Vitrinen-Innenwände zudem mit einem eigenen Lichtsystem beleuchtet sind. Wahrscheinlich aber

der 1595 und 1621 erstellten Inventare ist jedoch rekonstruierbar, dass viele Gegenstände nach wie vor in situ sind. 241 Einige dieser Schränke stammen noch aus der originalen Kunstkammer Ferdinands II. 242 Scheicher/Gamber/Wegerer/Auer 1977, S. 14.

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Abbildung 45: Die Kunst- und Wunderkammer auf Schloss Ambras mit den achtzehn Rücken an Rücken stehenden Schaukästen, 2005. Foto: W. H.-L.

kamen die Dinge nicht so sehr im Kasten selbst zur Geltung, sondern erst nachdem sie der Fürst (oder ein von ihm Beauftragter) aus dem Kasten genommen, auf eines der Repositorien gelegt oder einem seiner Gäste in die Hand gegeben hatte. Denn viele Kunstkammergegenstände wie Pokale oder Maschinen entfalteten ihren Zauber erst durch Bewegung bzw. wechselnden Lichteinfall. Ich habe in meinem Einleitungsaufsatz Wenn Handschuhe sprechen das Verhältnis zwischen den KuratorInnen und den BesucherInnen und den Dingen kurz umrissen. Dabei habe ich die KuratorInnen im Ausstellungsspiel, in dem die BesucherInnen auf die Dinge treffen, als die unsichtbaren Mitspieler bezeichnet. Ich habe auch festgestellt, dass die KuratorInnen die Dinge aussuchen und Texte ins Spiel bringen, mit denen sie die Dinge zähmen oder laden. Die Texte können den BesucherInnen helfen, ihre inneren Dialoge mit den Dingen in Gang zu bringen. KuratorInnen sind heute also VermittlerInnen im Hintergrund.243 In der Ambraser Kunst- und Wunderkammer gab es zur Zeit Ferdinands II. hingegen noch keine unsichtbare Person, die schon wieder verschwunden war, bevor die Besucher den Ausstellungsraum betreten hatten. Denn Ferdinand II., der diese Sammlung selbst zusammengestellt und ihre Präsentation erarbeitet hatte, zeigte sie seinen Gästen selbst. Er hat die Schränke geöffnet oder öffnen lassen, hat die Dinge herausgeholt, sie in der Hand gehalten, mit

243 Vgl. Kapitel 3.2 Die Ausstellung als Drama.

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ihnen im Licht gespielt oder sie auf einen Beistelltisch bzw. –schrank gestellt und die Wunder der Dinge selbst erörtert. Entscheidend dabei war der Akt des Schranköffnens, der, als Überraschung inszeniert, den Blick auf eine Unzahl von Dingen im selben Material freigab. Die Hintergrundfarbe der Kästen blitzte wohl durch die zahlreichen Gegenstände, insbesondere im Moment des Herausnehmens. Aus dem Kasten herausgeholt und auf den Tisch gestellt/ausgestellt, konnte Ferdinand nun den Dingen ihren Raum bieten, den sie vorher nicht hatten. Aus den Kästen wurden kleine Kästchen geholt und aus diesen wiederum Dinge. Der Akt des Zeigens konnte beliebig verkürzt und gestreckt werden. Während die Kästen mit ihren Farben den Akt des Ausstellens also ästhetisch unterstützten, war der Akt des Herausstellens, Ausstellens und Herzeigens durch den Fürsten der eigentliche Moment, in dem die Dinge mit Bedeutung aufgeladen und einer neuen Ordnung zugeführt wurden. Im Akt des Zeigens war dieselbe vergängliche Zeit im Spiel, wie wir sie heute aus dem Theater kennen, denn Zeigen war und ist ein transitorischer, einmaliger und nicht exakt wiederholbarer performativer Akt. Die Besucher der fürstlichen Kunst- und Wunderkammer verließen schließlich den Raum wieder gemeinsam mit der Person, die ihnen die Kunst- und Wunderwerke gezeigt hatte. Es gab also noch kein Betrachten jenseits der heute so genannten „Führung“. Die fürstliche Kunstkammer der Renaissance, zumindest jene in Ambras, war also einmal – wie das Theater – ein Raum, in dem alle Akteure zur selben Zeit verweilten und aufeinander reagieren konnten, wo „die Welt nachgespielt wurde“ 244. Dieses Nachspielen der Welt fiel dabei immer zugunsten des Fürsten, der eine große Sammlung besaß, aus. Eine Kunstkammer-Sammlung des 16. Jahrhunderts wies, wie man in Samuel Quicchebergs Schrift Das umfangreichste Theater245 ersehen kann, einen dem Triumphzug eines Renaissancefürsten ähnlichen Aufbau auf. Der Wert der Kammer fiel immer auf den Fürsten selbst zurück. Doch dieser sonnt sich nicht nur im Glanz der Dinge, er macht sich auch die Welt untertan, indem er zeigt, dass er alles, was diese Welt symbolisiert, auf Grund seiner weltumspannenden Beziehungen an seinen Stammort bringen kann. Die Welt ist für ihn quasi eine Ausstellung, in der er der erste Besucher ist. Auf dieser „Weltausstellung“ sucht er Dinge aus, die er in sein Schloss bzw. Museum bringt, wo er sie zu einem hoch konzentrierten Weltmodell verdichten kann. Dieser Mechanismus ist heute noch bei den verantwortlichen PolitikerInnen/DirektorInnen/KuratorInnen wirksam. In ganz ähnlicher Form erhöhen spektakuläre Wechselausstellungen und Neuerwerbungen auch heute noch den Wert von städtischen und staatlichen Gemeinwesen, wirken sich positiv auf das Image der zuständigen PolitikerInnen, MuseumsdirektorInnen und KuratorInnen aus.

244 Holländer 1998, S. 15. 245 Siehe Kapitel 4.5, Unterkapitel Das Umfangreichste Theater als Trionfo.

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Das geteilte Erbe des Renaissancefürsten Die Ausstellung präsentiert sich heute als konservierte Performance. Unbeobachtet bzw. „unbesucht“ verharrt sie in einem eingefrorenen Aggregatszustand. Es sind die BesucherInnen, die die im Raum gespeicherten Informationen durch ihre Aufmerksamkeit reaktivieren. Raum, Objekte und Texte sind also Speichermedien, in denen die Information und Motivation der AusstellungsmacherInnen auf die Konfrontation mit den BesucherInnen warten. Doch nicht die gesamte „Zeige-Performance“ hat sich in der heutigen Ausstellung in Speichermedien verflüchtigt. Aus der Zeit, in der die Ausstellung mit dem zeigenden Fürsten noch Life-Performancecharakter im Sinn einer Aufführung besaß, sind zwei Phänomene übrig geblieben: die Museumsführung und die Eröffnung. Der Museumsguide oder -führer hat die Rolle des Zeigers und Offenbarers vom Fürsten übernommen. Der Audioguide ist wiederum ein in ein Speichermedium verpackter Museumsführer und erfüllt eine ähnliche Aufgabe. Die konservierte Stimme kann durch eine Ausstellung „führen“, ganz im Sinne des menschlichen Museumsführers hat sie eine offenbarende und zeigende Wirkung, die sich in Sätzen wie „Beachten Sie die Figur rechts ...“ manifestiert. Doch der Audioguide kann sich nur an einen Besucher oder eine Besucherin richten, niemals an eine Gruppe. Er kann also kein gleichzeitiges Erlebnis zwischen mehreren Menschen wie im Theater oder bei einer Museumsführung durch einen Guide erzeugen.246 Wie sich der Kreis vom Fürsten zum Audioguide schließt, lässt sich in der Galleria Doria Pamphilj, einer großen privaten Gemäldegalerie in Rom beobachten, in der sich auch das berühmte Porträt Papst Innozenz’ X. von Diego Velazquez befindet.247 In den 1990er Jahren wurde die Galerie wieder weitgehend auf jenen Hängeplan rekonstruiert, der nach 1731 entstanden war. Das Konzept, sowie die Geschichte des Hauses und der Familie werden im Audioguide von zwei Stimmen erläutert. Eine weibliche Stimme erklärt vor allem kunsthistorische Details und Zusammenhänge, eine männliche Stimme, die immer wieder in der Ich-Form erzählt, entpuppt sich als der 1963 geborene Fürst Jonathan Paul Andrea, heutiges „Oberhaupt“ der Familie Pamphilj. Er schrieb am Text mit und besprach sowohl den italienischen als auch den englischen Audioguide, präsentiert das Haus und die Samm-

246 Auch die Kommunikationsmöglichkeiten weichen vom Museumsführer ab: Die BesucherInnen können keine individuellen Fragen stellen, müssen sich mit vorgefertigten „Antworten“ zufrieden geben. Dafür können sie den Audioguide nach Lust und Laune konsultieren, können langweilige Passagen abbrechen, interessante hingegen wiederholen. 247 Innozenz X. wurde 1644 zum Papst gewählt und stammte auf der Familie Pamphilj. Sein Geburtsname lautete Giovanni Battista Pamphilj, er lebte von 15741655.

