Tragödie als Bühnenform: Einar Schleefs Chor-Theater [1. Aufl.] 9783839414132

Die Niederlage des tragischen Sprechens ist vor allem ein räumliches Problem. Anhand Einar Schleefs Beschäftigung mit de

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Tragödie als Bühnenform: Einar Schleefs Chor-Theater [1. Aufl.]
 9783839414132

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
TEIL I. TRAGÖDIE ALS BÜHNENFORM
Tragödie als Bühnenform
Ein Sportstück – „Unter dem Eindruck der Tragödie“
Elfriede Jelineks Suche nach einem nicht-darstellenden Sprechen
Vom Verschwinden der protagonistischen Figur zum Postulat des Chors
Ein Sportstück. Inhalt und Figuren
Einar Schleefs Chor-Szene als Arbeit an der Bühnenform
„VOR DEM PALAST“. Elektra und die Gründung des Proszeniums
Szenen
Der Golem in Bayreuth – Aus dem Geist der Musik
Theater als Chorraum – Orchester als Chor
Theaterraum als Konfliktraum
Dämmerung. Wagners Nichtdarstellbarkeit und das Theater als Hörraum
Krieg. Parsifals chorische Wiederkehr
Exkurs: Der „pestkranke“ Chor und seine „Blut-Droge“. Zu Einar Schleefs Parsifal-Lektüre
Orchester und Chor. Auseinandersetzung mit Wagners Bühnenform
Von der Orchestra zum Orchester. Wagners Oper und Drama
Von der „Grundrißfrage zur Kernfrage“. Schleefs Problematisierung des Orchestergrabens
TEIL II. PORTRÄT EINER INSZENIERUNG
Verratenes Volk – Totentanz einer deutschen Revolution
„Das verlohrne Paradies“. Prolog mit John Milton
Nach dem Paradies. Figuren des Satans
Wie man wird, was man ist. Schleefs „Nietzsche“ und Nietzsches Ecce homo
„Wie man wird, was man ist“. Schleef inszeniert Nietzsches Zur-Figur-Werden
„Hört mich!“ Nietzsches Geste des Gehörtwerden-Wollens
Krieg den Hohenzollern. Zitat eines Briefs
Kampf dem Ressentiment. Der Ton des Propheten
„Sprechsprache“ und die Hörbarkeit des Denkens. Reflexion der Oralität
Der Krieg des Philosophen und die Person als „Vergrößerungsglas“
Nach dem „Tod Gottes“. Antworten auf das göttliche Erkenntnisverbot
Voraussetzung zur „Umwertung aller Werte“: Eine „ungeheure Vielheit“
Die Deutschen sind „Idealisten“. Wider Christentum und Nationalismus
Ende der Politik als Wiederkehr der Tragödie? Nietzsches ambivalente Kriegsankündigung
Im Krieg. Chor der Soldaten
Dwinger und Die Armee hinter Stacheldraht
„Das Individuum ist ausgelöscht“. Der Chor der kriegsgefangenen Soldaten
Rosa Luxemburg im Gefängnis. Auftritt der Revolutions-Protagonistin
Visionen 1: Rosa und die Soldaten
Rosa und die Kalfaktor
Visionen 2: Rosa und der Geist von Faust und Margarethe
Rosa und die Revolution. Von der Protagonistin zum Chor
„Verratenes Volk“. Revolution als Chor-Szene
„Die Revolution marschiert“. Gesangswettstreit der Chorgruppen
Das „Verratene Volk“. Der Chor als Figur der Zeugenschaft
Ende eines Traums oder Wiederkehr eines Gespensts?
Chor-Klage und die Frage nach dem Opfer
Der „Golgathaweg der Arbeiterklasse“. Das letzte Gespräch und die chorische Wiederkehr der Frage nach dem Opfer
„Ordnung herrscht in Berlin“. Lektüren
Zwischen Vorwärts und Roter Fahne. Diskussion der Standpunkte
Liebknechts „Trotz alledem“ und der „Golgathaweg der Arbeiterklasse“
Passion und Chor-Klage. Liebknechts „Golgatha“-Zitat mit Bachs Matthäus-Passion
„Wehe“ und „Weh“. Das Ende des letzten Gesprächs
„Engelstanz“ und „Teufelswut“. Nachspiel oder doppelter Schluss?
Schlussbemerkung
Siglenverzeichnis
Quellenverzeichnis
Literatur
Filme
Archivalien

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Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform

T h e a t e r | Band 21

Christina Schmidt ist Theaterwissenschaftlerin und lebt in Berlin.

Christina Schmidt Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater

Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung Dieses Buch ist die Publikation einer Dissertation, die im WS 2007/ 2008 an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum vorgelegt wurde. Die Dissertation wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Einar Schleef, O.T. (Rampe II); Fotografie: Ludwig Rauch, Berlin; © VG Bild-Kunst, Bonn; Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt (Bildernachlass Einar Schleef); Einar Schleef-Erben Lektorat & Satz: Christina Schmidt Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1413-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung........................................................................................ 9 Einleitung

TEIL I TRAGÖDIE ALS BÜHNENFORM Tragödie als Bühnenform .............................................................. 23

Ein Sportstück – „Unter dem Eindruck der Tragödie“ ...................... 35 Elfriede Jelineks Suche nach einem nicht-darstellenden Sprechen ....................................................... 40 Vom Verschwinden der protagonistischen Figur zum Postulat des Chors .................................................................. 41 Ein Sportstück. Inhalt und Figuren.......................................... 46 Einar Schleefs Chor-Szene als Arbeit an der Bühnenform............. 54 „VOR DEM PALAST“. Elektra und die Gründung des Proszeniums............................................................................ 56 Szenen .................................................................................... 64

Der Golem in Bayreuth – Aus dem Geist der Musik... Musik ................... 105 Theater als Chorraum – Orchester als Chor ................................ 110 Theaterraum als Konfliktraum .............................................. 110 Dämmerung. Wagners Nichtdarstellbarkeit und das Theater als Hörraum....................................................... 116 Krieg. Parsifals chorische Wiederkehr ................................... 119 Exkurs: Der „pestkranke“ Chor und seine „Blut-Droge“. Zu Einar Schleefs Parsifal-Lektüre.............................................. 124 Orchester und Chor. Auseinandersetzung mit Wagners Bühnenform .......................... 136 Von der Orchestra zum Orchester. Wagners Oper und Drama ..................................................... 137 Von der „Grundrißfrage zur Kernfrage“. Schleefs Problematisierung des Orchestergrabens................. 146

TEIL II PORTRÄT EINER INSZENIERUNG 163 Verratenes Volk – Totentanz einer deutschen Revolution............. Revolution „Das verlohrne Paradies“. Prolog mit John Milton ....................... 171

Nach dem Paradies. Figuren des Satans ..................................... 177 Wie man wird, was man ist. Schleefs „Nietzsche“ und Nietzsches Ecce homo .......................................................... 180 „Wie man wird, was man ist“. Schleef inszeniert Nietzsches Zur-Figur-Werden.................... 181 „Hört mich!“ Nietzsches Geste des Gehörtwerden-Wollens.....183 Krieg den Hohenzollern. Zitat eines Briefs ............................. 185 Kampf dem Ressentiment. Der Ton des Propheten ................ 187 „Sprechsprache“ und die Hörbarkeit des Denkens. Reflexion der Oralität ............................................................ 188 Der Krieg des Philosophen und die Person als „Vergrößerungsglas“.............................................................. 192 Nach dem „Tod Gottes“. Antworten auf das göttliche Erkenntnisverbot .................................................................. 195 Voraussetzung zur „Umwertung aller Werte“: Eine „ungeheure Vielheit“...................................................... 198 Die Deutschen sind „Idealisten“. Wider Christentum und Nationalismus ................................. 200 Ende der Politik als Wiederkehr der Tragödie? Nietzsches ambivalente Kriegsankündigung .......................... 201 Im Krieg. Chor der Soldaten........................................................ 205 Dwinger und Die Armee hinter Stacheldraht........................... 205 „Das Individuum ist ausgelöscht“. Der Chor der kriegsgefangenen Soldaten .................................................... 210 Rosa Luxemburg im Gefängnis. Auftritt der Revolutions-Protagonistin......................................... 218 Visionen 1: Rosa und die Soldaten ........................................ 218 Rosa und die Kalfaktor.......................................................... 226 Visionen 2: Rosa und der Geist von Faust und Margarethe .................................................................... 228 Rosa und die Revolution. Von der Protagonistin zum Chor .............................................................................. 241 „Verratenes Volk“. Revolution als Chor-Szene ............................. 279 „Die Revolution marschiert“. Gesangswettstreit der Chorgruppen................................................................... 283 Das „Verratene Volk“. Der Chor als Figur der Zeugenschaft..................................... 287 Ende eines Traums oder Wiederkehr eines Gespensts? ......... 296 Chor-Klage und die Frage nach dem Opfer............................299 Der „Golgathaweg der Arbeiterklasse“. Das letzte Gespräch und die chorische Wiederkehr der Frage nach dem Opfer ........... 303 „Ordnung herrscht in Berlin“. Lektüren ................................ 305 Zwischen Vorwärts und Roter Fahne. Diskussion der Standpunkte................................................. 312

Liebknechts „Trotz alledem“ und der „Golgathaweg der Arbeiterklasse“ .......................................... 316 Passion und Chor-Klage. Liebknechts „Golgatha“-Zitat mit Bachs Matthäus-Passion ................................................. 322 „Wehe“ und „Weh“. Das Ende des letzten Gesprächs ............. 336 „Engelstanz“ und „Teufelswut“. Nachspiel oder doppelter Schluss?.............................................. 344 Schlussbemerkung Schlussbemerkung ...................................................................... 351 Siglenverzeichnis ........................................................................ 357 Quellenverzeichnis ...................................................................... 359 Literatur ..................................................................................... 359 Filme .......................................................................................... 372 Archivalien.................................................................................. 373

EINLEITUNG

Im Zentrum von Einar Schleefs Theater steht der Chor mit seinen spezifischen ästhetischen Möglichkeiten und Voraussetzungen. Damit kehrt die älteste Figur des Theaters, die lange Zeit scheinbar vergessen oder als 'kultische' Form von der 'aufgeklärten' Bühne verbannt war, auf das Theater des ausgehenden 20. Jahrhunderts zurück. Von wenigen Ausnahmen abgesehen1 schien der Chor bis in die 1980er-Jahre, insbesondere dem westdeutschen Theaterbetrieb, als ideologisch überlebte Form zu gelten oder war gar als 'faschistoides' Mittel verpönt.2 In den 1990er-Jahren erlebten chorische Theaterformen jedoch eine bemerkenswerte Renaissance, für die exemplarisch die Inszenierungen von Heiner Müller, Christoph Marthaler und Frank Castorf genannt werden können. Bis ins neuere und aktuelle Theater, mit viel beachteten Inszenierungen von beispielsweise Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff, René Pollesch und Volker Lösch, scheint sich der Trend zur Verwendung oder Zitation chorischer Elemente auf dem Theater fortzusetzen. Auch das Performancetheater (etwa der britischen Gruppe Forced Entertainment) sowie das neuere 'dokumentarische' Theater, für das die Gruppe Rimini Protokoll stehen kann, scheinen hiervon keine Ausnahme zu bilden. Kein Theatermacher hat jedoch, in praktischer wie theoreti-

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Etwa Peter Steins Orestie (Schaubühne Berlin 1983) sowie Inszenierungen von Ariane Mnouchkine am Pariser Théâtre du Soleil. Mit Blick auf seine Frankfurter Theaterarbeiten Mitte der 1980erJahre schreibt Einar Schleef in Droge Faust Parsifal über diese Verwerfung des Chors: „Rückgriffe auf den Chor als in sich geschlossen handelnde und sprechende 'Masse' sind inzwischen durchweg politisch besetzt und stehen für gesellschaftsverändernde Auffassungen, sie sind somit vom bürgerlichen Theater, das im verkappten absolutistischen Ambiente lebt, geächtet.“ (DFP, S. 212) Zur Verwendung der Siglen häufig zitierter Texte vgl. Siglenverzeichnis. Sämtliche Zitate sind in Orthografie und Zeichensetzung unverändert den jeweils angegebenen Quellen entnommen. Hervorhebungen im Original sind als solche gekennzeichnet, eigene Hervorhebungen mit dem Kürzel C.S. versehen.

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Tragödie als Bühnenform scher Hinsicht, so explizit und analytisch an einer Neuformulierung der Chor-Figur gearbeitet wie Einar Schleef. Sein Theater setzt sich insofern von anderen theatralen Einsätzen chorischer Ästhetiken ab, als es den Chor als zentrale Theaterfigur begreift. Schleef denkt das Theater vom Chor aus, der damit zu dessen eigentlicher Hauptfigur wird. Trotz der Vielzahl chorischer Formen auf dem Gegenwartstheater einerseits und Einar Schleefs langjähriger Arbeit an einer expliziten Formulierung der Chor-Figur andererseits hat sich die theoretische Diskussion des nach-protagonistischen Theaters dem Phänomen Chor lange Zeit weitgehend unter dem Aspekt des Wegfalls des Protagonisten genähert und wurde zumeist unter den Stichworten der Depersonalisierung, des Zerfalls des Subjekts und der Desemantisierung geführt. Insbesondere mit dem Begriff der „Desemantisierung“ verbindet sich das Ende eines darstellenden Theaters, das auf dem Prinzip der „semiotischen Differenz“3 beruht. Mit diesem Prinzip der Darstellung ist die Rezeption im Theater an eine gestische Illustration des Textsinns durch den Schauspieler geknüpft: Ein als personale Figur identifizierbarer Schauspieler spricht einen Text, den man vornehmlich mit dem Auge, das den sprechenden Körper sieht, aber auch mit dem Ohr, das die eine Stimme hört, an den einzelnen Körper und damit an die (fiktive) Person des Sprechers rückbindet. In dieser Konstruktion verweist das Sprechen auf einen einheitlichen Ort, und die sprechende Stimme kann somit als vermeintlicher Ausdruck der Identität eines Sprechers verstanden werden. Das Prinzip der „semiotischen Differenz“ erfährt mit dem Ende des 'dramatischen', interpersonalen Dialogs, in welchem ein körperlich anwesendes, identifizierbares Subjekt im Wahrnehmungsfeld des anderen spricht und agiert, zum Ende des 19. Jahrhunderts eine Niederlage. An diesem paradigmatischen Punkt des Bruchs mit dem Theater der Darstellung, den Szondi als „Krise des Dramas“4 beschrieben hat, arbeitet das Theater seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf Seiten des Theatertextes wird das Sprechen der Figuren zunehmend ein chorisches – oder anders gesagt: Der Wegfall des 'dramatischen' Dialogs, dem die Fiktion der Identität von personal konturierter Figur und Schauspielerkörper zugrunde lag, markiert auf dem Theater eine Erinnerung

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Vgl. Erika Fischer-Lichte, „Die semiotische Differenz. Körper und Sprache auf dem Theater – Von der Avantgarde zur Postmoderne“. In: Herta Schmid/Jurij Striedter (Hg.), Dramatische und theatrale Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Tübingen: Narr, 1992, S. 123-140. Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas (1880-1959). In: Ders., Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, S. 9-148.

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Einleitung an die chorische Form. Gleichwohl ist diese Form auf Seiten der Theorie bisher merkwürdig unreflektiert geblieben. Da Einar Schleef den Chor in Mittelpunkt seines szenischen Denkens stellt, ist es ein zentrales Anliegen meiner Arbeit, den Chor als Theaterfigur allererst kenntlich zu machen. Dies setzt voraus, den Chor zunächst als plurale Figur zu beschreiben, nicht nach Maßgabe der individualisierten, subjektivierten Einzelfigur. Um den Chor im Gegenwartstheater nicht als 'massenhafte Ansammlung' oder ex negativo als dekonstruierte und vervielfältigte, ehemalige Einzelfigur zu begreifen, muss zunächst die Idee und Kontur einer Figur verdeutlicht werden, die „formal die Konzeption eines vom Kollektiv gänzlich abgelösten Individuums“5 verneint. Diesen Versuch unternimmt meine Arbeit über den Chor im Hinblick auf: erstens die Behandlung des Theaterraums und die Frage nach einem Ort des Chors auf dem Theater, der gedanklich wie architektonisch aus diesem verschwunden ist, zweitens die Räumlichkeit der ChorFigur selbst, drittens die Bearbeitung der theatralen Wahrnehmung durch das chorische Theater sowie viertens die Auffassung von Sprache, Text und Figur im Chor-Theater. Einar Schleef, der 1944 in Sangerhausen (Harz) geboren wurde, studierte Kunst und Bühnenbild bei Heinrich Kilger und Karl von Appen, einem Mitarbeiter und Bühnenbildner Brechts. Ab 1972 übernahm er erste Bühnenbild- und Regieaufgaben am Berliner Ensemble. Besonders nach seiner zusammen mit B. K. Tragelehn erarbeiteten Inszenierung von Strindbergs Fräulein Julie (Berliner Ensemble 1974) schien für Schleef eine Fortsetzung seiner künstlerischen Arbeit in der DDR zunehmend unmöglich. 1976, anlässlich einer Gastinszenierung am Wiener Burgtheater, blieb er im Westen. Nach neunjähriger Pause von der Theaterarbeit, in der er seinen Wechsel von Ost nach West vor allem als bildender Künstler6 und Schriftsteller7 verarbeitete, konnte Schleef mit seiner Inszenierung Mütter (1986) am Schauspiel Frankfurt unter der Intendanz von Günther Rühle seine Arbeit an der Erforschung der

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Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, S. 235. Vgl. hierzu den Katalog zur 1992 an der Akademie der Künste Berlin realisierten Ausstellung Republikflucht Waffenstillstand Heimkehr: Einar Schleef, Republikflucht Waffenstillstand Heimkehr. Berlin: Argon, 1992. Exemplarisch hierfür können sein monumentaler Roman Gertrud (Einar Schleef, Gertrud. Frankfurt am Main: Suhrkamp, Bd. I, 1980, Bd. II, 1984) sowie der Erzählungsband Die Bande (Einar Schleef, Die Bande. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982) stehen.

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Tragödie als Bühnenform Chor-Figur und der Etablierung seines „Formenkanons“8 weiterarbeiten. Die mit Mütter begonnene Reihe der chorischen Inszenierungen am Schauspiel Frankfurt9 stießen auf genauso heftige Zustimmung wie Ablehnung – Letztere bis hin zum Vorwurf des 'Nazi-Theaters' von Seiten einzelner Kritiker.10 So absurd dieser Vorwurf – vor allem im Hinblick auf die inhaltliche Behandlung der dramatischen Konflikte – aus heutiger Sicht erscheint, wirft er doch ein Schlaglicht auf ein wesentliches Merkmal des Chor-Theaters Einar Schleefs. Denn dieses provoziert in mehrfacher Hinsicht. Zunächst ist es eine Provokation des Theaterbetriebs, vor allem durch die Länge und Intensität der Probenarbeit sowie die Übernahme von Chor-Partien durch viele Ensemblemitglieder bei gleichzeitiger Reduzierung von protagonistischen Rollen, wodurch dem Chor in einer Inszenierung eine maßgebliche Funktion und Bedeutung zukommt. Dem arbeitsteiligen Theaterbetrieb zuwider läuft auch die Übernahme oder Leitung beinahe sämtlicher am Prozess einer Inszenierung mitwirkender Künste durch Einar Schleef, der meist auch die Autorschaft des Inszenierungstextes beansprucht und ebenso verantwortlich zeichnet für die Gestaltung von Bühne, Licht und Kostümentwürfen. Bisweilen übernimmt Schleef auch schauspielerische Aufgaben – wie in seinem Auftritt als prophetische Nietzsche-Figur Verratenes Volk (Deutsches Theater Berlin 2000). Dabei übernimmt er stets auch die Rolle des die Inszenierung Verantwortenden, der mit Ansprachen vor das Publikum tritt, welche die Produktionsbedingungen und etwaige Probleme der Aufführung zum Thema haben. Schleefs theatral vorgeführte Verantwortung für die Inszenierung bedingt, dass er in nahezu allen Aufführungen anwesend ist und dass eine Premiere grundsätzlich nicht den Abschluss einer Theaterarbeit bedeutet. Auf Seiten der Rezeption fordert Schleefs Theater das Publikum durch die Überforderung oder Überschreitung theatraler Wahrneh-

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Der Begriff des „Formenkanons“ (Schleef) versteht die Verwendung der theatralen Mittel als unmittelbar verbunden mit den in die Bühnenvoraussetzungen eingeschlossenen inhaltlichen Implikationen. Mit dem Begriff des „Formenkanons“ wendet sich Schleef explizit gegen Idee und Begriff der „Konzeption“ (vgl. DFP, S. 465ff.). 9 Gerhart Hauptmanns Vor Sonnenaufgang (1987), Schleefs Die Schauspieler (1988), Goethes 'Urgötz': Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisirt (1989), Lion Feuchtwangers Neunzehnhundertachtzehn (1990) sowie Goethes Faust (1990). 10 Diese Haltung wurde in Schleefs Frankfurter Zeit vor allem vertreten durch den Theaterkritiker Peter Iden (Frankfurter Rundschau). Zu den heftig umstrittenen Frankfurter Inszenierungen und dem 'Faschismus'-Vorwurf der Theaterkritik vgl.: Wolfgang Behrens, Einar Schleef. Werk und Person. Berlin: Theater der Zeit, 2003, hier: S. 102ff.

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Einleitung mungsgewohnheiten heraus. Dies wird an der Sportler-Choreografie aus der Inszenierung Ein Sportstück besonders deutlich. Durch die lange Dauer der Szene, das ausgestellte Mittel der Repetition, die Rhythmisierung des Sprechens und die Nachordnung des Textsinns unter die körperliche Bewegung bei gleichzeitigem Entzug der darstellenden Dimension der Theaterszene werden besonders zwei Konventionen der theatralen Wahrnehmung außer Kraft gesetzt: zum einen das Verfolgen eines theatralen Ablaufs beziehungsweise einer performativen Handlung, welche an die wortverständliche Präsentation des Inszenierungstextes gebunden ist; zum anderen die visuelle Wahrnehmung einer klar umgrenzten Figur in einer durch das Bühnenportal gerahmten (Bild-) Szene. Beide Konventionen werden durch die Art des chorischen Auftritts nachhaltig unterlaufen. Stattdessen tritt mit dem körperlichen Rhythmus des chorischen Sprechens die Materialität der Sprache in den Vordergrund, und auf der Ebene des Sehens verweigert die Chor-Figur eine (flächige) Ansicht von sich, die an die Erwartung einer perspektivischen Bildwahrnehmung der Bühne – und damit der theatralen Figur – geknüpft ist. Aufgrund der vielschichtigen Arbeit an der theatralen Wahrnehmung, die hier besonders deutlich hervortritt, und der damit verbundenen Frage nach dem Figurenstatus des Chors kommt der Diskussion der Szene im Kapitel über Ein Sportstück exemplarische Bedeutung zu. Eine weitere 'Provokation' der theatralen Wahrnehmungsgewohnheiten mag in der energetischen Form des Chorauftritts selbst bestehen. So hat zum Beispiel der schnelle Zulauf eines großen Chors auf die Bühnenrampe eine beinahe körperräumliche Wirkung, die den Rahmen der auditiven und visuellen Wahrnehmung überschreitet. Diese Wirkung des chorischen Auftritts scheint allerdings weniger mit der 'Masse' der Chormitglieder zusammenzuhängen als mit der konfrontativen Haltung der Chor-Figur im Theaterraum: Wenn der Chor, wie in Schleefs Theater häufig der Fall, als Reihe oder Riege beziehungsweise als dicht gedrängte Gruppe an der Bühnenkante steht und somit dem Blick in die Bühnentiefe gleichsam 'einen Riegel vorschiebt' – dann wird das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum als zweier voneinander vollständig getrennter Räume diskutiert. Durch den energetischen Zulauf des Chors auf die Bühnenrampe und das chorische Sprechen an diesem Ort wird diese gedanklich-räumliche Grenze zugleich – im doppelten Wortsinn – aufgehoben. Die konstitutive Getrenntheit von Wahrnehmungs- und Darstellungsraum im Guckkastentheater wird durch die häufig eintretende körperräumliche Wirkung des Chorauftritts in Schleefs Theater gleichzeitig hervorgehoben und befragt. Ein anderer Punkt, der die theatrale Rezeption herausfordert, indem er eine voyeuristische Zuschauerhaltung nachhaltig

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Tragödie als Bühnenform

verhindert, ist die Definition des gesamten Theaters als Auftrittsraum. So befinden sich die Auftrittsorte von Schauspielern und Musikern in Schleefs Theater nicht nur auf der Vorder-, Hinter-, Seiten-, Ober- und Unterbühne, sondern auch und vor allem: mitten im Zuschauerraum (in der Eingangsszene von Der Golem in Bayreuth, Burgtheater Wien 1999), hinter den Zuschauern sowie auf dem Rang. Der Chor zieht, von draußen kommend, in das Theater ein – mal, mit Bezug auf die Herkunft der Zuschauer, vom Foyer (wie zu Beginn der Golem-Inszenierung), mal von hinten, durch ein Fenster in der rückseitigen Wand, der Brandmauer des Theaters (wie zum Schluss der Sportstück-Inszenierung die Soldaten der Roten Armee). Ein weiterer Auftrittsort, der eine Grundform von Schleefs Theater beschreibt, ist der Steg, der von der Mitte der Bühnenrückwand über die Bühnenkante hinweg durch den Zuschauerraum verläuft und diesen durchschneidet. Mit der Definition der gesamten Theateranlage als Auftrittsraum, der Durchkreuzung des im Guckkastentheater als abgedunkelter, rein rezeptiver Raum konzipierten Zuschauersaals mit den theatral aufgeführten Konflikten, wird das Theater in erster Linie als realer Versammlungsort begriffen. Indem Schleef das Theater vom Grundriss aus definiert, nicht als optisch berechneten Schauraum, sind der Ort und die Perspektive der Zuschauer in den Theaterraum eingeschlossen. Dadurch ändern sich Status und Wahrnehmung der Zuschauer. Indem der sichere, kontemplative Abstand zum theatralen Geschehen, der distanzierte Blick auf die Szene verhindert wird, wird das Theater als politischer Ort begriffen, an dem das, was aufgeführt wird, gleichzeitig zum Objekt einer öffentlichen Debatte wird. Dies bedeutet, dass die Fragen des Theaters nicht im dunklen, von der Außenwelt abgetrennten Raum eingeschlossen werden, sondern sich vielmehr in Bezug setzen zu dem das Theater umgebenden öffentlichen Raum, aus dem Zuschauer wie Künstler, und somit auch die auf dem Theater zu verhandelnden Fragen, kommen. Schleefs Theater ist jedoch nicht aus technischen Gründen provokativ. Vielmehr scheint der Wiedereinzug des aus dem Theater verdrängten Chors nicht nur aufgrund seiner Form konfliktuös zu sein, sondern auch aufgrund des mit der Chor-Figur verbundenen Potenzials einer inhaltlichen Zuspitzung der theatralen Konflikte. Wenn Schleef in Bezug auf seine analytische Lesart Gerhart Hauptmanns festhält, dass in der Moderne, im Gegensatz zur 'antiken Konstellation'11, nicht der Protagonist, sondern der Chor als ausgeschlossene Figur gezeigt werde12, so steht die von Schleef

11 Vgl. DFP, S. 265. 12 Vgl. DFP, S. 12.

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Einleitung konstatierte Bedeutungszunahme der Chor-Figur am Ende des 19. Jahrhunderts in Zusammenhang mit der Thematisierung sozialer Konflikte zu Beginn des 'Massenzeitalters'. Diese Konflikte, die den Einzelnen als Einzelnen, nicht mehr aber als große, geschichtsmächtige Einzelfigur betreffen, rufen eine Neufindung der ChorFigur auf dem Theater geradezu herbei. Die in Schleefs Theater zentralen Thematiken des Kriegs und der sozialen Ausschließung sind nicht als Konflikte zwischen einzelnen, protagonistischen Figuren zu verhandeln. Die Geschichte Rosa Luxemburgs, ihre Haltung zur Revolution und Auseinandersetzung mit dem Diktatur-Begriff ergeben ohne die revolutionären Bewegungen auf der Straße, die Massendemonstrationen und Straßenkämpfe zwischen November 1918 und Januar 1919 und das Fortwirken des Kriegs in der tief gespaltenen Gesellschaft, keinen Sinn. Deshalb wird der Chor, der diese Konfliktsituation veröffentlicht, in der Inszenierung Verratenes Volk zur eigentlichen Hauptfigur auf dem Theater. Die 'Verdrängung' des Chors aus dem Theater ist für Schleef nicht erst einer modernen dramaturgischen Idee, etwa der deutschen Klassiker, geschuldet, oder dem Zusammenschluss der theatralen Figur mit dem „Phantasma der natürlichen Gestalt“, den Günther Heeg im Kontext des 18. Jahrhunderts analysiert.13 Vielmehr macht Schleef das Vergessen der Chor-Figur im neuzeitlichen europäischen Theater an einem anderen und wesentlich früher einsetzenden Punkt fest: der Erfindung der Zentralperspektive. Die Orientierung der Theaterarchitektur an den Maßgaben der perspektivischen Bilddarstellung hat für Schleef notwendig den Ausschluss der Chor-Figur zur Folge. Denn, so hält er in Droge Faust Parsifal fest, nur eine Einzelfigur könne im Fluchtpunkt erscheinen, keine Gruppe. Der Chor laufe daher einer visuellen Darstellung zuwider, die maßgeblich vom 'Sog' des perspektivischen Trichters bestimmt sei. Je mehr die Wahrnehmung an die optische Konstruktion des Visuellen geknüpft wird, je mehr die Entwicklung der Bühnenform seit dem 16./17. Jahrhundert dahin geht, die Bühnenöffnung als Bildfläche zu definieren, desto nachhaltiger ist die Chor-Figur aus dem Theater verschwunden. Ihre latente Weiterexistenz macht Schleef in der Musik aus, insbesondere bei Johann Sebastian Bach. Auf dem Feld der Sichtbarkeit jedoch trete der Chor, als eigenständige Theaterfigur begriffen, nicht mehr auf. Der von Schleef analysierte Zusammenhang zwischen dem Vergessen der Chor-Figur und der Entwicklung der modernen Theaterarchitektur begründet seine intensive Auseinandersetzung mit der

13 Vgl. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main/Basel: Stroemfeld, 2000.

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Tragödie als Bühnenform antiken Bühnenform. In den Stücktexten der antiken griechischen Tragödie findet Schleef die mit dem Chor-Denken verbundene Form der Konfliktdarstellung niedergelegt, die er als 'antike Konstellation' begreift. Diese Form beschreibt zunächst den konfliktuösen Zusammenhang szenischer Orte auf dem Theater der antiken Tragödie: Der Chor behauptet sich in der Orchestra, dem Ort, der im griechischen Theater dem in der Cavea versammelten Publikum am nächsten liegt und der gleichzeitig am weitesten entfernt ist vom Bühnenhaus, der Skene, welche Schleef, aufgrund seiner Analyse der Stücktexte, als Palast und mithin als Machtzentrum definiert. Zwischen Skene und Orchestra, Palast und Chor, und von beiden gleichermaßen konstitutiv getrennt, muss sich der antike Protagonist behaupten. Sein Ort ist das Proszenium, das Schleef als Ort „VOR DEM PALAST“ (DFP, S. 19 u. 265ff.) beschreibt. Das Proszenium, das sich zwischen Orchestra und Skene, zwischen Chor und Palast schiebt, begreift Schleef in seiner Analyse der antiken Bühnenform als Ort, der den dargestellten tragischen Konflikt anzeigt. Schleefs Darlegung der Szene 'VOR DEM PALAST' extrapoliert aus der Konstellation der szenischen Orte, die er in den Texten der Tragödien niedergelegt findet, seine Analyse der tragischen Konfliktsituation. Dies bedeutet: Schleefs Arbeit an der Bühnenform der Tragödie ist keine dramaturgische oder dramentheoretische Auseinandersetzung mit neuzeitlichen und modernen Theorien der Tragödie. Es geht ihm nicht darum, in normativem Gestus ästhetische Gesetze zur Theatralisierung des Chors im Rückgriff auf antike Texte zu formulieren. Die Frage einer notwendigen Verabschiedung der Möglichkeit der Tragödie in der Moderne14 oder ihrer potenziellen Wiederkehr als performativem „Spiel“15 wird daher von Schleefs Arbeit an der Tragödie nicht fokussiert. Schleefs Chor-Theater ist ein Theater des

14 So eine verbreitete Lesart von Benjamins Analyse des barocken Trauerspiels, welches er im Hinblick auf seine 'geschichtsphilosophischen' Implikationen von der antiken Tragödie absetzt (vgl. Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders., Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band I.1. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 203-430). Benjamins Darlegung des von der Antike abgetrennten, neuzeitlichen Trauerspiels scheint jedoch weniger auf eine Verabschiedung der Bühnenform der Tragödie abzuzielen. Vielmehr steht m.E. in seiner Diskussion des Begriffs der Tragödie die Kritik eines ahistorischen Ästhetizismus der Tragödientheorien im 19. und frühen 20. Jahrhundert im Vordergrund. 15 Vgl. Christoph Menke, Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005.

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Einleitung Konflikts: Es theatralisiert eine konfliktuöse Situation, die zwischen Chor und Einzelfiguren, zwischen Bühne und Publikum verhandelt wird. Seine Grundfrage, die Schleef als „Chor-Riß“ (DFP, S. 276) bezeichnet, ist die Frage nach dem Verhältnis von Einzelnem und Chor. Die Grundform der öffentlichen Verhandlung dieser Frage findet er in der Bühnenform der antiken Tragödie dargelegt.16 Schleef greift auf die antike Bühnenform vor allem deshalb zurück, weil mit der Entwicklung der neuzeitlichen Theaterbauten nicht nur der Chor als Theaterfigur vergessen wurde, sondern auch die Form des Konflikts, den das chorische Theater umsetzt. In der Dramatik der Weimarer Klassik, und in deren Nachfolge auch in Richard Wagners Musiktheater, manifestiert sich für Schleef ein bis heute wirksames Problem: Die deutschen Klassiker, namentlich Schiller und Goethe, hätten sich zwar nachhaltig an den Texten der antiken griechischen Tragödie orientiert. Dieser Rückgriff habe jedoch eine notwendige Auseinandersetzung mit dem Chor versäumt. Diese sei nur ansatzweise geschehen. Die Gründe für die Unvollständigkeit dieser Auseinandersetzung legt Schleef in seinem Essay Droge Faust Parsifal nieder: Neben dem Ausschluss der weiblichen Figuren aus dem zentralen dramatischen Konflikt macht er den Kern des Problems zum einen in einem nicht vorhandenen Begriff der antiken Bühnenform aus, zum anderen in der Ermangelung der Chor-Figur, die aus dem neuzeitlichen Theater vertrieben worden sei. Damit habe die Weimarer Auseinandersetzung mit der Tragödie sowie deren nachfolgende Rezeption und Weiterentwicklung, notwendig fehlgehen müssen. Erst die (inhaltliche wie ästhetische) Auseinandersetzung mit der Chor-Figur könne den Weg zu einer modernen Auseinandersetzung mit der antiken Tragödie und der hierin niedergelegten theatralen Konfliktform eröffnen. Dieser Gedanke ist konstitutiv für Einar Schleefs Chor-Theater. Seinem Nachvollzug gilt daher in meiner Darstellung besondere Aufmerksamkeit. Die theoretische Auseinandersetzung mit Schleefs Chor-Theater steht immer noch am Beginn. Neben einer Reihe zumeist kürzerer Aufsätze zu bestimmten Inszenierungen oder einzelnen Aspekten von Schleefs Theaterarbeit17 liegen bisher erst zwei wissenschaftliche Monografien vor, die sich explizit mit Schleefs Chor-Theater

16 Mit der Problematik der Suche nach einer Grundform der Darstellung des Konflikts zwischen Chor und Einzelnem wird deutlich, dass es sich bei Schleefs Formulierung der antiken Bühnenkonstellation ebenso wenig wie um eine tragödientheoretische um eine architekturhistorische Beschreibung handelt. 17 Vgl. Literaturverzeichnis.

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Tragödie als Bühnenform auseinandersetzen. In Szene vor dem Palast18 untersucht Miriam Dreysse an den Frankfurter Inszenierungen insbesondere die Materialität der theatralischen Zeichen Körper und Sprache und deren konfliktuöses Verhältnis in Schleefs Theater. Diese Arbeit leistet vor allem einen ersten wichtigen Ansatz, die Besonderheit des chorischen Sprechens nachvollziehend aufzuzeichnen. David Roesner widmet Schleefs Theater einen Teil seiner Monografie Theater als Musik19, die sich mit chorischen Formen bei Marthaler, Wilson und Schleef unter dem Blickpunkt einer „Musikalisierung“ des Theaters beschäftigt. Diese Fokussierung ist insofern für den theaterwissenschaftlichen Diskussionszusammenhang von Interesse, als das Chor-Theater allzu oft nur im Gestus des rein philologischen Rückgriffs auf die antiken Vorbilder und deren klassische Bearbeitungen beschrieben wird. Gleichwohl ist zu fragen, ob die Figur des Chors unter dem Aspekt der Musikalisierung ausreichend beschrieben ist. Eine „Typologie des theatralen Mittels Chor“ unternimmt Detlev Baurs Untersuchung Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts20. Einar Schleefs Theater, das den Chor gerade nicht als ästhetisches „Mittel“, sondern als zentrale Theaterfigur begreift, wird jedoch von der Studie nur am Rand gestreift. Insbesondere die Bühnenform in Schleefs Chor-Theater hat in der theoretischen Auseinandersetzung bisher keine umfassende Beachtung gefunden. Demgegenüber stellt meine Untersuchung Schleefs Reflexion der antiken Tragödie und deren Transformationen in der Moderne ins Zentrum. Mit der Fokussierung von Schleefs politisch-topografischer Analyse des Bühnenraums soll die Diskussion des Chor-Theaters, jenseits der bereits konstatierten Niederlage des Protagonisten oder eines Endes des Dramas im 'postdramatischen' Theater, in neuen theoretischen Zusammenhang gestellt werden. Dabei ist zu fragen, wie eine Neuformulierung der antiken Bühnenform, verstanden weniger als architektonische Raumbeschreibung denn als intelligible Ausdrucksform des Zusammenhangs zwischen Wahrnehmen und Darstellen, aussehen kann. Wie kann der Chor wieder Einzug in einem Theater halten, dessen Bühne ihm nicht nur dramaturgisch, sondern auch baulich keinen Auftrittsort mehr bietet? Hat nicht Wagner, im für seine Musiktheaterreform paradigmatischen Bayreuther Festspielhaus (erbaut 187218 Miriam Dreysse Passos de Carvalho, Szene vor dem Palast. Die Theatralisierung des Chors im Theater Einar Schleefs. Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York/Paris/Wien: Lang, 1999. 19 David Roesner, Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Tübingen: Narr, 2003. 20 Detlev Baur, Der Chor im Theater des 20. Jahrhunderts. Typologie des theatralen Mittels Chor. Tübingen: Narr, 1999.

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Einleitung 76), das Orchester, das er in seiner Schrift Oper und Drama (1852) als modernen Nachfolger des antiken Chors definiert hatte, im Bühnenboden versenkt – womit der ehemalige Chorraum des Theaters, die Orchestra, endgültig aus dem sichtbaren Bühnenraum gestrichen ist? Wie kann also eine Verschränkung zwischen der inhaltlichen Problematik, dem theatralisierten Konflikt, und der chorischen Form, die sich mit der baulich manifestierten Vertreibung des Chors auseinandersetzen muss, aussehen? Diesen Fragen, die für Schleefs Theater zentral sind, geht die Studie Tragödie als Bühnenform nach. Ausgangspunkt und Gegenstand der Analyse sind drei späte Inszenierungen Schleefs: Ein Sportstück von Elfriede Jelinek (Burgtheater, Wien, 1998), Der Golem in Bayreuth von Ulla Berkéwicz (Burgtheater, Wien, 1999) sowie Verratenes Volk von Einar Schleef nach Döblin, Nietzsche, Milton, Dwinger und anderen (Deutsches Theater, Berlin, 2000). In Teil I wird unter der Überschrift „Tragödie als Bühnenform“, entlang den analysierten Gegenständen und den hiermit zusammenhängenden Fragestellungen, das begriffliche Instrumentarium entwickelt und die methodische Herangehensweise zur Analyse von Schleefs szenischem Denken entfaltet. Das erste Kapitel über die berühmt gewordene Inszenierung Ein Sportstück, die ein ganzes Kaleidoskop der chorischen Ästhetik ausbreitet, unternimmt anhand ausgewählter Szenen eine kritische Phänomenologie der vielfältigen Chor-Figuren und deren Auftrittsweisen. Dabei gilt Schleefs Auseinandersetzung mit der tragischen Szene Elektras 'VOR DEM PALAST' und deren Transformation in eine nach-dramatische ChorFigur in Elfriede Jelineks Stück besondere Aufmerksamkeit. Das zweite Kapitel über die Inszenierung Der Golem in Bayreuth thematisiert Schleefs Reflexion der Wagnerschen Bühnenform und deren Problematik – dem Verschwinden des ehemaligen Chorraums im Theater durch die Versenkung des Orchesters. An Schleefs GolemInszenierung, die in weiten Teilen auch eine Auseinandersetzung mit Wagners Parsifal ist, wird gezeigt, wie im Umkehrschluss zu Wagners theoretischer Formulierung der Ersetzung des Chors durch das Orchester in einem rein chorischen Theater das Orchester selbst zum Chor wird. Teil II hat die Inszenierung Verratenes Volk zum Gegenstand und ist als exemplarische Porträtierung einer Inszenierung zu verstehen. Um die Vielfalt und Heterogenität des zugrunde liegenden Text- und Musikmaterials sowie die inhaltliche Komplexität der Inszenierung aufzuschlüsseln, wird diese, wie eine Aufführung, von Beginn bis zum Schluss, Schritt für Schritt gelesen oder besser: entziffert. Die Herangehensweise der Studie ist ein beständiger Perspektivwechsel zwischen dem deskriptiven Nachvollzug der Aufführung, der das verwendete Material chronologisch anordnet, und

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Tragödie als Bühnenform dem Blick auf die Bearbeitung des Materials durch den Regisseur und Autor Einar Schleef: So wird zu jeder Szene der Originaltext (z.B. aus Döblins November 1918, Nietzsches Ecce homo oder Artikeln von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht) mit dem Aufführungstext und verschiedenen Stadien der Textbearbeitung kontrastiert. Unter Einbezug einer Fülle von aufschlussreichem Material aus Einar Schleefs unlängst erst archiviertem Nachlass (Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin) soll dem Leser die Möglichkeit eröffnet werden, den gedanklichen Hintergrund und die Genese einer so großformatigen und für die Ästhetik des Gegenwartstheaters nachhaltig wirksamen Inszenierung nachzuvollziehen. Nicht nur angesichts der beschriebenen Komplexität von Quellenmaterial und inhaltlicher Fragestellung der Inszenierung, sondern auch aufgrund der Polyperspektivität jeder theatralen Aufführung, deren Flüchtigkeit auch durch Fernseh- und Videomitschnitte nur teilweise kompensiert werden kann, kann die porträtierende Darstellung keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Vielmehr geht es meiner deskriptiven Herangehensweise darum, Einar Schleefs 'archäologische' Lektüre der verwendeten Texte darzustellen sowie sein vom Chor ausgehendes szenisches Denken anhand der Genese dieser Inszenierung zu verdeutlichen. Die Form der Darstellung der Inszenierung Verratenes Volk ist daher gleichzeitig als Arbeit an der Form einer solchen Darstellung zu verstehen. Tragödie als Bühnenform will damit auch einen Beitrag zur Diskussion des methodischen Umgangs mit der Deskription theatraler Phänomene leisten.

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Teil I

Tragödie als Bühnenfor Bühnenform ühnenform

TRAGÖDIE ALS BÜHNENFORM

Insofern Schleefs Theater in seinem Zentrum an der Neufindung der Chor-Figur arbeitet, ist es immer auch Auseinandersetzung mit der Tragödie, die den Chor als Theaterfigur erfand – beziehungsweise die aus diesem allererst hervorgegangen ist. Diese Auseinandersetzung mit der Tragödie ist zunächst Arbeit an der Form der Tragödie, wie sie Schleef in den antiken Stücktexten niedergelegt findet. Diese Form der Tragödie, deren Struktur hauptsächlich von der Wechselbeziehung zwischen Chor und Einzelfigur geprägt ist, analysiert Schleef als Bühnenform.1 Mit Bezugnahme auf die sophokleische Elektra, die für Schleef die Gründungsfigur des Proszeniums ist, definiert er in seinem Essay Droge Faust Parsifal die in Sophokles’ Tragödie zum Ausdruck gebrachte 'antike Konstellation' als Szene 'VOR DEM PALAST'. Von dieser Konstellation ausgehend, in der sich für Schleef der konfliktuöse Zusammenhang von Figuren, Sprache, szenischen Orten und theatraler Wahrnehmungseinrichtung zeigt, zeichnet er modellhaft die gedanklichen Linien der Tragödie als Bühnenform nach: den Ort des Protagonisten zwischen Chor und Palast, Orchestra und Skene sowie die sich aus dieser Konstellation ergebenden inhaltlichen und formalen Konsequenzen für die Definition der Figuren. An dieser verloren gegangenen gedanklichen Form, deren (vorläufig) endgültiger Verlust sich, im Verschwinden des Chors von der neuzeitlichen, abendländischen Theaterbühne manifestiert habe, so Schleef, arbeite das Theater bis heute. Somit versteht sich sein Theater nicht zuletzt als analytische Arbeit an den Auswirkungen dieses Verlusts auf die inhaltliche Dimension der Stoffe, das Verständ1

Den Begriff der 'Bühnenform' zur Beschreibung von Schleefs Arbeit an der Form der Tragödie möchte ich hier in Anlehnung an Ulrike Haß’ Definition der Bühnenform als 'weiten Begriff' verwenden, das heißt, weniger als architektonische Beschreibung von Raum bzw. Raumgestaltung, denn als „intelligible Form, in der sich ein spezifisches Wissen über den Zusammenhang von Wahrnehmen und Darstellen ausdrückt und herstellt“ (Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform. München: Wilhelm Fink, 2005, S. 17).

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Tragödie als Bühnenform nis des Zusammenhangs von Chor und Einzelfigur, von Bühne und Publikum, sowie auf die Wahrnehmungsverhältnisse im Theater, insbesondere den Zusammenhang von Sehen und Hören. Ausgangspunkt und Anlass für Schleefs Auseinandersetzung mit dem tragischen Denken als Bühnenform ist das von ihm konstatierte, mit dem Verlust der Tragödie einhergehende Verständnisproblem, welches sich notwendig aus dem Verschwinden der Figur des Chors aus dem Theater ergeben habe. Indem der Chor von der Theaterbühne vertrieben sei – oder auf dieser allenfalls noch als 'Dekoration' vorkomme, wie Schleef mit Bezug auf Wagners Kritik des Opernchors festhält –, sei das tragische Denken, das heißt die theatralische Reflexion des in der 'antiken Konstellation' niedergelegten existenziellen Konflikts, der das Verhältnis von Chor und Protagonist in der Tragödie kennzeichnet, ebenso in Vergessenheit geraten. Das Vergessen der 'antiken Konstellation', das heißt: der Bühnenform der antiken Tragödie2, deren „Hauptperson“ der Chor sei (DFP, S. 125), bezeichnet Schleef als „[d]rückende Erblast“ (DFP, S. 9) der deutschen Klassik, namentlich Schillers und Goethes – und in deren Nachfolge auch Wagners. Deren Arbeiten, als Auseinandersetzung mit dem 'Vorbild' der antiken Tragödie aufgefasst, scheinen zwar teilweise den Chor-Gedanken aufzugreifen – exemplarisch hierfür nennt Schleef Schillers Räuber. Hauptproblem sei jedoch, dass die Chorbildung „nach Auffassung der deutschen Klassiker Männersache“ (DFP, S. 9) bleibe: „Die Einigung zu einem Chor, die Definition als Chor, auch wenn dieser nach Shakespeare individualisiert ist, setzt in bürgerlicher Auffassung den Ausschluß der Frau voraus, da sie die Drogeneinnahme stört.“ (DFP, S. 9)

Seit der religionsstiftenden Instituierung des Abendmahls, so Schleef, sei der Chor-Gedanke mit der Drogeneinnahme verknüpft. Um die Drogeneinnahme als konstituierenden Akt der Chorbildung, deren Vorbild das christliche Abendmahlsmotiv sei, kreisten auch die neuzeitlichen Auseinandersetzungen mit dem Chor-Gedanken, und insbesondere die dramatischen Arbeiten der deutschen Klassiker, um die Droge.3 Die bis heute wirksame „Erblast“ der deutschen Klassik nun sei es, dass die Autoren in ihrer Auseinandersetzung mit der antiken Form des Chors das Motiv der gemeinschaftsstiftenden Drogeneinnahme – in Anlehnung an das Motiv des christlichen Abendmahls – mit der Ausschließung der weiblichen Figur(en) 2 3

Schleef nennt dieses Vergessen die „Vertreibung des tragischen Bewußtseins“ (DFP, S. 9). Exemplarisch führt Schleef dies am 'pestkranken' Chor der Gralsritter in Wagners Parsifal aus.

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Tragödie als Bühnenform zusammengeschlossen hätten. Diese schafften es fortan nicht mehr, ins dramatische Zentrum der Stücke beziehungsweise ins Zentrum des in den Texten verhandelten Machtkampfs vorzudringen. In Droge Faust Parsifal zeichnet Schleef diese Entwicklung an den exemplarischen Figuren der Margarethe aus Goethes Faust sowie der Kundry aus Wagners Parsifal. Diese dramaturgische Marginalisierung unterscheide die modernen Protagonistinnen, so Schleef, nachhaltig von den weiblichen Figuren der antiken Tragödie: sei doch deren zwar aussichtslosem, das heißt tragischem Kampf und ihrer letztendlichen „Besiegung“ (DFP, S. 9) noch die ausführliche Darstellung der Tragödien gewidmet – so etwa Sophokles’ Elektra und Antigone. Während die sophokleischen Protagonistinnen, wenn auch in der Porträtierung der Niederlage ihrer Prinzipien, das Zentrum der tragischen Szene bilden, ist Goethes Margarethe für Schleef von Beginn an unterlegene Figur: durch die Ausschließung von der in Faust zelebrierten männerbündlerischen Drogeneinnahme. Ebenso versteht Schleef Wagners Kundry, durch ihre Verfluchung zu ewigem leidensvollen Leben und ihr Gebundensein an eine ebenfalls unheilvolle sexuelle Aktivität, als von vornherein ausgeschlossene Figur: zum einen durch den Fluch – nach ihrer Verhöhnung Christi am Kreuzweg –, der als gerechte Strafe der Verlachung des leidenden Gottessohnes inszeniert wird; zum anderen durch ihre sexuelle Identität, die sie per definitionem aus der Gemeinschaft der – Keuschheit gebietenden – Gralsritterschaft und der Teilnahme am Abendmahlsritus, dem geheiligten und heiligenden Bluttrinken der Gralsritter, ausschließt. Insofern die Texte der klassischen und nachklassischen Autoren derart die Drogeneinnahme und mithin die Chorbildung den Ausschluss der Frau voraussetzten, sei die Verbindung zum Denken der antiken Tragödie und also zum eigentlichen Chor-Gedanken nachhaltig gestört. Aufgrund der hier von Schleef konstatierten „Verdrängung der Frau“ (DFP, S. 9) aus dem zentralen dramatischen Konflikt komme es im Theater der deutschen Klassik nicht zu einer wirklichen Auseinandersetzung mit der 'antiken Konstellation', die eine Arbeit an der Form der Tragödie voraussetzen müsste. Für Schleef ist jedoch das Problem, das sich in der kritischen Auseinandersetzung mit der Tragödie stellt, kein rein dramaturgisches beziehungsweise dramentheoretisches. Vielmehr bedeutet die Arbeit an der Tragödie als Bühnenform auch die Frage nach der Räumlichkeit der Inszenierung, das heißt nach den gegebenen Theaterhäusern und den in ihnen festgeschriebenen Wahrnehmungsmodellen. Die 'Vertreibung des Chors' von der Theaterbühne und somit die 'Vertreibung des tragischen Bewusstseins' ist für Schleef keine dramaturgische Frage – und gleichfalls nicht Sache der deutschen Klassiker. Als Hauptgrund und Ursache des Verschwindens

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Tragödie als Bühnenform der Chor-Figur von den europäischen Theaterbühnen macht Schleef den Einsatz der Zentralperspektive in der bildenden Kunst und Architektur seit der Renaissance aus. In Droge Faust Parsifal analysiert er die perspektivische Zentrierung auf die Einzelfigur im Fluchtpunkt des Bildes an Leonardo da Vincis Fresco Abendmahl: „Die eingesetzte Zentralperspektive scheint engstens mit dem Untergang des Chor-Gedankens verbunden zu sein, da sich nur ein Individuum in ihren Fluchtlinien bewegen kann, keine Gruppe.“ (DFP, S. 167)

Die perspektivische Gliederung des gemalten Raums hinter den Figuren beschreibt Schleef als Gassenbühne, mit Fenster- und Türausblicken auf die Natur – als Ort der zukünftigen Geschehnisse beziehungsweise als Ort der Erinnerung an die vergangene harmonische Szenerie (Garten Eden). Die streng perspektivische Staffelung beziehungsweise Rahmung des hinter der Abendmahlsszene befindlichen Raums wirke wie ein Sog, so Schleef. Die Perspektive selbst sei der Sog, der die einzelnen Figuren, das heißt: die Figuren als Einzelne zu verschlucken, aufzusaugen drohe. Entscheidend in dieser Bildbeschreibung ist, dass die Bedrohung der Einzelfigur durch die Sogwirkung der Perspektive mit der Aufspaltung des Chors und also letztlich seinem notwendigen Verschwinden aus der von der Perspektive geprägten Bild- und Raumauffassung verknüpft wird. „So geben alle perspektivischen Darstellungen der Renaissance nicht Gruppen, sondern Figurenkompositionen wieder, in denen der Dargestellte für sich allein steht, allein in einer Fluchtlinie, ähnlich den Opfern einer Spinne im Netz.“ (DFP, S. 167)

Die Chor-Auffassung der Darstellung, das heißt die Betrachtung des Chors als notwendiger Umgebung der Einzelfigur, als Grund oder Grundierung von deren Auftritt, weicht nach Schleef in der perspektivischen Darstellung der 'Komposition' einzelner Figuren. Diese werden durch die Ablösung von ihrem bildlichen Grund nicht mehr als einer 'Gruppe' zugehörig definiert, sondern als radikal Einzelne betrachtet – was Schleef, auch in Bezug auf den thematischen Zusammenhang des Verrats im Abendmahlsmotiv, mit dem plakativen Ausdruck des 'Opfers' bezeichnet.4 Abgesehen jedoch von weite-

4

Mit Bezug auf Leonardo da Vincis Abendmahls-Fresco spricht Schleef allerdings von einer gleichzeitig eingesetzten 'Tischbarriere', die dem perspektivischen 'Sog' zuwiderlaufe. Durch den im Bild horizontal verlaufenden Tisch, an dem die Jünger frontal zum Betrachter aufgereiht sitzen, widersetzt sich die Szene im Vordergrund der Wirkungsmacht des perspektivischen Trichters, der die Einzelfigur, insbesondere die

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Tragödie als Bühnenform ren thematischen Zusammenhängen, auf die Schleefs Bildbeschreibung verweist (Drogeneinnahme und Chorbildung, Verrat, Chorausschluss und Opfer, die christliche Interpretation des antiken Gott-Essen-Motivs und deren zahlreiche neuzeitliche, bildnerische und dramatische Bearbeitungen, das Motiv der Droge in der modernen Dramatik, insbesondere in Goethes Faust und Wagners Parsifal), ist an dieser Stelle ein Punkt festzuhalten, der für Schleefs Theater und die in seinen Inszenierungen niedergelegte Arbeit an der Tragödie als Bühnenform zentral ist: die Verknüpfung des Vergessens oder Verschwindens der Chor-Figur aus dem Theater mit der Wirkungsmacht der Zentralperspektive beziehungsweise mit den nach perspektivischen oder vielmehr nach optischen Maßgaben eingerichteten neuzeitlichen Schauanlagen und deren Darstellungsoptionen. Die Frage nach der Möglichkeit der Tragödie oder des tragischen Denkens stößt hier, mit dem Problem der (notwendig) aus dem Theater verschwundenen Chor-Figur, auf die Frage nach der Abbildbarkeit – und Wahrnehmbarkeit – eines existenziell vom Konflikt her denkenden Theaters in Theaterhäusern, deren Einrichtung seit dem Barock als 'rein optisch erschlossene Räume' (Ulrike Haß), also als Schaubühnen organisiert sind, in denen die diesen Bühnen gegenüber Versammelten nicht mehr als 'öffentliche Subjekte' definiert sind, sondern als Zuschauer eines vor ihnen und in einem anderen, zweiten, vom Zuschauersaal getrennten Raum stattfindenden Schauspiels.5

5

Figur Jesus im Mittelpunkt, nach hinten zu 'ziehen' scheint (vgl. DFP, S. 76). Aber auch die 'Tischbarriere', der horizontale Block gegen die Sogwirkung des Fluchtpunkts, ist, sozusagen ex negativo, an den Einsatz der Zentralperspektive und die nach ihrem Wirkungsmuster eingerichteten Schaubühnen geknüpft. Den szenischen Einsatz des Tisches, nicht als Möbel, sondern als Instrument im 'Kampf gegen die Zentralperspektive', zur Behauptung der Gruppe und also zur Restituierung des Chor-Gedankens auf dem Theater, analysiert Schleef vor allem am Theater Gerhart Hauptmanns (vgl. DFP, S. 74ff.). Inhaltlich ist der Tisch mit dem Abendmahlsmotiv verbunden, also für Schleef mit dem Chor-Gedanken. Der Chor versammelt sich am Tisch zur gemeinsamen und gemeinschaftstiftenden Drogeneinnahme. Das Abendmahl ist Schleefs Auffassung zufolge die christliche Wendung des antiken Motivs des Gott-Essens (vgl. dazu das Vorwort zu Droge Faust Parsifal: DFP, S. 7ff.). Vgl. zur Entwicklung der Theatereinrichtung zur 'rein optischen Schauanlage' im Barock, bis zur Bühne als 'quadro' durch Pozzo, sowie zum Zusammenhang dieser Entwicklung mit der Entdeckung des Netzhautbildes durch Kepler (und Descartes): Ulrike Haß, „Die Bühne als ein totes Auge. Zur Beziehung zwischen Keplers Theorie des Netzhautbildes und der barocken Bühne“. In: Günther Heeg/Anno Mungen

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Tragödie als Bühnenform Ulrike Haß beschreibt diese Entwicklung des europäischen Theaters zur Schaubühne in Abhängigkeit mit der Entdeckung des Netzhautbildes zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Mit der Definition des Netzhautbildes durch Kepler, und in dessen Nachfolge bestätigt durch Descartes, werde das Sehen, so Ulrike Haß, zum passiven Vorgang, da sich das Netzhautbild ohne Aktivität des Sehenden, als Effekt der Lichtbrechung herstelle. Indem sich das Netzhautbild, das Kepler als 'pictura' beschreibt, unabhängig vom Sehenden in dessen Auge einstellt, werde das Auge als 'optische Apparatur' begriffen. Die hiermit erfolgten nachhaltigen Traditionsbrüche in der Auffassung des Sehens beschreibt Ulrike Haß als 1) Aufhebung der konstitutiven Trennung von Auge und Licht, 2) konfrontative Verknüpfung von Sehen und Gesehenwerden – in Folge der Annahme eines Bildes im Auge und 3) die Definition des Gesehenwerdens als innerweltlichem Vorgang, das heißt: Im Modell des passiven Empfangs der in ihrer Sichtbarkeit 'objektiv' vorausgesetzten Wirklichkeit ist das Gesehenwerden nicht mehr unsichtbar, außerweltlich. Nicht mehr das Auge Gottes wird als Ursache der sichtbaren Welt angenommen. Vielmehr werden Dinge und Menschen nun als rein visuelle Objekte konstituiert. Das allsehende Auge, das bis dahin als der diesseitigen Sichtbarkeit prinzipiell entzogen gegolten habe, so Haß, werde ersetzt durch das Modell des Spiegels.6 Somit werde in der Theorie des Netzhautbildes eine Theorie des Gesehenwerdens ohne Subjekt erfunden. Die in der Theorie des Netzhautbildes festgeschriebene Abtrennung des Auges vom Betrachter beziehungsweise die Definition des Auges als subjektloser 'optischer Apparatur' werde von den Architekten des 17. Jahrhunderts auf die Konstruktion der Theatergebäude übertragen. Was die Entwicklung der Bühnenformen betrifft, entdecke das 17. Jahrhundert, so Haß, ein 'Innen ohne Außen'. Zwar träten die Außenfassaden noch in einen Bezug zum städtischen Raum, der dunkle, abgeschlossene Innenraum aber, in den das Theater in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts einzieht, gebe seine Beziehung zum Außen auf. Mit Bezug auf den Theaterarchitekten Fabrizio Carini Motta (1627-1699) schreibt Ulrike Haß, die Verhältnisse zwischen Bühne und Zuschauerraum würden jetzt als Struktur gefasst, das heißt als tendenziell unabhängig von konkretem Gebäude. Damit befinde sich die barocke Theaterarchitektur bereits jenseits des geometralen Denkens, das von konkreten Raummaßen ausgeht. Jedoch nehme Motta noch Bezug auf das reale Gebäude und seine Grundfläche. So betont Haß die Doppelnatur eines Pro-

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(Hg.), Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik. München: epodium, 2004, S. 23-37. Vgl. ebd. S. 29.

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Tragödie als Bühnenform portionalitätsdenkens, das sich auf den konkreten Raum beziehe, einerseits, und eines abstrakten, den visuellen Beziehungen und Sichtverhältnissen verpflichteten Raums auf der anderen Seite. Signum des konkreten Raums, der geometralen Raumauffassung ist nach Haß die Fürstenloge: „So lange der Fürst jedoch noch in gesonderter, vorgeschobener und umfriedeter Position inmitten der Zuschauerränge thront, ist die Idee des Platzes noch nicht aufgegeben“7.

Mit dem Vorhandensein der Fürstenloge sei auch die Idee des Theaters als Ort der Versammlung noch nicht aufgegeben, denn: „So lange es als geometrale und noch nicht als optische Anlage begriffen wird, bleibt das Theater mit der Idee der Versammlung liiert“, als „Ort, um in Anwesenheit des Fürsten, dessen Loge im Augenpunkt (dem idealen Sichtpunkt) errichtet wird, gesehen zu werden“8. Jedoch werde bereits in Mottas 'Einheitsmaß' die 'lichte Breite' (Motta) unter optisch-visuellen Bedingungen mit der Grundlinie der Sicht assoziiert: Dieser gegenüber ist in Mottas Theaterentwurf der Horizontpunkt situiert, von dem aus der Lichtkegel das zu Sehende in Richtung der Grundlinie projiziert. Die Grundlinie der Sicht werde somit zur Linie des Gesehenwerdens. Für die Zuschauer bedeute dies, so Haß, dass sie hiermit unter der Theorie des Netzhautbildes begriffen, „als passive Empfänger einer Projektion definiert“ würden. Sie nähmen „an der Stelle dieses Bildes Platz, das sich als visuelles Phänomen nur im Wahrnehmenden konkretisieren kann“9. Damit sei der Betrachter als Teil des Bildes definiert, der Betrachter sei im Bild. Die Theaterarchitektur Mottas trage den Zuschauer als „Punkt unter Punkten“ in das „Tableau des Gesehenwerdens“10 ein. Haß beschreibt diesen Vorgang als Umkehrung der geometralen Sehpyramide der Perspektiviker. Denn in der optischen Anlage Mottas werde die Basis der (Seh-) Pyramide in den Augen der Zuschauer angenommen, nicht am Gegenstand. Definierten die Perspektiviker das Betrachtersubjekt als punktförmiges Wesen, das in einem bestimmten Abstand zum Bild verharrte, trage Motta nun das Betrachtersubjekt als optischen Punkt in die Linie des Gesehenwerdens ein.

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Ebd., S. 33, Hervorhebung im Original. Ulrike Haß, „Netzhautbild und Bühnenform. Zur Medialität der barocken Bühne.“ In: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performance. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 2001, S. 526-541, hier: S. 536. 9 Ebd. 10 Ulrike Haß, „Die Bühne als ein totes Auge“. A.a.O., S. 34.

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Tragödie als Bühnenform Anders als Motta gehe Andrea Pozzo (1642-1709) nicht mehr von einem realen Haus als Ort einer wirklicher Versammlung aus. In Pozzos 'Systemraum', so Haß, werde der geometrale Raum vollständig der piktoralen Perspektive unterworfen. Dieses radikale Absehen vom geometralen Raum führe bis zum Paradox des „unmöglichen Zuschauers“11. So installiere Pozzo das Auge an einem Punkt auf der (Bühnen-) Rückwand, der keinem Zuschauer zugänglich sei. Pozzos Raumentwurf situiere den Augenpunkt auf der Grundlinie der Sicht. Das Auge, an der Stelle des Augenpunktes, werde nun im Bild angenommen, so Haß. Somit werde es Teil der Projektion. Der Bühnenraum werde vom Auge, das im Bild, auf der Grundlinie der Sicht situiert sei, nicht mehr als Raum wahrgenommen, sondern als flächige Ansicht. Diese Definition der Szene als Fläche komme in Pozzos Begriff der Szene als 'quadro' zum Ausdruck. In dieser Definition, unter dieser Maßgabe werde der Raum Bild.12 Aus der Sicht des Zuschauers stellt sich die abstrakte Funktionsweise des 'quadro' wie folgt dar: „Pozzos Szene des quadro ist weder 'wirklich' noch imaginär zu erfahren, sondern als eine Projektion, die als Ansicht konzipiert wird, wahrzunehmen. Mit der Wahrnehmung verhält es sich für den Zuschauer genauso wie im ersten Experiment Brunelleschis, das die virtuelle Kammer des perspektivischen Systems zeigte. Dafür war das Auge auf einem Plan [...] an die Stelle zu bringen, an welcher der sogenannte Fluchtpunkt und der sogenannte Augenpunkt durch die Spiegelprojektion zusammenfallen. Von dieser Stelle aus avisiert das Auge, das jetzt im Bild ist und damit Teil des Projekts, einen möglichen oder hypothetischen Raum, der jedoch nicht mehr 'Raum' ist, sondern flächige Ansicht. [...] Der Augenpunkt ist auf die Grundlinie der Sicht zurückgewichen und ist als ein Punkt unter anderen Punkten in die abstrakte 'Bildwand' integriert, die aus den in die Höhe gestaffelten Zuschauern gebildet wird. Ihnen gegenüber, auf einer zweiten parallelen Grundlinie, [...] ist das quadro, die Ansicht, positioniert. Sie spielt mit Zeichen, die keine Vorbilder mehr in der Realität haben. Sie setzt sich aus Stückwerk, Fragmenten, Splittern, Bits zusammen, die nach Maßgabe der perspektivischen Kohärenz als geschlossene Ansicht wirken. [...] Die Ebene der einfachen Widerspiegelung ist im Systemraum Pozzos vollständig überführt in den piktoralen Plan, dem die Gesamtanlage gehorcht. Dieser Plan wird zur Handlungsanweisung für ein Publikum, das in ihn einbezogen ist: Ein Publikum, das selbst im Bild Platz nimmt, kann

11 Ferruccio Marotti, Lo spazio scenico. Teorie e tecniche scenografiche in Italia dall’età barocca al settecento. Rom: Bulzoni, 1974, S. 84. Hier zitiert nach: Ulrike Haß, Auge, Blick und Bühnenform. A.a.O., S. 369. 12 Zur Betrachtung der Bühne als Bild bzw. der Szene als Tableau vgl. auch: Günther Heeg, „Szenen“. In: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Frankfurt am Main/Basel: Rombach, 1999, S. 251-269.

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Tragödie als Bühnenform wiederum nur als Bild wahrnehmen, was sich ihm bietet. Es ist reduziert auf sein Auge, und von der Rahmenbedingung dieser phänomenalen Reduktion her muß ihm das Wahrnehmbare als piktorales Ereignis erscheinen, mehr oder weniger schlüssig, aber nicht anders als ein Bild“13.

Diese Bildwerdung einerseits der Bühne und andererseits des Zuschauers in Pozzos 'Systemraum' ist, was den Status des Sehens betrifft, nach Ulrike Haß wiederum vergleichbar mit der von Kepler entwickelten Theorie des Netzhautbildes: Wie dort das Auge als vom Körper des Betrachters abgetrennte optische Apparatur aufgefasst werde, die als subjektlose und insofern passive Aufzeichnung eines Bildes ('pictura') funktioniere, so werde dies in Pozzos abstraktem Schauraum auf die Szene als 'quadro' übertragen, in der die Bühne gleichsam als 'totes Auge'14 definiert werde. Im Sinne dieser Isolation des Auges vom Körper des Sehenden sowie desselben von dem ihn umgebenden Raum markiert Pozzos 'quadro', welches die historisch nachfolgenden Definitionen der so genannten 'Vierten Wand' sowie die Funktionsweise und Beschreibungsmodelle des bis heute wirksamen Guckkastensystems gedanklich initiiert oder überhaupt erst ermöglicht, für Ulrike Haß einen konstitutiven „Zusammenbruch der Beziehung“15 zwischen wahrnehmendem Körper und Raum. Der entscheidende Punkt ist, dass von den Bühnenarchitekten und Theoretikern des Barock die Anwendung der Zentralperspektive von der piktoralen Darstellung auf die Raumkunst des Theaters übertragen wird. Indem der Raum hier unter der Maßgabe der Bildlichkeit definiert und kreiert, also selbst zum Bild wird, wird die Räumlichkeit der theatralen Szene negiert. Genau genommen gibt es den Theaterraum – als Ort einer theatralen Szene – gar nicht mehr. Was aus dieser (aporetischen) Konstruktion der modernen europäischen Schaubühne folgt, an welche Grenzen die Theaterpraxis in diesen Schauanlagen stößt, untersucht Schleef in seinen Inszenierungen. In dem seit Pozzo und in dessen Nachfolge rein optisch erschlossenen Theaterraum etabliert sich Mitte des 18. Jahrhunderts der Schauspieler, der „mit der optischen Architektur dieses Systemraums nichts zu tun“16 habe, so Haß. Von daher begründe sich die Doppelstruktur des bürgerlichen Theaterraums, der auf der einen Seite von der Denk- und Wahrnehmungsstruktur des 'quadro' als abstrakter, vom geometralen Raum konstitutiv getrennter Ein13 Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. A.a.O., S. 372ff., Hervorhebungen im Original. 14 Vgl. Ulrike Haß, „Die Bühne als ein totes Auge“. A.a.O., S. 36. 15 Ulrike Haß, „Netzhautbild und Bühnenform“. A.a.O., S. 538. 16 Ebd., S. 539.

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Tragödie als Bühnenform schreibefläche geprägt ist und auf der anderen Seite vom Schauspieler, der menschlichen bewegten Figur, die ihrerseits von der Sichtbarkeitstradition des 'quadro' wiederum in ihrem Gesehenwerden (nicht in ihrem Zu-Sehen-Geben) definiert ist. Der Guckkasten des 19. Jahrhunderts ist von dieser Doppelstruktur geprägt, in der sich die im 'Paradigma der Perspektive' (Haß) wechselseitig miteinander verschränkten, gleichwohl jedoch voneinander unterschiedenen Modelle von Auge und Blick auf ambivalente Art zusammengeschlossen haben. Der Betrachter, der wie in Pozzos rein optisch erschlossenem Schauraum als 'totes Auge' definiert ist, findet sich gegenüber einer senkrechten Fläche, dem Bühnenportal als Bildfläche, und betrachtet eine Projektion, die durch den Schauspieler in einer je bestimmten Dekoration hervorgebracht wird. Die wechselseitige Verschränkung der Modelle von Auge und Blick, die Ulrike Haß für die Anordnung des Guckkastens konstatiert, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Dem Schauspieler, der unter den Bedingungen des perspektivisch erschlossenen Raums selbst zum Objekt des Blicks geworden ist, obliegt die Darstellung, Lenkung, Bewegung und Fokussierung der Blicke, während die optische Anlage, die Schaueinrichtung des Theaterraums als solche, dem Modell und der Logik des Auges folgt. Der Zuschauer wird demzufolge im Guckkastenmodell als passiver Voyeur definiert, dem von Seiten des Schauspielers zu sehen gegeben wird, während er von der Schauanlage zuallererst als Gesehener bestimmt wird. Im Zentrum dieser den Guckkasten prägenden Aporien der Bildlichkeit arbeitet Einar Schleefs Theater. Mit der Frage nach einem Ort des Chors auf dem Theater stößt er auf das Problem der Abbildlichkeit der theatralen Figur, das heißt der Visualisierung, die noch im Guckkasten in den beiden ambivalent verschränkten Formen der Sichtbarmachung: der optischen und der geometralen Anwendung der Zentralperspektive wirksam ist, die Ulrike Haß in den beiden Modellen von Auge und Blick beschreibt.17 Für Schleefs Theater 17 Das 'Modell des Auges' (Haß), das auf die Anwendung der Zentralperspektive nach rein optischen Maßgaben zielt, rekurriert auf die Entdeckung des Netzhautbildes durch Kepler (und Descartes). In ihrer Studie Kunst als Beschreibung untersucht Svetlana Alpers die Ablösung des Auges vom Körper des Betrachters und die Aneignung des Auges durch optische Apparaturen an der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, für die sie den Begriff der 'Malerei des Nordens' prägt. Im Gegensatz zur Malerei der italienischen Renaissance zeichne sich diese vor allem durch eine erhöhte Aufmerksamkeit auf die Oberfläche aus, durch die (auf den modellhaft wirkenden Spiegel rekurrierende) Flächigkeit des Bildes, durch dessen nicht vorhandene Rahmung, die Vielzahl von Details und deren nicht-hierarchische Gliederung im

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Tragödie als Bühnenform stellt sich die Frage, ob und wie der Chor als Figur, die per definitionem nicht von der bildlichen Maßgabe der perspektivischen Darstellung bezeichnet ist und gefasst werden kann, auf dem Theater, das heißt in den von diesen Maßgaben geprägten Räumen auftreten kann. Insofern die Frage nach der Tragödie für Schleef mit der Frage nach dem notwendig aus den zentralperspektivischen Bühnenräumen verschwundenen Chor ist, ist die Arbeit an der Tragödie als Bühnenform in ihrem Kern eine Frage nach der Darstellung. Da sich die Theaterfigur des Chors aufgrund ihrer Pluralität, wie Schleef in Droge Faust Parsifal darlegt, grundsätzlich einer zentralperspektivischen Abbildung – und daher in Bezug auf die uns bekannten Modelle tendenziell jeder Abbildung – verweigert, kann die Restitution beziehungsweise Neufindung der Chor-Figur in Theatereinrichtungen, die von der Geschichte der rein optisch konstruierten Schauräume geprägt sind, wie dies in der Anordnung des Guckkastens der Fall ist, nur eine konfliktuöse sein. Diesen sich in die theatrale Darstellungsgeschichte und die damit verbundenen Wahrnehmungsmöglichkeiten eingeschriebenen Konfliktfeldern geht Schleefs Chor-Theater mit der Thematisierung der Arbeit an der Tragödie nach.

Bildaufbau, sowie, daraus folgend, durch das tendenzielle Fehlen des Betrachterstandpunktes, der mit einem genau festgelegten Abstand des Betrachters zum Bild (-mittelpunkt) rechne (vgl. Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Köln: Dumont, 1985 und 1998, 2., durchgesehende Auflage). Demgegenüber stellt Svetlana Alpers die von Alberti für die Malerei der italienischen Renaissance geprägte Metapher des Fensters, der den Bildrahmen als 'geöffnetes Fenster' definiert, welcher die dargestellte Szene ('istoria') gliedert. Diese Auffassung des Bildinhalts als (gerahmte) Szene gibt, wie Schleef feststellt, eine perspektivisch gestaffelte 'Figurenkomposition' zu sehen, die – im Gegensatz zur 'Malerei des Nordens', die nach der Logik des 'aufmerksamen Auges' (Alpers) funktioniert –, der „Logik des Blicks“ folgt (Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. A.a.O., S. 29). Diese spielt, im Hinblick auf Rahmung, Gliederung und Festlegung des Betrachterstandpunkts (Abstandes) vor dem Bild, im geometralen Denken. Was für die beiden bildgebenden Verfahren der Perspektive im Hinblick auf die Malerei gilt, analysiert Ulrike Haß als zwei voneinander unterschiedene, wenngleich ambivalent miteinander verschränkte Verfahren bzw. Denkmodelle in Bezug auf die Entwicklung der Bühnenform und die mit ihnen verknüpften Modelle der Wahrnehmung unter den Begriffen 'Auge' und 'Blick'.

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EIN SPORTSTÜCK PORTSTÜCK – „UNTER DEM EINDRUCK DER TRAGÖDIE“

Die Uraufführung von Ein Sportstück fand am 23. Januar 1998 am Wiener Burgtheater statt. Aufgrund der unvorhergesehenen Länge der Aufführung – circa sechs Stunden, anlässlich der Premiere gefolgt von fast einstündigen Zugaben –, die in dieser Form (Szenenfolge und Länge), wegen der in Österreich gewerkschaftlich festgesetzten Arbeitszeit, die 23 Uhr nicht überschreiten darf, nur einmal stattfinden kann, gab es zudem eine so genannte 'Langfassung' der Inszenierung, die am 14. März 1998 ebenfalls am Burgtheater uraufgeführt wurde. Die im Mai 1998 auf dem 35. Theatertreffen im Berliner Schiller Theater gezeigten Aufführungen müssen ihrerseits – hinsichtlich der zahlreichen, bedeutsamen Änderungen in Bezug auf Raum, Ablauf, Kostüm und Szenografie im Vergleich mit den ersten Wiener Aufführungen – als eigene Fassung betrachtet werden.1 In seiner Inszenierung Ein Sportstück untersucht Einar Schleef die Möglichkeiten des Chors im Konfliktfeld der Wahrnehmungsgeschichte der nach-perspektivischen Bühnenformen in Bezug auf seine mit dem Chor-Gedanken verbundene Frage nach der Tragödie. Mit Jelineks nach-protagonistischen Figuren, die die Frage nach der Möglichkeit eines tragischen Denkens sozusagen „nach dem Ende“ (SP, S. 187), aus der Perspektive einer abgebrochenen Geschichte stellen, entwirft Schleefs Inszenierung eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Chor-Figuren, die das ganze theatrale Potenzial des Chors ausleuchten. Die von Jelinek gestellte Frage setzt Schleef als chorische Erforschung einer solchen Möglichkeit um. Haben Jelineks Theatertexte mit ihren nach-protagonistischen Figuren oder völligem Fehlen von Sprecherangaben – so bereits in Wolken.Heim. (UA: 1988)2 – schon lange die Tendenz, eine Viel1

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Sofern nicht anders angegeben, stützen sich die folgenden Beschreibungen der Inszenierung auf mein Erinnerungsprotokoll der Aufführung vom 21. Mai 1998 im Berliner Schiller Theater sowie auf Filmmaterial aus der Fernsehaufzeichnung durch 3sat anlässlich des Theatertreffens. Vgl. dazu: Christina Schmidt, „Chor der Untoten. Zu Elfriede Jelineks vielstimmigem Theatertext Wolken.Heim.“ In: Alexander Karschnia u.a.

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Tragödie als Bühnenform stimmigkeit zu etablieren, die auf der Ebene des Theaters chorische Aufführungsweisen evozieren mögen, stellt 'die Autorin'3 von Ein Sportstück in der dem Sprechtext vorangestellten 'szenischen Anweisung'4 zum ersten Mal explizit die Forderung nach dem Chor: „Machen Sie, was Sie wollen. Das einzige, was unbedingt sein muß, ist: griechische Chöre.“ (SP, S. 7)

Die so formulierte Forderung Jelineks, die hier als Figur der 'Autorin' auftritt, lässt zunächst offen, welche Figuren und wie viele chorisch umgesetzt werden sollen. Auf der Ebene der Figurenbezeichnung gibt es jedoch eine explizit als „Der Chor“ (SP, S. 22) bezeichnete Sprechfigur, der mit einem langen (10-seitigen) Redeblock zu Beginn des Stücks eine monumentale Position zukommt. Jelineks Chor-Postulat geht aber nicht in Richtung irgendeiner chorischen Aufführungsweise, sondern definiert die zu inszenierenden Chöre ausdrücklich als „griechische Chöre“, womit sie auf das antike griechische Theater rekurriert. Im Rückgang auf die Chor-Figur wird hier also bereits auf der Ebene des Theatertextes nach der Möglichkeit einer 'nach-dramatischen' Tragödie gefragt.5

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(Hg.), Zum Zeitvertreib. Strategien, Institutionen, Lektüren, Bilder. Bielefeld: Aisthesis, 2005, S. 223-232. Die 'Autorin' selbst wird hier explizit zur Figur, wodurch einerseits die Position der Autorschaft selbst thematisiert, andererseits aber auch die These vom 'Verschwinden des Autors im Text' parodiert wird. Zum 'Verschwinden' der Autorenposition in Jelineks Theatertexten vgl.: Marlies Janz, „Das Verschwinden des Autors. Die Celan-Zitate in Elfriede Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl“. In: Celan-Jahrbuch 7 (1997/98), 1999, S. 279-292 sowie: Dies., Elfriede Jelinek. Stuttgart: Metzler, 1995; zur Problematisierung der Autorschaft durch die Autorin: Georg Stanitzek, „'Elfriede Jelinek': Fiktion und Adresse“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Elfriede Jelinek. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Nr. 117 (2., erweiterte Auflage), München: Edition Text + Kritik, 1999, S. 8-16; zur Inszenierung dieses vorgeblichen 'Verschwindens': Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens. München: Wilhelm Fink Verlag, 2005. Die Frage, inwiefern Begriffe wie 'szenische Anweisung', 'Bühnenanweisung' oder gar 'Regieanweisung' für Elfriede Jelineks Theatertexte überhaupt noch zutreffend sind, kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. Aus Gründen der Verständlichkeit wird jedoch im Folgenden der kursiv gedruckte Text in Ein Sportstück mit den vorläufigen Begriffen 'szenischer Nebentext' oder 'szenische Anweisung' bezeichnet. Im Sinne dieser Frage verweist auch Hans-Thies Lehmann im Vorwort zu seiner Untersuchung der griechischen Tragödie auf eine potenzielle, sozusagen 'unterirdische' Verbindung von 'prä-' und 'postdramati-

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Ein Sportstück Jelineks nicht-protagonistische Schreibweise sucht nach einem Sprechen, das sich an keine personal konturierte Figur, keine 'dramatis personae' mehr rückbinden lässt, das also jenseits der Darstellung spielt. Die in diesem Sinn nach-protagonistischen Theatertexte Jelineks nähern sich somit der lange Zeit aus ästhetischen und, wie Schleef festhält, auch ideologischen Gründen6, aus dem Theater verdrängten Figur des Chors. In Bezug auf Schleefs Auseinandersetzung mit dem Chor als untrennbar mit dem Gedanken der Tragödie verbunden, verweist Jelineks Theater ebenso auf die auf dem Gegenwartstheater scheinbar unmöglich gewordene Form der Tragödie. Schleef nimmt Jelineks Postulat der Chor-Figur wörtlich und widmet seine Inszenierung der nach-protagonistischen Figuren aus Ein Sportstück, die „unter dem Eindruck der Tragödie“ (SP, S. 18) zu stehen scheinen, der Erforschung dieser Frage nach der Möglichkeit einer 'nach-dramatischen' Tragödienform. Er radikalisiert Jelineks Forderung nach dem Chor, indem er ein ganzes Kaleidoskop von Chor-Figuren entwirft. Nicht nur der von Jelinek explizit so benannte „Chor“, sondern ein Großteil der weiteren nicht-personal konturierten Figuren treten in Schleefs Sportstück-Inszenierung als dreibis fünfzigköpfige Chöre in unterschiedlichsten Sprechweisen, Kostümen, räumlichen Positionen und Choreografien auf.

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schem' Theater, die er an der fragilen Konstitution des Subjekts einerseits sowie an der 'Krise des Subjekts' andererseits festmacht, welche sich auf dem Theater als 'Krise des Dramas' (Szondi) gezeigt habe (vgl. Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler, 1991, S. 2ff.). Das Fortwirken dieser Subjekt- als Darstellungskrise bis ins Gegenwartstheater und dessen nach-dramatische Formen ist Thema seiner Studie Postdramatisches Theater (vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. A.a.O.). So Schleef in Droge Faust Parsifal zum Zusammenhang des Verschwindens der Chor-Figur und des 'tragischen Bewusstseins': „Obwohl die antike Chor-Tragödie literarisch außerordentlich hoch bewertet wird, ist ihre Realisierung weitgehend diskreditiert. Chor-Bildung und Chor-Einsatz werden heute ausschließlich politisch interpretiert, gehören einer linken oder rechten totalitären Gesinnung an. Die Irritierung und Erregung, die von einer Gruppe gemeinsam sprechender Menschen ausgehen, werden nur noch als erschreckende Bedrohung empfunden, die an längst überwundene Zustände erinnert. Trotz dieser Dauerabwehr, trotz mißlungener Neubelebungen des Chores, lebt der inhaltliche Ansatz in allen Antiken-Aneignungen des Sprech- und Musiktheaters weiter, damit auch die antike Konstellation der Einzelfigur, des werdenden Individuums, das der Chor ausschließt“ (DFP, S. 8).

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Tragödie als Bühnenform Schleefs Frage nach der Tragödie als Bühnenform macht sich an den szenischen Orten des Chors fest: Kann in den heutigen, von der Seheinrichtung des Guckkastens bestimmten Theaterhäusern ein Chor auftreten – was Voraussetzung der Möglichkeit eines 'tragischen' Denkens wäre? Wenn ja, wo wäre sein Ort? Wo der Ort des Protagonisten? Mit Bezug auf Jelineks nach-protagonistische Figurenentwürfe geht die folgende Darstellung der Inszenierung daher insbesondere der Frage nach den szenischen Orten des Chors nach. Wie kann der Chor in einer Seheinrichtung auftreten, die die Öffnung des Bühnenportals als Bildfläche definiert, das den unbestimmten Raum 'dahinter' als gestaffeltes perspektivisch organisiertes 'bewegtes Bild' erscheinen lässt, wenn diese Seheinrichtung – in der heutigen Form des Guckkastens – die Spitze einer Entwicklung ist, die den Chor notwendig aus dem Theaterraum vertrieben hat? Wenn sich der Chor in diesen Theaterräumen installiert, wie sieht das aus? Welche Orte kommen dem Chor zu, wenn der eigentliche Chorraum – die ehemalige Orchestra – vor langer Zeit aus dem Theater verschwunden ist? Wie behandelt Schleefs Inszenierung im Hinblick auf diese Fragen nicht nur den Bühnenraum, sondern das gesamte Theatergebäude als Wahrnehmungseinrichtung? In welchem Zusammenhang stehen die Fragen der Wahrnehmung, das heißt auch: der Darstellungsgeschichte, mit Schleefs Erforschung der Tragödie als (unbekannter) Bühnenform? Und wie stehen diese Fragen, die entlang an Jelineks Stücktext entwickelt werden, in Verbindung mit ihren nach-protagonistischen Figuren und deren Implikationen? Nach einem kurzen Rekurs auf Jelineks 'nach-dramatische' Schreibweise7 soll Schleefs Erforschung der Tragödie als Bühnen-

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Unter dem Stichwort 'nicht mehr dramatisch' diskutiert eine Studie Gerda Poschmanns die neueren Theatertexte, die an der Abkehr von der psychologisch konturierten Figur arbeiten (vgl.: Gerda Poschmann, Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramatische Analyse. Tübingen: Niemeyer, 1997). Im Gegensatz zu Poschmann, die das Verschwinden der 'narrativen' Dimension der Theatertexte zugunsten einer „Verselbständigung der Sprache“ (ebd., S. 178) in diesen 'nach-dramatischen' Theatertexten in den Negativzusammenhang einer Verlustdebatte stellt, hält Hans-Thies Lehmann in Postdramatisches Theater die eigene Qualität dieser Texte sowie den Status der Sprache als Material im 'postdramatischen Theater' fest: Gerade mit der Abwendung des Textes von einer vorgeblichen 'mimetischen Illusion', die das 'dramatische Theater' im interpersonalen Dialog inszeniere, öffne sich eine Dimension der Sprache, die Lehmann – mit Bezug auf Julia Kristeva – als Versuch zur „Restitution von Chora“ beschreibt – „eines Raums und einer Rede ohne Telos, Hierarchie, Kausalität, fixierbarem Sinn und Einheit“. Mit der Dekonstruktion des

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Ein Sportstück form im Zusammenhang mit den Fragen der Wahrnehmung anhand von exemplarischen Szenen und deren Beschreibung nachgegangen werden. Der Fokus liegt dabei auf der Verbindung von Figurenstatus und szenischem Ort, sowie einem deskriptiven Nachvollzug der chorischen Auftrittsweisen – insbesondere auch im Hinblick auf das chorische Sprechen. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt der Figur der Elfi Elektra, die Schleef als Chor-Figur umsetzt. Jelineks nach-protagonistische Figur trifft in Schleefs Inszenierung auf eine Variante ihrer protagonistischen Vorgängerin Elektra – allerdings in der modernen Version Hugo von Hofmannsthals. Hinsichtlich Schleefs Auseinandersetzung mit der sophokleischen Elektra, der mit ihr begründeten Bühnenform und die kontrapunktische Inszenierung von Hofmannsthals Elektra und Jelineks Elfi Elektra-Figur in Ein Sportstück ist bemerkenswert, dass Hofmannsthal in seinen „Szenische[n] Vorschriften zu 'Elektra'“ sowohl „jedes falsche Antikisieren“8 ablehnt als auch jegliches Mobiliar auf der Bühne. Stattdessen bemüht sich Hofmannsthal um eine genaue Definition der szenischen Orte, um die auf Sophokles bezogene Konfliktsituation zu verdeutlichen. Die 'szenischen Vorschriften' Hofmannsthals zu seiner „Tragödie in einem Aufzug frei nach Sophokles“ scheinen in der Definition des Verhältnisses von Proszenium als Ort der Protagonistin und Skene/Palast als nicht mehr erreichbares Machtzentrum der Bühnenform der Tragödie zu korrespondieren, die Schleef als Szene 'VOR DEM PALAST' beschreibt. Das Kapitel über Ein Sportstück untersucht, warum und wie Jelineks nicht-mehr-protagonistische Figur Elfi Elektra mit Schleefs chorischer Umsetzung korrespondiert. In welchem Bezug steht Jelineks Figur zu ihrem protagonistischen alter ego? Wie definiert sich dieses Verhältnis im Bühnenraum? Um der Frage nach Schleefs Arbeit an der Tragödie als Bühnenform nachzugehen, wird seine Auffassung der sophokleischen Protagonistin Elektra als Gründungsfigur des antiken Proszeniums dargestellt, das Schleef als Szene 'VOR

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Dialogs erfahre die Sprache im 'postdramatischen Theater' zwar einerseits eine 'Desematisierung' (im Hinblick auf das Verschwinden der personalen Figur). Andererseits komme ihr aber gerade durch die Bedeutungsabnahme der Personalitätsfiktion eine im 'dramatischen Dialog' nicht angestrebte Bedeutung zu, die Lehmann mit Kristeva als 'Polylogue' (Vielstimmigkeit) bezeichnet (vgl. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999, S. 263, Hervorhebung im Original). Hugo von Hofmannsthal, „Szenische Vorschriften zu 'Elektra' (1903)“ In: Ders., Gesammelte Werke. Dramen II. 1892-1905. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main: Fischer, 1979, S. 242.