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lung also aus der Familienperspektive, wobei er zwischen kunsthistorischem Ernst und einer leichten Ironie gegenüber der Vergangenheit seiner Familie changiert. Mithilfe des Audioguides gelingt es ihm, den Besuch in der fürstlichen Galerie in Anwesenheit des Fürsten zu reinszenieren. Neben der Führung durch Guides und Audioguides gibt es noch ein zweites, wichtiges Ritual, das an den Besuch in der fürstlichen Kunst- und Wunderkammer bzw. Galerie erinnert: die Ausstellungseröffnung. Hier ist der Geist des Renaissancefürsten nach wie vor spürbar, auch wenn sich seine Gewalt durch Demokratisierung und Arbeitsteilung gespalten hat: Das Ritual der Eröffnung wird heute in den meisten Fällen von einem Museumsoder Kunsthallendirektor, einem Kurator und einem Politiker getragen, in manchen Fällen sogar von einem anwesenden Künstler. Die zwischen den Reden bisweilen eingesetzte Musik erinnert dabei entfernt an die frühere Festkultur. Einem Fürsten wie Erzherzog Ferdinand II. von Tirol gelang es, viele dieser Positionen in sich zu vereinigen. Neben der politischrepräsentativen Aufgabe war er quasi Direktor und Kurator der Sammlung, als gebildeter Humanist auch ihr wissenschaftlicher Leiter, in manchen Fällen sogar ein ausführender Künstler. Zwar ist der Inhalt der Reden bei Ausstellungseröffnungen heute meist abstrakt, nicht mehr am Objekt orientiert. Doch wenn die ideologischen und historischen Geheimnisse durch DirektorIn, KuratorIn oder PolitikerIn gelüftet sind und Letztere/r knapp vor dem theatralischen Applaus zu dem obligaten Satz „Es ist mir eine große Ehre, diese Ausstellung für eröffnet zu erklären“ gelangt, so ist im übertragenen Sinne genau das passiert, was sich zwischen dem Renaissancefürsten und seinen Gästen bei jedem neuen Besuch in der Kunstkammer beim Aufsperren der Kästen ereignet hat. Die Führung einer Gruppe und die Ausstellungseröffnung sind zwei Performances mit Ritualcharakter, die sich einst zwischen dem Fürsten und seinem Gast abgespielt haben. Durch Demokratisierung, Professionalisierung bzw. Arbeitsteilung werden die Aufgaben des Fürsten heute von mehreren Personen und Funktionsträgern wahrgenommen. Auch der Gast als Besucher hat eine demokratische Transformation durchlaufen, er oder sie muss nicht mehr aus dem Umkreis der höfischen Gesellschaft stammen, um Einlass zu finden: „Sicher waren die Besucher von Schloß Ambras im 16. Jhdt. nicht identisch mit den Bevölkerungsschichten, die heute in ein Museum kommen, doch liegt in der Aufstellung der Privatsammlung des Erzherzogs zur Freude und Belehrung seiner Gäste eine Wurzel für die öffentlichen Sammlungen unserer Zeit. Es ist daher wohl auch kein Zufall, sondern mehr Genius loci, daß bereits 1615 von Erzherzog Maximilian III. Regelungen betreffend die Fremdenführungen in Ambras getroffen wurden.“248

248 Scheicher/Gamber/Wegerer/Auer 1977, S. 15.

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Die Professionalisierung der fürstlichen Tätigkeiten in der Kunst- und Wunderkammer sowie die Teilung seiner Kompetenzen hatten, wie sich aus der Existenz der Regelung zu den Fremdenführungen im Jahr 1615 erschließen lässt, schon früh in der Geschichte des Ausstellens begonnen. Der Kurator erhielt oder übernahm in weiterer Folge die Rolle des Wissenden, des Objekt-Jägers249, des Kommunikators, des Verwalters, später auch einmal des Kreativen und sogar des Künstlers. Dabei ist es interessant zu beobachten, dass es gerade die Tätigkeit des aktiven, performativen Zeigens in der Ausstellung ist, auf die die KuratorInnen heute gerne verzichten: Bereitwillig wird diese Aufgabe an den sogenannten museumspädagogischen Dienst bzw. die Vermittlungsabteilung abgegeben.250 Genau genommen verhalten sich KuratorInnen wie RegisseurInnen oder DichterInnen von Theaterstücken, die die Bühne nur zum Premierenapplaus betreten, um sie in weiterer Folge dann ihren Schauspielern alleine zu überlassen.251

Der Chor und das Ich – Subjektive Gehversuche vs. Ich-Schwäche des Kurators Ich kehre zum Ausgangspunkt meines Kuratorenkapitels zurück und beleuchte nochmals den Widerspruch zwischen dem Streben der zeitgenössi-

249 Auch schon im 16. Jahrhundert gab es spezialisierte Personen, die die Beschaffung der Objekte für die Fürsten erledigten. Beispielsweise Jacopo Strada (1515-1588) für die Habsburger und den Bayrischen Hof. Samuel Quiccheberg reiste ebenfalls für den bayrischen Herzog Albrecht V., der angeblich zu korpulent war, um weite Strecken selbst zurücklegen zu können, durch Europa, um Wertvolles zu sammeln. 250 „Kuratorenführungen“ werden extra angekündigt und gelten als etwas Besonderes. 251 Eine Ausnahme ist der Kurator und Kulturwissenschaftler Herbert Lachmayer, der die Führungen durch eine Ausstellung als Life-Akt auffasst. Als er 2006 anlässlich des Mozartjahres die Ausstellung Mozart. Experiment Aufklärung in der Wiener Albertina kuratierte, verbrachte er selbst viel Zeit in den Ausstellungsräumen, um Gruppen zu führen. Armin Thurnher porträtierte ihn in der Wiener Stadtzeitung Falter so: „Die Dame an der Albertinakassa ist beeindruckt. ‚Sowas hab ich noch nie gesehen! Einen der sich so für seine Ausstellung einsetzt!‘ Die Kollegin pflichtet ihr bei: ‚Es ist ihm egal, auch wenn nur einer da ist, er betreut ihn genauso ausführlich wie dreißig Gäste.‘ Beinahe jeden Tag seit Eröffnung der Ausstellung im März dieses Jahres führt Herbert Lachmayer angemeldete Gruppen durch die Mozart-Ausstellung ‚Experiment Aufklärung‘.[...] Den Text, knapp fünfhundertmal gesprochen, hat er immer neu formuliert, sein Konzept erklärend, seine Zentralbegriffe erläuternd.“ (Thurnher, Armin (2006): Rokoko? Wiedererfinden! In: Falter, Nr. 38, 20.09.2006.)

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schen KuratorInnen, die, um mit Szeemann zu sprechen, aus ihrem Spüren den Dingen gegenüber eine Geschichte entwerfen wollen, und der Tatsache, dass diese heutigen KuratorInnen – nicht anders als die Generation vor ihnen – das Wort „ich“ in Texten, die sie für den Ausstellungsraum verfassen, nicht verwenden. Während die Ich-Form als subjektiver Ausdruck inzwischen in der wissenschaftlichen Literatur akzeptiert und gebräuchlich geworden ist, bleibt das Ich im Ausstellungstext ein Fremdkörper. Was sind die Gründe dafür? Zeigt das fehlende Ich ein Tabu an? Oder handelt es sich um eine falsche kuratorische Bescheidenheit oder um ein bequemes, aber unzeitgemäßes Verstecken hinter einer Pseudo-Objektivität? Oder liegt der Grund vielmehr in der Struktur der Ausstellung selbst? Warum fehlen bei den Ausstellungstexten auch die Autorennamen, warum finden sich keine Kürzel wie bei Zeitungsartikeln an ihrem Ende? Und warum ereilte mich bei den wenigen Ausnahmen – beispielsweise bei einer Ausstellung im Brooklyn Museum of Art252, bei der die Kuratorin auf jeder Raumtexttafel mit ihrem Namen quasi „unterschrieb“ – ein irritierendes Gefühl, als würde ein ungeschriebenes Gesetz durchbrochen werden? Warum schien mir, dass ihr Text, obgleich ich natürlich darauf vertraute, dass sie ihn selbst und alleine verfasst hatte, mehr einem allgemein gültigen Text entsprechen würde, dessen chorhafte Mehrstimmigkeit der Unterschrift ihres Namens widersprach? Von diesem unbestimmten Gefühl auf die richtige Spur brachte mich eine Passage in einem Roman des japanischen Autors Haruki Murakami. In Kafka am Strand lässt Murakami den 15jährigen Kafka, der von seinem Zuhause in Tokio ausgerissen ist, auf den Bibliothekar Oshima in einer Bibliothek einer südlichen japanischen Provinzstadt treffen. Kafka freundet sich mit Oshima an und spricht mit ihm über das Leben und die Literatur. Sie streifen die griechischen Mythen und landen schließlich bei der antiken Tragödie: „‚Falls du sie noch nicht kennst, solltest du die Stücke von Euripides und Aischylos lesen. Darin werden die essentiellen Probleme ihrer Zeit sehr deutlich beschrieben. Durch den Chorus.‘ ‚Chorus?‘ fragt Kafka. Darauf erwidert Oshima: ‚Im griechischen Theater trat ein Chor auf, der hinter der Bühne stand, das Geschehen kommentierte, für die tieferen Bewusstseinsschichten der dargestellten Personen sprach und ihnen zuweilen heftig zuredete. Eine sehr praktische Einrichtung. Manchmal glaube ich, es wäre gut, auch so eine Gruppe hinter mir zu haben.‘“253

252 The Jewish Journey: Fréderic Brenner’s Photographic Odyssey, 03.10.2003 – 11.01.2004. Die Kuratorin der Ausstellung war Dara Meyers und wurde vom Museum als Gastkuratorin genannt. 253 Murakami, Haruki (2006): Kafka am Strand. Roman. München, S. 216. In Murakamis Texten sind theatertheoretische und –historische Details und Vergleiche

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Ein Chor, der das Geschehen kommentiert, für die tieferen Bewusstseinsschichten der dargestellten Personen sprach und ihnen zuweilen heftig zuredete: In gewisser Weise findet sich in dieser Charakterisierung viel von dem vereint, was auch für den Ausstellungstext gilt. Zum Beispiel den Einführungstext am Beginn der Ausstellung, oder den Raumtext, der das Kapitel einleitet, oder sogar den Objekttext, der den Besuchern die Gestalt und die Geschichte eines Exponats näher bringt. Während das Kommentieren des Geschehens dem Herstellen des Kontextes in der Ausstellung gleichkommt, spricht der Ausstellungstext über jene Schichten, über die die ausgestellten Dinge selbst nicht Auskunft geben können, über ihre Geschichte, ihre Schöpfer, ihre Vorbesitzer, also über Informationen, die in dem reduzierten Dialog, der zwischen Besucher und Ding stattfindet, ungesagt bleiben würden. Genauso wie auch im rein dialogischen Drama unbewusste Dinge ungesagt bleiben müssen.254 Wer aber ist dieser Chor? Wer spricht ihn und wer hört ihn? „So wenig der Chor also ‚die Stimme des Dichters‘ ist, so wenig ist er die Stimme des Publikums: er steht zwischen diesem und den Helden, wie es dem Raum entspricht, der ihm vor allem zugewiesen ist, der Orchestra.“255

Siegfried Melchingers Chor-Analyse bestätigt meine Überlegungen: Der Chor steht im antiken Drama zwischen dem Publikum und den Helden und spricht sowohl Zuschauer als auch Darsteller an. Was aber genau meint er mit dem Hinweis, der Chor wäre weder Stimme des Dichters noch des Publikums? Dazu ist es hilfreich, näher auf den Kontext von Melchingers Gedanken einzugehen. Über Sophokles schreibt er: „Sein Chor hat stets dramatische Funktion; oft greift er in die Handlung ein; meist hat er einen bestimmten, scharf umrissenen Charakter; mehrere Male sind es die ‚Alten‘, die wie in frühen Verfassungen den Rat des Volkes bilden [...] und konservativen Ansichten Ausdruck geben, oder es sind junge Mädchen, Soldaten, einfach ‚Volk‘

keine Seltenheit. Der 1949 geborene Autor studierte an der Waseda Universität in Tokyo Theaterwissenschaft und Drehbuchschreiben. Warum Murakamis Oshima die Position des Chors, die sich genau genommen „vor der Bühne“, bzw. in der Orchestra zwischen der Bühne und dem Zuschauerraum befand, „hinter der Bühne“ verortet, ist jedoch nicht nachzuvollziehen. 254 Vgl. Peter Szondi: „Alles was diesseits oder jenseits dieses Aktes war, musste dem Drama fremd bleiben: das Unausdrückbare sowohl wie der Ausdruck, die verschlossene Seele wie die dem Subjekt bereits entfremdete Idee.“ (Szondi 1965, S. 14.) 255 Melchinger, Siegfried (1990): Das Theater der Tragödie. Aischylos, Sophokles, Euripides auf der Bühne ihrer Zeit. München, S. 65. Auch wenn Melchingers Thesen in manchen neuen Ansätzen zum Teil widersprochen wird, ist seine Arbeit für die Fragestellung hier sehr relevant.

220 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA darstellend, die polloi, die auf einer anderen Ebene denken und sprechen als die Helden. Wenn der Dichter selbst aus den Worten des Chores sprechen sollte, dann niemals anders, als er auch aus den Worten des Helden sprechen könnte. Sophokles ist objektiv wie alle Tragiker; seine Meinung hören wir kaum aus einzelnen Reden, immer nur aus dem Sinn, um dessentwillen die Tragödie geschrieben und aufgeführt worden ist.“256

Melchingers Beobachtungen zum griechischen Theaterdichter lassen sich gut auf die zeitgenössischen AusstellungskuratorInnen übertragen: Letztere schreiben die Ausstellungstexte (selbst wenn diese jemand anderer getextet hat, so liegen die Aussagen doch in ihrer Verantwortung) und setzen die Teile einer Ausstellung zusammen. Wie die DramatikerInnen sind auch die KuratorInnen in dem von ihnen geschriebenen und inszenierten Ausstellungsdramen in gewissem Rahmen objektiv, und sprechen nur „aus dem Sinn, um dessentwillen die Tragödie [Ausstellung] geschrieben und aufgeführt worden ist“. Wenn man die KuratorInnen „aus den Worten“ ihrer Texte heraus hören kann, so sprechen sie, analog zu den sophokleischen Helden auch genauso aus den Dingen, die sie in den Raum gestellt bzw. ausgestellt haben, selbst wenn es von KünstlerInnen entworfene Dinge sind, die dadurch eine weitere Autoreninstanz in sich tragen. „Texte gehören zum Kerngeschäft des Ausstellens. Mit ihrer Hilfe werden kuratorische Gedankengänge ebenso nachvollziehbar wie durch die dramaturgisch stringente Gruppierung von Exponaten. [...] Natürlich existieren Kunstwerke oder kulturhistorische bedeutsame Objekte auch ohne kuratorische Initiation. Aber erst wenn sie in einen Denkzusammenhang geraten, werden sie aktiviert und bekommen Rollen im Schau-Spiel. Jedes Spiel hat Regeln und Intro-Texte, Raum-Leittexte und Objektbeschriftungen erhöhen die Chance, diese Regeln kennen zu lernen.“257