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Tragödie als Bühnenform DEM PALAST' beschreibt. Dieser Darstellung folgen analytische Beschreibungen von Szenen, die im Hinblick auf die skizzierten Fragestellungen exemplarisch sind. Neben der Analyse der szenischen Orte in Schleefs Inszenierung liegt der Fokus der Szenenanalysen hier vor allem darauf, die Figur des Chors – in ihrer theatralen Potenz, der Vielfalt ihrer sprachlichen und bühnenräumlichen Auftrittsweisen – allererst kenntlich zu machen. Einar Schleef, Zeichnung zu Ein Sportstück

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Elfriede Jelineks Suche nach einem nichtnicht - darstellenden Sprechen Um nachzuvollziehen, wie Elfriede Jelinek von ihrer stets erneut formulierten Absage an ein Theater der Darstellung und ihrer Suche nach einem nicht-personalisierten Sprechen zu dem expliziten Postulat der Chor-Figur in Ein Sportstück kommt, wird im Folgenden die inhärente Logik dieser Entwicklung kurz skizziert.9 Zum Zwei-

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Zum Verhältnis von Jelineks nach-protagonisten Figuren und Schleefs chorischer Inszenierung vgl. auch: Christina Schmidt, „Von der nachprotagonistischen Figur zum Chor. Einar Schleefs Inszenierung Ein Sportstück“. In: Inge Arteel/Heidy Margrit Müller (Hg.), Elfriede Jelinek

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Ein Sportstück ten geht es darum, in einem kurzen Abriss Inhalt und Sprechfiguren aus Ein Sportstück, auch im Hinblick auf die folgenden Szenenbeschreibungen darzustellen. Dabei soll der Fokus auf der Frage nach der Form der Korrespondenz von Jelineks nachprotagonistischen Figuren und Schleefs Chor-Verständnis und -Inszenierung liegen.

VOM VERSCHWINDEN DER PROTAGONISTISCHEN FIGUR ZUM POSTULAT DES CHORS Noch in Szondis Analyse der 'Krise des Dramas' um und nach 1900 galt, wenn auch ex negativo, die personale Identität der theatralen Figur als unhintergehbare Grundvoraussetzung für den interpersonal organisierten dramatischen Dialog. Diese letzte Bastion des so genannten 'dramatischen' Theaters10, der 'dramatische' Dialog, der mit der Einheit, Einzelheit und Identifizierbarkeit der fiktiven Figur rechnet, welche mittels gestischer Illustration von einem ebenso einzelnen, personal identifizierbaren Schauspieler verkörpert werden sollen, wird von Jelinek in ihren Theatertexten sowie theaterästhetischen Schriften ausdrücklich verworfen. In ihrem bereits 1990 veröffentlichten theaterästhetischen Text „Ich möchte seicht sein“ formuliert Jelinek ihre programmatische Absage an ein Theater der Darstellung wie folgt: „Jeder kann ein anderer sein und von einem Dritten dargestellt werden, der mit einem Vierten identisch ist, ohne daß es jemandem auffiele.“11

Mit der hier postulierten Nicht-Identifizierbarkeit des Sprechers erlebt der als 'dramatisch' bezeichnete, innerszenische Dialog12 der

– Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie von België voor Wetenschappen en Kunsten, 2008, S. 43-50. 10 So nach Szondi auch Lehmann. Vgl. Peter Szondi, „Theorie des modernen Dramas. (1880 – 1950)“. A.a.O.; Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. A.a.O. 11 Elfriede Jelinek, „Ich möchte seicht sein“. In: Christa Gürtler (Hg.), Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1990, S. 157-161, hier: S. 158 (unter demselben Titel auszugsweise zuerst in: Theater heute. Jahrbuch, 1983, S. 102). 12 Szondi definiert den dramatischen Dialogs als wechselseitige Ansprache der fiktiven, personalisierten Figuren und fasst somit die Aussprache der „Sphäre des 'Zwischen'“ durch die dramatischen Figuren als konstitutiv für das Drama auf (vgl. Peter Szondi, „Theorie des modernen Dramas“. A.a.O.). Im Sinne dieser Definition kann das ausdrücklich nicht-dialogische Moment der Figurenrede bei Jelinek als Hauptmerkmal einer nach-dramatischen Figurenauffassung gelten. In

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Tragödie als Bühnenform fiktiven Figuren eine Niederlage. Im Sinne genau dieser Verwerfung der Grundlagen des interpersonalen theatralen Dialogs, die ebenso einer Absage an die Darstellungsfunktion des Schauspielers gleichkommt, zeichnen sich Jelineks Theaterfiguren explizit als nachdramatische aus. In ihrer Untersuchung Theater des Nachlebens zeigt Evelyn Annuß exemplarisch an Jelineks erstem Theatertext Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte (UA: 1979), wie die Figurenrede selbst die Fiktion eines 'eigenen Sprechens' dekonstruiert. Wenn die Redefigur 'Nora' zu Beginn des Stücks mit den Worten auftritt: „Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen“13, stelle sie sich, so Annuß, als Zitation eines fremden Textes vor. Damit werde die Sprechszene selbst als 'Nachleben' eines Dramas gekennzeichnet, welches nicht mehr stattfinde. Mit der Ausweisung der Figurenrede als Zitation einer nicht mehr existenten Form – der des Dramas – gehe in Jelineks Theatertexten die „Demontage der personalen Darstellungsfunktion“14 einher. Dieser Beschreibung der Figurenrede als Zitation korrespondierend, bezeichnet Jelinek in ihrem Essay „Sinn egal. Körper zwecklos.“ den Auftritt der theatralen Figur als Echo der „vielen Stimmen, die bereits vorgesprochen haben“15. Dass ihren zitierten und zitierbaren Redefiguren, die ohne personale Konturierung jenseits des Dramas spielen, kein 'eigenes' beziehungsweise 'eigentliches' Sprechen zukommt, kennzeichnet sich in Jelineks Theatertexten auch in der zunehmenden Dekonstruktion des Namens bis hin zu dessen komplettem Wegfall. So gibt es bereits in Wolken.Heim. (UA: 1988) keinerlei Sprecherangaben mehr, und in Stecken, Stab und Stangl (UA: 1996) treten Stimmen auf, die etwa 'EINER, EGAL WER' überschrieben sind. Auch Ein Sportstück ist von solch kryptischen Figurenbezeichnungen durchzogen, die keinen Dialog zwischen personal konturierten, fiktiven Figuren imaginieren lassen. Angaben wie 'Die Frau', 'Chor', Opfer', 'Frau', 'Mann', 'Achill', 'Hektor', 'Sportler', 'Andrer Jelineks Theatertexten wird gerade die Fiktion einer innerszenischen „Sphäre des 'Zwischen'“ verweigert. 'Zwischen' den nicht-personalen Figuren ist nichts, was sich aussprechen ließe. Das Sich-Aussprechen der Figuren auf der fiktionalen Ebene wird somit hier zum Ansprechen (der Zuhörer, Leser, des Publikums, der Öffentlichkeit) auf der Ebene der Theatersituation. 13 Elfriede Jelinek, Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. In: Dies., Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1992, S. 7-78, hier: S. 9. 14 Evelyn Annuß, Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens. A.a.O., S. 20. 15 Elfriede Jelinek, „Sinn egal. Körper zwecklos“. In: Theaterschrift, Nr. 11, 1993, S. 26.

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Ein Sportstück Sportler', 'Ein andrer', 'Zweiter'‚ 'Erster', 'Andrer', 'Der Taucher', 'Die Autorin' oder 'Elfi Elektra' sind nicht dazu geeignet, den Figuren eine bestimmte personale Identität zuzuschreiben, so dass diese also im 'dramatischen' Sinne gar keine Theaterfiguren mehr sind. Nicht einmal die Anzahl der Sprecher ist sicher. So heißt es an einer Stelle im szenischen Nebentext von Ein Sportstück: „Es kommt ein, es kommen vielleicht sogar mehrere Taucher aus dem Boden“ (SP, S. 167). Das endlose, uferlose Sprechen, von dem auch der Stücktext selbst spricht, tendiert grundsätzlich dazu, den Rand der (einzelnen) Figur zu überschreiten. Es weist beständig darauf hin, dass es sich selbst fremd ist – so Elfi Elektra: „Entschuldigen Sie bitte, das war hoffentlich meine letzte Entgleisung, und nicht einmal meine eigene. Ein andrer wars. Ich habe diese Entgleisung nur ins Spiel gebracht, weil [...] meine Schienen ein wenig unterspült sind, ohne daß ich es gleich bemerkt habe. Ohne diese Schienen kann ich mich nicht fortbewegen“ (SP, S. 16).

Das Sprechen Elfi Elektras erweist sich hier als vielstimmiges – beziehungsweise als Zitation vorangegangener, fremder Rede. Diese Qualität des Zitiertseins reflektierend, spricht das vielstimmige Sprechen selbst davon, dass es keinen einheitlichen, in sich geschlossenen dramatis personae zuzuordnen ist und ihm somit auch keine darstellerische Funktion – im Sinn eines 'dramatischen Ausdrucks' eben dieser 'persona' – zukommen kann. Die von Jelinek in „Sinn egal. Körper zwecklos.“ proklamierte 'Zwecklosigkeit' des Körpers besteht gerade in dieser dem Schauspielerkörper entzogenen Möglichkeit, die Rede der fiktiven Figur gestisch zu illustrieren, um das gesprochene Wort mit einer zusätzlichen Bedeutungsebene aufzuladen. Auch Jelineks theaterästhetische Schriften kreisen immer wieder darum, dass das theatrale Sprechen, welches ihre Texte evozieren, an keine personale Figur gebunden ist, sondern eine solche Personalitätsfiktion gerade unterschreitet, denn, so Jelinek in einem ihrer zahlreichen Texte zum Theater: „Ich mache ja nicht das, was Menschen sind oder tun, zu meinem Thema, sondern das, was das Gleiche an ihrem Handeln ist, die Struktur ihres Handelns, also wonach sich die Figuren verhalten, ohne zu sein. Sie sind da, aber sie sind nicht. Meine Figuren gibt es nicht.“16

16 Elfriede Jelinek, „Die Leere öffnen (für, über Jossi Wieler)“. In: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/ (Stand: Mai 2010).

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Tragödie als Bühnenform Diesen strukturellen Figuren, die Jelinek entwirft, soll also gerade durch die Verweigerung der Personalitätsfiktion jede Möglichkeit zu einer Ontologisierung der Figur durch die theatrale Darstellung entzogen werden. Ein 'eigenes' Sein kommt ihnen nicht zu; sie existieren nur sprechend, und ihr Sprechen ist ein 'uneigentliches', insofern es nicht auf die Fiktion der Autorschaft des Sprechenden rekurriert. Da dieses Sprechen weder in sich geschlossen ist noch eine personale Referenz zum Sprechenden aufweist, tendiert es grundsätzlich zur Endlosigkeit, so Jelinek: „Und sie sprechen, wie gesagt, immer, meine Figuren. Außerhalb ihres Sprechens existieren sie nicht, und ich verweigere auch die Illusion, daß sie außerhalb dieses Sprechens auch nur existieren könnten.“17

Jelinek entwirft diese Sprechfiguren als Struktur, die sich, jenseits der Existenz eines 'eigenen Seins', nur im Vollzug, also im Sprechen ereignet. Dieses Sprechen, das die strukturelle Figur hörbar macht, ist aber insofern ein unpersönliches, als es sich der Personalisierung durch den (körperlich-gestischen) Ausdruck des Schauspielers verweigert. Dementsprechend formuliert Jelinek in „Sinn egal. Körper zwecklos.“ die Forderung nach einem unpersönlichen Sprechen als programmatisches Ausdrucksverbot an das Theater: „Die Schauspieler SIND das Sprechen, sie sprechen nicht.“18 Wie können aber solche strukturellen, der Personalitätsfiktion entzogenen und damit: nicht-mehr-dramatischen, im Sinne einer einheitlichen, einstimmigen Figur nach-protagonistischen Figuren, deren nichtontologische, als reine Sprache definierte Existenz nicht durch einen wiederum ontologisierenden Ausdruck des Schauspielers hervorgebracht werden kann, theatralisiert werden? Welche Möglichkeit des theatralen Auftritts bieten oder fordern diese Sprachfiguren, die nach einem 'unpersönlichen' Sprechen suchen, das jenseits der Darstellung spielt? Diese Fragen geben Jelineks Sprachszenen dem Theater zum Denken auf. In Ein Sportstück verbinden sich Jelineks nach-protagonistische Figurenentwürfe mit der expliziten Forderung nach der Chor-Figur. Auf der Ebene der Figurenbezeichnung scheint diese als „Der Chor“ bereits durchgespielt. Es bleibt jedoch die Frage nach dem Umgang mit den übrigen Sprachfiguren, deren Vielstimmigkeit sich auf der Ebene des Sprechtextes als konstituierendes Merkmal der nachprotagonistischen Figur erweist. Auch die Vielstimmigkeit dieser Redefiguren, die von Jelinek nicht explizit mit der Figurenbezeichnung „Chor“ überschrieben sind, stellen meiner Ansicht nach die Frage nach einer chorischen Umsetzungsweise. Es ist also zunächst 17 Ebd. 18 Elfriede Jelinek, „Sinn egal...“. A.a.O., S. 24.

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Ein Sportstück zu unterscheiden zwischen der von Jelinek entworfenen Figur des „Chors“, der expliziten Figur des Chors auf der Ebene des Stücktextes einerseits, und dem von Schleef so genannten 'Chor-Gedanken' als Grundlage für die Entwicklung der theatralen Figur des Chors andererseits. Der 'Chor-Gedanke' beruht für Schleef nicht zuletzt auf dem Verständnis des sprachlichen Zusammenhangs der Figuren eines Stücks untereinander. Diesen Sprachzusammenhang, der sich auf dem Fundament der einen Sprache (des Autors) als von allen Figuren geteilter Sprache herstellt, nennt Schleef in Droge Faust Parsifal den „Sprachkörper“ (DFP, S. 101) eines Stücks. Dieser sei durch falsch verstandene 'Individualisierung' der einzelnen Figuren von Seiten des bürgerlichen Theaters respektive des Regietheaters des 20. Jahrhunderts radikal verworfen worden – unterstützt durch die auf die Einzelfigur fokussierte visuelle Wahrnehmungstradition und die aus dem 18. Jahrhundert rührende Ideologie der Naturalisierung der Figur qua inszenierter 'Natürlichkeit' des Körpers.19 An der Neufindung eines Verständnisses dieses Sprachzusammenhangs der Figuren arbeitet Schleefs Chor-Theater. Mit Blick auf Jelineks vielstimmige, nach-protagonistische Figurenentwürfe ist zu fragen, inwiefern das von ihr in „Sinn egal. Körper zwecklos.“ formulierte Ausdrucksverbot an den Schauspieler mit Schleefs Verwerfung einer falsch verstandenen 'Individualisierung' der Figurensprache und der damit verbundenen Arbeit an der geteilten Sprache korrespondiert. In Droge Faust Parsifal beschreibt Schleef den Effekt des chorischen Sprechens als Autonomisierung des Textes im Hinblick auf den Wegfall der Personalisierung des Sprechens: „Schon wenn 2 Personen einen Text gemeinsam sprechen, tritt die Abkehr des Textes vom individuellen Ausdruck ein, erlangt er Autonomie.“ (DFP, S. 479)

Im Vergleich zum Sprechen einer einzelnen Stimme löst sich im chorischen Sprechen – das heißt: im gleichzeitigen Sprechen mehrerer Stimmen –, der gesprochene Text von der Möglichkeit des 'individuellen Ausdrucks'. Der Text wird insofern 'autonom', als er sich auf eine andere, überpersonale Dimension hin öffnet, die sowohl den sprachlichen Sinn als auch den Status der Figur und den Klang der Sprache betrifft. Die Personalisierung der Sprache durch die einzelne Stimme, die das darstellende Sprechen des 'dramatischen' Theaters erfordert, wird in der chorischen Aufführung des Textes verunmöglicht. In genau dieser Hinsicht korrespondiert das chori-

19 Vgl. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. A.a.O.

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Tragödie als Bühnenform sche Sprechen mit der Verabschiedung der protagonistischen Figur, die Jelineks Theatertexte betreibt. Mit Blick auf Schleefs Arbeit am Sprachzusammenhang der Figuren sowie an der 'Autonomie' des Textes erscheint es also beinahe notwendig, dass sich Jelineks Theater der Chor-Figur erinnert. Mit dem Postulat des Chors, der Forderung nach „griechischen Chören“ zu Beginn von Ein Sportstück wird zudem ausdrücklich zum Nachdenken über eine nach-dramatische Form der Tragödie aufgefordert. Schleef nimmt Jelineks Chor-Postulat wörtlich, vervielfältigt die Chor-Figuren und setzt so Jelineks nach-protagonistische Figurenentwürfe als Arbeit an der Tragödie als Bühnenform um. Wie und mit welchem Rückbezug auf Jelineks vielstimmige Sprachfiguren, soll in den Szenenbeschreibungen gezeigt werden.

EIN SPORTSTÜCK. INHALT UND FIGUREN Ein Sportstück entwirft ein ebenso ironisches wie düsteres Szenario des Sports als Fortsetzung des Kriegs in anderer Form. Der zeitgenössische Hochleistungssportler, wie der Soldat gleichfalls keine singuläre Erscheinung, tritt in Jelineks Stück als postmoderner Krieger auf. Seine Uniform, die den einzelnen Körper als individuellen verschluckt, ist das Sporttrikot, dessen Werbeaufdrucke gleichzeitig als Signum der massenmedialen Verwertbarkeit des Sports gelten. Andi. Negierte Körper, fragwürdige Bilder Die Szenen des Stücks gruppieren sich um die Figur eines toten Leistungssportlers, dessen Rede um seine tägliche, einsame Drogeneinnahme und das daraus resultierende Verschwinden des Körpers, seiner Selbstverflüssigung kreisen. Mit der Figur des Andi greift Ein Sportstück die Geschichte des steirischen Bodybuilders Andreas Münzer auf, der, um seinem Vorbild Arnold Schwarzenegger nachzueifern, die Dosis seiner Anabolikaeinnahme bis zur tödlichen Vergiftung steigerte. Dem medialen Vorbild Andis wird das Problem der Abtrennung des Körperbilds vom Körper gegenübergestellt, dessen Sexualität und Geburtlichkeit radikal negiert werden muss, um das neue Selbst als Abbild eines fragwürdigen Bildes zu erschaffen. Die Absurdität dieser Selbstschöpfung qua Negierung der körperlichen Existenz ist im Text Andis so formuliert: „In meinem Körper ist Leistung gut aufgehoben, und zwar dermaßen gründlich, daß mein Körper außerhalb seiner Leistung gar nicht existieren darf.“ (SP, S. 93)

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Ein Sportstück Der Auftritt des toten Sportlers thematisiert den fraglichen Status der medialen Bilder genauso wie deren Diskrepanz zu den chemisch hergestellten Kunstkörpern, denen ihrerseits keine originären Abbildungen mehr zu entsprechen scheinen, so Andi: „Meine Erscheinung sprengt das Bild, das ich bin, doch öffnet diese Sprengung mir nicht die Wirklichkeit, sie öffnet mir nur Räume, in denen noch mehr Bilder hängen.“ (SP, S. 103)

Mit dem Thema der Bildwerdung des Körpers, der sich selbst hervorbringt, wird das Motiv des „ewigen Sohn[s]“ (SP, S. 98) verknüpft, der vergeblich „nach seiner Mama schreit“ (ebd.), weil die Stelle der Mutter in diesem Szenario leer bleibt. An deren Stelle, so Ulrike Haß, sei ein 'monomanisches Supersubjekt' getreten, das dem Körper des Sohnes als Tod einwohne.20 Die ambivalente Figur der Mutter existiert im Stück in verschiedenen Versionen: als den Tod des Sohnes beklagende und gleichermaßen den Sohn anklagende „Frau“ zu Beginn des Stücks sowie als „alte Frau“, die als „Mutter, die nimmt und niemals gibt“ (SP, S. 83) im Bild einer pervertierten „Pietà“ (SP, S. 75) auftritt. Diese zwiespältige Mutter-Figur stehe für eine 'herrenlose Superstruktur', auf deren Hintergrund sich die von Jelinek als allgegenwärtig gezeichnete Gewalt zwischen den mutterlosen, selbst geschaffenen, subjektlosen Körpern als in die Körper selbst eingewanderte entfalte, so Haß: „Dieser gespenstische Akt einer unvollziehbaren Hingabe zwischen Mutterlosen beendet die dramatische Infrastruktur des Krieges. Er ist eingewanderte, von einzelnen, auf sich selbst gestellten Körpern inkarnierte Gewalt.“21

Strukturelle Figuren, namenlose Gewalt Die mit gleichsam nach-dramatischen Mitteln gezeichnete „Tragödie“ (Jelinek, SP, S. 18) des toten Leistungssportlers, der sich unter dem keine Person bezeichnenden Namen 'Andi' als strukturelle Figur erweist, wird in Ein Sportstück konterkariert mit der Thematisierung kollektiv ausgeübter und absolut kontingenter Gewalt, die unterscheidungslos jeden zu treffen vermag. So heißt es in der von

20 Vgl. Ulrike Haß, „Elfriede Jelinek“. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. München: Edition Text + Kritik, Nachlieferung 2006, S. 1-14. 21 Ulrike Haß, „Im Körper des Chores. Zur Uraufführung von Elfriede Jelineks Ein Sportstück am Burgtheater durch Einar Schleef. In: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch/Christel Weiler (Hg.), Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin: Theater der Zeit, 1999, S. 71-82, hier: S. 77.

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Tragödie als Bühnenform Schleef als Sportler-Choreografie umgesetzten Szene von einem der unzähligen namenlosen Sprecher: „Einmal kann jeder Opfer sein“ (SP, S. 182). Der sich über beinahe fünfzig Seiten erstreckende Text der Sportler, deren Rede mit kryptischen Figurenbezeichnungen wie 'Sportler', 'Andrer Sportler', 'Ein andrer', 'Zweiter', 'Erster', 'Andrer' undsoweiter überschrieben ist, behandelt Aspekte gewaltsamer Gruppendynamik, die Ausstoßung und Vernichtung Einzelner, die wahllos zum Opfer gemacht oder als solches definiert werden, sowie das Fehlen verbindlicher ethischer Normen, an deren Stelle das kurzlebige, zweifelhafte „Gewissen“22 einer beliebigen Gruppe getreten ist. Mit dem Thema der allmächtigen Mütter und abwesenden Väter verweist der Text der vielzähligen, namenlosen Sportler zurück auf die Figur des Andi. In dieser von Jelinek gezeichneten „namen- und herrenlosen Infrastruktur“23 kann aus beliebigen, kollektiv begangenen Gewalttaten jederzeit auch gesellschaftlich sanktioniertes Morden werden, so das Leitmotiv der Sportler-Texte. Gleichzeitig scheint der Chor der „Mutterlosen“24 mit Gewalt gegen das ZurMasse-Werden des Einzelnen als Resultat einer anscheinend unvermeidlichen „Entdifferenzierung“25 anzukämpfen. Dieser Kampf 22 So heißt es in dem Text, der den Beginn der Sportler-Choreografie in der Inszenierung grundiert: „Was hat man uns da heute [...] auf die Türschwelle gelegt? Das bewegt sich ja noch! Das tropft! Hat sich da etwa ein Gewissen geregt [...]? Immerhin, ein gutes Gefühl, soviel Gewissen, nach langer Sammlertätigkeit, zusammengetragen zu haben. Andrer: Nein, ich lese: das neue Modell des Gewissens ist ja noch gar nicht im Handel. Vielleicht hätten wir uns lieber das alte kaufen sollen, bevor dieser armselige unbestimmte Artikel endgültig vergriffen war.“ (SP, S. 161f.) 23 Ulrike Haß, „Im Körper des Chores. Zur Uraufführung...“ A.a.O., S. 76. 24 Vgl. Andi: „Meiner Mutter liefere ich den letzten Liebesakt, den ich ihr schulde, da sie mit mir ja nie zufrieden ist: einen Akt der Hingabe zwischen Mutterlosen, Selbstgeschaffenen, Selbstgeschafften. Ja, das sind wir, wir erkennen einander, wenn wir dauernd zur Mama zurückrennen aus der Fremde.“ (SP, S. 92f.) In diesem Sinne spricht auch „Der Chor“ in seiner Analyse des Fortwirkens kriegerischer Strukturen im zeitgenössischen Sport von „Mut- und Mutterlose[n]“ (SP, S. 27). 25 Zum Begriff der „Entdifferenzierung“ vgl.: René Girard, Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt am Main: Fischer, 1992. Im Zusammenhang mit seiner Analyse der „Krise des Opferkultes“, die der Autor auch in der antiken Tragödie thematisiert sieht, entwickelt Girard den Begriff der „Entdifferenzierung“ als Nicht-mehr-Unterscheidbarkeit zwischen geeignetem und nicht-geeignetem stellvertretenden Opfer. (So verkennt z.B. Agaue in Euripides’ Bakchen ihren Sohn Pentheus und sieht ihn fälschlicher Weise als den zu opfernden Gott Dionysos an.) Diese Krise der Unterscheidungskriterien in dem die antiken und vorantiken Ge-

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Ein Sportstück wird jedoch als vergeblich gekennzeichnet, denn, so einer der Sportler: „Wir fliehen einander nicht, denn zur Flucht gehört die Verschiedenartigkeit der Geschöpfe [...]. Wir sind alle ein und dasselbe. [...] Wir sind nicht einmal an menschliche Körper gebunden.“ (SP, S. 182)

Nachträgliches Sprechen. Opfer und Täter Der Exposition kontingenter, kollektiv ausgeübter Gewalt tritt in Ein Sportstück die Stimme eines einzelnen, gleichfalls namenlosen „Opfers“ gegenüber. Die Stimme des so bezeichneten Opfers, die von sich selbst sagt, „ohne Stimme“ zu sein (SP, S. 50), erweist sich als nachträgliches, untotes Sprechen, das auf den (theatralen) Voyeurismus abzielt: „Jetzt liege ich auf dem Boden, wie Sie sehen, leider außerhalb Ihres Geräts, tut mir leid.“ (SP, S. 51)

Mit Blick auf den hier beschriebenen Voyeurismus kann die Stimme des Opfers mehr noch als Anklage der Zuschauer denn als solche der eigentlichen Täter verstanden werden. Indem das Sprechen des Opfers, das 'ohne Stimme' bleibt, gleichsam die Position der Nachträglichkeit einnimmt – denn die Stimme des Opfers spricht als Toter26 –, assoziiert die Figur Jelineks umfassende Auseinandersetzung mit der NS-Gewaltherrschaft in früheren Theatertexten. So sind dem Fortleben der nationalsozialistischen Ideologie und Gewaltherrschaft in der Sprache und im Sprechen explizit Jelineks Theatertexte Wolken.Heim., Totenauberg und Stecken, Stab und Stangl gewidmet. Im Text der als „Täter“ bezeichneten Redefigur, der „Verbrechen“ als „Arbeit“ (SP, S. 64) definiert, um im Rekurs auf die Ideologie der Arbeit als gesellschaftlichem Wert die Vernichtungsideologie als sozial sanktionierten und sinnstiftenden Akt zu behaupten27, wird ausdrücklich Bezug genommen auf die Rezeption dieser politischen Auseinandersetzung:

sellschaften konstituierenden Opferkult, führe zu einer allgemeinen, unkontrollierbaren Entfesselung der Gewalt. Im Sinne dieser Definition einer wahllosen, nicht mehr kanalisierbaren Gewalt, die mit der von Girard so genannten „Entdifferenzierung“ einhergeht, kann der Begriff hier in Analogie zu Jelineks Analyse der „um sich greifenden“ Gewaltentfesselung in der Szene der Sportler verstanden werden. 26 „Also dieses Zeitungsfoto gefällt mir entschieden besser, nur sieht man drauf bestenfalls meine Umrisse in Kreide.“ (SP, S. 51) 27 Ähnlich verfährt Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl, wo der Sprechtext im Rekurs auf Franz Stangl, den Kommandanten des Konzentrationslagers Treblinka, den Aspekt der „Handarbeit“ des Tötens

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Tragödie als Bühnenform „Verbrechen ist auch Arbeit, die meisten Menschen vergessen das, nur die engagierten nicht. Dafür haben wir sie uns ja angeschafft, daß sie unsere Arbeit schätzen und davon singen. Die machen was aus uns! Ohne die wären wir nur halb soviel wert. Die haben eine neue Internationale der Zarten gegründet, und auch heute sind sie recht gut am Klagen und schon mehrfach interviewt worden.“ (SP, S. 64)

Pervertierte Amazonen. Geschlechterkampf als Farce In den mit 'Sportler' und 'Frau' überschriebenen Sprechtexten wird ein weiterer Aspekt struktureller Gewalt exponiert: Eine gleichsam nach-dramatische Wiedergängerin Penthesileas zeichnet sich als Perversion einer Amazone, indem sie ihre künstlichen Brüste auf dem Rücken trägt. Ihr Kampf gilt der Bildwerdung der Frau durch ihre mediale Sexualisierung und ihrem männlichen Widerpart, der im Duktus der (scheinbar) endgültigen Besiegung der Frau spricht. Mit ironischem Verweis auf Kleists Penthesilea wird das Thema des Geschlechterkampfs als bitterböse Farce inszeniert. Der „Frauenstaat, in dem keine Männerstimme mehr gehört wird“ (SP, S. 118), der in Kleists 'Trauerspiel' von den kriegerischen Amazonen gegründet wird, besteht in Ein Sportstück aus den Models „Claudia, Naomi, Helena, Christy, Amber, Brigitte und Susi“ (ebd.). Der Verweis auf Kleists Stück steht dort im Kontext der kriegerischen Begegnung von Achill und der Amazonenkönigin Penthesilea. So erklärt Penthesilea dem gefangenen Achill die Gründungsgeschichte des Amazonenstaats: „Und dies jetzt ward im Rath des Volks beschlossen: Frei, wie der Wind auf offnem Blachfeld, sind Die Frau’n, die solche Heldenthat vollbracht, Und dem Geschlecht der Männer nicht mehr dienstbar. Ein Staat, ein mündiger, sei aufgestellt, Ein Frauenstaat, den fürder keine andre Herrschsücht’ge Männerstimme mehr durchtrotzt, Der das Gesetz sich würdig selber gebe, Sich selbst gehorche, selber auch beschütze“28.

darstellt (vgl. Elfriede Jelinek, Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit. In: Dies., Stecken, Stab und Stangl – Raststätte – Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1997). Der Text der „Opfer“Figur in Ein Sportstück nimmt wiederum Bezug auf den Untertitel von Stecken, Stab und Stangl – Eine Handarbeit: „Ist es nicht so, mein Herr, durch dessen Handarbeit ich hier sterbe [...]“ (SP, S. 66). 28 Heinrich von Kleist, Penthesilea. Ein Trauerspiel. V. 1953ff. In: Ders., Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß, Peter Staengle, Ingeborg Harms. Bd. I/5, Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1992, S. 120.

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Ein Sportstück Indem Jelinek den Gründungsmythos des Amazonenstaats in Kleists Text in den Kontext der zeitgenössischen Mode und ihrer medial produzierten Ikonen stellt, wird das Bild des autonomen Frauenstaats in sein Gegenteil verkehrt. Entsprechend dieser dekonstruierenden Verkehrung ist auch die Penthesilea zitierende Figur in Jelineks Stück weder eine Amazone – wie sich an ihrem Kostüm, den aufgesetzten, auf den Rücken gedrehten Kunstbrüsten erweist –, noch kann sie als protagonistische Figur aufgefasst werden. Gerade im Bezug auf die hier zitierte Protagonistin Kleists zeigt sich Jelineks Redefigur als nach-protagonistische. Noch im Zitat wird dasselbe als Stolperstein, als nicht erreichbares Vorbild, als abgelebte Form gekennzeichnet. So kommentiert die Rede der Frau das Zitat der Erzählung des Gründungsmythos durch Penthesilea, die Achill die blutige Tat der Brustamputation durch die erste Amazonenkönigin Tanaïs darstellt, mit den Worten: „Das kriege ich nie hin!“ (SP, S. 119) Zur Dokumentation von Jelineks dekonstruierender Zitationspraxis von Penthesilea seien die beiden Texte hier kurz gegenübergestellt: Jelinek, Ein Sportstück:

Kleist, Penthesilea:

„Still auch, auf diese Tat, wards. Kein Laut vernahm sich, als der Bogen nur, der aus der Hand, geöffnet im Entsetzen, der Priesterin, wie jauchzend, niederfiel. Das kriege ich nie hin! Er stürzt’, der große, goldene des Reichs, und klirrte, von der Marmorstufe, dreimal, mit dem Gedröhn der Glocken, auf, und legte, stumm wie der Tod, zu ihren Füßen sich. Hierauf ward ihr die Krone aufgesetzt. Wenn ich das versuchen würde, dann zeigten mir die Leute sofort ihre glatten kalten Schultern.“ (SP, S. 119)

„Die Königinn stand einen Augenblick, / Und harrte still auf solcher Rede Glück; / Doch als die feige Regung um sich griff, / Riß sie die rechte Brust sich ab, und taufte / Die Fraun, die den Bogen spannen würden, [...] / Die Amazonen oder Busenlosen! – / Hierauf ward ihr die Krone aufgesetzt. [...] / Still auch, auf diese That, ward’s, Peleïde, / Nichts als der Bogen ließ sich schwirrend hören, / Der aus den Händen, leichenbleich und starr, / Der Oberpriesterin daniederfiel. / Er stürzt’, der große, goldene, des Reichs, / Und klirrte von der Marmorstufe dreimal, / Mit dem Gedrön der Glocken, auf, und legte, / Stumm wie der Tod, zu ihren Füssen sich.“29

Jelineks Parodie des Geschlechterkampf-Motivs besteht nicht zuletzt darin, dass der Sportler die von der Frau zitierten Amazonenmotive beziehungsweise Penthesilea-Zitate aufgreift und sie wieder29 Heinrich von Kleist, Penthesilea. V. 1983ff. A.a.O., S. 121f.

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Tragödie als Bühnenform um für seine ideologischen Zwecke der Unterwerfung der Frau umwendet: „Danke dafür. Alle diese Frauen, Claudia, Cindy, Amber, sind mir ja ohne Busen noch lieber als du mit zwei Brüsten!“ (SP, S. 119)

Achill und Hektor. Ironische Erinnerung an das protagonistische Prinzip Explizit nehmen auch die Figurenbezeichnungen 'Achill' und 'Hektor' Bezug zu Figuren der antiken Mythologie. Jedoch erweisen sich Jelineks Sprechfiguren, die laut szenischem Nebentext als „Tennisspieler“ (SP, S. 124) auftreten sollen, vielmehr als Sport- beziehungsweise Wirtschaftsfunktionäre, denn als kriegerische Helden. Nicht nur ihre namentliche Bezeichnung, im Kontext mit der hier suggerierten Auftrittsform, sondern auch der Sprechtext zeichnet gerade diese Figuren als höchst vieldeutig und ambivalent, indem er Motiv um Motiv aufeinander schichtet. Zum einen verweist die Rede der Sprecher auf die antiken Protagonisten, deren Namen hier entliehen wurde – so wenn Hektor auf den trojanischen Feldherrn anspielt, der nach Homers Erzählung im Trojanischen Krieg von Achill getötet wurde: „Meine Leiche ist sogar dreimal ums äußere Burgtor getragen worden.“ (SP, S. 131) Im Ausstellen der Zitation des Figurennamens sowie in der Nachträglichkeit des Sprechens erweisen sich Jelineks Figuren zum anderen jedoch als explizit nachprotagonistische. Mit den Figuren des zitierten antiken Mythos haben sie allenfalls die namentliche Bezeichnung gemein. Der Sprechtext hingegen läuft einer Identifikation mit den antiken Protagonisten zuwider, indem er die Anonymisierung des Einzelnen heraushebt, der sich – im Gegensatz zur Figur des Protagonisten – gerade nicht als Einzelner profilieren kann, sondern dem Zwang einer als unentrinnbar gezeichneten ökonomischen Struktur unterworfen ist. So wird das protagonistische Prinzip als Erinnerung an eine verloren gegangene Form inszeniert – und dekonstruiert. In einer mehr als eindeutigen, weit gefassten und schwierig auszudeutenden Metapher werden die Figuren in erster Linie durch ihre „Zwangsmitgliedschaft in einer Kammer“ charakterisiert, „aus der es kein Entkommen gibt“ (SP, S. 128). Diese „Zwangsmitgliedschaft“ im globalen Verbund ökonomischer Strukturen30 habe die „blutigen Schlachten der Geschichte abgelöst“ (SP, S. 131). Die Überkonnotierung der einzelnen, hier aufgerufenen Begriffe erweist sich insbesondere am Wort „Kammer“, das neben der Bedeutung einer ökonomischen Institution, gerade im Kontext mit der

30 „Die Zwangsmitgliedschaft bedeutet, daß die einen für uns, die anderen gegen uns bankrott gehen dürfen.“ (SP, S. 129)

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Ein Sportstück thematisierten modernen Fortsetzung des Kriegs, vor allem den Genozid der NS-Herrschaft aufruft.31 Diese Form der Aufeinanderschichtung von sich wechselseitig kommentierenden, komplexen Metaphern, im Verbund mit der ironisierenden Zitation des protagonistischen Prinzips, unterläuft jedoch jeden Versuch einer eindeutigen Interpretation. Schleefs Inszenierung begegnet dieser Schwierigkeit nicht zuletzt auch in der spiegelbildlichen Anordnung der beiden Sprecher vor dem Bühnenportal und dem Einbruch des Chor-Prinzips in die Szene. Elektra, Elfi Elektra und „Die Autorin“ Die Vielstimmigkeit der Redefiguren zeichnet sich in Jelineks Text immer auch als strukturelle Ambivalenz. So ist die Rede Elfi Elektras, die gleichfalls in der Figurenbezeichnung auf die Protagonistin einer antiken Tragödie rekurriert, vom Mäandern zwischen verschiedenen, sich widerstreitenden Stimmen gekennzeichnet. Thematische wie sprachliche Motive existieren in verschiedenen „Programmversionen“, so Elfi Elektra. „Meine Versionen habe ich mir angelesen wie ein Dieb“ (SP, S. 10). Das vielstimmige Sprechen, das auch zwischen den verschiedenen Redefiguren wechselt, die sich gegenseitig ersetzen können, spielt gleichsam jenseits des Ausdrucks von einheitlichen, personal konturierten Figuren. Dies spiegelt sich auch in der potenziellen wechselseitigen Substitution der Stimmen Elfi Elektras und der 'Autorin', von der es in Ein Sportstück heißt, sie „kann sich auch von Elfi Elektra vertreten lassen“ (SP, S. 184). Hier inszeniert Jelineks Text die Weitergabe der Problematik der Autorschaft an eine fiktive Figur, der ausdrücklich kein 'eigenes' Sprechen zukommt, sondern die sich – „wie ein Dieb“ – die verschiedenen Versionen ihres Sprechens aus anderen, fremden Texten entliehen hat. 'Die Autorin' sowie Elfi Elektra nehmen Bezug auf die tragische Protagonistin Elektra, indem der Text beider Sprechfiguren von der Erzählung des Mordes am Vater, der Anklage der Mutter, von Selbstanklage und Eingeständnis der Mitschuld geprägt ist. Wie in allen theatralen Versionen der Elektra-Tragödie ist auch das Sprechen Elfi Elektras vom Gestus der Racheankündigung gezeichnet. Das Sprechen der Autorin ist zudem nicht nur Selbstanklage und öffentliches Geständnis, sondern zugleich Reflexion dieser Form des öffentlichen Sprechens und mithin: der Theatersituation. Elfi Elektra indes kann in erster Linie als nach-protagonistische Figur der Klage aufgefasst werden. Welcher Art ist aber diese Klage beziehungsweise ihre Bezugnahme auf die Klageszene der Tragödie?

31 So werden als zwei mögliche Assoziationen des Begriffs „Kammer“ hier sowohl Handelskammer wie auch Gaskammer aufgerufen.

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Tragödie als Bühnenform In welcher Weise stellt die Figur Elfi Elektra, die in Schleefs Inszenierung in Konfrontation mit der protagonistischen Figur Elektra sowie mit der chorischen Form eine prominente Position einnimmt, die Frage nach einer nach-tragischen Klageform? Und wie ist diese Frage in Schleefs Arbeit an der Tragödie als Bühnenform umgesetzt? Wenn Sophokles’ Elektra, so Schleefs in Droge Faust Parsifal niedergelegte Auffassung, die Gründungsfigur des antiken, tragischen Proszeniums ist, welcher szenische Ort und welche Auftrittsweise können dann Jelineks nach-protagonistischer Figur der Elfi Elektra entsprechen? Und schließlich, wenn Jelineks Elfi Elektra durch das von ihr getragene Thema und die Form der Klage in Verbindung mit der Figur des Chors steht, auf welcher Ebene spielen dann Jelineks Theaterentwürfe mit der vorgeblich verlorenen Form der Tragödie? Die folgenden Szenenbeschreibungen widmen sich diesen Fragen insbesondere im Hinblick auf die in Schleefs Inszenierung zentrale Kontrastierung der Figuren Elektra und Elfi Elektra.

Einar Schleefs ChorChor - Szene als Arbeit an der Bühnenform Im Zentrum von Schleefs Auseinandersetzung mit der Bühnenform der antiken Tragödie steht die sophokleische Elektra als Gründungsfigur des tragischen Proszeniums. Ausgehend von der Figurenkonstellation und ihrer Topografie in der von Sophokles gezeichneten Szene definiert Schleef die 'antike Konstellation' als Szene 'VOR DEM PALAST'. In seiner Sportstück-Inszenierung ist die Konfrontation der von Jelinek zitierten protagonistischen Figur Elektra mit der als Chor-Figur definierten Elfi Elektra wesentlich für die Frage nach der Auftrittsmöglichkeit des Chors. soll Somit ist Schleefs Auffassung der von Elektra begründeten protagonistischen Klage Ausgangspunkt der folgenden Szenendarstellungen. Dabei ist zu fragen, inwiefern bereits diese theatrale Gründungsszene die Frage nach einem Ort des Chors als Problem aufwirft und wie diese Problematik, die dem Chor als konfliktuöser Figur, so scheint es, von Beginn an eingeschrieben ist, auf dem Theater des ausgehenden 20. Jahrhunderts mit seinen nach-protagonistischen Figuren wiederkehrt. Nicht nur die szenischen Orte des Chors, sondern auch die der Einzelfiguren werden in der Sportstück-Inszenierung als fragile Orte sichtbar. In Form einer topografischen Betrachtung wird die Fragilität der szenischen Orte in Ein Sportstück untersucht und zu Schleefs Arbeit an einer kritischen Befragung der tragischen Bühnenform in Beziehung gesetzt. Anhand exemplarisch ausgewählter Szenen werden die höchst disparaten Auftrittsweisen und szeni-

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Ein Sportstück schen Orte des Chors dargestellt, die von der Brandmauer bis zur Bühnenrampe reichen, von der Unterbühne bis zum Rang, von der Hinterbühne bis zur gesamten Ausdehnung der Bühne als 'Feld'. Ebenso werden die unterschiedlichen Sprechweisen des Chors betrachtet, die sich vom gleichzeitigen Sprechen desselben Textes bis zum gleichzeitigen Sprechen unterschiedlicher Texte erstrecken, vom Betonen der Wortverständlichkeit des Textes, besonders hervor- und in die Sichtbarkeit gehoben im Dirigiertwerden durch einen Chorführer, bis zur Abkehr vom semantischen Sinn des Gesprochenen. Auch die körperlich-energetischen Auftrittsformen der Chor-Figuren werden, mit Bezug auf die Topografie der szenischen Orte, in die Betrachtung einbezogen. So gilt zu unterscheiden, ob der Chor liegt oder steht, sich auf die Bühnenrampe zu bewegt und damit die konfrontative Zugewandtheit der Figur zum Zuschauerraum betont, oder ob der Chor auf der Bühne als 'Feld' sich tendenziell verselbständigt und damit die Abgewandtheit vom Zuschauer hervorgehoben und somit dem 'Voyeurismus' das Blickobjekt entzogen wird. Es ist weiterhin zu fragen, wie sich die Auftrittsformen der Chor-Figur unterscheiden, wenn sie mal als gedrängte Gruppe an der Bühnenrampe erscheint, mal als rampenparallele Riege, oder als rein akustisch vernehmbare Figur auf der nicht-einsehbaren Hinterbühne, oder als kleine Gruppe auf dem Zuschauerrang im vollkommen abgedunkelten Theaterraum. Im Dunkeln scheinen sich die szenischen Orte zu verwirren: Die Stimmen kommen aus der Tiefe des Bühnenraums, vom ersten Rang, hinter und mitten unter den Zuschauern, von fern und ganz nah, schrill und tief, laut und fast unhörbar leise. Hier wird der ganze Theaterraum Klangraum, indem Zuschauerraum und Bühne von den chorischen Auftritten akustisch umfasst werden. Gerade Ein Sportstück mit seiner Konfrontation protagonistischer und nach-protagonistischer Figuren, die entlang an Jelineks Stücktext als Kaleidoskop der Chor-Figuren entworfen werden, präsentiert Schleefs Befragung des Theaterraums. Im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der antiken Bühnenform der Tragödie und den Wahrnehmungsprägungen der modernen Theateranlagen gilt die Aufmerksamkeit der Frage, wie dies geschieht. Welche Auswirkungen haben die spezifische Behandlung des Bühnenraums durch den Chor, seine verschiedenen Auftrittsweisen auf die Wahrnehmung? Fordert der Chor, als räumliche Figur, nicht nur andere Wahrnehmungsweisen, sondern auch eine andere Definition von (theatraler) Öffentlichkeit?

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Tragödie als Bühnenform

„VOR DEM PALAST“. ELEKTRA UND DIE GRÜNDUNG DES PROSZENIUMS Mit seiner grundsätzlichen Befragung des Theaterraums, die zuerst und vor allem mit der Frage nach einem Ort des Chors auf dem Theater verknüpft ist, stößt Einar Schleefs Analyse der antiken Bühnenkonstellation auf ein Paradox, das dem europäischen Theater von Beginn an eingeschrieben scheint: Dem Chor als dessen erster Figur scheint auf dem Theater kein eigener Ort zuzukommen.32 Die Auseinandersetzung mit diesem Paradox prägt nicht nur Schleefs Arbeit an den modernen Bühnenformen, sondern auch seine analytische Beschreibung der tragischen Bühne als Szene 'VOR DEM PALAST'. Diese für sein Theater – und vor allem für die Inszenierung Ein Sportstück – so zentrale Diskussion der szenischen Orte und ihrer Fragilität soll im Folgenden näher betrachtet werden. Die Darstellung der Fragestellung geht dabei entlang an Schleefs in Droge Faust Parsifal niedergelegter Definition der Szene 'VOR DEM PALAST', die sich weniger auf die architektonische Auseinandersetzung mit dem antiken, griechischen Theater stützt als auf die dramaturgische Lektüre der Tragödientexte. Im Hinblick auf das Verhältnis von Chor und Protagonist scheint sich das antike Theater in einem doppelten Raum-Problem zu gründen: Zum einen ist das Proszenium als Ort des tragischen Protagonisten ein Un-Ort zwischen Skene und Orchestra, Palast und Chor. Die griechische Tragödie zeigt den leidenden Protagonisten im Schwebezustand zwischen diesen beiden Orten, von denen beiden er durch die Geschichte, die verlautbart wird, unwiderruflich getrennt ist. Der Ort, an dem sich dieses Getrenntsein ausdrückt, ist das Proszenium, das Schleef in Droge Faust Parsifal als Ort 'VOR DEM PALAST' beschreibt. Das zweite Problem ist das räumliche Verhältnis zwischen Chor und Protagonist – und somit auch zwischen Chor und Palast/Skene. Denn indem die Szene 'VOR DEM PALAST' sich zwischen diesen und den Chorraum schiebt, kann das Proszenium auch als Barriere zwischen Orchestra und Skene aufgefasst werden. Das heißt, nicht nur der auf der tragischen Szene ausgesetzte Protagonist33 rückt durch sein Hervortreten vom Zen32 Zum Problem der Orte des Chors im Zusammenhang mit Schleefs Analyse der antiken Bühnenform vgl. auch: Christina Schmidt, „Proszenium, Orchester und Orchestra – Zur Topografie fragiler Theaterorte“. In: www.thewis.de. Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Stand: Mai 2010). 33 Zum Aspekt des 'Ausgesetztseins' des (tragischen) Protagonisten auf dem Proszenium der antiken Bühne, sowohl im Hinblick auf die Bewusstwerdung seines Opferseins als auch auf den Umstand des 'Gesehenwerdens' vgl.: Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. A.a.O., insbesondere S. 55ff.

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Ein Sportstück trum der Macht weg, sondern auch der Chor entfernt sich durch die Errichtung des Proszeniums vom Palast, als dessen 'eigentlichen Bauherren' ihn Schleef beschreibt.34 An dem von Schleef so bezeichneten Ort 'VOR DEM PALAST' tritt nicht nur die grundlegende Spaltung zwischen Chor und Protagonist, Protagonist und Palast hervor. Indem die Orchestra nach der Errichtung des Proszeniums nicht mehr gemeinsamer Auftrittsort von Chor und Schauspieler ist,35 zeigt sich ebenso die andere Herkunft der Chor-Figur, von der Schleef schreibt, dass sie eher zur „Bühnenlandschaft“ gehöre, ja vielmehr selbst Landschaft sei. Doch diese Landschaft in ihrer „ursprünglichen, heilenden Bedeutung“ (DFP, S. 12), als Ort, an dem „sich das Individuum von seinen Schmerzen lösen könnte“ (DFP, S. 13), scheint in den Tragödien allenfalls im Konjunktiv auf. Die Landschaft, aus der der Chor hier kommt, um vor den Toren des Palasts zu klagen, ist keine unzerstörte Idylle. Grund der Versammlung des Chors vor dem Palast – im Theater, in der Orchestra – ist in den antiken Tragödien stets eine existentielle Bedrohung: Krieg, Terror, Rechtsbruch.36 Politischer Grund des Auftritts der Chor-Figur auf dem Theater ist es, diese Situation zu veröffentlichen, auf dem Theater zu verhandeln. Zumeist gibt es keine Lösung des Konflikts, zumindest keine friedliche, das heißt: keine Lösung ohne Opfer. Davon sprechen die Tragödien, in denen, so Schleef, noch das Menschenopfer erinnert werde.37 Droge Faust Parsifal definiert die Bühne der antiken Tragödie als Szene 'VOR DEM PALAST': „VOR DEM PALAST, das ist die antike Konstellation, das ist das antike Bühnenbild, das ist die Voraussetzung für den Individualisierungsprozeß, das ist das Zeichen für das bevorstehende Opfer, das ist das Zeichen für die Entzweiung der Figuren, der Menschen untereinander.“ (DFP, S. 265)

Die paradigmatische Figur, an der Schleef die 'antike Konstellation' als Szene 'VOR DEM PALAST' beschreibt, ist Elektra. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind der zweite Teil der aischyleischen Orestie, Die Choephoren/Die Grabspenderinnen, sowie die

34 Vgl. DFP, S. 266. 35 Zur architektonischen Entwicklung der Orchestra im antiken Theater vgl.: Frank Kolb, Agora und Theater, Volks- und Festversammlung. Berlin: Mann, 1981. 36 Zum Krieg als Grund und Anlass der antiken Tragödie vgl.: Hans-Thies Lehmann, Theater und Mythos. A.a.O., S. 88; zum Problem des Rechtsbruchs und der sich in den Tragödien, so in Sophokles’ Antigone, niederschlagenden „Ambiguität der Rechtsnormen“ (ebd., S. 160) vgl. ebd., S. 157ff. 37 Vgl. DFP, S. 392.

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Tragödie als Bühnenform sophokleische Elektra. Aischylos’ Stück hat einen wesentlich höheren Chor-Anteil, worauf schon der Titel schließen lässt, während erst Sophokles Elektra im eigentlichen Sinn aufs Proszenium stellt, indem er die Szene 'VOR DEM PALAST' definiert. Da Droge Faust Parsifal die unterschiedlichen theatralen Versionen des ElektraStoffs miteinander vermischt, werden diese hier zunächst im Hinblick auf die je unterschiedliche Definition des Verhältnisses von Chor und Protagonist skizziert. Nach der Ermordung Agamemnons durch Klytämnestra und Aigisth verweigert Elektra ein einvernehmliches Leben mit den neuen Machthabern, den Mördern ihres Vaters. Plötzlich kommt Orest, der von der Mutter verbannte Bruder Elektras, zurück nach Mykene. Unter Strafandrohung bei Unterlassung hat er, so Aischylos, von Apoll den Auftrag bekommen, den Mord am Vater zu rächen. Die Szene beginnt in den Choephoren am Grab Agamemnons mit der Klage der Geschwister und der Aufforderung seitens des Chors, die 'Gerechtigkeit' wiederherzustellen, das heißt hier: den Muttermord auszuführen. Elektra, Orest und der Chor (Sklavinnen des Königshauses, Beute Agamemnons aus dem Trojanischen Krieg) zeichnen sich insofern als Verbündete, als sie alle aus dem Zentrum der Macht ausgeschlossen, von dem Ort, an dem sie einst herrschten, vertrieben sind. Der Chor fordert die Wiederherstellung der genealogischen Ordnung, die Beendigung der unrechtmäßigen, als Tyrannis beschriebenen Herrschaft Aigisths. Gemeinsam bitten Chor, Elektra und Orest die chtonischen (Erd-) Götter um Unterstützung bei der Ausführung der Rache. Für Orest jedoch ist von Beginn an klar, dass er sich mit der Ermordung Klytämnestras Zorn und Verfluchung von Seiten der Erinnyen zuziehen wird. Die Göttinnen der Vergeltung stehen hier für das Prinzip der sich wiederholenden, unendlichen Rache: Auge um Auge, Blut für Blut. Gemäß dieses Vergeltungsprinzips werden sie von Klytämnestra angerufen. Diese spricht einen Fluch gegen ihren Sohn aus, der seine Verfolgung durch die Rachegöttinnen nach sich ziehen wird (so der dritte Teil der Orestie, Die Eumeniden). So ist denn auch Orests Wissen um diese Folge seiner Tat Grund für sein anfängliches Zögern. Der Schluss der Choephoren zeigt, wie Orest für den Muttermord von den Erinnyen mit Wahn geschlagen wird. Während ihm noch das Blut seiner Mutter an den Händen klebt, sieht er bereits die ihn verfolgenden Rachegöttinnen, die auf der Szene nicht zu sehen sind: „Ich seh’s: das sind der Mutter wütge Hunde dort!“38 In der Mitte des Stücks wechselt der Schauplatz vom Grabhügel zum Palast. Orest gelangt mittels einer List, der falschen Botschaft von seinem

38 Aischylos, Die Weihgussträgerinnen (Choephoren). V. 1054. In: Ders., Tragödien. Übersetzt von Oskar Werner. München: dtv, 1988, S. 230.

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Ein Sportstück Tod, in den Palast und führt den Rachemord an seiner Mutter aus. Elektra hingegen tritt nicht mehr auf. In Sophokles’ Elektra hingegen ist sie die ganze Zeit auf der Bühne, das heißt 'VOR DEM PALAST', in den sie sich weigert zurückzukehren. Nachdem sie die falsche Botschaft von Orests Tod empfangen und Klytämnestra den falschen Boten – hier Pylades, einen Gefährten Orests – ins Haus gebeten hat, klagt Elektra, nun allein auf der Szene: „Aber nun, Wo soll ich hingehn? Einsam bin ich, deiner Beraubt wie auch des Vaters! Wieder muß ich dienen Bei den Verhaßtesten der Menschen mir: Des Vaters Mördern! [...] Doch nein! nie werd ich für die künftige Zeit Im Haus mit denen leben, sondern hier am Tor, Dahingesunken, möge ohne Freund Das Leben mir verdorren!“39

Sophokles’ Elektra ist es, die den Ort 'VOR DEM PALAST' benennt, den sie während des ganzen Stückes nicht verlässt. Im Gegensatz zu den aischyleischen Choephoren ist es bei Sophokles ebenfalls Elektra, die den vor der Tat zögernden Orest verstärkt zur Ausführung der Rache antreibt. Sie ruft ihm, der im Haus und dabei ist, seine Mutter zu erschlagen, zu: „Schlage zu, / Wenn du die Kraft hast, zum zweiten Mal!“40 Ebenso verfährt sie bei der Ermordung Aigisths. Im Unterschied zu Aischylos’ Stück ist Elektra hier die tragende Kraft des Rachemordes, den sie dennoch nicht selbst ausführt. Der Chor hingegen drängt hier nicht auf Wiederherstellung der legitimen, väterlichen Ordnung, sondern hält im Gegenteil Elektra zur Mäßigung an: „Jedoch in guter Meinung sag ich, Einer Mutter, einer treuen gleich: Gebäre du nicht Unheil über Unheil!“41

Der sophokleische Chor ermahnt Elektra, vom Prinzip der unbedingten Rache, das in der Orestie von den Erinnyen, hier nun von Elektra selbst verkörpert wird, Abstand zu nehmen. Als Elektra jedoch von Orests angeblichem Tod hört, ist sie bereit, das Beil selbst

39 Sophokles, Elektra. V. 812ff. Übertragen von Wolfgang Schadewaldt. Hrsg. von Hellmut Flashar. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1994, S. 44f. 40 Sophokles, Elektra. V. 1414f. 41 Ebd., V. 233ff.

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Tragödie als Bühnenform in die Hand zu nehmen. Es kommt zur Auseinandersetzung mit ihrer Schwester Chrysothemis, die ängstlich ihre Teilnahme an der Tat ablehnt und Elektra zur Unterordnung überreden will. Darauf beschließt Elektra, den Rachemord selbst auszuführen: „Nun, so muß ich denn Mit eigner Hand und ganz allein vollbringen Dies Werk!“42

Als der totgeglaubte Orest aus dem Exil nach Mykene zurückkommt, überlässt jedoch Elektra auch in Sophokles’ Stück die Tat ihrem Bruder. Anders als in Aischylos’ Choephoren verharrt die sophokleische Elektra während des gesamten Stücks an ihrem Ort 'VOR DEM PALAST', das heißt auf dem Proszenium, während hinterszenisch – bei Sophokles vermittelt durch die Stimmen der auf der Szene nicht Sichtbaren – die Handlung, der Muttermord durch Orest, stattfindet. Bei Aischylos wie bei Sophokles ist Elektra die 'gekrümmte Figur' (Schleef), sie behält die am Grab des Vaters eingenommene Haltung bei. Ihr Ort ist am Boden vor dem Palast, aus dem sie ausgestoßen ist beziehungsweise in den sie sich weigert, wieder einzutreten. Obwohl sie die Tat nicht ausführt, ist Sophokles’ Elektra die große Rachefigur, indem sie Orest zum Mord an Klytämnestra und Aigisth antreibt, dessen Auftrag hier, anders als in den Choephoren, nicht mehr göttlicher, sondern selbst gegebener ist. Diese Dimension der Elektra-Figur wird von ihrer ununterbrochenen Präsenz auf der Szene bekräftigt, während ihr Drama bei Aischylos mit der Ankunft Orests zu Ende ist. Elektra sei eine „schwierige Figur“, so Schleef, „wie die Waffe, der das Geschoß fehlt, aber deren Existenz sowohl Schuß als auch Treffer imaginieren läßt“ (DFP, S. 266). Elektras Warten auf Orest, ihre Nicht-Ausführung des Rachemordes, interpretiert Schleef als „Stafettenübergabe aus Schwäche, mit der Elektra ihren Thronanspruch aufgibt“ (DFP, S. 267). Diese Unterlassung, die in der sophokleischen Elektra zentrales Thema wird, rühre daher, so Schleef, dass die Protagonistin „von einer übermächtigen Bindung an die untergegangenen Figuren erdrückt“ werde, „die ihr Denken, ihre weibliche Energie, ihre Inanspruchnahme männlicher Hilfeleistung bestrafen. Für Elektra zählt kein Jetzt, nur ein Damals, das ein VOR DEM PALAST ist“ (DFP, S. 268). Elektras Ausstoßung ist in Schleefs Interpretation eine Selbstausstoßung: „Elektra vor dem Palast ist die Ausgestoßene, die ihren Anspruch vergibt, in den Palast zurückzukommen, seine Mitte einzunehmen, in der entspre42 Ebd., V. 1018ff.

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Ein Sportstück chenden Rangfolge in ihm zu herrschen, Ordnung herzustellen.“ (DFP, S. 267)

Zwar fordert sie Rache um der Wiederherstellung der Genealogie willen, überlässt die Rachetat jedoch ihrem Bruder Orest. Somit scheint auch Sophokles’ Protagonistin nicht in der Lage, in das Zentrum der Macht, das ihr unter dem Gesichtspunkt der Genealogie zustehen würde, zurückzukehren. Von dieser Unterlassung oder Weigerung, sich die zentrale Position wieder anzueignen, von ihrem Verharren 'VOR DEM PALAST' handelt die sophokleische Elektra. Mit der Geste der Unterlassung gründet Elektra das Proszenium, den Ort 'VOR DEM PALAST'. Dieser Ort, der sich ex negativo definiert, der nicht Skene und nicht Orchestra ist, ist der Ort der Klage des tragischen Protagonisten, der Ort der einzeln auftretenden tragischen Figur, der Ort, der in der antiken Bühnenkonstellation den Konflikt anzeigt und ausspricht. Der Ort 'VOR DEM PALAST', der das antike Proszenium ist, thematisiert mithin gerade das Nicht-Handeln des Protagonisten. Als Ort der Klage des tragischen Protagonisten stellt das Proszenium dessen Schmerz und Einsamkeit aus. Dass Elektra nicht ins Zentrum der Macht vordringt und den ihr zustehenden Platz im Palast zurückerobert, wird auf dem Theater, insbesondere bei Sophokles, verhandelt. In Aischylos’ Orestie wird Orest zwar nach der Tat von den Erinnyen verfolgt, die dasselbe Racheprinzip wie Elektra vertreten, Blut für Blut. Jedoch kommt es schließlich zu einer Gerichtsverhandlung (Die Eumeniden), in der der Chor der Erinnyen die Anklage vertritt. Unter Vorsitz Athenes wird Orest bei Stimmengleichheit freigesprochen. Die Rachegöttinnen, die als älteres Prinzip gegen den jungen Gott Apoll angetreten sind, werden von Athene, die hier als deus ex machina auftritt, in „wohlmeinende Göttinnen“ (Eumeniden) umgewandelt. Damit scheint die Herrschaft der alten chtonischen Gottheiten, die als weibliche Rachegeister auftreten und das Prinzip Blut gegen Blut vertreten, beendet.43 Was in der Orestie verhandelt wird, ist der Kampf zweier Schicksalskonzepte (Moiren), von denen das neuere, an das GottesWort gebundene, das ältere, stumme Prinzip des Blutes, das Rache fordert, ablöst. In seinem Essay über Aischylos’ PrometheusTragödie schreibt Jan Kott, die Erinnyen verkörperten, indem sie Göttinnen der Vergeltung, der sich wiederholenden Rache seien, „das unerbittliche und unbeugsame Gedächtnis“44, die Stimme des 43 Das Ende der Orestie setzt gleichzeitig ein Fragezeichen: Die Fraglichkeit, ob diese Herrschaft wirklich beendet ist oder nicht vielmehr nur ihre Wirkungsweise verändert, erweist sich gerade in den bis heute wiederkehrenden, theatralischen Variationen der Elektra-Figur. 44 Jan Kott, Gott-Essen. Berlin: Alexander Verlag, 1991, S. 19.

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Tragödie als Bühnenform Blutes, die stumm sei. Dagegen stehe das Prinzip des Logos, des sagbaren Schicksals – das in den Eumeniden von Apoll und Athene vertreten wird. Jan Kott bestimmt die Moiren, die den Faden der Zeit spinnen, als antithetisch zu den Erinnyen auftretende Schicksalsfigur. Im Gegensatz zu der älteren Figur der Erinnyen seien sie „weder durch die Erinnerung noch durch die Racheverpflichtung gebunden“. Die Moiren seien vielmehr zu verstehen als „eine Notwendigkeit, die frei ist vom Zwang, die Vergangenheit zu wiederholen“45. In der Orestie wird diese schicksalshafte Notwendigkeit (der Tat) in dem göttlichen Auftrag ausgesprochen, den Orest ausführen muss: Das delphische Orakel erteilt Orest den Auftrag, den Vatermord zu rächen, das Ende der Tyrannis herbeizuführen und die Herrschaftsordnung in Mykene wiederherzustellen. Im Gegensatz zu Orest ist Elektra hier die Figur ohne Auftrag – weswegen sie auch im zweiten Teil der Choephoren nicht mehr auftritt. Mit Blick auf den von Kott beschriebenen Kampf der beiden Schicksalskonzepte handelt der aischyleische Orest nicht eigentlich im genealogischen Sinn, also gemäß der (stummen) Stimme des Blutes, sondern er setzt mit der Ausführung der Rache das Wort des Gottes Apoll durch. Elektra, die Rache um der Rache willen fordert, steht auf der Seite der Erinnyen, die das ältere Schicksalsprinzip, das der Vergeltung, vertreten. Orest, dem Apoll Strafe bei NichtAusführung seines Auftrags angedroht hatte, hat jedoch ebenso Angst vor den Göttinnen der Rache, die ihn in jedem Fall nach der Bluttat verfolgen werden. Dies zeigt die Unentschiedenheit zwischen den beiden Stimmen an: der stummen Stimme des Blutes und der sprechenden Stimme des Gottes. Mit Bezug auf diesen Streit der beiden Schicksalsprinzipien in der Orestie, der seinen Höhepunkt in der Gerichtsverhandlung in Athen hat, schreibt Giorgio Agamben in Die Sprache und der Tod, dass „sich der Held in keiner der beiden Stimmen völlig wiedererkennt und die eigentlich tragische Dimension dieses Widerstreits in einem Nicht-sprechen-Können liegt“46. Dieses „Nicht-sprechenKönnen“, das im Widerstreit zwischen den beiden Stimmen in der Orestie aufscheine, zwischen der Stimme des Blutes und dem Logos, offenbart für Agamben die „ursprüngliche Verbindung, in der die philosophische Tradition des Abendlandes mit der tragischen Erfahrung stand“47. Diese bestehe darin, dass sich die „menschliche Erfahrung der Sprache“ – als Erfahrung, gleichzeitig „lebend 45 Ebd., S. 20. 46 Giorgio Agamben, Die Sprache und der Tod. Ein Seminar über den Ort der Negativität. Aus dem Italienischen von Andreas Hiepko. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007, S. 145. 47 Ebd., S. 144f.

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Ein Sportstück und sprechend, natürliches und logisches Wesen“48 zu sein –, als notwendige Spaltung in der Tragödie in einem „unlösbaren Konflikt“49 manifestiert habe. – Orest jedoch entscheidet sich in der ihm aufgezwungenen Wahl für die Ausführung des Muttermordes. Damit setzt er das Wort des Gottes durch. Der diskursive Strang der beiden Schicksalskonzepte, der fortan mit der patriarchalen Herrschaftslinie verknüpft ist, gewinnt. Bei Sophokles rückt die Figur Elektra, die für das (ältere) Prinzip Rache um der Rache willen steht, welches nach Kott und Agamben der stummen 'Stimme des Blutes' zugehört, ins Zentrum der Tragödie. Indem Sophokles Elektra zur Protagonistin macht, fokussiert das Stück die Frage, warum sie den Mord nicht ausgeführt. Diese Frage, die eigentliche Unsagbarkeit ihres Anspruchs formuliert sich im Ort 'VOR DEM PALAST'. Dieser Ort, der in Schleefs Formulierung das 'bevorstehende Opfer' anzeigt, wäre im Sinn von Agambens Analyse der Ort, an dem sich der 'unlösbare Konflikt' zwischen der Erfahrung des In-der-Sprache-seins und der Erfahrung der Sterblichkeit ausdrückt. Denkwürdiger Weise gründet sich mit Elektra, der „erste[n] weibliche[n] Individualisierung auf dem Theater“ (DFP, S. 266), diese szenische Konstellation in einer weiblichen Figur, die motivgeschichtlich für ein (scheinbar) untergegangenes Prinzip, so die Orestie, steht. Gerade aber in der Rückkehr dieses 'unsagbaren' Anspruchs (der 'stummen Stimme'), der sich in der Figur der Elektra zu verkörpern scheint, würde demnach ihre Tragödie bestehen. Der Kontrast der beiden unvereinbaren Stimmen tritt nun, anders als in der Orestie, in einer Figur zutage, die gerade im Konflikt zwischen der Unsagbarkeit ihres Anspruchs und der Notwendigkeit des Festhaltens an diesem das Proszenium der antiken Bühne gründet. Insofern sich der Widerstreit der beiden Stimmen in der einen Protagonistin Elektra radikalisiert, scheint es beinahe notwendig, dass der Chor in Sophokles’ Stück von der Protagonistin abrückt – indem er sie zur Mäßigung anhält und nicht, wie in der Orestie, sie in ihrer Position bestärkt. Von hierher wird auch Schleefs bildliche Formulierung verständlich, dass der antike Chor „den Einzelnen nur als Kadaver“ (DFP, S. 392) kenne. Denn vom Chor aus gesehen, so Schleef, sei die 'Individualisierung' der Einzelfigur das Zeichen ihres bevorstehenden Untergangs. Was bedeutet nun die hier an der tragischen Protagonistin Elektra nachvollzogene 'antike Konstellation', die Gründung des Proszeniums für die Figur des Chors, für dessen szenischen Ort auf der Bühne der Tragödie und mithin auch für dessen Bedeutung?

48 Ebd., S. 145, Hervorhebung im Original. 49 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform Mit der Errichtung des Proszeniums auf dem Theater muss der Chor notwendig vom Palast wegrücken. Das Proszenium ist somit nicht nur Auftrittsort des tragischen Protagonisten, sondern auch Barriere zwischen Chor und Palast, Orchestra und Skene. Auch diese räumliche Trennung von Chorraum und Skene bezeichnet den 'Chor-Riss', als welchen Schleef die irreversible Trennung von Chor und Einzelfigur beschreibt, deren Tragödie sich „demnach nur im Wechsel mit dem Chor“ (DFP, S. 276) abbilden lasse. Der Chor, einst Zentrum des Theaters, in das er, von außen kommend, feierlich eingezogen ist, findet im Proszenium seine Grenze, die er nicht überschreiten kann. Das Proszenium, das im Zuge der folgenden Entwicklung des griechischen Theaters immer größer und zur Bühne wird, steht mehr und mehr gegen die Orchestra, die immer kleiner und schließlich marginalisiert wird, letztlich ganz aus dem Theater verschwindet50 – wie der Chor.

SZENEN „Unter dem Eindruck der Tragödie“. Chor und Einzelfigur Der erste große Chorauftritt in Schleefs Inszenierung konfrontiert Jelineks 'Chor'-Figur mit der im Text als exzeptionell gekennzeichneten Einzelfigur 'Die Frau'. Zwar solle diese sich in ihrer Kleidung von den auftretenden Sportlern abheben, scheint aber gleichzeitig mit diesen verbunden, so Jelinek: „Eine Frau, etwa Mitte Vierzig, und ein junger Sportler kommen herein [...]. Die Frau, was die Kleidung betrifft, gemeinsam mit der 'Alten Frau' später, die einzige Ausnahme in diesem Stück, in spießig eleganter Kleidung, aber doch mit dem Versuch, fesch auszusehen. Normal halt.“ (SP, S. 16f.)

Das Sprechen der folgenden Textblöcke, die zuerst der Frau, dann dem Chor zugeschrieben sind, wird, indem es als nicht an die Fiktion personaler Figuren gebunden definiert ist, gleichsam als nachprotagonistisches definiert:

50 Zur Feststellung einer Marginalisierung der Chor-Figur auf der Ebene der Texte, die bereits in der Hochzeit der antiken Tragödie, der so genannten klassischen Zeit einsetzte, vgl.: Peter Riemer/Bernhard Zimmermann (Hg.), Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1998 (darin insbesondere die Beiträge zum Chor in der Orestie, in den sophokleischen Tragödien sowie im Satyrspiel von Lutz Käppel, Peter Riemer und Bernd Seidensticker).

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Ein Sportstück „Die Texte, die folgen, werden von Männerstimmen irgendwie gesprochen, ist ja egal, während die auf der Bühne Anwesenden, vorerst, die Lippen synchron dazu bewegen oder auch nicht.“ (SP, S. 17)

Schleef setzt die folgenden Redeszenen als Begegnung von Chor und Einzelfigur um. Trotz sprachlicher Distanz des Chors zur Frau – markiert durch die formelle Ansprache der Frau in der zweiten Person Plural –, scheint der Chor mit dem Sport und mithin mit dem Sohn der Frau assoziiert zu sein. Als erste große Chor-Szene in Ein Sportstück definiert die Szene die theatralen Orte von Chor und Einzelfigur. Indem sich hier die inhaltlich wie klanglich vielfältigste Chor-Figur der Inszenierung präsentiert, werden die Unterschiede von chorischem und einzelnem Sprechen deutlich herausgestellt. Nach dem „Prolog“51 öffnet sich der Eiserne Vorhang. Dahinter, in der Mitte eines rampenparallel auf dem Bühnenboden verlaufenden Lichtstreifens, steht die Figur der Mutter des Sportlers, gekleidet in schwarzem Kostüm, das Gesicht verschleiert, in der Hand eine Rose. Die lange Rede der Frauenfigur (Elisabeth Rath) ist eine Ansprache an den abwesenden Sohn, der Opfer des von ihm betriebenen Leistungssports werden wird. Dass diese Figur keine tragische Protagonistin ist, sondern allenfalls „unter dem Eindruck der Tragödie“ (SP, S. 18) steht, wird durch die Bühnenbeleuchtung verdeutlicht: Das Proszenium, hier markiert durch den rampenparallelen Lichtstreifen, kann jederzeit verschwinden. An diesem fragilen Ort hält die Mutter ihre Anklage – an den Sohn, der sie verlassen hat, an den Sport, der ihr den Sohn geraubt hat und nicht zuletzt an das im Theater versammelte Publikum als stellvertretende Öffentlichkeit, denn: „Sport wirkt am besten, wenn er öffentlich stattfindet“ (SP, S. 20). Ihre Ansprache endet mit der Aufforderung: „Melder zur Stelle!“ (SP, S. 22) und mit einem ersten Pfiff auf einer Trillerpfeife. Nach dem Pfiff ruft sie zum Sportwettkampf: „Auf die Plätze – fertig“, und pfeift ein weiteres Mal. Darauf erfolgt der erste Auftritt des großen Chors: 47 Chormitglieder laufen in hohem Tempo, von der Hinterbühne kommend, an der Frau vorbei bis zur Bühnenrampe, wo sie dicht aneinander gedrängt stehen bleiben. Mit dem zweiten Pfiff hat sich die Beleuchtung geändert: Der gesamte Bühnenboden ist nun 51 Der „Szenische[] Prolog zur Eröffnung des k.k. Hofburgtheaters am 14. October 1888“ (vgl. Besetzungszettel zum Programmheft der Uraufführung: Elfriede Jelinek. Ein Sportstück. Programmbuch Nr. 191. Hrsg. vom Burgtheater Wien, 1998) wird vor dem geschlossenen Eisernen Vorhang aufgeführt wird. Bereits dieser „Prolog“ ist eine Chor-Szene, insofern der Text abwechselnd von Heinz Frölich, dem damals ältesten Ensemblemitglied des Burgtheaters, sowie einem vierköpfigen Kinderchor in weißen Sportlertrikots gesprochen wird.

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Tragödie als Bühnenform in ebenfalls parallel zur Rampe verlaufende beleuchtete und nichtbeleuchtete Streifen eingeteilt. Der Lichtstreifen auf der Höhe des Eisernen Vorhangs, wo die Frau steht, ist nunmehr einer unter vielen, womit das vorherige Licht-Proszenium verschwunden ist. Der Teil der Vorderbühne, wo der Chor steht, ist hell erleuchtet. Dieser Ort an der Bühnenrampe ist in der Inszenierung explizit als Ort des sprechenden Chors markiert, indem er, hell erleuchtet und halbrund mit der Kante der Vorderbühne abschließend, auf das Fehlen einer Orchestra, eines Chorraums im Theater aufmerksam macht. Als gedrängte Gruppe an diesem Ort stehend, vom linken bis zum rechten Rand der Bühnenrampe, bildet die Chor-Figur hier gleichsam eine Art Sichtschranke gegen den zentralperspektivisch organisierten Blick auf die Bühne. Deren Wirkung ist etwa vergleichbar mit der von Schleef so genannten 'Tischbarriere', die Gerhart Hauptmann gegen den 'perspektivischen Sog' des Guckkastens einsetze. In der Mitte der Bühnenrampe lässt der Chor jedoch eine Lücke, durch die die schweigende Figur der Frau während der ganzen chorischen Rede zu sehen ist. Die Chor-Kostüme sind weite schwarze Kutten, die bis zum Boden reichen und den Körper bis auf das Gesicht vollständig bedecken. Dass auch die Hände von den langen Ärmeln der Kutten verdeckt sind, definiert den Chor zunächst als sprechende, nicht handelnde Figur. Durch das den Chorraum von oben markierende Licht sind die Chormitglieder von der Brusthöhe aufwärts hell beleuchtet, was die Aufmerksamkeit zusätzlich auf ihre Gesichter und damit auf das Sprechen lenkt. Zudem heben sich die Gesichter extrem vom Schwarz des Kostüms ab, wodurch die Unterschiedlichkeit der einzelnen Gesichter hervortritt. Die je fest an einem Ort stehenden Körper betonen wiederum die Bewegungen des Gesichts, die der Einzelne beim Sprechen machen muss. Das heißt, die Körperbewegungen des Chors im ersten Teil der Szene dienen beinahe ausschließlich dem Sprechen. Das Kostüm, das Schleef als „mäßige[] Chor-Kleidung“ (DFP, S. 479) bezeichnet, macht die Eigenheiten des einzelnen Körpers zwar nicht vollständig unsichtbar. Jedoch dient es, im Gegensatz zur Uniform – etwa der Matrosen-, Soldaten- und auch in gewisser Weise der Sportler-Figuren – nicht zum Zeigen des (einzelnen) Körpers. Demgegenüber betont das Kostüm in zweifacher Weise die Kontur: zum einen die Konturen der einzelnen Chormitglieder, indem die Aufmerksamkeit auf die sichtbaren Körperteile, zuerst nur das Gesicht, an späterer Stelle auch die Hände, gelenkt wird. Zum anderen unterstreicht das Kostüm die Kontur der Chor-Figur, die sich gleichsam skulptural gegen den Horizont abhebt, der die gesamte Bühne bis zur Brandmauer ist. Da die einzelnen Chormitglieder eng neben- und hintereinander stehen, verdecken sie einander teilweise,

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Ein Sportstück je nachdem, von wo aus man sieht. Von keinem Punkt des Zuschauerraums aus sind alle Chormitglieder gleichzeitig sichtbar. Gleich nach seinem Einzug singt der Chor das in der ersten Szene von Heinz Frölich im „Prolog“ zur Eröffnung des neuen Hofburgtheaters 1888 angekündigte „Lied des Kaisers“, die Hymne der k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn. Der Text des Kaiserlieds figuriert das kriegerische Hegemonialstreben des Staates als Grund des Zusammenschlusses der Nation und lässt zum anderen den Chor der Untertanen seine Treue zum Kaiser bis zur Aufgabe der wirtschaftlichen und leiblichen Existenz schwören: „Eingedenk der Lorbeerreiser, die das Heer so oft sich wand: / Gut und Blut für unsern Kaiser, Gut und Blut fürs Vaterland.“52 Mit dieser thematischen Bezugnahme wird die Linie vom (modernen) Krieger zum zeitgenössischen Sportler eingeführt, die Jelineks Text behauptet. Nach dem Ende des Kaiserlieds setzt ohne Pause das Sprechen des Chors ein, indem dieser sich, dem Publikum direkt, konfrontativ gegenüber stehend, als Figur der Frage konstituiert: „Wárúm / haben Sie Ihren Sohn in den Krieg dés Spórts geschickt, wenn Sie ihn doch zurückhaben wollen?“ (SP, S. 22*)53

Das einleitende Fragewort „Warum“ ist dabei sehr laut und abgesetzt vom folgenden Teil des Satzes gesprochen wird. Der Chor wird in dieser Szene von einer Chorführerin dirigiert, die, ebenfalls hell beleuchtet und somit gut sichtbar für Chormitglieder und Zuschauer, dem Guckkasten gegenüber in der Mitte des Rangs steht. Die Chorführerin formt mit dem Mund die Worte mit, die der Chor spricht beziehungsweise singt. Zudem zeigt sie die jeweilige Sprechweise einzelner Satzteile, Worte, Silben oder Laute an, indem sie bei Dehnungen die Arme auseinander zieht, bei Stimmhebung die Arme hebt, bei Stimmsenkung die Arme nach unten bewegt. Eine Zäsur oder Pause im Sprechen wird durch Anhalten ihrer Bewegung angezeigt, ein Stakkato oder Akzent durch jeweils kurze Bewegung. Je energischer, ausladender ihre Armbewegungen, desto lauter das Sprechen, je kleiner, zurückhaltender die Bewegungen, desto leiser. Dass es bei der Chorführung nicht so sehr auf die Festschreibung der Stimme in unveränderliche Zeichen, also eine Art Notation der Sprechstimme ankommt, als vielmehr auf die Verdeutlichung einer Änderung der Sprechweise im Verlauf des chorischen Sprechens, sei an einer kurzen Passage verdeutlicht: 52 Zitiert nach 3sat-Dokumentation der Aufführung. 53 Zur Verdeutlichung des Sprechrhythmus wird an einigen Stellen ein Akzent mit ´, eine Zäsur mit /, eine längere Zäsur entsprechend mit //, gedehntes Sprechen mit – gekennzeichnet. Wo der Aufführungstext von der angegebenen Quelle abweicht, ist dies mit * markiert.

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Tragödie als Bühnenform „Wárúm / lassen Sie der / Jugend nícht / ihren Spaß? Wenn Sie immer nur ein e-wig / lä-cheln-des / Páar / mit Ihrem Sohn hätten bilden wollen, hätten Sie ihn sich gleich als / Plüsch-tier / Plü´schtíer / kaufen können.“ (SP, S. 23*)

Das eröffnende „Warum“ wird hier genauso abgesetzt wie in der zuerst zitierten Passage, jedoch leiser gesprochen. Die Akzente auf den beiden Silben werden von der Chorführerin mit kurzen Handbewegungen angezeigt, die, da nicht so laut wie im ersten Fall, weniger energisch ausgeführt werden. Die Zäsuren werden, je nach Länge, durch kürzeres oder längeres Innehalten in ihren Bewegungen angegeben (so zwischen „der“ und „Jugend“). Bei einer gleich bleibenden Sprechweise, bei der gleich schnell und auf gleicher Tonhöhe sowie ohne Pausen gesprochen wird, zieht die Chorführerin ihre Arme auf gleich bleibender Höhe mit flacher Haltung der Hände auseinander (von „mit“ bis „als“). Das Auseinanderziehen von Worten, die Dehnung von Silben („ewig“, „lächelndes“, „Plüsch“) wird durch Auseinanderziehen der Hände angezeigt. Bei der kurzen und lauten Wiederholung von „Plüschtier“, in der beide Silben akzentuiert sind, zeigt die Chorführerin mit beiden Armen zweimal kurz nach unten, was keine Stimmsenkung, sondern eine zur vorangehenden Aussprache veränderte Akzentuierung (sehr laut und schnell) anzeigt. Durch die szenische Präsenz der Chorführerin auf dem Rang wird zum einen die Sichtbarkeit des chorischen Sprechens sowie zum anderen die Sprechrichtung der Chor-Figur hervorgehoben, die räumliche Anordnung des Gegenüber von Chor und Publikum. Zudem ist die Chorführerin, obzwar wie das Publikum der Bühne gegenüber situiert, als Mitspielerin definiert. Indem der Zuschauerraum auf diese Weise als szenischer Ort behauptet wird, wird zwar das räumliche Gegenüber von Chor-Figur/Bühne und Chorführerin/Zuschauerraum betont herausgestellt. Gleichzeitig wird jedoch der szenische Ort auf den gesamten Theaterraum ausgedehnt: Die Szene spielt zwischen Bühne/Chor-Figur und Publikum, nicht zwischen theatralen Figuren auf der Bühne. Die räumliche und szenische Beziehung zwischen Chorführerin und Chor – der hier als horizontal an der Bühnenrampe aufgestellte Gruppe gleichsam als 'Sichtschranke' gegen den Blick auf die Bühne fungiert –, verdeutlicht somit auch Schleefs Arbeit gegen die Definition der Bühne als Bild, das im Guckkasten hinter dem als 'Vierte Wand' definierten Bühnenportal behauptet wird. Der Chor spricht nicht durchgängig als einheitliche Gruppe, sondern teilt sich bisweilen in verschiedene Teilchöre auf, so erstmalig nach dem Satz: „Was, Sie meinen, niemand könne Vater ohne Mutter sein“ (SP, S. 24). Der zweite Satzteil wird von den Teilchören

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Ein Sportstück scheinbar unendlich variiert: „niemand könne Tochter ohne Vater sein“, „niemand könne Mutter ohne Vater sein“ (ebd.) und so fort.54 Indem die verschiedenen Satzvariationen von den Teilchören gleichzeitig gesprochen werden, entsteht ein Klang, der sich dem wortwörtlichen Verstehen der einzelnen Sätze widersetzt, aus dem vielmehr einzelne Worte wie „Tochter“ oder „Mutter“ herausragen. Das gleichzeitige Sprechen verschiedener Textvarianten, die eher fragmentarisch als wortwörtlich verstanden werden können, hat hier den Effekt, dass die Aufmerksamkeit auf den Text bei dem folgenden gemeinsamen Sprechen desselben Textes – „besser, man sei Mutter allein?“ (SP, S. 24) – gesteigert wird. Diese Akzentuierung der Textverständlichkeit wird jedoch kurz darauf wieder verschoben, wenn der Chor vier Worte hintereinander von sich abwechselnden Männer- und Frauenchören als Akkord singt, der in einer Kakophonie ausklingt. Ein Hören, das zwischen der Aufmerksamkeit auf den Textsinn und auf den Klang des Sprechens changiert, wird ebenso durch eine unerwartete Veränderung der Tonhöhe, eine Zäsur im Wort oder die unterschiedliche Akzentuierung von Silben eines Wortes hervorgebracht. Solche plötzlichen oder unerwarteten Lautereignisse sind in folgender Textpassage zu hören, die von einem Teilchor der Frauen auf gleich bleibender Tonhöhe gesungen wird: „Die wäre schon fast keine Frau mehr, zählte man ihre Hormone. [...] So, dieser Körper wäre geformt, jetzt muß er nur noch in der Sauna áb/gegeben und áb/gehäutet werden.“ (SP, S. 25*)

Die Vorsilbe „ab-“ wird durch eine Zäsur vom Hauptteil des Wortes abgetrennt und zusätzlich durch eine höhere Stimmlage abgesetzt, wodurch der Eindruck des Fließens, der durch die gleich bleibende Tonhöhe entsteht, unterbrochen wird. Dasselbe geschieht in der darauf folgenden Passage, die von einem Teilchor der Männer ebenfalls auf gleich bleibender Tonhöhe gesungen wird. Hier fällt der kurze Satz „Ihr Sohn ist nötig!“ (SP, S. 25) heraus, indem er nach der Melodie eines seinerzeit bekannten Fernsehwerbespots des Autoherstellers Toyota gesungen wird. Das klangliche Zitat des Werbespots, das den Fernsehzuschauer mit seinem appellierenden Charakter zum Konsum auffordert, ist hier auf der Ebene des Textes mit der Rekrutenwerbung des Leistungssports kontrastiert. Mitten 54 Die Aufteilung des großen Chors in Teilchöre erinnert strukturell an Szenen aus Bachs Passionen, wo die gleichzeitig durchgeführte Variation eines Satzes durch die vier Stimmen eines Chors (Sopran, Alt, Tenor, Bass) oftmals als Verdeutlichung der Vielstimmigkeit bzw. zur Figuration eines Streits (wie in den Chören der „Schriftgelehrten“ oder der „Hohepriester“ in der Matthäus-Passion) eingesetzt wird.