In diesem Sinne ist auch die von Melchinger beschriebene „dramatische Funktion“ des Chores, der in die dramatische Handlung eingreift, für den Ausstellungstext stimmig. Und auch Aristoteles’ wichtigster Rat zur Verwendung des Chors ließe sich gut in einem Praxisbuch für Ausstellungen anführen:

256 Melchinger 1990, S. 64f. 257 Kos, Wolfgang (2003): Müssen Beschriftungen auf dem Boden kleben? Über das anhaltende Desinteresse der Ausstellungsgestalter am Textmanagement. In: Stocker, Karl/Müller, Heimo (Hg.): Design bestimmt das Bewusstein, Ausstellungen und Museen im Spannungsverhältnis von Inhalt und Ästhetik. Museum zum Quadrat, Bd. 16. Wien, S. 82.

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„Den Chor [den Ausstellungstext] muss man ebenso einbeziehen wie einen der Schauspieler, und er muss ein Teil des Ganzen sein und sich an der Handlung beteiligen [...]“258

Der Text in der Ausstellung ist wie der Chor im Drama eine wichtige Stimme, er ist immer da, und er greift immer invasiv oder ausgleichend in die polyvokale wie auch polyfokale Narration der Ausstellung ein. So ist der erste Text in der Ausstellung sowohl in seiner Rhetorik als auch in seiner Form eine Konvention und ein Ritual, und zwar ein dialogisches und ein dramatisches. Er spricht die BesucherInnen, die einen neuen Raum betreten, frontal an, begrüßt sie, konfrontiert sie, umreißt den Zusammenhang der Ausstellung. Dazu kommen die Danksagungen an all jene, die mit ihren wertvollen Dingen, ihrem Wissen, Wohlwollen und Geld die Ausstellung ermöglicht haben. Dieser Dank erscheint wie eine Versicherung und ein Friedensangebot an die Welt (an die Menschen und Götter), ganz so, als könnte die „bestohlene“ und „belauschte“ Welt den Ausstellungsmachern wegen der Teile, die ihr für die Dauer der Ausstellung entrissen wurden, zürnen. Einer strengen rituellen Form ist auch die Gestalt des Textes unterworfen. Er muss kurz genug sein, um die sich grundsätzlich in Bewegung befindlichen Besucher nicht zu ermüden, muss sowohl den Regeln der Lesbarkeit als auch dem grafischen Zeitgeist gehorchen: „Zu oft jedoch wird man mit enormen und typografisch ungegliederten Textmengen begrüßt, die zwar über Motiv, Anlass und Ziel der Ausstellung nur vage Auskunft geben, dafür aber vom Ehrgeiz geprägt sind, einen vielseitigen Katalogaufsatz zu verknappen. [...] Dazu kommt als Verschärfung häufig, dass man für die ungeliebte Aufgabe ‚Einleitungstext‘ keine gute Wand opfern möchte, sondern diesen behandelt als handle es sich um Blindtext – etwa indem man ihn in einem engen Vorraum oder in einem Gang anbringt, der es dem Lesenden nicht gestattet, den Abstand zum Text selbst zu bestimmen. [...] Gute Textkommunikation geht also weit über Inhalt und Stil hinaus. Sie denkt auch die Sinneswerkzeuge der Besucher mit und weiß, dass Textsprache im Museum auch immer mit Körpersprache und Zeitmanagement zu tun hat.“259

Kos’ Ausstellungstext-Analyse, in der Begriffe wie Textsprache, Körpersprache und Zeitmanagement dominieren, ist nichts anderes als ein Plädoyer für das Dramatische in der Ausstellung. Eine der Grundbedingungen für die Aufführbarkeit eines Theaterstücks ist, in einigen wenigen Stunden über die Bühne gehen zu können. Darum sind Zeit und Kürze im Drama eine wichtige Konstante. Und daher schreibt Aristoteles:

258 Aristoteles 1982, 18. Kapitel, S. 59. 259 Kos 2003, S. 83.

222 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA „Man darf auch nicht außer Acht lassen, was schon wiederholt gesagt wurde, und darf kein episches Handlungsgefüge zu einer Tragödie machen (unter ‚episch‘ verstehe ich Handlungsvielfalt), wie wenn jemand die gesamte Handlung der ‚Ilias‘ bearbeiten wollte.“260

Kos’ Vorwurf vom „verknappten vielseitigen Katalogaufsatz“ als Einführungstext, der in die gleiche Richtung wie Aristoteles’ Ilias-Vergleich stößt, lässt sich daher auch als Rat formulieren, anstatt eines abgespeckten Epos lieber gleich einen dramatischen Text zu verfassen. Doch die Ausdehnung ist nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen der Dramatik und der Epik. Der Einleitungstext im Stiegenhaus-Gang, der die Besucher den Abstand zum Text nicht selbst bestimmen lässt, ist dafür ein gutes Beispiel, denn der Gang ist ein schlechter Ort für eine Konfrontation: Hier stoßen die Besucher nicht auf den Text, hier gleiten sie vorbei. Texte in Ausstellungen sind eben keine Texte in Büchern, sie haben eine „Gestalt“, mit der wir uns zurechtfinden oder auch nicht. Daher auch der Hinweis, dass ein guter Einleitungstext auch immer die Sinneswerkzeuge der Besucher mitdenkt und „dass Textsprache im Museum auch immer mit Körpersprache“ zu tun hat. Es geht um einen Dialog zwischen Mensch und Text im Raum. Das Wort Textkommunikation, das im ersten Moment wie eine Tautologie anmutet, wird hier plastisch und sinnvoll: Menschen lesen nicht nur im Raum, sie kommunizieren auch mit dem Text, verhandeln mit ihm, geben ihre Zeit und Aufmerksamkeit und nehmen dafür die Ansprache, Information und Reflexion entgegen. Oder eben auch nicht. Denn die BesucherInnen einer Ausstellung sind in einer starken Position: Sie können Texte jederzeit auch ungelesen „stehen lassen“ und sind dennoch im Stande, sich ihre eigene Geschichte aus den restlichen Versatzstücken der Ausstellung zu erzählen. Mit dem Vergleich zwischen den Konventionen des Ausstellungstextes und dem Chor des griechischen Theaters konnte ich eine weitere strukturelle Wurzel der Ausstellung aus dem dramatischen Genre destillieren. Doch der Chor bietet hinsichtlich der Ausstellung und ihrer Texte noch weitere Wiedererkennungen bzw. Erkenntnisse an, unter anderem zu der Frage, warum das Wort „ich“ nicht in Ausstellungstexten zu lesen ist. Der Chor, der in der Tragödie für die Mehrstimmigkeit und die rhythmische Struktur des Diskurses sorgte, bestand in klassischer Zeit aus dem Kollektiv der 15 Choristen, unter dem sich auch der Chorführer befand, der im Griechischen Koryphaios hieß und von dem sich die Koryphäe herleitet. Wenn wir nun diesen Begriff der Koryphäe vor unsere sensibilisierten Ausstellungs-Augen holen, so werden wir feststellen, dass er präzise auf die Rolle des Ausstellungskurators passt, der als geistiger oder künstlerischer Leiter eines Teams zum Sprecher eines Diskurses geworden ist. Gleichzeitig kann man den Ausstellungskurator als Person nicht auf die Rolle des Chorführers reduzieren, denn AusstellungskuratorInnen sind die AutorInnen der