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Tragödie als Bühnenform im Satz „Wir brauchen Menschen, die Sorge um ihren Leib tragen und ihre Seele“ (SP, S. 25) bricht der Gesang der Männer ab und alle Chormitglieder sprechen gleichzeitig, sehr laut und mit kurzen Zäsuren zwischen den Worten: „jederzeit / unbesorgt / wegschmeißen“ (SP, S. 25). Nach diesem Satz ertönt ein weiterer Pfiff auf der Trillerpfeife seitens der Frauenfigur, die immer noch an ihrem Ort unter dem Eisernen Vorhang steht. Darauf wenden die Chormitglieder sich in einem Schrittsprung nach hinten und laufen auf einen erneuten Pfiff-Befehl, wie in einem Sprint, in Richtung der dunklen Hinterbühne. Wie zu Beginn der Szene gibt die Frau den Befehl „Auf die Plätze – fertig“55 und pfeift, worauf der Chor wieder nach vorne kommt. Er kündigt den Auftritt eines zynischen Funktionärs an, der den „Sinn des Sports“ (SP, S. 26) in der Erzeugung von bedingungsloser Opferbereitschaft verkündet, bis zum Tod des einzelnen Sportlers.56 Statt der angekündigten Rede hört man jetzt aber ein Zischen des Chors, das anhält, bis die Frau, die auf einer großen Bodenluke in der Mitte der Bühne nach unten fährt, nicht mehr zu sehen ist. Während der Abwesenheit der Frau, in der der Chor als nun einzige Figur auf der Bühne weiter spricht, bleibt die Bodenluke offen: ein schwarzes rechteckiges Loch in der Mitte des in Schwarz-Weiß-Streifen unterteilten Bühnenbodens, wie ein offenes Grab. Bei ihrem zweiten Auftritt, in dem die Frau wieder mittels der nach oben fahrenden Bodenluke auf der Bühne erscheint, trägt sie eine riesige Perücke, die beinahe wie ein Schirm ihren Kopf überragt, ein schwarzes, bodenlanges Kleid und darüber einen schwarzen Umhang. Kothurne erhöhen ihre schmale Gestalt, so dass der Gegensatz zwischen der Vertikalität der Einzelfigur und der Horizontalität der Chor-Figur, die die ganze Breite der Bühnenkante einnimmt, optisch besonders herausgestellt wird. Mit diesem zweiten Auftritt der Frau, deren Text jetzt nicht mehr Ansprache an den Sohn ist, sondern Rede über ihn, über das Verhältnis der Mutter zu ihm und ihr Unverständnis gegenüber seiner Abwesenheit, hat sich auch die Funktion des Chors geändert: Er begleitet nun die Rede der Frau. Zunächst bezeugt er mit seiner schweigenden Anwesenheit die Rede der Einzelfigur. Das heißt: Das Schweigen des Chors stellt seine Funktion als Hörer und Zeuge der Szene aus. Dies wird durch den Gegensatz zum vorangehenden, 55 Zitiert nach 3sat-Dokumentation der Aufführung. 56 „Hier zum Beispiel sehen Sie gleich den Herren von dieser einen Bewegung, welche uns derzeit besonders bewegt [...] Er sagt: Der Sinn des Sports ist, daß es den Menschen nichts ausmacht sterben zu müssen, weil sie ja ohnehin für den raschen Verzehr erzeugt scheinen.“ (SP, S. 26)

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Ein Sportstück langen und klanglich wie inhaltlich überreichen Sprechen des Chors besonders herausgehoben. Schließlich beginnt der Chor, einzelne Sätze der Frau zu wiederholen, was teils wie ein (ironisches) Echo wirkt: Frau: „Es blieb der einzige Sohn. Eín Ápóll!“ Chor: „Eín Ápóll!“ Frau: „Jawóhl!“ (SP, S. 33*)

In der Wiederholung erscheint es teils wie eine Frage: Frau: „Einmal hat mir wirklich gereicht!“ Chor: „Einmal hat ihr wirklich gereicht, einmal hat ihr wirklich gereicht, einmal hat ihr wirklich gereicht.“ (SP, S. 26*)

In anderen Passagen werden chorisches Sprechen – so die Wiederholung des Satzes „Moment, das Fernsehn kommt gleich“ (SP, S. 34) – und das Sprechen der Einzelfigur übereinander gelegt. So sind zwar die Texte beider Figuren hörbar und verständlich, jedoch wechselt die Aufmerksamkeit der Zuhörer zwischen chorischem und einzelnem Sprechen hin und her, was die Wortverständlichkeit des Textes stört, verzerrt. Für die Einzelsprecherin bedeutet dies, dass sie sich mittels Anheben der Stimme gegen das gleichzeitig stattfindende chorische Sprechen behaupten muss. Während einer Passage, die allein von der Frau gesprochen wird, beginnen die Chormitglieder ihre Kutten über den Kopf zu ziehen. Nackte Beine werden sichtbar, schwarze Boxerstiefel, weite weiße Trikothosen und weiße, ärmellose Unterhemden: Unter der 'mäßigen Chor-Kleidung' (Schleef) tragen die Chormitglieder das alle Sportler in der Inszenierung bezeichnende Kostüm eines stilisierten Sporttrikots. Der Kostümwechsel bedeutet zugleich einen Bildwechsel: Das gesamte Szenenbild ändert sich. Dies verweist auf die der Chor-Figur eigene Potenz, nicht nur auf der akustischen, sondern auch auf der visuellen Ebene seine eigene Umgebung mit sich zu tragen, das heißt: sein eigener Grund zu sein. Nach dem Ablegen der schwarzen Kutten verharren die Chormitglieder in gebückter Haltung, in der die Arme nach unten hängen und die Gesichter nicht zu sehen sind. Ein Mitglied des nun als Sportler-Gruppe definierten Chores beginnt in stehender Haltung, einen Text, der bei Jelinek mit „Opfer“ überschrieben ist, in Form eines liturgischen Rezitativs zu singen. Das liturgische Rezitativ, das in der katholischen Liturgie als Priestergesang vorkommt, ist vor allem durch eine zu Satzbeginn auf- und am Satzende absteigende Melodie gekennzeichnet, während der Rhythmus des Gesangs

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Tragödie als Bühnenform sich nach dem Text und seinen Akzenten richtet.57 Dem als Rezitativ gesungenen Part antwortet der Chor – immer noch in gebückter Haltung – dem Rezitator mit einem mehrstimmigen „Bingo“, das aus fallenden und aufsteigenden Quartschritten besteht, die von Teilchören gleichzeitig gesungen werden. Dieser Klang assoziiert als akustisches Bild Glockengeläut. Das Verhältnis zwischen Chor und Rezitator ist als das zwischen Gemeinde und Priester definiert. Eine Passage aus dem Text des 'Opfers', das hier auf der klanglichen Ebene die Rolle des priesterlichen Vorsängers übernimmt, während der Rezitator auf der visuellen Ebene, durch das SportlerKostüm, als Mitglied der Sportler-Gemeinde gekennzeichnet ist, zeigt die 'Liturgie' des Sports als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln: Rezitator:

Chor: Rezitator:

„Benommen sitzen wir noch heute da, weil die Menschen zu verschieden sind und zu wenig Verschiedenheit für uns alle vorhanden ist. Wer sollte von uns singen? Keiner, wenn nicht wir! Hier zwei Eigenschaften zur Wahl, falls wieder ein Krieg ausbricht: Treue und Vergeßlichkeit. Das ergibt ein Lied im Zweiton-Windkanal. Was heult da? Bingo!“ „Bingo! Bingo! Bingo! Bingo! [...]“ „Da wir keinen mehr an unseren Grenzen hereinlassen, sind wir alle schon da und können in Ruhe an unsere Leistungsgrenzen gehen.“ (SP, S. 36f.*)

Auf einen erneuten Trillerpfeifenpfiff seitens der Frau richten die Chormitglieder sich nach diesem letzten Satz des Rezitators wieder auf. Jetzt tritt der Gegensatz der im hellen Licht gleißend weiß erscheinenden Sportler-Kleidung zur schwarzen Chor-Kleidung deutlich hervor. Die schmale, schwarz gekleidete Frau erscheint nun gegen den Chor noch höher und beherrscht die Bühnenmitte, indem sie als Figur deutlich konturiert gegen das Weiß des SportlerKostüms, das die Hautfarbe zu schlucken scheint, hervortritt. Die Mutter-Figur als singuläre Instanz ist somit auf der visuellen Ebene klar gegen den Chor der Söhne abgegrenzt. Die Chor-Figur, die in dem weißen Trikot-Kostüm an Kontur verloren hat, muss sich nun mittels Körperbewegung profilieren. Damit korrespondiert die Einführung des Bewegungselements in die Chor-Szene der Logik des

57 Die Notation des liturgischen Rezitativs ist vertikal organisiert, nicht horizontal. Das bedeutet, dass nur die Tonhöhe notiert ist, nicht die Tonlänge. Vgl.: dtv-Atlas Musik. Hrsg. von Ulrich Michels. Durchgesehene und aktualisierte Sonderausgabe des im dtv in zwei Bänden 1977 und 1985 erstmals erschienenen dtv-Atlas Musik. München: dtv, 2001, S. 114f.

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Ein Sportstück (Sport-) Stücks: Im Gegensatz zum vorherigen Chor in 'mäßiger Chor-Kleidung', der sich fest an seinem Ort, der erinnerten Orchestra, stehend behauptet, scheint sich der Sportler-Chor auch aufgrund seines visuellen Konturverlusts mittels Bewegung profilieren zu müssen. Diese dramaturgische Bedeutungsänderung der Chor-Figur wird am Ende der Szene etabliert. Das Verhältnis von Einzelfigur und Chor wird jetzt mehr und mehr als Echostruktur gezeichnet, in der der Chor einzelne Sätze der Frau wiederholt. Während einer langen Passage, in der das Sprechen der Frau von einem Summen des Chores begleitet wird, legen die Chormitglieder sich wie zum Schlafen auf den Bühnenboden. Der Gegensatz zwischen der Kontur von Einzelfigur und Chor, der schon durch den Kostümwechsel deutlich wurde, wird durch diese Position noch verstärkt. Die Vertikalität der auf hohen Kothurn stehenden, schmalen Frauengestalt wird angesichts des liegenden Chores besonders hervorgehoben. Zum Schluss der Szene wird sowohl das Sprechen der Frau wie auch das des Chors, der nun wieder aufrecht steht, lauter. Das Chor-Echo auf die Kriegs- und Selbstverherrlichung der Frau58 vervielfältigt sich. Den letzten Sätzen der Frau folgt jeweils ein dreimaliges „Hipp hipp hurra!“59 des Chors, wobei der sprachliche Jubel durch ein Hochwerfen der Arme unterstrichen wird. Diese Geste der hochgerissenen Arme wird jeweils für die Zeit des Sprechens der Frau angehalten, so dass sich ein chorisches Tableau vivant der Jubelgeste ergibt. Durch die chorischen Wiederholungen der Jubelgesten und -rufe erscheint die Ironie der 'kriegerischen' Rede der Frau wie eingefroren. Die Chor-Wiederholungen inszenieren hier die Wörtlichkeit der Rede und treiben einen Keil in die diskursive Ironie des Textes, so dass dem Genießen der bisweilen grotesken Abgründigkeit des Gesprochenen ein bitterer Tropfen beigemischt wird. So hat es weniger ironischen als vielmehr fast bedrohlichen Charakter, wenn ein rund fünfzigköpfiger Chor mit Kriegsgeschrei und lautem, rhythmisch gesprochenem Jubel60 in Richtung der dunklen Hinterbühne läuft. Während der Chor die Bühne verlässt, geht die Frau zu ihrem Auftrittsort, der Bodenluke in der Mitte der Bühne, zurück. Von mehreren Männerstimmen gesprochen wird der Befehl „fünf, sechs, sieben, acht“ hörbar, der später den Rhythmus der Sportler58 „Der Sohn soll Gefährte werden, wenn etwas dem Vaterland gefährlich. Nichts einzuwenden. Freiheit und Verbrechen. [...] Endlich ein Sport, bei dem auch ich in meinem Alter noch mitmachen kann! Krieg! Krieg! Jubeln! Freuen! Frohlocken!“ (SP, S. 43*). 59 Zitiert nach 3sat-Dokumentation der Aufführung. 60 Die Worte der Frau wiederholend zunächst: „Hipp hipp, hurra“ (SP, S. 43*), dann: „Krieg! Krieg! Jubeln! Freuen! Frohlocken!“ (SP, S. 43).

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Tragödie als Bühnenform Choreografie bestimmen wird, der ein Sport- beziehungsweise Kampftraining, wörtlich bis zum Umfallen, figuriert. Auf diesen Rhythmusbefehl antwortet der Chor mit wiederholtem Kriegsjubel. Durch diese Rhythmusangabe einer einzelnen Stimme und die chorische Antwort auf diesen Befehl wird hier zum einen die autoritäre Struktur zwischen Pfiff und Befehlsstimme vorgeführt. Zum anderen wird die in Jelineks Text behauptete Linie vom Krieger zum Sportler angedeutet, die in der nachfolgend beschriebenen Szene umgesetzt wird. Während des chorischen Kriegsjubels fährt die Frau auf der Bodenluke in die Unterbühne. Nach einem weiteren Pfiff von der Hinterbühne verklingen die Chorstimmen, man hört das Geräusch trampelnder Schritte, bis es schließlich still ist. Vom Krieger zum Sportler. Achill, Hektor und die Ankündigung des Chors Vor der zentralen Szene der Sportler-Choreografie gibt es eine Szene, in der der Chor als Figur auf dem Feld61 thematisch und formal angekündigt wird. 'Achill' und 'Hektor', die Jelineks Text als ehemalige Feldherrn und jetzige Sport- und Wirtschaftsfunktionäre kennzeichnet, sind nicht mehr im Krieg, sondern nunmehr in der Wirtschaft engagiert. In Bademänteln gekleidet, stehen sie links und rechts unter dem mit Metallplatten ausgeschlagenen Bühnenportal, das ihre Gestalten widerspiegelt, verdoppelt. Der Auftrittsort unter dem Eisernen Vorhang ist mittels eines rampenparallelen Lichtstreifens auf dem Bühnenboden als prekäres Proszenium markiert, das den Ort des Protagonisten erinnert. Hinter diesem LichtProszenium, dessen äußere Ränder von den beiden Figuren Achill und Hektor bespielt werden, liegt die Tiefe des Bühnenkastens unbestimmt im Dunkeln. Achill und Hektor verhalten sich, obwohl sie gleichzeitig anwesend sind und nacheinander sprechen, als nach-protagonistische Figuren. Weder inhaltlich noch szenisch ist ihre Rede dialogisch organisiert, sie ist kein Zwiegespräch im Sinne einer wechselseitigen Ansprache. Das nicht-dialogische Moment des Textes schreibt sich in das Sprechen der Figuren ein: So schreit Hektor: „Schreien Sie doch nicht“ (SP, S. 132*), obwohl niemand geschrien hat. Wenn Achill am Ende der Szene konstatiert: „Sie schweigen nicht. [...] Sie schweigen nicht. Sie schweigen einfach nicht“ (SP, S. 137), wird die

61 Der Begriff Feld ist in diesem Zusammenhang in seinen verschiedensten Bedeutungen aufzufassen: als sportliche Wettkampfarena bzw. Spielfeld, als Schlachtfeld sowie auch, im Hinblick auf die theatrale Wahrnehmung, als strukturiertes Feld, in dem das Phänomen, hier: die rhythmisiert sprechende und sich bewegende Chor-Figur, auftritt.

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Ein Sportstück Illusion eines Dialogs endgültig ad absurdum geführt, da niemand außer ihm gesprochen hat. Während der Szene erscheint plötzlich ein zweiter, zum vorderen parallel verlaufender Lichtstreifen vor der dunklen Brandmauer. Dieser spiegelt zum einen den fragilen Ort des Licht-Proszeniums unter dem Bühnenportal in der zuvor unbestimmten Bühnentiefe. Zum anderen begrenzt der zweite Lichtstreifen das Spielfeld, als das die Bühne hier definiert ist, nach hinten. An diesem hinteren Lichtstreifen tritt ein großer Chor auf, der einen von Hektor gesungenen Satz aufnimmt und wie ein Echo weiterträgt. Der Bezug des Einzelnen zu 'allen', den der Text als „Zwangsmitgliedschaft“ (SP, S. 128) definiert62, wird somit durch das chorische Echo szenisch transportiert. Die chorische Wiederholung liegt für eine ganze Weile unter dem Sprechen der Einzelfiguren. Der Textverlauf, die Redeblöcke der beiden Figuren werden immer wieder unterbrochen durch ritualisierte Einzüge des Chors: Auf einen Pfiff Achills beziehungsweise Hektors gibt es ein Black auf der Bühne, worauf ein zweiter Pfiff ertönt und der Chor im Dunkeln das Feld einnimmt, das zuvor durch die beiden Lichtstreifen markiert wurde. Auf der Ebene des Textes wird die Metapher des Feldes ausgelotet, indem die verschiedenen Bedeutungen des „Feld“-Begriffs gegeneinander gesetzt werden. Zunächst wird behauptet, dass das „Feld der Geschichte“ als nicht mehr existent behauptet, wobei die Abschaffung der Geschichte als innovative Entwicklung erscheint: „Es ist doch eine schöne Erfindung, dass die Menschen nicht ihr Leben aufs Feld der Geschichte streuen müssen“ (SP, S. 131).

Die Opfer der als ehemalig definierten „entsetzlich blutigen Schlachten der Geschichte“ (SP, S. 131) lebten jedoch als Untote weiter auf dem Schlachtfeld des Geschlechterkampf, so Hektor: „Die Opfer sind doch alle längst gefallen und federnd wieder aufgestanden. Diesmal allerdings auf dem Feld der Ehe.“ (SP, S.134)

Schließlich konstatiert der Text den Übergang vom Schlachtfeld zum Sportfeld, so Hektor: „Keiner von uns geht freiwillig ins Freie, es sei denn, er wollte ein paar Runden schwimmen, in einen Golfkrieg ziehen, joggen oder sich in ein trojanisches Seitpferd einspannen lassen.“ (SP, S. 129)

62 „Ja, was früher einzelne Menschen geleistet haben, können wir heute allein unserer Organisation zuschreiben, die für jeden einzelnen Menschen steht. Wir haben so viele Mitglieder, wie es Menschen gibt.“ (SP, S. 129)

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Tragödie als Bühnenform Zwar behaupten die ehemaligen Feldherrn ihre eigene Machtlosigkeit mit Bezug auf die Idee der in einer Einzelfigur verkörperten Souveränität, die es anscheinend nicht mehr gebe, so Hektor: „Das Mittel des Machthabers ist das Recht über Leben und Tod. Unser Recht ist nicht einmal eins über Mitgliedschaft oder nicht, denn alle müssen ja Mitglieder sein.“ (SP, S. 131)

Der ausgesprochene Wille zur Machtausübung erscheint jedoch ungebrochen: „Von Sieg zu Sieg überleben wir, aufeinander eingespielt. [...] Jedem, der siegt, gehört das ganze Feld an Menschen, die [...] gewerbetreibend sind.“ (SP, S. 129)

Der Text der nicht-protagonistischen Figuren beschreibt die Herrschaftsverhältnisse als undurchsichtig, Machtverteilung und Partizipation scheinen nicht durch Einzelne steuerbar. Die Inszenierung kommentiert und konterkariert diese gesellschaftspolitische Diagnose, indem sie, mittels der Pfiffe auf der Trillerpfeife, auf die hin der Chor auf- und abtritt, ein klares Machtverhältnis zeichnet: Die ehemaligen Feldherrn beziehungsweise Sport- und Wirtschaftsfunktionäre sind hier die Befehlsgeber, die über das „ganze Feld an Menschen“ herrschen, das hier der Chor vorstellt. Nachdem der Klang der Schritte verhallt ist, die Chormitglieder ihre Plätze eingenommen haben, wird die gesamte Bühne wiederum in parallel zur Rampe verlaufende, nach hinten gestaffelte Lichtstreifen eingeteilt, so dass – in Bezug auf die szenischen Orte – ein nicht-hierarchisierendes Schwarz-Weiß-Muster des Bühnenbodens entsteht. Die Chormitglieder stehen in Reihen vom vorherigen LichtProszenium zwischen Achill und Hektor auf den Lichtstreifen bis zur Brandmauer. Sie haben „das ganze Feld“ eingenommen. Der Chor, der sich auf der visuellen Ebene als Tableau vivant63 formiert, erscheint in seiner schweigenden, reglosen Anwesenheit auf der Bühne als Hörer und Zeuge der Redeszene Achills und Hektors, die fortgesetzt wird, bis wieder ein Pfiff ertönt, auf den sich alle Chormitglieder in einem Sprung umdrehen. Gleichzeitig wird es hinter dem Licht-Proszenium dunkel. Auf einen erneuten Pfiff verlässt der Chor die Bühne. 63 Dabei geht es in Schleefs Formzitat der Tableau vivant-Tradition weniger nicht um die Wiedererkennung eines von lebendigen Menschen nachgestellten Bildes, als vielmehr um das theatralische Festhalten von Gesten, um die „skulpturale Präzision der Gesten“ (vgl. Lehmann über Robert Wilson in: Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. A.a.O., S. 293, Hervorhebung im Original).

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Ein Sportstück Dieser ritualisierte Chor-Auftritt geschieht viermal, wobei die Kostüme jeweils wechseln: Beim ersten Auftritt erscheinen die Chormitglieder in schwarzen, glänzenden Hosen und ärmellosen schwarzen T-Shirts, einer Art stilisierter Kampfsport-Kleidung. Das Freeze des Chors, das in seinem langen Anhalten zu einem Tableau vivant wird, ergibt sich aus einer Kampfpose: einer chorischen Geste, in der zu einem Kampfruf ein Arm nach vorne gestreckt wird. Der zweite Auftritt erfolgt genauso, nur dass der Chor hier kurze Hosen trägt, die denen des weißen Sportler-Kostüms gleichen. Beim dritten Auftritt tragen die Chormitglieder verschiedenfarbige, stilisiert historische Uniformjacken, so dass sie in der festgehaltenen Geste wie Zinnsoldaten erscheinen. Die weißen weiten Trikothosen sind die gleichen wie die des bereits etablierten Sportler-Kostüms. Das Einzugsritual des Chors variiert dahingehend, dass auf den Schrei und die Kampfpose von einer Stimme aus dem Chor der Befehl „eins, zwei“ gerufen wird. Darauf folgt ein weiterer Kampfschrei, auf den die Arme an den Körper gelegt und die Köpfe nach oben gestreckt werden: lebendig gewordene Zinnsoldaten oder zu Soldaten erstarrte Sportler. Beim vierten Auftritt des Chors fallen Schrei und Kampfpose aus. Die Chormitglieder tragen graue (Feld-) Uniformen, nur Mäntel, keine Hosen: unter der Uniform der nackte, verletzliche Körper. Sie stehen breitbeinig, mit hängenden Armen, die Köpfe nach unten geneigt. Keine Sieges-, nicht einmal eine Kampfpose – Soldaten des 20. Jahrhunderts. Die Bildhaftigkeit dieser Szenen des schweigenden, frontal zum Publikum still stehenden Chors, die Rahmung dieser Szene zum Tableau, wird allerdings dadurch verunsichert, dass das scheinbare Bild des Chors zeitlich fragil ist, sich sozusagen jederzeit in Bewegung setzen kann. Am Schluss der Szene der ehemaligen Feldherren gehen die beiden Schauspieler auf dem Licht-Proszenium aufeinander zu, geben sich die Arme und sprechen chorisch: „unser Spiel zuende. Ich beantworte keine Ihrer Fragen mehr.“ (SP, S. 137) In ihrem chorischen Sprechen kündigt sich noch einmal das zentrale Thema der nachfolgenden Szene an: das Verschwinden der Einzelfigur. Das „Spiel“ mit der Geschichte der mythischen Figuren Achill und Hektor ist „zuende“, so Ein Sportstück. Die ehemaligen Protagonisten, so scheint die Aufführung zu suggerieren, verschwinden im Folgenden gänzlich in der Chor-Szene, welche die soeben analysierte „Zwangsmitgliedschaft“ jedes Einzelnen in der einzig von ökonomischen Verteilungskämpfen strukturierten Gesellschaft auf ganz eigene Weise bearbeitet.

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Tragödie als Bühnenform Der SportlerSportler-Chor. Herausforderung der theatralen Wahrnehmung Auf die Exposition der Figur des Chores auf dem Feld in der Szene der nach-protagonistischen Figuren 'Achill' und 'Hektor' folgt die Szene des Sportler-Chors. Die circa 40-minütige64 Sprech- und Bewegungschoreografie zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass das chorische Sprechen hier durchgängig der körperlichen Bewegung, dem Bewegungsrhythmus nachgeordnet ist. Da dieser Umstand die theatrale Wahrnehmung in spezifischer Weise herausfordert, soll diesem Aspekt in der nachfolgenden Beschreibung der Chor-Figur mit besonderer Aufmerksamkeit nachgegangen werden.

Exposition: Bühne, Kostüm, Licht und Bewegung Nach dem chorischen Schluss des vorangegangenen „Spiels“ mit den zitierten antiken Protagonisten Achill und Hektor gibt es auf der Bühne ein Black. Nach einem langen Pfiff auf einer Trillerpfeife werden vielzählige Schritte hörbar: Im Dunkeln nimmt der Chor das Feld ein, das in der vorangehenden Szene der ehemaligen Feldherrn thematisiert wurde. Nach einem weiteren Pfiff wird es still. Darauf wird der gesamte Bühnenboden wieder in parallel zur Rampe verlaufende, beleuchtete und nicht-beleuchtete Streifen eingeteilt, von der Brandmauer bis zur Bühnenrampe. Der vorderste Abschnitt der Bühne, der halbrund mit der Bühnenkante abschließt, ist – ebenso wie in der Szene zwischen großem Chor und Frau – hell erleuchtet. 48 Männer und Frauen stehen in sechs Reihen hintereinander, frontal zum Publikum, auf den dunklen Streifen der Bühne, zwar im Schatten, aber dennoch gut sichtbar. Im Gegensatz zum vorherigen Auftritt des Chors hinter dem vorderen Licht-Proszenium von Achill und Hektor, also hinter dem Bühnenportal, nimmt der Chor hier den gesamten Bühnenkasten und die Vorderbühne ein, bis zur Rampe. Die Chormitglieder sind jetzt durch ihr Kostüm als Sportler gekennzeichnet: weiße weite, kurze Trikothosen, schulterfreie weiße Unterhemden und schwarze Boxerstiefel. Dieses stilisierte Sporttrikot zeigt zwar die Körper der einzelnen Schauspieler, stellt diese jedoch nicht sexualisiert aus. Indem es weder historisch noch realistisch erscheint, bleibt es absolut Kostüm – und behauptet als solches die Theatralität der Szene. Nach dem Anpfiff und der Aufstellung des Chors auf der Bühne ruft eine Stimme aus dem Chor den Rhythmus, der die nächsten vierzig Minuten sowohl die Körperbewegung als auch das Sprechen

64 Diese Zeitangabe muss deshalb eine ungefähre bleiben, da die Beschreibung sich zwar auf die 3sat-Dokumentation stützt, diese jedoch die von Aufführung zu Aufführung schwankende Dauer insbesondere dieser Szene nicht festhält.

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Ein Sportstück bestimmen wird: „Fünf, sechs, sieben, acht“. Darauf beginnen die Sportler ihr „Gruppentraining“ (SP, S. 130), das heißt: Der SportlerChor beginnt zu sprechen und einen an ein Boxtraining erinnernden Bewegungsablauf auszuführen. Das in der SportlerChoreografie theatralisierte, kollektive Boxtraining korrespondiert mit dem Inhalt der hier chorisch gesprochenen Texte einzelner nicht namentlich gekennzeichneter Stimmen65, die den (gewaltsamen) Zusammenschluss vieler zu einer wiederum gegen Nicht-Mitglieder gewalttätigen Gruppe thematisieren, die als ebenso kontingent wie zeitlich fragil erscheint. Die auf der Ebene des Textes thematisierte Fragilität der Gruppenkonstitution wird theatralisch so umgesetzt, dass der Chor sich immer wieder in Teilchöre und einzelne Stimmen aufteilt. Die während der ganzen Szene gleichzeitig von allen Schauspielern durchgeführte Choreografie der Körperbewegung hingegen setzt den außersprachlich angenommenen Gruppenrhythmus als Chorkonstitution auf der Ebene der Körper in Szene. In der Anfangssequenz der Sportler-Szene sprechen alle Chormitglieder den folgenden, dreimal wiederholten Text: „Was hát man uns da héute auf die T´ürschwelle gelégt? Das bewégt sich ja nóch! Das trópft! / Hát sich da étwa ein Gewíssen gerégt, / Ímmerhin ein gútes Gef´ühl, / sóviel Gewíssen nach Sámmlertätigkéit / síeben, ácht“ (SP, S.161*).

Auf diesen Text wird ebenfalls dreimal dieselbe Bewegungskette ausgeführt, die immer auf „acht“ endet: Mit stilisierten Boxgesten treten die Chormitglieder nach hinten, nach vorn, zur Seite, bücken, krümmen und drehen sich, richten sich auf und beginnen wieder von neuem. Aus dem Vor- und Zurücktreten der Chormitglieder ergibt sich, da alle entweder auf beleuchteten oder nicht-beleuchteten Streifen der Bühne stehen, ein ständiges Spiel mit Licht und Schatten, das auf der visuellen Ebene als ein beständiges Auf- und Abtreten der Chor-Figur beschrieben werden kann. Das bedeutet auch, dass diese Form des Auftritts keinem technischen Lichtwechsel geschuldet ist, sondern von der Figur selbst ausgeht, von den sich im selben Rhythmus bewegenden, denselben Bewegungsablauf ausführenden Körpern der Schauspieler. Im Licht erscheint das Weiß des SportlerKostüms beinahe gleißend hell, so dass es die Hautfarbe der Chormitglieder zu schlucken scheint – ganz im Gegensatz zu der von 65 In Jelineks Stück ist die hier chorisch umgesetzte Rede entsprechend mit Figurenbezeichnungen überschrieben wie: „Frau [...] Tritt, schaut, tritt ein Opfer“, „Sportler“, „Anderer Sportler tritt“, „Ein anderer tritt“, „Ein anderer tritt hinzu, tritt auch“ usw. (vgl. SP, S.137ff., Hervorhebung im Original).

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Tragödie als Bühnenform Schleef so genannten 'mäßigen Chorkleidung', die im ersten Chorauftritt der Inszenierung eingesetzt wird: Kontrastierend zum Kostüm des Sportler-Chors heben dort die bodenlangen, schwarzen Kutten die Haut, die Gesichter der Chormitglieder und damit deren Bewegungen beim Sprechen besonders hervor.

Chor und Teilchöre Nach der dreimaligen Wiederholung der zitierten Anfangspassage beginnt der Sportler-Chor einen neuen, längeren Bewegungsablauf. Weitere Bewegungselemente kommen hinzu, die eine Mischung aus Boxtraining, Schattenboxen, Gymnastik, Turnübungen und Bodybuilding assoziieren: Schrittsprünge, Drehungen, Knieanziehen, Boxstellung, Armbewegungen nach oben und hinten, Armkreuzen, Kreis- und Tretbewegungen. Auch in der Ausgangsstellung dieses Bewegungsablaufs stehen die Chormitglieder, wie zu Beginn der Szene, auf den unbeleuchteten Streifen des Bühnenbodens, frontal zum Publikum gerichtet. Mit diesem zweiten Bewegungsablauf, der ebenfalls das chorische Sprechen rhythmisiert, beginnt die Aufteilung des Chors in verschiedene Sprechgruppen, die stets variieren. So spricht ein Teilchor der Frauen abwechselnd mit einem Männer-Teilchor, worauf der große Chor sich wieder zusammenschließt – zum Beispiel auf den häufig wiederkehrenden Ausruf: „Entsetzen, Entsetzen, sieben, acht“66. Mal spricht eine Einzelstimme, mal ein Teilchor ganz vorne, dann einer ganz hinten. Mal gibt ein Frauenchor den Sprech- und Bewegungsrhythmus „sieben, acht“ vor, während gleichzeitig ein Männerchor eine Textpassage spricht. Bei einer häufig wiederkehrenden, vom gesamten Chor gesprochenen Textpassage wiederholen die Männer viermal den Satz: „Entsetzen greift um sich, ergreift was und wen es will“ (SP, S. 152), während die Frauen „Entsetzen, Entsetzen“ sprechen. Diese geschlechtsspezifische Aufteilung des Chors rekurriert auf das in Jelineks Stück durchgeführte Motiv des Geschlechterkampfs. Zudem wird es hier mit einem Zitat aus Kleists Penthesilea verknüpft – mit der chorischen Reaktion der Amazonen auf die Zerstückelung Achills durch Penthesilea, die sich durch wiederkehrende Ausrufe des „Entsetzens“ kennzeichnet.

Sprechrhythmus und Bewegung, Sinn und Klang Was sich auf der visuellen Ebene als beständige Verschiebung des Phänomens Chor beschreiben lässt, die sich aus seinem Aus-demLicht- und Ins-Licht-Treten ergibt, ereignet sich ebenso auf der akustischen Ebene: Ein auf durchgängige Wortverständlichkeit, ein

66 Zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Ein Sportstück ausschließlich auf den Wortsinn gerichtetes Hören wird verunmöglicht, indem das Sprechen nicht dem Textsinn, sondern dem Bewegungsrhythmus folgt. Zu fragen ist also, wie dies geschieht, und was man hört, wenn das Hören nicht dem semantischen Sinn des gesprochenen Textes folgt beziehungsweise folgen kann. Wie changiert das Hören zwischen einem auf den Sprachsinn gerichteten Zuhören und einem eher als musikalisch zu beschreibenden Hören, das die Wahrnehmung auf die Aufführung des Klangs der Sprache lenkt? Um das Changieren zwischen diesen beiden Hörweisen, die beständige Verschiebung der Aufmerksamkeit zu verdeutlichen, die der Sportler-Chor auch auf der akustischen Ebene provoziert, seien zunächst einige Formen des chorischen Sprechens näher skizziert. Das Sprechen des Sportler-Chors ist grundsätzlich der körperlich ausgeführten Choreografie unter- beziehungsweise nachgeordnet. Dies wird deutlich, wenn ein Satz, den ein Teil des Chores spricht, von einem anderen Teilchor unterbrochen oder überlagert wird, indem dieser den Rhythmus „sieben, acht“ in den Satz hineinspricht, so zum Beispiel: „[A]uch ich hab eine Mutter, aber mir / würde es nicht einfallen, sie mit einem Messer zu zerstückeln, ihren Kopf dann in die Auslage ihrer kleinen Wäscheboutique / sieben, acht / zu stellen“ (SP, S. 176*).

Durch die Zäsur der Rhythmusangabe „sieben, acht“ wird der Satz hier in nicht-sinnvolle Teile getrennt, so dass der Rhythmus des Sprechens als dem Verlauf des Textes vorgeschaltet erscheint. Dieser Eindruck ergibt sich ebenso durch Zäsuren, die mitten im Satz, nicht nach Sinneinheiten, gesetzt sind, so zum Beispiel: „Selbst papierene Bescheide / können / uns / wie / Keulen / schläge / treffen. / Plötzlich, aus dem Nichts, springt ein Feuer auf uns zu, / tolpatschig, / tapsig, / umarmt uns auf unserem Balkon / ein sorgsam gedüngtes Gewächs, ein liebes Tier, ein neues Möbelstück, umarmt das Grillgut auf der Bahre.“ (SP, S.143*)

So wie die Zäsuren in den Sätzen das Sprechen verlangsamen können, wie im ersten Satz des oben stehenden Beispiels, kann das Nichtvorhandensein von Zäsuren das Sprechen beschleunigen, was im letzten Teil dieses Beispiels der Fall ist. Zäsuren oder Pausen zwischen einzelnen Worten können zunächst eine den Textsinn desemantisierende Wirkung haben, während umgekehrt Zäsuren zwischen einzelnen Satzteilen zumeist Sinn verstärkend wirken. Beschleunigung und Verlangsamung, der Einsatz von Pausen oder das ausdrückliche Fehlen derselben stehen jedoch nicht unbedingt im Dienst der Desemantisierung der gesprochenen Sprache. Vielmehr bewirken sie zunächst deren Rhythmisierung. 81

Tragödie als Bühnenform Ein Mittel der Musikalisierung des Sprechens ist die Formung eines akustischen Bilds durch die Stimme, so zum Beispiel im folgenden, vom einem Teilchor der Frauen gesprochenen Satz: „[D]a / fragt / mich / mein / O / pfer / nach / der / Uhr / zeit / Uhr / zeit / Uhr / zeit“ (SP, S. 154*).

Durch die ausgestellt höhere Tonlage des Wortteils „Uhr“ im Verhältnis zu „-zeit“ klingt das Sprechen hier wie das Pendel einer Standuhr. Der akustische Eindruck eines Uhrpendels wird zudem durch die gleichförmigen Zäsuren und die Wortwiederholung betont. Rhythmisierung und Betonungen des Sprechens machen die Uhr geradezu hörbar, die die Zeit misst. Die Hervorhebung der Zeitmessung, der bemessenen Zeit in diesem akustischen Bild korrespondiert mit der inhaltlichen Ebene des Textes, die die Uhr als Metapher der Endlichkeit des Einzelnen einsetzt. So heißt es hier weiter: „[I]ch kann nur sa / gen, die Zeit ist abgelau / fen / lau / fen / lau / fen“ (SP, S. 154*).

Der Text thematisiert hier den Gegensatz zwischen der individuellen Lebenszeit des einzelnen Menschen – als desjenigen, der das Opfer sein wird – und der unabhängig vom Einzelnen weiterlaufenden Zeit, die hier von der Figur des Chors vertreten wird. Ein anderes akustisches Bild, das den Zusammenhang von phantasmagorischen Kollektivfiguren („Wir“) und sozialem Ausschluss thematisiert, formt ein Teilchor der Männer mit dem Text: „Wenn eine Bewegung kommt und uns bewegen will, werden wir das auf jeden Fall ohne Scheu tun. Weil wir uns gern bewegen. Wir warten nur drauf! Unsre Körper warten auch drauf.“ (SP, S. 160*)

Mit tiefer Stimme wird der Text hier halb gesungen, halb gesprochen, in der Art akustischer Gleichförmigkeit, die an Sprechgesänge betrunkener Fußballfans oder auch neonazistischer Männergruppen erinnert. In dieser Verknüpfung von Geschlechtertrennung beziehungsweise Ausschluss der Frau und akustischer Umsetzung greift das chorische Sprechen ein Motiv des Sportstück-Textes auf, das um das Warten auf eine 'Bewegungskultur' kreist, der man sich anschließen will. Diese „Bewegung“, die man in einer Gruppe ausführen möchte, ist in der Choreografie der Sportler-Szene wiederum auf der Ebene der Körper präsent. Der phantasmatischen „Bewegung“ von Kollektivkörpern stellt Jelineks Stücktext den bewegungslos vor dem Bildschirm oder im Auto sitzenden Körper des Einzelnen gegenüber, der allenfalls von Trainingsgeräten im Fit82

Ein Sportstück nessstudio bewegt wird, um der Entsprechung mit seinem Bild, dem medialen Vorbild näher zu kommen. Schleefs Inszenierung konfrontiert diese aporetischen Körperbilder der „Mut- und Mutterlose[n]“ (SP, S. 27) mit dem chorischen Sprechen, in dem der mitgeteilte Körper – im Gegensatz zum Körperbild – als Form der Veröffentlichung aufscheint. Die Form dieses mitgeteilten Körpers erscheint als Polyvozität der Chor-Figur. Damit spielt die Figur des Chors – im Gegensatz zu den Bildern des Körpers, die Jelineks Text als aporetische beziehungsweise unmögliche Formen zeichnet –, vielmehr auf der auditiven Ebene als im Visuellen.

Polyvozität und Räumlichkeit des Chors Die Polyvozität des Chors bedeutet einen entschiedenen Einspruch gegen die Metapher der Einstimmigkeit, die in der Beschreibung der Chor-Figur oft verwandt wird. Wie die Chöre Aischylos’, in denen mal die Chorführer als Einzelstimmen, mal auch einzelne Chormitglieder nacheinander auftreten, an anderer Stelle einzelne Chorgruppen gegeneinander gesetzt sind, dann wieder alle Stimmen des gesamten Chors gleichzeitig denselben Text sprechen67, so inszeniert auch Schleef, insbesondere in der Choreografie der Sportler, die Vielstimmigkeit der Chor-Figur in ihren verschiedensten Auftrittsformen. Dabei ergibt sich, auch im gleichzeitigen Sprechen desselben Textes durch alle Schauspieler, nie der Eindruck einer Einstimmigkeit. Gerade durch die skizzierte Vielfältigkeit des chorischen Sprechens – die Aufteilung des Chors in Teilchöre und Chorgruppen, die die Reihen der Choraufstellung räumlich überschreiten, die beständig wechselnde Zusammenstellung der Chorgruppen, die klangliche Variabilität des Sprechens, durch den Auftritt einzelner Stimmen, die aus dem Chor herausragen, sowie nicht zuletzt auch durch die Dauer der Szene und die damit einhergehende kör-

67 Zur Aufteilung des Chors in Teilchöre vgl. Sieben gegen Theben (V.875ff.), zum Auftritt einzelner Chorstimmen bzw. Choreuthen nacheinander vgl. Agamemnon (V. 1348ff.), zum Heraustreten der Chorführer und (zumeist) Chorführerinnen als einzelner Stimme aus dem Chor vgl. alle überlieferten Tragödientexte Aischylos’, zur Konfrontation verschiedener Chorgruppen vgl. Die Schutzflehenden/Hiketiden (V. 1018ff.), zur Inszenierung der Vielstimmigkeit als Durcheinander vgl. Die Eumeniden (V. 140ff.); alle in: Aischylos, Tragödien. A.a.O. Das letztgenannte Mittel der Chor-Figur der antiken Tragödie – neben dem der Aufteilung in Teilchöre und Halbchöre sowie der Konfrontation verschiedener, nacheinander auftretender Chorgruppen –, die Form eines (scheinbar) ungeordneten Durcheinanders der Chorstimmen, verwendet auch Bach in seinen Passionen häufig zur Darstellung von Streitszenen.

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Tragödie als Bühnenform perliche und stimmliche Anstrengung –, tritt die Verschiedenheit der (einzelnen) Stimmen und mithin die Vielstimmigkeit der ChorFigur insbesondere in dieser Szene hervor. Des Weiteren wird durch die Aufteilung des Chors in ständig wechselnde Teilchöre auch die Dimension der klanglichen Erfahrung des Raums hervorgehoben. So ertönen die Stimmen der hinteren Chormitglieder entsprechend leiser als die der näher an der Bühnenkante positionierten. Auch diese räumliche Erfahrung des chorischen Sprechens bewirkt ein Changieren zwischen einem auf den Textsinn orientierten und einem zuerst auf den Klang gerichteten Hören der Stimmen. Die Tatsache, dass die Teilchöre räumlich die Reihen überschreiten, in denen die Chormitglieder auf der Bühne angeordnet sind, dass sie also keine fest gefügten Blöcke bilden, erschwert zudem die Zuordnung der Stimmen zum Ort der jeweiligen Sprecher und unterläuft somit auch ein identifizierendes Hören. Es bleibt eine beständige Spannung zwischen einer möglichen Zuordnung der Stimmen zu den Körpern der jeweiligen Sprecher und deren Verunmöglichung. Somit tritt durch die räumliche Aufteilung des bewegten, sprechenden Chors auf der als Feld definierten Bühne einerseits die Vielstimmigkeit der Chor-Figur hervor sowie andererseits deren Räumlichkeit.

Der Chor im Guckkasten. Fehlender Fluchtpunkt und „aufmerksames Auge“ Auf der visuellen Ebene verunmöglicht gerade die Räumlichkeit der Chor-Figur – in Zusammenarbeit mit seiner Bewegtheit und der beschriebenen Schwarz-Weiß-Einteilung der Bühne –, ein einheitliches 'Bild' des Chors. Schon dem unbewegt auf dem Bühnenfeld stehenden Chor ist eine gewisse Unübersichtlichkeit zueigen: Von keinem Punkt des Zuschauerraums aus sind alle Chormitglieder gleichzeitig und vollständig sichtbar. Dieser Umstand wird von der ständigen Bewegtheit des Sportler-Chors zusätzlich unterstützt. Die Unmöglichkeit, den Chor, als einheitliches Objekt, in den Blick zu nehmen, verweist auf die von Schleef als Problem der Zentralperspektive konstatierte Tatsache, dass eine Gruppe nicht im Fluchtpunkt erscheinen könne – weswegen es in der Malerei der italienischen Renaissance keine Gruppendarstellungen mehr gebe, so Schleef, sondern Figurenkompositionen.68 Ein nach Albertis Definition des Bildes (als 'Blick durch ein geöffnetes Fenster') organisierter, zentralperspektivischer Fluchtpunkt müsste das zu sehende Objekt punktuell in Erscheinung treten lassen. Dieses Abbildungsprinzip läuft jedoch der vielköpfigen, räumlichen Figur des Chors

68 Vgl. DFP, S. 167.

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Ein Sportstück zuwider, so dass die Figur selbst ihre Abbildlichkeit (nach diesen Maßgaben) unterschreitet. Schleef radikalisiert den Widerspruch zwischen der Räumlichkeit der Chor-Figur und den nach 'rein optischen' (Haß) Maßgaben der Abbildlichkeit organisierten Bühnenräumen, die das Bühnenportal als Bildfläche – und die Schauanlage der Bühne, nach dem Vorbild der Keplerschen Definition des Netzhautbildes, als 'totes Auges' (Haß) – definieren, während der dahinter liegende Raum69 im eigentlichen Sinn undefiniert bleibt. Schon die Installation des einzelnen Schauspielers, der, so Haß, nach dem 'Modell des Blicks' funktioniere, auf einer Bühneneinrichtung, die – wie noch im Fall des Guckkastens – allein dem 'Modell des Auges' folge, eröffnet einen unhintergehbaren Widerspruch für die theatrale Wahrnehmung. Schleef markiert diesen Widerspruch in seiner These der Vertreibung des Chors aus dem europäischen Theater, die er als eng mit der neuzeitlichen Erfindung der Zentralperspektive verknüpft sieht. Indem er die Chor-Figur im Theater des Guckkastens auftreten lässt, wird dieser für die neuzeitliche theatrale Wahrnehmung konstitutive Widerspruch radikalisiert und sichtbar gemacht: Indem der Chor, der weder mit den das 'Paradigma der Perspektive' bildenden Darstellungs- und Wahrnehmungsdiagrammen von Auge und Blick (Haß) verbunden ist, sondern vielmehr mit dem vielstimmigen Sprechen als Form der Veröffentlichung und somit mit seinem Gehörtwerden, scheint die Neufindung der Chor-Figur in Schleefs Theater das 'Primat des Visuellen' selbst in Frage zu stellen. Insbesondere die Szene der Sportler-Choreografie problematisiert diese Frage nach der visuellen Wahrnehmung im Theater, indem hier, so scheint es, beide perspektivischen Sichtbarkeitsmodelle, das des 'Auges' und das des 'Blicks', sich wechselseitig dekonstruierend, gegeneinander gelegt werden. Zunächst arbeitet Schleef gegen den zentralisierten Blick auf die Bühne, den er unter dem Begriff des 'Fluchtpunkts' beschreibt, indem der gesamte Bühnenboden in das durch parallel zur Rampe verlaufende Lichtstreifen gebildete Schwarz-Weiß-Muster eingeteilt wird. Somit ergibt sich auf dieser Bühne keine perspektivische Staffelung, kein trichterförmiger 'Sog' (Schleef), der die Figuren als einzelne in einen hinter ihnen liegenden Fluchtpunkt zieht. Die Sportler-Choreografie betont nicht nur die horizontale Ausdehnung der Chor-Figur über die gesamte Breite der Bühnenöffnung – wie der erste Chorauftritt in Ein Sportstück. Mit der Ausdehnung der Figur über die gesamte Bühne, von der Bühnenrampe bis zur abschließenden hinteren Wand, wird zudem die Räumlichkeit der Chor-

69 Nicht nur der im Guckkasten eigentliche, weil sichtbare 'Bühnenraum', sondern auch Seiten-, Hinter-, Ober- und Unterbühne.

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Tragödie als Bühnenform Figur in besonderer Weise hervorgehoben. Hinzu kommt die Bewegung des Chors, die eine mögliche Fokussierung des Blicks zusätzlich erschwert. Ein perspektivischer Bildaufbau nach dem Prinzip eines zentrierten Fluchtpunkts, das Alberti in seiner Metapher des Fensters beschreibt, wird so dekonstruiert. Von der Bewegung des Chors ausgehend, setzt sich das Auge des Betrachters, der der Szene folgt, ebenfalls in Bewegung. Aufgrund der Unmöglichkeit, den Chor als ganze Figur im Blick zu fixieren, beginnt das Auge zu wandern, wie es Svetlana Alpers in ihrer Analyse der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts unter dem Begriff des 'aufmerksamen Auges' beschrieben hat.70 Im Gegensatz zur perspektivischen Malerei der italienischen Renaissance, auf die auch Schleefs Analyse des Fluchtpunkts rekurriert, sei die Aufmerksamkeit der holländischen Darstellungskunst vielmehr auf die Flächigkeit des Bildes, auf das gleichzeitige Nebeneinander vieler Details, nicht auf eine Figur im Zentrum des Bildes gerichtet. Dies spiegele sich auch im häufigen Fehlen eines festen Betrachterstandpunktes sowie der Abkehr vom Prinzip des vorausgesetzten Rahmens wider. Die nicht-hierarchische Gliederung der dargestellten Objekte im Bild sowie dessen fehlende Rahmung und Zentriertheit richte sich, so Alpers, an das 'aufmerksame Auge'71 des Betrachters, das die Oberfläche des Bildes gleichsam abtaste und zwischen den einzelnen auf die Bildfläche gezeichneten Dingen hinund herwandere. Die Szene des Sportler-Chors scheint die visuelle Wahrnehmung nach der Logik eines 'aufmerksamen Auges' geradezu herauszufor-

70 Vgl. Svetlana Alpers, Kunst als Beschreibung. A.a.O. Zur Gegenüberstellung der 'Malerei des Nordens' nach dem Prinzip des 'aufmerksamen Auges' und der des 'Südens' (Alpers) in Bezug auf die 'Diagramme von Auge von Blick' (Haß) vgl. Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. A.a.O., S. 28ff. 71 Dieses 'aufmerksame Auge', das Alpers zugleich mit den technischen Entwicklungen der optischen Geräte im 17. Jahrhundert und dem „körperlosen Auge hinter dem Guckloch eines holländischen Guckkastens“ (Alpers, Kunst als Beschreibung. A.a.O., S. 167f.) in Verbindung bringt, macht die Autorin zugleich im Bild aus, wie sie insbesondere in der Analyse einer Zeichnung von Jacques de Gheyn verdeutlicht (vgl. ebd., S. 170f.). „Das Signum des aufmerksamen Auges, das dieses Blatt gezeichnet hat“ (ebd., S. 171), finde sich in de Gheyns Zeichnung „Alte Frau und Blattranken“ zweifach als gezeichnetes Auge wieder. Diese Auffassung des Auges im Bild ist für Alpers paradigmatisch für die holländische Darstellungskunst – im Gegensatz zur italienischen Renaissancekunst: „Das Auge des nordischen Betrachters befindet sich inmitten der dargestellten Welt, während der südliche Betrachter in gemessenem Abstand steht, um alles zu erfassen.“ (Ebd., S. 170).

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Ein Sportstück dern. Das Bühnenportal ist hier nicht als (Bild-) Rahmen der Szene definiert, die sich 'dahinter', perspektivisch gestaffelt und um ein punktuelles Zentrum gruppiert, abspielen würde. Die Rahmenfunktion des Bühnenportals ist vielmehr dadurch aufgehoben, dass die Szene die gesamte Bühne, von der Rampe als deren äußerster Kante bis zur Brandmauer (im Burgtheater) beziehungsweise zur abschließenden Bühnenwand (im Schiller Theater), bespielt wird. Ein Fluchtpunkt, und damit ein figurales Zentrum, ist für die Szene des Sportler-Chors nicht definiert, wodurch auch der Standort eines angenommenen Betrachters unbestimmt bleibt. Dieser kann sich überall befinden. Die nicht-hierarchische Gliederung dessen, was zu sehen gegeben wird, spiegelt sich in der nicht-hierarchischen Anordnung der möglichen Betrachterstandpunkte: Von keinem Ort des Zuschauerraums aus können alle Chormitglieder vollständig und gleichzeitig gesehen werden – was zusätzlich durch die ständige Bewegtheit des Chors und das daraus entstehende Spiel mit Licht und Schatten, Auf- und Abtreten der Figur verstärkt wird. Durch diese Organisation der Szene auf der visuellen Ebene beginnt das Auge zu wandern, die Einzelheiten im Feld des Sichtbaren abzutasten. – Was aber wird zu sehen gegeben?

Bildstörung. Vom Sehen zur Mit-Wahrnehmung Das weiße Kostüm des Sportler-Chores scheint die Tätigkeit eines 'aufmerksamen Auges' zu unterstützen, insofern es zu einer Neutralität tendiert, die den einzelnen Körper und seine Eigenart weder besonders herausstellt noch verbirgt oder zum Verschwinden bringt. So sind die Konturen der einzelnen Körper, die unterschiedliche Form der Bewegungsausführung durch die einzelnen Chormitglieder durchaus zu sehen und auch zu beobachten. Es bleibt jedoch schwierig, insbesondere durch das Weiß des Kostüms, die ständige Bewegtheit des Chors und die Gleichförmigkeit der Bewegungen, die Konzentration auf einen einzelnen Schauspieler zu fixieren, ihn als Einzelnen wahrzunehmen. Auch wenn die zeitweilige Fokussierung eines einzelnen Chormitglieds gelingen mag, scheint es unmöglich, die anderen nicht gleichzeitig mit-wahrzunehmen. Der Ausdruck einer Mit-Wahrnehmung mag auf Seiten der Wahrnehmung dem entsprechen, was Jean-Luc Nancy in seiner Theorie der „undarstellbaren Gemeinschaft“72 als „comparaître“ bzw. „comparution“73 bezeichnet. In seiner Analyse der Gemein-

72 Bzw. der „communauté desoeuvrée“ – so der französische Originaltitel (vgl. Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft. Aus dem Französischen von Gisela Febel und Jutta Legueil. Stuttgart: Edition Patricia Schwarz, 1988). 73 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft. A.a.O., S. 64.

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Tragödie als Bühnenform schaft als „ursprüngliche[r] oder ontologische[r] 'Sozialität'“74 entwirft Nancy ein Modell der Gemeinschaft als Kommunikation singulärer Wesen. Damit spricht er gegen die Phantasmagorien einer Einswerdung – die auch Jelineks Sportstück verhandelt und dekonstruiert. Die von ihm skizzierte Gemeinschaft als Kommunikation singulärer Wesen beschreibt Nancy auf der Ebene der „Phänomenalität“ als „zusammen-erscheinen“ der Endlichkeit, die die Singularität des Einzelnen begründe: „Um diese besondere Erscheinungsweise, die spezifische Phänomenalität, die wohl ursprünglicher ist als jede andere [...], zu bestimmen, müßte man sagen können, daß die Endlichkeit zusammen-erscheint und nur zusammen-erscheinen kann: darunter sollte man verstehen, daß sich das endliche Sein immer gemeinsam, also (zu) mehreren darstellt, und daß sich zugleich die Endlichkeit stets im Gemeinsam-Sein [...] darstellt.“75

Das Zusammen-Erscheinen der Gemeinschaft als Kommunikation singulärer Wesen definiert Nancy als genauen Gegensatz zur Fügung einer geschlossenen Gestalt. Die „Komparenz der Endlichkeit“ als „Gemeinsam-Sein“, so Nancy, sei gerade „kein gemeinsames Sein“76. Gegen die Phantasmagorie der Einswerdung, die alle autoritären Theorien der Gemeinschaft prägen, setzt Nancy die „exponierende Mit-Teilung“ als „Anlaß zu einem gegenseitigen Anrufen der Singularitäten, das jeder sprachlichen Anrede weit vorausgeht (wohl aber die erste Bedingung der Möglichkeit der Sprache darstellt)“77. Auch Schleefs Arbeit an der Neufindung der Chor-Figur zielt – nicht nur in der inhaltlichen Behandlung der dargestellten Konflikte, sondern auch in der Form des chorischen Sprechens – auf eine solche 'Entwerkung' der Gemeinschaftsfiktion unter der Maßgabe der Einswerdung. Es bleibt zu fragen, inwiefern das chorische Sprechen auf der Ebene der Ästhetik eine 'Mit-Teilung', im Sinn einer Exposition des mit-geteilten Körpers, impliziert. Auf Seiten der Wahrnehmung impliziert die Mit-Wahrnehmung der anderen den Vergleich – des einen mit den anderen. Und das vergleichende, die anderen mit-sehende Sehen zeigt, dass die Bewegungen der Chormitglieder zwar gleichzeitig ausgeführt werden, jedoch keinesfalls detailliert aneinander angeglichen sind. Trotz der choreografierten Bewegung bleibt die Unterschiedlichkeit der einzelnen Chormitglieder sichtbar, ja, sie wird gerade durch die Wahrnehmungsweise des von einem zum anderen wandernden, 'aufmerksamen Auges' in die Sichtbarkeit gebracht. Das Sehen des 74 75 76 77

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 63. S. 64, Hervorhebungen im Original. Hervorhebung: C.S. S. 65.

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Ein Sportstück Sportler-Chors kann also als changierendes beschrieben werden: Es wechselt zwischen der Wahrnehmung der Unterschiedlichkeit der Chormitglieder, deren Singularität, und der Wahrnehmung der Choreografie der Bewegung, die der körperliche Rhythmus der Chor-Figur ist. In Bezug auf den Status der Figur bedeutet dieses Changieren der Aufmerksamkeit auch eine Abkehr von der Fiktion einer (gewaltsamen) Fügung zur geschlossenen Gestalt. Als solche präsentiert der Chor sich nicht. Obwohl die Sichtbarkeit des Sportler-Chors eher nach dem Modell des 'aufmerksamen Auges' als nach der Logik des Blicks funktioniert, deutet die Schwierigkeit der Beschreibung dessen, was zu sehen gegeben wird, darauf, dass die Chor-Figur unter der Maßgabe ihrer visuellen Erscheinung nicht Darstellung von etwas ist, also nichts darstellt. Auch wenn die visuelle Wahrnehmung sich hier, aufgrund der verschiedenen Vorrichtungen gegen den zentrierten, perspektivischen Blick, auf die Aktivierung des wandernden, 'aufmerksamen' Auges verlegt, kann von einer Definition des Bühnenportals als Bildfläche, der Auffassung der 'Szene als Bild' (Heeg) nicht gesprochen werden. Die Bildhaftigkeit der Szene wird in so vielfacher Weise hintertrieben, dass die Choreografie der Sportler die Modellierung der theatralen Figur nach visuellen Kriterien grundsätzlich in Frage stellt. Gerade die beständigen, von der ChorFigur selbst ausgehenden Lichtwechsel in der zweifarbigen Rauminstallation der Szene stemmen sich dem Sehen als visueller Wahrnehmung 'von etwas' (Bestimmtem) entgegen. Es flackert, so scheint es, vor den Augen. Das Theater als Maschine zur Herstellung von Bildern scheint hier an einem Endpunkt angekommen. An diesem wendet es sich, mit der Chor-Figur und ausgehend von deren Möglichkeiten, zurück auf ein Theater jenseits der visuellen Kultur. Insbesondere in der Szene des Sportler-Chors manifestiert sich Schleefs Arbeit an der Tragödie als Bühnenform als „Frage nach einer postvisuellen Kultur“78, die den Chor als Figur des Gehörtwerdens beinahe notwendig herbeiruft. Totenwache. Reflexion des Chors als Figur des Gehörtwerdens Die Choreografie der Sportler endet damit, dass sich die Geschwindigkeit von Sprechrhythmus und Bewegung noch einmal verdoppelt, worauf alle Chormitglieder wie tot auf dem Boden zusammensinken. Nach einer kurzen Zeit der Stille erheben sich ein Mann und eine Frau aus den Reihen des Chors und beginnen, das Liebesduett „Libiamo ne’ lieti calici” aus Guiseppe Verdis La Traviata zu singen. Singend schreiten sie durch die am Boden liegenden

78 Ulrike Haß, Das Drama des Sehens. A.a.O., S. 19.

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Tragödie als Bühnenform Chormitglieder, die Gesten der Oper zitierend, zur Bühnenrampe. Nach Ende dieses Opern-Zitats ertönt wieder ein Pfiff, auf den sich der gesamte Chor erhebt und in Richtung der Hinterbühne abgeht. Nach einer Szene, die das Geschlechterkampf-Motiv aus Jelineks Sportstück mit dem Krieg der Amazonen in Kleists Penthesilea konfrontiert79, gibt es ein Black. In der folgenden Chor-Szene, die einerseits das Schweigen ausstellt und andererseits den Chor als Figur des Gehörtwerdens reflektiert, wird der gesamte Theaterraum durch die Chor-Auftritte akustisch umschlossen. Die sichtbare Szene, in der ein großer Chor fünf Minuten lang schweigend und bewegungslos auf der Bühne sitzt, ist eingefasst von zwei chorischen Auftritten im Black. Bevor man den schweigenden Chor auf der Bühne sieht, ertönt ein Männerchor auf dem Rang, der den Part des Todes aus Schuberts Der Tod und das Mädchen singt: „Gib deine Hand, du schön und zart Gebild, bin Freund, und komme nicht zu strafen. Sei gutes Muts, ich bin nicht wild, sollst sanft in meinen Armen schlafen.“80

Ein größerer Chor von Frauen und Männern singt auf der Hinterbühne die ersten beiden Liedzeilen als leises Echo. Darauf singt ein

79 In dieser Szene stürmen ein Männer- und ein Frauenchor, jeweils im Kostüm des Sportler-Chors, nacheinander, mit Kampfgeschrei, an die Bühnenrampe. Boxbewegungen ausführend sprechen die Chöre im Rhythmus des Sportler-Chors jeweils einen Text der von Jelinek entworfenen „Chor“-Figur: „So lassen sie Ihre Mutterkuchenform endlich los, / damit ich / den / Kuchen stürzen / kann! Sechs, sieben acht“ (SP, S. 24*). Gleichzeitig tritt am äußersten linken Bühnenrand, ein nacheinander sprechender, dreiköpfiger Chor auf, der einen Botenbericht aus Kleists Penthesilea spricht, von dem nur einzelne Satzteile und herausgeschrieene Worte verständlich sind. Dann tritt Jelineks post-protagonistische Penthesilea-Figur aus dem Souffleusekasten auf (vgl.„Die Frau“ in: SP, S. 164f.), die mit stilisiert historischer Uniformjacke über dem Sportler-Trikot als Zwitterfigur ausgewiesen ist. Schließlich wird ein Frauenchor von der Hinterbühne hörbar, der den Text der Amazonen aus Kleists Penthesilea spricht: „Triumph! Triumph! Triumph! Achilleus stürzt! / Gefangen ist der Held!“ (Heinrich von Kleist, Penthesilea. V. 2582f. A.a.O., S. 411) Zu diesem chorischen Bericht vom (vermeintlichen) Sieg Penthesileas über Achill kommt eine Achill zitierende Männerfigur nach vorne. Mit rot-goldenem stilisierten Krieger-Kostüm, goldenem Schild und Speer, auf sehr hohen Kothurn gehend, erweist diese Figur sich stolpernd und stotternd als Persiflage des ehemaligen Protagonisten (vgl. „Andrer“ in: SP, S. 165). 80 Franz Schubert, Der Tod und das Mädchen. D. 531. Text: Matthias Claudius, hier zitiert nach 3sat-Dokumentation der Aufführung.

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Ein Sportstück Frauenchor, mit lauten, grellen Stimmen, die letzten beiden Zeilen. Der Männerchor auf dem Rang wiederholt die Anfangszeilen und der Frauenchor die folgenden Zeilen. Darauf wird der Bühnenboden wieder in parallel zur Rampe verlaufende, beleuchtete und unbeleuchtete Streifen unterteilt, wie in den Chor-Szenen zuvor. Anders als in den anderen Chor-Szenen bleibt jedoch nun der vorderste Teil der Bühne bis zur Rampe unbeleuchtet: Die zuvor mittels Licht markierte Erinnerung an die Orchestra als explizitem Ort des sprechenden Chors ist dunkel. Dieser Chor wird nicht auftreten. Hinter diesem Teil der Vorderbühne sitzen 54 Chormitglieder im Schneidersitz in sechs Reihen hintereinander auf den dunklen Streifen des Bühnenbodens, bis zur Brandmauer, die im Dunkeln verschwindet. Die Chormitglieder tragen die gleichen schwarzen Kutten wie in der Szene des ersten Chorauftritts, haben jedoch die Kapuzen über den Kopf gezogen. Sowohl die Kostüme als auch die Anordnung der Chormitglieder auf den dunklen Streifen der Bühne, sowie die Tatsache, dass der Chorraum auf der Vorderbühne dunkel ist, lassen die Assoziation meditierender Mönche oder einer Totenwache zu. Nach fünf Minuten Stille gibt es wieder ein Black. Wieder singt der Männerchor auf dem Rang „Gib deine Hand“. Währenddessen wird die Brandmauer von den Seiten her erleuchtet, so dass man sieht, wie der schwarz gekleidete Chor auf der dunklen Bühne in Reihen langsam nach hinten geht. Ein grell tönender Frauenchor singt wie zuvor den zweiten Teil des Liedes als Echo. Noch einmal singt der Männerchor, und abschließend wiederholt der gemischte größere Chor das Lied leise bis zum Ende. Während der Chor auf der Bühne sich langsam der Brandmauer nähert, sieht man die Bodenklappe in der Bühnenmitte nach unten fahren: im Dunkeln ein großes rechteckiges Loch, wie ein Grab. Nachdem das Lied verklungen ist, legen sich die Chormitglieder auf der Hinterbühne auf den Boden, wie um der Aufforderung der Stimme des Todes, der in Schuberts Lied als Schlaf kommt, nachzukommen. Das Licht an der Brandmauer erlischt, und man sieht eine von unten beleuchtete Figur (Elisabeth Rath als Klytämnestra) auf der Bodenklappe nach oben fahren. Die von den Chorauftritten jenseits der Bühne eingefasste Szene, in der man den Chor, der nicht spricht, auf der Bühne sieht, in der kein Gesang zu hören, keine Bewegung zu beobachten ist, dauert fünf Minuten. Fünf Minuten, in denen es still ist und in denen sich, im Sinn einer szenischen Abfolge sowie einer sprachlichen Verlautbarung, nichts ereignet. Im Gegensatz zur Szene des Sportler-Chores, die vor allem mit dem Moment der Dauer und der Repetition arbeitet, sowohl auf der Ebene des Rhythmus als auch auf der Ebene des Textes, kann diese Szene des schweigenden Chores als

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Tragödie als Bühnenform 'Zeitskulptur'81 aufgefasst werden, wie sie Lehmann für das Theater beschreibt: Indem hier die „Basismomente des Theatervorgangs“ reflektiert werden, welche die gemeinsame Konzentration, das rituelle Moment und die Zusammenkunft sind, tritt „die Zeit [...] als Medium der Darstellung hervor, als präsentierte und präsente Zeit, als die hier und jetzt von allen Anwesenden gemeinsam verbrauchte Zeit, nicht als im Rahmen eines fiktiven Erzählkosmos repräsentierte Zeit.“82 Weder das theatrale Geschehen in seinem Verlauf, noch die Verlautbarung eines Textes durch den sprechenden Körper wird in der Szene des schweigend anwesenden Chors ausgestellt, sondern die Zeit selbst. Gerade indem die szenische Zeit, als Aufeinanderfolge theatraler Abläufe, stillgestellt ist, tritt die Aufführungszeit selbst als „von allen Anwesenden“, Schauspielern wie Zuschauern, geteilte Zeit in Erscheinung. In Korrespondenz zum Begriff der 'Zeitskulptur' können die vor und nach dieser Szene im vollkommen abgedunkelten Raum des gesamten Theaters stattfindenden Chorauftritte, auf dem Rang und der Hinterbühne, als Raumskulptur beschrieben werden, die die räumliche Anwesenheit von Zuschauern und Chor-Figuren im Theater als realem Ort der Versammlung reflektieren. Die Auftrittsorte der Chöre umfassen hier den gesamten Raum des Theaters, von der Brandmauer bis zur rückseitigen Wand des Zuschauerraums. Die Situation des Black: dass es nichts zu sehen gibt, hebt die akustische Qualität des Raums sowie der verschiedenen Chor-Figuren hervor. Während die Szene des schweigenden Chors das Gegenüber von Bühne und Zuschauerraum in betonter Weise herausstellt, scheint hier diese konfrontative Anordnung für die Zeit des gemeinsamen Raums von Chor und Zuschauern im Dunkeln aufgehoben: Indem in diesen Szenen der gesamte Theaterraum als Klang- und Resonanzraum der Chorauftritte bespielt wird, gerade auch indem diese Szenen auf der visuellen Ebene stillstehen, tritt hier vor allem der Aspekt des – gleichermaßen von „allen Anwesenden“ – geteilten Raums in Erscheinung. Aber nicht nur die Gesangsszenen, die auf der auditiven Ebene spielen und räumlich die gesamte Theateranlage umfassen, stellen den Chor als Figur des Gehörtwerdens heraus. Gerade die Geste des Schweigens, die die Abwesenheit der Stimme präsentiert, verweist auf den Umstand, dass dem Chor eine Form der Veröffentlichung zueigen ist, die nicht an die visuelle Wahrnehmung geknüpft ist. Auch der Chor als 'Zeitskulptur', die szenisch oder narrativ nichts darstellt, verweist in der gemeinsamen Geste des Schweigens im Verbund mit der frontalen Anordnung des Chors zum Publikum,

81 Vgl.: Hans-Thies Lehmann, „Zeitskulpturen“. A.a.O. 82 Ebd., S. 34.

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Ein Sportstück darauf, dass die Zusammengehörigkeit des Chors, sein Figur-Sein nicht an die Tatsache des Gesehenwerdens gebunden ist. Dies wird wiederum an den Gesangsszenen im vollständig abgedunkelten Theaterraum gespiegelt. Die Szene der chorischen Totenklage bezieht sich in zweierlei Hinsicht auf Schleefs Arbeit an der Tragödie als Bühnenform: Während der schweigende Chor den Bühnenraum einnimmt, der hinter dem zuvor als Licht-Orchestra markierten, jetzt abgedunkelten Raum an der Bühnenkante liegt, wird in den Auftritten der nichtsichtbaren Chöre, die die Klage auf der auditiven Ebene vortragen, der gesamte Theaterraum als Chorraum definiert. In der rituellen Performativität der Szene, die besonders in der chorischen Geste des Schweigens, aber auch in der Prozession zur Bühnenrückwand hervortritt, die in Abwendung vom Publikum stattfindet und nur schemenhaft zu erkennen ist, wird eine Autonomie der Chor-Figur behauptet, die grundsätzlich nicht an die Wahrnehmungs- und Darstellungsmöglichkeiten des Guckkastens gebunden ist. Die Szene rekurriert scheint somit auf Theaterformen, die älter sind als jene, die, wie Schleef sagt, den Chor aus dem Theater vertrieben haben. Matrosen und Elfi Elektras. Sichtbarkeit, Hörbarkeit und ChorChor-Klage Schleefs Inszenierung profiliert Elfi Elektra als nach-protagonistische Figur der Klage – und zwar insofern, als sie jenseits eines möglichen Proszeniums und jenseits des sichtbaren Bühnenraums als Chor-Szene stattfindet. Im Gegensatz dazu wird der Chor der Matrosen, dessen Text ihn als Bruder Elfi Elektras, eine vielstimmige Wiedergänger-Figur des Orest ausweist, gerade durch seinen sichtbaren Auftritt an der hell erleuchteten Bühnenrampe gezeichnet. In der chorischen Sprechszene Elfi Elektras weicht der Matrosen-Chor jedoch aus der Sichtbarkeit der mittels Licht erinnerten Orchestra zurück. Vom Publikum abgewandt wird er nun als Hörer und Zeuge der nicht-sichtbar auf der Hinterszene stattfindenden chorischen Klage definiert. Die konträren Positionen dieser beiden ChorFiguren, ihre Sprachszene und ihre Bearbeitung des Bühnenraums sollen im Folgenden genauer dargestellt werden. Aus Jelineks vielstimmiger Figur Elfi Elektra spricht nicht nur die tragische Protagonistin Elektra, die Rache für den Vatermord ankündigt, sondern ebenso die Stimmen derjenigen, die mit den Toten nichts zu tun haben wollen: „Tot bleibt tot, Papi! Das gilt auch für dich, da wird kein Pardon gegeben. Wir, die Lebenden, brauchen keine Leichen mehr neben uns, wir wollen unseren Kuchen essen, ohne daß uns einer zuschaut.“ (SP, S. 11)

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Tragödie als Bühnenform Während die Figur der Elektra zwar eine Besiegte ist, wie alle Elektra-Versionen bis zu Hofmannsthal zeigen, jedoch stets als Figur der Rache auftritt, die als solche ihr Besiegtsein vergessen macht, scheint Elfi Elektra an Kraft verloren zu haben. Entsprechend heißt es im Text des Matrosen-Chors, der Brüder Elfi Elektras: „Ihre Pfeile sind verschossen, ohne daß auch nur einer getroffen hätte“ (SP, S. 169). Elfi Elektras Entschluss zum „Krieg gegen Mama“ (SP, S. 8) wird als Haltung nicht durchgeführt. Von dieser Unterlassung spricht der Text des Elfi Elektra-Chors, der vielmehr Klage, Anklage und Selbstanklage ist als explizite Racheankündigung. Elfi Elektra, die ihr „Verschwinden“ als „Hochleistungssport“ betreibt (SP, S. 14), tritt in Schleefs Szene auf der nicht einsehbaren Hinterbühne als nur akustisch vernehmbare Chor-Figur auf. Ihr scheint, im Gegensatz zur tragischen Protagonistin Elektra, kein noch so prekäres Proszenium im Bühnenraum zu entsprechen. Kontrastierend hierzu ist der Chor der Matrosen oder der Brüder Elfi Elektras auch und vor allem in der Sichtbarkeit organisiert. Diese Figur wird in Jelineks Stücktext ausdrücklich als potenziell vielköpfige skizziert. So heißt es im szenischen Nebentext über die namenlose, plurale Sprechfigur, die mit „Der Taucher“ überschrieben ist: „Es kommt ein, es kommen vielleicht sogar mehrere Taucher aus dem Boden“ (SP, S. 167). In Entsprechung zu diesem Bild des Auftauchens kommt der Chor der Matrosen in der Inszenierung aus der Unterbühne, indem er auf einer Bodenklappe nach oben fährt. In diesem Auftauchen aus dem Untergrund, das eine aus Hugo von Hofmannsthals Elektra zitierte Szene zwischen der Protagonistin und ihrer Schwester beendet, erinnert der Auftritt des MatrosenChors an die unerwartete Rückkehr Orests aus dem Exil. Mit dieser plötzlichen Rückkehr des Bruders ist nach Schleefs Auffassung die Geschichte der tragischen Protagonistin Elektra, die Exposition ihrer Racheankündigung vorbei. Entsprechend wird in der Inszenierung mit der Ankunft der vielstimmigen Matrosen-Figur auf der Bühne die Szene Elektras kurzerhand beiseite geschoben. In der vom Auftritt des Matrosen-Chors beendeten Szene, die Hofmannsthals Elektra zitiert, beschließt die Protagonistin, auf die falsche Nachricht vom Tod Orests, den Rachemord notfalls allein auszuführen. Chrysothemis wirft ihrer Schwester Elektra vor, sie verhindere mit ihrem unversöhnlichen Verhalten gegenüber den Vatermördern Klytämnestra und Ägisth ein normales Leben der Schwestern. Ihre Weigerung zu vergessen und die herrschenden Machtverhältnisse zu akzeptieren, sei die Ursache dafür, dass sie vom Hof ferngehalten und zu einem Leben mit dem Gesinde erniedrigt seien. Für Elektra jedoch ist die Tatsache, dass Orest nicht kommt, um den Rachemord auszuführen, umso mehr Aufforde-

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Ein Sportstück rung, dies selbst zu tun. Sie will, dass Chrysothemis ihre Position der Unversöhnlichkeit teilt. Die Schwestern tragen die zuvor in der Inszenierung als Chorkostüm gekennzeichneten schwarzen Kutten, die ihre Körper, bis auf das Gesicht und den äußersten Teil der Hände, bedecken. Vor Chrysothemis’ Erscheinen spricht Elektra einen Monolog, in dem sie die Ausführung der Rache ankündigt.83 Dabei steht sie im Dunkeln hinter einem Lichtstreifen, der parallel zur Bühnenrampe unter dem Eisernen Vorhang verläuft und hier wieder das Proszenium markiert. Nach dem Ende ihrer Rede wird Chrysothemis sichtbar, die zweimal nach ihrer Schwester ruft. Sie kniet am Boden, ebenfalls hinter dem Licht-Proszenium, eine Hand, die vom Ärmel ihrer Kutte verdeckt ist, im Licht. Bei Elektras Bemerkung „Es geht ein Lärm los“84, wird ein Geräusch hörbar: Die Bodenklappe in der Mitte der Bühne fährt nach unten, was kaum zu sehen ist, da die Bühne vor und hinter dem Licht-Proszenium dunkel ist. Während das Geräusch der nach unten fahrenden Bodenklappe den Auftritt des Matrosen-Chors ankündigt, verhöhnt Elektra ihre Schwester: „Stellen sie vielleicht für dich die Hochzeit an?“85 Nachdem sie ihren Plan verkündet hat, die von Albträumen und Paranoia gezeichnete Mutter aufzusuchen, stößt Chrysothemis, mit dem Oberkörper im Licht liegend, dreimal einen schrecklichen Schrei aus. Elektra legt sich auf sie und hält sie fest. Dann berichtet Chrysothemis, was sie gehört hat: „Orest ist tot!“86 Mit der Verkündigung dieser fälschlich für wahr gehaltenen Botschaft wird ein Frauenchor hörbar, der das Lied „Seemann, lass das Träumen“ singt. Während Chrysothemis weiterspricht – „Gestorben in der Fremde! tot! begraben / dort in dem fremden Land“87 –, werden die Matrosen sichtbar, die als horizontale Riege auf der Bodenklappe stehend nach oben fahren. Von der Unterbühne beleuchtet, werfen ihre Körper riesige Schatten an die Brandmauer. Als die Matrosen auf dem Bühnenboden angekommen sind, ist die gesamte Bühne dunkel, auch der zuvor das Proszenium erinnernde Lichtstreifen ist verschwunden. Die Ankunft der Matrosen, die nun im vollkommen dunklen Bühnenraum hinter Elektra und Chrysothemis stehen, ist von diesen anscheinend unbemerkt geblieben. Während Chrysothemis noch mit dem fehlenden Beweis für den Tod Orests beschäftigt ist – „Dass sie uns nichts, nicht einmal eine Locke, / nicht eine kleine Locke mitgebracht!“88 –, ist Elektra schon davon über83 84 85 86 87 88

Vgl. Hugo von Hofmannsthal, Elektra. A.a.O., S. 190f. Ebd., S. 196. Ebd. Ebd., S. 211. Ebd., S. 213. Ebd., S. 214.

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Tragödie als Bühnenform zeugt, dass der Auftrag des Rachemords nun auf sie übergegangen ist: „Wir beide müssens tun“89. Auf diesen Satz Elektras beginnt der Matrosen-Chor, die Schwestern übertönend, zu sprechen. Das letzte Wort der Schwestern, das noch zu verstehen ist, ist Chrysothemis’ Frage „was?“90 Diese brutale Beendigung der Elektra-Szene spiegelt sich auch im Text der Matrosen, der von einer umfassenden Besiegtheit (Elfi) Elektras spricht: „Wohin Sie auch schauen, es gibt überall welche von uns und nicht solche wie Sie oder Elektra Elfi! Die nimmt immer alles so ernst. Ihre Pfeile sind verschossen, ohne daß auch nur einer getroffen hätte.“ (SP, S. 169)

Mit Beginn des Sprechens der Matrosen ist die Vorderbühne bis zur Bühnenrampe hell erleuchtet. Somit ist dieser, hier noch leere Ort an der Bühnenkante wieder als erinnerte Orchestra markiert. Der Text des Matrosen-Chores beginnt mit: „Ich habe das langsam fahrende Schiff verlassen“ (SP, S.167). Elfi Elektras Bruder ist zunächst visuell, als übergroßer Schatten aufgetaucht, der nun akustisch die einzelnen Stimmen der Schwestern übertönt. Nach dem Satz „Frauen sind im Grunde urgeil“ (SP, S.168), wobei das letzte Wort sehr gedehnt wird, ist eine Männerstimme zu hören, die den Befehl für den Chor gibt, sich in Bewegung zu setzen: „fünf, sechs, sieben acht“. Mit diesem Rhythmus wird der Matrosen-Chor als Teil des großen Chors der Sportler gekennzeichnet. Die Riege der Matrosen kommt jetzt sprechend, im Gleichschritt nach vorne, im Dunkeln an Elektra und Chrysothemis vorbei, bis zur Bühnenrampe. Der Gleichschritt wird wiederum von einer Stimme aus dem Chor markiert, die den Rhythmus: „eins, zwei“ vorgibt. Das gleichzeitig stattfindende chorische Sprechen wird in der Annäherung an die Bühnenkante lauter und verständlicher. Immer noch sind die Stimmen der beiden Frauen zu hören. Die Wortverständlichkeit ihres Sprechens wird aber durch den lauten Auftritt der Matrosenriege verunmöglicht. Mit dem Satz „Keiner erinnert sich an seine Geburt“ (SP, S. 168) sind die Matrosen an der Bühnenrampe angekommen und stehen still. Elektra und Chrysothemis sind nicht mehr zu hören, dafür umso lauter das Seemannslied des nicht-sichtbaren Frauenchors. Gleichwohl beherrscht der Matrosen-Chor jetzt nicht nur bildlich, sondern auch akustisch den Vordergrund der Szene. Die Geste der Besiegung der Frauen durch die Matrosen findet ihre Entsprechung im Text der „Taucher“, wo es heißt:

89 Ebd. 90 Ebd.

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Ein Sportstück „[D]eswegen sind die Frauen auch so wenig populär. Diese Schwachen! Und sogar sie treiben heute jede Menge Sport!“ (SP, S. 168)

Auf das letzte, besonders laut und akzentuiert gesprochene Wort „Sport!“ salutiert der Matrosen-Chor. Gleichzeitig ändert sich das Licht: Wieder ist der gesamte Bühnenboden in das Schwarz-WeißMuster der hintereinander gestaffelten, rampenparallelen Lichtstreifen eingeteilt. Der vorderste Abschnitt bis zur Bühnenkante, wo der Chor der 19 Matrosen in einer Riege nebeneinander steht, ist dabei hell erleuchtet. Die Matrosen haben die mittels Licht markierte Orchestra als expliziten Ort des sprechenden Chors eingenommen. Elektra und Chrysothemis haben die Bühne verlassen. Das Seemannslied des nicht-sichtbaren Frauenchors ist verklungen. Der Text der Matrosen beschwört „meine Schwester Elfi Elektra aus Bregenz“ (SP, S. 168) herauf, deren als sinnlos gekennzeichneter „Sport“ darin bestehe, „nichts Verbergendes an seinem Platz lassen zu können“ (ebd.): „Jeden Stein dreht sie um, weil sie unbedingt ein Schlangennest finden will“ (ebd.). Sinnlos erscheint Elfi Elektras „hundeartig[es]“ Ausgraben in den Augen des Bruder-Chors deshalb, weil das, was sie verborgen glaube, „die ganze Zeit doch schon sichtbar gewesen“ (ebd.) sei. Währenddessen habe ihr Bruder, so der Text der Matrosen, „Besseres zu tun“ (ebd.), nämlich: „raus aus dem Individuum und rein in die Masse, damit wir in ein und demselben Takt schlagen können“ (ebd.). Dieses 'Im-selben-Takt-Schlagen' ist im Chor der Matrosen zweifach umgesetzt: Zunächst durch die eine befehlende Stimme, die den Matrosen den militärischen Takt des Gleichschritts vorgibt – sie laufen oder gehen nicht, sie marschieren. Auch stehen sie nicht, wie der Chor in 'mäßiger Chorkleidung' (Schleef) im ersten großen Chorauftritt, dicht aneinander gedrängt, sondern salutierend in einer Reihe, vom rechten bis zum linken Rand der Bühnenkante. Zum anderen ist auch das Sprechen des Matrosen-Chors von diesem 'Im-selben-Takt-Schlagen' bezeichnet. Zwar variieren die Sprechweisen des Chors in Geschwindigkeit, Lautstärke und Akzentuierung – die Sprechweisen der einzelnen Chormitglieder untereinander jedoch nicht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Chorformationen in Ein Sportstück teilt sich der Matrosen-Chor auch nicht in Teilchöre auf. Alle sprechen zum selben Zeitpunkt in gleicher Weise. So entsteht auch akustisch der Eindruck einer militärischen Formation, was auf der visuellen Ebene durch das Kostüm, den Gleichschritt, die Geste des Salutierens und die Aufstellung in einer rampenparallelen Reihe unterstützt wird. Auch das Kostüm der Matrosen verweist auf die militärische Formierung des Chors, der die Ausschließung der Frau voraussetzt. Dass diese längst geschehen ist und die Machtverhältnisse klar

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Tragödie als Bühnenform sind, behauptet der Text: „Was, Frauen wollen auch mitreden? Na, dann viel Spaß! Die Stadt gehört uns!“ (SP, S. 170) Die Matrosen tragen weiße Hemden, die nicht hauteng sind, aber den Oberkörper betonen, blaue Matrosenkragen mit drei weißen Streifen und weiße Hosen mit braunem Gürtel. Die Füße sind nackt. Das Kostüm zeigt den (sprechenden) Körper der Schauspieler – im Unterschied zur 'mäßigen Chorkleidung' etwa der schwarzen Kutten, die die Aufmerksamkeit auf das Gesicht der Sprecher fokussieren. Ebenso ist durch die Aufstellung des Matrosen-Chors als rampenparalleler Riege jeder einzelne Matrose gut sichtbar und kann sich präsentieren. Dieser Präsentationscharakter wird von der Geste des Salutierens unterstrichen, die den Oberkörper streckt. Das Matrosenkostüm selbst, das im hellen Licht strahlende Weiß von Hemden und Hosen, scheint diesen Charakter der Präsentation des Körpers zusätzlich hervorzuheben. Nach dem letzten Satz des im Stücktext mit 'Der Taucher' überschriebenen Redeblocks drehen die Matrosen sich im Gleichschritt um, legen die Arme an die Hosennaht und marschieren zu dem Ort auf der Bühne zurück, wo sie zuvor 'aufgetaucht' sind. Während ein Frauenchor auf der nicht-sichtbaren Hinterbühne begonnen hat, den Text der Elfi Elektra zu sprechen, sieht man die Matrosen-Riege im Gleichschritt über die in das Schwarz-Weiß-Muster eingeteilte Bühne gehen. So scheinen die Matrosen abwechselnd im Licht auf-, dann wieder im Schatten unterzutauchen. Der Ort, an dem sie, wieder salutierend, stehen bleiben, ist ein nicht-beleuchteter Bühnenstreifen. Während der ganzen Zeit der chorischen Elfi ElektraRede bleibt der Matrosen-Chor als Schattenfigur an diesem Ort stehen. Die stimmliche Präsenz des Elfi Elektra-Chors, der nicht sichtbar ist, beherrscht nun die Szene. Im Gegensatz zur Verdrängung von Elektra und Chrysothemis durch den Auftritt des MatrosenChors hat der Chor der Elfi Elektra-Brüder nun, mit dem Rücken zum Zuschauerraum, der Hinterbühne zugewandt, von wo die Stimmen kommen, die Position des Zuhörers. Der Eindruck eines passiven, unfreiwilligen Hörenmüssens ergibt sich einerseits durch die Geste des Salutierens, andererseits durch das unbewegliche Stehen im Schatten, entfernt von der mittels Licht markierten Orchestra an der Bühnenrampe, dem Ort des sprechenden MatrosenChors. Elfi Elektra, die sich als „Mörderin“ (SP, S. 172) ihres Vaters und somit gleichzeitig als Komplizin ihrer Mutter bezeichnet, ist keine Figur, die im Feld der Sichtbarkeit auftritt. Sie ist eine Figur des endlosen Sprechens, deren Rede selbst von der Notwendigkeit des Gehörtwerdens zeugt:

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Ein Sportstück „Und ich sage weiters, dass ich die ganze Zeit rede, Sie hören es ja selbst, aber es ist, als wäre es zu Schlafenden. Auf Wiedersehen“ (SP, S. 174).

Als vielstimmige Figur der Klage ist Elfi Elektra nicht an ihren Auftritt auf der sichtbaren Szene geknüpft und verschafft sich als Chor ein Auditorium. Der Chor der nicht-sichtbaren Elfi Elektra erscheint klanglich viel variantenreicher als der der Matrosen. Mal spricht er langsam, mit gesenkter Stimme: „Mein Papa ist ein König gewesen und so elend gestorben. Dabei sollte er speerbezwungen unter meinem Schreibtisch ruhen“ (SP, S. 172);

mal schnell, mit hoher, sich zum Schluss fast überschlagender Stimme: „anstatt daß ich, seine Mörderin, hier sitze und auf die Tasten dresche, daß das Blut jetzt mir unter den Nägeln herausspritzt!“ (SP, S. 172f.);

mal mit hoher, wie kindlicher Stimme: „Da hat die Mama also meinen Papa ins Spital gebracht“ (SP, S. 173);

dann laut und jede einzelne Silbe akzentuierend: „Ist Mord Sport?“ (Ebd.*)

Bisweilen werden silbentrennende Zäsuren eingesetzt wie bei „Ab/gebrühten“ (ebd.), dann ein Crescendo nach der ersten Zäsur wie im Satz: „Héréin / kamen die Idioten mit Karacho, hínáus / wurden sie still“ (SP, S.171).

Im Gegensatz zum Chor der Matrosen teilt sich der Elfi ElektraChor in Teilchöre auf, die unterschiedlich groß sind und deren Sprechweisen untereinander variieren, so dass ein ständiger Wechsel verschiedener Klänge entsteht. So wird zum Beispiel folgende Passage von nur zwei Stimmen schnell und sehr hoch gesprochen: „Papi! Wie kommts, daß du leben kannst, ohne sichtbar zu sein? Toll!“ (SP, S. 171)

Der folgende Satz wiederum wird von vielen Stimmen in tieferer, 'normaler' Sprechstimmlage gesprochen, jedoch laut und jede Silbe betonend:

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Tragödie als Bühnenform „Das wirst du büßen müssen, / Mama, / damit nicht ich es büßen muß, / Mama.“ (SP, S. 171*)

Die Verschiedenheit der Sprechweisen und Stimmlagen suggeriert das Auftreten verschiedener Varianten der Figur. Mal scheint Elfi Elektra als Kind zu sprechen, das nach dem abwesenden Vater fragt, dann wieder als Erwachsene, die die Mutter für die Abwesenheit des Vaters anklagt. In einer Passage, die explizit Bezug nimmt auf die Geschichte der antiken Protagonistin Elektra, wird der Text von einem Teilchor gesungen, wobei in den Gesang von einem weiteren Teilchor sehr laut „Zerstückelt“ gesprochen wird. Die Melodie ist zweistimmig, und im ersten Teil der Passage ist jede Sequenz, auf die ein „Zerstückelt“-Schrei folgt, zweigeteilt. Beide Stimmen steigen nach gleich bleibender Tonhöhe am Anfang zum Ende der Sequenz gleichzeitig in einem Quart-Schritt auf: 1. 2. 1. 2.

Teilchor: Teilchor: Teilchor: Teilchor:

„Den Papa hast,“ „Zerstückelt“ „war einmal Publikum vorhanden“ „Zerstückelt“ (SP, S. 171*) und so fort.

In der Mitte der Passage folgen auf das zweimal in verschiedener Tonhöhe gesungene Wort „Rohbau“ zwei kindlich hohe Stimmen, die das Wort „verscharrt“ sprechen. Bei den letzten zwei Sätzen, die wiederum von „Zerstückelt“-Schreien unterteilt werden, wird der jeweils zweite Teilsatz auf gleich bleibender Tonhöhe (zweistimmig wie oben) gesungen. Nach dieser Passsage fährt der Text mit einer Anspielung auf die tragische Protagonistin Elektra fort, deren Mutter Klytämnestra den Vater, wie der zweite Teil der Orestie berichtet91, zerstückelt hat:

91 Am Grabhügel Agamemnons spricht der Chor zu Orest: „Zerstückelt ward er, daß du es wissest! / Die Tat führt’ aus, die ihn so begraben“ (Aischylos, Die Weihgussträgerinnen (Choephoren). V. 439f. In: Ders., Tragödien. A.a.O., S. 210). Elektra, die ebenfalls am Grabhügel anwesend ist, stimmt mit der Hinzufügung ihrer Perspektive in die Klage und Racheforderung des Chors ein: “Du kündst des Vaters Unheil; und ich mußt abseits stehn, / Unwürdig, aller Ehre bar. / Abseits gesperrt nach bösartig-biss’gen Hundes Art” (V. 445ff.). Im Gegensatz zu der sophokleischen Version der Tragödie profiliert sich Elektra hier jedoch nicht als Protagonistin der Tragödie. Mit dem Wechsel zur Szene 'VOR DEM PALAST' (Schleef), die in der Orestie die Begegnung von Orest und Klytämnestra vorstellt, ist Elektras Auftritt hier, in der Mitte des Stücks, zu Ende.

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Ein Sportstück 1. 2. 1. 2.