260 Aristoteles 1982, 18. Kapitel, S. 59.

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gesamten Ausstellung und das ganz im Sinne des antiken Tragikers, von dem Melchinger behauptet, dass er „objektiv“ in dem Sinne ist, dass er nicht aus den einzelnen Stimmen, sondern nur „aus dem Sinn, um dessentwillen die Tragödie geschrieben und aufgeführt worden ist“ spricht. Der Kurator oder die Kuratorin ist also meist nur als AutorIn des gesamten Projektes ein Ich, ein Subjekt. KuratorInnen teilen sich wie DramatikerInnen durch Dialoge mit, die sie zwischen den Dingen und den BesucherInnen initiieren bzw. inszenieren sowie durch die Chorebene, die ihnen in der Ausstellung durch Einleitungs-, Raum- und Objekttexte zur Verfügung steht. Das Ich ist in der Ausstellung wie im Drama möglich, aber eben nur im Zitat, d. h. in der Stimme eines Akteurs, nicht in der Stimme des Erzählers. Ein Beispiel, das Wolfgang Kos im MAK, dem Museum für Angewandte Kunst in Wien gefunden hat, eignet sich gut, um diese Regel zu demonstrieren. Eine Ausstellung zu den Arbeiten des Keramikkünstlers Franz Josef Altenburg begann hier folgendermaßen: „Ich verstehe schon, dass die Keramik verachtet wird.“

Und Kos schloss daraus: „Die Absetzung vom Resttext animierte auch Leseverweigerer dazu, in den Text einzusteigen. Und die Anführungszeichen und das demonstrative ‚Ich‘ machten klar, dass hier nicht irgendein Textvermittlungsneutrum zum Besucher sprach, sondern der Künstler selbst. [...] Natürlich war es nicht der Künstler selbst, der so verschmitzt die Besucher begrüßte, sondern der Kurator, Christian Witt-Döring, der den Satz, in Gesprächen aus dem Künstler herausgekitzelt hatte und damit vielleicht auch ein wenig seine eigene Zwitterposition als Fachkurator in einem Museum mit verstärktem ‚Kunst‘-Profil thematisierte.“261

Der Ausstellungstext eines Kurators gehört, so wie auch alle anderen ausgestellten Dinge, zu seinem „Gesamttext“, wie eben König Ödipus als Gesamttext zu Sophokles gehört, obwohl dieser sich nur durch dritte Figuren, Darsteller und Chorleute, ausdrückt. Christian Witt-Döring hat, indem er das Wort „ich“ in seinen Einleitungstext integrierte, sich dennoch an die „NichtIch-Regel“ des Ausstellungstextes gehalten. Wie Sophokles schrieb er also eine Rolle, und besetzte sie gut, denn er fand eine authentische und glaubwürdige Gestalt für seine Aussage: den Künstler selbst, das Symbol schlechthin für gelebte Subjektivität und Individualismus. Nicht-Ich ist auch der Titel eines späten, kurzen Theaterstücks von Samuel Beckett.262 Und tatsächlich kann man in der Szenerie, die Beckett mit seinem Text auf die Bühne stellt, eine Parabel sowohl auf den Kura-

261 Kos 2003, S. 79f. 262 Der englische Originaltitel von Nicht ich lautet Not I. Das Stück wurde 1972 geschrieben und in New York uraufgeführt.

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tor/Dramatiker, der zwar spricht, aber behauptet, dass er die Geschichte von jemandem anderen erzählt, als auch auf seinen Besucher/Zuschauer, der mit „größter Aufmerksamkeit [...] wie ein gebrechlicher Beichtvater zuhört“, erkennen. „Das einzige Objekt auf der völlig schwarzen Bühne ist ein ‚Mund‘, ein roter Riß. Der Mund erzählt, was die Geschichte einer anderen Frau sein soll, aber es ist klar, daß die Frau, zu der dieser Mund gehört, ihre eigene Geschichte erzählt. Ihr gegenüber, in einer Ecke der Vorderbühne, erkennt man die Silhouette einer vermummten Gestalt, ‚eine große schweigende Druidengestalt‘, wie manche Kritiker meinen, während andere die ‚Silhouette eines Affen‘ darin erkennen; sie hört mit größter Aufmerksamkeit zu, wie ein alter gebrechlicher Beichtvater.“263

Der Mund gibt vor, die Geschichte eines anderen zu erzählen, und dabei ist es doch die eigene. Die Szene, in der der Besucher/Zuschauer mit „größter Aufmerksamkeit“ zuhört, ist auch ein Symbol für die DramatikerInnen und KuratorInnen, die mit Hilfe anderer Personen und Dinge eine eigene Geschichte, vielleicht sogar ihre eigene Geschichte erzählen, ohne von sich selbst zu sprechen, ohne das Wort „ich“ zu verwenden.

Die Ausstellung als Drama des Kurators Chor, Dialog, Struktur und Rhythmus Die erhellende Analogie des griechischen Tragödienchors mit dem zeitgenössischen Ausstellungstext hat mich motiviert, abschließend die AbfolgeStruktur des griechischen Dramas generell mit jener der Ausstellung zu vergleichen. Dabei hilft zuerst ein Blick in die Geschichte der griechischen Tragödie selbst. Der Wechsel zwischen Chor und Schauspielern spielte darin eine entscheidende Rolle. Aristoteles hat in der Poetik nicht nur empfohlen, den Chor wie einen Schauspieler in die Tragödie einzubauen und zu einem Handlungsträger zu machen, er hat auch folgendes über seinen historischen Werdegang notiert: „Aischylos hat als erster die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und den Dialog zur Hauptsache gemacht.“264

Über das Zusammenspiel dieser Teile, aus dem sich der Rhythmus der Tragödie zusammensetzt, schreibt er:

263 Simon, Alfred (1988): Beckett. Aus dem Französischen von Michael Bischoff. Frankfurt am Main, 290f. 264 Aristoteles 1982, 4. Kapitel, S. 15.

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„Die Teile, die sich aus ihrer Ausdehnung ergeben, d.h. die Abschnitte, in die man sie gliedern kann, sind folgende: Prolog, Episode, Exodos und Chorpartie, die ihrerseits eine Parodos oder ein Stasimon sein kann.“265

Mit Parodos ist der Einzug, also das Einzugslied des Chores gemeint. Stasimon bezeichnet das Standlied des Chores, also alle rein chorischen Partien nach der Parodos. Die Episode steht hier für den Auftritt der Schauspieler und ist damit die von Chorliedern umschlossene dialogische Partie. Da ich die Verzahnung der „quantitativen Teile“ der Tragödie, wie sie Aristoteles genannt hat, als eine Vergleichsstruktur für das Zusammenspiel der „quantitativen Teile“ der Ausstellung mit ihren Texten, Objekten, Räumen und Kapiteln im nächsten Abschnitt anhand eines Beispiels durchspielen werde, fasse ich den Ablauf der Tragödie aus Gründen der Übersicht hier nochmals zusammen: Die Tragödie beginnt mit dem Prolog, auf ihn folgt der Einzug des Chores (Parodos). Daran schließt die erste Episode, also der erste Schauspielerauftritt bzw. die erste Dialogpartie an und wird wiederum vom ersten Stasimon, dem ersten Standlied des Chores, gefolgt. Von nun an wechseln sich Episode und Chorlied ab, umschließen sich gegenseitig also so lange, bis es zum Exodus kommt.266 In König Ödipus von Sophokles, jener Tragödie, die Aristoteles am meisten schätzte, reihen sich beispielsweise nach dem Prolog und dem ersten Einzugslied des Chors vier Hauptszenen (Episoden) und vier Standlieder des Chores aneinander, ehe die Schlussszene beginnt. Für meinen Ausstellungs-Tragödien-Strukturvergleich setze ich nun folgende Äquivalente fest: Der Einleitungstext, der meist der längste und am größten gesetzte Text einer Ausstellung ist, korreliert mit dem Einzugslied des Chores (Parodos). Die Episode, d.h. die Dialogpartie, entspricht in der Ausstellung der Konfrontation der BesucherInnen mit den Dingen, denn auf dem Weg durch die Ausstellungsräume bzw. über die Bühne treten die BesucherInnen mit den Dingen in einen inneren Dialog, in welchem sie ihnen mit Hilfe ihres eigenen Wissens und der Objekttexte ihre Stimmen leihen. Die Standlieder des Chores entsprechen in der Ausstellung den Raumtexten, die das jeweils neue Kapitel reflektieren. Beim Durchwandern der Ausstellung wechseln, wie in der Tragödie, Chorlied und Dialogpartie bzw. Raumtext und Konfrontation zwischen Objekten und BesucherInnen bis zum Ende der Ausstellung ab. Den Exodos bestreitet in der Ausstellung der Besucher in seiner Doppelrolle als Akteur und Zuschauer selbst, doch davon später mehr.