Teilchor: Teilchor: Teilchor: Teilchor:

„Klingeln wir halt der Schwester Ismene,“ „Zerstückelt“ „damit sie beim Begraben ein bissel hilft!“ „Zerstückelt / hat sie den Papa, der einen Fehler gehabt hat. Es wäre besser gewesen, er wäre im Krieg gefallen, aber dort hat er nicht hindürfen, aus den dunklen Rassegründen“ (SP, S. 171f.*).92

Während für Agamemnon, der als siegreicher Feldherr aus dem Trojanischen Krieg heimkehrt, der Einzug in den Palast Tod bedeutet, stirbt der Vater Elfi Elektras, der aus rassistischen Gründen von der Teilnahme am Zweiten Weltkrieg ausgeschlossen wurde, nach seinem Eintritt ins Irrenhaus. Dies beklagt der Chor als Schuld der Mutter – und Mitschuld der (tatenlos zusehenden) Tochter. Gegen Ende der chorischen Elfi Elektra-Rede steigen zwei Frauen in schwarzer Chorkleidung93 aus dem Souffleusekasten und nehmen Speer und Schild, die seit dem Auftritt des gegen 'Penthesilea' angetretenen stotternden und auf hohen Kothurn stolpernden 'Achill' auf der Bühne liegen beziehungsweise im Bühnenboden stecken. Die beiden Frauen wenden sich zu den Matrosen und bleiben stehen, bis der Elfi Elektra-Chor seine Rede beendet hat – „Auf Wiedersehen“ (SP, S. 174). Dann beginnen die beiden Frauen Mozarts Lied Ridente la calma zu singen, worauf die Matrosen sich zu ihnen umwenden und wie von Sirenen hypnotisiert mit ihnen zu tanzen beginnen: Der Tanz besteht aus drehenden Bewegungen, die jeweils auf einen Schritt ausgeführt werden. Die Arme der Matrosen werden dabei wie zur Präsentation des Oberkörpers geöffnet. Nach jedem Schritt friert die Bewegung, die von den Frauen angegeben wird, ein. Das Bild, das die sich nach vorn, zur Seite und wieder zurück bewegenden Matrosen abgeben, wechselt ständig, da durch die Bewegungen, die von jedem Matrosen individuell ausgeführt werden, jeder einen anderen Standort einnimmt, mal im Licht, dann wieder im Schatten. Dieser stilisierte Tanz steht in völligem Gegensatz zu dem 'Im-selben-Takt-Schlagen' des Matrosen-Chors, da hier die Gesten zwar im selben Rhythmus 'einfrieren', jedoch von jedem einzelnen unterschiedlich ausgeführt werden. Während des Lieds fährt der Eiserne Vorhang nach unten. In Aischylos’ Choephoren veröffentlicht der Chor die „Zerstückelung“ Agamemnons durch Klytämnestra als alle Gesetze brechende

92 Die Anspielung auf die tragische Protagonistin Antigone – und deren Schwester Ismene –, die ihren toten Bruder nach dessen Angriff gegen den von Kreon geführten Staat begräbt, kann an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. 93 Es sind die Schauspielerinnen der zuvor vom Auftritt des MatrosenChors von der Bühne gedrängten Elektra-Szene nach Hofmannsthal.

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Tragödie als Bühnenform Mordtat, die unbedingt nach Rache, als Wiederherstellung der göttlichen Ordnung94 verlangt. Jelineks Zitat des aischyleischen Chors wird vom Elfi Elektra-Chor in mehrfacher Hinsicht gebrochen, aufgenommen und umgesetzt. Zunächst wird die Rede des Chors in Jelineks Text von der Figur der Elfi Elektra übernommen. Elfi Elektra tritt an die Stelle des aischyleischen Chors und übernimmt somit dessen Funktion der Veröffentlichung. Schleefs Inszenierung greift diese Übernahme der Chor-Funktion und der chorischen Rede durch Elfi Elektra auf, indem sie die Figur der Elfi Elektra als Chor und ihre Rede als chorische Klage umsetzt. Diese Übernahme der Chor-Funktion durch Elfi Elektra bedeutet die Übernahme der Klage des Einzelnen durch den Chor, dem somit auch die Funktion der Klage zukommt. Damit kommt es zur gleichzeitigen Präsentation sowohl der Klage des Einzelnen als auch der Veröffentlichung der zur Klage Anlass gebenden Situation. Formal wird dies in der Szene durch die klangliche Vielschichtigkeit des Chors umgesetzt. So ermöglicht die Aufteilung des Elfi Elektra-Chors in Teilchöre und verschiedene Chorgruppen diese multiple Funktion des Chors. Durch das Mittel der Repetition, die vielfache Wiederholung des Wortes „Zerstückelt“, das die Funktion des antiken Chors zitiert, tritt die Suspension der Klage an den Chor besonders deutlich hervor. In Jelineks Theater ist die Übernahme der Klage durch den Chor vor allem dem Wegfall der protagonistischen Figur geschuldet. Insbesondere an der Figur der Elfi Elektra, die in Schleefs Inszenierung, anders als im Stücktext, nur diesen einen, großen Auftritt hat, zeigt sich, warum diesen nach-protagonistischen Figuren kein Proszenium zukommt. Für Figuren wie Elfi Elektra lässt sich kein Palast, kein lokalisierbares Machtzentrum definieren, das auf der Bühne darstellbar wäre. Daher ist diesen Figuren auch kein Ort 'VOR DEM PALAST', also kein Proszenium zugehörig. Wenn der Einzelne nicht als Einzelfigur aufzutreten vermag, wie es Jelineks nach-protagonistische Figurenentwürfe suggerieren, muss er sich beinahe notwendig mit der Figur des Chors und deren Möglichkeiten der Veröffentlichung verbinden. Da der Chor als Figur des Gehörtwerdens nicht an einen Auftritt in der Sichtbarkeit geknüpft ist, kann der Auftritt der Elfi Elektra als Chor auf der nicht-sichtbaren Hinterbühne stattfinden. Schleef verknüpft die Frage nach der Auftrittsweise der nachprotagonistischen Figuren auf dem Theater mit der Frage nach der Sichtbarkeit beziehungsweise nach den Wahrnehmungs- und Darstellungsmöglichkeiten der vorhandenen Theateranlagen. Er mar-

94 So wird Orest in Aischylos’ Orestie durch Apolls Wort – verkündet durch das delphische Orakel – an die Verpflichtung gebunden, den Mord des Vaters durch den Muttermord an Klytämnestra zu rächen.

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Ein Sportstück kiert die möglichen szenischen Orte des Chors der tragischen Bühne als Erinnerungsorte auf dem heutigen Theater, das diese Orte nicht mehr kennt. Die neuzeitliche Entwicklung der Bühnenform zur Schauanlage unter rein optischen Maßgaben hat die nicht auf der visuellen Ebene spielende Figur des Chors von der Bühne verdrängt – so wie der Matrosen-Chor die Szene zwischen Elektra und Chrysothemis. Wenn das Theater die Frage nach der Tragödie wieder aufnimmt, wie es Jelineks Sportstück mit der Figur der Elfi Elektra geradezu fordert, muss es sich notwendig mit der Frage des Chors auseinandersetzen. Der Chor aber lässt sich als Figur des Gehörtwerdens unter den Bedingungen einer primär visuell geprägten Wahrnehmung und Darstellung nicht fassen. Indem Schleefs Inszenierung mit der Figur der Elfi Elektra die Frage nach einer möglichen Bühnenform der Tragödie stellt, werden die Aporien der Verknüpfung von Figur und Sichtbarkeit allererst deutlich. Insbesondere die Gegenüberstellung von Matrosen- und Elfi Elektra-Chor hebt diese Frage hervor. So korrespondiert im zweiten Teil der Szene, während der chorischen Elfi Elektra-Rede, der Merkwürdigkeit der leeren, mittels Licht markierten Orchestra im sichtbaren Bühnenraum der schweigende Matrosen-Chor, der wie in einer Pose erstarrt scheint. Während dieser als Schattenfigur, die nicht abtreten kann, auf der Bühne steht, beherrscht der nicht zu sehende Elfi Elektra-Chor die Szene auf andere Weise. Da diese Szene auf der visuellen Ebene stillsteht, wird der Theaterraum hier in erster Linie Klangraum. Das chorische Sprechen Elfi Elektras verdeutlicht, indem es sich dem Auge entzieht, den Umstand, dass der Chor vielmehr mit dem Gehörtwerden verknüpft ist als mit dem Auftreten im Feld der Sichtbarkeit.

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DER GOLEM IN BAYREUTH – AUS DEM GEIST DER MUSIK...

Der Golem in Bayreuth von Ulla Berkéwicz kommt in Einar Schleefs Inszenierung am Akademietheater der Wiener Burg am 18.5.1999 erstmalig zur Aufführung.1 Bereits der Titel des Stücks verweist auf eine komplexe Schichtung von theatralen Formen und Figuren sowie Mythen höchst unterschiedlicher Herkunft und Geschichte. Zunächst wird die Legende der Schaffung eines „Golem“ aufgerufen. Dieser Legende nach ist der Golem eine verlebendigte Figur aus Lehm, die von einem Rabbi Löw nach kabbalistischem Ritus um 1600 in Prag geschaffen worden sein soll.2 In zweifacher Hinsicht verknüpft der Stücktitel die Golem-Legende mit Richard Wagners Musiktheater: Zum einen wird der Golem „in Bayreuth“ verortet, zum anderen verweist der Untertitel des Stücks – Ein Musiktheaterspiel – darauf, dass hier mit Form und Inhalt von Wagners Bayreuther Theaterentwürfen gespielt wird. Der Begriff des „Musiktheaterspiels“ kann als ironischer Verweis auf Wagners Begriff des „Bühnenweihfestspiels“ verstanden werden. Mit dieser Bezeichnung verklärt Wagner seinen 1882 auf den Bayreuther Festspielen uraufgeführten Parsifal zum mythisch-religiösen Kult. Das Theater soll zur 'Kunstreligion' erhoben, die Aufführung zur Gralsenthüllung werden. Indem die Golem-Figur mittels dieser Anspielungen in eine – wenn auch ironisch zitierte – 'kultische' Tradition der Wagner-

1

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Aufgrund eines Streits mit dem Komponisten Lesch Schmidt, der vor allem Streichungen, Hinzufügungen sowie Änderungen der Instrumentierung durch den Regisseur betraf, darf die Erstaufführung des Stücks durch Einar Schleef und das Ensemble des Wiener Burgtheaters nur mit dem Zusatz „Wiener Fassung“ als Uraufführung bezeichnet werden. Zu den verschiedenen Versionen der Golem-Legende und der nachträglich (im 19. Jahrhundert) hergestellten Verbindung der Legende mit der historischen Person des Rabbi Jehuda Löw ben Bezalel von Prag (1512-1609) vgl.: Alexander Wöll, „Der Golem. Kommt der erste künstliche Mensch und Roboter aus Prag?“ In: Marek Nekula/Walter Koschmal/Joachim Rogall (Hg.), Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. München: Beck, 2001, S. 235-245.

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Tragödie als Bühnenform Festspiele gestellt wird, tritt der Golem sozusagen an die Stelle von Parsifal, der auf dem Theater als 'Erlöser' annonciert wird. – Wie setzt nun das Stück diese Anspielungen um? Wovon handelt Der Golem in Bayreuth? Auf der Ebene des Stücktextes tritt die Golem-Legende in direkten Bezug zu Wagners Parsifal. Die theatrale Figur des Golem tritt gleichsam in Analogie zur Figur des Parsifal auf. Somit werden auch die Motive der vorgeblichen Erlösung (Parsifal), der menschlichen Hybris (Schaffung eines vom Menschen gesteuerten Geschöpfs) sowie der Gefahr der Vernichtung (Amoklauf des Golem) miteinander verschränkt. Während der Protagonist in Wagners Parsifal plötzlich und unverhofft, gleichsam wie aus dem Nichts auf der Gralsburg aufzutauchen scheint und als so genannter 'reiner Tor' zur Erlöserfigur stilisiert wird, die allein befähigt scheint, die vom Zerfall bedrohte Gemeinschaft der Gralsritter wiederherzustellen, ist der Golem eine in einem Akt der Hybris von Menschenhand erzeugte Figur. Dem hybriden Schöpfungsakt entspricht im Mythos des Prager Golem die Ambivalenz des künstlichen Menschen: Ursprünglich zum Schutz der Juden vor Pogromen kreiert und als Knecht für den Rabbi tätig, erweist die Kunstfigur selbst wiederum ihre Gefährlichkeit – dann nämlich, wenn ihr aus nichts als Schriftzeichen eingehauchtes Eigenleben außer Kontrolle zu geraten droht und der Golem vernichtet werden muss, bevor er selbst seinen Schöpfer vernichtet. Berkéwicz setzt die magisch hervorgebrachte Figur des Golem mit der Vision der 'denkenden Maschine' gleich, mit der sich die Kybernetik seit dem 20. Jahrhundert beschäftige.3 Der Kybernetiker und Gentechniker werde, so exponiert das Stück, zum Nachfahren des Kabbalisten, indem er nur scheinbar die von ihm erzeugten seelenlosen Geschöpfe kontrolliere und diese vermittels unabsehbarer selbsttätiger Vernetzung der Programme den Menschen zu beherrschen begännen. Auf dieser Ebene wird der Golem, der einerseits hybride Schöpfung und andererseits Angstfigur ist, mit dem Computer analog gesetzt. Als Stück im Stück ist in Der Golem in Bayreuth die Aufführung des Parsifal szenischer Anlass der Versammlung der Festspielgesellschaft in Bayreuth. Schleefs Inszenierung des Golem in Bayreuth zitiert Wagners Oper musikalisch, indem verschiedene Leitmotive aus 3

Der „Golem unserer Tage“ sei der Computer, schreibt Berkéwicz im Begleittext zu einer zwei Jahre nach Einar Schleefs Inszenierung entstandenen Aufnahme des Stücks unter der musikalischen Leitung von Lesch Schmidt, die als musikalische Uraufführung gilt. Vgl.: Ulla Berkéwicz, „Der Golem und 'Der Golem in Bayreuth'“. In: Dies., Der Golem in Bayreuth. Ein Musiktheaterspiel von Ulla Berkéwicz. Lesch Schmidt. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2001, S. 10.

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Der Golem in Bayreuth Parsifal aufgerufen werden – vor allem das 'Liebesmotiv', welches auch die sich aus mehreren Leitmotiven zusammensetzende 'Verwandlungsmusik' einleitet, die im Stücktext durch die szenische Anweisung „Parsifal-Fanfaren“ (GB, S. 15ff.) markiert ist. Das Fanfaren-Motiv, das in der Komposition Lesch Schmidts immer wieder aufgenommen wird, erinnert in der Inszenierung an die ausstehende, erwartete Parsifal-Aufführung. Diese wird jedoch in Der Golem in Bayreuth durch einen neonazistischen Schlägertrupp, die „Hasskappen“ (GB, S. 8ff.), verhindert, die das Festspielhaus besetzen. Mit dieser Besetzung und der Verhinderung der erwarteten Aufführung auf den fiktiven Festspielen beginnt das Stück. Der Golem in Bayreuth gliedert sich in fünf Abschnitte, die zwischen den Orten Gasthaus in Bayreuth und Haus des Rabbi Löw in Prag sowie zwischen den Zeiten wechseln. Schließlich überlagern sich die unterschiedlichen szenischen Orte und Zeitschichten, sie geraten durcheinander. So heißt es im szenischen Nebentext des vierten Teils: „Die 7 Kabbalisten sprechen Englisch mit jiddischem Akzent“ (GB, S. 53), wodurch sie als Emigranten des 20. Jahrhunderts gezeichnet werden. Die Kabbalisten, die zuvor mit der Begutachtung des von Rabbi Löw geschaffenen Golem und der Absetzung Gottes beschäftigt waren4, „projizieren“ nun „Bilder“ auf einen Vorhang, die die Bühneneinrichtung einer Parsifal-Inszenierung evozieren: „Wald“ und „Blumenwiese“ (GB, S. 53). Die wechselseitige Überlagerung verschiedener Zeiten, Orte und Figuren, die Auflösung von Identitäten wird im Stück explizit thematisiert und kommentiert.5 Musikalisch werden die Sprünge zwischen den Szenen, Spielräumen und Zeitschichten, in denen die Angstfigur des Golem, je verändert, wieder auftaucht, in der Zitation der 'Verwandlungsmusik' begründet, die in Wagners Parsifal die raum-zeitliche Verwandlung der Szene anzeigt. Parsifal selbst, wenngleich musikalisch in der Inszenierung äußerst präsent, tritt als Protagonist nicht mehr auf. Er scheint als chorische Untoten-Figur in den Hasskappen wiederzukehren, seine Machtübernahme in der Gralsburg jetzt darin zu bestehen, das Bayreuther Festspielhaus in einem Akt kollektiver Gewalt abzubrennen. Mit diesem Brand des Festspielhauses endet das Stück. Wagner, so Berkéwicz, transformiere in Parsifal „'jüdische Mystik in christliche Theologie'“ und vereinige „'Kabbala und Offenbarung zur erlösenden Kunstreligion'“6. In Der Golem in Bayreuth wird die Kunstfigur des Parsifal auf unheilvolle Weise an die künstlich

4 5 6

Vgl. Akt II, GB, S. 30ff. Vor allem durch die Figur des Apothekers (vgl. GB, S. 53). Ulla Berkéwicz, „Der Golem und 'Der Golem in Bayreuth'“. A.a.O., S. 13.

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Tragödie als Bühnenform geschaffene Figur des Golem geknüpft. Dadurch kommt der Golem – eine paradoxer Weise sprachlose Figur, die zwar mittels eines ihm in die Stirn gesteckten Zettels mit dem unaussprechlichen Namen Gottes, dem Tetragramm JHWH, zum Leben erweckt wird, jedoch selbst nicht sprechen kann7 – zur Sprache: und zwar in der vielstimmigen Figur der Hasskappen. Bereits die Ebene des Stücktextes exponiert den chorischen Zusammenhang der Figuren in Der Golem in Bayreuth. So sind zwar einzelne Figuren fragmentarisch gekennzeichnet, indem sie namentlich als einzelne Stimmen ausgewiesen werden. Sie lösen sich jedoch nur punktuell aus den chorischen Zusammenhängen und treten nicht von diesen losgelöst auf. Dies gilt für Hoffmann, den Anführer der Hasskappen-Gruppe, desgleichen für Rabbi Löw, der sich in erster Linie als Chorführer der Kabbalisten etabliert, sowie auch für den Apotheker, dessen Einzelstimme temporär aus dem Chor der Festspielgesellschaft herausragt. Schleefs Inszenierung greift die chorische Struktur des Stücks auf und radikalisiert sie insofern, als Einzelstimmen im Sinn von protagonistischen Figuren prinzipiell keinen Auftritt haben. So bleibt der Golem, als einzige Einzelfigur, ohne Sprechstimme. Die dem Golem korrespondierende Figur des Wagnerschen Parsifal, den Berkéwicz’ Stück als ambivalente Phantasmagorie eines Erlösers zeigt, tritt in Schleefs Inszenierung ebenfalls als Chor auf. Der Golem, als theatraler Wiedergänger einer symbolischen Angstfigur, wird auf der Ebene des Stücktextes mit Parsifal verknüpft. Diese Korrespondenz wird wiederum verschränkt mit der Figur des Hoffmann, deren Auftritte szenisch mit Parsifals Ankunft in der Burg Monsalvat, seiner Begegnung mit der verfluchten Kundry und seiner rituellen Waschung und Initiation in den Gralsritus parallelisiert wird. So wird der Hasskappen-Chor einerseits als stimmliche Potenzierung der Golem-Figur ausgewiesen sowie andererseits als gegenwärtige Version der Wagnerschen Gralsritter. Keiner Figur in Der Golem in Bayreuth scheint jedoch das Potenzial eines protagonistischen Auftritts zu eignen. An Stelle der protagonistischen Szene ist in Der Golem in Bayreuth die ChorSzene als einzig verbleibende theatrale Form getreten. Wie und mit welcher Auswirkung auf den Theaterraum als Chorraum, soll im Folgenden näher untersucht werden. Aufgrund dieser umfassenden 'Wiederkehr' der chorischen Form, die mit der grundsätzlichen Abwesenheit protagonistischer Figuren in Berkéwicz’ Stück korrespondiert, ist Schleefs GolemInszenierung auch und vor allem eine grundsätzliche Befragung des

7

Zur Sprachlosigkeit des Golem und seiner Schöpfung durch Buchstaben vgl.: Alexander Wöll, „Der Golem...“. A.a.O.

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Der Golem in Bayreuth Theaterraums im Hinblick auf einen möglichen Ort des Chors im Theater. Die Frage, die sich gerade angesichts dieser durchgängig chorischen Inszenierung stellt, ist, ob es überhaupt einen Ort des Chors im Theater gibt. Wie strukturiert sich eine rein chorische Szene? Wo und wie treffen die verschiedenen Chöre aufeinander und mit welcher Auswirkung für den Theaterraum und seine Wahrnehmung? Welche Position hat das Publikum inmitten des von den verschiedenen Chorgruppen strukturierten Theaterraums? Wie positioniert sich das Orchester zum Chor? Welche Stellung nimmt das Orchester ein in einem Theater ohne Chorraum und Orchestergraben? Im Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Chor und Orchester auf dem Theater und der durchgängigen musikalischen Zitation des Parsifal ist Schleefs Inszenierung von Der Golem in Bayreuth als Fortsetzung seiner Auseinandersetzung mit Wagner zu verstehen, insbesondere mit dessen räumlicher Bearbeitung des Theaters: der Schaffung eines 'mystischen Abgrunds' zwischen Bühne und Zuschauerraum zur Unsichtbarmachung des Orchesters, welches in der Moderne, so Wagner in Oper und Drama, an die Stelle des antiken Chors getreten sei. In Der Golem in Bayreuth holt Schleef das Orchester auf die Bühne und in die Sichtbarkeit. Mit Blick auf die in Droge Faust Parsifal insbesondere am ParsifalThema und seiner möglichen Umsetzung entwickelten Fragen zur Problematik des Theaterraums, zum Verschwinden des Chors und der Abwesenheit eines expliziten Chorraums im Theater, ist zu fragen, wie und warum dies geschieht. Inwiefern stellt für Schleef die Positionierung des Orchesters im Musiktheater und insbesondere Wagners Lösung des Orchestergrabens ein nicht nur formales, sondern auch inhaltliches Problem dar? Welchen Zusammenhang hat der von Schleef immer wieder problematisierte Ort des Orchesters mit dem Verschwinden des Chors aus dem Theater beziehungsweise mit der nachhaltigen Abwesenheit eines Chorraums im neuzeitlichen Theater? Um zu zeigen, wie sich diese Problematiken in Schleefs Inszenierung Der Golem in Bayreuth entwickeln, soll diese zunächst hinsichtlich der Behandlung der Verhältnisse von Chor und Theaterraum, Chor und Orchester sowie des Gegenübers von Bühne und Zuschauerraum skizziert werden.

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Tragödie als Bühnenform

Theater als Chorraum – Orchester als Chor THEATERRAUM ALS KONFLIKTRAUM Schon der Beginn der Aufführung von Der Golem in Bayreuth8 ist von einem konfrontativen chorischen Auftritt im Zuschauerraum geprägt. Nach dem Einlass sind Bühne und Zuschauerraum gleichermaßen beleuchtet. Im schwarzen Frack, der ihn als Spielleiter ausweist, tritt Einar Schleef durch den mittleren rückseitigen Eingang in den Publikumssaal. Mit diesem Auftritt, dem Ort des Auftritts und der räumlichen Bewegung von draußen, vom Theaterfoyer in Richtung Bühne konterkariert die Aufführung bereits die an den sichtbaren Bühnenausschnitt geknüpfte Zuschauererwartung. Im Durchschreiten eines der Gänge von hinten nach vorne beginnt Schleef, den als „Rezitativ“ (GB, S. 10) gekennzeichneten Text des „Stadtrats“ von Bayreuth zu sprechen. Dieser Text wird unter Weglassung der Repliken seitens der Apotheker-Figur zu einer Ankündigung des nun Folgenden, mithin zu einer Art Spiel vor dem Spiel: „Achtung, Bürger, Ruhe, Ruhe. Frieden. Ruhe.“9 Zunächst lässt die Geste des Sich-Gehör-Verschaffens die Vermutung zu, es handele sich hier um eine Vorrede zur Aufführung, in der Schleef als Spielleiter vor das Publikum tritt, um zu spezifischen Arbeitsbedingungen und eventuellen technischen Problemen der Aufführung Stellung zu nehmen. Diese Vermutung wird jedoch sofort widerlegt. Es erweist sich, dass das Spiel bereits begonnen hat und das Publikum sich wörtlich mittendrin befindet. „Es ist Krieg, Bürgerkrieg! In den Städten, auf den Straßen! Sie kommen! Sie sind nicht mehr aufzuhalten!“ (GB, S. 10*), schreit Schleef. In seiner Funktion als Stadtrat von Bayreuth wolle er die Anwesenden über die Bedrohung der Festspiele durch eine Gruppe staatsfeindlich gesinnter Gewalttäter10 informieren, welche jeden Moment in das Theater, respektive Festspielhaus, einzudringen drohten. Mit einer solchen gewaltsamen Störung des ordnungsgemäßen Ablaufs 8

Die folgenden Beschreibungen stützen sich auf mein Erinnerungsprotokoll der Aufführung am 2.6.1999 im Akademietheater Wien. 9 Zitiert nach Aufführungsmitschrift. 10 Die als „Hasskappen“ (GB, S. 8ff.) bezeichnete paramilitärische Gruppe erweist sich an späterer Stelle im Stück, welche die Inszenierung jedoch nicht umsetzt, als neonazistisch. In einer „Wortkomposition“ unter dem Titel „Hasskappengebrüll“, das aus rassistischen, faschistoiden und sexistischen Parolen besteht, wird die martialisch auftretende Kampfgruppe der Hasskappen deutlich mit nationalsozialistischem Kontext assoziiert: „Neger kochen / Linke rupfen / Lesben hacken! [...] Aufklatschen / Müllmachen / Platthauen! [...] Endlösung / Endlösung“ (GB, S. 16).

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Der Golem in Bayreuth der Bayreuther Festspiele, so der Stadtrat, sei symbolisch auch die Staatsordnung bedroht, für die er gleichwohl einstehe: „Trotzdem“, und gerade deswegen, fährt er mit ruhigerer Stimme fort, „der Aufführung des Parsifal heute wünschen wir gutes Gelingen“ (GB, S. 10*). Nach dem Auftritt des Stadtrats und seinem Dialog mit der Figur des Apothekers tritt im Stücktext die „Festspielgesellschaft“ (GB, S. 11) selbst auf und singt bei Verzehr von Würstchen und Sekt den Part des Gralsritter-Chors, mit dem im ersten Akt von Wagners Parsifal die Enthüllung des Grals und das darauf folgende rituelle Abendmahl zur Stärkung der Rittergemeinschaft angekündigt wird.11 In der Inszenierung fällt dieses Zitat des GralsritterChors durch die „Festspielgesellschaft“ weg.12 Der Chor der Festspielgesellschaft tritt auf die Bühne, dem Stadtrat gegenüber. Schwarz gekleidet, mit orangen, grotesk großen gerafften Kragen formiert sich der Chor, der zuvor an beiden Seiten der Bühne gesessen hat, in zwei Reihen, die schräg zueinander angeordnet sind. Diese zu einer rampenparallelen Reihe schließend, tritt er nach vorn an die Bühnenkante. Es beginnt ein elegischer Chorgesang, dessen 11 Das zu Wagners Parsifal leicht veränderte Zitat des Gralsritter-Chors in Golem lautet: „Zum letzten Liebesmahle / gerüstet Tag für Tag, / gleich ob zum letzten Male / es heut uns letzen mag, / wer guter Tat sich freut: / ihm wird das Mahl erneut: / der Labung darf er nahn, / die hehrste Gab’ empfahn.“ (GB, S. 11, Hervorhebung: C.S.). „DIE GRALSRITTER“ in Parsifal: „Zum letzten Liebesmahle / gerüstet Tag für Tag, / gleich ob zum letzten Male / es heut’ ihn letzen mag, / wer guter That sich freu’t: / ihm sei das Mahl erneut: / der Labung darf er nah’n, / die hehrste Gab’ empfah’n.“ (Richard Wagner, Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911], Bd. 10, S. 340, Hervorhebung: C.S. Hier wie im Folgenden zitiert nach der unveränderten und seitenkonkordanten Neuausgabe bei der Digitalen Bibliothek: Richard Wagner, Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Sven Friedrich. Digitale Bibliothek, Bd. 107. Berlin: Directmedia, 2004). 12 Auch die Zitate der „Knabenstimmen“ aus Wagners Parsifal – „Der Glaube lebt; / die Taube schwebt, / des Heilands holder Bote. / Der für Euch fließt, / des Weines genießt / und nehmt vom Lebensbrote!“ (GB, S. 12; vgl. Richard Wagner, Parsifal. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. A.a.O., Bd. 10, S. 340) – sowie einer weiteren Passage des Gralsritter-Chors, der den eigentlichen Sinn des rituellen Mahls erläutert – „Nehmet vom Brot, / wandelt es kühn / zu Leibes Kraft und Stärke; / treu bis zum Tod; / fest jedem Müh’n, / nehmt vom Wein, / wandelt ihn neu / zu Lebens feurigem Blute, / froh im Verein, / brudergetreu / zu kämpfen mit seligem Mute.“ (GB, S. 12, Hervorhebung: C.S.; vgl. Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 344) – durch die Figur des Stadtrats fallen an dieser Stelle der Inszenierung weg.

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Tragödie als Bühnenform kakophonischer Klang zunächst die Assoziation des Stimmens von Instrumenten hervorruft. Ouvertürenhaft werden jedoch zunehmend Melodien und Motive deutlich. Hinter dem dirigierten Chor, der hier die Festspielgesellschaft vorstellt und der sich später zum Orchester formieren wird, das den Parsifal aufführen will, sieht man eine kleine Gestalt in der orangefarbenen Bekleidung der Straßenreinigung die Bühne putzen. Es ist der Schauspieler des Golem. Die Titel gebende Golem-Figur erscheint als Wiedergänger der menschenähnlichen Gestalt aus Lehm, die der Legende nach im 16. Jahrhundert von Rabbi Löw in Prag geschaffen und mittels einer in die Stirn gesteckten Schriftrolle mit den Buchstaben des unaussprechlichen Namen Gottes zum Leben erweckt wurde. Zieht man dem in einem komplizierten geheimen Verfahren geschaffenen, automatenhaften und potenziell gefährlichen Wesen die Schriftrolle, den 'Schem', aus der Stirn, zerfällt er wieder zu Staub. Das weder sprachfähige noch vernunftbegabte noch fortpflanzungsfähige Kunstwesen des Golem, das Rabbi Löw zur Abwendung von drohenden Pogromen gegen die Prager Juden geschaffen haben soll, kann jedoch außer Kontrolle geraten und sich gegen seinen Schöpfer richten. Im Fall des von Rabbi Löw geschaffenen Golem musste dieser vernichtet werden, nachdem er Amok gelaufen war. So die Version der Golem-Legende, die Ulla Berkéwicz’ Stück zitiert. Alle Ebenen des Stückes sind somit in der Eingangsszene der Inszenierung versammelt: die Legende des Prager Golem, die Wagner-Festspiele am Aufführungstag des 'Bühnenweihfestspiels' Parsifal, Wagners Stück selbst, das musikalisch in verschiedenen Leitmotiven immer wieder durchscheint, sowie die angekündigte Bedrohung der versammelten Gesellschaft durch die als gewalttätig und staatsfeindlich beschriebene Gruppierung der Hasskappen, welche in der Figur ihres Anführers Hoffmann wiederum auf die Parsifal-Figur verweist. Während des Chorgesangs der Festspielgesellschaft auf der Bühne stürmt plötzlich eine Gruppe schwarz gekleideter, mit Schlagstöcken bewaffneter Männer und Frauen, aus dem Theaterfoyer kommend, durch den rechten Gang im Zuschauerraum bis zur Bühnenrampe. Diese Auftrittsrichtung der Hasskappen suggeriert, ebenso wie der Auftritt des Stadtrats zuvor, das Von-draußenKommen der Figur. Zudem assoziieren sowohl das Von-draußenKommen der Figur als auch der Ort ihres Auftritts ihre räumliche Zugehörigkeit zum Publikum, das den Theatersaal, genau wie Stadtrat und Hasskappen-Chor, durch die rückseitigen Türen betreten hat. Das zuvorderst stehende Mitglied des Hasskappen-Chors schlägt mehrfach auf die Bühne, und in einer Mischung aus Brül-

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Der Golem in Bayreuth len und Singen stimmen die Hasskappen einen Sprechgesang an, der ihren gesamten Auftritt bestimmen wird: „Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass macht Spaß, / Setz dir die Hasskappe auf und schlag, schlag drauf“ (GB, S. 13*).

Der Stadtrat, der immer noch im Zuschauerraum steht, schreit in die beiden gleichzeitigen Chorgesänge hinein, woraufhin der Festspielchor sowie die Klavierbegleitung still werden. Wild gestikulierend, versucht der Stadtrat herauszufinden, was die Hasskappen wollen: „Wogegen protestieren Sie? Was wollen Sie?“ (GB, S. 14*) Er wird jedoch immer wieder von Pfiffen und „Bier“-Rufen seitens der Hasskappen übertönt. Während der Stücktext diese Szene als Dialog zwischen Stadtrat und Apotheker, einem Mitglied der Festspielgesellschaft konzipiert, wendet sich der Stadtrat in Schleefs Inszenierung direkt an die in das Theater eindringenden Hasskappen. Durch diese direkte Ansprache wird die konfrontative Anordnung der verschiedenen Gruppen noch deutlicher: Die Festspielgesellschaft steht schweigend und abwartend an der Bühnenkante, zur Chor-Front aufgereiht, während sich dieser Riege gegenüber, im Publikum, der lautstarke Streit zwischen dem Stadtrat, der links im Zuschauersaal steht, und den Hasskappen abspielt, die zwischen den Zuschauerreihen rechts, direkt vor der Bühnenrampe stehen. Dies bedeutet auch, dass die Szene zwischen Stadtrat und Hasskappen inmitten des Publikums stattfindet, dessen Ort von diesem Konflikt durchzogen beziehungsweise gespalten wird. Räumlich eingefasst wird das Publikum und mit ihm die Szene des Konflikts von der Chor-Riege auf der Bühne und den an die Parsifal-Aufführung erinnernden Blechbläsern – den „ParsifalFanfaren“ (GB, S. 15ff.) –, die hinter den Zuschauern, vom Parkett aus nicht sichtbar, auf dem Rang positioniert sind. Der Zuschauer, dem die Sicht auf die Bühne durch die Formierung des Festspielchors als Riege an der Rampe versperrt ist, sieht sich somit nicht nur zur eigenen Positionierung im hell erleuchteten Konfliktraum veranlasst, sondern mit der räumlichen Umschau, die die Szene provoziert, auch zur Verräumlichung seiner Wahrnehmung, die hier weder akustisch noch visuell als linear auf die Bühne fokussierte zu funktionieren scheint. Im Folgenden entsteht ein chaotischer Wortwechsel zwischen Stadtrat, Hasskappen und dem zum Teil mit den Hasskappen sympathisierenden Apotheker13 über die weitere Verfahrensweise des 13 Parallel zu den Schöpfervisionen Rabbi Löws in der Golem-Legende ist die Figur des Apothekers dadurch gekennzeichnet, dass er den Menschen als sterbliches Wesen, als „Gemachtes“ abschaffen will (vgl. GB,

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Tragödie als Bühnenform Abends, das heißt, über die noch ausstehende Aufführung (des Parsifal). Angesichts der Störung der öffentlichen Ordnung durch das Eindringen der Hasskappen in das Theatergebäude wird der Stadtrat nicht müde, immer bestimmter hervorzuheben: „Ich bin die Staatsgewalt, ich nehme das Chaos in die Hand, ich, ja ich“ (GB, S. 18*). Indem die Inszenierung, im Vergleich zum Stücktext, die szenische Situation vom Gasthaus ins Theater verlegt, wird die Konfrontation der verschiedenen Gruppen nicht nur theatralisiert, sondern gleichfalls verschärft: durch das Gegenüber von Festspielgesellschaft als Chor auf der Bühne und Hasskappen als Gegenchor im Parkett; aber auch dadurch, dass alles in einem Raum – im Parkett, auf der Bühne und auf dem Rang des Akademietheaters – mitten unter den real versammelten Theaterzuschauern stattfindet, die durch die Ansprache von Schleef als Stadtrat von Bayreuth sowie durch die räumliche Anordnung der Konfliktszene gleichsam zu Mitgliedern der Festspielgesellschaft geworden sind. Den fiktiven Ort des Gasthauses gibt es in der Inszenierung nicht, alles findet im Theater statt. Das Theater als realer Ort der Zusammenkunft wird somit zum Verhandlungsraum, wo das, was auf dem Theater stattfindet, die Bedingung der Aufführung – des Parsifal, wie es im Stück heißt – allererst verhandelt werden muss. Die Situation „Chor erblickt Chor“14, die bereits auf den frontal zum Zuschauerraum an der Bühnenrampe auftretenden Chor zutrifft – der den Blick des Zuschauers zurückwirft und damit seine Objektivierung unterläuft –, wird in dieser Szene, die im Zuschauerraum und zwischen diesem und Bühne stattfindet, noch einmal potenziert, indem die Blickrichtungen und Konfrontationslinien vervielfältigt werden. So stehen die Hasskappen als Gruppe im Zuschauerraum dem Festspielchor auf der Bühne gegenüber und sind gleichzeitig dem Stadtrat und Spielleiter Schleef, auf der anderen Seite des Publikums, gegenüber positioniert. Mitten in diese Streitszene hinein ertönen auf einmal vom Rang die „Parsifal-Fanfaren“, welche in Wagners Parsifal als 'Liebesmotiv' die raum-zeitliche Verwandlung der Szene und mithin die erste S. 18.). Der Auftritt der Hasskappen als Endzeitfigur inspiriert ihn daher „zu neuen Weltentwürfen“ (ebd, S. 17). Die Figur des Apothekers ist es auch, die die Hasskappen mit den Gralsrittern aus Wagners Parsifal und den Anführer der Hasskappen, Hoffmann, mit Parsifal selbst gleichsetzt: „Lederjacke an Lederjacke, die Reihen fest geschlossen, steht eine Leere aus dem innerstädtischen Hinterhof neben einer Leere aus dem außerstädtischen Betonsilo, bläht sich und ist auf Nervenkitzel aus. Sie hängen sich an den Erlöserknaben in ihrer Mitte [...] als sei er direkt der Lex Parsifal entsprungen.“ (Ebd., S. 14) 14 Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater. A.a.O., S. 235.

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Der Golem in Bayreuth Konfrontation des Protagonisten mit dem Gralsritus einleiten. Indem das Motiv jetzt sehr laut in die Szene hineinspielt, erinnert es daran, dass jenseits von Streit und Verhandlung zwischen Stadtrat und Hasskappen hier noch etwas anderes aufgeführt werden soll. Der Fanfarenklang, verstärkt durch den vollständig mit Holz15 ausgeschlagenen Bühnenkasten gegenüber dem Rang, bewirkt eine akustische Umfassung des gesamten Theaterraums. Hier scheint für einen kurzen Moment die konfrontative Anordnung stillzustehen. Mit Blick auf eine Weitertreibung des Parsifal-Themas oder eine fortzusetzende Aufführung des Stücks im Stück spricht Schleef, jetzt in der Rolle des Spielleiters, in die Fanfaren hinein: „Und schon ruft die Weihe des zweiten Aktes.“ (GB, S. 15) Die Konfrontationsszene der verschiedenen Chöre geht jedoch weiter, wiederum zweimal unterbrochen von den Wagners Oper zitierenden Fanfaren, bis die Hasskappen in einer symbolischen Erschießung, mit einer chorischen Maschinengewehr-Geste, die Festspielgesellschaft niederstrecken: „Und ex! Und ex und ex und ex!“ (GB, S. 21) Wie tot liegen die Mitglieder der Festspielgesellschaft jetzt auf der Bühne, während die Hasskappen diese wie in einem Akt der Eroberung einnehmen und sich in einer Reihe hinter ihnen aufstellen. Abwechselnd mit Hoffmann, ihrem Chorführer, singen sie ein Lied, wobei sie sich in Männer- und Frauenchöre aufteilen. Dann ändert sich das Licht: Die Bühne wird nunmehr von Unterlicht an der Bühnenkante beleuchtet, so dass es nach vorne dunkler ist und der mittlere Teil des Bühnenkastens herausgehoben wird. Gleichzeitig ist der Zuschauerraum dunkel geworden. Der Chor der Festspielgesellschaft steht wieder auf und beide Chöre singen jetzt gemeinsam das bereits zitierte „Hass“-Lied, bis die Hasskappen ihre Schlagstöcke wegwerfen. Mit der Überschreitung der Rampe hat die Szene vom Zuschauerraum auf die Bühne gewechselt. Die Chöre, die sich zuvor scheinbar unversöhnlich gegenübergestanden haben, vermischen sich, indem sie anfangen, miteinander zu tanzen. Die Szenen der Konfrontation, in denen verschiedene Chöre und Themen, inhaltlich, musikalisch wie klanglich, gegenübergestellt werden, spielen von nun an auf der Bühne, die somit als gemeinsamer Spielort heterogener Motive und Chorformationen definiert ist.

15 Auch dies eine Reminiszenz an Wagner respektive dessen Bayreuther Festspielhaus.

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Tragödie als Bühnenform

DÄMMERUNG. WAGNERS NICHTDARSTELLBARKEIT UND DAS THEATER ALS HÖRRAUM Besonders an der beschriebenen Eingangsszene der GolemInszenierung, wo der Theaterraum als realer, öffentlicher Ort der Versammlung definiert ist, in welchem zwischen mehreren Gruppen eine Verhandlung stattfindet, wird deutlich, wie Schleefs ChorTheater die traditionelle Gegenüberstellung von Guckkastenbühne und Zuschauerraum als zwei voneinander völlig getrennter Räume – den der theatralen Repräsentation und den des (passiven) Zuschauens – umstrukturiert. Die Auftritte des Chors jenseits der Bühne – hier: der als Chor definierten Blechbläsergruppe auf dem Rang – bewirken eine räumliche Umschließung des Zuschauerraums. Der Raum des Zuschauens wird, indem er gleichzeitig Hör-, Sicht- und chorischer Auftrittsort ist, als grundsätzlich zum gesamten Theaterraum gehörend umfasst. Indem der Zuschauerraum zum Aktionsraum wird, wird auch die visuelle Wahrnehmung des Zuschauers aktiviert, von einem voyeurhaften, an die Szene als Bildfläche gefesselten Sehen zu einer räumlichen Umschau. Indem die Szene jetzt auf die Bühne wechselt, ändert sich auch die Blickrichtung der Zuschauer. Das gewohnte Sehverhalten des strukturierten Blicks in den Bühnenkasten wird jedoch in der Inszenierung nachhaltig irritiert: nicht nur dadurch, dass die chorischen Gruppen, die zudem meist in Bewegung sind, sich ohnehin ihrem Fixiertwerden im Blick weigern, sondern auch dadurch, dass dem 'gefräßigen Auge' überhaupt äußerst wenig zu sehen gegeben wird. Im Gegensatz zur Eingangsszene, in der das gesamte Theater hell erleuchtet war, spielen jetzt weite Szenen bei minimaler Beleuchtung, so dass die Auftritte auf der visuellen Ebene eher schemenhaft konturiert sind. So ist das zum zweiten Teil nach unten fahrende Haus des Rabbi Löw, ein viereckiger, nach vorn offener Holzkasten, als Verdoppelung des mit Holz ausgeschlagenen Bühnenkastens, nur durch eine sternförmige Öffnung von oben beleuchtet. Der Rest der Bühne liegt im Dunkeln. Die Szene zwischen Miriam, der Tochter des Rabbi, und dem Golem, den sie zum Sprechen bringen will, spielt zu einem großen Teil außerhalb des Hauses, also außerhalb der einzigen Lichtquelle dieser Szene, auf der dunklen Bühne. So ereignet sich deren zwischen Singen und Sprechen intoniertes Duett allein auf der auditiven Ebene. Die darauf folgende im Haus spielende Szene der Kabbalisten, die mit Rabbi Löw als Chorführer, aufgrund von dessen Erschaffung des Golem, die Absetzung Gottes beschwören, ist gleichermaßen beleuchtet: Während des sehr langen, einer Litanei ähnlichen, sich im Crescendo steigernden Wechselgesangs zwischen Rabbi Löw und dem Kabbalisten-Chor sieht man einzig den mit einem weißen Tuch verhüll-

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Der Golem in Bayreuth ten, am Boden kauernden Golem in der Mitte des Hauses sowie die sternförmige obere Öffnung selbst, durch die das Licht in das Haus einfällt. Die Kabbalisten, die an den drei Seiten des Hauses um den Golem herum sitzen, sind, da kaum sichtbar, in erster Linie auditiv auf der Szene anwesend. Der sich nicht nur stimmlich vom Gemurmel bis zum Schrei, sondern auch inhaltlich, von der kritischen Auslegung der Thora bis zur Anklage und schließlichen Absetzung Gottes, steigernde Wechselgesang der Kabbalisten um Rabbi Löw ist, wie weite Teile der Aufführung, ein Theater der Stimmen, das jenseits der Sichtbarkeit spielt. Einar Schleef, Zeichnung zu Golem, Haus des Rabbi Löw

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Auch Parsifals Machtübernahme in der Gralsburg, die Schleef in die Inszenierung einbaut16, spielt als Durchsetzung des ParsifalThemas gegen den Chor der Hasskappen auf der rein auditiven Ebene. Die Rückgabe des von Klingsor entwendeten heiligen Speers

16 Und zwar von Gurnemanz’ Ankündigung: „Mittag. – / Die Stund ist da“ (Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 372) bis zur Enthüllung des Grals (ebd., S. 372ff.).

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Tragödie als Bühnenform an die Gralsritter durch Parsifal – „Den heil’gen Speer – / ich bring’ ihn euch zurück“17 –, Parsifals Heilung der Amfortas von Klingsor beigebrachten, nicht heilenden Wunde – „Nur eine Waffe taugt: – / die Wunde schließt / der Speer nur, der sie schlug. [...] Sei heil, entsündigt und entsühnt, / denn ich verwalte nun dein Amt“18 –, sowie die Enthüllung des Grals –„enthüllt den Gral! öffnet den Schrein!“19 – werden auf der spärlich beleuchteten Bühne, die nur schemenhaft verschiedene Chorgruppen zu sehen gibt, in einem Wechsel von Einzelstimmen und Chorgesang zu Gehör gebracht. In dieser Szene, die die vorhergehende stimmliche Konfrontation von Hasskappen und Kabbalisten ablöst, gibt es keine eindeutige Zuteilung der Stimmen. So wird zum Beispiel Gurnemanz’ Ankündigung der vorgeblichen Erlöserszene – „Mittag. – / Die Stund ist da“20 – von mehreren Tenorstimmen gesungen. Ein Frauenchor singt wiederholt Kundrys Frage: „Sind die Thiere hier nicht heilig?“21 als Erinnerung an Parsifals Fehltritt im 'heiligen' Wald, die Erschießung eines Schwans, sowie an Kundrys erniedrigte Position zwischen Gralsrittern und Klingsor. Parsifals Schlüsselsatz „Enthüllet den Gral“ wird von einem großen gemischten Chor gesungen, das darauf folgende „Öffnet den Schrein“ wiederum von einer einzelnen Tenorstimme. 'Glocken'- und 'Gralsmotiv' werden chorisch, abwechselnd von Frauen- und Männerstimmen intoniert, wobei sämtliche 'Knaben'stimmen in der Inszenierung von Frauen übernommen werden. Im Verhältnis zu Wagners Opernfassung ist in dieser Szene, die instrumental nur – und auch nur teilweise – von einem Klavier begleitet wird, der Chor an die Stelle des Orchesters getreten. Ein protagonistischer Auftritt wird zudem dadurch konterkariert, dass solistische Passagen aus Wagners Parsifal hier von mehreren Stimmen oder dem ganzen Chor gesungen werden. Auch wird die Möglichkeit unterlaufen, Figuren visuell an bestimmte Sängerpersonen rückzubinden, da diese nur schattenhaft oder gar nicht zu sehen sind. Dieser Umstand kann allerdings auch als analytisch genaues Wagner-Zitat gelten: In der szenischen Anweisung in Parsifal heißt es an entsprechender Stelle, wie um die Nichtdarstellbarkeit der Szene vorwegzunehmen: „Düstere Beleuchtung“22. Diese hält bei Wagner bis zur Gralsenthüllung an. Selbst die Gralsenthüllung wird zunächst von einer verstärkten „Dämmerung“ begleitet – es „verbrei-

17 18 19 20 21 22

Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 375. Ebd. Ebd. Ebd., S. 372. Ebd., S. 329. Ebd., S. 372.

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Der Golem in Bayreuth tet sich eine immer dichtere Dämmerung im Saale“23, bevor die Szene durch einen einzig den Gral treffenden, „blendende[n] Lichtstrahl [...] von oben“24 erleuchtet wird. Genau dieser Vorgang wird wiederum von Schleef zitiert, wenn zum Ende der Szene hin bläulich schimmerndes Licht vom Schnürboden auf die Bühne fällt, so dass sich der Eindruck ergibt, es öffne sich – anstatt des nicht vorhandenen Schreins – das ganze Theater nach oben, zum Himmel. Die Szene ereignet sich, in der chorischen Übernahme von solistischen Gesangspartien und der Unmöglichkeit einer visuellen Identifizierung von protagonistischen Figuren, unterhalb der Ebene der Darstellung. Parsifal, der Protagonist des Wagnerschen 'Bühnenweihfestspiels' tritt hier nicht auf, sein Drama findet nicht statt. Auf Schleefs Bühne gibt es keinen Gral, keine Erlösung. Anstelle der Gralsenthüllung und der darauf folgenden chorischen Ausrufung Parsifals als „Erlöser“25 und seiner Preisung, bei Wagner Schlusspunkt des Stücks, endet die Szene hier mit Parsifals Machtübernahme auf der Gralsburg – jedoch ohne die Erwähnung einer damit einhergehenden „Erlösung“.

KRIEG. PARSIFALS CHORISCHE WIEDERKEHR Nach einem kurzen Black wird die nun leere Bühne hell. Man hört den Befehl „sié-ben, ácht“26, worauf die Hasskappen, gekleidet in militärischen Tarnanzügen und bewaffnet mit Schlagstöcken, im Laufschritt von hinten auf die Bühne kommen. Sie stellen sich in mehreren rampenparallelen Reihen hintereinander auf, und es beginnt eine circa fünfminütige Choreografie, die im Bewegungsablauf ein exaktes Zitat des Sportler-Chors aus Schleefs SportstückInszenierung ist. Im Gegensatz zum sprechenden, stimmlich äußerst vielgestaltigen Sportler-Chor bleibt die Choreografie der Hasskappen jedoch stumm. Man hört einzig das rhythmische Atmen der Chormitglieder sowie das Gegeneinanderschlagen ihrer jeweils zwei Schlagstöcke. Die Vorführung dieser sprachlosen Choreografie der Hasskappen, diese die ganze Bühne einnehmende, in hellem Licht ausgestellte Kampfübung ist gleichsam Ankündigungsgeste einer folgenden kriegerischen Auseinandersetzung. Der gewaltsamen Einnahme des Festspielhauses, so das Stück, soll seine Zerstörung folgen. Und folgt man der Linie in Der Golem in Bayreuth, nach der die militante Gruppe der Hasskappen mit der Parsifal-Figur ver-

23 24 25 26

Ebd., S. 343. Ebd. Ebd., S. 375. Zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Tragödie als Bühnenform knüpft wird27, ist es Parsifals mehr als ambivalente Machtübernahme in der Gralsburg selbst, die in der zerstörerischen Figur des Hasskappen-Chores wiederkehrt.28 Gegen Ende der Aufführung gibt es eine Szene, in der nochmals mehrere Chöre gleichzeitig auf- und gegeneinander antreten. Das Prinzip des Gegeneinander, das sich bis zum Kampf der Stimmen steigert, ist jetzt im Vergleich zur Eingangsszene, in der die Konfrontation inmitten der Zuschauer und zwischen Parkett und Bühne spielt, auf der Bühne selbst lokalisiert, den Zuschauern gegenüber. Während noch ein Kinderchor um den stumm die Bühne putzenden Golem versammelt ist, im Versuch, diesen zum Sprechen zu bringen, treten die Hasskappen, wieder ganz in schwarz gekleidet und mit Schlagstöcken bewaffnet, auf die Hinterbühne. Als unheimliche schwarze Riege, über ihnen groß der Schatten der am Boden knienden Golem-Figur, postieren sie sich an der Bühnenrückwand und beginnen zu sprechen: „Es ist Krieg, Kriég! In den Städten, auf den Straßen! Wir kommen! Wir sind nicht mehr aufzuhalten! [...] Wir haben dem Staat den Krieg erklärt! Wir bedrohen das Gewaltmonopol des Staates! Wir zerschlagen alles in / einem / Hass und Atem!“ (GB, S. 10*)

Indem sie die eingangs vom Bayreuther Stadtrat zitierte Kriegserklärung, jetzt in die erste Person Plural transponiert, wiederholen, konkretisiert sich die zuvor in der stummen Kampfgeste angekündigte Bedrohung. Diese wird verstärkt durch den Umstand, dass die Hasskappen nun nicht mehr, wie zu Beginn der Aufführung, von außen, durch den Zuschauerraum auf die Bühne kommen, sondern von der Hinterbühne, und sie derart als bereits zum Theater gehörig gekennzeichnet sind. „Das Festspielhaus brennt“ (GB, S. 61), skandieren sie weiter, als eine Klavierkomposition einsetzt, in die hinein die Hasskappen in einem vom Chorführer auf der Bühnenmitte angegebenen Takt mit ihren Schlagstöcken auf den Bühnenboden schlagen. Die Bedrohlichkeit der Szenerie ergibt sich hier vor allem aus ihrer klanglichen Disposition: Das Schlagen auf den Bühnenboden lässt, da der Bühnenkasten vollständig mit Holz ausgeschlagen ist, den gesamten Theaterraum erschallen. Das ganze Theater wird so auch physisch zum Resonanzraum dieses Chorauftritts, der, obgleich weit von der Bühnenkante entfernt, den gesamten

27 So wird Hoffmann, der Anführer der Hasskappen, laut Stücktext von der Festspielgesellschaft als der vorgeblich „reine Tor“ erkannt. Kurz darauf haben die Hasskappen das Festspielhaus in Brand gesetzt (vgl. GB, S. 54ff.). 28 Vgl. den Exkurs: Zu Einar Schleefs Parsifal-Lektüre.

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Der Golem in Bayreuth Theaterraum erfasst, nicht nur auditiv, sondern geradezu körperräumlich. Während dieser Szene sind nach und nach alle Chormitglieder des Stücks, ebenfalls ganz in schwarz gekleidet, auf die Vorderbühne getreten, wo sie sich in zwei geschlechtlich getrennten Chorgruppen, links und rechts von der Figur des Golem an der Bühnenrampe aufstellen. Vier Blechbläser stehen auf der rechten Bühnenseite vor einer auf einem Podest stehenden, schweigenden Frauenfigur, die ebenfalls einen Schatten, halb so groß wie der des Golem, an die Bühnenrückwand wirft. Die auf diese beiden Schatten werfenden Figuren gerichteten Spots sind die einzigen Lichtquellen der Szene, wodurch die an der Bühnenkante postierten Chormitglieder nur schemenhaft zu erkennen sind. Der beim Auftritt der Hasskappen schreiend geflüchtete Kinderchor betritt jetzt wieder die Bühne und singt, von einer Flöte begleitet, das anfangs zitierte „Hass“-Lied. Plötzlich hört man einen Schrei. Der Männerchor links an der Rampe beginnt, den Kampfschrei der Walküren aus Wagners Ring der Nibelungen zitierend, zu singen: „Hojotohohá“29. Der Frauenchor als Echo setzt sofort nach: „Hojotoho-há“. Die Geschwindigkeit der Echostruktur steigert sich, so dass die beiden Chöre schließlich beinahe gleichzeitig singen, ihr Gesang dazu tendiert, sich zu überlagern. Ein Mitglied des Hasskappen-Chors wirft seinen Schlagstock weg und beginnt zu skandieren: „Bayreuth brennt“30. Mit diesem Ruf kommen nach und nach alle Hasskappen nach vorn, wo sie sich als dritter Chor an der Bühnenrampe zwischen Männer- und Frauenchor aufstellen. Gleichzeitig hört man nun die vier Chöre: Männerchor: Hasskappen: Frauenchor: Kinderchor:

„Hojotoho-há“, „Bayreuth brennt, Bayreuth brennt“, „Hojotoho-há“, „Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass, Hass macht Spaß, / Setz dir die Hasskappe auf und schlag drauf, schlag drauf“ (GB, S. 13*).

In diesen Stimmenkampf der verschiedenen Chorgruppen hinein erklingt wieder das bereits beschriebene Fanfaren-Motiv aus Parsifal. Dann wird es still und ein schrecklicher Schrei ertönt. Eine Frau, von einem weiteren Spot beleuchtet, sinkt zu Boden und singt: „Seit Ewigkeiten - harre ich deiner, des Heiland’s, ach! so spät,

29 Zitiert nach Aufführungsmitschrift. 30 Zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Tragödie als Bühnenform den einst ich kühn geschmäht. – Oh! – Kenntest du den Fluch, der mich durch Schlaf und Wachen, durch Tod und Leben, Pein und Lachen, zu neuem Leiden neu gestählt, endlos durch das Dasein quält!“31

Es ist die Stimme der untoten, zu ewigem rastlosen Leben (am Boden) verdammten Kundry aus Wagners Parsifal. Zitiert wird hier ihre zweite Begegnung mit Parsifal, in der sie ihm, nachdem er sie zurückgewiesen hat, ihre Verfluchung sowie die Hoffnung auf Erlösung gesteht. Mit der Wiedereinführung Kundrys in die Szene korrigiert Schleef die Textvorlage Berkéwicz’ insofern, als in dieser die für Wagner, und vor allem auch für Schleef, zentrale Figur im Kontext des Parsifal-Stoffes nicht vorkommt. Gleich nach diesem Auftritt Kundrys setzen die verschiedenen Chorgruppen sowie die Blechbläser wieder ein, bis es erneut einen Schrei der Kundry-Figur gibt, Stille eintritt und diese, wiederum ohne instrumentale Begleitung, fortsetzt: „Ich sah – Ihn – Ihn – und – lachte...“32

Das letzte Wort: „lachte“ wird dabei eher geschrieen als gesungen, die erste Silbe ist eher gebrochener Laut als Gesang, eine Äußerung der Stimme am Rand der Sprache. Kundry, die in Parsifal Jesus erblickt, den sie einst am Kreuzweg verspottet hatte und von dessen Wiedergänger – der hier, das heißt in Der Golem in Bayreuth, weder stimmlich noch schweigend als protagonistische Figur auf der Szene anwesend ist –, sie sich Vergebung erhofft, ist an den Rand ihrer Sprache gekommen. Nach ihrem Verstummen setzen die Chorgruppen und Fanfaren wieder ein wie zuvor. Kundrys drittem Schrei folgt keine sprachliche Äußerung mehr. Sprachlos kauert sie am Boden. Man hört kein „Dienen.. dienen!“33 Kundrys Geschichte, vor allem ihr Tod bei Parsifals Machtübernahme, wird in Schleefs Golem-Inszenierung nicht weitererzählt. Die Sängerin tritt in den Chor zurück, wie sie zuvor aus ihm herausgetreten ist. Nach einer kurzen Klarinettenimprovisation, zu der alle Stimmen schweigen, vereinen sich alle Chöre zu einem und singen das 'Gralsmotiv', während die Fanfaren wiederum das 'Liebesmotiv'

31 Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 360. 32 Ebd. 33 Ebd., S. 365.

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Der Golem in Bayreuth spielen. Noch einmal tritt hier, im Vergleich zu Wagners Parsifal, der Chor an die Stelle des Orchesters. Dies ist nicht nur klanglich eine Radikalisierung, indem hier sämtliche Chormitglieder an der Bühnenrampe stehen und ihre Stimmen das ganze Theater erfüllen. Auch in inhaltlicher Hinsicht scheint Schleef den von Wagner gezeichneten dramatischen Konflikt zuzuspitzen, indem der große, nunmehr aus allen Darstellern bestehende Chor der Enthüllung des Grals – die ja hier nicht stattfindet –, weniger beiwohnt als diese vielmehr nachhaltig fordert. Die räumlich konfrontative Haltung des Chors, dem hier kein Protagonist gegenüber- und keine Retterfigur entgegentritt, verstärkt den Aspekt der Angeschlagenheit der Gralsritterschaft, die zur Stärkung ihrer Gemeinschaft die Wiederaufnahme des Gralsritus fordert, der einzig Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit garantieren kann. Aber wo kein Gott, so die Inszenierung des Golem, da auch keine heilige, wundertätige Reliquie, die vermittels eines gemeinschaftlich ausgeführten Rituals eine Segen spendende Kraft ausströmen würde. Die Abwesenheit des Grals, der die Abwesenheit Parsifals als protagonistischer Figur korrespondiert, zeigt den Gral und seine Funktion als Vorstellung, der keine Realität zukommt, als Wunsch, dem kein Ritual entspricht. Die Zeit der Unsterblichkeitsmythen scheint vorbei. In Wagners Parsifal, wo das 'Gott-Essen' (Jan Kott), der Abendmahlsritus zur Drogeneinnahme geworden sei, habe Gott, so Schleef, die Szene schon längst verlassen.34 Nicht der Glaube an Gott sei im Mythos der Gralsritter zentral, so Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge35, sondern das Unsterblich-Werden, ja selbst Gott-Werden durch die Einnahme des im Gral aufbewahrten Blutes des sterbenden Gottessohns.36 Diese problematische Selbstvergöttlichung findet sich in Der Golem in Bayreuth in der Legende des Rabbi Löw und seiner – als gefahrvoll gezeigten – Erschaffung des Golem wieder. Dieser ist, obwohl geschaffen, nicht sterblich: „Ein Golem stirbt nicht, wie ein Tier stirbt“ (GB, S. 32), heißt es. Er kann nur zerstört werden, indem ihm von der Hand, die ihn geschaffen

34 Vgl. Schleef über die Vorbereitung einer nicht zustande gekommenen Parsifal-Inszenierung in: Alexander Kluge/Einar Schleef, „Endkampf in einer Ritterburg. Einar Schleef und die Gesangsmaschinen des PARSIFAL“. In: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften, Bd. 5. Hrsg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8, 2003, S. 56-63. 35 Vgl. ebd. 36 Dass das Gelingen dieser Gottwerdung der Gralsritter selbst zweifelhaft ist, zeigt sich jedoch andererseits in Wagners Parsifal darin, dass gerade die untote, ewige Existenz (Kundry, Titurel), das Nicht-SterbenKönnen (Amfortas) als ewige Qual dargestellt wird.

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Tragödie als Bühnenform hat, der „Schem“, die Schriftrolle mit den Buchstaben des unaussprechlichen Gottesnamen, aus der Stirn gezogen wird. In der letzten Szene der Golem-Aufführung, die der oben beschriebenen folgt, versammelt sich der große Chor um den Golem, der die Bühne wieder betreten hat, und singt, von diesem dirigiert, einen langen elegischen, auf- und abschwellenden Abgesang auf den Menschen als sterbliches Wesen, den Gott verlassen hat: „Eli, Eli lama asawtani! Eli, Eli lama asawta et ha Golem!” (GB, S. 62)37

Der Golem scheint, indem er dem von Gott verlassenen, sterblich gewordenen Gottessohn gleich geworden ist, ebenso den Menschen gleich geworden zu sein. So endet, nach der Dekonstruktion des Unsterblichkeitsmythos mit der Zitation von Wagners Parsifal, die Inszenierung, indem der Chor die zunächst vom Golem allein gesungene Klage übernimmt, immer wieder unterbrochen von einer Art Klezmer-Musik und wildem Tanz des Chors, der sich dann wieder zur chorischen Klage um den Golem versammelt. Noch im Black hört man das Lied, das leiser wird und das, indem die Schauspieler die Bühne verlassen, langsam verklingt.

Exkurs: Der „pestkranke“ Chor und seine „Blut„Blut - Droge“. Zu Einar Schleefs Parsifal - Lektüre Mit dem Thema der chorischen Drogeneinnahme oder besser: deren Scheitern, ist Wagners 'Bühnenweihfestspiel' Parsifal für Schleef das paradigmatische deutsche Stück der nachklassischen Periode, das die Problematik des Chors in sein Zentrum rückt. Die Auseinandersetzung mit der Antike habe in der Dramatik der deutschen Klassik den Chorgedanken wiederaufleben lassen. So seien ChorFiguren zum Titelgeber zahlreicher Stücke geworden, als deren erstes für Schleef Schillers Die Räuber gilt. Mit dem Chorgedanken kehre die Frage nach der „Utopie einer Gemeinschaft“ (DFP, S. 8) wieder, die Schleef im Deutschland des späten 18. und insbesondere des 19. Jahrhunderts politisch motiviert sieht. Die Frage nach der Gründung einer Gemeinschaft bedinge geradezu die Beschäftigung mit der – theatralisch anscheinend verloren gegangenen – Figur des Chors. Mit der Frage nach ihrem möglichen Wiederauftritt

37 Übersetzung (Ulla Berkéwicz): „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! / Mein Gott, mein Gott, warum hast du den Golem verlassen.“ Vgl. GB, S. 62.

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Der Golem in Bayreuth verknüpfe sich nun notwendig die inhaltliche Problematisierung der Konstitution des Chors. – Wie konstituiert sich ein Chor? Der Chor als nicht-genealogisch verbundene Gruppe gründe sich auf die Droge, so Schleef, deren gemeinsam wiederholte, rituelle Einnahme die zeitlich fragile Chorgruppe zusammenschließe. Daher sei mit der Frage nach der Chorkonstitution in der klassischen und nachklassischen Dramatik auch die Droge ins Zentrum der Stücke eingezogen, wobei die deutschen Klassiker sich auf die „erste 'chorische' Drogeneinnahme unseres Kulturkreises“ bezogen hätten, das christliche Abendmahl: „Die vom Chor-Gedanken ausgehenden Stücke verbindet ein Thema, die Droge, ihre Definition und rituelle Einnahme in [der] Gruppe. Grob gesagt, wird die Droge notwendig, um eine gesellschaftliche Utopie zu entwickeln [...]. Dabei beruft sich die von den deutschen Autoren verwendete Drogeneinnahme auf die erste 'chorische' Drogeneinnahme unseres Kulturkreises: Das ist mein Leib. Das ist mein Blut.“ (DFP, S. 7)

Im Abendmahl, der Kommunion, der Teilhabe am Leib und Blut Gottes durch die Einnahme desselben, gründe sich die Gemeinschaft der Christen. Zur Festigung der Gruppe, zur Sicherung ihres weiteren Bestehens sei der die Drogeneinnahme wiederholende Ritus nötig. So werde das Abendmahlsmotiv, die „zeremonielle Drogeneinnahme“, zum „Höhepunkt des christlichen Kultes“ (DFP, S. 21). Mit dem Bezug auf den christlichen Abendmahlsmythos werde die chorische Drogeneinnahme, so Schleef, an das Motiv des Bluts geknüpft. Mit dem Blut-Motiv sei gleichzeitig das Thema des Verrats gegeben, das heißt, der „Individualisierung eines Chormitglieds durch Verrat“ (DFP, S. 7), wie es in der Figur des Judas im Abendmahlsmythos exponiert wird. Schleef sieht in dieser Thematisierung des Verrats wiederum ein Gründungsmotiv für die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem Chorthema im christlichen Kulturkreis: „Dieser Verrat wird mit 'Blutgeld' bezahlt. 'Blutgeld' verweist auf die Beschaffenheit der Droge [...]. Die Droge ist Blut, und somit ist Blutverlust, Verlust des Lebens, Thema des Abendmahls, der christlichen Adaption heidnischer kannibalischer Riten, in der der Individualisierungsprozeß, der Selbstmord des Judas, der Selbstausschluß eines der Esser aus der Tischgemeinschaft, thematisiert wird.“ (DFP, S. 7)

Indem Wagner in Parsifal mit der Thematisierung des Gralsritus die chorische Drogeneinnahme – beziehungsweise deren Verweigerung durch den kranken König Amfortas – ins dramatische Zentrum rückt, wird das Stück für Schleef zum paradigmatischen Punkt der Auseinandersetzung mit der Chor-Thematik im deutschen Theater.

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Tragödie als Bühnenform Entgegen der von Wagner in Oper und Drama proklamierten Ersetzung des Chors durch das moderne Orchester rückt die Chor-Figur und die Problematik des drohenden Zerfalls des Gralsritterchors in den Mittelpunkt der Parsifal-Geschichte. Die Gralsrittergesellschaft gründet sich, wie die christliche Gemeinschaft, in der rituellen Kommunion. Nur verschiebt sich der Fokus der Abendmahlsspeisung auf die gemeinsame Einnahme des göttlichen Bluts, welches im Gral aufbewahrt wird. Um dieses Blut, das dem Gottessohn auf seinem Leidensweg nach Golgatha entflossen sein soll und dessen Einnahme den Gralsrittern als Hütern des heiligen Kelchs ihre militärische wie metaphysische Stärke verleiht, dreht sich alles in Wagners Parsifal. Durch die Verweigerung der Ausführung des Gralsrituals von Seiten Amfortas’, des obersten Gralshüters, droht die Gesellschaft der Gralsritter auseinander zu fallen. Die Ritterschaft, die seit langem vergeblich die den Gralsritterchor konstituierende Kommunion des göttlichen Bluts fordert, steht kurz vor der Rebellion. Dieser Chor, der vor seinem Zerfall steht, zeichnet sich als 'pestkranker'38 Chor, dessen gemeinschaftskonstituierende Drogeneinnahme nicht mehr gesichert ist. Denn, so Schleef: „Ist sich der Chor der gemeinsamen Drogeneinnahme sicher, der Einhaltung der verabredeten Riten, wendet er sich um so ungestümer, aufopfernder gegen seine Feinde, ist der Einsatz des Lebens für den Weiterbestand der Gemeinschaft und ihrer Drogeneinnahme nicht nur selbstverständlich, sondern Höhepunkt und Sinn individuellen Lebens, selbst wenn es die Beendigung der eigenen Existenz beinhaltet.“ (DFP, S. 19)

Ist die Drogeneinnahme nicht gesichert, zerfällt der Chor, was Schleef am Chor der Gralsritter des Parsifal exemplifiziert. In einem Gespräch mit Alexander Kluge beschreibt Einar Schleef die Szenerie des 'pestkranken' Chors in Parsifal so: „Die Gralsburg ist so eine Art Schlachthaus, ein Drogenmilieu. Es stinkt dort unheimlich. Wie bei einem Kranken, der eine offene, vor sich hinfaulende Wunde hat, ist die ganze Gralsburg von einem Pesthauch durchzogen. Immer wenn der König kommt, ist dieser Geruch des faulenden Menschen da, und dieser faulende Zustand ist das Kennzeichen der Gralsburg.“39

38 Vgl. DFP, S. 274. 39 Einar Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge in: „Endkampf in einer Ritterburg. Einar Schleef und die Gesangsmaschinen des PARSIFAL“. dctp, News & Stories, 26.09.1995. Hier zitiert nach: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 63.

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Der Golem in Bayreuth In Wagners Parsifal hängt die 'Krankheit' des Gralsritterchors mit der nicht gesicherten rituellen Drogeneinnahme zusammen, wie Schleef nachdrücklich am Entzug der 'Blut-Droge' für die Ritterschaft durch den an einer unheilbaren Wunde leidenden Amfortas verdeutlicht. Die „unbestimmbare Krankheit“ (DFP, S. 274) des Chors scheint diesem jedoch „von Beginn an“ (ebd.) einzuwohnen. Dieser Zug der Negativität, des Zerfalls, der 'Krankheit' des Chors scheint mit der Fragilität der nicht-genealogischen Figur selbst einherzugehen, die sich, so Schleef, qua gesellschaftlich abgesicherter, ritueller Drogeneinnahme konstituieren müsse. So beschreibt er mit dem 'pestkranken' Chor ein Angstbild, das bereits die antike Tragödie – als „Diskussion eines schwankenden Staatswesens“ (DFP, S. 475) – zeichne: „Der antike Chor ist ein erschreckendes Bild: Figuren rotten sich zusammen, stehen dicht bei dicht, suchen Schutz beieinander, obwohl sie einander energisch ablehnen, so, als verpeste die Nähe des anderen Menschen einem die Luft. Damit ist die Gruppe in sich gefährdet, sie wird jedem Angriff auf sich nachgeben, akzeptiert voreilig angstvoll ein notwendiges Opfer, stößt es aus, um sich freizukaufen. Obwohl sich der Chor des Verrats bewußt ist, korrigiert er seine Position nicht, bringt vielmehr das Opfer in die Position des eindeutig Schuldigen.“ (DFP, S. 14)

In seiner Auseinandersetzung mit Parsifal beschreibt Schleef nicht zuletzt auch, wie Wagner diesen, nach Schleef aus der antiken Tragödie herrührenden Aspekt der strukturellen Gewalt nachzeichnet, der dem Chor-Thema inhärent zu sein scheint und den das Theater nur mittels der Chor-Figur darstellen könne. Auf diesem Hintergrund liest Schleef Wagners Parsifal als konfliktuöses Chor-Stück, das an Motiven und Form der antiken Tragödie arbeitet. Diese Auseinandersetzung Schleefs, die wie unter der Lupe des Chor-Themas die Konfliktlinien in Wagners Stück heraushebt, soll in der folgenden Parsifal-Lektüre nachvollzogen werden. Die Exposition der szenischen Situation stellt sich in Wagners Stück wie folgt dar: König Titurels Reich war von den Arabern bedroht, als „des Heilands sel’ge Boten“40 den heiligen Gral, den Abendmahlskelch Jesu, in dem Joseph von Arimathia einst das Blut des gekreuzigten Gottessohnes aufgefangen hatte, in seine Hände gaben. Die Ritter von Monsalvat, an ihrer Spitze Titurel, sind von nun an die Hüter des heiligen Grals sowie des heiligen Speers. Beide Reliquien besitzen göttliche Kraft, welche die Ritter unverwundbar und unsterblich macht. Täglich enthüllt der oberste Gralshüter das heilige Gefäß zur Sicherung und Stärkung der 40 Richard Wagner, Parsifal (1. Aufzug). A.a.O., S. 332.

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Tragödie als Bühnenform Gralsrittergemeinschaft. Die Enthüllung des Grals verläuft nach einem strengen Ritual: Alle Angehörigen der Gralsgemeinschaft versammeln sich im Hauptsaal der Gralsburg um die Speisetafeln. Auf einem Tisch steht der verhüllte Gral, die Quelle der Kraft und göttlichen Macht, dessen Teilhabe seitens der Gralsritter Sinn und Zweck des Rituals ist. Zur Theatralisierung dieser rituellen Situation ertönen in Parsifal 'Knabenchöre' aus der Kuppel des Saals und verkünden das Glaubensgeheimnis, das den Abendmahlsritus begründet: Der Leib Gottes ist in den Gläubigen, wenn diese den Ritus des 'Gott-Essens' (Kott) regelmäßig zum Gedächtnis an die Passion Christi, den Tod des Gottessohnes zur Sündenvergebung, der Versöhnung der Menschen mit Gott, vollziehen. Dann vollzieht sich die Enthüllung des Grals, die Worte Jesu beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern, dem Gründungsmythos des christlichen Eucharistiegedankens, werden wiederholt – ebenfalls durch auf der Szene nicht sichtbare 'Knaben', aus der Kuppel des Saales: „Nehmet hin mein Blut / [...] Nehmet hin meinen Leib“41. Darauf wird die Schale, der heilige Gral, von einem „blendende[n] Lichtstrahl [...] von oben“42 erleuchtet. Der erste Hüter des Grals, der nach Titurels Abdankung sein Sohn Amfortas ist, erhebt das Gefäß wie eine Monstranz und segnet damit die Speisen des ritterlichen Mahls. Nach dieser Eucharistie, in der Gott durch die Vermittlung des Priesters das Brot in Christi Leib und den Wein in sein Blut verwandelt, werden die so geheiligten Speisen an die versammelten Ritter verteilt. Die Kommunion, die Teilhabe am Leib und Blut Gottes durch den Verzehr desselben, stärkt die Essenden, macht sie unsterblich und unverletzbar. So stiftet die 'Droge' (Schleef) den Chor durch die Einhaltung des Abendmahlsritus. Die Drogeneinnahme in der Gruppe sichert die Chormitgliedschaft des Einzelnen und den Zusammenhalt der Gruppe. Wird der Ritus nicht eingehalten, fällt die Drogeneinnahme weg, zerfällt der Chor, dessen Sinn und Begründung die gemeinsame Drogeneinnahme ist. Vom Wegfall der Drogeneinnahme durch die Ritter des heiligen Grals erzählt Wagners Parsifal. Bei seiner Ankunft auf der Gralsburg trifft Wagners Protagonist auf einen zerstörten Chor, eine existentiell bedrohte Gemeinschaft. – Was ist geschehen? Amfortas, dessen Aufgabe als König der Gralsritter von Monsalvat es ist, das Ritual der Gralsenthüllung zu vollziehen, verweigert dies und zieht so den Zorn der Ritter wie seines Vaters Titurel auf sich. Amfortas ist krank. Er leidet an einer nicht heilenden Wunde, die ihm Klingsor, der ehemalige Gralsritter und jetzige Gegner der

41 Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 343. 42 Ebd.

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Der Golem in Bayreuth Rittergemeinschaft43, der – so Schleef – aus dem Chor Ausgestoßene, mit dem heiligen Speer beigebracht hat, von dem Jesus am Kreuz durchbohrt wurde. Amfortas hat seine Aufgabe der Reliquienbewahrung nicht gut erfüllt: Klingsor, der wegen seiner Selbstkastration von Titurel aus dem Kreis der Gralsritter, die das Keuschheitsgebot aus Glauben einzuhalten geboten sind, verstoßen wurde, entwand ihm den Speer, als jener sich von Kundry, dem verkörperten Sündenfall des Mannes44, verführen ließ. Klingsors Verachtung, so Schleef, treffe Amfortas wie der Speer, denn, so wisse jener, „der Mann, der einer Frau gehört, ist erledigt“ (DFP, S. 279). Die Enthüllung des Grals und die darauf folgende Einnahme der 'Blut-Droge', nach der die Ritter lechzen, bereitet Amfortas unbeschreibliche Qualen, da sie jedes Mal aufs Neue aus seiner Wunde, aus der Stelle, wo Klingsor ihn mit dem geraubten Speer verletzt hat, Blut fließen lässt. Diese schmerzende, blutende Wunde wird im Stück als Rache Gottes am sündigen Gralshüter Amfortas aufgefasst. Amfortas’ Schuld stellt sich als eine doppelte dar: Nicht nur verletzte er das Keuschheitsgelübde der zölibatären Rittergemeinschaft, auch ließ er sich von einem 'Unreinen' den heiligen Speer stehlen. Seine doppelte Strafe folgte auf dem Fuß: Von nun an leidet er unter der 'ewigen Wunde', die Klingsor ihm an derselben Stelle, wo einst Jesus am Kreuz der Speer traf, beibrachte und von der Slavoj Žižek schreibt, diese sei Zeichen „für einen gewissen Überschuß an Genießen“45. Durch seine Weigerung, die Qual der aufbrechenden Wunde bei der Gralsenthüllung auf sich zu nehmen, also das Ritual durchzuführen, bleibt die 'Drogeneinnahme' aus und somit, nach Schleef, der den Chor gründende Akt. Dies ist die Situation des Parsifal. Wagner zeichnet die Gesellschaft der Gralsritter vor der Ankunft des messianisch erwarteten Protagonisten als krank. Nach Blut lechzende Ritter, deren Kraft ob der verweigerten Gralsenthüllung

43 Schleef beschreibt diese tödliche Feindschaft der ehemaligen 'Brüder' Amfortas und Klingsor unter dem Motiv des 'Bruderkampfs', das Wagner nach antikem Vorbild forme. Als antikes Vorbild des Bruderkampfs gilt Schleef der Kampf zwischen Eteokles und Polyneikes in Aischylos’ Sieben gegen Theben. Die Parallele zwischen den Figuren Eteokles und Klingsor sieht Schleef darin, dass beide als Unterlegene definiert und somit aus dem Chor ausgestoßen würden (vgl. dazu: DFP, S. 278ff.). 44 Vgl. dazu: Slavoj Žižek, „'Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug'. Das Subjekt der Oper und seine Schicksale“. In: Lettre International. Nr. 19, 1992, S. 55-64, hier: S. 61. 45 Slavoj Žižek, „'Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug'“. A.a.O., S. 58.

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Tragödie als Bühnenform durch den König dahinschwindet, die ständige Bedrohung der Verführung – in Gestalt von Klingsors Lustgarten und seiner Macht über Kundry –, ein sterbender, seltsam machtloser ehemaliger König, ein grausamem Leiden ausgelieferter König, der das Ritual, die 'Drogeneinnahme' verhindert, Machtverlust durch den Raub einer der beiden heiligen Reliquien. Diese Gesellschaft zeichnet sich als das Bild des 'pestkranken Chors', dessen Zusammenhalt durch die rituelle Einnahme der 'Blut-Droge' nicht mehr gesichert ist. Die Ritter sind kurz davor, ihren König Amfortas, der um Erlösung von seinen Qualen fleht, zu töten. Sein eigenes Blut, das immer wieder aus der nicht heilenden Wunde fließt, hat ihn vergiftet: „Hier bin ich, – die offne Wunde hier! Das mich vergiftet, hier fließt mein Blut“46.

Mit Amfortas scheint die ganze Gralsgemeinschaft vergiftet, die, kraftlos geworden, sich gegen ihre eigenen Mitglieder wendet, sich selbst zerstört. Schleef fasst Klingsors Selbstentmannung, die dessen Chorausschluss durch Titurel nach sich zieht, als erste 'Individualisierung' in Wagners Parsifal auf. Diese dem Stück vorausliegende Handlung stellt für Schleef Wagners Bezug zur 'antiken Konstellation' her: „Der antike Chor verweigert eine Mitgliedschaft“ (DFP, S. 263). In dieser Chorausstoßung, die ihren Anlass in Klingsors 'Individualisierung' nehme, kündige sich der Verfall der Gralsrittergesellschaft bereits an, so Schleef: „Einerseits wird ja gerade in seiner Herabwürdigung und Diffamierung durch die Gralsritter das eigentliche Individuum im PARSIFAL geboren. [...] Andererseits ist mit dieser Verstoßung Klingsors durch Titurel das Ende des Chores, das Ende der Gralsritterschaft und ihres Königs besiegelt.“ (DFP, S. 262f.)

Als zweite 'Individualisierung' gilt Schleef Amfortas’ Verfehlung, sein Geschlechtsakt mit Kundry, die Klingsor entgegengesetzte Tat, die ebenfalls Wagners Stückhandlung vorausgeht und Amfortas’ Verwundung, die seine Vergiftung durch sein eigenes Blut nach sich zieht. Denn aus Amfortas’ Wunde, so Wagner, tritt sein schlechtes Blut, das vergiftet ist von seinem sexuellen Genießen, das Schleef als 'Individualisierung' gegenüber der – Keuschheit gebietenden – Gralsritterschaft bezeichnet. Demgegenüber steht in Parsifal das gute Blut Gottes, für Schleef die 'Blut-Droge' der Gralsritter, deren Einnahme die Teilhabe am göttlichen Leib bedeutet und die den Chor-Körper begründet. 46 Amfortas in: Richard Wagner, Parsifal (3. Aufzug). A.a.O., S. 374.

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Der Golem in Bayreuth Das Genießen des Einzelnen schließt per definitionem den Chor aus und widerspricht damit dessen Prinzip. Auch Amfortas erscheint daher aus Ausgestoßener47, Stigmatisierter: „Die schreckliche Wunde, das Gift ersterbe“48, ruft der die Vernichtung seines Leibes erflehende Amfortas. „Taucht eure Schwerter / tief - tief (hinein) bis ans Heft!“49, fordert er die Ritter auf. Nachdem sie Amfortas zuvor bedrängt hatten, das Ritual endlich zu vollziehen, sind sie jetzt „scheu vor ihm gewichen“50, als könne dessen vergiftetes Blut sie infizieren. Doch der Chor der Gralsritter scheint bereits infiziert. Jeder kennt die 'Krankheit', an der Amfortas sich die Wunde schlug, jeder kennt Klingsors Lustgarten, in dem er Mädchen zur Verführung der geschwächten Ritterschaft hält, um einst selbst in den Besitz des Grals und dessen Macht zu kommen. Rettung kann hier nur noch von außen kommen, da die ganze um den nicht enthüllten Gral versammelte Gemeinschaft krank zu sein scheint. In diesem Moment, als der gepeinigte Amfortas vor dem offenen Sarg seines Vaters die Ritter um seine Tötung bittet, betritt Parsifal, der Amfortas in einem Traum als Erlöser verheißene „reine Tor“51, den Saal. Mit dem heiligen Speer, den er Klingsor vor dessen Vernichtung abgejagt hat, schließt er nun Amfortas’ Wunde, denn: „Nur eine Waffe taugt: – die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.“52

Doch Parsifal, der vom Gral verheißene und messianisch erwartete 'Erlöser' der kranken Gralsritterschaft, der auf seinem Irrweg, auf den Kundrys Fluch ihn geschickt hat, eine Karriere als Totschläger gemacht hat, kommt als Usurpator. Er macht sich selbst zum König und beendet damit die Herrschaft der Gralskönige: „Sei heil, entsündigt und entsühnt, denn ich verwalte nun dein Amt.“53

47 So nimmt er auch im ersten Gralsritual (1. Aufzug) als Einziger nicht

48 49 50 51 52 53

an der rituellen Speisung teil, wie es die szenische Anweisung zu lesen gibt: „Während des Mahles, an welchem er nicht theilnahm, ist Amfortas aus seiner begeisterungsvollen Erhebung allmählich wieder herabgesunken.“ (Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 344) Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 374. Ebd. Ebd., S. 375. So Amfortas und Gurnemanz im 1. Aufzug (ebd., 328, S. 334). Ebd. Ebd.

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Tragödie als Bühnenform So endet Wagners Parsifal, und mit dieser Machtübernahme, die Slavoj Žižek als Eintritt in die „Sphäre unbedingter Macht“54 beschreibt55, ist ebenso die Figur des Gralsritter-Chors am Ende. Nach Schleefs Analyse ist die in Wagners Text behauptete 'Erlösung' – Amfortas’ und der Gralsritterschaft sowie auch Kundrys – durch die das Stück abschließende Machtübernahme Parsifals ein 'trügerischer Schluss'.56 Diese Ansicht vertritt auch der Musikwissenschaftler Gerd Rienäcker bezüglich der musikalischen Umsetzung des Schlusses – insbesondere im Hinblick auf Kundrys vorgeblichen 'Erlösungs'tod.57 Unter dem Titel „Erlösung dem Erlöser?“ bezweifelt Rienäcker in seiner Wagner-Studie die 'erlösende' Wirkung des Parsifal-Schlusses: „Erlösung? Ihr opponiert Parsifals Wehklage zuvor [...]. Ihr opponieren die seltsam zusammengedrückten, harmonisch und instrumentatorisch verfremdeten Gralsthemen, widerspricht der gesplitterte Klang, schmerzhaft

54 Slavoj Žižek, „'Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug'“.

A.a.O., S. 62. 55 Žižek erklärt diese „neue Autorität“ Parsifals, der „nicht mehr Vertreter

des großen Anderen“ sei, wie folgt: „Dennoch unterscheidet sich die neue Autorität von der herkömmlichen in ihrer Beziehung zum großen Anderen des Gesetzes: Die herkömmliche Autorität, an die der Held von Monteverdi bis Mozart sich mit seiner Bitte richtete, war fähig, sozusagen auf die eigenen Schultern zu steigen und das eigene Gesetz im Akt der Gnade außer Kraft zu setzen – der Agent des Gesetzes fällt hier mit dem Agenten seiner zeitweiligen Suspendierung zusammen, d.h. der Andere ist zugleich der Andere des Anderen –, während schon in Wagners Ring der Gott (Wotan), von den zwei Riesen in Rheingold als der Garant des Gesellschaftsvertrages interpelliert, sich so sehr in seine eigenen Widersprüche verstrickt, daß die einzige Lösung, die er ins Auge fassen kann, ein Akt der Erlösung, von einem völlig unwissenden Helden vollzogen, ist, der mit der Sphäre der Götter nichts zu tun haben wird. Darin liegt Wagners entscheidende Verschiebung: 'Die Wunde kann geschlossen werden' nur durch einen freien Akt, der in einem radikalen Sinne von außen kommt, d.h. nicht durch das symbolische System selbst hervorgebracht wird.“ (Slavoj Žižek, „'Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug'“. A.a.O., S. 63, Hervorhebungen im Original) 56 Vgl. DFP, S. 180f. 57 Am Beispiel der Schlusssequenz des Parsifal legte Rienäcker diese These in einem Vortrag dar, der unter dem Titel „Droge Faust Parsifal – Nachdenken über ein Buch von Einar Schleef“ am 19.1.2005 am Literaturforum im Brecht-Haus, Berlin, stattfand. Vgl. Gerd Rienäcker, „Verdammteste Arbeit, verdammtester Ernst. Nachdenken über ein Buch von Einar Schleef“. In: Theater der Zeit, Nr. 1, 2007, S. 26-29.

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Der Golem in Bayreuth vehementer Polyphonie im Glaubensthema, widerspricht Kundrys vehementer Zusammenbruch [...], opponiert [...] das Gewaltsame im Schluß“58.

Nicht zuletzt auch die Formierung des Chors als Figur der Frage gilt Rienäcker als Einspruch gegen die Rezeption des Parsifal-Schlusses als 'Erlösung', denn „als Frage, wenn nicht uneingelöste Forderung, muß die chorische Sentenz begriffen werden: 'Erlösung dem Erlöser', aller thematischen Erlösung des Abendmahls zum Trotz“59. Im Sinn des nicht eingelösten Erlösungsversprechens stellt Rienäcker in seiner Analyse der Musik den Aspekt der Klage (der Protagonisten) und des Trauermarschs (der Chor-Szenen) in Parsifal in den Mittelpunkt. Diese durchdrängen immer wieder Grals- und Abendmahlsmotiv und stünden damit gegen den Heilsgedanken. 'Sturz' und 'Versteinung', apokalyptische Posaunen und musikalische Zusammenbrüche zeichneten die Gralswelt, in der die Einzelnen sich vielmehr als ohnmächtige Leidende denn als Erlöste und Erlöser darstellten. Das Gralszeremoniell, Dreh- und Angelpunkt der Erlösungsgeschichte – sowie dessen von Schleef analysierte dunkle Rückseite – beschreibt Rienäcker als „versteinte[] Klage, festgehalten im Schraubstock, verräumlicht, tretend auf der Stelle und gefangen im Knäuel schreiender Dissonanz, unerlöst-ambivalenter Tonalität! [...] Es ist die eigentliche Geschichte, wovon Instrumentalmusik redet, insofern Wort und Szene ihr die Stafette übergaben!“60 Mit Bezug auf die auch von Schleef konstatierte prinzipielle Gottabwesenheit in Parsifal, die dem Erlösungsgedanken entgegensteht, beschreibt Rienäcker den negativen Zug der von Wagner zitierten Passionssymbolik. Diese, auch Wagners Bezug auf das 'Unerlöste' in Bachs Matthäus-Passion, stellten vielmehr den Zweifel am christlichen Erlösungsgedanken aus als dass sie dessen Wirksamkeit behaupteten.61 Von diesem grundsätzlichen Zweifel am Erlösungsgedanken, von der musikalischen Infragestellung positiver Utopie bleibt Wagners Parsifal für Rienäcker mehr gekennzeichnet denn von einer nur scheinbar konsistenten, messianischen Erlösungsidee. Auch Schleef sieht im Schluss des Stücks weniger die vorgebliche Erlösung, denn vielmehr die Zeichnung eines allgemeinen, weil alle dramatischen Figuren betreffenden Untergangs, so dass auch die im Stücktext proklamierte Erneuerung des „Machtanspruch[s] einer Mordarmee“ letztlich ein „Theatersieg“ (DFP, S. 180) bleibe. Nicht nur Amfortas unterliegt Parsifal, indem er seine Macht an den 58 Gerd Rienäcker, Richard Wagner. Nachdenken über sein 'Gewebe'. Ber-

lin: Lukas-Verlag, 2000, S. 384, Hervorhebung: C.S. 59 Ebd. 60 Ebd., S. 376f. 61 Vgl. ebd., S. 381ff.

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Tragödie als Bühnenform von außen kommenden Usurpator abgibt. Auch die Gralsritterschaft, die das Stück als im Zerfall begriffenen Chor zeige, so Schleef, sei mit der Machtübernahme durch einen nicht als Gralsritter Initiierten am Ende. Jedoch auch Parsifal selbst sei, indem er sich an die Spitze einer untergehenden Gesellschaft stellt, ein dem Untergang geweihter Protagonist.62 Dass der Schluss des Parsifal weniger unter dem Zeichen der Erlösung, denn dem des Zusammenbruchs einer Gesellschaftsform stehe, stellt Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge in den Zusammenhang einer strukturellen Gottabwesenheit, die das Wagners Stück kennzeichne: „[D]er ganze 3. Teil beschreibt einen ungeheuren Niedergang: diese Gralswirkung, von der ununterbrochen gesprochen wird, existiert weder am Anfang noch am Ende, und das wird in der Handlung selbst belegt. Es wird immer gesagt: wenn man des Grals ansichtig wird, wenn man diesen Ritus zelebriert, kann man nicht sterben [...]. Dann merkt man, daß diese ganze Gralswirkung überhaupt nicht einsetzt, denn die Leute kriegen keine besseren Stimmen, sie werden nicht jünger, es ist einfach Dämmer und Ende. Denn einen Punkt nimmt Wagner doch ernst: wenn er schon die Katharer als Kampfform nicht einführen kann, auch nicht als religiöse Kampfform, dann geht er schon davon aus, daß Gott tot ist, und das wird systematisch durchgezogen.“63

Dass es sich beim Schluss des Parsifal keineswegs um einen allgemeine Erlösung stiftenden Akt handelt, wird jedoch nach meiner Ansicht am deutlichsten an Kundry. Nachdem Wagner, wie Schleef in Droge Faust Parsifal festhält, die Klagefigur der Kundry zur großen weiblichen Protagonistin in der Nachfolge der tragischen Protagonistin Elektra stilisiert hat, stirbt diese nach Parsifals Okkupation der Gralsburg und seiner Selbstinthronisation einen stummen Tod. Des ungeachtet schwingt Parsifal, der neue König, den Gral segnend über die anbetende Ritterschaft.64 Wiewohl ihr Tod, um den sie mehrfach fleht, um Klingsor und ihrem endlos verfluchten Dasein zu entkommen, auf der Textebene als Erlösungstod suggeriert wird, gilt auch Schleef der Versuch, die weibliche Protagonistin auf der Szene zu behaupten, als gescheitert. Dass ihr Tod weniger Erlösung als Opfer – einer wiederherzustellenden Männergesellschaft – ist, wird allzu deutlich, wenn man ihn der Heilung Amfortas’ durch Parsifal, kurz zuvor, gegenüberstellt.

62 Vgl. DFP, S. 181. 63 Einar Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge in: „Endkampf in einer

Ritterburg. Einar Schleef und die Gesangsmaschinen des PARSIFAL“. A.a.O., S. 57. 64 Vgl. Richard Wagner, Parsifal (3. Aufzug). A.a.O., S. 375.

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Der Golem in Bayreuth Wenn Schleef die Bühne in Parsifal als „Opfertisch“ (DFP, S. 155) auffasst, kann dies vor allem mit Blick auf Kundry gelten. Zwar versuche Wagner, so Schleef, indem er seine Protagonistinnen als weibliche Klagefiguren ins Zentrum der Handlung rücke, an die 'antike Konstellation' als Szene 'VOR DEM PALAST' anzuschließen. Diese werde jedoch nur als (abgeschwächte) Erinnerung aufgerufen: „So betreten Wagners weibliche Figuren ausschließlich die Bühne, um auf ihr exekutiert zu werden. Sie verlieren im Bühnenraum ihre Autonomie, die zwar als Erinnerung angerufen wird, sich aber im weiteren szenischen Verlauf weder behaupten noch einstellen kann. Diese weiblichen Passionen sind identisch mit den antiken Vorbildern, in denen die Frau meistens für das Untergegangene steht, das beschworen, bewahrt, verteidigt werden muß, aber unwiederbringlich verloren ist.“ (DFP, S. 158)

Indem Wagner den dramatischen Konflikt derart an zentrale weibliche Figuren knüpfe, versuche er, im Anschluss an die deutschen Klassiker und deren Arbeit an den antiken Vorbildern, neue Formen des „tragischen Bewusstseins“ (DFP, S. 9) für das Musiktheater zu finden. Dieser Versuch müsse jedoch geradezu notwendig fehlschlagen, so Schleef mit Blick auf Kundry, denn „[i]n einer Zeit, die männlichen Triumph feiert, gelingt es einer weiblichen Figur nicht mehr im Zentrum Fuß zu fassen“ (DFP, S. 155). Kundry bleibt jedoch – viel mehr als Goethes Margarethe, deren zentrale Stellung in Goethes früher Faust-Fassung in Faust I wieder zurückgenommen werde – für Schleef die zentrale Figur, indem sie für Wagners Arbeit an der „Rückführung der Frau in den zentralen Konflikt“ (DFP, S. 9) stehe, die nach Schleef Bedingung für eine Neufindung der Auffassung des Tragischen ist. Der Tod der Figur, der szenisch mehr als Entsorgung denn als 'Entseelung' (Wagner) anmutet, scheint dagegen zu sprechen. Daher bleibt Kundry eine ambivalente Figur, die auf die Rückseite der Ambivalenzen zwischen Wagners theater- und bühnentheoretischen Forderungen einerseits – wie der proklamierten Ersetzung des Chors durch das moderne Orchester und der Herstellung der perfekten theatralen 'Illusion' durch den radikalen Einsatz der Zentralperspektive –, und seiner inszenatorischen Umsetzung andererseits – der zentralen Bedeutung des Gralsritterchors und der durchgängigen (Licht-) Stimmung der 'Dämmerung' in Parsifal –, spielt.

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Tragödie als Bühnenform

Orchester und Chor. Auseinandersetzung mit Wagners Bühnenform Während der Chor, wie an den Wagner-Zitationen in Schleefs Golem-Inszenierung deutlich wird, an die Stelle des Orchesters zu treten vermag, wird das Orchester in der Inszenierung durchgängig als Chor behandelt. Wie an der Eingangsszene beschrieben, formiert sich das Orchester zu Beginn aus dem Chor der Festspielgesellschaft und ist somit bereits als Mitspieler definiert. In einer langen Orchester-Szene zu Beginn des zweiten Teils treten Instrumentengruppen oder einzelne Musiker zu ihren Soli aus den in wechselnden Konstellationen über die Bühne verteilten Gruppen hervor, wie auch einzelne Stimmen aus den Chorgruppen herausragen. Dass das Orchester als chorischer Mitspieler behandelt wird, wird auch an seiner räumlichen Positionierung im Akademietheater deutlich, die der des Chors gleicht. So umfassen die Spielorte des Orchesters den gesamten Theaterraum, indem sie vom Rang, dem Ort der „Parsifal-Fanfaren“, bis zur Hinterbühne reichen. Das Orchester, derart als Chor behandelt, hat in diesem Theater genau wie der Chor keinen eigenen Ort. Dem fehlenden festen Ort einer Orchestra korrespondiert in dieser Raumbehandlung die Abwesenheit des Orchestergrabens. Nicht der Bühne, also der Szene gegenüber, vor ihr oder gar unter ihr verborgen, unsichtbar in einen 'mystischen Abgrund' (Wagner) versenkt, spielt das Orchester, sondern: auf der Bühne, gegenüber den Zuschauern sowie auf dem Rang, hinter den Zuschauern, der Bühne gegenüber. Alles spielt auf der Bühne und im ganzen Theater. Die konsequente Gleichbehandlung von Orchester und Chor, die räumliche wie klangliche Definition des Orchesters als Chor verweist so auch auf die Problematik eines im Theater nicht vorhandenen Chorraums. Indem die Inszenierung Der Golem in Bayreuth das Orchester als Chor definiert, nicht als dessen musikalische Ersetzung oder räumliche Verdrängung, werden die in Droge Faust Parsifal von Schleef insbesondere an Wagners Theaterkonzeption aufgeworfenen Fragen neu gestellt. In welchem Verhältnis stehen Orchester und Chor zueinander? Wie verhalten sich beide zu und in einem Theaterraum, der keinen eigentlichen Chorraum vorsieht? Wie platziert man das Orchester in einem Theater, das nicht als Hörraum, sondern als reine Schauanlage konzipiert ist? Wagner löst das Problem der aus den Theaterräumen gestrichenen Orchestra, eines fehlenden Chorraums im Theater praktisch, indem er einen Graben zwischen Bühne und Cavea zieht und so das Orchester optisch verschwinden lässt. Theoretisch behauptet er (in Oper und Drama) die vollständige, adäquate Ersetzung des Chors durch das (unsichtbare) Orchester. Für Schleef stellt die räumliche Innovation des Orchestergra-

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Der Golem in Bayreuth bens keine inhaltliche Lösung des Problems dar, sondern eine Verschärfung. Das Problem der Situierung des Orchesters in den als Schauräumen angelegten Theaterräumen, deren Tradition bis heute, auf den Bühnen des Guckkastentheaters, wirksam ist, ist ebenso das für Schleef zentrale Problem des Chorauftritts, die Frage nach einem Ort des Chors im Theater. Um diese Zusammenhänge zu verdeutlichen, die Schleefs Theaterarbeit und nicht zuletzt die Inszenierung des Golem in Bayreuth kennzeichnen, sei im Folgenden zunächst Wagners theoretische Konzeption des Orchesters und seine Ablehnung des Opernchors näher dargestellt.

VON DER ORCHESTRA ZUM ORCHESTER. WAGNERS OPER UND DRAMA Die dreiteilige Schrift Oper und Drama65, in der Wagner seine Konzeption des Musiktheaters in Absetzung von der zeitgenössischen Oper formuliert, widmet sich in weiten Teilen der Funktion und Bedeutung des Orchesters, welches in der Moderne, so Wagners Hauptthese, an die Stelle des Chors der griechischen Tragödie getreten sei. Den Bedeutungsverlust des Chores in der historischen Entwicklung der antiken Tragödie interpretiert Wagner gar als deren Reifeprozess: Das Zurücktreten des Chors in die Handlungen der Protagonisten und endlich sein gänzliches Verschwinden von der Szene, als Zurücktreten ins „Volk“66, sei notwendiger Vorgang zur ästhetisch höher stehenden Individualisierung der theatralen Figuren. Entsprechend höher zu bewerten sei demnach das Theater Shakespeares, da dieser, so Wagner, die „Nothwendigkeit des Chores vollkommen überwunden“ habe. Shakespeares Zerschlagung des Chors in individuelle Figuren, seine Auflösung „in lauter an der Handlung persönlich betheiligte Individuen“67 sieht Wagner als Fortschritt der Tragödie an. Die von Shakespeare gezeichneten dramatischen „Persönlichkeiten“ seien jedoch im historischen Entwicklungsverlauf der „modernen dramatischen Kunst“ immer mehr zu „Charaktermasken“ bar jeglicher Individualität erstarrt, konstatiert Wagner. Diese Entwick-

65 Wagners Schrift Oper und Drama, zuerst erschienen 1852 in Leipzig, gliedert sich in drei Teile: Die Oper und das Wesen der Musik (1), Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst (2), Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft (3). Im Folgenden wird zitiert nach: Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen. A.a.O., Bd. 3, S. 222-320 (Teil 1) und Bd. 4, S. 1-229 (Teil 2 und 3). 66 Richard Wagner, Oper und Drama. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. A.a.O., Bd. 3, S. 26. 67 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform lung schreibt er dem „Einflusse des ständisch uniformierenden Staates“68 zu: „Das Schattenspiel solcher innerlich hohlen, aller Individualität baren Charaktermasken ward die dramatische Grundlage der Oper. Je inhaltsloser die Persönlichkeiten unter diesen Masken waren, desto geeigneter erachtete man sie zum Singen der Opernarie. 'Prinz und Prinzessin', – das ist die ganze dramatische Axe, um die sich die Oper drehte, und – bei Licht besehen – jetzt noch dreht.“69

Die fehlende inhaltliche Dimension dieser Figuren sei, so Wagner, durch „äußeren Anstrich“ ersetzt und schließlich durch die Erfindung der besonderen „Lokalität des Schauplatzes“70 ergänzt worden. So sei auch der Opernchor zum bloßen Lokalkolorit, zur „bewegungsfähige[n] Umgebung“ des „kolorirten Sängerleben[s]“71 geworden. Der Chor sei somit gänzlich inhaltsloser Teil des Theaterapparats geworden: „[D]ie individuellen Persönlichkeiten, zu denen einst der Chor des Volkes sich verdichtet hatte, verschwammen in buntscheckige, massenhafte Umgebung ohne Mittelpunkt. Als diese Umgebung gilt uns in der Oper der ganze ungeheure scenische Apparat, der durch Maschinen, gemalte Leinwand und bunte Kleider uns als Stimme des Chores zuschreit: 'Ich bin Ich, und keine Oper ist außer mir!'“72

Wagner konstatiert im Zusammenhang mit dem Einwandern der chorischen Form in die Oper den Bedeutungsverlust des Chors, der nurmehr der klanglichen Verstärkung der Arie diene, dem Protagonisten jedoch keine inhaltliche Position entgegensetze. Das „Volk“ und mit ihm die Öffentlichkeit, die er noch im Chor der antiken Tragödie symbolisiert sieht, sei im instrumentalisierten Opernchor zur gelehrigen „Masse“ paralysiert, zur folkloristischen Bebilderung der inhaltsschwachen Szene: „Um die öde Szene um den Ariensänger herum zu beleben, hat man das Volk, dem man seine Melodie abgenommen hatte, selbst endlich auf die Bühne gebracht; aber natürlich konnte das nicht das Volk sein, das jene Weise erfand, sondern die gelehrig abgerichtete Masse, die nun nach dem Takte der Opernarie hin- und hermarschirte. Nicht das Volk brauchte man, sondern die Masse, d.h. den materiellen Überrest von dem Volke, dem man den Lebensgeist ausgesaugt hatte. Der massenhafte Chor unse68 69 70 71 72

Ebd., S. 269. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Der Golem in Bayreuth rer modernen Oper ist nichts Anderes, als die zum Gehen und Singen gebrachte Dekorationsmaschinerie des Theaters“73.

Die hier aus der Gegenüberstellung von „Volk“ und „Masse“ resultierende Ablehnung des Massenchors begründet sich für Wagner auch musikalisch im „Unisono“ des Opernchors, dem hundertstimmigen Einklang, welcher nichts als der „Kern der Absicht der Massenanwendung“74 sei. Mit der Tilgung der Vielstimmigkeit, im Unisono sowie der damit einhergehenden Uniformierung und Instrumentalisierung des Chors sei der Opernchor endgültig keine eigenständige Figur mehr, so dass sich seine Ersetzung durch das polyphone Orchester in Wagners theoretischem System geradezu notwendig ergibt. Ist diese Argumentation in sich schon schlüssig, argumentiert Wagner zudem ausgehend von der „Polyphonie“75 der menschlichen Stimme gegen das vereinheitlichende Unisono des Opernchors. Denn es geht ihm gerade auch um die Verdeutlichung der Vielstimmigkeit der Sprachstimme – mit dem und in Differenz zum Orchester und dessen eigenem 'Sprachvermögen'. Wagner setzt 'Wortsprache' und 'Tonsprache' als zwei voneinander unterschiedene, sich gegenseitig ergänzende Ausdrucksvermögen gegenüber. In der menschlichen Stimme offenbare sich auf natürlichste Weise die „polyphonische Symphonie“76, welche gerade im Opernchor nicht mehr vorhanden sei. „Die erste und natürliche Symphonie bietet der harmonische Zusammenklang einer gleichartigen polyphonischen Tonmasse. Die natürlichste Tonmasse ist die menschliche Stimme.“77

Historisch verortet Wagner den Ausdruck der Polyphonie der menschlichen Stimme noch im polyphonen Kirchengesang, dessen Verschwinden in der fortschreitenden Individualisierung der beginnenden Moderne begründet sei. So wie das „Verlangen einer Gemeinsamkeit“78 in der Entwicklung des Christentums nachgelassen habe, sei auch der polyphone Kirchengesang verschwunden.79 An

73 Ebd., S. 270f., Hervorhebungen im Original. 74 Ebd., S. 271. 75 Richard Wagner, Oper und Drama. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. A.a.O., Bd. 4, S. 161. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Allein über diesen Punkt – den Zusammenhang zwischen dem Verschwinden des polyphonen Gesangs aus der Musik, dem Verschwinden der Chor-Figur von der theatralen Szene und der Entwicklung des

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Tragödie als Bühnenform dessen Stelle sei der Kontrapunkt getreten, „als erste Regung des immer klarer auszusprechenden reinen Individualismus“80. Der Kontrapunkt habe indes begonnen, „das einfach symphonische Vokalgewebe zu zernagen, und machte es immer ersichtlicher zu einem oft nur mühsam noch zu erhaltenden künstlichen Zusammenklang innerlich unübereinstimmender, individueller Kundgebungen“81. Was Schleef in Droge Faust Parsifal unter dem Stichwort der 'Individualisierung' als Zerschlagung des Figuren- und Sprachzusammenhangs der Stücke und Stoffe im Zuge der Entwicklung des modernen Dramas beschreibt, fasst Wagner hier auf Seiten der Musik als Individualisierung der Stimmen und somit als Zerstörung des Zusammenklangs der einzelnen Stimmen in der Polyphonie. Den Gipfelpunkt dieser Entwicklung stellt für Wagner die neuzeitliche Oper dar: „In der Oper endlich löste sich das Individuum vollständig aus dem Vokalvereine los [...]. Da, wo sich dramatische Persönlichkeiten zum mehrstimmigen Gesange anließen, geschah dieß [...] zur sinnlich wirksamen Verstärkung des individuellen Ausdruckes, oder [...] als [...] gleichzeitige Kundgebung fortgesetzt sich behauptender charakteristischer Individualitäten.“82

Im 'Drama der Zukunft' hingegen, wie es Wagner hier programmatisch entwirft, sollten sich Individualität und Mehrstimmigkeit wechselseitig bedingen. In diesem zukünftigen Musiktheater solle es nur „Theilnehmer an der Handlung“ geben, „die aus ihrer nothwendigen individuellen Kundgebung einen jederzeit entscheidenden Einfluß auf dieselbe äußern – also nur Persönlichkeiten, die wiederum zur musikalischen Kundgebung ihrer Individualität einer mehrstimmigen symphonischen Unterstützung, das ist: Verdeutlichung ihrer Melodie, bedürfen“83. Der bisherige Opernchor, der nach Wagner zu einem bloßen massenhaften Funktionsträger geworden sei, habe deshalb zu verschwinden, denn: „auch er ist nur von lebendig überzeugender Wirkung im Drama, wenn ihm die bloß massenhafte Kundgebung vollständig benommen wird. Eine

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europäischen Christentums – nachzudenken, erschiene äußerst lohnenswert, kann jedoch an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Richard Wagner, Oper und Drama. A.a.O., Bd. 4, S. 161. Ebd., S. 162. Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original.

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Der Golem in Bayreuth Masse kann uns nie interessiren [...]: nur genau unterscheidbare Individualitäten können unsere Theilnahme fesseln“84.

Wagner lehnt den Opernchor zugunsten der „polyphonische[n] Vokalmasse“ ab, das heißt in seinem musiktheoretischen Entwurf: zur „Wahrnehmbarmachung der harmonischen Bedingungen der Melodie“85. Das „Organ zur Wahrnehmbarmachung der Harmonie“ mit dem „Vermögen einer Charakterisierung der Melodie“ ist aber für Wagner das Orchester, welches den „sogenannte[n] Chor“86 (sic!) auf dem Theater vollständig und adäquat zu ersetzen imstande sei: „Der Chor der griechischen Tragödie hat seine gefühlsnothwendige Bedeutung für das Drama im modernen Orchester allein zurückgelassen, um in ihm, frei von aller Beengung, zu unermeßlich mannigfaltiger Kundgebung sich zu entwickeln: seine reale, individuell menschliche Erscheinung ist dafür aber aus der Orchestra hinauf auf die Bühne versetzt, um den, im griechischen Chore liegenden Keim seiner menschlichen Individualität zu höchster selbständiger Blüthe, als unmittelbar handelnder und leidender Theilnehmer des Drama’s selbst, zu entfalten.“87

Funktion und Bedeutung des (antiken) Chors sind also in Wagners Musiktheaterkonzeption auf das (moderne) Orchester übergegangen. Der Protagonist respektive Sänger ist als „individuell menschliche Erscheinung“ des Chors aus der Orchestra hinauf auf die Bühne gestiegen, als eine einzelne Stimme, die aus dem Orchester, dem ehemaligen Chor herausragt. Welche ist aber genau die Bedeutung des 'modernen Orchesters'? Wie unterscheidet es sich vom Chor, den es als Bedeutungsträger ablöst? Welches Verhältnis besteht zwischen Orchester und Sänger, Instrument und Stimme, 'Wortsprache' und 'Tonsprache'? „Das musikalische Instrument ist gewissermaßen ein Echo der menschlichen Stimme von der Beschaffenheit, daß wir in ihm nur noch den, in den musikalischen Ton aufgelösten Vokal, nicht aber mehr den wortbestimmenden Konsonanten vernehmen.“88

Gegen die Instrumentalisierung des Opernchors setzt Wagner die Unterscheidung zwischen Instrument und Stimme, Orchester und Sänger. Während der Opernchor seine Sprachfähigkeit eingebüßt

84 85 86 87 88

Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 164. Hervorhebung im Original. S. 190, Hervorhebungen im Original. S. 165.

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Tragödie als Bühnenform habe, indem er sich dem Instrument gleichgemacht habe, stehe der Sänger mit seiner stimmlichen Bearbeitung der Sprache dem Orchester als von ihm durch seine Sprachfähigkeit unterschieden gegenüber. Wiewohl Wagner dem Instrumentalton eine Gefühlsverwandschaft mit der Wortsprache und gar ausdrücklich ein eigenes „Sprachvermögen“89 zuspricht, bleibt die Unterschiedenheit von Stimme und Instrument in seinem Entwurf eines zukünftigen Musiktheaters absolut bestehen. Die „Sprachstimme“ sei, so Wagner, das reichste und vollkommenste „Tonorgan“90 und unterscheide sich durch ihre organische Bedingtheit und Möglichkeit wesentlich vom Instrument. Dies sei aber eine Erfahrung, die man nur mache, wenn man die Stimme nicht als Instrument behandle, wenn Konsonanten hörbar seien, und nicht nur ein beliebiger Vokal, der vom Orchesterinstrument nachgeahmt werden könne. Die unendliche individuelle Mannigfaltigkeit des Sprachgesangstons, so Wagner, gehe aus dem „charakteristischen Wechsel der Konsonanten und Vokale“91 hervor.92 Diese von Wagner festgehaltene Differenz des „sinnlichen Tonorganes“ müsse die Stellung des Orchesters zum darstellenden Sänger bestimmen. Denn das Orchester solle den Vortrag des Sängers nicht nur begleiten, unterstützen, sondern allererst wahrnehmbar machen. Die Stimme des Sängers solle also im wahrsten Wortsinn durch ihre sprachliche Unterschiedenheit von jenem aus dem Orchester herausragen. Die Wahrnehmbarmachung des Sängers durch das Orchester begründet Wagner aber auch mit dessen äs89 90 91 92

Ebd., S. 166. Ebd., S. 167. Ebd. Diese Auffassung der Stimme im Gesang korrespondiert Schleefs in der Auseinandersetzung mit Wagner (und Bach) entwickeltem Begriff des 'Gesprochenen Gesangs', den er in Droge Faust Parsifal dem 'Gesungenen Sprechen' entgegenstellt. Der 'Gesprochene Gesang' zeichne sich durch die Spracharbeit in der Musik aus, und diese ist für Schleef, ebenso wie für Wagner, vor allem an die Aussprache der Konsonanten geknüpft: „Obwohl der einzelne Notenwert feststeht, ist seine Ausführung dennoch davon abhängig, wie der betreffende Sänger ein Schluß-M, -N, -T oder -D ausspricht, den Wortabschluß mit dem Beginn des nächsten Wortes verbindet oder trennt.“ (DFP, S. 115) Im 'Gesungenen Sprechen' hingegen werde mit der Undeutlichkeit der Aussprache (insbesondere der Konsonanten) ebenso die inhaltliche Dimension des Textes verunklart. Deshalb sei die Entscheidung zwischen 'Gesungenem Sprechen' oder 'Gesprochenem Gesang' keine rein musikalische Entscheidung, sondern, so Schleef mit Bezug auf Wagners Unterscheidung von 'Oper' und 'Drama', „eine betont inhaltliche, ob dem Gesang oder dem Wort, der Deklamation das Primat zugesprochen wird“, „ob wir Oper oder Drama spielen“ (DFP, S. 49).

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Der Golem in Bayreuth thetischer Autonomie: So ermögliche gerade die Selbständigkeit des Orchesters, seine Losgelöstheit vom Gesangston und der Melodie des Sängers dessen Wahrnehmbarmachung. Wagner besteht konsequent und nachdrücklich auf der Differenz von Orchester und Sänger. Diese dürfe nicht durch eine „Mischung“ der Orchestermelodie „mit dem Gesangstone“93 verwässert werden. Der Unterschiedenheit von Instrumentalton und menschlicher Stimme korrespondiere auch ihre getrennte Wahrnehmung durch das Gehör. Entsprechend dieser grundlegenden Differenz sollen Instrumente, so Wagner, nicht in Gesangsstimme 'übersetzt' werden und umgekehrt. Als Grund gilt ihm die Eigenart und exponierte Position der Stimme. Auch und vor allem wendet er sich gegen den musikalischen 'Irrtum', die Stimme als Orchesterinstrument zu denken und sie als solches mit der Orchesterbegleitung zu verweben.94 Sprache und Sprachstimme würden so zu nur aufgesetzter, unverständlicher und letztlich überflüssiger Begleitung der Orchestermelodie herabgesetzt. Die „vollständige Aufnahme der Melodie in das Orchester“95 zeige also die „gänzlich falsche Auffassung der Gesangsmelodie in der Oper“96. Dem „Sprachvermögen“ des Orchesters stellt Wagner die „Wortversmelodie“97 gegenüber, die das sage, was das Orchester nicht aussprechen könne. Umgekehrt verbindet er die Musik mit dem der Sprache Inkommensurablen. So definiert er das Sprachvermögen des Orchesters als „Vermögen der Kundgebung des Unaussprechlichen“98, welches somit der Sprache des Sängers gegenüber gestellt wird. Mit dieser Definition des Orchesters tastet sich Wagner an ein Problem des Theaters heran, das für das Schauspiel unlösbar bleiben muss: indem das der Sprache Unaussprechliche, zumal seit dem 18. Jahrhundert, auf den Körper des Schauspielers projiziert und somit an die Sichtbarkeit delegiert wird. Wagner hingegen verlegt dieses der Sprache des Sängers beziehungsweise Protagonisten Unzugängliche nicht in den (sichtbaren) Körper des Sängers, seine Gestik und Mimik, sondern in die Musik, in das gleichsam sprechende Orchester. Aus dem so definierten Sprachvermögen des Orchesters ergibt sich für Wagner wiederum die Gegenüberstellung von Tonsprache und Wortsprache: Das Orchester sei keine „Tonmasse“99, sondern 93 Richard Wagner, Oper und Drama. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. A.a.O., Bd. 4, S. 167. 94 Vgl. ebd., S. 169. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd., S. 173. 98 Ebd., Hervorhebung im Original. 99 Ebd., S. 174.

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Tragödie als Bühnenform jedes Instrument sei durch seine Eigentümlichkeit zu individueller Kundgebung fähig. Diese jedoch sei von der Kundgebung der Wortsprache absolut unterschieden. Die Individualität des Instruments bestehe darin, dass jeweils der „Vokal des hervorgebrachten Tones durch seinen konsonierenden Anlaut“100 als je besonderer, unterschiedener definiert sei. Dieser „konsonierende Anlaut“ des Instruments unterscheide sich aber vom „Wortsprachkonsonanten“ dadurch, dass er nicht sinngebend auf den Vokal zurückwirke, das heißt: Die „Tonsprache eines Instrumentes“ verdichte sich „unmöglich zu einem Ausdrucke, der nur dem Organe des Verstandes, der Wortsprache, erreichbar ist“101. Vielmehr spreche die Tonsprache, „als reines Organ des Gefühles, gerade nur Das aus, was der Wortsprache an sich unaussprechlich ist“, was Wagner somit als „schlechthin das Unaussprechliche“102 gilt. Er besteht aber darauf, dass „dieses Unaussprechliche nicht ein an sich Unaussprechliches“ sei, „sondern eben nur dem Organe unseres Verstandes unaussprechlich“103. Wagner wendet sich in seinem Musiktheaterentwurf gegen die absolute Trennung von Sehen und Hören, wie sie in der Aufspaltung des Theaters in Oper und Schauspiel historisch ihren Niederschlag gefunden hat. Eine Mitteilung, die die reine Wortverständlichkeit überschreite und das „sinnliche Empfängnißorgan des Gehöres“ erreiche, müsse sich an „Ohr und Auge“104 richten. Dazu bedürfe es einer besonderen Gebärde, die Wagner wiederum an die Ausdrucksfähigkeit des Orchesters bindet. Wie die körperliche Geste (des Sängers/Schauspielers) sich an das Auge richte, spreche die Sprache des Orchesters, die sich jenseits der Wortsprache und der Melodie des Gesangs ereigne, zum Gehör. Wiederum ist so das 'Unaussprechliche' als die den rein semantischen Sinn überschreitende Mitteilung in die Musik aufgehoben. Diese Fähigkeit zur Kundgebung des Unaussprechlichen – oder auch: zur vollständigen synästhetischen Mitteilung – habe das Orchester aus der „Tanzgebärde“105 gewonnen. Um die Funktion und Bedeutung des modernen Orchesters herzuleiten und den synästhetischen Zusammenhang von musikalischer (als ans Ohr) und körperlicher (als ans Auge gerichteter) Gebärde zu begründen, greift Wagner wieder auf den Ursprung des antiken Theaters, auf Chorgesang und Tanz zurück. Im „Rhythmos“106, das heißt also im chori100 101 102 103 104 105 106

Ebd. Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.

Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. S. 175. S. 176.

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Der Golem in Bayreuth schen Rhythmus, liege der Berührungspunkt von Orchester und Tanzgebärde begründet und damit deren ursprüngliche Verwandtschaft: „Wie die Gebärde in diesem Vermögen ein nur ihr Aussprechliches an das Auge kundgiebt, so theilt das Orchester das dieser Kundgebung wiederum genau Entsprechende ganz so an das Gehör mit, wie im Ausgangspunkte der Verwandtschaft der musikalische Rhythmos das, in den sinnlich wahrnehmbarsten Momenten der Tanzbewegung dem Auge kundgegebene dem Gehöre verdeutlichte.“107

Indem das Niedertreten des Fußes sichtbar sich dem Auge mitteile wie der Taktniederschlag sich gleichzeitig in den chorischen Tänzen zu hören gebe, seien in der antiken Orchestra, dem Herkunftsort des Orchesters, Sichtbarkeit und Hörbarkeit nicht nur eng verknüpft, sondern gleichursprünglich gewesen. Mit dem Aufweisen dieser ästhetischen Zusammenhänge zwischen Auge und Ohr, der Sprache des Orchesters und dem körperlichen Rhythmus arbeitet Wagner daran, die absolute Trennung zwischen Sehen und Hören aufzuheben, welche die Trennung des Theaters in Schauspiel und Oper hervorgerufen und sich in dieser manifestiert hat. Zusammenfassend beschreibt Wagner den Zusammenhang von Orchester und Sänger, Auge und Ohr, Sehen und Hören in der dramatischen Musik. Mittelpunkt des dramatischen Ausdrucks sei die Gebärde: „Die dem Auge sinnfällige, stets gegenwärtige Erscheinung und Bewegung des Verkünders der Versmelodie, des Darstellers, ist die dramatische Gebärde; sie wird dem Gehöre verdeutlicht durch das Orchester“108.

Das Orchester vermittle zwischen Mitteilung, die sich ans Auge und solcher, die sich ans Gehör richte, also zwischen Gesang und Gebärde: „[E]s ist der bewegungsvolle Mutterschooß der Musik, aus dem das einigende Band des Ausdruckes erwächst.“109 Aus dieser Definition des Orchesters, das mit seinem Ausdrucksvermögen zur „'vielstimmige[n]' Gebärde“110 fähig sei, schließt Wagner die Ersetzung des Chors durch das Orchester: „Der Chor der griechischen Tragödie hat seine gefühlsnothwendige Bedeutung für das Drama im modernen Orchester allein zurückgelassen“111.

107 108 109 110 111

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

176f., Hervorhebungen im Original. 190f. 191. 178. 190, Hervorhebungen im Original.

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Tragödie als Bühnenform

Einzig im Orchester entwickle sich der Chor, oder besser: der ehemalige Chor, „frei von aller Beengung“, zu „unermeßlich mannigfaltiger Kundgebung“112. Die „individuell menschliche Erscheinung“ des Chors sei, als Protagonist, „aus der Orchestra hinauf auf die Bühne“113 gestiegen. Wagner beschreibt hier die Geburt des Protagonisten aus dem Chor und dessen zukünftige Ersetzung durch das Orchester: Die Orchestra wird zum Orchester. Wagner streicht hier nicht nur den Chor, sondern indem er die (ehemalige) Orchestra als Orchesterraum definiert, wird die Bühne zum alleinigen Darstellungsraum erhoben, als alleiniger Ort der Sichtbarkeit und der Kundgebung der individuellen menschlichen Stimme. Das Orchester solle jedoch im „vollkommenen Drama“114 nicht alle Aufmerksamkeit auf sich allein ziehen, sondern im Gegenteil die Aufmerksamkeit von sich als Ausdrucksmittel ablenken, zugunsten des Gegenstands des Ausdrucks. Aufgrund dieser hier angedeuteten räumlichen Aufteilung kann das Orchester, wie im Bayreuther Festspielhaus realisiert, im Graben verschwinden. Dass die Unsichtbarmachung des Orchesters aber das theatrale Problem der Beziehung zwischen Graben und Bühne, die problematische Beziehung zwischen Sichtbarkeit und Hörbarkeit im Theater nicht löst, ist ein Punkt, den Einar Schleef in seinen Texten und Theaterarbeiten immer wieder bearbeitet hat. Für Schleef hängt dieses ungelöste Problem auch und zentral mit dem fehlenden Chorraum im Theater und dem Verschwinden des Chors als theatraler Figur zusammen.

VON DER „GRUNDRISSFRAGE ZUR KERNFRAGE“. SCHLEEFS PROBLEMATISIERUNG DES ORCHESTERGRABENS Angesichts der rein chorischen Szene, der strukturellen Ersetzung der protagonistischen Figur durch den Chor und der Definition des Orchesters als Chor in der Inszenierung Der Golem in Bayreuth stellt sich die Frage nach einem Ort des Chors im Theater in radikaler Weise: als grundsätzliche Befragung des Theaterraums, in dem keine Protagonisten mehr auftreten, in dem ein eigentlicher Chorraum jedoch nicht vorgesehen ist. Die Auswirkungen der strukturellen Ersetzung des Protagonisten durch den Chor auf den Theaterraum betreffen auch das Verhältnis von Chor und Orchester: Es scheint, dass in einem Theater, das ohne Protagonisten auskommt, das als Chor-Szene definiert ist, der von Wagner für sein 'Drama der Zukunft' geschaffene 'mystische

112 Ebd. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 223.

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Der Golem in Bayreuth Abgrund', der Graben zwischen Bühne und Cavea, in den er das Orchester versenkt, hinfällig wird. Um diese Koordinatenverschiebung des Theaterraums aufzuhellen, ist zunächst zu fragen, warum das Orchester, das nach Wagner an die Stelle des antiken Chors getreten ist, im modernen Musiktheater aus der Sichtbarkeit verschwinden soll. Welche Bedeutung hat der Orchestergraben im und für den Theaterraum? Warum stellt diese Raumdefinition für Schleef ein nicht nur ungelöstes, sondern verschärftes inhaltliches Problem dar? Inwiefern hängt der von ihm in Bühnenentwürfen, Schriften und Inszenierungen immer wieder problematisierte Ort des Orchesters, die Erfindung des Orchestergrabens mit dem Verschwinden des Chors beziehungsweise mit der Abwesenheit eines expliziten Chorraums im Theater zusammen? Schleefs Wagner-Rezeption knüpft an dessen synästhetischen Gesamtkunstwerk-Entwurf an: indem Schleef gerade am Problem des Orchestergrabens die Frage nach dem verschwundenen Chor stellt. Denn wie das Verschwinden des Chors von den modernen Schaubühnen lässt auch die Versenkung des Orchesters in Wagners Musiktheater nach dem Verhältnis von Sehen und Hören auf dem Theater fragen. In der Inszenierung Der Golem in Bayreuth, die sich musikalisch, szenisch und inhaltlich explizit auf Wagner bezieht, wird das Orchester als Chor behandelt. Sein Auftrittsort ist, genau wie der des Chors, nicht auf einen speziellen Ort auf oder unter der Bühne beschränkt, sondern die Auftritte von Chor und Orchester finden strukturell im gesamten Theaterraum statt. Das ganze Theater ist somit Klangraum der orchestralen Polyphonie und Resonanzraum der chorischen Polyvozität. In diesem Theater des Hörens ist kein Platz für die illusionäre Schaubühne, zu deren Gunsten Wagner den Orchestergraben erfindet. Auf den Orchestergraben als nicht nur bauliches, sondern ebenso gedankliches Problem eines solcher Maßen aufgefassten Theaterraums stößt Schleef immer wieder in seinen Bühnenentwürfen und Theaterarbeiten, nicht zuletzt auch in Reflexionen über zeitgenössische Wagner-Umsetzungen. Warum muss das von Wagner als moderner Nachfolger des antiken Chors definierte Orchester aus der Sichtbarkeit verschwinden? Zu welchem Zweck werden sichtbare Sänger von unsichtbarer Musik getrennt? Vor welchem gedanklichen Hintergrund wird der Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum installiert? In Droge Faust Parsifal zitiert Schleef Gottfried Semper, der 1864 Wagners Ideen zum Bau eines Festtheaters in München kommentiert, welches als nicht realisiertes Vorbild des späteren Bayreuther Festspielhauses gelten kann:

147

Tragödie als Bühnenform „Der Kern des Gebäudes, um den sich alles andere als ihm dienend ordnet, ist der große Hörsaal mit der ihm zugehörigen Bühne. Die Einrichtung beider Teile weicht in wichtigen Punkten von der herkömmlichen Theatereinrichtung ab. Folgende, dem Architekten gestellte Bedingungen waren dabei maßgebend: 1. Vollständige Trennung der idealen Bühnenwelt von der durch den Zuschauerkreis vertretenen Realität. 2. Dieser Trennung entsprechend ein nicht sichtbares, nur durchs Ohr wirksames Orchester. Von diesen beiden Bedingungen ist besonders die letztere für die Einrichtung des Hörsaales, wie für die Gestaltung des ganzen Werkes entscheidend, denn um die Orchestra den Augen aller Zuhörer zu entziehen, ohne durch deren zu tiefes Versenken unter den Boden des Hörsaales und unter die Bühne den durchaus notwendigen Zusammenhang zwischen dem Bühnenspiele und dem Orchesterspiele zu stören oder ganz zu verhindern, bleibt nur die einzige Auskunft, das Auditorium nach antiker Art anzulegen, als ansteigenden Sitzstufenbau (Cavea) und von der modernen Logeneinrichtung vollständig abzusehen.“115

Nachdem Semper akustische und optische Vorteile der Cavea angeführt hat, welche als Form eine Folge der Versenkung der Orchestra sei, fügt er hinzu: „Die vertiefte Lage der Orchestra erfüllt zugleich den wichtigen Nebenzweck, die verlangte entschiedene Trennung der Cavea von der Bühne zu bewerkstelligen. Es entsteht zwischen beiden ein gleichsam neutraler Zwischenraum, dessen Abschluß nach allen Seiten hin, nach oben, unten und seitwärts vom Auge des Zuschauers nicht verfolgt werden kann, so daß die wahre Entfernung der Einfassung der Bühne, die sich jenseits dieses Zwischenraumes erhebt, für das abschätzende Auge aus Mangel an Haltpunkten nicht wohl ermeßbar ist, besonders, wenn letzteres noch außerdem durch passend angebrachte perspektivische und optische Mittel über diese Entfernung getäuscht wird.“116

Um die Trennung von Szene als 'idealer Welt' und Zuschauerraum als 'Realität' räumlich zu manifestieren, soll nach Semper die Herstellung der Musik, welche der 'idealen Welt' der Bühne zugeordnet wird, aus dem sichtbaren Raum verschwinden. Diese gedankliche Zuordnung von Musik und Szene bedarf offenbar der räumlichen Trennung von Musikern und Sängern, die eben nicht nur als Sänger, sondern als protagonistische Figuren einer fiktionalen – hier 'ideal' genannten – Handlung vorgestellt werden sollen. Zu diesem

115 Gottfried Semper, „Königlicher Festbau in München (1867). Baubeschreibung.“ In: Heinrich Habel, Festspielhaus und Wahnfried. Geplante und ausgeführte Bauten Richard Wagners. München: Prestel, 1985, S.629-640, hier: S. 630. Schleef zitiert Semper in: DFP, S. 55. 116 Gottfried Semper, „Königlicher Festbau in München (1867). Baubeschreibung“. A.a.O., S. 630.

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Der Golem in Bayreuth Zweck initiiert Wagner die Einrichtung des Orchestergrabens, aus welcher sich wiederum, laut Semper, die Cavea-Form des Zuschauerraums ergebe. Die Versenkung des Orchesters, das heißt das Verschwinden des ehemaligen Chorraums aus der Sichtbarkeit des Bühnenraums, folgt also nach Semper und Wagner der notwendigen Herstellung einer Illusion. Diese Herstellung von theatraler Illusion, die anscheinend die Erfindung des Orchestergrabens notwendig macht, bringt Wagner in seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses am 22. Mai 1872 auf den Begriff der „erhabene[n] Täuschung“117. Welcher Art ist also diese Täuschung, die mit der Opposition von 'geheimnisvoller' unsichtbarer Musik auf der einen Seite und der Deutlichkeit szenischer Bilder auf der anderen Seite spielt? Warum ist zur Verdeutlichung der bildlich aufgefassten Szene die Zerschlagung des räumlichen Zusammenhangs von Orchester und Sängern, von Sehen und Hören notwendig? Oder ist es die Auffassung der Szene als Bild selbst, die dem Hören keinen Auftrittsort mehr zuordnen lässt? Inwiefern wird hier, trotz Behauptung des Gegenteils, die Trennung von Schauen und Hören räumlich manifestiert? Wagner beginnt seine Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses, indem er nachhaltig betont, dass es sich bei dem Gebäude um ein Provisorium handele. Bayreuth sei der Entwurf eines noch zu gründenden, neuen deutschen Theaters, entsprechend sei das Material flüchtig, die Ausstattung schmucklos. Wichtig ist Wagner nicht das Verhältnis von Außenraum und Innenraum, sondern einzig und allein die Kunst, die Wirkung der Kunst, für die dieser Ort geschaffen werden soll. Unter dieser Prämisse beschreibt er das zu errichtende Festspielhaus, indem er das Verhältnis von Bühnenraum und Zuschauerraum fokussiert, die Wahrnehmung des szenischen Geschehens und der Musik. Letztere stellt Wagner aufgrund der Unsichtbarkeit des Orchesters als „geheimnisvoll[]“ der „deutliche[n] Vorführung von szenischen Bildern“118 gegenüber. Wagners „Plan“ zielt auf die „möglichst vollendete Ausführung“ einer „erhabene[n] Täuschung“119. Diese solle es ermöglichen, von jeglicher zwischen Bühne und Zuschauer gelegenen Realität abzusehen. Daher sieht Wagner sich genötigt, „den technischen Herd der Musik, das Orchester unsichtbar zu ma-

117 Richard Wagner, „Das Bühnenfestspielhaus in Bayreuth. Nebst einem Berichte über die Grundsteinlegung desselben“. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911], Bd. 9, S. 322-344, hier: S. 327. 118 Ebd. 119 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform chen“120. Aus dieser „Nöthigung“121 ergebe sich, wie bereits aus Sempers Beschreibung hervorgeht, die „gänzliche Umgestaltung des Zuschauerraums“122. Wagner bestimmt das Sehen in seinem Entwurf des idealen Musiktheaters als Bildwahrnehmung.123 Das (szenische) Bild aber fängt für Wagner hinter dem Orchester an, weswegen er dasselbe in der herkömmlichen Oper als „widerwärtige[] Störung durch die stets sich aufdrängende Sichtbarkeit des technischen Apparates der Tonhervorbringung“124 beschreibt. Das Orchester als Störfaktor in der visuellen Wahrnehmung der Bild-Szene habe deshalb in der Versenkung zu verschwinden. Indem er „das Sehen selbst zur genauen Wahrnehmung eines Bildes“ bestimmt, plädiert Wagner für die Abschaffung jeder potenziellen „Ablenkung des Gesichtes von der Wahrnehmung jeder dazwischen liegenden Realität“125. Eine solche zwischen Bühne und Zuschauerraum liegende Realität schreibt er dem Orchester zu, das räumlich gesprochen in der RestOrchestra, also dem ehemaligen Chorraum lokalisiert ist, welcher mit der Erfindung des Orchestergrabens aus dem sichtbaren Theaterraum verschwindet. Der Zuschauer – der in dieser Theatereinrichtung Zuhörer erst in zweiter Linie ist –, soll über den Graben hinweg „unmittelbar auf die Bühne“126 schauen. Aus dieser Anordnung ergibt sich für Wagner die Ausschließung der Logenränge, die einen Einblick in den Orchestergraben gestatten würde, und daraus folgend die Idee einer „gleichmäßig aufsteigenden Reihe von Sitzen“127, wie sie aus der antiken Form der Cavea bekannt ist – „nur konnte von einer wirklichen Ausführung der nach den beiden Seiten weit sich vorstreckenden Form des Amphitheaters, wodurch es zu einem, sogar überschrittenen Halbkreise ward, nicht die Rede sein, weil nicht mehr der von ihm großenteils umschlossene Chor in der Orchestra, sondern die, den griechischen Zuschauern nur in einer hervorspringenden

120 121 122 123

124 125 126 127

Ebd., S. 336. Ebd. Ebd. Vgl. zu diesem Zusammenhang: Susanne Holl, „Im Rückblick von Bayreuth. Zum medialen Verbund von Perspektive, Licht und Architektur im Theater“. In: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 2001, S. 542-561. Richard Wagner, „Das Bühnenfestspielhaus in Bayreuth...“. A.a.O., S. 336. Ebd. Ebd. Ebd.

150

Der Golem in Bayreuth Fläche gezeigte, von uns aber in ihrer vollen Tiefe benutzte Szene das zur deutlichen Übersicht darzubietende Objekt ausmacht.“128

Wagner bezieht sich zwar in der Gestaltung des Zuschauerraums auf die antike Form der Cavea, jedoch entscheidend ist: zum einen der Wegfall des (sichtbaren und im antiken Theater zentralen) Chorraums, der Orchestra, das heißt hier die Manifestierung des Wegfalls eines Chorraums; zum anderen die Bühnentiefe. Letztere scheint den Wegfall des Chorraums geradezu zu bedingen. Die Bühnentiefe begründet für Wagner denn auch das nachfolgend beschriebene 'Unterworfen'-Sein unter die Gesetze der Perspektive. Der Bühnenrahmen, das heißt der vordere äußere Teil des Bühnenportals, durch das man in den Guckkasten hineinsieht, wird hier zur Maßgabe der Raumanordnung des gesamten Theaterbaus. Die Einrichtung des Orchestergrabens als inhaltlich nicht näher definiertem Zwischenraum zwischen dem Proszenium und den vorderen Sitzreihen des Publikums feiert Wagner als „'mystischen Abgrund', weil er die Realität von Idealität zu trennen habe“129. So verklärt Wagner den Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum zur 'mystischen' (nicht einsehbaren) Trennungslinie zwischen 'Realität' und 'Idealität', wobei er die Letztere auf der Szene, also in der Bühnentiefe lokalisiert. Weiterhin ermögliche der Orchestergraben, so Wagner, das diesen nach vorne abschließende zweite Proszenium, „aus dessen Wirkung in seinem Verhältnis zu dem dahinter liegenden engeren Proszenium“ sich „alsbald die wundervolle Täuschung eines scheinbaren Fernerrückens der eigentlichen Szene“130 ergebe. Die Wirkung dieses zweiten Proszeniums bestehe darin, so Wagner, dass „der Zuschauer den szenischen Vorgang sich weit entrückt wähnt, ihn nun aber doch mit der Deutlichkeit der wirklichen Nähe wahrnimmt; woraus dann die fernere Täuschung erfolgt, daß ihm die auf der Szene auftretenden Personen in vergrößerter, übermenschlicher Gestalt erscheinen“131. Mit der Verundeutlichung des Abstands zwischen Szene und Zuschauerraum scheint also die hinter dem Orchestergraben, im eigentlichen Bühnenkasten lokalisierte Szene ferner zu rücken, während die in die Ferne gerückten Figuren jedoch gleichzeitig durch eine Art Zoom-Effekt, den die Anordnung des perspektivischen Trichters hervorruft, wiederum vergrößert erscheinen. Der Bezug der räumlichen Entfernungen unterliegt also strukturell einer Virtualisierung. Wagner baut ein Theater, das vorgibt, die in der 128 129 130 131

Ebd., S. 337. Ebd. Ebd. Ebd.

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Tragödie als Bühnenform 'Ferne' stattfindende (mythisch anmutende) Szene nah erscheinen zu lassen, den Zuschauer in die Ferne sehen zu lassen: fernzusehen. Aus dieser Anordnung, die auf der 'mystischen' Versenkung des Orchesters beruht, folgert Wagner die Definition seines Theaters als „'Theatron'“, das heißt als „eine[n] Raum[], der für nichts anderes berechnet ist, als darin zu schauen“132 – Musiktheater als Schau-Raum! Wagner bestimmt die Szene als entrücktes „Bild in der Unnahbarkeit einer Traumerscheinung“, wobei dem Graben zwischen den beiden Proszenien die Aufgabe obliegt, die Entfernung zwischen der Bühne – „dem zu erschauenden Bilde“133 – und dem Publikum in der Schwebe zu halten. „[G]eisterhaft“ erklinge die Musik aus dem 'mystischen Abgrund', wie die Dämpfe „unter dem Sitze der Pythia dem heiligen Urschoße Gaias“134 entstiegen seien. Mit dieser Parallelisierung des unsichtbaren Orchesters mit mythischen Orakeln begründet Wagner den „begeisterten Zustand des Hellsehens“135, den sein Theater hervorrufen soll. Er beschreibt die synästhetische Wirkung dieser Anordnung von Bühne, Orchestergraben und Publikum als Hellsichtigkeit, hervorgerufen durch unsichtbare Musik und perspektivische Täuschung. Dabei sieht sich Wagner aufgrund von und in seiner Raumanordnung „gänzlich den Gesetzen der Perspektive unterworfen“136. Von Hellhörigkeit keine Spur! Die folgende längere Abhandlung über das Problem der Seitenwände, das sich aus der Abschaffung der Logen ergebe, ist mit dem Umstand verknüpft, dass dieses Theater von Grund auf nicht als realer, politischer Ort in Bezug auf seine Umgebung definiert ist, sondern als Ort der Kunstproduktion im Sinne der Herstellung von theatraler Illusion. Es handelt sich bei diesem Theaterentwurf, den Wagners Text zur Grundsteinlegung kennzeichnet, um eine Illusionsmaschine, die die Umgebung ausblendet, indem das Theater rein vom Innenraum aus gedacht und definiert wird. Alles ist allein auf die Wirkung der Bühnentiefe, das perspektivisch gestaffelte Bild ausgerichtet. Die Lösung des Seitenproblems, also der nach vorne, zum vorderen Proszenium sich verengenden Sitzreihen, sieht Wagner jetzt darin, das Publikum selbst „in die proszenische Perspektive“137 ein132 133 134 135 136 137

Ebd. Ebd., S. 338. Ebd. Ebd. Ebd., S. 337, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 339. Weiter heißt es hier: „Von der Vortrefflichkeit dieses Gedankens [eines weiteren, dritten Proszeniums vor dem zweiten, C.S.] erfaßt, gingen wir aber bald noch weiter, und mußten finden, daß wir der ganzen Idee der perspektivisch nach der Bühne zu sich

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Der Golem in Bayreuth zufügen: Der Zuschauerraum solle seitlich, mittels einer „nach oben sich weiternde[n] Säulenordnung als Begrenzung der Sitzreihen“138 abgeschlossen und nach hinten von einer dem Proszenium perspektivisch entsprechenden Galerie einfasst werden. Diese gesamte räumliche Anordnung nimmt von der Versenkung des Orchesters ihren Ausgang. Aufgrund des Orchestergrabens müssen die Sitzreihen in Form einer Cavea ansteigen, so dass jeder Zuschauer über den nicht einsehbaren Graben in die Bühnentiefe sieht. Schließlich wird er durch die seitliche Anordnung der Säulen, den vorderen Abschluss durch das Vor-Proszenium und die den Zuschauerraum nach hinten begrenzende Galerie, die den Bogen des Proszeniums wiederholt, in den perspektivischen Trichter selbst eingefügt und dergestalt an das in der Bühnentiefe lokalisierte szenische Bild gefesselt. Liest man die Beschreibung dieser räumlichen Anordnung unter dem Gesichtspunkt der proklamierten Ersetzung des Chors durch das Orchester, das in Oper und Drama einen so zentralen Stellenwert hat, bleibt zunächst die Merkwürdigkeit festzuhalten, dass Wagner den Bau seines Musiktheater in erster Linie nach optischen Maßgaben einrichtet. Vom Hören ist in seinem Text zur Bayreuther Grundsteinlegung kaum die Rede, wenig auch von der Beziehung zwischen Orchester und Bühne. Die wichtigste Funktion des antiken Chors im Theater, die Veröffentlichung der gesprochenen Rede, kann dem in der Versenkung verschwundenen Orchester schwerlich zugeordnet werden. In Droge Faust Parsifal beklagt Einar Schleef an zeitgenössischen Wagner-Produktionen die fehlende Verständigung zwischen Sängern und Orchester139 – und somit den nicht vorhandenen

verkürzenden Breite des Zuschauerraumes nur dann vollkommen entsprechen würden, wenn wir die Wiederholung des von der Bühne aus sich erweiternden Proszeniums auf dessen ganzen Raum, bis zu seinem Abschlusse durch die ihn krönende Gallerie, ausdehnten, und somit das Publikum, auf jedem von ihm eingenommenen Platze, in die proscenische Perspektive selbst einfügten.“ 138 Ebd. 139 Genau diese beschreibt auch Gerd Rienäcker in seiner Studie über Wagner als Rückseite der akustischen Innovation des Orchestergrabens im Bayreuther Festspielhaus. So skizziert er den Widerspruch zwischen Wagners theoretischen und kompositorischen Utopien und einem beinahe notwendigen 'Scheitern' in der praktischen Umsetzung gerade auch an der problematischen Beziehung zwischen Orchester und Bühne: „So ideal die raumakustische Beschaffenheit fürs Publikum, so tückisch für die Akteure! Blockaden im Zusammenspiel von Darstellern und Musikern, sie rühren schlichtweg aus gegenseitigem Nicht-Hören. [...] Nichts, gar nichts hört der Kapell-

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Tragödie als Bühnenform „szenische[n] Anlaß“ (DFP, S. 49): „warum die Figuren singen“, „warum diese Figur jetzt auf der Bühne ist, singt, spricht, tanzt“ (DFP, S. 50)140. Der hier konstatierte Verlust des 'szenischen Anlasses' in der zeitgenössischen Oper hängt für Schleef eng mit dem Problem des Orchestergrabens sowie mit dem Verschwinden des Chorraums im Theater zusammen. Das „Auseinanderdriften von Sprech- und Musiktheater“ (ebd.), das Schleef festhält, die Manifestation der Trennung von Sehen und Hören im Theater, die Wagner nolens volens vorantreibt, sind keine Abstrakta, sondern ganz konkrete Probleme, die sich dem Theater stellen, insbesondere dem ChorTheater, das im Kern dieses Problems arbeitet. 1994 baut Schleef das Bühnenmodell für eine ParsifalInszenierung an der Oper Nürnberg, deren Premiere für September desselben Jahres geplant war.141 Nach einer Bauprobe wurde die Arbeit im Juli 1994 vorzeitig beendet – nicht zuletzt, so Schleef in Droge Faust Parsifal, aufgrund von Differenzen, die mit der Positionierung des Orchesters im Theaterraum, dem Verhältnis von Orchester und Sängern und dem von ihm immer wieder thematisierten Problem des Orchestergrabens zusammenhängen. Mit Blick auf seine Arbeit am Modell für die geplante Inszenierung schreibt Schleef in Droge Faust Parsifal: „Das Opernmodell besitzt einen Vorbau, den Orchestergraben, und genauso schwer, wie er zu bauen ist, genauso schwer ist er zu integrieren, also wie bringt man die Personen, die da unten, ich betone da unten, anscheinend sitzen müssen, unter. Schon kommt man über die Grundrißfrage zur Kernfrage, in welchem Verhältnis befinden sich Orchester und Sänger, Graben und Bühne, wie definieren sich beide im Raum.“ (DFP, S. 50)

Der Orchestergraben gilt Schleef hier als baulicher und gedanklicher Störfaktor, und zwar deswegen, weil die anscheinend so klare bauliche Zuordnung von Orchester/Graben und Sänger/Bühne nicht automatisch auch eine inhaltliche ist, sondern diese allererst von jeder Inszenierung neu gefunden werden muss. Wenig später

meister vom Singen auf der Bühne, an den Mundbewegungen allein darf er rekonstruieren, was geschieht; er ertrinkt im Strudel donnernden Orchesterklangs [...]. Nur dem Publikum klingt das Orchester moderat, nur ihm ist Gesang hörbar, weil die Musiker im Souterrain agieren: Der aber wird zur dröhnenden Maschinenhalle, verursacht im Einzelfall Gehörschäden.“ (Gerd Rienäcker, Richard Wagner. Nachdenken über sein 'Gewebe'. A.a.O., S. 33) 140 Hervorhebungen: C.S. 141 Vgl. hierzu: Wolfgang Behrens, Einar Schleef. Werk und Person. A.a.O., S. 169ff.

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Der Golem in Bayreuth fährt er fort: „wie trenne ich mich vom Orchester, wie verwandle ich auch diesen Raum in plane Bühne“ (DFP, S. 51). Schleef beschreibt hier die Einrichtung des Orchestergrabens, die Unsichtbarmachung des Orchesters durch Wagner als „Konflikt zwischen inhaltlicher und räumlicher Zuordnung“ (DFP, S. 51). Wie verhält sich das in einem nach rein optischen Maßgaben eingerichteten Raum verschwundene Orchester zu den sichtbaren Sängern? Wie ist die Versenkung des Orchesters, seine Streichung aus der Sichtbarkeit mit der von Wagner proklamierten Aufgabe der ChorNachfolge zu vereinbaren? Wie ist die Streichung des Chorraums aus dem Theater überhaupt in einer Oper umzusetzen, die neben dem Orchester, entgegen Wagners theoretischen Ankündigungen der vollständigen Ersetzung (Oper und Drama), große Chor-Szenen enthält – wie etwa Parsifal? In der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Chor und Orchester verweist Schleef auf Lessing, der bereits, wie später Wagner, die Aufgabe des Orchesters als die des (von der Bühne verschwundenen) antiken Chors definiert habe.142 Um diese Frage, und das ist die des Chors und seinem Verschwinden oder seiner modernen Ersetzung, tobe seitdem ein dramaturgischer Kampf, so Schleef: „Grillparzer schimpft: Der Chor gab den Dramen der Alten einen Charakter der Öffentlichkeit. Ja! vielleicht um desto schlimmer. Ich meines Theils würde eine Anstalt nicht lieben, die mich zwänge, alle Empfindungen und Situationen, die nicht den Charakter der Öffentlichkeit vertragen, aufzugeben.“ (DFP, S. 51)

Als Gegenbeispiel zu Grillparzers Ablehnung des Chors auf dem Theater und den mannigfaltigen Versuchen seiner Ersetzung ist Schillers berühmte Vorrede zur Braut von Messina, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“ zu nennen. Schiller entwirft hier den Chor als „Kunstorgan“ der „neuen Tragödie“143. Die Funktion der Theaterfigur des Chors als „Zeuge[] und Träger der Handlung“ sei gerade die (Wieder-) Herstellung von Öffentlichkeit, welche

142 Vgl. DFP, S. 51. So bemerkt Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie, dass „das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermaßen die Stelle der alten Chöre vertritt“ (Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie. (Sechsundzwanzigstes Stück). In: Ders., Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert. München: Hanser, 1973, Bd. 4, Dramaturgische Schriften, S. 229-720, hier: S. 349). 143 Friedrich Schiller, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. von Siegfried Seidel. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1980, Bd. 10, Die Braut von Messina, Wilhelm Tell, Die Huldigung der Künste, S. 7-15, hier: S. 11.

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Tragödie als Bühnenform sich in der Moderne qua Abstraktionsprozess – des Volkes zum Staat, des gesprochenen Worts zur Schrift – und dem Rückzug des Staates und der Gerichtsbarkeit von den Straßen und Plätzen „in das Innere der Häuser“144 verflüchtigt habe.145 Jedoch habe auch Schiller, so Schleef in Droge Faust Parsifal, den Chor als Theaterfigur dramatisch nur ansatzweise verwirklicht. Vielmehr habe das klassische deutsche Theater die Frage des Chors mit dessen Abschaffung entschieden, was sich in der räumlichen Entwicklung des Theaters in der Errichtung der 'Vierten Wand' manifestiert habe. Gerade die Definition des Bühnenportals als Bildfläche, die so genannte 'Vierte Wand' des Guckkastentheaters steht für Schleef für den von ihm konstatierten Verlust des szenischen Anlasses: „Das bürgerliche Theater macht den Zuschauer zum Voyeur, der in ein 'Rattenloch' sieht, in dem sich Figuren wie er selber verzweifelt krümmen. Der Zuschauer ist Ratte unter Ratten. Die Senkrechte, die die antike Figur gegen den Himmel behauptet, ist hier zähe Beweglichkeit geworden, die sich vor dem Himmel, der Senkrechten, verkriecht. [...] Die Probleme der antiken Figur [...] sind aufgegeben. Der Konflikt zwischen Öffentlichkeit und Privatem wird vom Rückzug entschieden.“ (DFP, S. 51)

Die Frage nach dem Verschwinden des Chors und dem Verlust der Öffentlichkeit mit Blick auf und in der Auseinandersetzung mit Wagner zu stellen, ist für Schleef unter anderem deshalb so maßgeblich, weil Wagner einerseits versucht, den Chor vollständig ins Orchester aufzuheben (Oper und Drama) und andererseits seine mythischen Stoffe und die Dimension seiner Figuren, insbesondere in Parsifal, geradezu nach einer Figur der Veröffentlichung zu ver144 Ebd. 145 „Der Pallast der Könige ist jetzt geschlossen, die Gerichte haben sich von den Thoren der Städte in das Innere der Häuser zurückgezogen, die Schrift hat das lebendige Wort verdrängt, das Volk selbst, die sinnlich lebendige Masse, ist, wo sie nicht als rohe Gewalt wirkt, zum Staat, folglich zu einem abgezogenen Begriff geworden, die Götter sind in die Brust des Menschen zurückgekehrt. Der Dichter muß die Palläste wieder aufthun, er muß die Gerichte unter freien Himmel herausführen, er muß die Götter wieder aufstellen, er muß alles Unmittelbare, das durch die künstliche Einrichtung des wirklichen Lebens aufgehoben ist, wieder herstellen, und alles künstliche Machwerk an dem Menschen und um denselben, das die Erscheinung seiner innern Natur und seines ursprünglichen Charakters hindert, wie der Bildhauer die modernen Gewänder, abwerfen, als was die Höchste der Formen, die menschliche, sichtbar macht.“ (Friedrich Schiller, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“. A.a.O., S. 11f. Hervorhebungen im Original.)

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Der Golem in Bayreuth langen scheinen, die theatralisch vom Orchester nicht geleistet werden kann. Was also, wenn diese Figur verschwindet beziehungsweise zum nicht-sichtbaren, nicht mehr im szenischen Raum anwesenden Orchester umdefiniert wird? Wie kommunizieren diese beiden Welten, die sichtbare Bühne und das in den Graben versenkte Orchester miteinander? Wagner löst diese Frage in Oper und Drama sehr abstrakt, indem er zwischen 'Worttonkunst'/Bühne/Sänger und Musik/Graben/Orchester eine Arbeitsteilung einführt und deren Zusammenklang in die Idee der Synästhesie aufhebt. Aber gerade diese Arbeitsteilung bleibt für Schleef, insbesondere in seinen Bühnenentwürfen, nicht nur baulich, sondern auch inhaltlich problematisch. Über Sempers Anmerkungen zu Wagners Plan des nicht realisierten Münchner Festtheaters schreibt er, auch mit Bezug auf seine Probleme mit dem Bühnenmodell zu Parsifal: „In dieser Ausgangsidee für den späteren Bayreuther Festspielbau sind schon alle inhaltlich-baulichen Schwierigkeiten vorhanden“ (DFP, S. 55). „Sempers Richtlinien bestätigen, daß Theaterbau, damals und heute, und antike Tragödie einander feind sind, ebenso, daß Wagners Anweisungen und Interpretationen der antiken Konstellationen in diesen Räumen nicht gelingen können.“ (DFP, S. 59) Wenig später beschreibt er, warum: „An den Bayreuther Bühnenentwürfen ist überdeutlich, daß Wagner mit der Zentralperspektive kämpft, sie möglichst verdrängt [...]. Daß Wagner nicht umhin kann, die Zentralperspektive einzusetzen, zeigt seine Geschmacksanbiederung, die Unentschiedenheit der praktizierten Lösung. In dieser Indifferenz liegt die Beantwortung der Ausgangsfrage. Die eingesetzte Zentralperspektive biegt den Drama-Ansatz entschieden in die Oper zurück: 1. Indem sie den Darsteller und seine Figur in der Perspektive definiert. 2. Indem sich der Gott nicht über der Figur und ihrem Darsteller befindet, sondern im Fluchtpunkt der Zentralperspektive, tatsächlich aber dem Darsteller gegenüber im Parkett thront. In historischer Entwicklung später aus der Mittelloge auf ihn herabblickt, die Zentralperspektive dem Parkett überlässt.“ (DFP, S. 60)

Wagners Ziel ist die Absetzung seines Musiktheaters von der Oper, wie er es vor allem in Oper und Drama beschreibt. Der verdeckte Graben, schreibt Schleef, zwinge jedoch zum 'Drama'146, da der Dirigent im unsichtbaren Orchester „tatsächlich eine dem ChorFührer ähnliche Position“ (DFP, S. 58) einnehme. Dass der Dirigent hier, wie Schleef festhält, zum Chorführer und somit zur eigenstän-

146 Schleef verwendet den Begriff 'Drama' an dieser Stelle im Sinn Wagners, i.e. als Widerpart zu der von Wagner abgelehnten, zeitgenössischen Oper.

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Tragödie als Bühnenform digen Figur werde, sei darin begründet, dass er im unsichtbaren Orchester keine Zwischenposition zwischen Bühne und Graben, Sängern und Orchester einnehme, sondern in dieses vielmehr „vollständig integriert“ (DFP, S. 58) sei.147 Heute jedoch sei der Dirigent der Star im Mittelpunkt, sichtbar werde er so zum Störfaktor: Die Sänger, die 'Ausgestoßenen' (Schleef), die aus der Orchestra auf die Bühne hinaufgestiegen sind (Wagner), singen vor dem Dirigenten, der ihnen im Weg stehe. Daher sei es notwendig, so Schleef, nach neuen Raumlösungen zu suchen. „Zwingende Hauptfrage ist deshalb, wie man ihn zuerst und mit ihm das Orchester aus der angestammten Position beseitigt. Die Sänger wirken schon durch den sichtbaren Kontakt mit ihm distanziert, gebremst, gebändigt, was Wagner streng vermeiden will. Warum der Dirigent fort muß, hat nichts mit Antipathie gegen ihn oder das Orchester zu tun, sondern ist wunder Punkt der Interpretation antiker Tragödien, der heute unvermindert wirksam ist.“ (DFP, S. 58)

Nicht nur, dass Theaterbau und Tragödie einander inkommensurabel seien, wie Schleef an Sempers Richtlinien und Wagners Aussagen über Bayreuth analysiert, auch und vor allem die von Wagner angestrebte Ersetzung des Chors durch das Orchester bleibe problematisch: „Wagner setzte Orchester gleich Chor, doch das Individuum, das sich gegen den allwissenden Kommentator seiner eigenen Gedanken zu behaupten sucht, sieht sich in dieser Konstellation eher den Unsichtbaren, den Göttern ausgeliefert, statt einem orchestralen Chorersatz.“ (DFP, S. 157)

Die Gottabwesenheit – in der theatralen Definition der Szene – sowie Wagners Unterwerfung unter die Perspektive bleiben für Schleef gleichermaßen problematisch. „Wagners Kampf gegen die Zentralperspektive und ein Davon-nicht-Wegkommen bleiben aktuelles Problem jeder Tragödiendarstellung.“ (DFP, S. 74) Jedoch: „Daß Wagner bei der Reformierung und Umfunktionierung der räumlichen Bedingungen der Oper in der Kopie antiker Vorbilder steckenbleibt, macht

147 Zwar würdigt Schleef hier den gedanklichen Hintergrund des Orchestergrabens insofern, als dem Dirigenten im versenkten Orchester Funktion und Bedeutung eines Chorführers zukomme. Die Problematik der Beziehung zwischen Bühne und Graben, sichtbarer Szene und unsichtbarer Musik bleibt für Schleef jedoch als Kernproblem des Bayreuther Musiktheaterentwurfs und insbesondere der WagnerRezeption und -Nachfolge bestehen.

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Der Golem in Bayreuth seinen Ausbruchsversuch nicht kleiner, sondern zeigt bis heute dessen Notwendigkeit an.“ (DFP, S. 71)

Schleef liest mit und gegen Wagners Theaterentwurf, wenn er analysiert: „Musik ist Dämmerung“ (DFP, S. 74 u. 266f.). Der Zustand der Dämmerung in Wagners Stücken, so Schleef, definiere gerade dessen „Gegenposition zur betonten Zentralperspektive im Bühnenraum“ (DFP, S. 74). Von der szenischen Anlage deutet insbesondere Wagners 'Bühnenweihfestspiel' Parsifal, das in der Golem-Inszenierung auf mehreren Ebenen zitiert wird, auf das Schwinden des Sehsinns. Keine lichten Gestalten, „schattig und ernst“148 ist es im Gralswald. Auch die Gralsburg scheint alles andere als ein Ort der Hellsichtigkeit und gerade zum Ende hin, zur vorgeblichen Erlösung der Gralsritterschaft durch die Machtübernahme Parsifals, wird die Szene immer finsterer. An deren permanenter Verdunkelung scheint Wagner geradezu zu arbeiten, Weiheakt und Tragödie scheinen im hell erleuchteten Bühnenkasten nicht abzubilden zu sein. Dunkel ist es auch in allen Parsifal-Zitaten in Der Golem in Bayreuth. Das Theater der Stimme, das Schleef hier exponiert, spielt nicht im lichten Repräsentationsraum. Dunkelheit beherrscht die tragische Szene, Kundrys Stimme im finsteren Gralswald, auf der dunklen Vorderbühne aus dem Chor zu Boden sinkend in Schleefs GolemInszenierung. Indem Schleef hier das Orchester auf die Bühne stellt, verwandelt er den Ort des Orchesters in 'plane Bühne'. Der Orchestergraben ist abgeschafft, indem das Orchester als Chor definiert ist. So wird die 'Tonherstellung', nicht der 'Apparat', sondern die körperliche Aktivität der Musiker geradezu ausgestellt, wie auch die der Sänger und die der Chormitglieder. Das Hervorbringen der Musik steht gleichberechtigt neben dem Hervorbringen von Sprache, der Aktivität der Stimme, die in Schleefs Theater im Mittelpunkt steht. Die Inszenierung Der Golem in Bayreuth zeigt Schleefs WagnerRezeption auch als Revision, obwohl oder gerade weil er Wagner sehr genau liest. Schleef arbeitet – auch hier – an den Paradoxien der Theaterentwürfe Wagners: einerseits der proklamierten vollständigen Ersetzung des antiken Chors durch das moderne Orchester (Oper und Drama) und andererseits dessen Versenkung im Orchestergraben und damit letztlich der Abschaffung eines Chorraums im Theater; einerseits der 'gänzlichen Unterwerfung unter die Gesetze der Perspektive' im Bayreuther Theaterbau und andererseits dem ständigen Ankämpfen Wagners gegen dieselben in der Konzeption der Stücke, in der Stoffbearbeitung und in den

148 Richard Wagner, Parsifal. A.a.O., S. 324.

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Tragödie als Bühnenform Bühnenentwürfen; einerseits der Einführung der Arbeitsteilung zwischen Bühne und Orchestergraben und der nicht zuletzt durch das Verschwinden des Chorraums manifestierten Trennung von Sehen und Hören im Theater, und andererseits den vor allem in Oper und Drama formulierten Ideen zu einem synästhetischen Gesamtkunstwerk; letztlich auch dem Problem der Gottabwesenheit und auf der anderen Seite dem Versuch der Installation einer Kunstreligion, die ihren Höhepunkt in Parsifal findet, wo alle genannten Paradoxien zusammenzukommen scheinen. Die Problematik des Orchestergrabens scheint für ein Theater, das die Arbeitsteilung weiterführt und die Trennung von Sehen und Hören nicht aufhebt, nicht zu lösen.

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Teil II

Porträt einer Inszenierung

Verratenes Volk – Totentanz einer deutschen Revolution

Die Inszenierung Verratenes Volk1 beruht auf der Bearbeitung von so unterschiedlichem Textmaterial wie John Miltons Verlorenem Paradies, Nietzsches Ecce Homo und Edwin Erich Dwingers Armee hinter Stacheldraht, hauptsächlich jedoch auf der chorischen Bearbeitung von Alfred Döblins vierbändigem Erzählwerk November 1918, das die Ereignisse und die Wahrnehmung der gescheiterten Revolution 1918/19 aus wechselnden Perspektiven behandelt. November 1918. Eine deutsche Revolution stellt nicht nur thematisch, sondern auch textlich die wichtigste Materialvorlage für Schleefs Inszenierung Verratenes Volk dar. Die Tetralogie von Alfred Döblin blickt selbst auf eine lange und verwickelte Editionsgeschichte, die von Krieg, Emigration und politischer Konfrontation in der Nachkriegszeit gezeichnet ist. Der polyperspektivische, dokumentarisch-fiktionalisierende Rückblick Döblins auf die gescheiterte Revolution 1918, geschrieben zwischen 1937 und 1943 im Pariser und US-amerikanischen Exil, erschien nach diversen Teilveröffentlichungen erstmals 1978 vollständig in einer vierbändigen Ausgabe.2

1

2

Vollständiger Titel: Verratenes Volk. Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk. Einar Schleef nach Alfred Döblin, John Milton, Friedrich Nietzsche und Edwin Erich Dwinger. UA: Deutsches Theater Berlin, 29.5.2000. Soweit nicht anders angegeben, stützen sich die Beschreibungen der Inszenierung auf mein Erinnerungsprotokoll der Aufführung vom 1.6.2000 sowie auf Filmmaterial aus: Alexander Weil, Verratenes Volk. 5-Stunden-Marathon, Einar Schleefs Musikdrama am Deutschen Theater nach John Milton, Edwin E. Dwinger und Alfred Döblins November 1918. dctp, News & Stories, 24.09.2000. Sofern der Aufführungstext von den angegebenen Quellentexten abweicht, ist dies mit * gekennzeichnet. Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution. 1. vollständige Ausgabe in 4 Bänden. München: dtv, 1978. Bd. 1 Bürger und Soldaten, Bd. 2 Verratenes Volk, Bd. 3 Heimkehr der Fronttruppen, Bd. 4 Karl und Rosa.

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Tragödie als Bühnenform Diese Ausgabe ist Grundlage der entsprechenden Teile des Inszenierungstextes ist.3 Ursprünglich als Trilogie konzipiert, erschien der erste Teil 1937 als gemeinsame Ausgabe von Bermann-Fischer und Querido in Stockholm und Amsterdam unter dem Titel Bürger und Soldaten 1918. Der zweite Band, unter dem Arbeitstitel Ebert 1940 begonnen, wurde 1941 im US-amerikanischen Exil unter dem vorläufigen Titel Waffen und Gewissen fertig gestellt. In der Fortsetzung der Arbeit wuchs das Manuskript auf weitere zwei Bände an, so dass November 1918 im Herbst 1943 in vier Bänden und in der von Deutschen Taschenbuch Verlag übernommenen Aufteilung vorlag: Band 2 erschien schließlich unter dem Titel Verratenes Volk, der von Schleef als Titel für seine Inszenierung übernommen wurde, Band 3 unter dem Titel Heimkehr der Fronttruppen und Band 4 unter dem Titel Karl und Rosa. Als einer der ersten Emigranten kehrte Döblin 1945 nach Deutschland zurück, wo er als Angehöriger der französischen Besatzungsmacht mit dem Neuaufbau des literarischen Lebens beauftragt wurde. Um die Veröffentlichung seiner eigenen drei unveröffentlichten Manuskripte bemühte er sich jedoch bis 1948 vergeblich. Endlich konnte 1948 bis 1950 November 1918 als dreibändige Ausgabe bei Karl Alber in München erscheinen. Allerdings war der ursprüngliche erste Band Bürger und Soldaten 1918, der hauptsächlich im Elsass spielt, auf ein 42-seitiges „Vorspiel“ des nun ersten Bandes Verratenes Volk geschrumpft.4 In November 1918 setzt Döblin vor dem Hintergrund der politischen Unruhen in den Wochen zwischen der Ausrufung der Republik und der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg verschiedene Perspektiven gegeneinander: Porträtiert werden einzelne aus dem Krieg zurückkehrende Soldaten sowie ganze Züge von Truppen, deren Rückzug durch Deutschland und Empfang in der politisch gespaltenen Reichshauptstadt Berlin beschrieben wird. Der Text skizziert die Führungsspitze des Spartakusbundes ebenso wie Versammlungen anonymer Menschen auf der Straße, Gruppen rebellierender Matrosen, Soldatenräte in Bildung und Auflösung und einzelne Politiker, die als Typen gegeneinander gesetzt werden – so Friedrich Ebert, der nach der Abdankung und Exilierung des Kaisers die Rolle des Staatsführers übernimmt und dem als oberste Maxime, neben dem Machterhalt, die Parole „Ruhe und Ordnung“ gilt, Karl Liebknecht mit dem unbedingten Willen, die Revolution, nach dem Vorbild Lenins, auch gegen zahlreiche Widerstände durchzusetzen, Rosa Luxemburg, die einen Großteil ihres Lebens im

3 4

Vgl. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Sign. 2000ff. Vgl. die editorische Anmerkung in: Alfred Döblin, November 1918. A.a.O. Bd. 4, Karl und Rosa, S. 696-701.

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Verratenes Volk Gefängnis verbringt, wo sie ihre Positionen gegen Liebknecht abwägt, über Lenin, den zu verwirklichenden Sozialismus und die Demokratie reflektiert. Döblin kontrastiert fiktives Material mit historischen Quellen, setzt privates neben politisches Leben, zitiert Briefe, Telefonate, Aufrufe und Gegenaufrufe, Parteiprogramme und Reden. Die großen Fragestellungen, die das Werk und mithin auch Schleefs Stück durchziehen und strukturieren, sind: Wie kehrt man aus einem Krieg zurück? Was ist und wie organisiert man eine Revolution? Wie verhält sich das Leben des Einzelnen zur Gesellschaft? Was ist der einzelne Mensch unter vielen, in oder gegenüber einer Gruppe beziehungsweise einer unübersichtlichen Vielheit von Menschen? Einar Schleef, Plakatentwurf zur Inszenierung

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Im November 1918 und in den folgenden Monaten werden diese Fragen grundiert von den gerade beendeten so genannten 'Materialschlachten' des Ersten Weltkriegs, der zeitgleich in Russland stattfindenden Revolution und der Frage nach der 'Diktatur des Proletariats' – wer diktiert hier wem und mit welchem Recht? Die Inszenierung stellt mit Rosa Luxemburg im Gefängnis die Frage nach Lenins Konzept eines 'neuen', 'stählernen' Menschen, die wiederum konfrontiert wird mit dem Auftritt der Nietzsche-Figur, die im Gestus der Selbststilisierung zum Anti-Idealist und Anti-Christ

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Tragödie als Bühnenform die endgültige Zerschlagung des Idealismus fordert und mit der 'Umwertung aller Werte' die schrecklichsten Kriege der Menschheit ankündigt, in denen die Politik dann „gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen“ (EH, S. 366) sein würde. Schleefs Inszenierung Verratenes Volk stellt die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, Einzelnem und Chor in besonderer Weise in den Mittelpunkt: Die dialogische Szene ist zugunsten von Textblöcken einzelner Sprecher5 und chorischen Auftritten marginal geworden und wird, so sie denn stattfindet – wie im letzten Gespräch zwischen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht –, chorisch begleitet. Schleefs Arbeit gegen das Vergessen der durchaus konfliktuösen Verbindung von Chor und Einzelfigur findet in Verratenes Volk einen Höhepunkt. Mit den großen, blutgetränkten Fragen des 20. Jahrhunderts, die das Stück entlang an Döblins Revolutions-Roman entwickelt, den im Zuge von Krieg und Revolution stattfindenden „Verteilungskämpfe[n] um Massen“6 wird der Chor in Verratenes Volk unhintergehbar zur Hauptfigur auf dem Theater. Wer aber ist das vom Stücktitel und dem gleich lautenden zweiten Band von Döblins November 1918 annoncierte „Verratene Volk“? Was überhaupt ist das „Volk“? Ein Intellektuellen-Begriff, wie die Kalfaktor Tanja, Aufseherin und Vertraute Rosa Luxemburgs im Breslauer Gefängnis, provozierend fragt? Kann das „Volk“ auf dem Theater auftreten? Ist der Chor etwa Darsteller der „proletarischen Masse“, die im Januar 1919 durch Berlin zieht? Wie unterscheidet sich die theatrale Figur des Chores von den begrifflichen Figuren „Volk“ oder „Masse“? Wenn nun der Chor überhaupt nichts darstellt, sondern sich als vielstimmige, nicht-einheitliche Figur jenseits der Darstellung ereignet, was ist er dann, und wie sieht das aus? Und wie hängt die Frage der Darstellung beziehungsweise der Nicht-Darstellbarkeit mit dem schon im Untertitel der Inszenierung annoncierten „Verrat“ zusammen? Zunächst einmal assoziiert der Untertitel der Inszenierung – Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk – die Situation der so genannten 'Wende', das heißt die oppositionellen Erhebungen in 5

6

Da auch die z.T. langen Textblöcke einzelner Figuren wie 'Rosa Luxemburg' prinzipiell von chorischen Interventionen unterbrochen bzw. begleitet werden, würde der Begriff 'Monolog' hier m.E. fehlgehen. Alexander Weil im Gespräch mit Jutta Hoffmann über Verratenes Volk in: „Verratenes Volk. 5 Stunden-Marathon von Einar Schleef über den NOVEMBER 1918“. dctp, News & Stories, 24.09.2000. Nachgedruckt in und hier zitiert nach: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes 5. Fernseh-Nachschriften. Hrsg. von Christian Schulte/Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8, 2003, S. 64-74, hier: S. 72.

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Verratenes Volk der DDR, die 1989 zum Fall der Mauer geführt haben. „Wir sind das Volk“, hieß es im November 1989 in Sprechchören auf den Straßen Leipzigs und Berlins.7 „Wir sind das Volk“ bedeutet zunächst nichts weniger als das Aussprechen der Souveränitätsforderung des 'Volks', das heißt die Forderung nach Einlösung eines zentralen Versprechens des Sozialismus. Wenige Wochen später kippte die Parole bekannter Maßen um, und unter massenhafter Verwendung von Deutschlandfahnen wurden auf den Demonstrationen Sprechchöre laut und lauter, die riefen: „Wir sind ein Volk.“ Mit der Betonung auf „ein“ wird jetzt die Vereinigung der beiden deutschen Staaten gefordert. Die Fiktion Deutschland, die sich nicht zuletzt in der wahnhaften Geschlossenheit des „Wir“ und „ein“ ausspricht8, kehrte zurück. Eine Fiktion, die „schon 1990 ein Anachronismus“9 war, wie Heiner Müller im Oktober desselben Jahres schreibt. Im Gespräch mit Frank Raddatz kommt Müller 1994 auf die deutsche Vereinigung zurück, die er „als das Verschwinden beider Teile“10 beschreibt: „Das Problem ist doch, daß sich jetzt herausstellt, daß auch hinter Deutschland nichts steckt, bzw. das Nichts, daß das metaphysische Äquivalent nicht mehr existiert. Deutschland gibt es nicht. [...] Auf jeden Fall ist dieses Gebilde keine Nation und kein Nationalstaat, denn niemand weiß, was das eigentlich sein soll. Für Kleist war Deutschland noch eine Idee, eine Utopie. Nach dem Ersten Weltkrieg war die Idee verstümmelt.“11

7

Vgl. die Publikation zur Open-Air-Ausstellung Friedliche Revolution 1989/1990 der Robert Havemann Gesellschaft auf dem Berliner Alexanderplatz, 8.5.-3.10.2009: „Wir sind das Volk!“ Magazin zur Ausstellung Friedliche Revolution 1989/1990. Hrsg. von der Kulturprojekte Berlin GmbH, Berlin, 2009, hier insbesondere: S. 56-59. 8 Diese Fiktion „Deutschland“ ist ebenfalls Gegenstand von Elfriede Jelineks Stück Wolken.Heim. (UA: Schauspiel Bonn, 1988), in dem eine nicht enden wollende Herstellung nationaler Identität in Form einer gefräßigen, selbstreferenziellen und ins Leere laufenden „Wir“-Figur in Szene gesetzt wird. Vgl. dazu: Christina Schmidt, „Chor der Untoten. Zu Elfriede Jelineks vielstimmigem Theatertext Wolken.Heim.“ In: Alexander Karschnia u.a. (Hg.), Zum Zeitvertreib. Strategien, Institutionen, Lektüren, Bilder. Bielefeld: Aisthesis, 2005, S. 223-232. 9 Heiner Müller, „Dunkles Getümmel ziehender Barbaren“. Der Morgen, 3.10.1990. In: Ders., Gesammelte Irrtümer. Texte und Gespräche. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1994, Bd. 3, S. 92-93, hier: S. 93. 10 Heiner Müller, „Für immer in Hollywood oder: In Deutschland wird nicht mehr geblinzelt“. Ein Gespräch mit Frank Raddatz für Lettre International, Nr. 24, 1994. In: Ders., Gesammelte Irrtümer. Texte und Gespräche. Bd. 3, a.a.O., S. 214-230, hier: S. 216. 11 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform Nicht zuletzt auf diese von Müller beschriebene Schimäre Deutschland, die sich 1990 als das „Verschwinden beider Teile“ realisiert, rekurriert der zweite Teil des Untertitels von Verratenes Volk – Wir waren ein Volk. Die Verstümmelung der Idee einer deutschen Nation 1918 beschreibt Döblins November-Roman, der dem zentralen Textkorpus von Schleefs Stück zugrunde liegt. Im Herbst 1999, vom 4. Oktober bis zum 10. November, gab es eine Plakataktion der von der Stadt Berlin unterstützten Initiative 'Geschichte im Stadtraum'. Auf einem mehr als zwei Drittel der Fassade bedeckenden schwarzen Transparent am Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz war in großformatiger gelber Schrift der Satz zu lesen: „Wir waren das Volk.“ Als Unterzeile, in wesentlich kleinerer, weißer Schrift: „Alexanderplatz, 4. November 1989“. Das Transparent verwies somit auf die zehn Jahre zuvor am selben Ort stattgefundene Massenversammlung, die als „transitorischer Moment in die Geschichte eingegangen“ sei, so der Pressetext der Aktion, „als selbstbestimmte Artikulation demokratischer Ansprüche hunderttausender Menschen gegenüber dem Machtmonopol einer gescheiterten Staatspartei und ihrer Führungsspitze, als Hoffnung auf eine demokratisierte DDR einerseits, und andererseits als Beginn der Konstituierung einer politischen Öffentlichkeit, die angesichts ihrer Eigendynamik und der historischen Konstellationen in kürzester Zeit zum fast vollständigen Transfer des politischen, später des gesamten institutionellen, Systems der westdeutschen Bundesrepublik auf die ostdeutsche Gesellschaft führte“12.