265 Aristoteles 1982, 12. Kapitel, S. 37. 266 Aristoteles beschreibt den Ablauf so: „Der Prolog ist der ganze Teil der Tragödie vor dem Einzug des Chors, eine Episode ein ganzer Teil der Tragödie zwischen den ganzen Chorliedern, der Exodos der ganze Teil der Tragödie nach dem letzten Lied.“ (Aristoteles 1982, 12. Kapitel, S. 37)

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Ausstellungen, zumindest solche, deren KuratorInnen um eine gute Kommunikation mit den BesucherInnen bemüht sind, bauen auf klaren Strukturen auf. Sie beginnen mit einem Einleitungstext, der der Parodos, dem Einzugliedes des Chors, nicht unähnlich ist. Der Einleitungstext stellt ein einmaliges „Ereignis“ dar und skizziert das Motto, unter das die zu sehenden Dinge gestellt wurden. Er bereitet die BesucherInnen auf die Konfrontation mit den Dingen in der Ausstellung vor, hebt sie auf das notwendige Wissensniveau, damit sie den Mythos verstehen. Der Einleitungstext ermöglicht den BesucherInnen, sich in den nächsten Räumen zurechtzufinden und sich die darin suggerierte Geschichte selbst zu erzählen.267 Der Raumtext ist, wie das Standlied des Chors, im Gegensatz zum Einleitungstext und Einzugslied ein wiederkehrendes Element, das den BesucherInnen indiziert, dass sie in eine neue Zone eingedrungen sind. Der Raumtext markiert meist den Beginn eines neuen Kapitels, daher finden wir diese Texte fast immer nahe am Eingang eines neuen räumlichen Abschnitts. Diese räumliche Position deckt sich auch meist mit seinem einführenden Charakter. Generell schaut der Ausstellungstext also in die nahe Zukunft, ist also ein Chortext, der uns auf die Schönheiten und Brüche bei der Konfrontation mit den Objekten vorbereitet und uns mit dem Hintergrund der Dinge oder dem neuen kuratorischen Zusammenhang, in den sie hier (aus)gestellt sind, vertraut macht. Welchen Verlauf die Konfrontation zwischen den BesucherInnen und den Dingen tatsächlich nimmt, bleibt außerhalb des Einflussbereiches der KuratorInnen, denn diese haben die BesucherInnen der Ausstellung, und damit quasi die Hälfte der Akteure der Ausstellungskonfrontation nicht unter Kontrolle. Mit dem Raumtext erhalten sie aber die Möglichkeit, die Konfrontation zwischen BesucherInnen und Dingen in eine bestimmte Richtung zu lenken, die Vorzeichen dieser Begegnung zu definieren. Genau genommen liefern sie mittels ihrer Texte eine Spielanleitung, die in gewisser Weise an eine skizzierte Spiel-, Inhalts- bzw. Regieanweisung für die Darsteller einer Commedia-dell’Arte-Truppe erinnert, die auf der Basis dieser Anweisungen und ihres Wissens, ihres Könnens, ihrer Übung und ihrer Improvisationsgabe ein neues Stück entstehen lassen.

267 Auch das Ritual der Danksagung, das manchmal im Einleitungstext integriert ist oder als Impressum neben dem Einleitungstext platziert wird, funktioniert nach dem Prinzip „teile und herrsche“ und erinnert an eine Beschwörungsformel zur Wahrung von Einheit und Zusammenhalt und zur Abwehr gegen Neid bzw. zur Verhinderung von Rang- und Revierkämpfen.

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Der Chor des analytischen Dramas und die kulturhistorische Ausstellung Ich habe den Text am Beginn eines Ausstellungskapitels im letzten Absatz als erhellende, wegweisende, in die nahe Zukunft fokussierte Reflexion beschrieben. Um die Stichhaltigkeit des Ausstellungstext-Chor-Vergleiches zu testen, stelle ich nun eine Untersuchung der Reflexionsweisen im Chor des antiken Dramas an. Als Beispiel wähle ich Aristoteles’ Lieblings-Tragödie König Ödipus von Sophokles, da der analytische Charakter dieses Dramas der kulturhistorischen Ausstellung strukturell nahe ist.268 Im Gegensatz zum Einleitungstext einer Ausstellung ist das Einzugslied des Chores im Ödipus, in dem sich die Anrufungen an die Götter mit den Klagen über die furchtbaren Zustände, die Theben paralysieren, abwechseln, nicht in die nahe Zukunft gerichtet. Zwar erfahren die Zuschauer nicht, warum die Stadt leidet – die Suche nach diesem Grund speist ja gerade die Spannung des nun folgenden Dramas – doch sie erhalten eine Einführung in die Zustände und Qualen, unter denen die Stadt leidet. So zum Beispiel in der zweiten Gegenstrophe, die wie fast alle anderen mit der Beschwörung eines Gottes endet: „Unablässiges Sterben der Stadt! Grausam dahingestreckt Scharen toter Geschlechter Von keinem bejammert! Frauen und welkende Mütter, An den Altären verstreut, Sie seufzen, sie flehen Das Ende der Leiden: Hell klingt der Paian, Dumpf ihre Plage. Sende, goldene Tochter des Zeus, Hellblickende Rettung!“269

Auch das erste Standlied des Chors beginnt mit der Reflexion von Dingen, die schon geschehen sind. Zuerst wird der Götterspruch aus Delphi memoriert, dann die unheilschwangeren Worte des Teiresias verarbeitet, die dieser dem Ödipus an den Kopf geschleudert hat:

268 Das analytische Drama stützt sich wie die historische Ausstellung nicht so sehr auf die Spannung im Sinne von Hitchcocks suspense, sondern auf die Analyse von bereits geschehenen (Un)Taten. 269 Sophokles (1979): König Oidipus. Übersetzung und mit einem Nachwort von Ernst Buschor. Stuttgart, S. 11.

228 | DIE AUSSTELLUNG ALS DRAMA „Grausam, o grausam Verwirrt uns der kundige Deuter der Vögel! Weder bejah ich es, Weder vernein ich es, [...]“270

Ähnlich wie im Einleitungstext in einer Ausstellung wird im Einzugslied des Chors und im ersten Teil seines ersten Standlieds am Beginn Geschehenes durch- und aufgearbeitet, um die BesucherInnen à jour zu bringen. Doch schon im ersten Standlied klingt eine Vorausschau auf das zukünftige Geschehen an, eine Reflexion, auf das, was nun ansteht – wie in Ausstellungs-Raumtexten, die am Beginn neuer Kapitel positioniert sind und in diese „hineinschauen“. „Daß Polybos’ Sohn Mit Labdakos’ Stamm sich jemals entzweit hat, Hat gestern, hat heut Hier keiner vernommen, Doch wär es Der Prüfstein. Wie soll ich den stolzen Namen beschimpfen, Des Oidipus271 Namen? Den düsteren Mord Des Labdakossohnes Strafen an ihm?“272

Nun wird bereits über Beweisführung nachgedacht und mit „Doch wär es der Prüfstein“ in der Möglichkeitsform gesprochen. Der Chor weist uns hier wie der Raumtext am Beginn eines Kapitels auf Einzelheiten hin, auf die wir in den kommenden Dialogen achten sollten. Und je mehr sich die Spannung aufbaut, umso konzentrierter beziehen sich die Reflexionen des Chors auf das, was in den nächsten Dialogen kommen wird. So beispielsweise im dritten Standlied, wo der Chor die wohl wichtigste Frage im Drama, wer denn nun Ödipus’ Mutter sein könnte, an die Götterwelt stellt: „Welche, ja welche der Ewigen Göttinnen Hat dich geboren? War sie dem Pan gesellt, Der auf den Bergen tanzt,

270 Sophokles 1979, S. 23. 271 Ich halte mich bei Zitaten aus dem Dramentext an die Schreibweise Oidipus des Übersetzers Ernst Buschor. Außerhalb der Dramentext-Zitate behalte ich jedoch die gebräuchlichere Schreibweise Ödipus bei. 272 Sophokles 1979, S. 23.