Die Transposition der Parole von 1989 „Wir sind das Volk“ vom Präsens ins Präteritum markiert also einerseits die Erinnerung an die seinerzeit laut gewordene Souveränitätsforderung des 'Volks'. Andererseits wird die Ambivalenz des Satzes nicht nur durch das Verschwinden der ehemaligen Adressaten deutlich, sondern auch und gerade in der Historisierung der Parole. Suggeriert nicht „Wir waren das Volk.“ zunächst das kontinuierliche Fortbestehen eines Wir, dessen Existenz – als Fiktion einer geschlossenen pluralen Sprecherinstanz – schon von je her fraglich erscheint? Schleef fotografiert die Plakataktion „Wir waren das Volk.“ während seiner Vorbereitungsarbeiten zu Verratenes Volk.13 Der Unter-

12 Bezirksamt Mitte von Berlin, „Wir waren das Volk. Alexanderplatz, 4. November 1999“. Pressetext der Initiative 'Geschichte im Stadtraum'. Vgl.: http://uinic.de/alex/programm.html (Stand: Mai 2010). 13 Vgl. Einar Schleef, Material zu Verratenes Volk, Fotografie. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 7195. Erwähnung findet die Plakataktion auch in Schleefs Tagebuch in einem Kommentar von November 1999 zum Eintrag vom 4.11.1989. Vgl.: Ei-

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Verratenes Volk titel der Inszenierung nimmt in der Formulierung „Wir waren ein Volk“ Bezug auf die Erinnerung an etwas, das es nie gegeben hat. „Wir waren ein Volk“ assoziiert somit nicht nur das Verschwinden der Einheitsfiktion von 1989/90 („Wir sind ein Volk“). Vielmehr wird mit der Bezugnahme auf Döblin und die gescheiterte Revolution 1918/19 die Frage gestellt, was überhaupt ein 'Volk' ist, und wie sich ein pluraler Sprecher artikulieren kann, wer überhaupt für ein 'Volk' sprechen kann. Döblin schildert das problematische Verhältnis zwischen dem 'Volk' auf der Straße und den sozialistischen Führern – die nicht kommen, gleichwohl jedoch für sich in Anspruch nehmen, für das Volk zu sprechen. Wie wird dies von Schleefs chorischer Inszenierung umgesetzt? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der These des Verrats (Döblin) mit der Frage, wer für 'das Volk' sprechen kann? Mit Bezug auf sein eigenes, stellvertretendes Eintreten für freie Gewerkschaften auf der Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz konturiert Heiner Müller in einem Interview die Schwierigkeit des stellvertretenden Sprechens im Zusammenhang mit der Souveränitätsforderung des 'Volks', das heißt weiter Teile der Bevölkerung, die bisher ohne Stimme gewesen seien: „Man hat gesagt, wir sind eine Volksdemokratie. Jetzt will das Volk Demokratie! In Leipzig haben Sprechchöre gerufen: 'Wir sind das Volk!' [...] In der DDR sprechen jetzt die Sprachlosen. Ich als Sprachverwalter habe da Hemmungen, denn es ist viel wichtiger, daß die Sprachlosen sprechen.“14

Wenige Monate später stellt Müller, mit Verweis auf Foucault, die Problematik des Sprechens für, das heißt anstelle von in den Zusammenhang mit der nicht mehr vorhandenen Möglichkeit der Repräsentation: „Diese Repräsentanz ist vorbei. Ich kann nicht für die Nation sprechen. Ich kann nicht für die Arbeiter sprechen. Da ist etwas verlorengegangen.“15 Die hier von Müller angesichts der politischen Situation 1989/90 benannte Problematik – dass ein einzelner nicht im Modus der Repräsentation für die 'Sprachlosen' sprechen kann, das heißt

nar Schleef, Tagebuch 1981-1998. Frankfurt am Main. Westberlin. Hrsg. von Winfried Menninghaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009, S. 176. 14 Heiner Müller, „Nicht Einheit sondern Differenz“. Ein Gespräch mit Patrik Landolt für Deutsche Volkszeitung/die tat, 24.11.1989. In: Ders., Gesammelte Irrtümer. Bd. 3, a.a.O., S. 37-44, hier: S. 40f. 15 Heiner Müller, „Jetzt sind wir nicht mehr glaubwürdig“. Ein Gespräch mit Jeanne Ophuls für Die Weltwoche, 18.1.1990. In: Ders., Gesammelte Irrtümer. Bd. 3, a.a.O., S. 76-82, hier: S. 78.

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Tragödie als Bühnenform für 'die Arbeiter', für 'das Volk' –, wird ebenso in Verratenes Volk zentral. So zeigt die Inszenierung, eng entlang an Döblins Textvorlage, chorisches Sprechen und protagonistisches Sprechen ('Rosa Luxemburg') als absolut voneinander getrennt. Zwar kann der Chor die Klage des Protagonisten übernehmen oder ersetzen, umgekehrt gibt es jedoch keine Möglichkeit der sprachlichen Übernahme. In der Kernszene der Inszenierung erzählt der Chor die Situation der im Tiergarten versammelten Menschen, die auf die revolutionären Führer warten, die nicht kommen. Die chorische Szene thematisiert das Ausbleiben einer protagonistischen Übernahme der Souveränitätsforderung. Die Revolution fällt aus. Einar Schleef, Bühnenentwurf zu Verratenes Volk

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Am Beispiel des ehemaligen Leutnants und Studienrats Becker schildert Döblins Roman das Scheitern des Einzelnen beim Versuch der Verantwortungsübernahme für den Krieg, des Sprechens für die Toten. An Stelle dieses Einzelnen tritt in der Inszenierung die Möglichkeit des Chors, der nicht 'das Volk' ist oder repräsentiert, sondern an die Stelle derer tritt, die keine Stimme haben: Volk/Völker, Arbeiter, Tote. Die Frage 'Wer oder was ist das Volk?' wird durch die chorische Inszenierung strukturell verschoben zu der Frage 'Wer kann für die oder anstelle derer sprechen, die keine Sprache, keine Stimme haben?' Wie die Inszenierung diese Problematik umsetzt

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Verratenes Volk und wie dies mit der Möglichkeit der Figur des Chors zusammenhängt, soll in der folgenden Untersuchung thematisiert werden.

„Das verlohrne Paradies“. Paradies“. Prolog Prol og mit John Milton Die Eröffnungsszene von Verratenes Volk ist eine Art Prolog, in dem der Sündenfall des Menschen und seine Paradiesvertreibung nach John Miltons Paradise Lost erzählt wird. Schleefs Text basiert auf einer frühen Übersetzung von Johann Bodmer aus dem 18. Jahrhundert16 und gibt in geraffter Form drei Kernszenen von Miltons 'epischem Gedicht' wieder: Erstens die Beschreibung des Paradieses aus der Perspektive des von Gott verstoßenen Satan, zweitens die Verführung Evas durch Satan und mithin den eigentlichen Sündenfall sowie drittens die Vertreibung des ersten Menschenpaars aus dem Paradies. Durch eine Tür in der Mitte der Bühnenrückwand tritt eine Frauengestalt (Inge Keller) auf die hell erleuchtete, strahlend weiße Bühne. In der Mitte der Vorderbühne steht ein Sessel, der, wie in einem lange nicht bewohnten Haus, mit einem ebenfalls weißen Leintuch bedeckt ist. Dieser Ort wird in der Inszenierung durchgängig der Ort der Einzelfiguren sein. Zuschauerraum und Bühne sind gleichermaßen hell erleuchtet. Die Schauspielerin kommt mit ihrem Textbuch nach vorne, nimmt auf dem verhüllten Sessel Platz und beginnt zu sprechen. Sie trägt ein bodenlanges, einfaches weißes Kleid, die grauen Haare sind streng zurückgekämmt zu einem winzigen Pferdeschwanz. Das gleißende Weiß des leeren großen Bühnenraums bringt den Körper der Schauspielerin in dem weißen Kostüm optisch beinah zum Verschwinden, so dass nur ihr Sprechen den Raum füllt und die Aufmerksamkeit ganz der sprechenden Stimme gehört. Einar Schleefs Textfassung beschreibt zunächst den Blick des Außenseiters auf den Garten Eden und die darin wohnenden Menschen.

16 Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Uebersetzt und durchgehends mit Anmerckungen über die Kunst des Poeten begleitet von Johann Jacob Bodmer. Zürich: Conrad Drell und Comp., 1742. Schleefs Textfassung beruht auf der folgenden Veröffentlichung: Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimile-Druck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart: Metzler, 1965. Vgl. die Kopie des Faksimilie-Drucks, Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 1995.

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Tragödie als Bühnenform „Indessen näherte sich Satan dem Landstrich Eden, wo das lustvolle Paradies nunmehr vor seinen Augen lag“ (VV, S. 1).17

Satan, Anführer von Scharen ehemaliger Engel, die als Abtrünnige von Gott in das Chaos jenseits des Himmels verbannt wurden, wird vom Rat der Dämonen als Kundschafter in das von Gott neu geschaffene Paradies geschickt, um die himmlische Prophezeiung einer anderen Welt mit anderen Geschöpfen selbst in Augenschein zu nehmen. Immer unter dem Auge Gottes und dessen Voraussicht der kommenden Geschehnisse, erreicht Satan das von Erzengeln bewachte Paradies und erblickt Adam und Eva. Die Schönheit des Gartens Eden und dessen sorgloser Geschöpfe wird als Szene beschrieben, die eigens für den zwiespältigen, neidvollen Blick Satans hergerichtet scheint: „eine Scena von Wald“ (VV, S. 1), eine „waldige Schauspiel-Bühne“ (ebd.), wo Gott sein Stück für den von ihm Verstoßenen aufführt. Beschrieben wird eine an allem Überfluss reiche Landschaft, wohlriechende 'Lustwälder' und fruchtbare Täler, eine friedliche Idylle mit 'Chören' von Vögeln und schließlich: „zwey, von einer vortrefflichern Gestalt, als die andern, aufgerichteten und geraden Leibs, von göttlichem Ansehen“ (ebd.). „[O]hne Ergezen“ folgt Satans Blick der „nakende[n] Majestät“ (ebd.) des ersten Menschenpaars. Sichtbar (gemacht) wird ihre Gottähnlichkeit, die Mühelosigkeit ihrer Arbeit, die Ehrfurcht der Tiere vor Adam und Eva, deren Unschuld und die Abwesenheit von Scham. Die Süße der paradiesischen Früchte wird geschildert, die Saftigkeit des Fleischs, die Schönheit und der Wohlgeruch der Pflanzen, der harmonische Wechsel zwischen Tag und Nacht, der Lauf der Gestirne und das Brautbett Evas unter himmlischen Chören. Die Ausmalung der Idylle steigert sich immer weiter, so dass es Satan die Sprache verschlägt, die er „zuletzt mit vieler Mühe wieder erlangte“ (VV, S. 2). Die Sprachlosigkeit Satans angesichts der von Milton/Schleef eloquent geschilderten paradiesischen Szene findet ihr Echo in der langsamen, betonten Sprechweise der Schauspielerin, die die sprachliche Sichtbarmachung des Paradieses vor Satans Augen mit betonten Pausen und Zäsuren wiedergibt. Der Rückgriff auf die Bodmersche Übersetzung von 1742 produziert zudem immer 17 Schleefs Textfassung, hier unter der Sigle VV zitiert, wird im Einar Schleef-Archiv als 'Spielfassung' bezeichnet. Dieser Text kann zwar in einzelnen Fällen vom Wortlaut der jeweiligen Aufführungen (und deren medialen Aufzeichnungen) abweichen. Jedoch gilt der als 'Spielfassung' bezeichnete Computerausdruck, der handschriftliche Eintragungen (fremder Hand) trägt, nach Auskunft des Einar Schleef-Archivs, als letzte schriftlich fixierte Textfassung zur Inszenierung Verratenes Volk. Aus diesem Grund wird er hier und im Folgenden als Grundlage der Analysen herangezogen.

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Verratenes Volk wieder Irritationen beim Hören, so dass die Fremdheit der Szenerie zusätzlich herausgehoben wird. So wenn das Aussehen der Früchte als „mit güldenen Häuten gefirnißt“ beschrieben wird und ihr Geschmack als „auserlesen leckerhaft“ (VV, S. 1), oder Adam und Eva als „das liebreichste Par, das sich jemahls mit verliebten Umhalsungen umarmet hat“, während „alle Thiere der Erden“ um sie herum „hüpfeten und spieleten“ (VV, S. 2). Satan, der verstoßene Rebell, sieht die Szene des schönen und glücklichen Menschenpaars mit außerordentlichem Verdruss und beschließt, diesem idyllischen unschuldigen Dasein ein Ende zu bereiten, einerseits aus Neid auf die vor Gottes Augen besseren neuen Geschöpfe, andererseits auf der Suche nach Verbündeten gegen seinen mächtigen Widersacher. Indem er Adam und Eva belauscht, erfährt er, dass es ihnen bei Todesstrafe verboten ist, vom Baum der Erkenntnis zu essen. Auf dieses Verbot will er seine Versuchung gründen. So heißt es in einer Passage18 der 'Spielfassung' unter dem Titel „SATAN“: „Wie, die Erkenntniß soll verbothen seyn? Das bringt Verdacht. Wie, sollte der Herr ihnen diese mißgönnen? Ist das ihr seliger Stand, die Probe ihres Gehorsams und ihrer Treue? O ein guter Grund, ihren Fall darauf zu bauen! Ich will mich dessen bedienen, ihnen eine Begierde nach mehrerer Wissenschaft beyzubringen, daß sie diesen neidischen Befehl aus der Acht schlagen, der nur erfunden worden, sie in der Niedrigkeit zu behalten, da die Wissenschaft sie erhöhet, und Gott gleich macht.“ (VV, S. 2)

Unter dem Titel „EVA“ fährt der Inszenierungstext mit der Beschreibung des Brautbetts und der ehelichen Liebe fort. Und Eva, so heißt es, war „besser geschmückt und liebenswürdiger, als Pandora“ (VV, S. 3). Der Vergleich mit Pandora weist nicht nur voraus auf Evas Überschreitung des göttlichen Verbots und damit auf die Verknüpfung von Erkenntnis und Schuld. Indem Eva mit Pandora verglichen wird, die durch das Öffnen einer von Zeus aus Rache an Prometheus geschickten Büchse, also aus Neugier, alle Plagen der Welt über die Menschheit gebracht hat, stellt sich in Miltons Text auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen göttlichem Allmachtsanspruch und menschlicher Freiheit. Denn Gott, so Milton in seiner Inhaltsbeschreibung des dritten Buchs19, habe den Menschen frei geschaffen und also auch als fähig, der Versuchung zu widerstehen. Auch wenn bei Milton die Versuchung des Menschen unter dem 18 Die 'Spielfassung' enthält an dieser Stelle eine handschriftlich eingefügte Textstreichung (vgl. VV, S. 2). 19 Vgl. John Milton, Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen übertragen und hrsg. von Hans Heinrich Meier. Stuttgart: Reclam, 1968, S. 73f.

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Tragödie als Bühnenform Gesichtspunkt des Machtkampfs zwischen Gott und Satan geschildert wird, werden die Erkenntnis suchenden Menschen auf jeden Fall schuldig, indem der Wille zur Erkenntnis mit dem Versuch der Selbstvergottung gleichgesetzt wird. Worin besteht also die Freiheit des Menschen? Was ist das eigentlich Paradiesische am Paradies, wenn dessen Zentrum ein Verbot ist? Diese Frage stellt sich bei Milton aus der Perspektive Satans, der, indem er ein Gespräch zwischen Adam und Eva belauscht, von dem Verbot erfährt, die Früchte vom Baum der Erkenntnis zu essen. In Schleefs Paradiesszene taucht das Erkenntnisverbot schlagwortartig auf, indem mittels eines Perspektivwechsels im Sprechen eine Stimme im paradiesischen Schlaf spricht: „Schlaf denn, schlaf gesegnetes Par, und o glückseligste, wenn ihr nicht nach einem glücklichern Stande trachtet, und wisset, / daß ihr nicht begehren sollet, / mehr zu wissen.“ (VV, S. 3)

Satan beweist seine Verführungskunst, indem er in diesen Schlaf eindringt. In Gestalt einer Kröte erscheint er an Evas Ohr und führt sie durch einen beunruhigenden Traum in Versuchung. Die eigentliche Verführungsszene durch Satan als sprechende Schlange, die Eva davon überzeugt, die verbotene Frucht zu essen, wird im Inszenierungstext weggelassen. Stattdessen wird das Eindringen Satans in Evas Traum in knappen Worten geschildert: „da klebte Satan in der Gestalt einer Kröte an Evens Ohr, bestrebt durch seine teufliche Kunst das Werckzeug ihrer Einbildung zu erreichen, damit er darinnen nach seinem Willen Blendwercke, Gesichter, und Träume schmiedete, oder ihre Lebensgeister, die von dem reinesten Blute, durch eingeflösseten Gift zu besprützen, und dadurch unruhige, unvergnügte Gedancken, eitele Hoffnung, eitele Begierden, unordentliche Lüste zu erwecken, die sich mit hohen Einbildungen, davon der Hochmuth entspringt, aufblähen.“ (VV, S. 4)

Seltsam machtlos erscheinen demgegenüber die hochgerüsteten Engel, die Wächter des Paradieses, die den vielgestaltigen Satan zwar immer wieder entdecken, indem sie ihn mit einem Schwert anrühren, so dass er seine 'wahre Gestalt' wieder annehmen muss. Fernhalten oder gar vernichten können sie ihn jedoch nicht. So wird am Schluss der Szene, bevor in einem letzten Satz die Vertreibung aus dem Paradies geschildert wird, nochmals Satans Vielgestaltigkeit und Allgegenwärtigkeit konturiert, wenn es heißt: „Denn Satan wechselt die Gesichter“ und „wohnet in jedwedem Ding“ (ebd.). In Miltons Text sendet Gott Raphael zur Unterweisung Adams über die Geschichte des Satan, dessen Rebellion gegen Gott, die darauf folgenden Kriege, schließlich den Triumph des Gottessohns 174

Verratenes Volk über Satan, dessen Bestrafung, die Verstoßung in den Abgrund zwischen Himmel und Chaos und schließlich: den Entschluss Gottes, eine bessere Welt zu schaffen, die Schöpfung der Erde durch Gottes Sohn. Satan, der inzwischen die Erde umkreist hat, kehrt ins Paradies zurück, dringt in die Gestalt der Schlange ein und überzeugt Eva, vom verbotenen Baum der Erkenntnis zu essen, worauf dies als der eigentliche Sündenfall geschildert wird. Aus „überstarker Liebe“20 zu Eva, da er weiß, dass sie verloren ist, isst Adam gleichfalls, worauf Scham und Streit im Paradies Einzug halten. Durch Gottes Sohn werden die Sünder verurteilt, die Strafe verkündet, aus Erbarmen aber die nackten Sünder eingekleidet. Während Satan ins Pandämonium zurückkehrt, wo inzwischen alle Höllenfürsten in Schlangen verwandelt worden sind, halten Sünde und Tod Einzug am Ort des Menschen. Gott prophezeit den endgültigen Sieg über Sünde und Tod durch seinen Sohn. In Voraussicht Gottes hatte sich der Gottessohn bereits vor dem Sündenfall aus Mitleid mit den gefallenen Menschen als Sühneopfer angeboten, worauf Gottvater seine zukünftige Fleischwerdung und darauf folgende Erhöhung verfügt. Nach dem Sündenfall klagt Adam über den Fluch der Sterblichkeit aller seiner Nachkommen, glaubt jedoch an die himmlische Verheißung, dass seine Nachkommen sich an Satan rächen werden. Trotz Reue und Demut verfügt Gottvater die Enteignung der Menschen und ihre Vertreibung aus dem Paradies. Nach Evas Klage darüber wird eine Vision Adams geschildert, die die Geburt des Messias als Nachkomme des ersten Menschenpaars, die Erlösung der Menschen durch die Fleischwerdung des Gottessohns, seinen Tod und seine Auferstehung zum Thema hat. Miltons Erzählung endet mit dem Auszug der Menschen aus dem Paradies, hinter ihnen das flammende Schwert. Unter Auslassung von Reue, Klagen und messianischer Vision folgt in Verratenes Volk auf den teuflischen Traum Evas und die Warnung vor Satans Vielgestaltigkeit und Allgegenwärtigkeit der letzte Satz der Szene: „Doch Eva hatte gegessen, Adam hatte gegessen, Gabriel hob sein Schwert, da erschrak das erste Menschenpaar, der Engel trieb es aus dem Land Eden.“ (VV, S. 4)

Das letzte Wort wird dabei betont, mit lang gezogenem Anfangsvokal und kehliger Stimme gesprochen – „É---den“ –, so dass die letzte Erwähnung des verlorenen Paradieses wie ein Stöhnen, ein Klagelaut klingt. Hier endet die Szene auf dem Theater, indem die Schau-

20 John Milton, Das verlorene Paradies. Stuttgart: Reclam, 1968, S. 250.

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Tragödie als Bühnenform spielerin einen Moment innehält, dann nach hinten durch die Tür in der Bühnenmitte abgeht und das Licht sich darauf verdunkelt. Schleefs Rückgriff auf Miltons 'episches Gedicht' über die Paradiesvertreibung des Menschen ist den anderen in Verratenes Volk verwendeten Textmaterialien keineswegs so fremd, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. In Döblins November 1918 gibt es ein Kapitel, welches das letzte Zusammentreffen der beiden Figuren Karl und Rosa vor ihrer Festnahme und Ermordung schildert. Dieses ist überschrieben: „Karl schwelgt in Miltons 'Verlorenem Paradies'“ (NOV4, S. 576). Karl erzählt hier Rosa von seiner Lektüre des Buchs, in dem Satan als rebellierender Engel im Mittelpunkt stehe. Er interpretiert den intellektuellen Satan als tragische Figur, der als Ausgeschlossener vor dem Paradies stehe und unter diesem Ausschluss leide. Miltons Figur des Satan, so Karl, sei der Gegenspieler Gottes, der die Menschen unterdrücke, indem er ihnen verbiete, „mehr zu wissen“. Döblins Karl zieht eine Parallele von Satan zum unterdrückten Volk, das gegen die Kapitalisten aufsteht. „Das ist ein Satan aus unserem Stoff, so dass man sich kaum eine bessere Verkörperung der Menschenwürde vorstellen kann. Ja, im Grunde steht da ein Mensch gegen Gott.“ (NOV4, S. 581) Satan sei nicht bereit, sich um der „himmlische[n] Seligkeit“ (NOV4, S. 583) willen zu unterwerfen. „Es ist“, so Karl, „eine göttliche Bedingung, auf die ein so freies Wesen wie Satan nicht eingehen kann. Und damit wird Satan das Vorbild der freien Wesen“ (ebd.). Wie der Wegfall der Unschuld der Verlust des Paradieses sei, stehe also der Sündenfall bei Milton für die Bewusstwerdung der Unterdrückung. An deren Stelle träten, im nach-paradiesischen Zustand der Erkenntnis, Scham, Leiden, Schmerz, Krankheit und Tod. So Karl: „Es ist nicht mehr Paradies, aber es ist auch nicht Hölle. Es ist menschliches Dasein.“ (NOV4, S. 583) Aber kann Satan als revolutionäres Vorbild gelten – „[a]llen Gewalten zum Trotz und nimmer sich beugen“ (NOV4, S. 584), wie Karl proklamiert? Will Karl die Spartakisten als „Satanisten“ (ebd.) definieren, wie Rosa ihm spöttisch erwidert? In einem Gespräch mit Alexander Weil über Verratenes Volk21 bezeichnet Schleef die Gesellschaft als Sündenfall: Mit dem Verlust des Paradieses beginne die Auseinandersetzung mit dem anderen und den anderen, die Frage, wie das Zusammenleben mit vielen organisiert werden kann, die Frage der Machtverteilung, die Frage von Zugehörigkeit oder Ausschluss. Im Paradies hingegen, so Schleef, gebe es nur das Paar. Die Problematik des Chors, die hier, in Verra-

21 Alexander Weil, „Verratenes Volk. 5 Stunden-Marathon von Einar Schleef über den NOVEMBER 1918“. Nachgedruckt in: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 65.

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Verratenes Volk tenes Volk verhandelt wird, würde somit der nach-paradiesischen Welt angehören.

Nach dem Paradies. Figuren des Satans Miltons Satan ist eine überzeitliche und vielgestaltige Figur. Er „wechselt die Gesichter“ und „wohnet in jedwedem Ding“ (VV, S. 4), wie es in Schleefs 'Spielfassung' der Paradiesszene heißt. Dem korrespondiert in den Textentwürfen zu Verratenes Volk eine horizontale Reihe von Figuren, die mit Satan assoziiert sind. So enthält eine Textfassung die Figurenangabe „SATAN in wechselnder Gestalt: LENIN, DOKTOR LENIN, EISNER, NIETZSCHE, STIMMEN, FROSCH“22. In einer Besetzungsliste zur Inszenierung steht Satan wiederum in einer Reihe mit Nietzsche und Wilhelm II.23 Wie der Auftritt Lenins bleibt jedoch der der unsichtbaren Figur des Kaisers auf dem Theater aus. Auch Döblins November-Roman räumt den Auftritten des Kaisers im Gegensatz zu den vielen namenlosen, beispielhaften Figuren und der Porträtierung der sozialistischen Führer wenig Platz ein. Schleef beharrt jedoch auf der Anwesenheit des Kaisers als zentraler Figur: „Bei Döblin treten eigentlich nur drei Personen auf: die unsichtbare Person des Kaisers, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.“24 Dass der Kaiser ursprünglich einen breiteren Raum in der Inszenierung einnehmen sollte, zeigt sich an Schleefs Auseinandersetzung mit dessen Abschiedsbrief an das deutsche Volk, der vielmehr eine Anklageschrift gegen dasselbe ist.25 In dieser Schrift zeichnet Wilhelm II. sich nach seiner Abdankung und Flucht ins holländische Exil als den Verratenen, vom Volk Verurteilten. Die Schuld am Weltkrieg schiebt er indes Bismarcks Politik zu. Der Krieg sei einzig dessen Erbschaft. Und mit Hinweis auf seine eigene unsoldatische Natur und seinen „schwachen Körper“26 versucht Wilhelm, sich als Pazifisten darzustellen, der nur den politischen Willen des Volkes, 22 Einar Schleef, Computertyposkript zu Verratenes Volk. Einar SchleefArchiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2140. 23 Vgl. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2049. 24 Einar Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge: „Mag die Mauer fallen, wir spielen Emilia Galotti. Einar Schleef über den November 1918 und historische Loyalität“. In: Alexander Kluge, Einar Schleef – Der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 80-87, hier: S. 80, Hervorhebung: C.S. 25 Vgl. Textkopie als Material zur Inszenierung in: Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2009. 26 Wilhelms II. Abschiedsbrief an das deutsche Volk. Den Deutschen ein Spiegel. Berlin: Curtius, 1919, S. 16.

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Tragödie als Bühnenform „die Sozialdemokraten eingeschlossen“27, exekutiert hätte. Er selbst habe nur die „Rolle“28 gespielt, die das Volk von ihm erwartet hätte. Dabei sei er in Wirklichkeit nur das Instrument seiner kriegstreibenden Generäle gewesen, selbst ein „Unterdrückter“29 des Generalstabs und der Obersten Heeresleitung, deren Lügen weit weniger schlimm seien als der unerschütterliche Glauben der Deutschen an deren Autorität. „Umwertung aller Werte und Götterdämmerung“, schreibt Wilhelm mit mehr oder weniger ironischem Verweis auf Nietzsche und Wagner, „das ist jetzt nicht mehr Dichtung und Kunst, das ist dann heute zur grausamen Wirklichkeit geworden“30. Seine anklagende Selbstverteidigungsschrift gipfelt schließlich in einer generellen Schuldzuweisung an sein ehemaliges Volk: „Euer Wille ist geschehen [...]. Immer nur Euer Wille, nicht mein Wille, darum aber auch nicht meine Schuld, sondern Eure Schuld. Und damit Ihr das wisset, habe ich Euch diesen Abschiedsbrief geschrieben, damit Ihr es wisset und Eure Kinder und Kindeskinder bis in die entferntesten Geschlechter es erfahren, daß, wenn Euch jetzt bitter und weh geschieht, nur Ihr selbst an allem schuld seid.“31

Dieser Kaiser, der nach seiner Flucht aus gekränktem Narzissmus sein abtrünniges Volk anklagt, der mehr Angst vor der Revolution als vor einem Weltkrieg hat, tritt auf dem Theater nicht auf. Gleichwohl liegt diese unsichtbare Figur als Folie sowohl Schleefs Inszenierung als auch Döblins November-Roman zugrunde. Mit dem Gespenst des deutschen Kaisers tritt die Frage nach der Fiktion Deutschland auf. Die Figur des unsichtbaren Kaisers, die Schleef in seinen Entwürfen zu Verratenes Volk an eine der vielzähligen Stellen des Milton’schen Satans setzt, markiert eine Leerstelle, die Heiner Müller so beschreibt: „Deutschland hatte nie einen König und hat nie einen gefunden. Diese ganze aufgestaute kollektive Kindersehnsucht nach einem König konnte Hitler für sich mobil machen.“32 Nachdem im November 1918 der letzte sichtbare Königsdarsteller in Deutschland verschwunden ist, wird das „Bedürfnis nach Königen“, welches nach Heiner Müller, „in der deutschen Geschichte nie befriedigt“33 worden ist, umso offensichtlicher. Die „ganze deutsche Dramatik“ sei, so Müller, die vergebliche „Suche

27 28 29 30 31 32 33

Ebd., S. 6. Ebd., S. 28. Ebd., S. 26. Ebd., S. 31. Ebd., S. 32, Hervorhebung im Original. Heiner Müller, „Für immer in Hollywood“. A.a.O., S. 214. Ebd., S. 219.

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Verratenes Volk nach einer Königsfigur, die es in Deutschland nie gegeben hat“34. Ein Volk von vaterlosen Söhnen verehre die Könige, die Vaterfiguren, die es nie gehabt habe – Cäsar, Napoleon, Lenin, Stalin –, während die Rebellionen der Söhne gescheitert oder nicht gewürdigt worden seien: Karl Moor, der die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848 vorwegnehme35, oder Luther, der als 'typischer Sohn' in der deutschen Dramatik keine Rolle spiele. Denn: „Deutschland verehrt die Väter. Nie die Söhne.“36 Auch Wilhelm II., der als unsichtbare Figur in Verratenes Volk für diese vergebliche deutsche Suche nach einem König steht, sieht und definiert sich in seinem Abschiedsbrief an das deutsche Volk ausschließlich als Sohn, als Enkel (des Berliner Vertrags), als Nachkomme, der selbst nichts zeugt, der nichts verantwortet und bedingungslos alle Schuld (am Weltkrieg und den Kriegsfolgen) auf Bismarck schiebt. Die abwesende Kaiserfigur in Verratenes Volk fungiert also als Negativfolie dieser vergeblichen deutschen Königssuche: erster 'Verrat'. Ob der Sozialismus an diese leere Stelle zu treten vermag, erscheint äußerst fraglich, so schildert es Döblin. Mit der Benennung der Rückseite des sozialistischen Erlösungsversprechen als „Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse“37, wie Verratenes Volk Karl Liebknecht zitiert, scheint der zweite 'Verrat' auf. Eine Erlösung post mortem? Ist der Sozialismus nicht von dieser Welt? Auf diese Frage wird an späterer Stelle mit Blick auf das chorische Echo dieses Liebknecht-Zitats zurückzukommen sein. Satan, die nach-paradiesische Personifikation des Bösen, tritt in Schleefs Szenen- und Textentwürfen zu Verratenes Volk in weiteren Gestalten auf. Während im Januar 1919 hunderttausende Menschen im Tiergarten versammelt sind und vergeblich auf das Erscheinen der Revolutionsführer warten, geht zwischen diesen ein „Dämon“38 um, der ihnen ins Ohr wispert, die Fortsetzung der revolutionären Aktionen zu stoppen, da diese in einen Bürgerkrieg führten. Dieser Dämon, der bei Döblin „unter der Maske der Vernunft“ (NOV4, S. 314) zwischen den Spartakisten umhergeht, heißt in Schleefs Stückfassung „SATAN LENIN“ (VV, S. 54). Auf dem Theater hört man eine Einzelstimme gegen den Chor:

34 Ebd. 35 So Frank Raddatz im Gespräch mit Heiner Müller, „Für immer in Hollywood“. A.a.O., S. 220. 36 Heiner Müller, „Für immer in Hollywood“. A.a.O., S. 220. 37 Karl Liebknecht, „Trotz alledem!“. (Die Rote Fahne, Nr. 15, 15.1.1919) In: Ders., Gesammelte Reden und Schriften. Bd. 9, Mai 1916 bis 15. Januar 1919, Berlin: Dietz, 1974, S. 709-713, hier: S. 713. 38 Vgl. NOV4, S. 314f.

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Tragödie als Bühnenform „Wahnsinnige. Was ihr vorhabt, ist Blutvergießen. Ihr stürzt das Volk in einen Bürgerkrieg. Nicht genug vom Krieg? Stop. Es ist noch nicht zu spät. [...] Niemand will den Aufstand.“ (VV, S. 54)

Darauf wiederholt der Chor laut, drohend, als Frage: „Niemand will den Aufstand? Niemand?“ (VV, S. 54)

Satan ist in der Aufführung nicht solcher gekennzeichnet und bleibt, wie bei Döblin, eine anonyme Stimme. Da die Bühne aber nicht die Quartiere der sozialistischen Führer (Polizeipräsidium, Marstall, Schicklerstraße) abbildet, kein Innen zeigt, sondern nur als Außen definiert ist, wird die Szene auf die Straße verlagert. Die Einzelstimme mit dem Titel „SATAN LENIN“, die für den Verrat des im Tiergarten vergeblich wartenden 'Volks' steht, tritt auf dem Theater in direkten Gegensatz zur massenhaften Forderung nach einer Fortsetzung der Revolution. An einer anderen Stelle tritt „SATAN“ als Stimme der EbertRegierung auf, die die revolutionären Unruhen als „Räuberei und Plünderung“ (VV, S. 55) denunziert.39 „SATAN“ zitiert auch Kurt Eisner, der nach Döblin die Einheit „aller sozialistischen Parteien“ in einem „mörderischen Bürgerkrieg“40 untergehen sieht und vor dem Zorn der Süddeutschen auf Berlin warnt. Die Erscheinungen und Assoziationen Satans in Verratenes Volk sind so vielgestaltig wie ambivalent. So erscheint auch Schleefs Rosa Luxemburg-Figur in einer (Traum-) Szene als sozialistische Jeanne d’Arc-Ikone mit einem Pferdefuß. In der Chronologie der Aufführung tritt jedoch zunächst, nach der Erzählung vom 'Verlohrnen Paradies', „DER SATAN/NIETZSCHE“ (VV, S. 4) auf.

Wie man wird, was man ist. Schleefs „Nietzsche“ und Nietzsches Ecce homo Nach einer kurzen Pause, in der die Schilderung der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies noch nachhallt, folgt als zweite Szene auf dem Theater Schleefs Inszenierung von Nietzsches Ecce homo. Der Text mit dem Untertitel Wie man wird, was man ist, ist nicht nur eine pathetische, höchst subjektive und widersprüchliche Selbstdarstellung Nietzsches, sondern vor allem eine flammende Rede gegen den Idealismus, das Christentum, gegen Deutschland,

39 Vgl. NOV4, S. 471f. 40 Vgl. VV, S. 56 sowie NOV4, S. 472.

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Verratenes Volk den Nationalismus, gegen die „Vielsamkeit“ (EH, S. 297) und für die einsame Erkenntnis. Mit prophetischem Gestus tritt der Philosoph vor die Welt, nicht nur, um zu sagen, wer er ist, sondern um als Satyr im Gefolge Dionysos’ den Idealismus als feige Realitätsflucht, als „Verlogenheit vor dem Nothwendigen“ (EH, S. 297) zu enttarnen und zu dessen Überwindung aufzurufen. Zarathustras Übermensch, dem Nietzsche in Ecce homo den Namen „Teufel“ (EH, S. 370) gibt, braucht keine paradiesische Jenseitsvorstellung. Als antimetaphysische Figur konzipiert, sei er, so Nietzsche, „stark genug“, der „Realität, wie sie ist“ (EH, S. 370)41, ins Auge zu sehen. Gott hingegen, das heißt die Konzeption des christlichen Gottes, gilt dem Philosophen als „faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!“ (EH, S. 279) Mit dem Programm der 'Umwertung aller Werte' knüpfe sich an seinen Namen, so Nietzsche, „die Erinnerung an etwas Ungeheures [...] – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab [...]. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ (EH, S. 365) Mit einer keineswegs eindeutigen Ankündigung der schrecklichsten Erschütterungen, Erdbeben und Kriege im Gefolge dieser Umkehrung aller geltenden politischen, moralischen und religiösen Werte schließt der sich als „erste[r] Immoralist“ (EH, S. 366), als „Antichrist“ (EH, S. 301) und „Vernichter“ (EH, S. 366) stilisierende Philosoph seine Rede.

„WIE MAN WIRD, WAS MAN IST“. SCHLEEF INSZENIERT NIETZSCHES ZUR-FIGUR-WERDEN Auf der nun vollständig leeren und dunklen Bühne, die nur durch ein Licht-Rechteck auf dem Boden der Vorderbühne beleuchtet ist, kommt Einar Schleef nach vorne. Im schwarzen Anzug, mit einem Glas Wasser in der Hand, tritt er in das Licht-Rechteck und beginnt Nietzsches Text zu sprechen, genauer: das Vorwort zu Ecce homo, in dem der Autor sich selbst und seine 'Aufgabe' charakterisiert: „In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschheit herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wér / ích / bín.“ (EH, S. 257)42

41 Hervorhebungen im Original, die die Kritische Studienausgabe (KSA) durch Sperrdruck markiert, sind hier kursiv gekennzeichnet. Alle Hervorhebungen in Zitaten Nietzsches sind, wenn nicht anders gekennzeichnet, dem Original entnommen. 42 In der Beschreibung der Aufführung wird an einigen Stellen der Sprechrhythmus Schleefs in der bereits erläuterten Weise angegeben. Wo der Aufführungstext von der Textfassung der Kritischen Studienausgabe (KSA) abweicht, ist dies mit * gekennzeichnet.

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Tragödie als Bühnenform Nietzsche will sich in seinem Text Ecce homo, geschrieben Ende 1888, mit dem Programm der 'Umwertung der Werte' seinem imaginären Publikum vorstellen. Der Philosoph scheint in seinen letzten Schriften immer mehr zu der 'zweiten Natur' geworden zu sein scheint, die er sich schaffen wollte, ja, zu einer eigenständigen Figur, die von ihrem Autor immer weniger unterscheidbar und abtrennbar geworden ist. Dieses Zur-Figur-Werden Nietzsches, das allerdings kein einfacher Vorgang, sondern schon in sich vielfach gebrochen ist, inszeniert Schleef, indem er als Regisseur und gleichzeitig als Bühnenfigur 'Nietzsche' – oder „SATAN/NIETZSCHE“ (VV, S. 4) – 112 Jahre später auf die Bühne des Deutschen Theaters tritt und der sich selbst vergewissernden Rede des untoten Philosophen seine Stimme leiht: „Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!“ (EH, S.257)

Dass es sich hierbei um zitierte Rede, um den inszenierten Prozess des Stimmeverleihens handelt, wird nicht nur durch das sichtbare Textmaterial deutlich, das Schleef in losen Blättern in der Hand hält. Auch die Bühnenbeleuchtung assoziiert das Sprechen als Rede einer Wiedergänger-Figur: So scheint das Licht-Rechteck auf der ansonsten völlig dunklen Bühne den Auftrittsort der NietzscheFigur wie ein geöffnetes Grab zu markieren.43 Und so wie Nietzsche selbst in Ecce homo zur Figur wird, wird Schleef hier zur Figur 'Nietzsche'44, mit der ihn zu 'verwechseln' gleichwohl unmöglich bleibt: Nicht nur die Anwesenheit des Textes in der Hand des Sprechers verweist auf den Vorgang des Zur-Figur-Werdens des wiederum sich zur Figur stilisierenden Nietzsche. Auch das Sprechen des Textes bringt selbst immer wieder Irritationen und Unterbrechungen hervor: Mal sei die Fassung des Aufführungstextes korrigiert, mal in Teilen umgestellt worden, so der 'Nietzsche'-Darsteller Schleef. So gerät der Redefluss der Nietzsche-Figur auf dem Theater immer wieder ins Stocken. Zum anderen dokumentiert diese Selbstkommentierung des Figur-Werdens auch Schleefs eigene Textarbeit als Auseinandersetzung mit Nietzsches Zur-FigurWerden.

43 Ähnlich verhält es sich mit dem Auftritt der Figur 'Andi' (Elisabeth Augustin) in Schleefs Sportstück-Inszenierung. 44 Um den Unterschied der theatralen Figur 'Nietzsche' zum Autor des der Szene zugrunde liegenden Textes Ecce homo zu verdeutlichen, wird die Theaterfigur im Folgenden als 'Nietzsche' bzw. als Nietzsche-Figur bezeichnet.

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Verratenes Volk

„HÖRT MICH!“ NIETZSCHES GESTE DES GEHÖRTWERDEN-WOLLENS Was will der 'erste Immoralist'? Wie stellt sich Nietzsche in seinem Text Ecce homo vor? Und wie wird die Figur 'Nietzsche' von Schleef auf dem Theater präsentiert? Einar Schleef, Bühnenskizze zur Nietzsche-Szene

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Er sei „durchaus kein Popanz, kein Moral-Ungeheuer“, sondern geradezu „eine Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat“ (EH, S. 257), nämlich: „ein Jünger des Philosophen Dionysos“, der es vorzöge, „eher noch ein Satyr zu sein, als ein Heiliger“ (EH, S. 258). Philosophie, so Nietzsche, sei „das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein“, eine „Wanderung im Verbotenen“ (EH, S. 258). Idealismus hingegen ist für den Nietzsche des Ecce homo ein Götzenglaube, das Ideal nichts anderes als Lüge, und der Irrtum, der aus dem Glauben ans Ideal folge, sei wesentlich Feigheit. Denn, so setzt Nietzsche gegen den Fehlglauben ans Ideal:

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Tragödie als Bühnenform „Wie viel Wahrheit erträgt, wie viel Wahrheit wagt ein Geist? das wurde für mich immer mehr der eigentliche Werthmesser.“ (EH, S. 259)

Schleef, der den Text der ersten Abschnitte mit wenigen Streichungen übernimmt, spricht mit starker Betonung, fast bis zum Schrei, so zum Beispiel im ersten Satz: „wér / ích / bín“ (EH, S. 257). Der Satz wird somit in der Inszenierung zur nachhaltigen Aufforderung, Nietzsche Selbstdarstellung zu folgen, sein Zur-Figur-Werden zu entziffern. Schleef folgt Nietzsches Sprachrhythmus, den er nicht nur hörbar, sondern auch körperlich sichtbar macht, wenn er ihn im Sprechen mit der rechten Hand markiert, während er in der anderen den Text hält – so im oben stehenden Satz: „Wie viel Wahrheit wágt ein Geist, wie viel Wahrheit ertr´ägt ein Geist?“ (EH, S. 259*)

Er setzt Zäsuren, um die Betonungen im Text herauszuheben, er moduliert Lautstärke und Geschwindigkeit des Sprechens zwischen den Extremen, wodurch der semantische Sinn der Sprache mal wie isoliert herausgemeißelt, mal konterkariert wird. Nach Beginn seiner Rede in geradezu ekstatischem Predigerton, mit skandierender Armbewegung, mit erhobenem Zeigefinger oder gar erhobener Faust – „Hört mich!“ (EH, S. 257) –, wird der prophetische Gestus von Nietzsche ausdrücklich zurückgenommen: „Híer redet kein Fanatiker, híer wird nicht 'gepredigt', hier wird nicht Glaúben verlangt [...] – eine zärtliche Langsamkeit ist das tempo dieser Reden.“ (EH, S. 260)

Auf diese Weise hält Schleefs Sprechdramaturgie die Zuhörer beständig in der Schwebe zwischen einer ironisch distanzierten und einer eher affekthaften Rezeption, die durch den energetischen Sog der direkten Ansprache des Publikums – im Wortsinn: der öffentlich versammelten Zuhörerschaft – entsteht. Dieser changierenden Rezeptionsweise korrespondiert wiederum die Ambivalenz des Nietzsche-Textes selbst, der einerseits Zarathustra in biblisch-messianischer Weise zu seinen 'Jüngern' sprechen lässt – „und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren“ (EH, S. 261) –, und der andererseits behauptet, Zarathustra sei gerade das Gegenteil von einem Heiligen, einem 'Welt-Erlöser'. Einerseits wird die notwendige Einsamkeit des Philosophen behauptet, bis zum Selbstgespräch – „Und so erzähle ich mir mein Leben.“ (EH, S. 263) Andererseits verlangt der Text immer wieder nach der Versicherung seines Gehörtwerdens, so in der Aufforderung zu Beginn: „Hört mich!“ (EH, S. 257), später fragend: „Versteht man mich?“ (EH, S. 367), schließlich, zum Ende des Tex184

Verratenes Volk tes, immer wiederholend: „Hat man mich verstanden?“ (EH, S. 371, 373, 374)

KRIEG DEN HOHENZOLLERN. ZITAT EINES BRIEFS Dezember 1888. Nietzsche entwirft einen Brief an Kaiser Wilhelm II., dem er ein Exemplar von Ecce homo schicken will: „Ich erweise hiermit dem Kaiser der Deutschen die höchste Ehre, die ihm widerfahren kann, – ich überreiche ihm das erste Exemplar des Werks, in dem das Schicksal der Menschheit sich entscheidet. Ein Augenblick tiefster Selbstbesinnung hebt hiermit an, – die Folgen werden ungeheuer, sie werden selbst furchtbar sein: und ein Gleichgewicht aller Kräfte ist zunächst widerlegt.“45

Zwischen Nietzsches Zarathustra-Zitat und seiner Rede gegen das „Ressentiment“, welchem er die „grosse Vernunft“ des „russischen Fatalismus“ (EH, S. 272), als einer Abart des 'Amor fati', entgegenstellt, fügt Schleef den Hinweis auf Nietzsches Briefentwurf ein: „Es ist kalt. Der Winter 1888 ist sehr kalt. [...] Ich schreibe einen Brief an den jungen deutschen Kaiser und lege ihm mein erstes Exemplar meines letzten, ja vielleicht letzten Werkes bei. Es ist kalt.“46

Was bewegt Nietzsche, der gerade in Ecce homo seinen „Ehrgeiz“ darlegt, „als Verächter der Deutschen par excellence zu gelten“ (EH, S. 362), ausgerechnet dem eben inthronisierten Wilhelm II. diese Schrift zu schicken und somit auf seine Ankündigung von etwas 'Ungeheurem' zu verweisen – nämlich nicht zuletzt auf den Zusammenbruch der bestehenden Macht- und Gesellschaftsordnung als Konsequenz aus der von ihm analysierten 'Umwertung aller Werte'? In einigen seiner letzten nachgelassenen Fragmente aus dem Winter 1888/89 sucht Nietzsche immer wieder, seine Kriegserklärung gegen das Christentum und die Dynastie zu präzisieren. Namentlich den Hohenzollern gilt sein rhetorischer Kampf, ebenso ausdrücklich dem deutschen Nationalismus, wie er sich insbesondere seit der Reichsgründung 1871 herausgebildet habe. Dessen Speerspitze lokalisiert Nietzsche in der Gestalt des Reichskanzlers

45 Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden (KSB). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 8, Januar 1887 – Januar 1889, München: dtv, Berlin/New York: de Gruyter, 1986, S. 504. 46 Einar Schleef, Verratenes Volk. Zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Tragödie als Bühnenform Bismarck. Unter der Überschrift „Todkrieg dem Hause Hohenzollern“47 kündigt er an: „Als der, der ich sein muß, kein Mensch, ein Schicksal will ich ein Ende machen mit diesen verbrecherischen Idioten, die mehr als ein Jahrhundert das große Wort, das größte Wort geführt haben. [...] Heute, wo eine schändliche Partei obenauf [ist], wo eine christliche Bande die fluchwürdige Drachensaat des Nationalismus zwischen den Völkern sät, [...] haben wir die Verlogenheit und Unschuld in der Lüge vor ein welthistorisches Gericht zu bringen“48.

Mit seiner 'großen Politik' der 'Umkehrung aller Werte' erklärt Nietzsche in diesen zeitgleich zur Druckfassung des Ecce homo entstandenen fragmentarischen Schriften den Krieg gegen den „christlichen Husaren von Kaiser, diesen jungen Verbrecher“ sowie gegen Reichskanzler Bismarck, den er einen „Idiot par excellence unter allen Staatsmännern“ nennt, der „nie eine Handbreit über die Dyn[astie] Hohenzollern hinausgedacht“49 habe. Die Deutschen selbst, so Nietzsche in einem weiteren Fragment, seien wohl die „niedrigste, stupideste, gemeinste Rasse [...], die jetzt auf Erden da ist, verhohenzollert bis zum Haß gegen Geist und Freiheit“50. Trotzdem – oder gerade wegen seiner zahlreichen intellektuellen Kriegserklärungen gegen die Deutschen, das deutsche Reich, gegen Bismarck und den deutschen Kaiser –, enträt Nietzsche unter dem Titel „Letzte Erwägung“ an gleicher Stelle dem Krieg: „Zuletzt könnten wir selbst der Kriege entrathen; eine richtige Meinung genügte unter Umständen schon. [...] Es giebt noch wirksamere Mittel, die Physiologie zu Ehren zu bringen als durch Lazarethe – ich wüßte einen besseren Gebrauch von den 12 Millarden zu machen, die der 'bewaffnete Friede' heute Europa kostet.“51

Zwar umreißt Nietzsche in diesen letzten Notizen noch ein Idealbild des Soldatentums, das ihm dort als „Mittel“ gilt, „ein ganzes Volk zu den Tugenden des Gehorchens und Befehlens, zum Takt“, ja zur „Freiheit des Geistes“52 zu erziehen. Die massenhafte Herstellung des uniformierten Menschen zur bloßen Aufrechterhaltung einer dynastischen Herrschaft lehnt er jedoch an gleicher Stelle ab und

47 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1887 – 1889. In: Ders., Sämtliche Werke (KSA). A.a.O., Bd. 13, S. 643. 48 Ebd., Einfügung der Herausgeber. 49 Ebd., Einfügung der Herausgeber. 50 Ebd., S. 644. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 645.

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Verratenes Volk zeichnet hier das Bild vom modernen Soldaten als bloßem Kanonenfutter: „'Dienst und Pflicht' [ - - -], Segen der Arbeit – so redet immer die verfluchte Dynastie, wenn sie M[enschen] nöthig hat. Daß man eine solche Auslese der Kraft und Jugend und Macht nachher vor die Kanonen stellt, ist Wahnsinn.“53

Schließlich, so Nietzsche, gebe es „ke[in] Recht auf Gehorsam, wenn der Befehlende bloß ein Hohenzollern“54 sei. Schleef belässt es bei dieser im Zitat des Briefentwurfs angedeuteten Verbindung zwischen Nietzsche und Wilhelm II., die in den Textfassungen zu Verratenes Volk beide als Figuren des 'SATANS' gekennzeichnet sind, und markiert so einen blinden Fleck zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Nietzsche, der die Regentschaft Wilhelms II. nicht mehr erleben wird, geschweige denn die gewaltsame Realisierung seiner eigenen Phantasien oder Ahnungen von weltumstürzenden Erschütterungen und unvorstellbar grausamen Kriegen, erscheint so beinahe wie der finstere Prophet, der – zumindest theoretische – 'Vernichter par excellence', als der er sich selbst inszeniert.

KAMPF DEM RESSENTIMENT. DER TON DES PROPHETEN Nach dem Hinweis auf den Brief an Wilhelm II. fährt der Aufführungstext mit Nietzsches Rede über die „Freiheit vom Ressentiment“ (EH, S. 272) in Ecce homo fort. Das Ressentiment, so Schleefs 'Nietzsche' mit erhobener Stimme, sei eine Art Krankheit, eine energetische Schwächung des Menschen, welche aus einer erfahrenen Verletzung resultiere: „[D]ie Erinnerung ist eine eiternde Wunde“ (EH, S. 272). Als „Heilmittel“ empfiehlt Nietzsche dem am Ressentiment Erkrankten – also nicht zuletzt auch sich selbst –, den „russischen Fatalismus“: „jenen Fatalismus ohne Revolte, mit dem sich ein russischer Soldat, dem der Feldzug zu hart wird, zuletzt in den Schnee legt“ (EH, S. 272). Die „grosse Vernunft dieses Fatalismus“ bestehe in der geistigen Haltung einer „Art Wille zum Winterschlaf. Ein paar Schritte weiter in dieser Logik“, so Nietzsche, „und man hat den Fakir, der wochenlang in einem Grabe schläft“ (EH, S. 272). Die Logik des Fakirs sei es, überhaupt nicht mehr zu reagieren, wenn man sich im Fall einer Reaktion 'zu schnell verbrauchen' würde. Von dieser stilisierten Symbolfigur aus erklärt Nietzsche die buddhistische Religion als 'physiologische' Lehre, deren Wirkung, im Gegensatz zum rachsüchtigen, ressentimentgeladenen Christen53 Ebd., Einfügungen der Herausgeber. 54 Ebd., Einfügung der Herausgeber.

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Tragödie als Bühnenform tum, gerade vom „Sieg über das Ressentiment“ (EH, S. 273) gekennzeichnet sei. „'Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende': das steht am Anfang der Lehre Buddha’s – so redet nicht die Moral, so redet die Physiologie.“ (EH, S. 273)

Sich vom Ressentiment zu befreien, sei in jeder Hinsicht „erster Schritt zur Genesung“ (EH, S. 273), die Nietzsche nicht nur als körperliche, sondern auch als mentale begreift. Nicht die Rache, als Folge der 'eiternden Wunde' einer erlebten Verletzung, sondern „[s]ich selbst wie ein Fatum nehmen“ – das sei „die grosse Vernunft selbst“ (ebd.), gerade in der Philosophie. So predigt Nietzsche, der kein Prediger sein will – und Schleef assoziiert den Predigergestus seiner Nietzsche-Figur, indem er in diesem Passus der Rede immer wieder den Zeigefinger erhebt. Diese Geste wird jedoch in Schleefs Auftritt wiederum kommentiert, indem sie, durch das Angeben des Sprechrhythmus mit der rechten Hand, das Umblättern des Textes und das Vertauschen der Seiten als Zitat einer Rede ausgewiesen wird. Die wiederkehrenden Irritationen im Sprechen, die durch Korrekturen und Umstellungen des Textes auftreten, dokumentieren somit Schleefs Arbeit am Text. Zudem bewirken sie immer wieder Unterbrechungen des Nietzsche’schen Redeflusses. Diese performativen Unterbrechungen verweisen auf den Aspekt, dass die Linearität des schriftlichen Textes in erster Linie eine Konstruktion ist, insbesondere bei einem Autor, dessen Schreiben eher der Mündlichkeit der Sprache verwandt als der Schriftlichkeit verpflichtet ist. Schleefs Vor und Zurück im Text, das ausgestellte Blättern in Nietzsches Gedankenspirale – „ja, jetzt ist das Kapitel richtig“55 –, korrespondieren mit diesem Aspekt der Oralität, indem Schleefs Ecce homo-Aufführung die kreisenden Bewegungen in Nietzsches Selbstbeschreibungstext, das Stocken und Drängen, den spiralförmigen Aufbau des Textes im Rhythmus des Sprechens umsetzt. Schleefs 'Nietzsche' ist der sprechende Philosoph.

„SPRECHSPRACHE“ UND DIE HÖRBARKEIT DES DENKENS. REFLEXION DER ORALITÄT In Droge Faust Parsifal konturiert Schleef insbesondere an Nietzsches Texten – hier: Zarathustra und Ecce homo – die Unterscheidung zwischen 'Sprechsprache' und 'Schriftsprache'. Sprechsprache, so Schleef, sei die Sprache der Propheten, wohingegen er

55 Einar Schleef in Verratenes Volk, zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Verratenes Volk Schriftsprache als die der erzählenden Prosa konturiert. Erst beim Lautlesen56 erkenne man die Verwendung der zwei verschiedenen Sprachen. „Nur das Lautlesen eröffnet den Zugang zu beiden Sprachen, da für Nietzsche die laut gesprochene Formulierung und Verfolgbarkeit eines geordneten Denkvorgangs eng beieinanderliegen, seine Vorbilder sind nicht nach der Antike ausgerichtete theoretische Schrift-Texte, sondern der mündliche akademische Vortrag, die protestantische Predigt, wie sehr er sich auch dagegen wehrt, der pastorale Ton ist die Rettung der vertracktesten Argumente, erst durch dieses Pathos, den erhobenen Zeigefinger, nicht lehrerhaft dümmlich, sondern alttestamentarisch, wird jede Fehlinterpretation abgeriegelt, werden widersinnigste Formulierungen geradegerückt“ (DFP, S. 338).

Insbesondere in Schleefs Ecce homo-Aufführung wird dieser Aspekt der Mündlichkeit, die Auffassung der Sprache als Sprechsprache hervorgehoben – auch indem gerade der Predigergestus Nietzsches ausgestellt wird. Zwar bleibt fraglich, ob durch die Verwendung der Sprechsprache in Nietzsches Text Widersprüche inhaltlich 'gerade gerückt' werden – „Hier redet kein 'Prophet'“, wie es im Vorwort zu Ecce homo heißt, „hier wird nicht 'gepredigt'“ (EH, S. 259f.). Schleef beschreibt hier jedoch ein Formprinzip, eine formale Bewegung in Nietzsches Schreiben, die insbesondere in Ecce homo auszumachen ist: Der Text schreitet vortragsmäßig fort, wiederholt sich, lässt Themen fallen und greift sie wieder auf, gerät immer wieder ins Stocken, angezeigt auch durch die vielen Auslassungszeichen und Bindestriche, er fragt nach – „hört man mich?“, „hat man mich verstanden?“ –, immer wieder sich selbst versichern wollend. Nietzsche tritt mit der Geste des Ich-Sagens vor sein imaginäres Publikum – das Schleef mit seiner Nietzsche-Figur folgerichtig im Theater realisiert. Wie sehr das Ich-Sagen Geste ist, nicht autobiografische Erzählung, wird in Formulierungen deutlich wie der bereits zitierten aus dem Vorwort, die von Schleef laut, beinahe schreiend gesprochen wird: „Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor allem nicht!“ (EH, S. 257)

Diese Geste des 'Hört mich!' ist nicht nur Formulierung der Sprechsprache, sondern immens theatralisch, wenn nicht die theatralische Geste schlechthin. So tritt der Protagonist der antiken Tragödie auf: 'Hört, was mir Schreckliches geschehen ist!' So tritt der Bote auf die Bühne der Tragödie: 'Hört, was ich Schreckliches gese-

56 Hier: des Zarathustra.

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Tragödie als Bühnenform hen/vernommen habe!' Und Nietzsche selbst inszeniert sich mit Bezug auf seine Geburt der Tragödie in Ecce homo als 'erster tragischer Philosoph'. Mit der Geste des 'Hört mich!' tritt auch der alttestamentarische Prophet auf, wie Schleef in Droge Faust Parsifal mit Bezug auf Nietzsches 'Sprechsprache' festhält. Diese Geste fordert natürlich ein Hören vielmehr als ein Lesen, auch wenn Ecce homo im Vorwort dazu auffordert, seine 'Schrift' zu 'lesen'. Nietzsches 'ich' will sich vor allem seines Gehörtwerdens versichern. Gehört werden kann aber nur das gesprochene Wort, nicht die lautlose Schrift. Und genau diese Geste des 'Hört mich!', des Gehörtwerdenwollens ist es, auf die Schleefs Umsetzung des Ecce homo in Verratenes Volk antwortet. Gegen das „Diktat einer urban herrschenden Schrift-Sprache“ (DFP, S. 339) setzt Schleef in Droge Faust Parsifal die Vielschichtigkeit, lokale Kraft und das Pathos der Sprechsprache, die sich vor allem dadurch auszeichne, dass sie sich immer wieder ihrer Glättung durch Verschriftlichung widersetze. Diese Widerständigkeit der Sprechsprache analysiert er insbesondere an den Texten Nietzsches: „Bei Nietzsche lassen sich die Sprachstreckung und der Widerstand der Sprache gegen diese gut verfolgen. Selbst beim Lautlesen können häufig Inhaltssprünge nicht mitvollzogen werden, sodaß man sich mit künstlichen Sprechpausen behelfen muß, bis die jeweilige Wendung inhaltlich durchdacht und von den Sprechwerkzeugen formuliert werden kann. Feststeht, daß sich Inhalt nur über die laute Formulierung, sowohl für den Sprechenden als auch für den Zuhörer, aufschließt.“ (DFP, S. 339)

In seiner Definition des Lautlesens bindet Schleef hier die Verstehbarkeit an die Hörbarkeit, besser: das Gehörtwerden, darin Nietzsche genau folgend. Erst das Lautlesen, also das Sprechen mache den (eigenen) Text (auch für den Autor) verständlich. Indem er hörbar werde, so Schleef, werde er verstehbar. Erst lautes Lesen führe den Autoren ihren „eigentlichen Gedanken“ zu, „der ihnen beim Schreiben nicht gegenwärtig war“ (DFP, S. 339). Diesen Vorgang des Hörbarwerdens der Gedanken in der beziehungsweise durch die gesprochene Sprache nennt Schleef „Echowand“ (ebd.). In der Echowand, welche im Lautlesen evoziert werde, formuliere sich der „Wunsch nach dem Echo der eigenen Gedanken in der anderen Stimme“ (ebd.). Schleefs Begriff der Echowand deutet auf den Zusammenhang zwischen gesprochener Sprache, dem Vorgang des Sprechens und dem Chor-Gedanken: Wird nicht erst in der Mündlichkeit der Sprache, im Sprechen die Möglichkeit des Gehörtwerdens deutlich, auf die das chorische Sprechen als Veröffentlichung des Mitgeteiltseins verweist? 190

Verratenes Volk Nietzsche, so Schleef in Droge Faust Parsifal, arbeite mit seiner genauen Zeichensetzung, der Angabe von Betonungen durch gesperrt gesetzte Worte an einer „vollständig durchgearbeitete[n] Sprachpartitur“ (DFP, S. 339). Diese wolle in Ecce homo allerdings nicht gelingen. Schleef beschreibt den fragmentarischen, auch formal widersprüchlichen Charakter des Textes als Effekt des dort zu verfolgenden Kampfs zwischen 'Schreib-' und 'Sprechsprache', immer gebrochen an Nietzsches Auseinandersetzung mit Heinrich Heine, seinem großen Vorbild.57 Die „Rhythmusbestimmung“ durch Lautlesen, lautes Sprechen des Textes, so Droge Faust Parsifal weiter, ermögliche gerade bei Nietzsche die „gedankliche Durchdringung“ der Sprache, die „Erarbeitung ihrer Vielschichtigkeit“ (DFP, S. 344). Denn diese erschließe sich über den Rhythmus der Sprache, der sich nur im Sprechen bestimmen lasse. Da dieser aber gerade in Ecce homo nicht zuletzt vom Kampf der beiden widerstrebenden Sprachen bestimmt sei, ergäben sich immer wieder Verständnisschwierigkeiten, wenn die 'Rhythmuspartitur' Nietzsches nicht vollständig durchgearbeitet sei: „Meist brechen die Hauptpassagen von ECCE HOMO nach kurzem Anlauf zusammen, die vereinigten Partikel driften auseinander, indem die SchriftSprache durch die Sprech-Sprache stößt, sie abwürgt, außer Betrieb setzt.“ (DFP, S. 344)

Der Widerstreit zwischen diesen beiden Sprachen, der auch nach meiner Ansicht in Ecce homo handgreiflich wird, bedingt nach Schleef eine doppelte Schwierigkeit: einerseits den Text als theoretische Abhandlung zu lesen oder zu begreifen sowie andererseits den Text rhythmisch als Sprechtext aufzufassen und umzusetzen. So präzisiert Schleef in Droge Faust Parsifal noch einmal die Problematik der widerstreitenden Sprachen des Ecce homo: „Der gesamte rhythmische Aufbau, die plötzlich einsetzende Verlangsamung wie der entgegengesetzte Tempoanzug innerhalb von Passagen lassen keinen gleichmäßig fließenden, theoretischen Schrift-Text zu. SchriftSprache und Sprech-Sprache befinden sich im Dauerclinch, selbst die

57 Vgl. dazu: Friedrich Nietzsche, Ecce homo, „Warum ich so klug bin“, 4. Abschnitt: „Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik. Er besass jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag – [...] Und wie er das Deutsche handhabt! Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind – in einer unausrechenbaren Entfernung von Allem, was blosse Deutsche mit ihr gemacht haben.“ (EH, S. 286)

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Tragödie als Bühnenform umherirrenden Bildungspartikel verhindern nicht, daß die wichtigsten theoretischen Formulierungen in der Sprech-Sprache stattfinden.“ (DFP, S. 344f.)

DER KRIEG DES PHILOSOPHEN UND DIE PERSON ALS „VERGRÖSSERUNGSGLAS“ Nach seiner Rede über die 'Freiheit vom Ressentiment' – oder besser: über die (Selbst-) Befreiung vom Ressentiment: Wie man wird, was man ist (!) –, skizziert Nietzsche sich, aller vorangehenden Buddhismus-Verehrung zum Trotz, geradezu als Anti-Fakir, ja als Kriegernatur. Denn, so zitiert Verratenes Volk: „Ein ander Ding ist der Krieg. Ich bin meiner Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten. Feind sein können, Feind sein – das setzt vielleicht eine starke Natur voraus [...]. Sie braucht Widerstände, folglich / súcht / sie Widerstand: das / á / ggrés / sí / vé / Páthós gehört ebenso notwendig zur Stärke als das Rach- und Nachgefühl zur Schwäche.“ (EH, S. 274)

Schleef folgt in seiner Umsetzung wieder den Betonungsangaben Nietzsches58, wenn er das von diesem als notwendig behauptete „aggressive Pathos“ geradezu herausschreit, jede einzelne Silbe hervorhebend, untermauert mit zur Faust geballtem erhobenem Arm. Welcher Art ist aber Nietzsches Krieg, von dem hier die Rede ist? Der Krieg des Philosophen, der sich „im Aufsuchen eines gewaltigeren Gegners“ (EH, S. 274) profiliere, sei kein militärischer Krieg, sondern fordere vielmehr „Probleme zum Zweikampf heraus“ (ebd.). Die Probleme, die dem Philosophen in Form von 'gewaltigeren Gegnern' gegenüberstehen, skizziert Nietzsche zusammenfassend in Ecce homo, wo er vor allem und immer wieder gegen das Christentum und dessen 'Sklavenmoral' polemisiert, gegen den deutschen Idealismus und die Deutschen als Idealisten, sowie gegen den Nationalismus, den er im zeitgenössischen deutschen Kaiserreich als zerstörerische Macht wirken sieht – um nur die wichtigsten Problemfelder zu nennen. Seine „Kriegs-Praxis“, so Nietzsche weiter, sei „in vier Sätze zu fassen“: „Erstens: ich greife nur Sachen an, die siegreich sind, – ich warte unter Umständen, bis sie siegreich sind. Zweitens: ich greife nur Sachen an, wo ich keine Bundesgenossen finden würde, wo ich allein stehe [...]. Drittens: ich greife nie Personen an, – ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrösserungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber

58 D.h. dessen von der KSA als Sperrtext wiedergegebenen Hervorhebungen im Text, die hier kursiv markiert sind. Markierung des Sprechrhythmus der Aufführung: C.S.

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Verratenes Volk schleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann. [...] Viertens: [...] angreifen ist bei mir ein Beweis des Wohlwollens, unter Umständen der Dankbarkeit. Ich ehre, ich zeichne aus damit, dass ich meinen Namen mit dem einer Sache, einer Person verbinde: für oder wider – das gilt mir darin gleich.“ (EH, S. 274f.)

Nietzsches hier skizzierte 'Kriegspraxis' steht geradezu im Gegensatz zur Pose des 'Vernichters', die der Philosoph des Ecce homo zum Ende seines Textes einnimmt.59 Vorerst heiße es also, die siegreichen Institutionen, die sozialen Systeme, die nach seiner Ansicht falschen Überzeugungen und Politiken anzugreifen, indem man sich der 'Person' als 'Vergrößerungsglas' (!) bediene. Was bedeutet diese Rede von der Person als 'Vergrößerungsglas'? Auf welche Auffassung der Person beziehungsweise des Personalen wird an dieser Stelle rekurriert? Die 'Person' hat hier nicht als Person, das heißt als personalisierte Figur ihren Auftritt, sondern als Instrument zur Sichtbarmachung von etwas, das größer ist als die (Fiktion der) Person, diese strukturell überragt, also jenseits des Personalen spielt. Das von Nietzsche hier angedeutete Absehen von der Person als Person beziehungsweise die Ersetzung des personalen Auftritts zugunsten der strukturellen Analyse eines Problemkomplexes, kann in Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit der Problematik des Individuums gesehen werden. Vielfach analysiert Nietzsche das moderne Missverständnis des Individuums als unteilbarem handlungsmächtigem einheitlichem Einzelnen, welches sich jedoch realiter vielmehr als „dividuum“60, das heißt als unhintergehbar geteilt – oder: immer schon mit-geteilt – erfahre. Ohne hier auf den großen Zusammenhang der Erfahrung des Einzelnen als 'Dividuum'61 näher eingehen zu können, dem

59 Vgl. Ecce homo, „Warum ich ein Schicksal bin“, Abschnitt 2, in: EH, S. 366. 60 Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches. In: Ders., Sämtliche Werke (KSA). Bd. 2. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1988, S. 76. 61 Auf den Begriff des 'Dividuums' rekurriert auch Brecht, wenn er mit Bezug auf Mann ist Mann die Beschaffenheit der Figuren als „umbau eines individuums in ein dividuum“ charakterisiert (Bertolt Brecht, hier zitiert nach: Carl Wege (Hg.), Brechts 'Mann ist Mann'. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982, S. 242). Auf den Zusammenhang von Brechts 'Massemensch' als 'dividuum', das figural den Untergang des bürgerlichen Subjekts reflektiert, geht Nikolaus Müller-Schöll in seiner Studie über Brecht ausführlich am Beispiel von Mann ist Mann ein (vgl. Nikolaus Müller-Schöll, Das Theater des 'konstruktiven Defaitismus'. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter

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Tragödie als Bühnenform Nietzsche schließlich sein Konzept des 'großen Einzelnen' als singuläre Figuration des 'Willens zur Macht' entgegenstellt, kann jedoch festgehalten werden, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem in Ecce homo angesprochenen Absehen von der Person als Person und der von Nietzsche analysierten falschen Auffassung des Individuums. In einer Notiz aus dem Jahr 1881 ruft er denn in deutlichen Worten zur Überwindung des 'vermeintlichen Individuums' auf: „Nicht die Natur täuscht uns, [...] sondern die Individuen legen sich alles Dasein nach individuellen d.h. falschen Maaßen zurecht [...]. In Wahrheit giebt es keine individuellen Wahrheiten, sondern lauter individuelle Irrthümer – das Individuum selber ist ein Irrthum. [...] Aufhören, sich als solches phantastisches ego zu fühlen! Schrittweise lernen, das vermeintliche Individuum abzuwerfen!“62

Mit seiner Ablehnung des 'vermeintlichen Individuums', ja der Kennzeichnung des Individuums als 'Irrtum' verweist Nietzsche auf eine zur selben Zeit stattfindende ästhetische Entwicklung, die sich in Literatur und Theater der Jahrhundertwende sowie in den historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Niederlage der personalisierten Einzelfigur niederschlägt: Die personal konturierte fiktive Einzelfigur wird marginalisiert, der ästhetische Auftritt der (vermeintlichen) 'Person' findet tendenziell nicht mehr statt.63

Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Nexus, 2002. Hierzu insbesondere S. 201ff.). 62 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1880 – 1882. In: Ders., Sämtliche Werke (KSA). Bd. 9, Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1988, S. 442f. 63 Als paradigmatisch für diese Tendenz können Maurice Maeterlincks frühe Stücke gelten, insbesondere Die Blinden (1890). Die hier auszumachende Niederlage der personalisierten Einzelfigur scheint engstens mit der von Peter Szondi (a.a.O.) diagnostizierten „Krise des Dramas“ am Ende des 19. Jahrhunderts zusammenzuhängen, die sich wesentlich als Krise des 'dramatischen', i.e. interpersonal strukturierten Dialogs kennzeichnet. Dass diese Krise des Dialogs mit einer Krise der Sichtbarkeit (des Abbilds), der (einheitlich erfahrenen) Zeit sowie des (körperlich verbürgten) Raumes, im Zuge der Medialisierung und Beschleunigung der Lebenswelt, einhergeht und diese sich gegenseitig bedingen, zeigt sich vor allem in Maeterlincks Die Blinden: Die blinden Sprecher, die „die Gewohnheit unnützer Gesten verloren“ haben, unterlaufen das Prinzip der Darstellung, indem die Voraussetzung des dramatischen Dialogs, die vom Blick definierte und im Blickfeld sichtbare Anwesenheit von Sprecher und Angesprochenem nicht gegeben ist. Auf der „außerordentlich dunkle[n]“ Bühne der Blinden, auf der die Sprecher sich nicht individualisieren, keine personale Identität ausbilden, findet eine Wiederkehr des Chorischen statt (Maurice Maeter-

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Verratenes Volk Der theoretische Gebrauch der 'Person' als 'starkes Vergrößerungsglas', den Nietzsche methodisch vornimmt, scheint eine Entsprechung der Beispielhaftigkeit der Figur zu sein, die unter anderem auch die Figuren Döblins kennzeichnet. Die 'Person' als Vergrößerungsglas ist die beispielhafte Figur, die an die Stelle von etwas – 'Größerem', Nicht-Personalem – tritt, das gezeigt werden soll. Wie das Vergrößerungsglas dient die nicht-personale, beispielhafte Figur der Sichtbarmachung von einem, wie Nietzsche schreibt, „allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand“ (EH, S. 274). Nicht das 'vermeintliche Individuum' wird durch das Vergrößerungsglas sichtbar, sondern gerade im Gegenteil das NichtIndividuelle, das Allgemeine, das nicht personal Greifbare.

NACH DEM „TOD GOTTES“. ANTWORTEN AUF DAS GÖTTLICHE ERKENNTNISVERBOT Schleefs 'Nietzsche' schreitet fort mit der Beschreibung seiner „psychologischen Fühlhörner“ (EH, S. 275), die ihm im Verkehr mit Menschen allzu oft Anlass zum „Ekel“ vor denselben gäben: „Der Ekel am Menschen, am 'Gesindel'“, so Nietzsche, „war immer meine grösste Gefahr“ (EH, S. 276). Der Philosoph des in Ecce homo häufig zitierten Zarathustra mahnt sich jedoch hinsichtlich seiner sozialen Phobien zur 'beständigen Selbstüberwindung', worin seine 'Humanität' letztes Endes bestehe: „[M]eine Humanität besteht nicht darin, mitzufühlen, wie der Mensch ist, sondern es auszuhalten, dass ich ihn mitfühle... Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung. – Aber ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkehr zu mir“ (EH, S. 276).

In den anschließenden Zarathustra-Zitaten, die die „Erlösung vom Ekel“ (EH, S. 276) demonstrieren sollen, geht jedoch die Rede nicht nur zu den anderen – „meine Brüder!“ (ebd.), „ihr Freunde!“ (EH, S. 277) –, sondern Zarathustra evoziert, in der ersten Person Plural sprechend, bereits die Existenz beziehungsweise den Einschluss von Gleichgesinnten in das „Leben, an dem kein Gesindel mittrinkt“ (EH, S. 276). Schleefs 'Nietzsche' stellt die Zarathustra-Zitate genau so fremdartig und sperrig in den Raum, wie sie in Ecce homo zwischen Nietzsches vermeintlichen Selbstbeschreibungen, dem Vortrag philosophischer und kulturkritischer Thesen und der lyrischen

linck, Die Blinden. In: Ders.: Die frühen Stücke. Übersetzt und hrsg. von Stefan Gross. München: Text + Kritik, 1983, Bd. 1, S. 107-132, hier: S.109).

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Tragödie als Bühnenform Sprechweise Zarathustras auftreten. Die inhaltlichen, formalen und sprachlichen Alternierungen in Nietzsches Text schlagen sich auch in Schleefs Sprechdramaturgie nieder. Das Sprechen ist hier gekennzeichnet von häufigen Tempowechseln, radikaler Modulation der Lautstärke und einem beständigen Wechsel zwischen Stocken und Vorwärtsdrängen. Mal fließt die Sprache, scheint geradezu einen Sog im Sprechen zu produzieren, dann reißt der sprachliche (und inhaltliche) Faden ab – was bei Nietzsche häufig durch Auslassungszeichen und Bindestriche markiert ist. Der ZarathustraEinschub, in dem die Befreiung vom Ekel durch Rückzug in die einsame Höhe gefeiert wird, gerät in Schleefs Auftritt bisweilen zur ekstatisch vorgetragenen Predigt, die in Zarathustras seltsamer Mahnung gegen seine 'Feinde' endet: „[H]ütet euch, gegen den Wind zu speien!...“ (EH, S. 277) Hier bricht das Zitat ab, und die Zäsur in Nietzsches Text wird auf dem Theater mit einer kurzen Pause markiert. Im folgenden Teil widmet sich Nietzsche der Beantwortung der Frage: „Warum ich so klug bin“ (EH, S. 278). Nicht ohne Ironie, bedenkt man die lange Geschichte seiner Kritik der christlichen Religion, legt Nietzsche hier, als Grund seiner Klugheit, seinen vorgeblichen 'Atheismus aus Instinkt' dar. Um sich mit dem Begriff 'Gott' jemals beschäftigt zu haben, sei er „zu neugierig, zu fragwürdig“ (ebd.). Denn der (christliche) Gottesbegriff sei vor allem Denkverbot, so Nietzsche, und damit geradezu die Verhinderung der Philosophie: „Gótt / ist eine faustgrobe Antwort, eine Undelicatesse gegen uns Denker –, im Grunde sogar ein faustgrobes Verbot an uns: ihr sollt nicht denken!...“ (EH, S. 279*)

Mit seinem 'Atheismus aus Instinkt' stellt sich Nietzsche also explizit gegen das Erkenntnisverbot, das den Kern der Sündenfallgeschichte darstellt und somit die konstitutive Verbindung von Erkenntnis und Sünde herstellt. Der Philosoph stellt sich, in der Perspektive der Inszenierung, auf die Seite von Miltons Satan, der, als er die Botschaft vom verbotenen Baum der Erkenntnis im Garten Eden vernimmt, skeptisch gegen das paradiesische Idyll und gegen Gottes Herrschaft wird: „Wie, die Erkenntniß soll verbothen seyn? Das bringt Verdacht.“ (VV, S. 2) Dass das Erkenntnisverbot konstitutiv für das Verhältnis zwischen Mensch und Gott sein soll, Erkenntnis notwendig mit Verbot belegt sein soll, wie es der Sündenfallmythos nahelegt, dass Erkenntniswille und Sünde also in zwingendem Zusammenhang stehen sollten, ist für den Philosoph, entgegen seinem theatralischen Understatement, mehr als eine 'Undelikatesse'. Nietzsche will die Konsequenz aus dem 'Tod Gottes' ziehen.

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Verratenes Volk In seiner Fröhlichen Wissenschaft schildert eine berühmte Szene, wie der 'tolle Mensch' den Tod, oder besser: die Ermordung Gottes vor den tauben Ohren der Menschen verkündet. Seine Zeitgenossen haben die Kirchen zu 'Grabmälern Gottes' gemacht, ohne dies überhaupt bemerkt zu haben, heißt es hier.64 Die 'Mörder' Gottes, das sind nach Nietzsches Auffassung die 'Nihilisten' des 19. Jahrhunderts, haben sich mit der Frage nach der Konsequenz aus dem Tod Gottes noch nicht beschäftigt. Der 'Nihilismus', als Entwertung der (vormals) obersten Werte, ist aber in Nietzsches Analyse erst überwunden, wenn er vollendet ist. Sein Programm zur Überwindung des Nihilismus besteht deshalb zunächst darin, Gott als menschliche Erfindung, als Fiktion zu analysieren, welche zur Entwertung des unmittelbaren Lebens geführt habe. Um zur 'dionysischen' Bejahung des Lebens und damit zur Überwindung des Nihilismus zu kommen, kämpft Nietzsche in verschiedenen Denkfiguren gegen die christliche 'Sklavenmoral', der er nicht zuletzt das oben zitierte Denkverbot vorwirft. Eine Figur auf dem Weg zu der in Ecce homo proklamierten Umwertung aller Werte' ist der von Zarathustra entworfene Übermensch'. Der 'Übermensch', dem Zarathustra den Namen „Teufel“ (EH, S. 370) gibt, brauche keine Jenseitsvorstellung mehr, keinen Idealismus, keine Moral. Als antimetaphysische Figur konzipiert, sei er, so Ecce homo, „stark genug“, die Realität zu sehen, „wie sie ist“ (ebd.), mehr noch: sie zu entwerfen, wie sie ist. Nietzsche betont hier den Konzeptcharakter nicht nur der Welt, die der Übermensch entwirft, sondern auch der fiktiven Figur des 'Übermenschen', der selbst ein Entwurf der fiktiven Figur des 'Zarathustra' ist: „diese Art Mensch, die er [Zarathustra] concipirt, concipirt die Realität, wie sie ist: sie ist stark genug dazu –, sie ist ihr nicht entfremdet, entrückt, sie ist sie selbst, sie hat all deren Furchtbares und Fragwürdiges auch noch in sich, damit erst kann der Mensch Grösse haben...“ (EH, S. 370)65

In seiner Konzeption als antimetaphysische, antimoralische, autonome, nicht an einen Gottesbegriff gebundene oder durch diese verbürgte Figur, als eine Art Gegengott-Figur, korrespondiert Zarathustras Übermensch, der hier 'Teufel' genannt wird, den vielen Figuren des Satans, die durch Verratenes Volk geistern. Auch indem Nietzsche in seiner Abrechnung mit den nach seiner Ansicht kläglichen Resten des christlichen Gottesbegriffs immer wieder die Figur des Übermenschen zur 'Umwertung aller Werte' herbeizitiert, tritt 64 Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft. In: Ders., Sämtliche Werke (KSA). Bd. 3. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1988, S. 480ff. 65 Einfügung: C.S.

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Tragödie als Bühnenform die theatrale Figur 'Nietzsche' in Schleefs Textentwürfen zu Verratenes Volk in die Reihe der mit Satan assoziierten Figuren. In der 'Spielfassung' der Inszenierung ist der Ecce homo-Text entsprechend mit „DER SATAN/NIETZSCHE“ (VV, S. 4)66 überschrieben.

VORAUSSETZUNG ZUR „UMWERTUNG ALLER WERTE“: EINE „UNGEHEURE VIELHEIT“ Nach seiner lakonischen Verwerfung der Gottesidee als 'faustgrober Antwort', nämlich als Denkverbot, kommt Nietzsche in Ecce homo auf die „Frage der Ernährung“ zu sprechen, an welcher das „'Heil der Menschheit'“ mehr hänge als an „irgend einer TheologenCuriosität“ (EH, S. 279). Nietzsches Selbststilisierung zum großen Antimetaphysiker steigert sich nun in polemisch-witzigen Ton, wenn an zahlreichen bildhaften Beispielen ausgeführt wird, wie die deutsche Küche, die man überhaupt nur mit der selbstlosselbstzerstörerischen Haltung des 'Idealismus' ertrage, die „Herkunft des deutschen Geistes [...] aus betrübten Eingeweiden“ (EH, S. 280) erkläre. Nietzsche gibt Ernährungsratschläge, er rät vom Weinkonsum ab – „Zu glauben, dass der Wein erheitert, dazu müsste ich Christ sein“ (EH, S. 57) –, er wettert gegen den Provinzialismus der deutschen Kleinstadt und gegen das deutsche Ideal der 'klassischen Bildung' – „als ob es nicht von vornherein verurtheilt wäre, 'klassisch' und 'deutsch' in Einen Begriff zu einigen!“ (EH, S. 279) –, gegen den Philologen, welcher verlernt habe, selbst zu denken und zum 'bloßen Reagens' geworden sei. Im Zusammenhang mit der falschen Ernährung, welche den deutschen Kleingeist hervorbringe, warnt Nietzsche auch vor der schädlichen Körperhaltung des Sitzens, denn: „Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden. – Das Sitzfleisch – [...] die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.“ (EH, S. 281)

„Geschmack“ hingegen, so proklamiert er, sei nicht weniger als „Instinkt der Selbstverteidigung“ (EH, S. 291f.). Nietzsche betont die Wichtigkeit der 'kleinen Dinge' – „Ernährung, Ort, Clima, Erholung“ (EH, S. 295) –, gegen die vorgeblichen 'großen' wie Religion, Moral, Politik, Begriffe, Ideen. Die ganze Abhandlung über die „Kunst der Selbsterhaltung“ (EH, S. 293) scheint ihm nötig, um schließlich die Antwort auf die Frage zu geben: 'wie man wird, was man ist'. „Dass man wird, was man ist“, setze jedoch voraus, so Nietzsche, „dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist“ (EH, S. 293). Statt Strategien zur stringenten Selbsterkenntnis zu entwickeln, vertei-

66 Hervorhebung im Original.

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Verratenes Volk digt Nietzsche hier den „Sinn und Werth“ der „Nebenwege und Abwege“, jenseits der großen Lebensaufgabe, denn: „[W]o nosce te ipsum das Recept zum Untergang wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-Missverstehn, Sich-Verkleinern, -Verengern, -Vermittelmässigen zur Vernunft selber.“ (EH, S. 293)

Gegen das 'klassische' Bildungsideal, das hier zitiert wird, akzentuiert Nietzsche die 'Vielheit', nicht nur der Erfahrung, auch des Selbst (!), als Voraussetzung zur Umsetzung einer solch großen Aufgabe, wie es sein Programm der 'Umwertung aller Werte' sei: „Zur Aufgabe einer Umwerthung der Werthe waren vielleicht mehr Vermögen nöthig, als je in einem Einzelnen bei einander gewohnt haben, vor Allem auch Gegensätze von Vermögen [...]; eine ungeheure Vielheit, die trotzdem das Gegenstück des Chaos ist“ (EH, S. 294).

Trotz der Anhäufung von heroischen Insignien – durchaus im Sinne des Ecce homo (!) – will sich Nietzsche, seiner Rhetorik der Gegensätze folgend, als unheroische Natur porträtieren. Die kontradiktorisch voranschreitende Spirale seiner Selbststilisierung dreht sich weiter zu der Behauptung, „kein Zug von Ringen“ (EH, S. 294), kein Wunsch, kein krankhafter Zug sei jemals in ihm gewesen. Genauso sei ihm, der nie an Einsamkeit, sondern „immer nur an der 'Vielsamkeit' gelitten“ habe (EH, S. 297), jegliche „pathetische Haltung“ (EH, S. 296) fremd! Hoch pathetisch indes setzt Nietzsche sein „amor fati“ als „Formel für die Grösse am Menschen“ (EH, S. 297) gegen den „Idealismus“, der nie etwas anderes gewesen sei als „Verlogenheit vor dem Nothwendigen“ (ebd.). Schleefs Vortrag konterkariert Nietzsches Rede vom vorgeblichen Fehlen jedweden Pathos, indem er die hier hochpathetische Sprache durch die Dehnung einzelner Worte, durch Zäsuren und Anheben der Lautstärke im Sprechen noch einmal überbetont. Mit dieser Überbetonung des Pathos tritt die Qualität des Textes als 'Sprechsprache' (Schleef) hervor, so dass dessen Vielschichtigkeit, und das ist auch und vor allem: Widersprüchlichkeit hörbar wird. Nietzsches Zur-Figur-Werden oder besser: die Geste des Zur-FigurWerdens, die seinen Text kennzeichnet, wird so als höchst komplexer theatralischer Vorgang ausgestellt. Die von Nietzsche programmatisch angekündigte 'Umwertung aller Werte' besteht, wie Ecce homo ausführlich darlegt, allererst in der Rehabilitierung der 'kleinen Dinge' – wie Ernährung, Ort und Klima –, deren Bedeutung Nietzsche gegen die nach seiner Ansicht zu unrecht wichtig genommenen, vorgeblich großen Begriffe – wie „'Gott', 'Seele', 'Tugend', 'Sünde', 'Jenseits', 'Wahrheit', 'ewiges Leben'...“ (EH, S. 296) Durch die Herrschaft der leeren Begriffe seien 199

Tragödie als Bühnenform aber, so Nietzsche, „[a]lle Fragen der Politik, der GesellschaftsOrdnung, der Erziehung [...] bis in Grund und Boden gefälscht“, so dass die gegenwärtige Kultur „im höchsten Grade zweideutig sei“ (ebd.). Nietzsches Text, der hier immer wieder von Auslassungszeichen markiert ist, mündet in eine Rede gegen den deutschen Kaiser, der mit dem Papst paktiere – „als ob nicht der Papst der Repräsentant der Todfeindschaft gegen das Leben wäre!...“ (ebd.) –, um schließlich bereits an dieser Stelle einen folgenreichen gesellschaftlichen Umsturz anzudeuten: „Das, was heute gebaut wird, steht in drei Jahren nicht mehr.“ (EH, S. 296)

DIE DEUTSCHEN SIND „IDEALISTEN“. WIDER CHRISTENTUM UND NATIONALISMUS Schließlich skizziert Schleefs 'Nietzsche' den Zusammenhang von Idealismus und Nationalismus, indem er die Deutschen als Idealisten und – infolge dessen – Zerstörer der europäischen Kultur porträtiert. Leitmotivisch wiederholt er seine Diagnose in dem Satz: „Ohne allen Zweifel, die Deutschen sind Idealisten...“ (EH, S. 358) Nietzsche polemisiert gegen die deutschen Historiker, die zu 'Hanswürsten der Politik' geworden seien, indem sie mit rassistischer Argumentation „'Deutschland, Deutschland über Alles'“ zum „Princip“ (EH, S. 358) erhoben hätten. Der Philosoph sieht sich verpflichtet, dieser nationalistischen 'reichsdeutschen Geschichtsschreibung' entgegentreten – nicht ohne hinzuzufügen, er fürchte, es gebe „selbst eine antisemitische“ (EH, S. 359). Nicht nur aufgrund seines Feldzugs gegen die christliche Moral wird Nietzsche hier zum AntiAntisemiten, sondern auch und vor allem mit Blick auf den deutschen Nationalismus. Dieser habe nicht zuletzt das Ziel, die Zerstörung der europäischen Kultur durch die Deutschen zu vertuschen, denn, so Nietzsche: „Alle grossen Cultur-Verbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen!“ (EH, S. 359) Damit hätten die Deutschen, so Nietzsches Argument, „Europa um die Ernte, um den Sinn der letzten großen Zeit, der Renaissance-Zeit, gebracht“ (EH, S. 122). Die von Nietzsche als lebensfeindlich und kulturzerstörerisch kritisierte christliche Moral sei nach der kulturellen Blütezeit der Renaissance vor allem von den Deutschen wieder gestärkt worden – und dies vor allem aus „Feigheit vor der Realität“, „Feigheit vor der Wahrheit“, also mit einem Wort: „aus 'Idealismus'“ (EH, S. 359). Dieser Idealismus aus Feigheit sei vor allem der (deutschen) Reformation, namentlich Luther vorzuwerfen: „Lúther, / dies Verhängniss von Mönch, hat die Kirche, das Christenthum wiederhergestellt, im Augenblick, wo es unterlag... Das Christenthum, diese Religion gewordene Verneinung des Willens zum Leben!... Lúther, /

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Verratenes Volk ein unmöglicher Mönch, der, aus Gründen seiner 'Unmöglichkeit', die Kirche angriff und sie – folglich! – wiederherstellte... Die Katholiken hätten Gründe, Lútherfeste zu feiern, Lútherspiele zu dichten... Lúthér – //“ (EH, S. 359*)

Der Name „Luther“, der hier als Personifikation für das nach Nietzsche verhängnisvolle Zusammentreffen von Christentum und Idealismus steht, strukturiert auch rhythmisch diese dialektische Analyse der Reformation. Schleefs Vortrag des Textes folgt dessen rhythmischer Struktur, indem der Name, das Wort „Luther“, mit dem Nietzsches Argument anfängt und abbricht, besonders stark akzentuiert wird. Das plötzliche Abreißen der Argumentationskette auf den Namen „Luther“, Akzent und Zäsur, in Nietzsches Text mittels Bindestrich angezeigt, hebt Schleef dadurch hervor, dass das letzte „Luther“, hier auf beiden Silben betont, beinahe zum Schrei gerät. Und anstelle der dem Bindestrich folgenden zwei elliptischen Sätze – „und die 'sittliche Wiedergeburt'! Zum Teufel mit aller Psychologie!“ (EH, S. 359) –, steht in Schleefs Szene eine Sprechpause, in der Nietzsches Argumentation wiederum nachhallt. „Ohne Zweifel, die Deutschen sind Idealisten“ (EH, S. 359). Mit der Wiederholung seines Leitmotivs kommt Nietzsche jetzt auf den theoretischen deutschen Idealismus zu sprechen. Mitten im Zeitalter der europäischen Aufklärung habe dieser, in der Geste der Ablehnung der Wissenschaft, also sozusagen als verdeckte (?) Gegenaufklärung, immer wieder nur „Schleichwege zum alten 'Ideal'“ (EH, S. 360) gesucht, wissenschaftlich gesehen also ein „Recht auf Lüge“ (ebd.). Nietzsche wirft den Deutschen, und insbesondere den deutschen Idealisten, vor, sie hätten mit den „'Freiheits-Kriegen'“ (ebd.) gegen Napoleon den kulturzerstörenden Nationalismus als europäische Krankheit verschuldet. Mit dieser „Verewigung der Kleinstaaterei“, so Nietzsche, hätten die deutschen Nationalisten „Europa um seinen Sinn, um seine Vernunft“ (ebd.) gebracht. Schleefs 'Nietzsche' schließt an dieser Stelle seine Abrechnung mit dem, nach Ecce homo aus 'Idealismus' geborenen, Nationalismus mit einer rhetorischen Frage: „Weiss Jemand ausser mir einen Weg aus dieser Sackgasse? ... Eine Aufgabe gross genug, die Völker wieder zu binden? ...“ (EH, S. 360)

ENDE DER POLITIK ALS WIEDERKEHR DER TRAGÖDIE? NIETZSCHES AMBIVALENTE KRIEGSANKÜNDIGUNG Im letzten Abschnitt von Ecce homo, der zugleich den Schluss der Szene in Verratenes Volk bildet, tritt Nietzsche wiederum mit prophetischem Gestus auf, um der Menschheit schreckliche Erschütterungen und weltumstürzende Kriege infolge einer nie dagewesenen

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Tragödie als Bühnenform Krise anzukündigen. Die Erinnerung an diese ungeheure 'Krisis' werde sich, so Nietzsche, an seinen Namen knüpfen, wenn die von ihm programmatisch geforderte 'Umwertung aller Werte' wirksam werde. 'Umwertung aller Werte', das ist, im Sinne von Nietzsches Theorie der Überwindung des Nihilismus durch dessen Vollendung: die Entwertung der bisherigen Moral, die Abschaffung der Moralphilosophie, der Einsturz der großen Lügengebäude des Christentums – welches formal auch nach dem 'Tod Gottes' Fortbestand hat –, des Idealismus – der großen Ideen, die an den früheren Platz Gottes beziehungsweise des Gottesglaubens getreten sind –, sowie der nationalistischen, 'kleinen' Politik. Politik überhaupt ist für Nietzsche keine wirkliche Auseinandersetzung, weswegen der 'Begriff Politik' im Zuge der zukünftigen gewaltsamen Umwälzungen in einen 'Geisterkrieg' aufgehen werde. Erst von ihm an, so Nietzsches ebenso vage wie bedrohliche Andeutung, gebe es 'große Politik', das heißt: nach den angekündigten schlimmsten Kriegen, die die auf der Lüge fußenden, bestehenden Machtverhältnisse 'in die Luft gesprengt' haben werden. Krieg den Hohenzollern? Der 'Satan Nietzsche' als Revolutionär? Oder spricht Nietzsche, der Anti-Idealist, der 'erste Immoralist' von ganz anderen Erschütterungen, die sich auf einem ganz anderen Feld als dem der Politik abspielen? Andererseits skizziert sich der Philosoph jedoch explizit als AntiPolitiker, der zwar massenhaft, möglichst in ganz Europa, gelesen werden will, jedoch 'niemals zu Massen' spreche. Wenn sich auch seine prophetische Ankündigung der schlimmsten Kriege mit Blick vom Ende des 20. Jahrhunderts als unheimlich-realistische Prophezeiung liest, gerade im Zusammenhang der Inszenierung, wo der Ecce homo-Szene der Auftritt eines Soldaten-Chors folgt, der den Ersten Weltkrieg beschreibt – Nietzsches Krieg bleibt der des Philosophen. An anderer Stelle in Ecce homo bezeichnet sich Nietzsche, mit Blick auf Die Geburt der Tragödie, als „ersten tragischen Philosophen“ (EH, S. 312), da er das 'dionysische' in ein 'philosophisches Pathos' umgesetzt habe. Im Zusammenhang mit der Überwindung 'notwendiger' Kriege verspricht er hier ein 'tragisches Zeitalter', welches sich durch die Wiedergeburt der Tragödie, der dionysischen Kunst auszeichnen soll: „Ich verspreche ein tragisches Zeitalter: die höchste Kunst im Jasagen zum Leben, die Tragödie, wird wiedergeboren werden, wenn die Menschheit das Bewusstsein der härtesten, aber nothwendigsten Kriege hinter sich hat, ohne daran zu leiden...“ (EH, S. 313)

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Verratenes Volk Gibt es ein Jenseits des Kriegs? Ein Zeitalter nach dem Krieg, jenseits des Leidens am Krieg, als Erneuerung der Tragödie? – Wäre demnach Döblins November-Roman ein vor-tragisches oder ein tragisches Werk? Trotz des geradezu messianischen Gestus seiner Rede will Nietzsche jedoch, so Schleefs Szene weiter, weder Heiliger sein noch als 'Religionsstifter' begriffen werden. Vielmehr sei er ein 'Hanswurst', aus dem gleichwohl die 'Wahrheit' rede. Mit seiner HanswurstMaskerade will sich Nietzsche, der sich sowohl als 'froher Botschafter' wie auch als 'furchtbarster Mensch' bezeichnet, in die Lage versetzen, die Botschaft von den schrecklichen Konsequenzen aus der 'Umwertung aller Werte' überhaupt zu verkünden. Wie der Bote der antiken Tragödie, der vom hinterszenischen Kriegsgeschehen verwundet die Szene betritt, scheint auch Nietzsche vom Inhalt der Botschaft selbst infiziert zu sein. Die 'Wahrheit', die aus dem 'Hanswurst' spricht, ist keineswegs eindeutig/lesbar, der Text widersprüchlicher als es zunächst den Anschein hat. Dieser Abschnitt aus Ecce homo, der den Schluss von Schleefs Nietzsche-Auftritt in Verratenes Volk bildet, ist mit Blick auf die Thematisierung von Krieg und Revolution in der Inszenierung von zentraler Bedeutung. In dem folgenden längeren Zitat wird daher die Textfassung der Inszenierung dokumentiert: „Warum ich ein Schicksal bin. / Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit. – / Und mit Alledem ist Nichts in mir von einem Religionsstifter – Religionen sind Pöbel-Affairen, ich habe nöthig, mir die Hände nach der Berührung mit religiösen Menschen zu waschen... Ich will keine 'Gläubigen', / ich rede niemals zu Massen... Ich habe eine erschreckliche Angst, dass man mich eines Tags heilig spricht... Ich will kein Heiliger sein, lieber ein Hanswurst... Vielleicht bin ich ein Hanswurst... / Únd trótzdem / redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist fúrchtbár: denn man hiess bisher die L´ügé Wahrheit. – Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist. Mein Loos will, dass ich der erste anständige Mensch sein muss... Ich erst habe die Wahrheit entdeckt, dadurch dass ich zuerst die Lüge als Lüge empfand – róch... Mein Genie ist in meinen Nüstern... Ich widerspreche, wie nie widersprochen worden ist und bin trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes. Ich bin ein froher Botschafter; erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen. Mit Alledem bin ich notwendig auch der Mensch des Verhängnisses. Denn wenn die Wahrheit mit der Lüge von Jahrtausenden in Kampf tritt, werden wir Erschütterungen haben, einen Krampf von Erdbeben, eine Versetzung von Berg und Thal, wie dergleichen nie

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Tragödie als Bühnenform geträumt worden ist. Der Begriff Politik ist dann gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Machtgebilde der alten Gesellschaft sind in die Luft gesprengt: es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat. Erst von mir an giebt es auf Erden grosse Politik. – Ich bin bei weitem der furchtbarste Mensch, den es bisher gegeben hat; dies schliesst nicht aus, dass ich der wohlthätigste sein werde. Ich kenne die Lust am Vernichten in einem Grade, die meiner Kraft zum Vernichten gemäss ist, – in Beidem gehorche ich meiner dionysischen Natur, welche das Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen weiss. / Ich bin / der erste / Ímmórálíst: / damit bin ich / dér / Vérníchtér.“ (EH, S. 365f.*)67

Schleefs Vortrag folgt den rhetorischen Gesten Nietzsches, indem er die Crescendo-Bewegungen des Textes nachzeichnet. Nach dem Titel „Warum ich ein Schicksal bin“ beginnt er langsam und in leisem Ton mit der Ankündigung der historischen 'Krisis', die sich an seinen, Nietzsches Namen knüpfe. Das Sprechen wird lauter und die einzelnen Silben akzentuierter herausgehoben, wenn 'Nietzsche', in der Maske des Hanswurst, behauptet: „trotzdem redet aus mir die Wahrheit“. Die Rede und ihre Performance steigern sich zur Verkündung von Nietzsches Programm der 'Umwertung aller Werte', welche die großen Erdbeben, den Kampf zwischen Wahrheit und Lüge nach sich ziehe. Das abschließende Selbstporträt des Philosophen als 'furchtbarstem' und dennoch 'wohltätigstem' Menschen erfährt noch einmal eine stimmliche Steigerung im letzten Satz. Schleef spricht hier sehr akzentuiert, jedes einzelne Wort deutlich abgesetzt, und die zur Faust geballte rechte Hand gibt den Rhythmus an. Die betonten Worte „Ímmórálíst“ und insbesondere „dér / Vérníchtér“ werden extrem laut gesprochen, so dass der Satz – und damit die Szene – beinahe im Schrei endet: „Ich bin / der erste / Ímmórálíst: / damit bin ich / dér / Vérníchtér.“ (Ebd.)

Mit schräg nach vorn gestrecktem Arm und zur Faust geballter Hand steht Schleef auf der Bühne. Er verharrt kurz in dieser Pose, nimmt dann das vor ihm stehende Wasserglas, welches er noch einmal hoch hält, bevor er sich umwendet und abgeht.

67 Textfassung rekonstruiert nach Aufführungsmitschrift sowie: Friedrich Nietzsche, Ecce homo, Text in Kopie (ohne Quellenangabe) mit handschriftlichen Strichen, Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2147.

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Verratenes Volk

Im Krieg. Chor der Soldaten Dem Auftritt 'Nietzsches' und dessen Ankündigung unvorstellbar schrecklicher, weltumstürzender Kriege folgt der erste chorische Auftritt der Inszenierung. Auf der Textgrundlage von Edwin Erich Dwingers Die Armee hinter Stacheldraht zeichnet die Szene ein Bild der Grausamkeit und Brutalität des Ersten Weltkriegs aus der Sicht kriegsgefangener Soldaten in Russland 1915/16. Dwingers subjektive Kriegsdarstellung, die 1929 mit dem Untertitel Das Sibirische Tagebuch publiziert wurde, fand in der späten Weimarer Republik eine massenhafte Leserschaft und wurde sogar zeitnah zur deutschen Erstveröffentlichung68 in mehrere Sprachen übersetzt.69 Schon 1915 war Dwinger selbst, der sich zu Kriegsbeginn als Sechzehnjähriger freiwillig zur Kavallerie gemeldet hatte, mit schwerer Verwundung in russische Gefangenschaft geraten. In seinem stilisierten 'Tagebuch' Die Armee hinter Stacheldraht schildert er weniger die militärische Seite des Kriegs als vielmehr dessen grausamen Alltag, das Leiden des Einzelnen, vor allem jedoch auch die Verrohung der Soldaten und ihre Brutalität untereinander. Insbesondere diesen Aspekt hebt Schleefs Bearbeitung des Textes und dessen chorische Umsetzung auf dem Theater hervor. Insofern Schleefs Textfassung, die sich eng an der Vorlage orientiert, Dwingers ästhetisch zum Trivialen tendierende Kriegsverarbeitung fast dokumentarisch liest und sie in Verratenes Volk als Vorspiel zur gescheiterten deutschen Revolution montiert, stellt sich die Frage nach der Textauswahl der Inszenierung. Da Dwinger, dessen antimoderne Schriften in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zu Bestsellern wurden, heute mehr oder weniger unbekannt ist, sei der Autor zunächst kurz porträtiert.

DWINGER UND DIE ARMEE HINTER STACHELDRAHT Dwinger, 1898 als Sohn einer Russin und eines Offiziers der kaiserlichen deutschen Marine in Kiel geboren, beschreibt nicht nur in 68 Edwin Erich Dwinger, Die Armee hinter Stacheldraht. Das Sibirische Tagebuch. Jena: Eugen Diederichs, 1929. Bei späteren Auflagen changiert der Titel zu: Armee hinter Stacheldraht (so z.B. bei Bastei: Bergisch-Gladbach, 1977) oder zu: Sibirisches Tagebuch, als erster Teil der zweiteiligen Veröffentlichung Armee hinter Stacheldraht (so bei blick und bild Verlag, Velbert/Kettwig, 1965). Im Folgenden wird, wenn nicht anders angegeben, nach der oben genannten Erstausgabe (Jena, 1929) zitiert. 69 So z.B. schon 1930 ins Französische (vgl.: Edwin Erich Dwinger, Mon Journal de Sibérie. 1915-1918. Dans les camps de prisonniers. Traduit de l’allemand par M. de la Condamine. Paris: Payot, 1930).

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Tragödie als Bühnenform Die Armee hinter Stacheldraht seine Kriegserlebnisse in Russland. So thematisiert der Roman Zwischen Weiß und Rot (1930) den russischen Bürgerkrieg zwischen der revolutionären Roten Armee und den zaristischen Truppen der antibolschewistischen 'Weißen Armee', der sich Dwinger 1920 angeschlossen hatte. Aufgrund seiner Romantrilogie Die deutsche Passion (1929-1932), die Erlebnisse deutscher Soldaten in Russland während des Ersten Weltkriegs schildert, gilt Dwinger schließlich den Nationalsozialisten als 'authentischer Zeuge' angeblicher sowjetischer Massenmorde. Nicht nur in seinen Publikationen macht Dwinger aus seiner antibolschewistischen, antidemokratischen und nationalistischen Gesinnung keinen Hehl: Infolge der 'Machtübernahme' der Nationalsozialisten tritt er offen propagandistisch für das Regime ein und macht in den Dreißiger Jahren Karriere im nationalsozialistischen Deutschland. 1935 wird er zum Reichskultursenator und Obersturmbannführer der SS ernannt. 1937 kämpft er im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der faschistischen Truppen Francos. 1944 wird er, von Himmler mit besonderen Vollmachten ausgestattet, Kriegsberichterstatter an der Ostfront, worüber er ebenfalls ein 'Tagebuch' unter dem Titel Wiedersehen mit Rußland (1942) verfasst. Auch nach oder gerade wegen seiner Differenzen zur offiziellen NSOstpolitik, aufgrund derer er 1943 unter Hausarrest gestellt wird, bleibt sein Thema der zwiespältig mythisierte 'Osten'. Er schreibt über die Feldzüge des Ersten und Zweiten Weltkriegs in Sibirien, den 'Untergang' Russlands in der Sowjetunion sowie später den Verlust Ostpreußens. 1981 stirbt Dwinger als vergessener Bestsellerautor der Zwanziger und Dreißiger Jahre – aber auch als vergessener Obersturmbannführer –, in Gmund am Tegernsee. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Dwingers Romane, der sich in Schleefs Nachlass unter dem Material zu Verratenes Volk findet70, schreibt der Historiker Karl Schlögel, Dwinger zeichne in seinen Sibirien-Beschreibungen das „Porträt einer untergegangenen Welt“, seine Romane seien „das finstere Gemälde einer deutschen Seelenlandschaft“71. Dwingers Schriften, die 70 Vgl. Zeitungsartikel in Kopie, Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2040. 71 Karl Schlögel, „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft. Russland als Projektionsfläche deutscher Träume und Albträume im zwanzigsten Jahrhundert: Die Romane von Edwin Erich Dwinger“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.5.1998, Nr. 105, S. 44. Eine erweiterte Fassung des Artikels erschien unter dem Titel „Die russische Obsession. Edwin Erich Dwinger“ in: Gregor Thum (Hg.), Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 66-87. Der FAZ-Artikel von Karl Schlögel nimmt in Schleefs Beschäftigung mit Dwinger in Vorbereitung der

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Verratenes Volk Krieg und Gefangenschaft porträtierten, zeugten von einer Art Hassliebe zu Russland, so Schlögel. Die Sprache seiner Romane und Tagebücher habe den Charakter einer stilisierten „Geheimsprache derer, die dabeigewesen sind, [...] in Deutschland gesprochen oder verstanden von mindestens zwei Generationen“72. Zwar kann, zumindest in Bezug auf Die Armee hinter Stacheldraht, wo Dwinger detailbesessen Kriegsverletzungen und Verstümmelungen, aber auch die Grausamkeit der Soldaten mit- und gegeneinander beschreibt, von einer 'Geheimsprache' nicht die Rede sein. Sicher aber erklärt die offene und drastische Thematisierung der Generationen überschreitend wirksamen Kriegstraumata den schriftstellerischen Erfolg Dwingers in den Zwanziger und Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, vor allem vor dem Hintergrund seiner nationalistischen, antikommunistischen und dezidiert antisowjetischen Haltung. Diese Kollektivierung der Kriegserfahrung (und -traumatisierung), von der Schlögel spricht, schlägt sich in Die Armee hinter Stacheldraht auch sprachlich nieder: Durch ein ständiges Alternieren der Sprechposition zwischen der ersten Person Singular und der ersten Person Plural ist die Perspektive des Ich-Erzählers von der eines anscheinend allgegenwärtigen 'Wir' kaum unterscheidbar. Schleefs Chor-Fassung thematisiert auch diese unscharfe Grenze zwischen 'Ich' und 'Wir' in Dwingers Kriegsszene, wie noch zu zeigen ist. In den obsessiv detaillierten Kriegsdarstellungen bediene sich Dwinger einer „Technik der Nahaufnahme“, so Schlögel, „als habe er in der detaillierten Schilderung von Grausamkeiten ein Unterpfand für Authentizität gesehen“73. Dabei werde der 'Osten' für Dwinger zur „Schule der Grausamkeiten, des Verlusts aller zivilisatorischen Hemmungen“74. Sibirien, so Schlögel weiter, stehe für Dwinger als kathartischer Ort der Wiedergeburt, als „Initiation eines neuen Menschenschlages“75. Entsprechend schreibt Dwinger selbst über den ambivalenten Mythos 'Sibirien': „Nach Sibirien kann man nicht mehr für kleine Ziele kämpfen, müssen unsere gestählten Seelen sich etwas suchen, das dem Vermächtnis unse-

72 73 74 75

Inszenierung offenkundig eine prominente Position ein. So finden sich im Nachlass Schleefs im Kontext seiner Arbeit an Verratenes Volk keine weiteren Materialien zu Person und Autorschaft Dwingers. Aus diesem Grund wird der Artikel Schlögels im Folgenden in seiner ersten, in der FAZ publizierten Fassung zitiert. Karl Schlögel, „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft.“ A.a.O. Ebd. Ebd. Ebd.

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Tragödie als Bühnenform rer Toten würdig ist, dabei die Erde nicht weniger umbricht, als es der Bolschewismus mit Russland tat.“76

Der Ort aber, an dem Dwinger nicht nur den Untergang, sondern auch die Wiederauferstehung oder Heilung dieses untoten Kollektivs verzeichnet, in dessen Namen er zu sprechen scheint, ist immer wieder der 'Osten': „Nun wohl, im Osten gingen wir zugrunde, im Osten werden wir auferstehen... Denn wir starben ja nicht für uns... noch für Russland... wir starben für den Geist der Menschheit...“77

'Wir starben', 'wir werden auferstehen'. – Nicht nur, dass die halbfiktionalen Ich-Erzähler in Dwingers Kriegsromanen und 'Tagebüchern' den Tod von Millionen Soldaten in der Pluralisierung ihrer Rede nachzuvollziehen scheinen. Mit dieser Geste der Einverleibung der Toten, deren zwiespältige Rückkehr hier angekündigt wird, wird die Rede selbst zu der von Untoten. Unentschlossen zwischen Übernahme – einem stellvertretenden Sprechen im Namen derer, die keine Sprache (mehr) haben – und Einverleibung, macht sich Dwinger geradezu zum Chorführer dieser Untoten-Rede. Jedoch, so hält Schlögel mit einem vergleichenden Blick auf Ernst Jünger zusammenfassend fest: „Für Dwinger standen nicht die 'Stahlgewitter' und das Heldentum des Krieges, sondern die Zerstörung der Menschen durch den Krieg und in der Gefangenschaft im Zentrum.“78 Auch in Die Armee hinter Stacheldraht, das die autobiografische Beschreibung der Kriegsgefangenschaft des Autors 1915/16 fingiert, steht die Zerstörung des Einzelnen durch den Krieg im Mittelpunkt. Die Chor-Szene der gefangenen Soldaten in Verratenes Volk spiegelt diese Zerstörung des einzelnen Menschen noch einmal an der Mythisierung des Zwangskollektivs in Uniform. Die Unmöglichkeit einer Heroisierung sowohl einzelner Soldaten wie auch des Kriegsgeschehens als solchem liest sich in Dwingers Sibirischem Tagebuch im Rückblick auf das Erlebte so: „Ist es nicht klüger, auf ein Leben zu verzichten, in dem möglich ist, was wir erlitten? Vielleicht dauert es noch zwei Jahre? Und wenn nicht – was

76 Edwin Erich Dwinger, hier zitiert nach: Karl Schlögel, „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft.“ A.a.O. 77 Edwin Erich Dwinger, hier zitiert nach: Karl Schlögel, „Sibiren ist eine deutsche Seelenlandschaft.“ A.a.O. 78 Karl Schlögel, „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft.“ A.a.O.

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Verratenes Volk soll ich zu Hause? Ist für mich nicht die ganze Welt durch diesen Krieg ein einziges Sibirien geworden?“79

An dieser Stelle beschreibt Dwinger genau dasselbe, was Döblin in November 1918 insbesondere an den beiden Figuren der Kriegsrückkehrer Maus und Becker darstellt: die angesichts der massenhaften Vernichtung des Einzelnen erfahrene Sinnlosigkeit des eigenen Lebens, die Kontingenzerfahrung der Überlebenden, die sich in die Erfahrung der Nachkriegszeit eines jeden in irgendeiner Form einschreibt, das Problem der 'Rückkehr' in eine Gesellschaft, die es selbst nicht mehr zu geben scheint, die Unmöglichkeit einer einfachen Fortsetzung des bürgerlichen Lebens oder Lebensentwurfs der Vorkriegszeit. Was aber bei Döblin stets polyperspektivisch behandelt wird, so dass jede mögliche Perspektive immer schon an einer anderen gebrochen ist, äußert sich bei Dwinger in einem vereinheitlichenden, vom 'Ich' nicht zu unterscheidenden 'Wir', worin sich nicht zuletzt auch die Distanzlosigkeit des Autors beziehungsweise Ich-Erzählers zum Erlebten, auch zur durch den Krieg erfahrenen Kollektivierung ausdrückt. Auf die Frage, warum er als Textgrundlage für die Kriegsszene in Verratenes Volk ausgerechnet Dwingers Armee hinter Stacheldraht gewählt habe, antwortet Schleef im Gespräch mit Alexander Weil, es sei „eines der besten Bücher über den Ersten Weltkrieg“80. Dwingers 'Tagebuch' sei „das einzige Werk, das die Zustände bei den russischen und bei den deutschen Soldaten beschreibt“, so Schleef. „Daß kein anderer darüber geschrieben hat, was in der deutschen Armee passiert ist, das nimmt heute wunder.“81 Das der Textauswahl zugrunde liegende Interesse Schleefs gilt den verdrängten und verschwiegenen Aspekten der Kriegserlebnisse, dem, was bei anderen Autoren zumeist unausgesprochen bleibe. Schleef fokussiert daher gerade die gewaltsame Konstituierung einer männlichen Kriegergesellschaft, die er in Dwingers Beschreibung ausmacht. Wie dies auf dem Theater mit den Mitteln der chorischen Ästhetik umgesetzt ist, sei im Folgenden genauer dargestellt.

79 Edwin Erich Dwinger, Die Armee hinter Stacheldraht. Das Sibirische Tagebuch. Jena: Eugen Diederichs, 1929, S. 303 (vgl.: Materialien zu Verratenes Volk, Text in Kopie ohne Angabe von Ort und Datum, Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin, Signatur 2023). 80 Einar Schleef in: Alexander Weil, „Verratenes Volk. 5 StundenMarathon von Einar Schleef über den NOVEMBER 1918“. A.a.O. Nachgedruckt in: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 67. 81 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform

„DAS INDIVIDUUM IST AUSGELÖSCHT“. DER CHOR DER KRIEGSGEFANGENEN SOLDATEN Bei unveränderter Lichtsituation zur vorangehenden Szene treten zehn Männer in grauen Uniformmänteln von links auf die Bühne. Die Soldaten formieren sich zur Riege, indem sie sich parallel zur Bühnenrampe hinter dem mittels Licht auf dem Boden markierten Rechteck in der Mitte der Vorderbühne aufstellen. Das LichtRechteck als der Ort, an dem zuvor 'Nietzsche' die unvorstellbar schrecklichen Folgen der 'Umwertung aller Werte' angekündigt hatte, bleibt auch in dieser Szene die einzige Bühnenbeleuchtung. Die abgerissenen Militärmäntel, die sich nur leicht voneinander unterscheiden, geben die nackten Beine der Männer zu sehen, Schuhe tragen sie nicht, unter der Uniform der nackte Mensch. Die Soldaten stehen nebeneinander, die Köpfe nach oben geneigt, so dass ihre Gesichter spärlich durch das von unten reflektierende Licht beleuchtet werden. Durch diese Lichtsituation erscheinen die Gesichter der Soldaten eher schattenhaft, wie eine Reihe von Totenschädeln, die plötzlich zu sprechen beginnen82, laut und artikuliert, gehetzt, fieberhaft, das erste Wort wie ein Schrei: „Nein, / es geht nicht mehr. / Dies Auf und Ab, / dies Hin und Her. / Ich dachte mir, / alle dachten sich. / Nein, / das geht nicht mehr, / um Gottes Willen! / Kalt-heiß, kalt-heiß, fortfahren-hierbleiben, Krieg-Frieden, Krieg-Frieden!“ (VV, S. 17)

Nach diesem chorischen Auftakt, der die widersprüchliche und verzweifelte Lage der kriegsgefangenen Soldaten thematisiert, löst sich ein Einzelner aus der Reihe zum Schrei: „19/15“ (VV, S. 17). Dann beginnt er zu sprechen, indem er von der Situation seiner Verwundung erzählt. Der Schauspieler, der hier allein den Text des IchErzählers spricht – in der 'Spielfassung' der Inszenierung „BENDER“ –, ist in der Szene der 'Fähnrich', das heißt die Stellvertreter-Figur des Autors in Armee hinter Stacheldraht. Der Text des Ich-Erzählers, der teilweise dialogisiert, teilweise narrativ ist, kann jedoch auch von anderen Stimmen übernommen oder chorisch gesprochen werden – so an der folgenden Stelle, wo „DIE SOLDATEN“ leise, wie als Echo der Einzelstimme, raunen: „Ich war / siebzehn / Jahre / alt.“ (VV, S. 17)

82 Der Text des Soldaten-Chors, der von Dwingers Textvorlage nur geringfügig abweicht, ist mit „Armee Strichfassung“ überschrieben (vgl. VV, S. 17).

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Verratenes Volk Die anderen einzeln auftretenden Stimmen sprechen Texte, die auch in Dwingers Vorlage dialogisiert, das heißt als Äußerungen Einzelner markiert sind, so zum Beispiel als 'Russe', 'Offizier', 'Schwester', 'Der Österreicher' oder namentlich als 'Pod', 'Schmitt' etcetera. Der Schauspieler des Fähnrichs fährt fort, von seiner Verwundung zu sprechen, von den Verletzungen und Verkrüppelungen der Soldaten und vom Sterben der anderen, das er beobachtet. Immer wieder wird er unterbrochen vom Chor, in den er sich dann zumeist wieder einreiht. Mal sprechen 'Die Soldaten' als 'wir': „Für uns ist der Krieg jedenfalls zu Ende.“ (VV, S. 17)

Dann wieder übernimmt der Chor die Stimme des Ich-Erzählers, der von einer nächtlichen Zugfahrt der verwundeten Kriegsgefangenen durch Russland berichtet. Das Prinzip der chorischen Übernahme antwortet somit auch auf die ständigen sprachlichen Perspektivwechsel in Dwingers 'Tagebuch', das Wechseln der Sprechposition zwischen 'ich' und 'wir', das die Situation der gewaltsamen Kollektivierung der gefangenen Soldaten spiegelt: „BENDER Ich empfinde eine unbekannte Angst, ich empfinde sie nicht allein. Sie liegt auf allen Gesichtern, tönt aus jedem Wimmern [...]. DIE SOLDATEN Es wird uns / zer-máh-len, / dieses dunkle Land!“ (VV, S. 18)

In der frontalen Reihung des Chors hinter dem Licht-Rechteck auf dem Bühnenboden funktioniert das stimmliche Auftreten Einzelner nach dem Prinzip des Vor- und wieder Zurücktretens aus dem Chor der gefangenen Soldaten. Die Szene wird jetzt zunehmend dialogisiert, das heißt, dass sowohl die Erzählung, der Text des Ich-Erzählers, als auch die DialogZitate aus Dwingers Text auf verschiedene Einzelstimmen verteilt werden. Der Gefangenentransport erreicht Riga, einer der Soldaten fragt den Fähnrich nach seinem Vater, der als Marineoffizier auf der Ostsee gegen die russische Armee kämpft. In der Nacht beobachtet der Erzähler den Tod eines Unteroffiziers. Nach dem Prinzip der chorischen Übernahme wird der Text nicht vom Schauspieler des Fähnrichs, sondern von einer anderen einzelnen Stimme gesprochen. Das stellvertretende Sprechen oder Sprechen anstelle von einer anderen Stimme korrespondiert mit der im Text aufgeworfenen Frage nach der Berechtigung des Überlebens, nach der Zufälligkeit der Existenz, die der Krieg beständig aufzuwerfen scheint:

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Tragödie als Bühnenform „Er hatte nur einen Riß, nur einen Streifer, und muß sterben! Er rettete mich, und muß sterben! Und wenn er nicht bei mir vorbeigekommen wäre?“ (VV, S. 19)

Indem der Text des Ich-Erzählers grundsätzlich von allen Chormitgliedern – wie hier von Schmitt – übernommen werden kann, wird das Prinzip der chorischen Übernahme hier zu einer ästhetischen Reflexion des Kontingenzproblems. Indem potenziell jede Stimme des Chors der Kriegsgefangenen die Erzählung übernehmen kann, wird die personal organisierte Figur dekonstruiert, und die im Text aufgeworfenen Fragen werden auf alle Chormitglieder übertragen. In der Nacht wacht der „[n]ur“ von „Sterbende[n] und Tote[n]“ umgebene Ich-Erzähler auf, weil er eine Stimme gehört hat. Jedoch: „Niemand steht vor mir, keine bekannte Stimme spricht.“ Zuvor, und während des Sprechens des Fähnrichs (Bender) hört man die 'Stimme des Vaters', ruhig und tief, die vom Chor gesprochen wird: „Nun, / mein lieber Junge?“ (VV, S. 19)

Das Erscheinen der Stimme wiederholt sich, wie der Fähnrich erzählt, mehrmals, so dass der Chor hier anscheinend eine im Text angegebene Rolle übernimmt. Durch die Vervielfachung der Stimme des Vaters, in Verbindung mit dem Prinzip der chorischen Übernahme der Erzählung, wird hier die Frage assoziiert, wie viele Väterstimmen von wie vielen Söhnen zur gleichen Zeit gehört werden. Durch die chorische Fassung der Vater-Stimme erscheint auch der einzelne Schrei nach dem Vater als potenziell vielzähliger. Ist im Text die Rede von 'haufenweise' Toten und unzähligen Sterbenden, verdeutlicht gerade der chorische Auftritt der 'Stimme des Vaters' eine Möglichkeit der Chor-Szene: die der Verallgemeinerung der Situation, auf die auch Dwingers Erzähler, im beständigen Changieren zwischen den Erzählperspektiven von 'ich' und 'wir', abzielt. Die Chor-Szene verdeutlicht die Situation: Hier ist nicht ein einzelner besonderer Soldat verwundet, interniert und beständig vom Tod bedroht, sondern viele, unzählige, massenhaft Stimmen, die nicht mehr sprechen können. Die weitere Erzählung wird mal vom Chor der Soldaten übernommen, mal von der Stimme des Fähnrichs (Bender), mal von weiteren Einzelstimmen. Dabei wechselt die Szene, wie die Textgrundlage, ständig zwischen der chorischen Übernahme der Erzählerposition und der Dialogisierung der Szene, in der einzelne Stimmen bestimmte Rollen übernehmen – wie die der Schwester im Lazarett oder die einzelner, namentlich gekennzeichneter Soldaten. Ebenso wechselt die Szene zwischen nicht-darstellender, narrativer Haltung des Chors und einer spielerischen Umsetzung des Textes.

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Verratenes Volk So wenn der eintönig-grausame Alltag der Kriegsgefangenen durch einen zufälligen Blick in die Zeitung unterbrochen wird, die berichtet: „Das Festungsgebiet Brest-Litowsk mußte aus strategischen Gründen geräumt werden.“ (VV, S. 20) Der Russisch sprechende Ich-Erzähler interpretiert die Meldung über den Rückzug der russischen Truppen als aus deutscher Sicht positiven Kriegsverlauf. Laut ruft der Schauspieler des Fähnrichs aus: „Wir haben neue Stellungen“ (VV, S. 20), worauf der Chor in Jubel über den vermeintlich kurz bevorstehenden Frieden ausbricht: „Frieden! Frieden! Frieden!“ (Ebd.) Nach einem kurzen Freudentanz über die dunkle hintere Bühne, bricht der Jubel abrupt ab. Die Soldaten sammeln sich wieder auf der Vorderbühne, wo sie sich wie zuvor in einer rampenparallelen Reihe hinter dem Licht-Rechteck aufstellen – jetzt aber mit angespannter Körperhaltung und den Blick nach vorn, ins Publikum gerichtet. Der Krieg und die Gefangenentransporte, über Moskau nach Sibirien, gehen weiter. „Täglich wird es schlimmer“ (VV, S. 20), berichtet der Chor. Dann übernehmen wieder abwechselnd einzelne Stimmen die Erzählung. Dabei erfährt der Text eine sprachliche Verfremdung, wenn einer der Soldaten in breitem Wienerisch davon spricht, wie den gefangenen Soldaten die Kennzeichen ihres militärischen Rangs abgenommen wurde: „Ganz gleich haben sie uns gemacht, ganz gleich“ (VV, S. 21). Die Sprache hingegen markiert hier die Heterogenität dieser Zwangsgemeinschaft, die die Kriegsgefangenen bilden. Während die Stimme des Fähnrichs/Benders fortfährt, von seiner Verwundung, der Angst vor Verkrüppelung zu sprechen, wenden die Soldaten wieder ihre Köpfe nach oben, so dass wie zu Beginn ihre Gesichter von unten beleuchtet werden, was den Eindruck von Totenschädeln hervorruft: „Vor meinen Augen tauchen Pferde auf, ich bin ja so jung, ich werde mich zu keiner Blume, zu keiner Eidechse mehr bücken können mit Krücken, aus einem Rollstuhl. Vor meinen Augen Sportplätze, / Turngeräte, / Tennisquadrate.“ (VV, S. 21)

Leise und gedehnt wiederholt der Chor jeweils die Worte: „Sport-plätze“, „Turn-geräte“, „Tennis-quadrate“.

Der Schauspieler des Fähnrichs fährt fort: „Ich biege mich zusammen, fahre langsam, jede Linie auskostend, mit der Hand an meinem rechten Bein entlang. Ich umfasse sein Knie, seine runde, bewegliche Scheibe, das Schienbein, das Fußgelenk, die Zehen – alles, was im Grunde so kerngesund ist, daß es einen jammern muß, es einfach auf den Mist zu werfen. [...] alles ist heil wie einst, nur weil ein spitzer

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Tragödie als Bühnenform Bleikern seinen oberen Muskel durchlöcherte, muß ich es opfern?“ (VV, S. 21)

Der Chor führt hier den Textsinn vor. Während der Fähnrich/Bender spricht, beugen sich alle Soldaten nach unten, umfassen mit langsamen Bewegungen ihre Knie, fahren, den Text nachzeichnend, ihre Beine entlang. Nachdem sich alle wieder aufgerichtet haben, beginnt der 'Österreicher', aufgeregt, fast schreiend von einem „Deutschenpogrom“ (VV, S. 21) in Moskau zu berichten. Die Erzählung wird hier zum Augenzeugenbericht, der teilweise dialogisiert ist, was die von Dwinger beschriebene Zeugenschaft pluralisiert. Der Bericht endet mit der mehrmals vom Chor wiederholten, anklagenden Frage: „Sínd es nicht Deutsche, / sínd es nicht unsere Waffenbrüder? / Kéin Sanitäter läßt sich sehen, / kéine Schwester. / Álles sieht dem Schauspiel ruhig zu, / wás?“ (VV, S. 22)

Auf die atemlose Erzählung und die laute chorisch wiederholte Frage folgt Stille. Der Schauspieler des Fähnrichs, der in der Mitte der Soldatenriege steht, zündet sich zwei Zigaretten an und gibt sie, ohne die Arme zu benutzen, mit dem Mund jeweils nach links und rechts weiter. Während dieser Szene des mühsamen Weitergebens der Zigarette schweigen die Soldaten. Dieses sprachlose Bild, das der Chor einige Minuten lang vorführt, assoziiert die Verkrüppelungen, die der Text immer wieder von neuem detailliert beschreibt. Nachdem die Zigaretten zu Ende geraucht sind, wird die Erzählung, zunächst durch den Chor, wieder fortgesetzt. „Gegen Abend“, so die Soldaten, „macht sich“ im Lazarettsaal „Unruhe breit“ (VV, S. 22). Die Gefangenen erfahren von bevorstehenden Transporten nach Sibirien. Wie zuvor wird die Erzählung teils vom Chor, teils von einzelnen Stimmen oder Teilchören übernommen. Die Einzelstimmen definieren dabei nicht die personale Identität einer Figur, sondern können prinzipiell von jedem Chormitglied übernommen werden. Dieses Prinzip wird besonders augenfällig, wenn die Stimme einer Schwester von einem der Soldaten übernommen wird, wie in einem Rollenspiel, wo die personale und geschlechtliche Identität des Spielers klar von der darzustellenden Figur getrennt ist. Die chorische Erzählung skizziert den Marsch und Zugtransport der Kriegsgefangenen nach Sibirien. Die Texte von Chor und Einzelstimmen variieren wieder zwischen narrativer Erzählhaltung, Reflexion des Ich-Erzählers und Dialogisierung. Die Sprechposition changiert zwischen 'wir'/'ich' und 'er'/'sie'. Das Sprechen von Chor und Einzelstimmen variiert zwischen Schreien und Flüstern, langsamem und schnellem Sprechen. Erzählende Passagen wechseln ab mit Dialogrepliken, Befehlen und Kommentaren. Dabei kann der 214

Verratenes Volk Chor alle diese Haltungen einnehmen, tritt aber mehrfach als Echo einer Einzelstimme beziehungsweise als Figur der Frage auf. So, wenn er die Frage von Schnarrenberg wiederholt, der sich über das beschwerliche wochenlange Laufen beschwert: „Hätten sie nicht wenigstens ein paar Panjewagen für uns requirieren können?“ (VV, S. 24)

Indem der Chor die Einzelstimme wie ein Echo wiederholt, wird hier die Frage der Einzelstimme verstärkt. Dieser Funktion der chorischen Wiederholung folgend, setzt der Text des Chors noch einmal nach: „Er hat recht, dieser Schnarrenberg!“ (Ebd.)

Die Szene wechselt. 1916 befinden sich die Kriegsgefangenen der deutsch-österreichischen Armee auf dem Transport nach Sibirien. Der Österreicher beschreibt in Wienerischem Tonfall die sprachliche und nationale Heterogenität der Zwangsgemeinschaft im Zugwaggon. Plötzlich, so berichtet einer der Soldaten, fängt ein Mann zu singen an, worauf immer mehr Männer einstimmen: „Zu Straßburg auf der Schanz“83. Langsam geht der Chor der Soldaten, leise singend, auf den hinteren Teil der Bühne. Während des Chorlieds hört man eine einzelne Stimme laut, jedes einzelne Wort langsam und betont herausschreiend: „Ich / stecke / meine / Finger / in die / Oh-ren.“ (VV, S. 27)

Hier endet das Chorlied. Die Stimme des Soldaten Bender beschreibt eine Onanieszene, die er beobachtet. Die Erzählung fokussiert jetzt die sanktionierte und von Gewalt geprägte Sexualität der Kriegergemeinschaft, die Schleefs Inszenierung besonders hervorhebt. Szenisch gipfelt dieser Fokus schließlich in der Vergewaltigung des Fähnrichs durch die Gruppe. Im Gespräch mit Alexander Weil über die Frage der 'dokumentarischen' Qualität von Dwingers Sibirischem Tagebuch unterstreicht Schleef, dass der Autor gerade diesen Aspekt der unterdrückten, gewaltsamen Sexualität mit seiner Beschreibung des Kriegs als 'homosexueller Eskapade' herausstelle. Mit Bezug auf ablehnende Reaktionen des Publikums auf die 'Vergewaltigungsszene' in Verratenes Volk verweist Schleef auf weitere, nach seiner Ansicht wesentlich krassere Gewaltbeschreibungen in Dwingers Textvorlage:

83 Textfassung nach: Achim von Arnim und Clemens von Brentano, Des Knaben Wunderhorn.

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Tragödie als Bühnenform „Die Vergewaltigung ist doch das Zahmste, was vorkommt. Der Autor hat das aufgeschrieben, was er erlebt hat. Da gibt es eine Szene auf einer Treppe, wo Hunderte von deutschen und österreichischen Offizieren sich an drei Frauen vergehen. Hinterher werden die Frauen dann vor den Augen der Gefangenen erschossen.“84

Die Inszenierung fokussiert aber die Gewalt der männlichen Zwangsgemeinschaft untereinander. Einar Schleef, Zeichnung zu Verratenes Volk

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Einer der Soldaten kommt zum Fähnrich, um ihn, als einzigen Russisch Sprechenden, auch im Namen der anderen darum zu bitten, einen Posten zu bestechen, der ihnen ein 'Mädchen' besorgen solle. Der Soldat appelliert an das 'Kameradschaftsgefühl' des Fähnrichs, „ich bitte dich“ – und der Chor fällt ein: „wir alle bitten dich“ –, „es kann niemand mit ihm sprechen außer dir!“ (VV, S. 27) Der Fähnrich, die Stellvertreterfigur des Autors in Armee hinter Stacheldraht, will „eine solche Schweinerei“ nicht mitmachen, willigt dann aber laut Schleefs Textfassung doch ein: „Still! ich tue es!“ (ebd.) Dieser Satz, der die Einwilligung des Fähnrichs in die Gruppenver84 Einar Schleef in: Alexander Weil, „Verratenes Volk. 5-StundenMarathon von Einar Schleef über den November 1918“. A.a.O. Nachgedruckt in: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 67.

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Verratenes Volk gewaltigung eines Flüchtlingsmädchens markiert, wird jedoch in der handschriftlichen Überarbeitung 'Spielfassung' gestrichen.85 Die Einwilligung des Fähnrichs fällt aus, und anstelle der im Text geschilderten Vergewaltigung des Mädchens – die jedoch in der Szene gleichzeitig von einer einzelnen Stimme gesprochen wird –, wird der Schauspieler des Fähnrichs zum Opfer der Gruppe, der er sich gerade verweigert hat. Der Initiator wird jetzt zum Anführer und zerrt den als Opfer markierten Schauspieler in das Licht-Rechteck auf dem Boden der Vorderbühne. Die über die hintere Bühne verteilt stehenden Soldaten treten einer nach dem anderen vor und fallen, jeder auf seine Weise, über den Fähnrich her. Statt der im Text geschilderten gemeinsamen Vergewaltigung eines außenstehenden, an der Gruppenkonstitution nicht beteiligten Opfers, wendet sich die Gewalt des Chors nach innen. Nach der Szene, die eben so lange dauert, wie jeder einzelne braucht, um den fingierten symbolischen Gewaltakt zu vollziehen, steht jeder Soldat für sich, halb bekleidet, die Gruppe der Soldaten ist zersplittert, über die hintere dunkle Bühne verteilt. Man hört schließlich den Eisernen Vorhang, der langsam nach unten fährt. „Das Individuum ist ausgelöscht“ (VV, o.S.), heißt es in der 'Spielfassung' der Szene an einer späteren Stelle, auf die noch zurückzukommen ist. In diesem Satz scheint das Fazit von Dwingers mehr oder weniger fiktivem Kriegs'tagebuch' und Schleefs szenischer Umsetzung umschrieben. Nicht nur die durch äußeren Zwang konstituierte und gewaltsam nach außen und innen agierende Gruppe, sondern jeder einzelne Mensch wird im und durch den Krieg zerstört. Zum Schluss der Szene auf dem Theater erscheint keine erkennbare Spur mehr von Miltons 'satanischem' Erkenntniswillen, von dem 'Idealismus', den Nietzsche als 'Verlogenheit vor dem Notwendigen' bekämpft hatte oder gar von Zarathustras Konzeption eines 'Übermenschen'. Unter der handschriftlich eingefügten Überschrift „Soldaten – Einschub Schnee“ lässt Schleefs 'Spielfassung' die Stimme des Fähnrichs Dwingers Vorlage zitieren: „Mein Buch genügt für 1 Jahrtausend. Ich habe mich bemüht, kalt, sachlich zu sein. Nichts von Stimmungen, Ansichten, nur das, was ich sah. Es ist nichts als ein einziger, irrsinniger, unartikulierter Schrei!“ (VV, o.S.)

Darauf der Chor der Soldaten: „Ich klage an!“ (Ebd.)

85 Dieser Strich entspricht auch der Textfassung der Aufführung (vgl. die Dokumentation von Alexander Weil: „Verratenes Volk. 5-StundenMarathon von Einar Schleef über den November 1918“, a.a.O.).

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Tragödie als Bühnenform Genau hierum scheint es Schleefs chorischer Umsetzung der Kriegsszene zu gehen: den unartikulierten Schrei hörbar zu machen. Der Chor kann dies, indem er mit den untergegangenen, untoten Figuren verbunden ist, deren Klage er übernehmen kann, wie es von Beginn des Theaters der Tragödie seine Funktion gewesen ist. So merkwürdig die der Umsetzung hier zugrunde liegende Textauswahl sein mag, gerade diese Szene, die den Krieg beschreibt, macht die Fähigkeit des Chors, die Klage des untergegangenen Individuums zu übernehmen, besonders deutlich.

Rosa Luxemburg im Gefängnis. Auftritt der Revoluti Revolut ionsons - Protagonistin Der folgende längere Teil der Inszenierung thematisiert die eigentliche Zeit der Revolution. Entlang an Döblins November 1918, genauer: dem vierten Band des Romans mit dem Titel Karl und Rosa, wirft Schleefs Textfassung Schlaglichter auf prägnante Szenen der Revolution und deren Protagonisten. In einer langen Szene zu Beginn wird zunächst, nach Döblins 'Rosa', die Theaterfigur 'Rosa Luxemburg' eingeführt. Es folgen zumeist chorische Schilderungen der doppelten Republikausrufung durch Karl Liebknecht und Philip Scheidemann sowie von Massendemonstrationen in Berlin, bewaffneten Aufständen und deren Niederschlagung, der Gründung der kommunistischen Partei und schließlich der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts.

VISIONEN 1: ROSA UND DIE SOLDATEN Während der Pause ist der Eiserne Vorhang, der die vorangehende Szene beendete, wieder hochgefahren. In unveränderter Bühnenbeleuchtung hat die Szene bereits begonnen: Badetag im Breslauer Frauengefängnis, Januar 1918. Im Zentrum des aus den vorangehenden Szenen schon bekannten Licht-Rechtecks in der Mitte der Vorderbühne steht jetzt eine Badewanne, deren Längsseite in den dunklen hinteren Teil der Bühne ragt. Das Licht-Rechteck, das zuvor auf je unterschiedliche Weise den Auftrittsort sowohl der Nietzsche-Figur wie auch des Soldaten-Chors kennzeichnete, markiert hier den Auftritt der Protagonistin: Auf der vorderen Kante der Wanne, von grellem Oberlicht geblendet, sitzt die Darstellerin der Luxemburg-Figur86 (Jutta Hoffmann). Ihre einzige Bekleidung ist

86 So wie der Unterschied zwischen der theatralen Figur 'Nietzsche' und dem Autor Nietzsche durch die Verwendung von einfachen Anführungszeichen markiert wird, ist diese Unterscheidung zwischen Thea-

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Verratenes Volk ein bodenlanges, um den Körper geschlungenes weißes Laken, das Arme und Schultern unbedeckt zu sehen gibt. Allein auf der Bühne, exponiert an diesem grell ausgeleuchteten Ort, besser: an dessen äußerstem Rand, beginnt sie zu sprechen: „Badetag.“ (VV, S. 28) Schleefs 'Spielfassung' des ersten Buchs von Karl und Rosa hält sich, wenngleich stark gekürzt, eng an Döblins Text, der oft wörtlich übernommen wird. Um die Genese des Aufführungstextes zu dokumentieren, seien im Folgenden der Anfang des Szenentextes aus Verratenes Volk sowie die entsprechende Passage in Döblins November 1918 gegenübergestellt. Schleef, Verratenes Volk:

Döblin, November 1918:

„Badetag. Man fegt den nachts gefallenen Schnee weg, das graue Pflaster, auf dem wir das Jahr über trotten, wird sichtbar. Da öffnet eine Hand ein Fenster, holt sich durch die Gitter Schnee in die Zelle. Wir sind die, die man einmauern muß, die deutsche Intelligenz bettelte den Krieg herbei, wer ausscherte, kam hierher. Die Zellentür wird aufgeriegelt, die Kalfaktor tritt ein, auch eine Gefangene, ihr Gesicht ist mager, straff und kreideweiß, ich betrachte sie zum 1. Mal, der Schnee hat mich weich gemacht. Die Kalfaktor führt mich in den dampfenden Baderaum und läßt mich allein. [...] Ich sitze in der Badewanne im warmen Wasser und denke an die jungen Männer, die jede Stunde, jede Minute fallen. Wie eine fette Bürgersfrau in einer Wanne. Haben wir uns angestrengt den Krieg zu verhindern, frage ich jetzt! Wir ließen uns einsperren, das ist alles, wir waschen die Hände in Unschuld. Gegen die Masse

„Es ist Badetag. Man fegt auf dem Wirtschaftshof den Schnee weg, der in der Nacht gefallen ist. Und die grauen Pflastersteine, auf denen die Gefangenen das Jahr über trotten, werden wieder sichtbar.. [...] Da hat einer sein Fenster offen und holt sich durch das Gitter eine Handvoll Schnee herein. [...] Wir sind die, mit denen die Gesellschaft nicht fertig wird und die man darum einmauert. Die Zellentür wird aufgeriegelt, die Kalfaktorin tritt ein, auch eine Gefangene, eine junge schlanke Person, die den Kopf mit einem bunten Leinentuch umwickelt hat. Ihr Gesicht ist mager, die Haut straff und kreideweiß. Rosa betrachtet sie heute zum erstenmal. [...] Der Schnee hat sie weich gemacht – und sie fürchtet sich heimlich vor sich. Die tragische Gefangene führt Rosa in den dampfgefüllten Baderaum und lässt sie allein. [...] Sie sitzt in der Badewanne am hellen Vormittag im warmen Wasser und denkt an die jungen Menschen, die jetzt, jede

terfigur und historischer Person bzw. Autorin auch im Fall von Rosa Luxemburg (ebenso von Karl Liebknecht et al.) zu treffen. Dabei gilt die weitere Differenzierung zwischen Schleefs und Döblins Figuren. Döblin bezeichnet seine Luxemburg-Figur durchgängig als 'Rosa', Schleef als 'Luxemburg'. Dasselbe gilt für 'Karl' (Döblin) und 'Liebknecht' (Schleef).

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Tragödie als Bühnenform ist nichts zu machen. Ihre Trägheit ist stärker als wir. Kommt die Stunde, gehorcht sie wieder, nimmt ihre Gewehre, schießt für Kaiser und Vaterland. [...] Die Menschen wollen uns nicht. Die Menschen wollen Ruhe. Es ist etwas Verfluchtes um die Politik, man arbeitet für nichts, so fing es an, ganz früh, so stahl sie mir das Leben. Ist nichts mit deiner Klugheit, wenigstens in einer warmen Wanne, nimm damit vorlieb.“ (VV, S. 28)

Stunde, jede Minute, draußen fallen. Wie eine fette Bürgersfrau sitze ich in der Wanne und wärme mich. Und was soll ich tun? Wie haben wir uns angestrengt. [...] Und wir ließen uns einsperren, und das war alles, was wir konnten. Denn es ist gegen die Masse nichts zu machen. Ihre Trägheit ist stärker als wir. Wenn die Stunde kommt, gehorchen sie wieder, nehmen ihre Gewehre und schießen für den Kaiser und König. [...] Die Menschen wollen uns nicht. Die Menschen wollen Ruhe. (Sie klatschte auf das Wasser.) Es ist etwas Verfluchtes um die Politik. Für nichts gearbeitet. So hat es bei mir angefangen, ganz früh, so hat es mir das Leben weggestohlen. [...] Es war nichts mit deiner Klugheit, Rosa Luxemburg.“ (NOV4, S. 18f.)

Abgesehen von den Kürzungen, die der Inszenierungstext im Vergleich zur Vorlage generell vornimmt, und kleineren Satzbauänderungen betreffen die Abweichungen der 'Spielfassung' Schleefs von Döblins Text hauptsächlich die Figurenbezeichnungen und die Sprechperspektive. So werden Aussagen über 'Rosa' in dieser Szene zumeist von der dritten in die erste Person Singular transponiert – „der Schnee hat sie weich gemacht“ (Döblin)/„der Schnee hat mich weich gemacht“ (Schleef) –, was die Sprechposition vereinheitlicht und den Vorgang des Sprechens selbst sprachlich ausstellt.87 Insgesamt erfährt der Text in der 'Spielfassung' durch Kürzungen und Zusammenziehungen eine wesentliche Verknappung. Die wenigen, gleichwohl starken inhaltlichen Änderungen gehen zumeist in Richtung einer Radikalisierung des von 'Luxemburg' ausgesprochenen Selbstzweifels. So wird eine Klage zur Selbstanklage, wenn der Satz „Wie haben wir uns angestrengt.“ (November 1918) zur Frage umformuliert wird und diese Frage noch konkretisiert

87 Dies ist jedoch kein durchgängiges Prinzip der gesamten Inszenierung, die generell keine einheitliche Zeit der Figuren, der verschiedenen Sprechvorgänge und der unterschiedlichen Texte behauptet. Die Polyperspektivität des Sprechens und der Figuren, die bei Döblin konstituiert wird, wird von Schleefs Inszenierung nicht nur in den chorischen Passagen umgesetzt, sondern bleibt auch im Sprechen der Einzelfiguren erhalten.

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Verratenes Volk wird durch einen Nebensatz, der den Inhalt der Anstrengung formuliert: „Haben wir uns angestrengt den Krieg zu verhindern, frage ich jetzt!“ (Verratenes Volk) Zudem wird der Umstand, dass diese Anstrengung in Frage steht, hier rhetorisch ausformuliert, und zwar mit der Übernahme in die erste Person Singular Präsens: „frage ich jetzt“. Damit wird zunächst die Verantwortung für den fraglichen Umstand von der fragenden Person, hier der Figur Rosa Luxemburg, übernommen. Das heißt, mit Schleefs Umformung des Satzes zur Frage, kommt die Frage nach der Verantwortung ins Spiel. Das „ich jetzt“ fragt nach der Personalität der Verantwortung: Zum einen auf der Ebene des Textes der Figur Rosa Luxemburg – auch im Abstand zur Figur der Rosa bei Döblin –, zum anderen auf der Ebene des Theaters der Schauspielerin Jutta Hoffmann und des Autors Einar Schleef. Diese Frage nach der Personalität der Verantwortung liegt aber nicht im „ich“, sondern wird auf der Ebene des „wir“ verhandelt. Befragt wird das „wir“ – „Haben wir uns angestrengt“? Schleefs dem Döblin-Text hinzugefügte Formulierung „frage ich jetzt“ dient somit der Vergrößerung des Fragezeichens, das hier an die Theater-Öffentlichkeit weitergegeben wird. Denn nicht zuletzt kommt durch die Richtung der Ansprache der Luxemburg-Figur auch die Verantwortung des versammelten Theaterpublikums zur Sprache. Zudem werden durch das „ich jetzt“ mindestens drei Zeitebenen ins Spiel gebracht: 1914 (Zustimmung aller Reichstagsparteien zu den Kriegkrediten, das in Döblins Text durchgängig thematisierte Versagen der deutschen Intellektuellen), 1918 (Rosa Luxemburg im Gefängnis), 2000 (die Verhandlung der Frage der Verantwortung im Deutschen Theater Berlin). Obwohl Schleefs Bearbeitung dem Döblin’schen Text eng verbunden bleibt, bringen Änderungen dieser Art, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird, immer wieder eine andere und zusätzliche Dimension in den Text, welche durch die theatrale Situation der Veröffentlichung radikal ausgestellt und befragt wird. Die Inszenierung entwirft, nach Döblins Figur der Rosa, ein Porträt der Politikerin Rosa Luxemburg, die im Januar 1918 in Breslauer Frauengefängnis wegen 'Antikriegspropaganda' inhaftiert ist. Abgeschnitten vom sozialen Leben und den realen politischen Verhältnissen 'draußen', reflektiert 'Rosa'/'Rosa Luxemburg' 'drinnen' die Zusammenhänge von Krieg, der Möglichkeit politischen Handelns und ihrer eigenen Ohnmacht, die Politik der Sozialisten in Deutschland und die gleichzeitig stattfindenden revolutionären Vorgänge in Russland. Ihre politischen Überlegungen zu Revolution und Demokratie, ihrer Positionierung gegenüber Lenin, zur Situation in Deutschland im Vergleich zu Russland, werden begleitet von der Trauer um im Krieg umgekommene Freunde. Schleefs Szene exponiert die Gleichzeitigkeit von 'draußen' (Krieg) und 'drinnen'

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Tragödie als Bühnenform (Gefängnis): Während 'Rosa Luxemburg' an die „jetzt, jede Stunde, jede Minute“ sterbenden Soldaten „draußen“ (NOV4, S. 18) denkt, sind diese auf dem Theater bereits da: Eine Gruppe junger Soldaten, der geschilderte Chor der Kriegsgefangenen ist hinter sie getreten. Von 'Rosa Luxemburg' anscheinend unbemerkt, bleiben die Soldaten links und rechts der Badewanne stehen. Das bei Döblin in Traumbildern, Visionen, Briefzitaten und politischen Reflexionen geschilderte Außen, welches das Innen, den Gefängnisalltag, durchdringt, materialisiert sich in der Inszenierung als physische Gleichzeitigkeit auf der Szene. Während 'Rosa Luxemburg' weiterspricht, wie oben zitiert, ziehen die Männer ihre Uniformmäntel aus, unter denen sie nackt sind. Hinter 'Rosa Luxemburg', die während der ganzen Szene auf der vorderen Kante der Badewanne sitzt, steigen die Soldaten in die Wanne und verharren dort in einer Pose, die die jeweilige Körperbewegung des Einsteigens stilisiert und einzufrieren scheint, wie in einem Tableau vivant. Nach der oben zitierten Textpassage beginnt der Soldaten-Chor den gekürzten Schlussteil aus Dwingers Sibirischem Tagebuch zu sprechen.88 'Rosa Luxemburg' schweigt während der chorischen Rede. Ihre Position ist jetzt die der Zuhörerin, gleichwohl immer noch dem Publikum zu-, also dem Geschehen hinter ihr abgewandt. Nicht zuletzt dieses Hören des Chors, das hier in der Haltung der Einzelfigur verkörpert ist, ist das, was Schleef in Droge Faust Parsifal als 'antike Dimension' der Szene benannt hat: die nicht-dialogische Gleichzeitigkeit der Anwesenheit von Chor und Protagonist in der Tragödie, die die Inszenierung hier besonderes sichtbar macht. Die bereits zitierte Passage des Dwinger-Texts, den Schleefs 'Spielfassung' in einzelne Stimmen und Chor aufteilt, handelt von der Ankunft im sibirischen Gefangenenlager, der Aussichtslosigkeit der Situation angesichts des drohenden Tods, der 'Auslöschung des Individuums'. Das Gefängnisleben, die Trauer um den im Krieg umgekommenen Lebensgefährten, die erfahrene Ohnmacht und Exklusion, die 'Rosa Luxemburg' schildert, wird hier direkt mit dem im Gefängnis abwesenden Leben und Sterben, der Invalidität, dem Hunger und der Verzweiflung der Soldaten im Krieg 'draußen' konfrontiert. Um die beiden Texte des Soldaten-Chors und der Luxemburg-Figur miteinander zu kontrastieren, seien diese hier zusammenfassend zitiert89:

88 Vgl. VV, Blatt ohne Seitenzahl, unter dem handschriftlich eingefügten Titel „Soldaten – Einschub Schnee“. 89 Positionierung des Dwinger-Textes, „Soldaten – Einschub Schnee“ (VV) im Text 'Luxemburgs' nach Aufführungsmitschrift, Angaben zur Sprechweise in eckigen Klammern: C.S.

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Verratenes Volk R.L.: „Ich bin fixundfertig, kann nicht mehr, das Gefängnis hat ganze Arbeit geleistet, für andere braucht es Jahre, für mich Monate, ich saß in Rußland und Polen. Ohnmacht läßt nur ein Mittel zu, Pathos, Politparolen im Marktschreierton, in kürzester Zeit bin ich vor die Mauer geknallt, normalste Vorstellungen werden fragwürdig, man muß sich das Denken verbieten, das Gehirn herausnehmen, irgendwo ruhig stellen, während der Körper dämmert.“ (VV, S. 28) „BLANK Bei unserer Ankunft im Lagerbahnort fällt der 1. Schnee. DIE SOLDATEN Er fällt staubfein. [...] Wir wissen noch nicht, daß diese baumlose Steppe eine der elendesten Gegenden Allrußlands, die Orenburgische Steppe ist, wir fühlen ihre Trostlosigkeit im 1. Anblick. BENDER Mein Buch genügt für 1 Jahrtausend. Ich habe mich bemüht, kalt, sachlich zu sein. Nichts von Stimmungen, Ansichten, nur das, was ich sah. Es ist nichts als ein einziger, irrsinniger, unartikulierter Schrei! DIE SOLDATEN [laut] Ich klage an! Ich klage nicht für mich, nein, nicht für meine 14000 Kameraden, die vor meinen Augen in den Erdlöchern verenden. Für wen schreibe ich, für wen? DER ÖSTERREICHER Ich bin müde. [CHOR: F´ür wén] Ich kann nicht weiter. [CHOR: F´ür wén] Eben ist auf der Nachbarpritsche der Pionier verstummt. [CHOR: F´ür wén] Er hielt so plötzlich mit seinem tagelangen, immergleichen Fluchen inne, daß es mir auffiel. [CHOR: F´ür wén] Ich hebe die Lampe ein wenig, leuchte ihm ins Gesicht. [CHOR: F´ür wén] Er ist tot. [CHOR: F´ür wén] Er sieht aus wie alle andern! [CHOR: F´ür wén] Das Individuum ist ausgelöscht. / Má-má / Má-má /, jetzt ist es aus! - Má-má! DIE SOLDATEN [leise] Vor den Barackentüren liegen bereits 2 Totenwälle. / Unsere Sterblichkeit ist auf 350 pro Tag gestiegen. / Man muß durch einen Hohlweg aus Leichen, will man hinaus. / [...] / Alles / ist / am / Ersterben. / Man hört keine menschliche Stimme mehr, nur noch tierisches Stöhnen und Röcheln. [...] BENDER [leise] Ich weiß jetzt, warum dieses Gedicht aus mir brach. Es ist das letzte Wort: An unsere Heimat! Deutschland, Deutschland ist unser letzter Gedanke. Für dich haben wir gelitten, für dich sind wir gestorben. Vergeßt / das / nie! DIE SOLDATEN [leise] Nein, wir sehen dich nicht wieder. / Es ist zu Ende. / [A]lles, alles zu Ende. / Ich taumele, als ob ich betrunken wäre. / Ich spreche mit meiner

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Tragödie als Bühnenform Mutter. / Ich spreche oft mit meiner Mutter. / Jetzt / ist es / zu spät. / Aus. / Aus. / Alles / aus.“ (VV, o.S.)90 R.L.: „Warum stehen Millionen deutscher Frauen auf einem Bahnhof, verabschieden ihre uniformierten, bewaffneten Männer? Warum dezimiert sich ein Volk freiwillig, wenn der Zug abfährt? Warum wollen diese Männer von ihren Frauen fort? Warum wollen diese Frauen, daß ihre Männer nicht bei ihnen bleiben? Welcher Zustand ist eine bürgerliche Ehe? Wenn Millionen deutscher Frauen nicht denken können, wer denkt dann? Ihre Ehemänner? Die deutsche Intelligenz? Die ist geschlossen für den Krieg, die Front lehrt sie, was das heißt. Kommt ein Toter heim, denkt man um, notgedrungen. Welche Verantwortung hat die Intelligenz, welche Funktion? Darüber gelte es nachzudenken?“ (VV, S. 28)

„Aus. Aus. Alles aus.“ Das langsame Ersterben der Stimmen im betont und zäsuriert gesprochenen Schlusstext des Soldaten-Chors hallt noch nach, als 'Rosa Luxemburg' im Sprechen fortfährt. Mit dem Schlussauftritt des Soldaten-Chors endet die eigentliche Kriegsszene in Verratenes Volk. Der letzte Satz erinnert, als szenische Klammer, noch einmal an den ersten Auftritt der kriegsgefangenen Soldaten, ihren chorischen Schrei: „Nein, / es geht nicht mehr.“ So blendet der Text imaginativ zurück auf Dwingers Kriegsschilderung 1915 in Russland, während szenisch die Gleichzeitigkeit mit Rosa Luxemburgs Situation 1918 im Gefängnis etabliert wird. Die Inszenierung verfährt hier ähnlich wie Döblins Erzählung, die Zeiten, Orte und unterschiedliche Figuren – anonyme, exemplarische Figuren sowie fiktionalisierte historische Persönlichkeiten und Vorgänge –, übereinander blendet und so miteinander konfrontiert. Mit der szenischen Gleichzeitigkeit von kriegsgefangenen Soldaten und inhaftierter 'Rosa Luxemburg' stellt Schleefs Inszenierung zwei Arten von Vernichtung einander gegenüber: Die 'Auslöschung des Individuums', das heißt die Reduktion des Einzelnen auf seine nackte Haut, durch den Krieg sowie durch die politische Verfolgung. „Ich bin fixundfertig, kann nicht mehr, das Gefängnis hat ganze Arbeit geleistet, für andere braucht es Jahre, für mich Monate“ (VV, S. 28), heißt es im Text 'Luxemburgs'. Beide Arten von Vernichtung schildert Döblins Roman, vor allem durch die Erzählung exemplarischer Figuren von Überlebenden sowie die detaillierte, mit dokumentarischem Material angereicherte Darstellung von Verfolgung und Ermordung Luxemburgs und Liebknechts.

90 Einzelblatt o.S. mit der handschriftlich eingefügten Überschrift „Soldaten – Einschub Schnee“. Chor-Text in eckigen Klammern zitiert nach handschriftlichem Einfügungszeichen in der 'Spielfassung'.

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Verratenes Volk Einar Schleef, Zeichnung zu Verratenes Volk

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Zunächst ist die Szene 'Rosa Luxemburgs' im Gefängnis aber auch Bild des politischen Stillstands in Deutschland – im Kontrast zu den gleichzeitig stattfindenden revolutionären Vorgängen in Russland, die von Luxemburg reflektiert werden. Dieses Bild des Stillstands wird in der Inszenierung wiederum gespiegelt an der Kriegsszene des Soldaten-Chors, die Schleef entlang an Dwingers Schilderung eines Raums namenloser, verheerender Gewalt entwickelt. Dwinger stellt die Frage „Für wen?“, die ursprünglich als Frage nach seiner potenziellen Leserschaft eine Frage nach der Verantwortung für die Toten ist. Indem die Inszenierung diese Frage chorisch wiederholt und sie mit der Frage der Luxemburg-Figur nach dem „Warum?“ in Bezug setzt, wird sie dem verquastpatriotischen Kontext, in dem Dwingers Ich-Erzähler sie stellt, entwendet und in direkten Zusammenhang mit Döblins Figur der Rosa und ihrer Reflexion über den Krieg gestellt. Die Frage: Für wen schreibe ich, für welche Leser, wer sind die Überlebenden, wie gehen diese mit der Vergangenheit um, mit Millionen Toten – die auch, in ganz anderer Weise, Döblins November-Roman stellt –,

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Tragödie als Bühnenform wird so zur Frage: Für wen zieht man in den Krieg, für wen stirbt man. In Dwingers SibirischemTagebuch bleibt eine Antwort aus.91 Für „Kaiser und Vaterland“, wie Schleefs Luxemburg-Figur anklagend feststellt? In der frontalen Anordnung der Szene weitet sich der leere Raum der ausbleibenden Antwort auf die chorische Frage auf das ganze Theater aus. Nach dem „Aus. Aus. Alles aus“ der Soldaten stößt in diesen leeren Raum 'Rosa Luxemburgs' Frage „Warum?“ – „Warum dezimiert sich ein Volk freiwillig“ (VV, S. 28).

ROSA UND DIE KALFAKTOR Nach dem Auftritt des Soldaten-Chors, der wie die materialisierte Vision 'Luxemburgs' auf der Szene erscheint, fährt diese in ihrer Reflexion der politischen Situation fort. Während Ende Januar 1918 die Berliner Metallarbeiter für Meinungs- und Versammlungsfreiheit und einen sofortigen Friedensschluss streiken, sind Luxemburg und Liebknecht immer noch wegen 'Antikriegspropaganda' inhaftiert. „Die Massen warten auf ein Zeichen“92. Dieses aber bleibt aus, während die potenziellen Revolutionsführer qua Inhaftierung mundtot gemacht sind. „Uns frisst das Gefängnis“93, so 'Rosa Luxemburg' in Verratenes Volk. Während in Deutschland der Krieg weitergeht, treibt Lenin in Russland die Revolution voran. Wieder folgt der Text der Luxemburg-Figur weitgehend Döblins Erzählung, indem hier insbesondere die Unterkapitel „Lenin macht seine Revolution“, „Hochzeit in der Zelle“, „Ein Gespenst setzt seinen Willen durch“ und „Eine neue Art Mensch muß geschaffen werden“ des ersten Buchs von Band 4 des November-Romans stark gestrafft zitiert werden.94 Mit laut vernehmbaren Schritten betritt Tanja (Nina Hoss), eine Mitgefangene der 'Luxemburg', die Bühne durch die zentral in die rückseitige Holzwand eingelassene Tür. Mit festem, entschlossenem 91 Mit dem Ausbleiben der Antwort scheint Dwingers durchaus ambivalenter Text Die Armee hinter Stacheldraht allerdings die Propaganda des Sterbens 'für Deutschland' in Frage zu stellen. Zwar wird behauptet, dass die Soldaten ('wir') für Deutschland gestorben sind. Dwingers appellativer Text scheint dies jedoch gleichzeitig zu bezweifeln, indem er auf den Skandal einer ausbleibenden Bestätigung dieses 'Grundes' verweist. Somit schreibt sich, nolens volens, in den Text auch ein Hadern mit der Übernahme der Propaganda-Formel 'Für Deutschland' ein. 92 'Rosa Luxemburg' in Verratenes Volk, zitiert nach Aufführungsmitschrift. 93 Zitiert nach Aufführungsmitschrift. 94 NOV4, S. 20ff, S. 29ff., S. 47ff, S. 63ff.

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Verratenes Volk Schritt kommt sie nach vorn, wo sie links neben 'Luxemburgs' Badewanne stehen bleibt. Sie trägt ein eng geschnittenes, ärmelloses, knielanges schwarzes Kittelkleid und schwarze Schuhe, die Haare streng zum Zopf zurückgekämmt. Als „Kalfaktor“95 hat sich Tanja durch Spitzeldienste für die Gefängnisleitung eine seltsame Zwischenposition verschafft, die es ihr ermöglicht, sich zwischen den einzelnen Zellen und Gebäudeteilen zu bewegen. Ihre äußere Erscheinung pointiert sie in der Inszenierung als Gegenfigur zu 'Rosa Luxemburg': zunächst durch das strenge schwarze Kleid im Gegensatz zu dem leuchtend weißen Laken, in den der Körper der Luxemburg-Figur gehüllt ist – dieses markiert als heller Punkt unter der einzigen Lichtquelle der Bühne ohnehin einen Kontrast zum übrigen Bühnenraum. Des Weiteren durch ihre lauten, festen Schritte – im Gegensatz zur Bewegungslosigkeit 'Luxemburgs' auf dem äußersten vorderen Rand der Badewanne –, sowie durch ihre anfänglich harte, stakkatohafte Sprechweise und ihre Sprache, die von kurzen, einfachen Sätzen geprägt ist. Der Dialog der ersten Begegnung der beiden Frauen folgt beinah wörtlich dem Text Döblins, indem auch die sprachlichen Perspektivwechsel der Erzählung, zwischen direkter und indirekter Rede, zum großen Teil übernommen werden: „Ich frage sie nach ihrem Namen“, so 'Luxemburg'. „Tanja“, antwortet diese im Hereinkommen. Es entsteht ein kurzes Gespräch, in dem Tanja, die bei 'Rosa Luxemburg' Lesen und Schreiben lernt, wissen will, was in Büchern steht. Auf 'Luxemburgs' Antwort – „Wie es den Menschen besser gehen soll“ –, stellt Tanja den Sinn solcher Schriften grundsätzlich in Frage: „Woher wollen die Leute, die die Bücher schreiben, wissen, was wir brauchen?“ (NOV4, S. 30) Über die Frage der Notwendigkeit des Schreibens und den behaupteten Bezug der Schriften zu den Bedürfnissen der Menschen gerät die Analphabetin Tanja in schallendes Lachen. Ein vielfaches Echo ihres Lachens ist von der Hinterbühne zu hören. Darauf wird mehrfach der laute Schrei einer Männerstimme hörbar, der Tanjas Namen ruft. Die nicht-sichtbaren Mitgefangenen werden so akustisch vernehmbar auf der Vorderszene vergegenwärtigt. Durch die akustische Vergegenwärtigung des Chors auf der Szene macht die Inszenierung deutlich, dass die temporäre Abwesenheit des Chors auf der Bühne eine rein visuelle ist. Die Szene 'Luxemburgs' im Gefängnis, die auf den ersten Blick dazu verleiten mag, von einem Monolog der Figur zu sprechen, ist gedanklich und strukturell genauso chorisch organisiert wie die gesamte Inszenierung. Dabei definiert der sichtbare Bühnenaus-

95 Bei Döblin: die „Kalfaktorin“. In November 1918 wird die Kalfaktorin Tanja auch als „tragische Maske“ bzw. „tragische Gefangene“ bezeichnet (vgl. NOV4, S. 18, S. 29).

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Tragödie als Bühnenform schnitt, der hier durch die Lichtsituation zudem radikal minimiert ist, nicht die Existenzbehauptung der Figur. Vielmehr korrespondiert allen auftretenden Figuren, insbesondere auch den Einzelfiguren, eine plural strukturierte 'Außenszene', die sich nicht nur hinter, unter und über dem Guckkasten befindet, sondern potenziell im gesamten Theaterhaus – und gedanklich, darüber hinaus, auch außerhalb von diesem, räumlich und politisch an dieses angrenzend. Das Gespräch zwischen den beiden Frauen wechselt immer wieder in den Modus des Berichts, so die 'Spielfassung': „LUXEMBURG: Die Kalfaktor lacht so laut sie kann, beschämt drehe ich mich um, 2 weitere Gefangene lachen, der ganze Hof lacht, alle lachen, die begreifen, warum ihre Kalfaktor lacht, ich nicht, ich bin eine Dumme, eine Intellektuelle. TANJA: Unter den Augen ihrer Mitgefangenen watschelt Frau Luxemburg verärgert herum [...] Sie macht sich Vorwürfe, verhöhnt und verdammt sich: Du verfällst in den Wahnsinn, du verwüstest dich, das sagt sie tatsächlich. [...] Haftpsychose, schimpft sie, ihre Augen starren geradeaus.“ (VV, S. 31)

Nachdem Tanja von den Überlegungen des Anstaltsarztes berichtet hat, 'Rosa Luxemburg' aufgrund ihres Verhaltens auf die Krankenstation zu verlegen, verlässt sie mit lauten Schritten die Bühne.

VISIONEN 2: ROSA UND DER GEIST VON FAUST UND MARGARETHE Wieder allein auf der Szene, imaginiert 'Rosa Luxemburg' ihren toten Geliebten. „Hast du mich so geliebt?“ (VV, S. 31), fragt sie dreimal in den leeren, echolosen Raum. Im folgenden Teil spricht die Protagonistin vom Hadern mit ihrem ambivalenten Gefängnisdasein. Während Döblins Erzählung durch einen beständigen Wechsel der Perspektiven gekennzeichnet ist, ist der Text hier als Rede der Luxemburg-Figur in Ich-Form umgesetzt: „Wie lange soll das dauern. --- Ich übersetze, schreibe Briefe, lese Zeitung, höre vom Männerbau. Meine Freude ist manchmal so gewaltig, ich beiße mir in die Hände, um nicht wahnsinnig zu werden. Tanja lernt bei mir Lesen und Schreiben.“ (VV, S. 31)

An dieser Stelle96 der scheinbar monologischen Erzählung der erfolgt der Auftritt einer weiteren Chor-Figur: Sechs Frauen, gekleidet in schwarze Kittelkleider mit halblangen Ärmeln, angelehnt an das

96 So verzeichnet es eine handschriftliche Eintragung in der 'Spielfassung' der Inszenierung (vgl. VV, S. 31).

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Verratenes Volk Kostüm der Kalfaktor, betreten im Gleichschritt die Bühne, worauf sie nach vorn kommen und jeweils drei von ihnen links und rechts der Badewanne stehen bleiben. Die Frauen lassen sich auf dem Rand der Wanne nieder und beginnen, chorisch den Schluss von Goethes Faust zu sprechen, genauer: die letzte Szene des so genannten 'Urfaust'.97 Die Repliken Fausts sowie auch Mephistos Urteilsspruch am Schluss sind in diesem Zitat der Kerker-Szene komplett gestrichen, so dass nur Margarethe zu Wort kommt. Die gleichzeitig stattfindende Rede der Luxemburg-Figur konfrontiert, qua Zitat einer Antikriegsschrift aus dem Jahr 1916, das politische Schreiben Rosa Luxemburgs mit der Klage über den Tod des Geliebten. Anders als in den vorangehenden Chor-Szenen geht das Sprechen der Einzelfigur hier während des Chor-Einsatzes weiter, so dass sich das chorische Sprechen Margarethes und die Einzelstimme der 'Luxemburg' teilweise überlagern. Diese Aufführungsweise von Chor und Protagonistin unterstützt zum einen eine beständige Verschiebung der Aufmerksamkeit zwischen den beiden Figuren. Zum anderen fordert und befördert das chorische Sprechen, nicht nur aufgrund der Sprachgewalt des Textes, sondern auch aufgrund der großen Bandbreite der Sprechweisen und Stimmmodulationen des Chor-Textes zum großen Teil eine höhere Aufmerksamkeit, so dass die Einsätze der Einzelfigur zumeist in den Hintergrund treten. Der Schluss hebt wiederum die Stimme der Einzelfigur heraus, indem das chorische Sprechen leiser wird – „mir grauts vor dir Heinrich“. 'Rosa Luxemburg' neigt sich nach hinten, so dass ihr Gesicht vom Oberlicht hell erleuchtet ist, und fragt mit lauter Stimme, die dem Satz ein halb ironisches, halb schmerzvolles Pathos zu verleihen scheint: „Und wo bleibt die Revolution, Luxemburg?“ Während der Chor-Text in der mehrfach wiederholten, leise, fast raunend gesprochenen Namensnennung Heinrichs endet, hört man 'Rosa Luxemburg', langsam, betont, mit fester Stimme: „Keine Revolution, keine Partei, keine Musik.“ Nach Ende dieses Satzes steht der Frauenchor in einer abrupten Bewegung auf und verlässt im Laufschritt die Bühne. Zur Dokumentation seien im Folgenden die beiden Texte: Margarethes nach Goethes Faust. Frühe Fassung und 'Rosa Luxem97 Von einem 'Urtext' im Sinne nachgewiesener Autorschaft kann im Fall der nachgelassenen frühen Fassung des Faust nicht die Rede sein, da es sich um die Handschrift des 'Hoffräuleins' Luise von Göchhausen handelt. Aus diesem Grund wird der Text im Folgenden als Faust. Frühe Fassung zitiert. Vgl. dazu den Kommentar-Band der hier verwendeten Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Kommentare. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2005.

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Tragödie als Bühnenform burgs' nach Döblins November 1918 in Schleefs 'Spielfassung' von Verratenes Volk, gegenübergestellt. Die genauen Sprecheinsätze der beiden Figuren sind an dieser Stelle nicht verzeichnet. Das Prinzip der Szene ist jedoch, dass das Sprechen der Textabschnitte jeweils nicht genau 'auf Anschluss', sondern immer ein wenig früher einsetzt, so dass das Sprechen von Chor und Einzelfigur sich bei jedem Einsatz temporär überlagern.98 Faust. Frühe Fassung, Kerker, 99 Margarethe-Chor :

'Spielfassung' Verratenes Volk, 'Luxemburg':

„Meine Mutter die Hur Die mich umgebracht hat Mein Vater der Schelm Der mich gessen hat Mein Schwesterlein klein Hub auf die Bein An einen kühlen Ort, Da ward ích ein schönes Waldvögelein Fliege fort! / Fliege fort! // [laut] Wéh! Wéh! / [leiser] sie kommen. Bittrer Todt! [leise, schnell] Weg! Um Mitternacht! Hencker ist dir’s morgen frühe nicht zeitig gnug. [laut] Erbarme dich mein und laß mich leben! [leise, schnell] Ich bin so iung, so iung, und war schön und bin ein armes iunges Mädgen. Sieh nur einmal die Blumen an, sieh nur einmal die Kron. [laut] Erbarme dich mein! [leise, schnell] Was hab ich dir gethan? Hab dich mein

„Wie lange soll das dauern. --Ich übersetze, schreibe Briefe, lese Zeitung, höre vom Männerbau. [Chor-Auftritt] Meine Freude ist manchmal so gewaltig, ich beiße mir in die Hände, um nicht wahnsinnig zu werden. Tanja lernt bei mir Lesen und Schreiben. [Beginn Chor-Text] In Deutschland ist alles still nach den Januarunruhen. Wenn man mir Urlaub geben würde. Ich stelle einen Antrag, umsonst. Man weiß, daß ich viel liege, dauernd kränkle. Ich soll in meiner Zelle schmoren, bis Deutschland die Welt unterworfen/besiegt hat. Morgen werde ich 48 Jahre. Am Vorabend meines

98 Die Repliken Fausts, die in der Inszenierung Schleefs wegfallen, sowie die szenischen Anweisungen sind nicht zitiert. Sofern der Text Margarethes im Verhältnis zur angegebenen Quelle von Schleef gekürzt wurde, ist dies mit * vor dem gestrichenen Text gekennzeichnet. Angaben zu szenischen Geschehnissen, Tempo und Lautstärke des Sprechens in eckigen Klammern: C.S. Betonungs- und Zäsurzeichen (C.S.) wie üblich. 99 Margarethe erscheint in der zitierten Textausgabe immer abgekürzt als 'Margr.'. Zur Problematik des Namens der Figur vgl. den Kommentar von Albrecht Schöne in: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Kommentare. A.a.O., S. 192ff. 100 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. Kerker, V. 4ff. Mit den angegebenen Abweichungen zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2005, S. 535ff.

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Verratenes Volk Tage nícht gesehn. // Síeh / dás / Kínd! / Muss ich’s doch träncken. Dá hatt / ich’s / eben! Dá! [schnell] Ich habs getränckt! Sie nahmen mirs, und sagen ich hab és umgebracht, und singen / Liedger / auf mich! / – [langsam] És íst nícht wáhr – / [schneller] es ist ein Märgen das sich so / endigt, / es ist nicht auf mich daß Sie’s / singen. Wó / íst / ér! / Ich hab íhn rufen hören! er rief / Grétgén! / Er rief mír! / [laut] Wó / íst / ér? / Ach durch all das Heulen und Zähnklappen erkenn ich ihn, er ruft mir: / Grétgén! / Mánn! Mánn! Gieb mir ihn schaff mir ihn! [laut] Wó / íst / ér? [leise] Küsse mich! Küsse mich! [leise, schnell] Küsse mich! Kannst du nicht mehr küssen? Wie! Was! Bist mein / Heinrich und hast’s Küssen verlernt! Wie sonst / ein ganzer / Himmel mit deiner Umarmung über mích / eindrang. Wie du küsstest, als wolltest du mich in wollüstigem Todt ersticken. / Heinrich küsse mich, sonst k´üss / ích / dích / Wéh! // [leise] Heinrich / bist / du’s? Ich / begreiffs nicht! Du? Die Fesseln los! Befreyst mich. Wen / befreyst du! Weist du’s? [schnell] Meine Mutter hab ích umgebracht! Mein Kind hab ích ertränckt. Dein Kind! / [leise] Heinrich! – Groser Gott im Himmel soll das kein Traum seyn! Deine Hand Heinrich! – Sie ist feucht – Wische sie ab ich bitte dich! Es ist Blút dran – [schnell, mehrmals wiederholend] Stecke den Degen ein! Mein Kopf ist verrückt. // Néin / du sollst ´überbleiben, / ´überbleiben von allen. Wer sorgte für die Gräber! So in eine Reihe ich bitte dich, neben die Mutter den Bruder dá! Mich dáhin und mein Kleines an die rechte Brust. Gieb mir die Hand drauf dú bist méin Héinrich. Dá / hinaus.

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Geburtstages sitze ich im Dunkeln auf der Bettkante. Resümee des vergangenen Jahres, Perspektive für die Zukunft: Keine Partei, keine Revolution, kein Leben, nur die Zelle, das Grab, das Zugrundegehen. Sieh dich um, das ist alles was wir haben. Ich habe dich ermordet, zugelassen, daß du gingst, keinen Augenblick angenommen, daß du fällst. An alles mögliche gedacht, an 100 000 Anonyme, ihretwegen schrieb ich gegen den Krieg, an dich habe ich nicht gedacht. Der Wahnwitz des Krieges wird erst aufhören, der blutige Höllenspuk verschwinden, wenn die Arbeiter in Deutschland, Frankreich, in England und Rußland endlich aus ihrem Rausch erwachen, einander brüderlich die Hände reichen und den bestialischen Chorus der imperialistischen Hymnen überdonnern mit dem alten Schlachtruf: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Das schrieb ich 16 in einer anderen Zelle, die Masse feierte mich, das Pathos dröhnte. Ekelhaft. Schreckliche Kälte. Ich wußte immer, was den anderen fehlt. Ist er da, hatte ich keine Sorge mehr um mich. Sie haben dich totgeschlagen. Sie rächen sich an mir. Ich bin nicht tot genug im Gefängnis. Sie schlachten dich ab und schicken meine Briefe zurück. Mit geschlossenen Augen schluchze ich so laut, bis man nebenan klopft. Morgens Kaffeesuppe schlucken. Ich bin eine Kriegerwit-

Tragödie als Bühnenform [schnell] Dá hinaus! Nicht um die Welt. Ist das Grab draus, komm! Lauert der Todt! komm. [langsam] Von hier in’s ewige Ruhe Bett weiter nicht einen Schritt. Ach Heinrich könnt ich mit dir in alle Welt.* Ums Leben nicht – Siéhst dú’s záppeln! Rette den armen Wurm er zappelt noch! – [schnell] Fort! geschwind! Nur übern Steg, gerad in Wald hinein links am Teich wo die Planke steht. Fórt! rétte! rétte! [schnell] Wären wir den Berg vorbey, da sizzt meine Mutter auf einem Stein und wackelt mit dem Kopf! Sie winckt nicht sie nickt nicht, ihr Kopf ist ihr schweer. [langsamer] Sie sollt schlafen daß wir könnten wachen und uns freuen beysammen.* // [laut] Tág! / Es wird Tág! / der lezte Tág! / der Hochzeit Tág! / – [leiser] Sags niemand dass du die Nacht vorher bey Gretgen warst. – Mein Kränzgen! [Schrei] – [leiser] Wir sehn uns wieder! – [schneller] Hörst du die Bürger schlürpfen nur über die Gassen! Hörst du! Kein lautes Wort. / Die Glocke rúft! – [sehr laut] Kráck / das Stäbgen bricht! – Es zuckt in iedem Nacken die Schärfe die nach meinem zuckt! – / Die Glocke h´ör.* [leise] mir grauts vor dir Heinrich. [leise, mehrfach wiederholend] Heinrich! Heinrich!“100

we. Nein, die Sitzengelassene eines Eisernen Kreuzes. Sie ermorden dich und lassen mich leben. Tod. Was für ein Wort. Ich habe dich. Wer soll dich mir wegnehmen. Was geht uns das Wort an? Und wo bleibt die Revolution, Luxemburg? Keine Revolution, keine Partei, keine Musik.“ (VV, S. 31f.)

Anfang 1918 sitzt Rosa Luxemburg wegen 'Antikriegspropaganda' nach zahlreichen vorangegangenen, teilweise jahrelangen Haftstrafen im Breslauer Frauengefängnis mit zeitlich ungewissem Ausgang.101 Diese Situation der durch permanente Inhaftierung verhinderten Politikerin wird von Döblins Rosa im vierten Band des November-Romans aufgegriffen. Unter dem Titel „Im Gefängnis“ schildert das erste Buch des vierten Bandes aber nicht nur die poli101 Zwischen Februar 1915 und November 1918 war Rosa Luxemburg fast ununterbrochen inhaftiert, zunächst verurteilt zu einem Jahr Zuchthaus wegen eines Aufrufs zur Kriegsdienstverweigerung 1914, anschließend in so genannter 'Schutzhaft'. Am 9. November 1918 wurde sie aus dem Breslauer Gefängnis entlassen.