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Oder Apollon, dem Freunde der Triften? Hat vom Kyllenier, Hat von Diónysos Unter den Gipfeln Nymphe mit hellem Blick, Göttlicher Spielgesell, Froh dich empfangen?“273

Wie ein Raumtext leitet der Chor auch hier die nun folgende Handlung ein, bereitet die Zuschauer vor, indem er laut denkt oder fokussierende Fragen stellt. Die Ähnlichkeit zwischen Chor und Ausstellungstexten ist tatsächlich frappant: Der Chor ist im griechischen Drama ebenso allgegenwärtig wie der Ausstellungstext. Der Choreinzug ist wie der Einleitungstext bemüht, Geschehenes zu referieren, um die ZuschauerInnen/BesucherInnen auf die Höhe der Geschichte zu bringen. Die Standlieder des Chores bzw. die Raumtexte tendieren hingegen dazu, die ZuschauerInnen/BesucherInnen auf das vorzubereiten und zu sensibilisieren, was in der nächsten Episode, dem nun folgenden Ausstellungskapitel passieren wird. In beiden Fällen ist der Text wie auch der Chor das Bindeglied, der Vermittler zwischen Publikum und Bühne bzw. den Dingen und ihrem umgebenden Raum und den BesucherInnen, wobei sowohl Chor und auch Text Teil der Bühne und des Raumes, also selbst auch „Player“ sind.

Der Chorführer, der Objekttext und der Stress der Protagonisten Im ersten Kapitel habe ich bereits auf die Tatsache verwiesen, dass der Objekttext auf den kleinen Beschriftungstäfelchen den Dialog zwischen BesucherInnen und Dingen ankurbelt bzw. in manchen Fällen überhaupt erst ermöglicht. Der Objekttext ist nach dem Einleitungstext und dem Raumtext die kleinste Texteinheit in der Ausstellung. Er ist weniger auf einer reflektierenden Metaebene wie die beiden ersten Textsorten angesiedelt, sondern bereits Teil der Konfrontation zwischen den BesucherInnen und den Dingen. Ich habe den Objekttext einen erlaubten Schwindelzettel genannt, der unsere Unwissenheit und Unsicherheit kaschieren kann und damit verhindert, dass wir nicht von dem Objekt selbst in Frage gestellt werden. Die beiden nackten Menschen im Glaskubus aus der Greenaway-Ausstellung 100

273 Sophokles 1979, S. 51.

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Objects to Represent the World, die sich durch ein Beschriftungstäfelchen in Adam und Eva verwandeln, sind dafür ein plastisches Beispiel.274 Parallele Eigenschaften zum Objekttext finden sich auch in der antiken Tragödie bei der Figur des Chorführers, dem Koryphaios. Auch er griff in den Dialog des Dramas ein, vermittelte sowohl zwischen den handelnden bzw. streitenden Figuren auf der Bühne, als auch zwischen dem Bühnengeschehen und den Zuschauern, indem er das Verstehen des Ablaufs erleichterte. In der ersten Hauptszene des König Ödipus ruft dieser den Seher Teiresias zu sich. Teiresias will Ödipus ausweichen, da er seine fatale Geschichte kennt. Als ihn Ödipus dann zur Rede stellt, geht Teiresias aus Verzweiflung in die Offensive: „Du selber bist der Mörder, den du suchst!“275 Diese Antwort ist für Ödipus, der sich selbst in seiner eigenen Geschichte noch nicht erkannt hat, inakzeptabel und er droht, Teiresias zu bestrafen. Daraufhin startet der Chorführer (Koryphaios), der sich auch ohne seinen Chor ins Geschehen einmischen kann, einen Schlichtungsversuch: „Wir wägen und uns scheint, der Seher hat Im Zorn gesprochen und im Zorn auch du. Hier hilft kein Zorn, nur eines tut uns not: Wie bringen wir den Götterspruch zum Ziel?“276

Der Chorführer versucht hier das erste, vollkommen fehlgeschlagene Aufeinandertreffen der Dialogpartner zu harmonisieren und wird es weiter versuchen. Sein um Verständnis ringendes Verhalten ist in der Struktur und Aufgabe mit jener des Objekttexts verwandt, der zwischen BesucherInnen und Dingen vermittelt. Hinter dem Objekttext versteckt sich natürlich ebenfalls der Kurator, der, wie ich zuvor bemerkte, in seiner Rolle als Autor und „Koryphäe“ die Stimmung zwischen den Besuchern und den Dingen sowohl harmonisieren als auch polarisieren kann.

Exodos In der Tragödie hat oft der Chor das letzte Wort. Dieses letzte Wort beinhaltet auch meist eine „Moral von der Geschicht’“. So beispielsweise am Schluss von Sophokles’ Antigone: Allen Segens Anfang heißt Besinnung, Was der Götter ist, entweihe keiner!

274 Siehe Kapitel 3.2 Die Ausstellung als Drama. 275 Sophokles 1979, S. 18. 276 Sophokles 1979, S. 20.

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Überhebung büßt mit großem Falle Großes Wort, dem Alter zur Besinnung.277

Auch in Ausstellungen kündigt der letzte Raumtext in manchen Fällen das nahende Ende an. Oft ist er etwas pathetischer im Ton als die vorhergehenden Texte, bisweilen lässt sich in ihm die Motivation der KuratorInnen erkennen, die Geschichte an dieser Stelle einerseits zu einem Ende zu bringen, den BesucherInnen gleichzeitig aber auch etwas mitgeben zu wollen, über das sie noch weiter nachdenken können und sollen. Dennoch sind diese Texte nicht mit den klar erkennbaren „letzten Worten“ des Dramas oder Romans zu vergleichen. Allerdings findet sich in der Ausstellung eine Sammelstelle für die berühmten „letzten Worte“. Dabei handelt es sich um ein unerwartetes Textmedium. Unerwartet deshalb, weil es wiederum außerhalb des kuratorischen Einflussbereiches liegt. Gemeint ist das Besucherbuch. Das Besucherbuch liegt am Ende der Ausstellung offen aufgeschlagen und fordert zum Eintrag auf. Es ist dem Ritual des Applaudierens am Ende einer Theatervorführung ähnlich. Denn die BesucherInnen können in diesem Buch nicht nur ihren Zuspruch oder ihre Ablehnung vermerken, sie können auch die Einträge und Meinungen derjenigen, die vor ihnen die Ausstellung besucht haben, lesen. Das Besucherbuch ist der einzige Ort, an dem die BesucherInnen ein Gemeinschaftsgefühl erleben können. Und noch etwas fällt auf: Das Besucherbuch ist, wie auch der Schlusschor in der antiken Tragödie ein Ort, an dem über die „Moral von der Geschicht’“ sinniert werden kann und wird. So drei kurze Beispiele aus dem Besucherbuch der Ausstellung Lorenzo Da Ponte. Aufbruch in die neue Welt im Jüdischen Museum Wien: „Inspires reflexion. Will history repeat yet again? Sandra Echeles, USA“ – […] „Danke – auch für die Erinnerungen an gar nicht so glanzvolle Zeiten in Wien. M. Schütz“ – […] „Beeindruckt, ergriffen und belehrt verlasse ich das wunderbare Haus. W.“278

Es sind tatsächlich Schlussworte, die hier kommuniziert werden. Der Text eines Besucherbuchs steht zwar zu Beginn der Ausstellung noch nicht fest, doch er nimmt mit jedem Öffnungstag zu. Er entsteht ähnlich einer Improvisation in der Commedia dell’Arte, indem ein Wort auf das andere folgt, worin er strukturell auch der Ausstellungserzählung selbst, die durch jede Be-

277 Sophokles (1979a): Antigone. Stuttgart, S. 58. 278 Unveröffentlichtes Besucherbuch zur Ausstellung Lorenzo Da Ponte. Aufbruch in die neue Welt. Jüdisches Museum Wien, 22.03.-17.09.2006. Kuratoren: Werner Hanak, Reinhard Eisendle und Herbert Lachmayer; Gestaltung: Christian Prasser.

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sucherin und jeden Besucher neu und nicht vorhersehbar neu entsteht, gleicht. Am Schluss, wenn der „Raumtext-Chor“, den der Kurator geschrieben und als eine reflektierende Stimme in sein Ausstellungsdrama eingeflochten hat, verstummt, übernehmen die BesucherInnen den Part des Chors und geben mit ihrem Besucherbuch-Text Einblick in das kollektive Besucher-Bewusstsein.

Die mächtige Machtlosigkeit der KuratorInnen In diesem letzten Kapitel habe ich die KuratorInnen, die die Bühne der Ausstellung physisch kaum betreten, ins Rampenlicht gestellt und von mehreren Seiten betrachtet. Ich habe mich gefragt, warum sich in den Ausstellungstexten der KuratorInnen keine subjektive Icherzählung finden lässt und ich habe beobachtet, dass zwischen den Ausstellungstexten und den Texten des antiken Tragödienchors strukturelle Gemeinsamkeiten bestehen. In Analogie zur Tragödiendichter-Analyse von Siegfried Melchinger, der feststellte, dass die Dichter nur aus den Worten der Helden sprechen und dass wir deren Meinung nur aus dem Sinn, dessentwillen die Tragödie geschrieben wurde, erkennen können, hören wir die KuratorInnen meist nur aus dem Zusammenspiel der ausgestellten Dinge und Texte sprechen und können uns nur aus dem Sinn, der sich aus dem Gesamtzusammenhang der Ausstellungserzählung ergibt, ein Bild über die Meinung und Einstellung der Kuratoren machen. Ein beträchtlicher Unterschied zwischen DramenautorInnen und KuratorInnen besteht jedoch: KuratorInnen müssen in einer Ausstellung ihre Gestaltungsvollmachten und ihre Kontrolle über den Verlauf der Geschichte in wesentlich stärkerem Maße mit den BesucherInnen teilen, als dies die AutorInnen mit den ZuschauerInnen im Theater tun. Da die BesucherInnen auch einen Akteurstatus im Ausstellungsspiel innehaben, in den Räumen mit der von ihnen gewählten Geschwindigkeit und Aufmerksamkeit den Gang der Geschichte vorantreiben, weichen die tatsächlichen Erfahrungen von den kuratorischen Vorstellungen bei jedem Ausstellungsbesuch durch jede Besucherin und jeden Besucher von neuem ab. Genau genommen herrschen der Kurator und die Kuratorin nur über die ausgestellten Dinge und den sie umgebenden Raum und damit nur über die Hälfte der im Ausstellungsspiel engagierten Protagonisten. Die BesucherInnen bleiben hingegen berechenbar unberechenbar. Durch ihre Charakteristik gelangen die KuratorInnen in eine herausfordernde und gleichzeitig prekäre Position: die der „mächtigen Machtlosigkeit“.

6. Nachwort

Am Anfang des Buchprojekts stand mein Wunsch, das Medium Ausstellung jenseits meiner Praxis als Kurator auch theoretisch zu begreifen. Aber gerade auf Grund seiner scheinbaren Unkompliziertheit („Sehen wir uns doch einfach ein paar Bilder an ...“) erschien mir dieses Medium immer monolithisch und uneinnehmbar. Erst die ganz bewusste Selbstbeobachtung in meiner gelebten Doppelrolle als Ausstellungsmacher und –besucher ließ mich die Vergleichbarkeit der Prozesse, mit denen im Drama und in der Ausstellung Handlung vorangetrieben wird, erkennen. Mithilfe der Dramenanalyse und –theorie war es mir möglich, die Ausstellung als Drama zu skizzieren. Das Spiel mit diesem Modell gab mir den Mut und Auftrag für ein Projekt, das über den Umweg einer Dissertation zu einem Buch geworden ist. „Dazwischengekommen“ ist in gewisser Weise eine zeitintensive, weil „bodenlose“ historische Recherche, die mich jedoch mit überraschenden und äußerst nützlichen Ergebnissen belohnte. Die spezifischen Fragestellungen zur Nähe von Theater und Ausstellung lenkten meine Aufmerksamkeit auf Tendenzen und Projekte der Neuzeit, die meinem Modell eine historische Dimension verliehen. Gleich das früheste von mir untersuchte Projekt, das 1530 entstandene Gedächtnistheater von Giulio Camillo führte mich zu einem „Besucher“, der sich in einem römischen Theater in eine Ausstellung vertieft, um alles zu erkennen und sich dieses auch zu merken. Und im Anschluss daran lehrte mich ein Museologe der nächsten Generation, der 1529 geborene Samuel Quiccheberg, die Kunstkammer nicht nur metaphorisch, sondern auch in architektonischer und dramaturgischer Hinsicht als Theater zu begreifen. Die Ausstellung als Drama zu begreifen, ist ein radikal entgegengesetzter Entwurf zu spektakelhaften Raumgebilden in sogenannten Erlebnisausstellungen: Hier geht es nicht um das oberflächliche Erscheinungsbild der Inszenierung, sondern um die darunter liegende narrative Struktur des Mediums. Die Ausstellung als ein Drama zu denken heißt, sowohl den ausgestellten Dingen als auch den BesucherInnen so viel Macht und Kraft zuzugestehen, dass sich zwischen ihnen ein Dialog entspinnen kann, der dieses Medium eigentlich erst begründet und erfolgreich macht. Gerade weil dieses Modell sowohl den Dingen als auch den Besuchern Akteurstatus zumisst,

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zeigt es deutlich, dass in einer Ausstellung die Inszenierung um ihrer selbst willen durch einen weiteren Autor nicht notwendig ist. Sinnvoll ist vielmehr ein „epischer Rahmen“, den KuratorInnen und GestalterInnen in intellektueller und räumlicher Hinsicht zur Verfügung stellen, um eine optimale und inspirierende dialogische Konfrontation zwischen BesucherInnen und Dingen zu ermöglichen. Inmitten der digitalen Welt, die den Menschen mit WeltverfügbarkeitsMaschinen versorgt hat und ihn dadurch mehr und mehr in das körperlichstatische Rezipieren drängt, ist der Ausstellungsraum als Erkenntnis-Bühne und Raum der Selbsterzählung zu einem alternativen Ort geworden.1 Hier kann man die sich permanent neu erfindende Welt durch eine Wahrnehmung in Bewegung immer wieder entdecken, gerade weil die Ausstellung als Weltmodell und Welttheater jener mediale Raum ist, der der Welt am ähnlichsten ist. Die Ausstellung ist kein geschlossenes, sondern ein weit offenes Drama. Es sind die BesucherInnen, die den Faktor Zeit in den Ausstellungsraum mitbringen und hier als Suchende die Handlung vorantreiben. Die Ausstellung und mit ihr das Museum sind daher Orte des offenen Ausgangs. Wenn wir diese Tatsache als Chance erkennen, steht der kritischen und experimentellen Sinnproduktion an diesem Ort nichts entgegen.

1

Die Beschreibung der Ähnlichkeit bzw. der Differenz zwischen dem zurückgelegten Weg durch eine Ausstellung und dem Pfad von Link zu Link durch das Internet könnte ein neues und aufschlussreiches Projekt ergeben.

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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien März 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge Februar 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien Mai 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3

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Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart Mai 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1639-2

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