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Verratenes Volk tischen Reflexionen 'Rosas', insbesondere ihre Auseinandersetzung mit Lenins Revolution, sondern auch ihre 'Visionen', die 'Geistererscheinungen' ihres toten Freundes, den die Erzählung 'Hannes'102 nennt. Diese teils wie Traumsequenzen aus der Perspektive der Träumenden, teils wie Selbstgespräche aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters dargestellten Szenen, die der Anstaltsarzt in Döblins Text als „Hysterie“ (NOV4, S. 61) diagnostiziert, schwanken nicht nur in der Erzählperspektive. Auch die Orte der Erzählung wechseln filmschnittartig zwischen Gefängniszelle und fantastischen Orten – so zum Beispiel in der „[g]eheimnisvollen Weltreise“ und der „Wunderfahrt durchs Eismeer“ (NOV4, S. 69, S. 78), die 'Rosa' mit dem 'Gespenst' unternimmt. 'Rosas' politische Reflexionen über Krieg und Revolution werden immer wieder von diesen zwischen Traum, Vision und Wahnvorstellungen schwankenden Erscheinungen unterbrochen. Mal schweift ihr Blick über die imaginierten Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, dann steigt aus der Vorstellung der Millionen anonymer Toter das Bild des gefallenen Freundes auf, das sich als Erscheinung des Toten in der Zelle selbst verselbständigt. In Döblins Text ruft 'Rosa' diesen selbst herbei, nicht ohne sich ob ihrer 'Haftpsychose' zu beschimpfen, so nach einem Gespräch mit Tanja, die im Wechsel der Perspektiven immer wieder die Außenwelt, den 'realen' Gefängnisalltag verkörpert. An dieser Stelle wird in dem Kapitel „Hochzeit in der Zelle“ die Sogwirkung des imaginierten Dialogs mit dem Toten wie folgt beschrieben: „[S]ie dachte an ihre Zelle, und – schon war sie wieder wie eine Säuferin, die an ihrer Kneipe vorbeigeht. Sie mußte hinein. Es war ein solch heftiger Drang; nicht zu widerstehen. [...] Sie witterte, sie würde sich wieder mit 'ihm' einlassen. Und sie tat es schon, bevor sie die Zelle erreicht hatte. Sie machte sich noch Vorwürfe, verhöhnte und verdammte sich: 'Du verfällst dem Wahnsinn, Rosa; du verwüstest dich.' Aber alles obenauf. Unterirdisch stritt sie schon mit 'ihm' und steckte bis über den Kopf in einer hitzigen Debatte mit ihm. 'Haftpsychose', schimpfte sie, aber ihre Augen starrten geradeaus.“ (NOV4, S. 30)

102 Die Figur des Hannes bezieht sich auf Rosa Luxemburgs engen Freund Hans Diefenbach, der als Militärarzt im Oktober 1917 an der Westfront ums Leben kam. Von ihrer Freundschaft zeugt ein intensiver Briefaustausch, insbesondere von 1914 bis zum Tod Diefenbachs 1917. Vgl.: Rosa Luxemburg, Briefe aus dem Gefängnis. Berlin: Karl Dietz, 2000 (16., erweiterte Auflage); Rosa Luxemburg, Briefe an Freunde. Nach d. von Luise Kautsky fertiggestellten Manuskript hrsg. von Benedikt Kautsky. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1986.

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Tragödie als Bühnenform Darauf erscheint in der Erzählung ein weiteres Mal der Tote, der von sich selbst als „wir Gefallenen“ (NOV4, S. 32) spricht. Die gestaltlose Stimme ist eine zwiespältige Figur, einerseits unabhängig von Verkörperung und damit auch überzeitlich und ungebunden an die Rosa zugemessene enge Räumlichkeit, andererseits 'lechzend' nach dem verlorenen Körper.103 Diese Ambivalenz zeichnet auch die phantasmatische Beziehung zwischen Rosa und dem Toten, der mal als (eifersüchtiger) Liebender auftritt, mal als (gewaltsam) Fordernder, Rache verlangend oder Rosa seinen Willen aufzwingend, so dass sie, wie in der grotesken Verkleidungsszene im Kapitel „Ein Gespenst setzt seinen Willen durch“, ihres Tuns enteignet erscheint.104 Die oben zitierte, von 'Rosa' reflektierte Einleitung der nächsten Gespenstererscheinung, geht der Szene voraus, die in Döblins Erzählung mit „Hochzeit in der Zelle“ überschrieben ist. Wieder zitiert die Inszenierung die Vorlage teilweise wörtlich, zieht jedoch den Text extrem zusammen. 'Spielfassung' Verratenes Volk:

Döblin, November 1918:

„LUXEMBURG Hast du mich so geliebt? LUXEMBURG Wie lange soll das dauern. --- Ich übersetze, schreibe Briefe, lese Zeitung, höre vom Männerbau. [...] Tanja lernt bei mir Lesen und Schreiben. In Deutschland ist alles still nach den Januarunruhen.“ (VV, S. 31)

„Hast du mich so geliebt, Hannes?“ (NOV4, S. 31) „[S]ie arbeitete in alter Weise über ihren Büchern und übersetzte“ (NOV4, S. 34). „Tanja lernte bei Rosa die Anfangsgründe von Lesen und Schreiben“ (NOV4, S. 43). „In Deutschland war alles still nach den Januarunruhen.“ (NOV4, S. 33)

103 Vgl. NOV4, S. 36f. 104 Vgl. NOV4, S. 47, insbesondere S. 54ff. Nach einem halluzinierten Dialog mit dem 'Gespenst' beschließt Rosa, um dieses zu „blamieren“ (ebd., S. 56), sich 'Männersachen', genauer: eine Uniform zu beschaffen, um der Drohung Hannes’, die Zelle in Verkleidung zu verlassen, zuvorzukommen. Döblin schildert diese Szene, in der die 'Hysterikerin' verdinglicht wird – beschrieben als „Unikum“, „Geschöpf“, „Monstrum“, „Unwesen“ (ebd., 58ff.) –, mit ironischer Distanz, wie eine Burleske. Aufgrund dieser Szene der Maskerade diagnostiziert der Anstaltsarzt Rosa „große Hysterie“ (ebd., S. 61) und droht damit, sie ins Irrenhaus zu verlegen.

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Verratenes Volk In Döblins Erzählung imaginiert sich 'Rosa', nachdem ein Antrag auf einige Tage Hafturlaub abgelehnt wurde, im Herausholen eines Geschenks ihres Freundes, den Toten in ihre Zelle. „Das Signal für die Geisterstunde war gegeben. [...] Sie sträubte sich nicht mehr. Sie spekulierte nicht mehr über 'Wahnideen', 'fixe Ideen', 'Halluzinationen' und so weiter [...]. Still saß sie am Vorabend ihres Geburtstages im Dunkeln auf der Bettkante neben ihrem Stuhl. So saß sie, die Verlassene. Resümee des vergangenen Jahres, Perspektive für die Zukunft: keine Partei, keine Revolution, kein Leben, nur die Zelle, das Grab und das Zugrundegehen.“ (NOV4, S. 33f.)

An diesem Tag schlägt sie dem 'Gespenst', das sie zum Geburtstag besucht, ihre Hochzeit vor: „Ich habe beschlossen, Hannes: Wir vermählen uns. Wir feiern Hochzeit, heute.“ (NOV4, S. 34) Anstelle der Geistererscheinung in Döblins Erzählung tritt in Schleefs Inszenierung der Frauenchor mit dem Text der Margarethe aus der letzten, der Kerker-Szene des Faust – hier: der Frühen Fassung – auf. Statt des Heiratsantrags, den Döblins Rosa ihrem abwesenden, imaginierten Freund macht, steht in der Faust-Szene, die die Inszenierung zitiert, die Ankündigung einer Hochzeit am 'letzten Tag', den Margarethe gerade für sich angebrochen glaubt: „Es wird Tag! der lezte Tag! der Hochzeit Tag!“105 Diese Hochzeitsankündigung ergeht von der anscheinend wahnhaft umnachteten Margarethe an den mit teuflischer Hilfe zu ihrer Befreiung in den Kerker geeilten Faust.106 Dieser jedoch ist in Verratenes Volk genau so abwesend wie der von Döblins Rosa-Figur imaginierte Geliebte Hannes. Während Margarethe bereits in Goethes Kerker-Szene den dort anwesenden Faust kaum mehr wahrzunehmen scheint, vermag die Abwesenheit der Faust-Figur in der entsprechenden Szene in Verratenes Volk umso radikaler die Einsamkeit und Verlassenheit 'Luxemburgs' im Gefängnis zu spiegeln. Schleefs Faust-Zitat steht wiederum in engem Zusammenhang mit Döblins November-Roman. So enthält dieser, insbesondere das erste Buch des vierten Bandes und dort vor allem mit Bezug auf die durch Krieg und Gefängnis verhinderte Liebesbeziehung 'Rosas', zahlreiche weitere Anspielungen auf Faust. Im Kapitel „Geheimnis-

105 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. Kerker, V. 87. A.a.O., S. 539. 106 Allerdings erscheint auch die Sprechrichtung Margarethes in dieser Szene, aufgrund des von Goethe gezeichneten Wahns der Figur, mindestens sprunghaft, wenn nicht völlig unklar. So fragt etwa Margarethe mitten im 'Dialog' mit Faust, wie um sich ihrer Wahrnehmung zu versichern: „Heinrich, bist du’s?“ (Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. V. 48. A.a.O., S. 537).

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Tragödie als Bühnenform volle Weltreise“ zitiert 'Rosa' Margarethes besonders durch die Vertonung Schuberts berühmte Verse „Meine Ruh’ ist hin“ aus der Szene „Gretchens Stube“. Döblin, November 1918, Rosa: Goethe, Faust I, Gretchen: „Wo ich dich nicht hab’, ist mir das Grab, die ganze Welt ist mir vergällt.“ (NOV4, S. 73)

„Wo ich ihn nicht hab’ / Ist mir das Grab, / Die ganze Welt / Ist mir vergällt.“107

Ein weiterer Verweis auf das Faust-Motiv mag in 'Rosas' Aussage „Ich habe zwei Seelen“ (NOV4, S. 37) liegen, womit die Protagonistin im Kapitel „Hochzeit in der Zelle“ dem imaginierten Geliebten ihre Auseinandersetzung mit den Geistererscheinungen des Toten beschreibt. Die hier von 'Rosa' erwähnte Gespaltenheit mag auch auf die externalisierte Figur des Satan verweisen, die nicht nur in Schleefs Entwürfen zu Verratenes Volk, sondern auch in Döblins Erzählung in vielgestaltiger Form auftritt. So unternimmt 'Rosa', wiederum mit Verweis auf Miltons Erzählung vom Verlorenen Paradies und dessen Lektüre durch 'Karl', an späterer Stelle einen Nachtflug mit 'Satan' im gleichnamigen Kapitel in Band 4. Im Gespräch mit 'Rosa' stellt Satan sich hier als großer Widersacher Gottes vor, der sich im 'Kampf um den Menschen' an 'Rosa' als Bundesgenossin wendet. Die Erzählung der Paradiesvertreibung proklamiert Satan als „Propaganda“: „[D]ie Dinge liegen anders. Die Menschen sind gar nicht aus dem Paradies vertrieben worden. Sie sind von selbst gegangen. Sie hatten genug von der Bevormundung.“ (NOV4, S. 384) In der Nachtflug-Szene tritt die Figur des Satan als Aufklärer auf, der seine „armen unterdrückten Brüder und Schwestern“ (ebd.) befreien wolle. Sein Vorwurf an Gott lautet Machtmissbrauch, Unterdrückung und Verdummung der Menschen, insbesondere durch die 'propagandistische' Erzählung vom verlorenen Paradies. Satan inszeniert sich in nietzscheanischer Pose, wenn er sich gegenüber 'Rosa' als quasi antitragischer Neinsager profiliert. Zwar sei ihm vieles auf seinem Feldzug für die Befreiung der Menschen von der Gotteslüge nicht geglückt, aber „ich tue ihm nicht den Gefallen zu klagen. Nach jeder Niederlage sage ich noch schärfer 'nein'“ (NOV4, S. 385). Nach 'Rosas' Zustimmung zu seinem Programm – „Du bist mein Blut“ (ebd.) –, rät Satan ihr zu einer Politik der Stärke und des Antiillusionismus: „Mach dich und die Menschen hart, trotzig, stählern. [...] Zerstöre ihre albernen Illusio107 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragödie. V. 3378ff. In: Ders., Faust. Texte. Hrsg. von Abrecht Schöne. A.a.O., S. 146. Wortgleich in der Szene „Gretgens Stube“ in: Faust. Frühe Fassung. V. 1070ff., a.a.O., S. 518.

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Verratenes Volk nen von Frieden und Harmonie [...]. Zeige ihnen, was ein Mensch ist, was Menschenwürde heißt, was den Menschen zum Menschen macht: sein Stolz, seine Klugheit, seine Kraft. [...] Geh in Hochschulen, lobe den Scharfsinn, [...] lobe die Wissenschaft.“ (NOV4, S. 385f.) Mit seinen Empfehlungen für ein kriegerisches Dasein, für das Begehren zum Wissen, aber auch das Aussieben der Schwachen, was wiederum an Nietzsches ambivalente Ankündigung der schrecklichsten Kriege in Ecce homo erinnert, endet bei Döblin der nächtliche Teufelsflug 'Rosas'. Eine weitere Faust-Anspielung in Döblins Text, stellt mit Blick auf die Inszenierung einen engen Bezug zwischen 'Rosas' „Hochzeit in einer Zelle“ und Margarethe im Kerker her. In der imaginierten Hochzeitsszene zwischen 'Rosa' und dem Geist wird ein Kuss als Berührung 'Rosas' mit dem Tod, respektive Vorankündigung ihres eigenen Todes beschrieben: „Etwas Eisiges berührte ihre Lippen“, heißt es dort, worauf 'Rosa' lakonisch konstatiert: „Hannes, oh bist du kalt.“ Auf ihre Nachfrage, ob diese Eiskälte ein Merkmal des Todes sei, antwortet der Geist im Verweis auf seinen eigenen, fortwährenden Tod: „Das ist die Steppe, Rosa, wo ich fiel, die russischen Schneefelder.“ (NOV4, S. 36)108 Eine Kussszene mit dem Beigeschmack tödlicher Kälte ereignet sich auch zwischen Faust und Margarethe in der letzten Szene des Faust: „Weh! deine Lippen sind kalt! Todt!“109 Verratenes Volk inszeniert den Ausruf „Weh!“ Margarethes als lauten Klageschrei des Frauenchors. Beinahe bedrohlich wirkt die Chor-Figur hier durch die sich in Lautstärke und Akzentuierung steigernde Sprechweise der mehrfachen Kussaufforderung Margarethes. Unter Weglassung der Repliken Fausts klingt die vierfache Aufforderung zum Kuss im Textzusammenhang der Szene auf dem Theater wie folgt: „Mánn! Mánn! Gieb mir ihn schaff mir ihn! [laut] Wó / íst / ér? [leise] Küsse mich! Küsse mich! [leise, schnell] Küsse mich! Kannst du nicht mehr küssen? Wie! Was! Bist mein / Heinrich und hast’s Küssen verlernt! Wie sonst / ein ganzer / Himmel mit deiner Umarmung über mích / eindrang. Wie du küsstest, als wolltest du mich in wollüstigem Todt ersticken. / Heinrich küsse mich,

108 Zugleich verweist hier der Geist, dessen alter ego Hannes wenige Monate zuvor an der Westfront umgekommen ist, wie es wenig später heißt, auf seine überindividuelle Existenz, auf den millionenfachen Tod, der nicht auf einen Ort begrenzt ist, sondern auf unzähligen, endlosen Feldern zur selben Zeit stattfindet. 109 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. Kerker, V. 45. A.a.O., S. 537.

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Tragödie als Bühnenform sonst [laut] k´üss / ích / dích / [sehr laut] Wéh! //“110*

In der von Schleef verwendeten Frühen Fassung des Faust wird der Kuss als beinahe omophagischer Übergriff Margarethes beschrieben. Die szenische Anweisung zu Margarethes Kuss lautet dort: „sie fällt ihn an“111. Demgegenüber wird der entsprechende Text in Faust I wesentlich abgemildert beziehungsweise getilgt, so heißt es dort stattdessen: „Sie umfaßt ihn.“112 In Schleefs Inszenierung entfällt der Kuss Margarethes ebenso wie die Anwesenheit der FaustFigur. Stattdessen erfährt die Figur der Margarethe eine klangliche Potenzierung durch die Vervielfältigung der Stimmen. Die chorische Potenzierung der Margarethe-Figur, die hier als Vision 'Luxemburgs' auf der Bühne steht, kann unter dem Gesichtspunkt von Schleefs Auseinandersetzung mit dem Faust-Stoff als doppelte Revision einer Entwicklung des modernen deutschsprachigen Theaters gelten, die Schleef als 'drückende Erblast' der deutschen Klassik begreift: den Verlust des so ihm so benannten 'tragischen Bewusstseins'.113 Die in Droge Faust Parsifal entwickelte These vom Zusammenhang zwischen dem Verschwinden des tragischen Bewusstseins und der Vertreibung der Frauenfiguren aus dem zentralen dramatischen Konflikt seitens der deutschen Klassiker analysiert Schleef vor allem an Goethes Faust und dort insbesondere an der Figur der Margarethe. Diese erfahre, nicht nur bezüglich des Anteils der Szenen, sondern auch hinsichtlich ihrer Dimension im Verlauf von Goethes Arbeit am Faust-Stoff, explizit im Unterschied zwischen der von Schleef in Verratenes Volk ver110 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. Kerker, V. 33ff. A.a.O., S. 536f. 111 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. V. 45. A.a.O., S. 537. 112 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragödie. Nach V. 4497. A.a.O., S. 195. 113 So schreibt Schleef im Vorwort zu Droge Faust Parsifal, „die Verdrängung der Frau und die Verdrängung des Chores“ hingen „engstens mit der Vertreibung des tragischen Bewußtseins zusammen[], so als wäre das tragische Bewußtsein, wenn es die Szene wieder beträte, Domäne der Frau [...]. Den Platz, den die antiken Autoren der Frau noch einräumen, d.h. ihrer ausführlich dargestellten Besiegung, dieser Platz wird ihr von den deutschen Klassikern weitgehend verweigert. Drückende Erb-Last, daß Chor, Chor-Gedanke, Chor-Einigung nach Auffassung der deutschen Klassiker Männersache sind. [...] Die Einigung zu einem Chor, die Definition als Chor, auch wenn dieser nach Shakespeare individualisiert ist, setzt in bürgerlicher Auffassung den Ausschluß der Frau voraus, da sie die Drogeneinnahme stört.“ (DFP, S. 9)

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Verratenes Volk wendeten Frühen Fassung und der späteren Fassung des Faust I114, eine Reduktion, so Schleef. Dies wird auch in der oben zitierten Stelle der Kerker-Szene bezüglich des Kusses deutlich. Mit Blick auf die von Schleef konstatierte inhaltliche Bedeutungsverschiebung der Figur respektive die Reduktion der Figurendimension schreibt er in Droge Faust Parsifal: „Das Verhältnis von Margarethes Monolog-Szenen und den Szenen, in denen sie ohne Faust gezeigt wird, verändert sich in der Umarbeitung von URFAUST zu FAUST 1 entschieden. War Margarethe die zentrale weibliche Figur, die zentrale Auseinandersetzung, ist sie nun eine Etappe in Fausts 'Studienreise'. Dem dient auch die Umdichtung der KERKER-Szene, die Margarethe in Fausts Studienobjekte einreiht. Anders URFAUST, dort ist die Szene 'realistischer' Schlußstein, in der sich Margarethe dem Gottesgericht gegenüber wähnt, ihrem Henker und seinem Helfershelfer, umgekehrt steht Faust vor seiner Richterin, die sich in ihr 'Ende' zurückzieht, sich einigelt, ihn so dem Teufel überantwortet. SZENEN EINER EHE, in der beide Partner in der Hölle landen, so URFAUST.“ (DFP, S. 41)

Schleefs hier an Faust explizierte Analyse der von den deutschen Klassikern geprägten Theaterauffassung geht dahin, die an den antiken Vorbildern arbeitenden Texte auf ihre inhärenten Widersprüche zu untersuchen, indem er auf gleichsam archäologische Weise ihren verdrängten Dimensionen nachspürt. So auch der der Kindsmörderinnen-Figur Margarethe, deren bedrohliche und beängstigende Aspekte von einer – bis heute – marginalisierenden, weil verniedlichenden Interpretationstradition tendenziell verschüttet werden. Denn, so Schleef im Anschluss an seine Elektra-Analyse: „Noch in Margarethe wühlt Elektra, noch in dem deutschen Biedermädchen, das seine Mordpläne geradewegs, zielstrebig und erfolgreich verfolgt, sodaß eine zu interpretierende 'Reue' erst aufkommt, als sie aus dem Todesbereich herausgerissen wird, hinübergezerrt, zurück ins Leben, das sie aufgegeben hat, auch darin mit Elektra einig. Margarethe hat sich emanzipiert, hat gemordet, hat das nicht dem Mann überlassen, sondern hat von seiner Kenntnis profitiert, konnte sich auch ohne ihn behelfen. Eher wirkt ihr Zusammentreffen mit Faust, als würde sie dümmer, würde ihre Mord-

114 Umstritten ist allerdings hinsichtlich der Quellenforschung, inwiefern von 'Änderungen' im Verhältnis der Frühen Fassung zu Faust I überhaupt zu sprechen ist, oder ob – gerade im Hinblick auf die nicht autorisierte Frühe Fassung in der Handschrift von Göchhausens – nicht vielmehr von zwei von einander unabhängigen, eigenständigen Faust-Texten die Rede sein muss. Vgl. dazu die Anmerkungen des Herausgebers der vorliegenden Textausgabe in: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Kommentare. Hrsg. von Albrecht Schöne. A.a.O. Insbesondere S. 65ff. sowie S. 825ff.

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Tragödie als Bühnenform lust gebremst, nähme sie die gewisse Duckhaltung an wie eine Henne vor ihrer Besteigung. Im Töten ist sie erfahrener als Faust, sicherer, hat weniger Skrupel.“ (DFP, S. 267)

Diese Dimension der Margarethe-Figur wird nach meiner Auffassung in der Chor-Fassung der Kerker-Szene in Verratenes Volk besonders herausgestellt, insbesondere auch im Hinblick auf die Abwesenheit der Figuren Faust und Mephisto. Mit der Verurteilung durch den Letzteren endet das Stück in der Frühen Fassung des Faust. „Sie ist gerichtet!“, heißt es da, bevor Mephisto mit Faust „verschwindet“. Nachdem die von Faust geöffnete Tür ihrer Zelle zugefallen ist, ist nur die Stimme Margarethes noch leise, „verhallend“ zu hören: „Heinrich! Heinrich!“115 Im Gegensatz zu Faust I gibt es in der Frühen Fassung keine Revision des mephistophelischen Urteilsspruchs durch eine „Stimme von oben“.116 Anders als in Faust I hat sich Margarethe hier auch nicht ausdrücklich dem „Gericht Gottes“117 überantwortet.118 In der Szenenfassung von Verratenes Volk gibt es weder Verurteilung noch Rettung. Schleef betont mit der alleinigen szenischen Präsenz Margarethes die tragische Dimension der Figur. Durch den Wegfall der Verurteilung seitens der mythischen, anachronistischen Teufelsfigur des Mephistopheles, dessen Existenz in der Frühen Fassung des Faust noch vollkommen unerklärt ist, sowie durch den Wegfall der metaphysischen Rettung, die in Faust I einen Ausblick auf eine postmortale Vergebung darstellt, bleibt Margarethe in der Textfassung der Inszenierung allein im Kerker zurück, dem gewaltsamen nahen Tod durch den Henker ausgesetzt. Das Einzige, was hier noch kommen kann, ist die ganz reale Bedrohung durch das Beil, auf die Margarethe kurz vor Ende der Szene anspielt. – Auf dem Theater hebt dies die Sprechweise des Chors durch Steigerung

115 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. V. 103ff. A.a.O., S. 539. 116 Die entsprechende Stelle lautet in Faust I: „Mephistopheles: Sie ist gerichtet! / Stimme von oben: Ist gerettet! / Mephistopheles zu Faust: Her zu mir! / Verschwindet mit Faust. Stimme von innen, verhallend: Heinrich! Heinrich!“ (Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragödie. V. 4611ff. A.a.O., S. 199). 117 Faust I: „MARGARETHE: Gericht Gottes! Dir hab’ ich mich übergeben!“ (Johann Wolfgang Goethe, Faust. Eine Tragödie. V. 4605. A.a.O., S. 199). 118 Diesen Verlust an inhaltlicher Radikalität der Frühen Fassung des Faust hat Einar Schleef in Droge Faust Parsifal auch an Goethes sprachlicher Bearbeitung des Faust-Stoffs analysiert, insbesondere an der Transformation der Kerker-Szene von Prosa in Versfassung (vgl. DFP, S. 79, S. 317).

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Verratenes Volk der Lautstärke, Zäsurierung und vor allem durch die extreme Akzentuierung der Konsonanten hervor: „Die Glocke rúft! – [sehr laut] Kráck / [leiser] das Stäbgen brícht! – Es zuckt in iedem Nacken die Schärfe die nach meinem zuckt! – / Die Glocke h´ör.“119

Durch die Akzentuierung der Konsonanten und die gesteigerte Lautstärke wird das kurze, fast nur aus Konsonanten bestehende Wort „krack“, mit dem Margarethe auf onomatopoetische Weise die Besiegelung ihres Todesurteils beschreibt, besonders unterstrichen: Mit der Geste des Stabbrechens, auf die Margarethe hier anspielt – „das Stäbgen bricht“ –, zeigt der Richter der Öffentlichkeit im Gerichtsprozess an, dass der Beschuldigte sein Leben verwirkt hat und zum Tod verurteilt ist.120 Auch 'Rosa Luxemburg', als deren traumhafte Vision der Margarethe-Chor in Verratenes Volk auftritt, wähnt sich in ihrer aussichtslosen Haftsituation dem Tod nah. So beschreibt sie in ihrem Text, der dem der Margarethe-Figur parallel gesetzt ist, ihre Zelle als „Grab“: „Keine Partei, keine Revolution, kein Leben, nur die Zelle, das Grab“ (VV, S. 31f.). Die Inszenierung setzt die Todesahnungen der beiden Figuren beziehungsweise die Ahnungen des real herannahenden Todes parallel, so dass die tragische Dimension der Luxemburg-Figur an der der Margarethe gespiegelt wird.

ROSA UND DIE REVOLUTION. VON DER PROTAGONISTIN ZUM CHOR Der letzte Abschnitts dieses Teils der Inszenierung, der die Protagonistin exponiert, kann formal wie inhaltlich als Übergangsszene begriffen werden. Schon in den vorangehenden Szenenabschnitten werden die Träume und Visionen der Luxemburg-Figur, verknüpft mit der Frage nach politischer und persönlicher Schuld, so umgesetzt, dass die inhärente Vielstimmigkeit der protagonistischen Figur, im chorischen Auftritt der Soldaten sowie in der MargaretheSzene, nach außen tritt. Der Fokus der Aufmerksamkeit bleibt jedoch hier, insbesondere in räumlich-visueller Hinsicht, auf die Einzelfigur zentriert. Die Protagonistin behauptet ihren szenischen Ort in der Mitte der Vorderbühne – „die Zelle, das Grab“ –, der sich durch die mittels Licht hergestellte Fokussierung auf die Badewanne einerseits als sehr eng, räumlich begrenzt kennzeichnet, ande119 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. V. 91ff. A.a.O., S. 539. 120 Vgl. Kommentar und Literaturverweis zu dieser Stelle von Albrecht Schöne in: Johann Wolfgang Goethe, Faust. Kommentare. A.a.O., S. 914.

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Tragödie als Bühnenform rerseits durch die Lichtsituation extrem vom Hintergrund, dem gesamten Umfeld der restlichen, im Dunkeln liegenden Bühne absetzt. Zusätzlich betont durch das Kostüm, das weiße Laken, das ihren Körper eher bedeckt als bekleidet, bildet die Gestalt der einzelnen Schauspielerin einen extremen Kontrast nicht nur zur räumlichen Umgebung der Szene, sondern auch und gerade zu den übrigen auftretenden Figuren und Chöre. Im Folgenden jedoch öffnet sich die Szene in zweierlei Hinsicht: Inhaltlich wechselt die Perspektive mehr und mehr von der Fokussierung auf die Protagonistin zur polyperspektivischen Erzählung der revolutionären Ereignisse – womit auch die Bewegung des vierten Bandes von Döblins November-Roman nachgezeichnet wird. Mit der thematischen Konzentration der Inszenierung auf den Beginn der Revolution 1918 tritt der Chor in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Formal bedeutet dies auch eine räumliche Öffnung der Szene: Mit dem Auftreten der größeren und zahlreichen Chorformationen wird zunehmend auch der hintere Teil der Bühne bespielt sowie die Vorderbühne in ihrer ganzen horizontalen Ausdehnung. Dies spiegelt sich ebenso in der veränderten Lichtsituation. Das Licht fokussiert nicht mehr den szenischen Ort der Protagonistin auf der Mitte der Vorderbühne, sondern verändert sich zu einer gleichmäßigen Ausleuchtung des Bühnenkubus. Insgesamt tritt die Einzelfigur mehr und mehr in den Hintergrund: zum einen räumlich, indem ihre Szene sich auf die Mitte der (Dreh-) Bühne verlagert, während hinter und vor ihr, sowie um sie herum chorische Figuren auftreten; zum anderen auch im metaphorischen Sinn, indem sie immer mehr Teil der sie umgebenden Szene, des sie umgebenden Raums wird. In dem Maße, wie die Einzelfigur im doppelten Wortsinn in den Hintergrund tritt, wird die szenische Erzählung der revolutionären Vorgänge von den chorischen Figuren übernommen, die somit in den Vordergrund der Inszenierung treten. Diese räumlichen und, was die Figurenkonstellation betrifft, analytischen Bewegungen auf der Szene sollen im Folgenden an exemplarischen Ausschnitten konkretisiert werden. Hervortreten Hervortreten des szenischen Hintergrunds. Der Chor der Mitgefangenen Nach dem vorangehenden Faust-Zitat, dem Auftritt des MargaretheChors bleibt die Szene hinsichtlich der Bühnen- und Lichtsituation zunächst unverändert. Die polyperspektivische Erzählung Döblins ist hier wiederum so umgesetzt, dass 'Rosas' Rede nicht nur sprunghaft zwischen verschiedenen Inhalten – den Alltag im Gefängnis, ihre ambivalente Freundschaft mit Tanja, eine neuerliche Begegnung mit dem toten Freund in der Zelle, erinnerte Gespräche mit Karl und Sonja Liebknecht in Berlin sowie Zitate aus politischen

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Verratenes Volk Reden während des Kriegs – sondern auch zwischen unterschiedlichen Sprechperspektiven wechselt. Tanja wiederum spricht mehr und mehr von der nicht-sichtbaren Hinterbühne. Dadurch wird einerseits ihre Position als Kalfaktorin herausgestellt, der es im Gegensatz zu den anderen Gefängnisinsassen erlaubt ist, sich zwischen den verschiedenen Gebäudeteilen zu bewegen. Dem entspricht auch der Text Tanjas, der die Gespräche mit ihrem, als Figur in der Inszenierung nicht präsenten Freund Michel im 'Männerbau' vorstellt.121 Durch diese Bewegungen der Figur der Tanja zwischen vorderem und hinterem Teil der Bühne wird die Szene räumlich geöffnet: Die nicht-einsehbare Hinterbühne, die hier durch Tanjas Sprechen mit beziehungsweise von ihrem Freund als ein dem Blick 'Luxemburgs' nicht zugänglicher Teil des Gefängnisses definiert ist, wird somit immer deutlicher als Hintergrund des szenischen Geschehens auf der Vorderbühne konturiert. Zunächst kommt die Hinterszene jetzt in Gestalt von 'Luxemburgs' Mitgefangenen auf die Szene. Nach einem Gespräch mit Tanja über neuerliche Besuche des 'Gespensts', des Geliebten in der Zelle und Tanjas wütender Ermahnung 'Luxemburgs' wegen deren wahnhafter Imaginationen, fragt diese, wieder allein auf der Szene: „Hast du keine Angst“? Worauf ein Männerchor von der nichtsichtbaren Hinterbühne antwortet: „Ich habe nie Angst“122. Nach dreimaliger Anrufung der unsichtbaren Figur und dreimaliger chorischer Antwort schreit 'Luxemburg' laut: „Hannes!“123 Wie um diesen Klageschrei der Protagonistin zu erwidern, tritt der Frauenchor, der vormals Margarethe figuriert hat, jetzt zu 'Rosa Luxemburg' und postiert sich, wie zuvor, links und rechts der den szenischen Mittelpunkt bildenden Badewanne. Der Chor berichtet von einem Vorkommnis auf dem Gefängnishof: Eine in Männeruniform gekleidete Person, die im Verlauf der Szene als 'die Luxemburg' identifiziert wird, versucht in offenbar verwirrtem Zustand, aus dem Gefängnis zu entkommen. Aus einem Gespräch zwischen 'Luxemburg' und Tanja war zu entnehmen, dass der imaginierte Besucher gedroht hatte, 'Rosas' Zelle endgültig zu verlassen. Aufgrund dieser Drohung hatte 'Rosa' beschlossen, dem zuvorzukommen, indem sie selbst, in Männerkleidung, aus dem Gefängnis entkäme. Der Chor, der sich teilweise in verschiedene Stimmen aufteilt, schildert die Protagonistin, die auf dem Theater zur Zuhörerin der Szene wird, entpersonalisierend als 'Unikum', 'Geschöpf', 'Monstrum' beziehungsweise 'Unwesen'.

121 Vgl. VV, S. 33ff. 122 Zitiert nach Aufführungsmitschrift. 123 Zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Tragödie als Bühnenform Die Chor-Erzählung, die weitgehend dem Text Döblins folgt124, schildert diese Maskerade aus ironischer Distanz. Die Verdinglichung der angeblichen Hysterikerin, die in Döblins Schilderung der Außenperspektive auf 'Rosa' mittels Ironie gebrochen wird, bekommt durch die direkte Konfrontation von Chor und Protagonistin auf der Bühne einen bedrohlichen Unterton. Der nachfolgende Auftritt des Anstaltsarztes, der 'Rosa Luxemburg' droht, sie ins Irrenhaus zu verlegen, ist demgegenüber fast von einer grotesken Harmlosigkeit gekennzeichnet. Auftritt der Russischen Revolution. Maria Spiridonowa Während der Arzt nach seiner Hysterie-Diagnose rechts hinter 'Luxemburg' stehen bleibt, tritt eine Frau in langem schwarzen Kleid (Margit Bendokat) auf die fast unbeleuchtete Hinterbühne und stellt sich rechts von der mittleren Tür an die Bühnenrückwand. Mit dem Rücken zum Zuschauerraum, die Arme erhoben, beginnt sie zu sprechen. Während der ganzen Zeit ihres langen Auftritts behält sie diese Körperhaltung und Position im Bühnenraum bei. Der Text der Figur, der die Vorgänge der Russischen Revolution und die Politik Lenins thematisiert, ist in Schleefs 'Spielfassung' mit „SPIRIDONOWA DIE OPFER“ (VV, S. 39) überschrieben. Diese Figurenüberschrift nimmt Bezug auf die russische Anarchistin und Sozialrevolutionärin Maria Spiridonowa125 (1885 – 1941), die 1906 ein Attentat auf den Gouverneur von Tambow verübte, der die Bauernaufstände in seiner Provinz grausam niedergeschlagen hatte. Spiridonowa wurde daraufhin zunächst zum Tod verurteilt, dann jedoch in lebenslängliche Verbannung nach Sibirien geschickt.126 1917 kam sie im Zuge der Februarrevolution frei und gründete die Partei

124 Beginn des Chor-Textes: „Vormittag, die Zeit des größten Betriebes auf dem Wirtschaftshof“ bis: „Die Spritze tut ihre Wirkung“* (NOV4, S. 57-60). 125 Zu Maria Spiridonowa vgl.: Emma Goldman, Die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution. Mit einem Vorwort von Rudolf Rocker. Berlin: Der Syndikalist, 1922 (darin: „Das Schicksal Spiridonowas“, S. 69-77); Reprint unter dem Titel: Niedergang der Russischen Revolution. Berlin: Karin Kramer, 1987 (zu Spiridonowa: S. 85ff.). 126 In Anspielung auf Spiridonowas Attentat bezeichnet Trotzki den zaristischen Gouverneur als 'Henker der Tambower Bauern': „Von den linken Sozialrevolutionären genoß damals in ganz Rußland Berühmtheit nur die kleine, gebrechliche und mutige Spiridonowa, die viele Jahre Katorga hinter sich hatte wegen Tötung des Henkers der Tambower Bauern.“ (Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution. Bd. 2, Oktoberrevolution (Kapitel „Der Kongreß der Sowjetdiktatur“). Berlin: S. Fischer, 1933, S. 610).

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Verratenes Volk der linken Sozialrevolutionäre, die sich vor allem für die Enteignung der Großgrundbesitzer und ein dezentrales Rätesystem einsetzte. Nachdem ihre Partei trotz inhaltlicher Differenzen zunächst eine Koalition mit den Bolschewiki eingegangen war, geriet sie jedoch immer mehr in Gegensatz zu diesen, einerseits wegen des autoritären Prinzips der bolschewistischen Führung, andererseits auch und vor allem wegen des maßgeblich von Lenin betriebenen Friedensschlusses mit Deutschland, den sie als konterrevolutionär ansah. Um den Frieden von Brest-Litowsk zu verhindern beziehungsweise zu revidieren, riefen die linken Sozialrevolutionäre um Maria Spiridonowa zum Attentat auf den deutschen Botschafter, Graf Mirbach, auf. Nach der Ausführung des Attentats am 6. Juli 1918 wurden Spiridonowa und ihre Parteigenossen auf dem 5. Allrussischen Sowjetkongress am Verlesen einer Erklärung zur Rechtfertigung der Ermordung Mirbachs gehindert und verhaftet. Nachdem es ihr für kurze Zeit gelungen war, in die Illegalität abzutauchen, wurde Maria Spiridonowa im September 1918 von der Tscheka127 verhaftet, zunächst in ein Gefängnishospital gebracht und schließlich unter Hausarrest gestellt. Trotz internationaler Interventionen in Form von Ausreisegesuchen für Maria Spiridonowa blieb sie in Haft und wurde schließlich 1941 hingerichtet. Der Text der Figur 'Spiridonowa' in Verratenes Volk zitiert jedoch nicht die historische Person der Politikerin Maria Spiridonowa, sondern folgt wiederum der Erzählung Döblins, genauer: den Kapiteln „Lenin macht seine Revolution“ und „Eine neue Art Mensch muss geschaffen werden“ aus dem vierten Band, die explizit die Russische Revolution und die Politik Lenins thematisieren.128 Wieder zitiert Schleefs 'Spielfassung' die Textvorlage zwar stark gerafft, aber zum großen Teil wortgenau. Das Prinzip der Textgenese ist dasselbe wie bei Schleefs Luxemburg-Figur. Döblin skizziert die SpiridonowaFigur unter dem – verfremdenden – Namen 'Maria Spiridowna' in knappen Zügen, im Zusammenhang mit ihrem gegen Lenin gerichteten Auftritt auf dem Sowjetkongress.129 Indem sie in Schleefs Inszenierung als nahezu einzige Stimme die bei Döblin ironischdistanzierte Schilderung der Ereignisse in Russland übernimmt, wird sie hier zur Figur der abstrakten Verlautbarung einer ambivalent gezeichneten Opposition gegen Lenin. Während sie allerdings in Döblins Erzählung nur eine knappe, zudem falsche namentliche Erwähnung findet, tritt sie in Schleefs Inszenierung als Einzelstim-

127 Tscheka (russisch: ВЧҚ = „WTschKa“): von der ersten sowjetischen Regierung eingerichtete Geheimpolizei, bestand von 1917 bis 1922. 128 Vgl. NOV4, S. 20ff., S. 63 ff. 129 Vgl. NOV4, S. 66f.

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Tragödie als Bühnenform me auf, die einen langen (Erzähler-) Text spricht, der die Russische Revolution thematisiert. Im Fortschreiten des Textes während der Szene nimmt die ironische Distanz, die Döblins Erzählstil zueigen ist, ab. Das Sprechen der Figur wird als stellvertretendes Sprechen der namenlosen Opfer der Revolution stilisiert, für die die Figurenüberschrift in der 'Spielfassung' steht. Der Charakter des Textes der Spiridonowa-Figur wechselt vom anfänglichen Zitat der distanzierten Erzählung zur Klage über den Verrat an der Revolution, zur Anklage gegen Lenin. In dem Maß, in dem der Text der Spiridonowa-Figur zur Anklage wird – mehrfach namentlich gekennzeichnet in der 'Spielfassung': „Ich heiße Marja Spiridonowa, ich bin deine schärfste Kritikerin!“ (VV, S. 42) –, treten die Chöre in den Vordergrund der Inszenierung. Der Anfang des Textes der 'Spiridonowa', der im Folgenden dokumentiert wird, beschreibt die Machtübernahme im Taurischen Palais in Petrograd: „SPIRIDONOWA DIE OPFER Die Russen sind den Deutschen um Längen voraus. Sie haben schon ihre Niederlage weg. Sie haben, was in Deutschland eine Handvoll Leute im Gefängnis träumt: Revolution. Sie haben den Zaren verjagt und die provisorische Regierung gestürzt. Die Gefangenen sind frei, die Exilierten zurückgekehrt. An der Reihe ist jetzt die Freiheit. In Petrograd ist Lenin dabei den anderen zu zeigen, wie eine Revolution aussieht. Sofortiger Frieden, doch General Ludendorff will Krieg. Eine Masse Männer und Frauen will eine Nationalversammlung eröffnen, sie sind nachweislich legal und freiheitlich gewählt, mit erheblich mehr Stimmen als die Bolschewiken. Das macht Eindruck auf Lenin. Sofort läßt er den Wahlkommissar verhaften, ernennt eine neue Wahlkommission, verlegt die Eröffnung auf den 18. Januar 1918. Als sich am 18. Januar die gewählten Volksvertreter dem Taurischen Palais nähern, starrt es überall von Gewehren und Bajonetten. Man nimmt ihre Ausweise ab und prüft sie. Soldaten halten die Eingänge besetzt. Das Haus ist voller Maschinengewehre. Hier soll der freie Wille des Volkes herrschen? 4 Uhr nachmittags eröffnet man die Sitzung, mittendrin drängt der Vorsitzende des Stadtsowjets, der hier nichts zu suchen hat, zum Präsidentenstuhl, liest unter Wutgeheul der Versammlung eine Mitteilung des Rats der Volkskommissare vor, wonach sich die Nationalversammlung sofort aufzulösen habe, wenn sie nicht die Sowjetmacht anerkenne. Die Nationalversammlung brüllt: Mörder, wascht eure blutigen Hände, ihr Mörder! Richtig, unsere Massenerschießungen waren nicht mehr zu vertuschen, Massenerschießungen, konstatiert Lenin, der sich zurückhält, abwartet, 1 Uhr nachts kommt es zur Machtprobe. Die Mehrheit stellt einen Antrag, die Bolschewiken stellen einen Antrag und unterliegen. Sie unterrichten sofort Lenin. Der hört ihre Klagen, lobt ihre heroische Geduld, schreibt mit Bleistift einen Zettel: Die Nationalversammlung, auf Grund von Listen gewählt, die vor der Novemberrevolution hergestellt sind, repräsentiert die

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Verratenes Volk alte Ordnung, ist somit Schützenhilfe der Gegenrevolution. Das zentrale Exekutivkommitee erklärt sie für aufgelöst. Lenin bringt seinen Zettel dem Wachkommandanten des Taurischen Palais: Hier steht alles darauf, es eilt nicht, warten Sie den Schluß der Sitzung ab. Der Kommandant meint, ob man nicht schon früher..., die Wache sei so müde. Lenin klopft ihm auf die Schulter: Sicher sicher. Der Kommandant wartet bis 4 Uhr früh, im Saal wird man trotzdem nicht fertig, man berät das zentrale Gesetz über die Landverteilung. Endlich dröhnt Beifall, Rußland ist verteilt. Der Wachkommandant zwängt sich dazwischen, überall Jubel, Beifall, ein historischer Moment, denken alle. Der Kommandant legt dem klatschenden Präsidenten die Hand auf die Schulter: Wäre es nicht Zeit zu schließen? Er gibt ihm Lenins Zettel: Lesen Sie. Die Versammlung ist aufgelöst. Die Wache ist müde. Herr Kommandant, entrüstet sich der Präsident weiter klatschend, die Nationalversammlung ist ebenso müde, aber hier handelt es sich darum, ein Gesetz zu verabschieden, auf das ganz Rußland wartet. Wie ein begossener Pudel schleicht der Kommandant aus dem Saal in den Keller, unten schaltet er einfach das elektrische Licht ab. Im Augenblick wachen alle auf, Tumult entsteht im dunklen Saal, der Präsident schreit: Hiermit ist der russische Staat proklamiert als russische demokratische föderalistische Republik. Am nächsten Mittag haben Lenins Soldaten das Palais umstellt, keiner kann mehr durch, die irritierten Abgeordneten rotten sich zusammen: Ist das die neue Republik? Nennt sich das Revolution? Das ist Verrat, Gegenrevolution, Lenin! Der schreit seine Kritiker an: Da haben wir die Bescherung. Keine Illusionen mehr. Das beste unter den gegebenen Umständen: Völlige offene Liquidation der formalen Demokratie im Namen der revolutionären Diktatur. Frieden.“ (VV, S. 39f.)

Deutschland vor der Revolution. Aufrufe, Chöre Während die Spiridonowa-Figur weiterspricht – Lenin verteidigt den Friedensschluss mit Deutschland vor seinen Kritikern130 –, treten zwei Chorformationen auf: Zunächst drängt eine Gruppe Männer durch die schmale Tür in der Mitte der rückseitigen Bühnenwand nach vorn, wo sie, frontal aufgestellt, an der Bühnenrampe stehen bleiben. Die Gruppe, die durch die spärliche Beleuchtung der Hinterbühne als Schattenfigur konturiert ist und durch den rasanten energetischen Zulauf auf die Bühnenrampe gegenüber dem dunklen Zuschauersaal eine unheimliche konfrontative Anordnung verdeutlicht, figuriert als Abordnung der Berliner Metallarbeiter, die im Januar 1918 für die Durchsetzung eines 'allgemeinen Friedens' in den Streik getreten sind. Döblins Text, dem die Szene folgt, suggeriert das Zitat eines entsprechenden Flugblatts. Schleefs 'Spielfassung' datiert den Text, indem er ihn unter die Überschrift „28.1.1918“ stellt. Im Verlauf der Szene, die den Streikaufruf aus der schriftlichen Veröffentlichung in die mündliche transponiert, tritt ein weite130 Vgl. VV, S. 40.

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Tragödie als Bühnenform rer, größerer Chor hinzu und schließt sich dem Aufruf an, indem er den zweiten Teil des Textes spricht. Die 'Spielfassung' beschreibt in der ersten Zeile die beiden Chorformationen. Um die szenische Umsetzung des Streikaufrufs im Vergleich zu Döblins Textvorlage darzustellen, sind im Folgenden beide Texte gegenüberstellend zitiert. 'Spielfassung' Verratenes Volk:

Döblin, November 1918:

„Kleiner Chor Männer Schauspieler, Sänger Baß Großer Chor Männer, Frauen KC: Berliner! Metallarbeiter! Wir wollen Frieden: Arbeiterinnen! Arbeiter! 5 Tage ruht die Arbeit in allen Betrieben von Wien und Budapest. Was unsere österreichischungarischen Brüder angefangen haben, müssen wir vollenden. Die Entscheidung der Friedensfrage liegt beim deutschen Proletariat. Wir kämpfen solange, bis unsere Mindestforderungen ungekürzt verwirklicht sind: Aufhebung des Belagerungszustandes, der Zensur, aller Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, Freilassung aller politischen Gefangenen. Das sind unsere Bedingungen, die nötig sind, um unseren Kampf um die Volksrepublik in Deutschland und einen sofortigen allgemeinen Frieden zu entfalten. Arbeiter! Bevor wir die Betriebe verlassen, müssen wir uns eine frei gewählte Vertretung nach österreichischem und russischem Muster schaffen, damit sie den weiteren Kampf anleitet. Auf zum Kampf! GC: Alle für einen, einer für alle! Mann der Arbeit aufgewacht und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will! Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung! 400 000 Berliner Arbeiter und Arbeiterinnen streiken am 28. Januar

„Die Berliner Metallarbeiter wollen Frieden. Sie streiken im Protest gegen die deutschen Gewaltforderungen von Brest-Litowsk. Sie verbreiteten ein Flugblatt: 'Arbeiterinnen! Arbeiter! Fünf Tage ruhte die Arbeit in allen Betrieben von Wien und Budapest. Was unsere österreichisch-ungarischen Brüder angefangen haben, das müssen wir vollenden. Die Entscheidung der Friedensfrage liegt bei dem deutschen Proletariat. Wir kämpfen so lange, bis unsere Mindestanforderungen unverkürzt verwirklicht worden sind. Aufhebung des Belagerungszustandes, der Zensur, aller Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, Freilassung aller politischen Gefangenen. Das sind unsere Bedingungen, die nötig sind, um unsern Kampf um die Volksrepublik in Deutschland und einen sofortigen allgemeinen Frieden zu entfalten. Arbeiter! Bevor wir die Betriebe verlassen, müssen wir uns eine frei gewählte Vertretung nach österreichischem und russischem Muster schaffen, mit der Aufgabe, diesen und die weiteren Kämpfe zu leiten. Auf zum Kampf! Alle für einen, einer für alle! Mann der Arbeit, aufgewacht und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will!

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Verratenes Volk 1918 für Frieden ohne Annexionen, ohne Entschädigungen, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker! Alle für einen, einer für alle! Mann der Arbeit aufgewacht und erkenne deine Macht! Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will! Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!“ (VV, S. 40)

Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!' Vierhunderttausend Arbeiter und Arbeiterinnen streikten in Berlin am 28. Januar für den Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, für die Teilnahme von Arbeitervertretern an den Friedensverhandlungen.“ (NOV4, S. 26f.)

Die chorische Umsetzung des Aufrufs und die direkte konfrontative Anordnung des Chor auf der dunklen Vorderbühne zum Publikum im gleichfalls dunklen Saal, korrespondiert dem im Flugblatt zum Ausdruck kommenden Verhältnis von Streikleitung und anonymen Adressaten, so dass die Zuschauer hier wörtlich als zum Streik aufgeforderte Arbeiterschaft angesprochen werden. Durch die Übernahme der deskriptiven Textteile bei Döblin in den Chor-Text transformiert die Inszenierung den dokumentarischen Charakter des Flugblatt-Zitats in eine szenische Präsentation der Vorgänge. Mit der szenischen Präsentation des Streikaufrufs geht notwendig eine formale (zeitliche) Aktualisierung der geschilderten Vorgänge einher. Die Historisierung der präsentierten Ereignisse, die die Inszenierung an anderen Stellen vornimmt, tritt hier zunächst in den Hintergrund. Zudem wird das Publikum vermittels der zeitlichen Aktualisierung der Rede, sowie auch durch die beschriebene räumliche Positionierung des Chors, auf der fiktionalen Ebene als Mitspieler angesprochen. Zum anderen wird jedoch gerade durch die Ansprache des Publikums als Berliner Arbeiterschaft 1918 das fiktionalisierte Verhältnis von Chor-Szene und sozialer Realität im Deutschen Theater 2000 als theatrale Anordnung gezeigt. Diesen Doppeleffekt von Fiktionalisierung und gleichzeitiger Offenlegung der Fiktionalisierung, als expliziten Hinweis auf die theatralen Anordnung, weisen nahezu alle Szenen der direkten Ansprache des Publikums durch den Chor auf. Hier wird er zudem dadurch verstärkt, dass das präsentierte Material explizit als dokumentarisches ausgewiesen wird. Durch den Verweis auf die Theatralität der Präsentation treten somit auch die historischen Schichten der Wahrnehmung des Materials zu Tage. Es scheint mithin in dieser Szene nicht darum zu gehen, mit der pluralen Figur des Chors 400.000 Berliner Arbeiter im Januar 1918 darzustellen, die, wie der Streikaufruf suggeriert, 'mit einer Stimme' sprechen würden. Diese Fiktion eines 'einheitlichen' Sprechens wird von den Chor-Szenen der Inszenierung im Gegenteil immer wieder gebrochen, indem die polyperspektivische Erzählung Döblins in die 249

Tragödie als Bühnenform szenische Umsetzung der einzelnen Texte selbst übernommen wird: So spricht der Chor in der oben zitierten Szene nicht nur als oder im Namen der Berliner Metallarbeiter, als 'wir' – „Wir wollen Frieden“. Vielmehr übernimmt der Chor ebenfalls die Erzählung der Geschehnisse, als Sprechen über diese – „400 000 Berliner Arbeiter und Arbeiterinnen streiken am 28. Januar 1918“. Mit dieser Gleichzeitigkeit der verschiedenen Sprechperspektiven verdeutlicht die Inszenierung eine grundlegende Möglichkeit der Chor-Figur: das Potenzial, über etwas zu sprechen, was das Wissen einer vereinheitlichten fiktionalisierten Figur strukturell überragt. Das ist hier die notwendige Nachträglichkeit des Berichts über Tatsache, Größe und Datum des Streiks. „Eine neue Art Mensch“ Mensch“.. Chorische Totenklage Die Spiridonowa-Figur steht immer noch mit erhobenen Armen und mit dem Rücken zum Zuschauerraum an der Bühnenrückwand. Einzige Lichtquelle der Szene ist eine Lampe an der immer noch zentral auf der Vorderbühne platzierten Badewanne, so dass die Frauengestalt sowie auch die Bewegungen auf der Bühne schwache Schatten auf die Bühnenrückwand werfen. Nachdem im vorangegangenen Abschnitt der Chor ihre Stimme größtenteils zwar nicht unhörbar, aber in der genauen Wortfolge unverständlich gemacht hat, ist sie jetzt wieder deutlich vernehmbar, wie sie von Lenins Entschluss zum umstrittenen Frieden mit Deutschland und der heftigen Opposition gegen ihn berichtet. Während sie weiterspricht, singt der Chor leise das Soldatenlied „Ich hatt einen Kameraden“, wodurch das Sprechen der Spiridonowa-Figur von der Klage des Chorlieds überlagert wird. Der Text der Spiridonowa-Figur, dem das Datum des Friedensvertrags vorangestellt ist, thematisiert den Friedensschluss als Verlust für Russland und kommentiert ironisch: „Bravo Lenin, gut gemacht, Lenin!“ (VV, S. 41) Als sie schweigt, beginnt der große Chor zu singen: „Die Himmel rühmen“131, die 'Spielfassung' der Inszenierung notiert an dieser Stelle „GROSSER FRIEDENSGESANG CHOR“ (VV, S. 41). Nach Ende des Lieds fährt die Spiridonowa-Figur fort zu sprechen. Der folgende Text – wiederum nach Döblin132 – stellt die Frage 131 Musik: Ludwig van Beethoven, Text: Johann Christian Fürchtegott Gellert. 132 Schleefs 'Spielfassung' folgt hier weitgehend dem Kapitel „Eine neue Art Mensch muß geschaffen werden“ im ersten Buch des vierten Bandes (NOV4, S. 63 ff.). Im Unterschied zu Döblin, der die Figur unter dem Namen 'Maria Spiridowna' in der dritten Person einführt (NOV4, S. 66), stellt sich 'Marja Spiridonowa' in Verratenes Volk selbst den Zuhörern – auf dem Sowjetkongress, im Theater – vor. Während die Rede der Figur bei Döblin mit den Worten „Für Lenin

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Verratenes Volk nach der Qualität beziehungsweise der Möglichkeit des 'neuen Menschen', die im Folgenden leitmotivisch wiederkehrt: „Es muß eine neue Art Mensch geschaffen werden, schreit Lenin, ballt die Faust, diese taugt nicht, es muß eine neue Art Mensch geschaffen werden, schreit Lenin, nachdem er sich nach Moskau zurückgezogen hat, um seine Revolution durchzuführen: Der Mensch, so wie er ist, taugt nichts, die Menschen sind dumm, weich, sentimental, Dummköpfe mit bürgerlicher Bequemlichkeit, Mystiker, Fromme, Faultiere und darum Verbrecher. Gegen diese Menschen muß man einen Ausrottungskrieg führen. In Stücke schlagen muß man alle Überreste der alten Tyrannei, nicht bloß ihre Heere, ihre Verwaltungen, ihre Rechtsprechung, sondern auch, und vor allem an 1. Stelle, ihre versteckten Bastionen, die in ihren Köpfen, ihre alten Denkformen, ihre Ideen, ihre Ideale, ihren Glauben, ihre Religion, ihre Metaphysik, ihre Gefühle, alles.“ (VV, S. 41)

Nach dieser Exposition der Problematik, in der Lenin als Diktator porträtiert wird, konkretisiert der Text der Spiridonowa-Figur die Kritik an Lenin im Hinblick auf den Konflikt zwischen Bauern und bolschewistischer Regierung: „Gerechtigkeit zwischen 2 Klassen existiert nicht, schreit Lenin in Moskau, während Petrograd vor einer Hungersnot steht. Die Kulaken halten mit Getreidelieferungen zurück, sie verweigern ebenso die Ernte der Jahre 1916 und 17. Jetzt gründet Lenin Armenkomitees, die das unterschlagene Getreide beschlagnahmen, die Kulaken greifen sofort zu den Waffen. Es wird ein blutiger Sommer. Hungernde und Verzweifelte kämpfen ohne Erbarmen gegen Hungernde und Verzweifelte. Eine neue Art Mensch muß geschaffen werden.“ (VV, S. 42)

Nach der wie zur neuerlichen Bestätigung wiederholten Losung zur Schaffung eines 'neuen Menschen', wechselt der Charakter des Textes zur direkten Anklage gegen Lenin, in der die Figur sich namentlich präsentiert: „Ich heiße Marja Spiridonowa, ich bin deine schärfste Kritikerin! Mich trifft eine Kugel, aber ich bin zäh. Verräter Lenin, du betrügst den Bauern, der

seid ihr alle Mist“ (ebd.) beginnt und mit der Drohung der Bewaffnung endet (ebd., S. 67), ist der Beginn des Redetextes in Verratenes Volk auf den sich viermal wiederholenden Frauenchor übertragen, der die Ansprache der Anwesenden – „ihr“ – in die erste Person Plural überträgt: „Für Lenin sind wir alle Mist“ (VV, S. 42). Damit wird ein Teil ihrer bei Döblin skizzierten Rede – bis: „Sie sind ihnen nur Figuren im Spiel“ (NOV4, S. 66) – vom Chor der Frauen übernommen, die sich damit als die von Lenin Betrogenen präsentieren, von denen in der Ansprache der 'Spiridowna' (Döblin) die Rede ist.

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Tragödie als Bühnenform Land will, hast ganz andere Dinge im Kopf als das Wohl des russischen Bauern.“ (VV, S. 42)

Die Anklage 'Spiridonowas' wird von einem Frauenchor133 bestätigt, dessen Text im Folgenden, nach einzelnen Sprechpassagen der Einzelfigur, viermal wiederholt wird: „Für Lenin sind wir alle Mist. Die Menschen sind für ihn keine Menschen, bloß Mist, Dung, für das, was er vorhat, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Massenmörder und Menschenschlächter Ludendorff und Lenin: Beiden bedeuten Menschen nichts. Sie sind Figuren in ihrem Spiel.“ (VV, S. 42)

Zu ihrer folgenden Ansprache an die „Genossen vom Sowjetkongress“ dreht die 'Spiridonowa' sich zum Zuschauerraum um, nimmt die Lampe, die die einzige Lichtquelle der Szene ist, und wendet diese als blendenden Lichtstrahl gegen das Publikum, wodurch die konfrontative Situation zwischen Spiridonowa und dem Sowjetkongress scharf konturiert wird: „Aber ich sage ihm und sage euch, Kameraden, Genossen vom Sowjetkongreß: Wenn man jetzt den Bauern versklavt, und zwar gleichmäßig die bolschewistischen, die sozialrevolutionären und die parteilosen, wenn man sie erniedrigt und unterdrückt, wenn man sie versklavt als Bauern und als Menschen, so wird man in meiner Hand dieselbe Pistole finden, die man mir schon einmal zur Verteidigung aufzwang, dann vollstrecke ich mein Urteil.“ (VV, S. 42)

Aufgrund der räumlichen Anordnung: der hier wie eine Waffe gegen den – hier als 'Sowjetkongress' definierten – Zuschauerraum gerichteten grell leuchtenden, blendenden Lampe, eignet der Szene eine gewisse Unheimlichkeit. Die Gespenstigkeit der Szene rührt auch daher, dass die sich schattenhaft von der Bühnenrückwand abhebende Figur wie eine Untote erscheint, die – im Hinblick auf das Wissen, das sich aus dem zeitlichen Abstand zwischen Aufführungssituation und erzählter Zeit – ihre Wiederkehr als Rachefigur androhen scheint. Dieser unheimliche Eindruck einer potenziellen Wiederkehr der Geschichte, auf den auch der Untertitel der Inszenierung – Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk. – anzuspielen scheint, ergibt sich hier vor allem auch durch die Geste der Figur, die, nachdem sie während der ganzen Zeit ihrer Rede mit dem Rücken zum Zuschauerraum und erhobenen Armen an der

133 Im Typoskript der 'Spielfassung' trägt der Text des Frauenchors die Figurenüberschrift „LUXEMBURG“, die durchgestrichen und handschriftlich zu „FRAUEN“ korrigiert ist (vgl. VV, S. 42).

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Verratenes Volk Bühnenrückwand gestanden hatte, sich umwendet und ihren Blick gegen das geblendete Auge des Zuschauers richtet. Diese Haltung behält die Spiridonowa-Figur bis zum Schluss ihrer Szene bei. Unterbrochen von den beschriebenen Textwiederholungen des Frauenchors, berichtet sie von der politischen und militärischen Machtübernahme Lenins, die mit der massenhaften Verfolgung, Verhaftung und Erschießung seiner Gegner einhergehe, verstärkt nach einem Attentat auf Lenin im August 1918, das die Erschießung von fünfhundert Personen zur Folge hatte, so Döblin. Dessen Lenin-Figur erklärt dazu: „Die Bourgeoisie des internationalen Imperialismus hat zehn Millionen Menschen getötet und dreißig Millionen verstümmelt und verwundet. Wenn unser Krieg eine halbe Million oder eine Million Opfer kosten wird, dann wird uns die Bourgeoisie erklären: Die ersten Opfer waren gerechtfertigt, die letzten nicht. Die Arbeiter werden anders urteilen.“ (NOV4, S. 69)

Mit dem von der Inszenierung leicht geänderten Zitat134 aus Döblins Erzählung endet der Text der Spiridonowa-Figur. Auf den anklagenden Bericht der 'Spiridonowa' folgt eine ChorSzene, die mit Blick auf die zuvor geschilderten Massenerschießungen als nach-christliches – und im Hinblick auf die Aufführungszeit ebenso postrevolutionäres – 'Ecce homo' bezeichnet werden kann: Sehr langsam bewegt sich der noch auf der vorderen Bühne befindliche Teil des Chors in Richtung Bühnenrückwand. Die immer wieder im 'Freeze' verharrenden Körper folgen dabei der ebenso langsamen, zäsurierten Intonation des von Hanns Eisler komponierten Chor-Lieds „Grabrede über einen Genossen, der an die Wand gestellt wurde“ von Brecht: „Aber als er zur Wand ging, um erschossen zu werden Ging er zu einer Wand, die von seinesgleichen gemacht war Und die Gewehre, gerichtet auf seine Brust, und die Kugel Waren von seinesgleichen gemacht. Nur fortgegangen Waren sie also oder vertrieben, aber für ihn doch da Und anwesend im Werk ihrer Hände. Nicht einmal Die auf ihn schossen, waren andere als er und nicht ewig auch unbelehrbar. Freilich, er ging noch gefesselt mit Ketten, geschmiedet Von den Genossen und angelegt dem Genossen, doch Dichter wuchsen die Werke, er sah es vom Weg aus Schornstein an Schornstein, und da es am Morgen war – Denn man führt sie am Morgen hinaus für gewöhnlich – Waren sie leer, aber er sah sie angefüllt Mit jenem Heer, das immer gewachsen war 134 Vgl. VV, S. 43.

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Tragödie als Bühnenform Und noch wuchs. Ihn aber führten seinesgleichen zur Wand jetzt Und er, der es begriff, begriff es auch nicht.“135

Vor allem durch die zeremonielle Langsamkeit von Gesang und Körperbewegungen und das den Zäsuren des Gesangs folgende Innehalten der Körper erscheint die Szene als chorische Totenklage, in der die ironisch-distanzierte Haltung des Döblin-Textes einem vielmehr tragischen Pathos gewichen ist. Anders jedoch als in der antiken Tragödie wird hier nicht das Schicksal des Einzelnen als Protagonist beklagt, sondern die Chor-Klage thematisiert die Frage nach der Konzeption eines 'neuen Menschen', indem sie an der Sterblichkeit des Einzelnen und dessen konfliktuösem Verhältnis zur Vergesellschaftung seiner Existenz als 'Idee' gespiegelt wird. Im Kontext von Brechts Lehrstückmodell bewegt sich diese Fragestellung in einem Spannungsfeld, das Nikolaus Müller-Schöll, mit Bezug auf die Texte Lehrstück und Badener Lehrstück vom Einverständnis, so umreißt: „Dieser 'Mensch' ist einerseits als Abwesender, sozusagen ex negativo, in seinen gleichermaßen entstellten Variationen als namen- und gesichtsloses [...] Wesen, entfremdete Arbeitskraft oder unterdrückter Proletarier erfahrbar [...]. Der abwesende 'Mensch' ist gleichsam die Leerstelle, die das Verschwinden des Individuums hinterläßt, dessen Untergang nicht nur nicht aufgehalten werden kann, sondern noch befördert wird – spätestens dort, wo der Chor den 'uns an gesicht gestalt und gedanke' gleichenden als Gezeichneten verabschiedet, dessen Gestalt verfällt und dessen Gesicht

135 Der Text dieses Lieds erschien zuerst im Kontext des Lehrstücks Die Mutter in der Fassung von 1933 (vgl.: Bertolt Brecht, Die Mutter. In: Ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden (GBA). Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar: AufbauVerlag/Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, Bd. 3, S. 310). In Die Mutter (1933) ist der Text Teil des Chor-Berichts vom Tod des Sohnes an die Mutter: „Genossin Wlassowa, dein Sohn / Ist erschossen worden. Aber / Als er zur Wand ging [...]“ (Bertolt Brecht, Die Mutter. V. 21ff. A.a.O., Bd. 3, S. 310). Unter dem Titel „Bericht über den Tod eines Genossen“ wurde der Text in Gedichte Lieder Chöre veröffentlicht (vgl.: Bertolt Brecht, „Bericht über den Tod eines Genossen“. In: Ders., Werke. (GBA) A.a.O., Bd. 11, S. 236). Da Hanns Eislers Vertonung des Brecht-Textes unter dem Titel „Grabrede über einen Genossen, der an die Wand gestellt wurde“ bekannt ist und Verratenes Volk diese musikalische Fassung zitiert, wird das Chorlied aus Die Mutter bzw. der „Bericht über den Tod eines Genossen“ (Gedichte Lieder Chöre) im Folgenden, unter dem (verkürzten) Titel der EislerFassung, als „Grabrede“ zitiert.

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Verratenes Volk unbekannt wird [...]. Andererseits lernt der sich Einübende [...] nun [...] das 'Einverständnis', und wie in 'Mann ist Mann' wird dabei ein neuer Begriff des Menschen erkennbar, begründet nicht mehr auf einem prästabilisierten Bild, einer Gestalt oder einem Wesen, sondern vielmehr auf seiner Undarstellbarkeit oder seinem Übermaß. In diesem anderen Begriff des Menschens, bzw. des Lebens liegt der radikal anti-totalitäre Zug des Lehrstücks. Die Sterblichkeit des Menschen begründet ein Recht des Einzelnen, das jede positive und historische Ordnung übersteigt.“136

Von dieser „Undarstellbarkeit“ des „Menschen“, gleichsam dem „Verschwinden des Individuums“ (Müller-Schöll), spricht auch Brechts „Grabrede“. Der Mensch als 'Dividuum' (Brecht) ist nicht darstellbar. Indem Schleefs Inszenierung die „Grabrede“ als chorische Totenklage mit der vorangehenden Infragestellung der Notwendigkeit oder Möglichkeit der Schaffung eines 'neuen Menschen' durch die Spiridonowa-Figur konfrontiert, wird das Konzept eines 'neuen Menschen' (Lenin) oder der Mensch als Idee radikal in Frage gestellt. Dies geschieht in Verratenes Volk nicht zuletzt durch die wortwörtliche szenische Umsetzung der „Grabrede“: Die Vorstellung des Orts der Erschießung des Genossen als „Wand, die von seinesgleichen gemacht war“, korrespondiert hier mit der räumlichen Disposition der Chormitglieder zu einer Reihe. Gleichzeitig deutet die langsame Bewegung der Chor-Reihe in Richtung der die Bühne abschließenden Wand auf die Übernahme der Position des zum Tod Verurteilten durch den Chor. Durch diese ambivalente, oder, wenn man so will, dialektische Inszenierung der „Grabrede“ kehrt, auf sehr plastische Weise, die Frage nach dem Opfer wieder, die nicht nur den Kernpunkt der antiken Tragödie markiert, sondern die auf andere Weise auch im Lehrstück präsent ist. So schreibt MüllerSchöll mit Bezug auf das Badener Lehrstück vom Einverständnis: „Der Individualist wird ausgetrieben, aber seine Austreibung wird im Theater aufbewahrt. Darin wird nun aber ein Unterschied zwischen dem [...] tragischen Tod des idealistischen Helden, der eine neue Gemeinschaft stiftet, und dem Tod im Lehrstück deutlich: Das Lehrstück hält mit der Darstellung der neuen Gemeinschaft das Opfer fest, das für sie ohne Gewißheit und vielleicht ohne Möglichkeit seiner Kompensation gebracht worden ist. Das Opfer wird hier nicht geopfert – in diesem Aspekt vollzieht Brecht dasjenige mit, was Benjamin einmal als kopernikanische Wende des Eingedenkens bezeichnet.“137

Das „Eingedenken“ des Opfers, so Müller-Schöll, sei im Lehrstück an die Stelle seiner Darstellung getreten. 136 Nikolaus Müller-Schöll, Das Theater des 'konstruktiven Defaitismus'. A.a.O., S. 338. 137 Ebd., S. 359f.

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Tragödie als Bühnenform Das Festhalten an der Frage nach dem – undarstellbaren – Opfer ist auch in Einar Schleefs Theater zentral. Insbesondere in Verratenes Volk wird ein – in Nietzsches Sinn – idealistischer Begriff des Menschen oder die Möglichkeit der Darstellung einer 'neuen Gemeinschaft' radikal in Zweifel gezogen. Dies hängt mit einem zweiten Punkt zusammen, der in der Szene der chorischen Totenklage deutlich wird: Die Inszenierung rekurriert hier auf Schleefs in Droge Faust Parsifal niedergelegte These von der „Umkehrung der antiken Konstellation“ (DFP, S. 12) im Theater Gerhart Hauptmanns. Indem dessen Stücke nicht mehr den Protagonisten, sondern den Chor als 'Ausgestoßenen' zeigten, so Schleef, werde die 'antike Konstellation' umgekehrt. Nicht mehr der Protagonist, sondern der Chor werde jetzt geopfert – so durch Dreißiger in Hauptmanns Die Weber. Diese Neudefinition des Opfers, die mit der – im Verhältnis zur antiken Tragödie – 'Umkehrung' der Konfliktsituation einhergehe, ergebe sich bei Hauptmann jedoch „weniger aus Überlegung und Arbeit am Vorbild“, so Schleef, sondern „vielmehr aus der Definition der gesellschaftlichen Zustände, in denen er lebt. Die Menschenzusammenballung, die jetzt mit 'Proletariat' bezeichnet wird, ist der neue Chor, der aber nicht die Herrschaft trägt, sondern, von ihr verstoßen, verheizt, sich irgendwo verstecken muß“ (DFP, S. 12). Mit dieser Umkehrung der Gewaltbewegung, die dem Opfervorgang, den Schleef als zentrale Problematik noch im Theater der deutschen Klassik definiert, inhärent ist, werde auch die Figurenkonstellation radikal auf den Kopf gestellt: Wenn bei und nach Hauptmann nicht mehr der Einzelne als Opfer für eine zu gründende Gemeinschaft definiert sei – wie es Schleef in Droge Faust Parsifal noch an den klassischen beziehungsweise nach-klassischen Frauenfiguren Margarethe aus Goethes Faust und Kundry aus Wagners Parsifal analysiert –, sondern nun die vom Zentrum der Macht ausgeschlossene, 'verstoßene', von den Machthabern 'verheizte' Masse in den dramatischen Vordergrund rücke, so folge daraus für die theatrale Ästhetik, dass die lange Zeit – im doppelten Wortsinn – verdrängte Figur des Chors wieder zentrale Figur des Theaters werde. Somit hängt nach Schleefs Analyse die Wiederkehr des Chors mit dem Einzug der sozialen Thematik ins Theater zusammen, ja ist gar dessen notwendige Folge. Folgt man dieser Argumentation zur Herausbildung einer modernen Chor-Figur, die im Zusammenhang mit der Exposition der sozialen Problematik des 'Massenzeitalters' entsteht, so wird deutlich, dass das Auftreten dieser neuen Chor-Figur sowohl inhaltlich als auch formal ein konfliktuöses sein muss. Verratenes Volk kann daher, insbesondere auch hinsichtlich der in Figurenkonstellationen und Textanordnung hervortretenden Arbeit an der Revolutionsthematik, als Versuchsan-

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Verratenes Volk ordnung über die konfliktuöse Wiederkehr der Chor-Figur ins moderne Theater aufgefasst werden. Dies soll an der Darstellung der folgenden Szenen, besonders der großen Chor-Szenen der Inszenierung noch verdeutlicht werden. Rosa und Lenin. Die Frage nach dem Volk und Lenins DiktaturDiktatur-Begriff Zunächst jedoch blendet die Inszenierung zurück zu der – gerade in der vorangehenden Szene der chorischen Totenklage – aus dem Fokus geratenen, gleichwohl immer noch auf der Bühne präsenten Protagonistin. 'Rosa Luxemburg', die jetzt ihren durch die Badewanne markierten szenischen Ort verlässt, bewegt sich, wie dem Chor der „Grabrede“ folgend, auf den hinteren Teil der Bühne, der nur vom Schein der kleinen Lampe beleuchtet ist, der von 'Spiridonowa' liegen gelassenen wurde. Mit Bezug auf die zuvor in 'Spiridonowas' Anklage geschilderten Massenerschießungen zitiert die Luxemburg-Figur jetzt ein Gespräch zwischen Lenin und Maxim Gorki, das Döblins November-Roman skizziert: „Der Schriftsteller Gorki fragt dazu: Wenn ich dich und deine Leute bei der Arbeit sehe, denke ich an Mittelalter und Inquisition, ihr prüft alle auf Herz und Nieren. Bist du der Teufelsbeschwörer? Zu Hause auf dem Dorf trieb der Zauberer den Teufel aus, reinigst du so Rußland, das geht sehr weit, wer bleibt da übrig? Ist das Ganze bloß eine Idee, ein Gedanke, eine Einbildung, oder hast du wirklich Mitgefühl mit dem Volk? Der gefragte Politiker antwortet: Volk? Ihr Intellektuellen tut mir leid.“ (VV, S. 43)138

Zwei bereits angesprochene Motive der Inszenierung werden hier wieder aufgenommen: die Frage nach der Figur des Satan, die in Döblins Text insbesondere an 'Karls' Milton-Lektüre aufgeworfen wird, und die Frage nach dem Verhältnis von 'Volk' und politischen Machthabern beziehungsweise die Frage nach der Definition des 'Volks'. Das 'Volk', in dessen Namen oder für das stellvertretend die als Einzelfiguren konturierten Politiker zu sprechen vorgeben, das aber als Sprech-Figur in den Reden der Einzelfiguren abwesend bleibt – so bei 'Luxemburg', 'Liebknecht', 'Spiridonowa', 'Nietzsche', in den Entwürfen zur Inszenierung auch 'Satan', 'Lenin' und 'Wilhelm II' –, wird hier als 'Verhandlungsmasse' dargestellt. So hält Alexander Weil, mit Bezug auf die deutsche Revolution, im Gespräch mit Jutta Hoffmann über die Inszenierung fest: „Da finden eigentlich Verteilungskämpfe um Massen statt, und Rosa Luxemburg will daran nicht teilnehmen?“139 Die distanzierte Haltung 'Lu138 Vgl. NOV4, S. 69. 139 Alexander Weil in: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 72.

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Tragödie als Bühnenform xemburgs' zu dieser Auffassung von 'Volk' als Verhandlungsmasse in politischen Prozessen wird in der Inszenierung durch die Markierung des Textes als Zitation herausgestellt. Nach weiteren Gesprächen mit der Kalfaktor und einzelnen Chorauftritten, die die bereits beschriebenen Faust-Anspielungen weiterführen140, kommt 'Rosa Luxemburg' auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen 'Volk' und Parteiführern im Zusammenhang mit ihrer Auseinandersetzung mit dem Diktatur-Begriff zurück. In ihrem im Sommer 1918 noch im Gefängnis geschriebenen Text „Zur russischen Revolution“141, der die Februarrevolution 1918 thematisiert, setzt sich Rosa Luxemburg kritisch mit der autoritären Parteiführung Lenins und seiner Auffassung der 'Diktatur des Proletariats' auseinander. Im Gegensatz zu Lenin und Trotzki, so Luxemburg, sehe sie in der Demokratie, in der Garantierung von Presse- und Versammlungsfreiheit sowie allgemeinen Wahlen keinen Widerspruch zur Diktatur des Proletariats. Im Gegenteil könne diese nur in der konsequenten Anwendung der Demokratie bestehen, nicht in deren Abschaffung.142 Gerade im Zusammenhang mit der Durchführung der Revolution kritisiert Luxemburg Lenins Auffassung von Diktatur: „Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im LeninTrotzkischen Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, das dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider – oder je nachdem: zum Glück – nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt. Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige große Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Maßnahmen gesucht werden müssen, dazu

140 Vgl. VV, S. 44ff. 141 Rosa Luxemburg, „Zur russischen Revolution“. In: Dies., Gesammelte Werke. Bd. 4, August 1914 bis Januar 1919. Berlin: Dietz, 1974, S. 332-365. Zum Titel des Aufsatzes vermerken die Herausgeber: „Redaktionelle Überschrift. – Ein unvollendetes Manuskript, wiedergegeben nach der Fotokopie des Originals“ (ebd., Fußnote 1, S. 332). 142 Im Zusammenhang mit dem hier dargelegten Demokratie-Begriff findet sich in den Anmerkungen Rosa Luxemburgs zum TextManuskript ihr berühmter, auch auf den Demonstrationen in der DDR 1989 viel zitierter Satz von der Freiheit der Andersdenkenden: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ (Rosa Luxemburg, Anmerkung zum Manuskript des Textes „Zur russischen Revolution“. In: Dies., Gesammelte Werke. Bd. 4, a.a.O., S. 359, Fußnote 3).

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Verratenes Volk vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr, was wir zu allererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft die Bahn frei zu machen, welcher Art hingegen die tausend konkreten praktischen großen und kleinen Maßnahmen sind, die auf jedem Schritt zu ergreifen sind, um die sozialistischen Grundzüge in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzuführen, darüber gibt kein sozialistisches Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluß.“143

Kernpunkt des Textes, der von Döblin sowie von Schleefs Inszenierung zitiert wird, ist die Aufhebung des, so Luxemburg, von Lenin und Trotzki aufgestellten Gegensatzes von Demokratie und Sozialismus. Die 'Diktatur des Proletariats', so Luxemburg, sei vielmehr die Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus und somit das Gegenteil von Diktatur 'im bürgerlichen Sinne', also einer oligarchischen Herrschaftsstruktur, die ihren Machterhalt auf die Negation von freien Wahlen, Presse- und Versammlungsfreiheit gründe. Aufgrund des Stellenwerts des Textes für die Luxemburg-Figur in Schleefs Inszenierung sei im Folgenden die diesbezügliche Argumentation Luxemburgs etwas ausführlicher zitiert: „Lenin und Trotzki haben an Stelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presseund Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder [...] öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im rein bürgerlichen Sinne, im Sinne der Jakobiner-Herrschaft [...]. Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, daß sie die Diktatur [...] der Demokratie entgegenstellen. 'Diktatur oder Demokratie' heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für die bürgerliche Demokratie, da er sie eben als die Alternative der sozialistischen Umwälzung hinstellt. Lenin-Trotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer Handvoll Personen, d.h. für bürgerliche Diktatur. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Po-

143 Rosa Luxemburg, „Zur russischen Revolution“. A.a.O., S. 359f.

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Tragödie als Bühnenform litik. Das Proletariat kann, wenn es die Macht ergreift, nimmermehr [...] auf die sozialistische Umwälzung verzichten und sich nur der Demokratie widmen, ohne an sich selbst, an der Internationale, an der Revolution Verrat zu üben. Es soll und muß eben sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder einer Clique, Diktatur der Klasse, d.h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen, in unbeschränkter Demokratie. [...] Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. [...] Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats. Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt.“144

Döblin zitiert Rosa Luxemburgs Auseinandersetzung mit Lenins Diktatur-Begriff nach ihrem Text „Zur russischen Revolution“. Die Zitate, die bei Döblin durch Anführungszeichen vom übrigen Text abgesetzt sind, sind eingefügt in die Beschreibung eines reflexiven Schreibvorgangs der Figur 'Rosa'. Das heißt, Döblin thematisiert die Gedankengänge der fiktiven Figur bei der Niederlegung der Argumentation Rosa Luxemburgs, die in den vom Wortlaut abweichenden Zitaten des Luxemburg-Textes zum Ausdruck kommt. Im Text der Luxemburg-Figur Schleefs sind die von Döblin dargestellten Gedankengänge 'Rosas' und die als Zitate markierten Textstellen aus „Zur russischen Revolution“ in einem Fließtext zusammengeführt, so dass die Zitate Luxemburgs und der Text Döblins in der Figurenrede nicht unterschieden werden. Auffällig an Schleefs Bearbeitung der Döblin’schen Textvorlage ist die Häufung der Fragen, die durch die Transformation von Aussage- in Fragesätze oder durch zusätzliche Markierung derselben durch Fragezeichen auftreten, insbesondere zu Beginn des hier zitierten Abschnitts. Dadurch rückt die Figurenrede in der Inszenierung die Geste des Zweifelns der 'Luxemburg' in den Vordergrund. Diese Geste wird in der Aufführung von der stockenden, fragenden Sprechweise der Schauspielerin nachdrücklich hervorgehoben. Zur Dokumentation dieser Textarbeit Schleefs seien im Folgenden Textvorlage und Inszenierungstext einander gegenübergestellt. 144 Rosa Luxemburg, „Zur russischen Revolution“. A.a.O., S. 362f., Hervorhebungen im Original.

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Verratenes Volk Schleef, Verratenes Volk:

Döblin, November 1918:

„Lenin, Lenin, Lenin beseitigt die Demokratie, verrät sie. Warum? Zu welchem Zweck? Um ungestört weiterzumachen, was er seine Revolution nennt?* Sind wir Feldherren, die Armeen kommandieren? Nein! Wir kommandieren nicht, wir schlagen uns nebeneinander zu demselben Ziel durch. Lenin contra bürgerliche Gesellschaft? Was ist er? Ein General, ein Diktator? Nein, kein Sozialist, sondern EIN Bürger. Tausende erschießen lassen zur Sühne für ein Attentat? Summarisch, kaltblütig erschießen lassen und dabei vorgeben, eine Sozialistische Bewegung einzuleiten? Die Diktatur des Proletariats bin ich: Lenin. Warum? Fragen Sie, Sie erhalten eine Antwort aus Blei. Worin unterscheidet sich sein Krieg vom Krieg, der eine zwischen Bürgern, der andere zwischen Soldaten? Nein. Mit dem Erdrücken des politischen Lebens in ganz Rußland muß auch das politische Leben in den Sowjets erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ohne freie Presse, ohne Versammlungsfreiheit, ohne freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution: Es wird zum Scheinleben, in der das einzig tätige Leben, die Bürokratie, ist und bleibt: Die Cliquenwirtschaft Roter Bonzen. Gewiß Diktatur, aber von einer Handvoll Politiker, kurz: Diktatur im Bürgerlichen Sinn. Die wirkliche Diktatur, unsere Diktatur, besteht in der konsequenten Anwendung der Demokratie, nicht in ihrer Ab schaffung.

„Er verriet die Demokratie. Er beseitigte sie. Zu welchem Zweck? Um ungestört zu machen, was er Revolution nannte. Aber wir sind keine Feldherren, die Armeen kommandieren. Wir kommandieren nicht, wir schlagen uns nebeneinander zu demselben Ziel durch. Lenin gegen die bürgerliche Gesellschaft, was ist er? Ein General, ein Diktator [...], er ist kein Sozialist, sondern ein Bürger. [...] Wie, Tausende erschießen lassen zur Sühne für ein Attentat? Summarisch und kaltblütig erschießen lassen und dabei vorgeben, eine sozialistische Bewegung einzuleiten? [...] Die Diktatur des Proletariats, dekretiert Wladimir Lenin, bin ich. Aber warum? Fragen Sie meine lettischen Schützen und die Rote Garde. Sie erhalten eine knallende Antwort. [...] Wodurch sich sein Krieg von dem der Deutschen gegen die Franzosen und Engländer unterscheidet? Seiner verläuft zwischen Bürgern, jener zwischen uniformierten Soldaten. [...] Rosa notierte wütend: 'Mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Land muß auch das politische Leben in den Sowjets erlahmen. Ohne allgemeine Wahlen, ohne ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, ohne freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution. Es wird zum Scheinleben, in der das einzig tätige Leben – die Bürokratie – bleibt.' 'Im Grunde Cliquenwirtschaft. Gewiß Diktatur – aber von einer

145 Textbeginn bis * zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Tragödie als Bühnenform Von Lenin lernen, heißt siegen lernen.“ (VV, S. 46f.)145

Handvoll Politiker, kurz: Diktatur im bürgerlichen Sinn.' Sie grübelte noch eine Weile, bis sie es hinwarf: 'Die wirkliche Diktatur, unsere Diktatur, besteht in der Anwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung.'“ (NOV4, S. 91f.)

Rosa und die Revolution. Ikonisierung und Stillstellung der Protagonistin Der folgende Abschnitt markiert den Schluss der protagonistischen Szene und den Beginn der chorischen Revolutionserzählung. Die bei Döblin knapp geschilderte Entlassung 'Rosas', die Erzählung der halluzinierten Begegnungen mit dem Gespenst sowie der politischen Reflexionen und Konflikte Rosa Luxemburgs scheinen sich in dieser Passage in verstärktem Maß zu überschneiden. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in der räumlichen Disposition der Szene, welche die Öffnungsbewegung zum vormals hinterszenischen Geschehen vorantreibt. So markiert die Inszenierung die von Döblin beschriebene Gleichzeitigkeit der Entlassung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts aus dem Gefängnis und des Beginns der Revolution hauptsächlich durch die räumlichen Bewegungen auf der Bühne: Indem die Konturierung des von der Luxemburg-Figur behaupteten szenischen Ortes gegen seine räumliche Umgebung, den als Außen definierten Hintergrund der Vorderszene durch die veränderte Beleuchtung sowie durch die räumlichen Bewegungen vieler Figuren auf der Bühne mehr und mehr verblasst, wird die – von der vorangehenden Fokussierung auf die Protagonistin vorgenommene – Unterscheidung zwischen Außen und Innen zunehmend porös. In dem Maß, wie die reziproke Durchdringung der szenischen Räume zunimmt und somit die Differenzierung von Innen und Außen, Gefängnisszene und Revolutionsszene, aufgegeben wird, treten die chorischen Figuren in den Mittelpunkt der Inszenierung. Mit zunehmendem Eindringen der Revolution in die Szene wird somit die protagonistische von der chorischen Erzählung abgelöst. Mit Bezug auf die von der Inszenierung in den vorangehenden Szenen gestellten Fragen – nach dem Verhältnis von Chor und Einzelnem in der SoldatenSzene, nach der in Dwingers Sibirischem Tagebuch beklagten 'Auslöschung des Individuums' durch den Krieg, nach Nietzsches ambivalenter Ankündigung einer welterschütternden 'Krisis' im Zuge der von ihm proklamierten 'Umwertung aller Werte', welche gleichfalls das Ende der Politik bedeute, so Nietzsche, nach der konfliktuösen Wiederkehr des Chors als zentraler Theaterfigur des modernen Massenzeitalters, die Schleef in seiner These von der 'Umkehrung

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Verratenes Volk der antiken Konstellation' durch beziehungsweise nach Hauptmann festhält –, ist auch der Frage nachzugehen, ob und inwiefern dieser Ablösung der protagonistischen durch die chorische Erzählung ein gewaltsamer Zug inhärent ist. Diese Frage stellt sich vor allem mit Blick auf das Ende der Szene, das die Protagonistin in der Ikonisierung stillstellt. 'Luxemburgs' Rede über die Frage nach der Diktatur wird von einem Lichtwechsel eingeleitet, wodurch die weitere räumliche Öffnung der Szene unterstrichen wird: Statt der spärlichen Beleuchtung der Bühne durch die kleine Lampe ist jetzt der gesamte abgerundete, weiße Bühnenkubus hell erleuchtet. Nach einem Paartanz auf der in Bewegung gesetzten Drehbühne, in der das Sprechen 'Luxemburgs' durch die lauten, zäsurierenden Schritte des Paars strukturiert wird, schließt sie ihre Rede mit einem von Schleef eingefügten, bei Döblin nicht zitierten Satz: „Von Lenin lernen, heißt siegen lernen“ (VV, S. 47). Mit diesem Satz scheint die LuxemburgFigur hier – trotz ihres distanzierten Blicks und der zuvor formulierten konkreten Kritik an Lenins Parteiführung und Diktaturauffassung – ihre affirmative Haltung zur Durchführung der Russischen Revolution zu bekräftigen. Dann beginnt sie, den Satz, wie in einem Kinderreim, zu singen: „Von Lenin lernen, heißt siegen lernen, fallalalalala lalalala“ und bewegt sich drehend, wie im Tanz, auf die Mitte der Drehbühne. Eine Gruppe von circa zehn Männern, die dieselben stilisierten roten Sportler-Kostüme tragen wie das Tanzpaar zuvor, kommt im Laufschritt, große rote Fahnen tragend, durch die mittlere Tür auf die sich drehende Bühne, an deren äußerem Rand laufend sie die Luxemburg-Figur umkreisen. Auf die von dieser angestimmte Melodie beginnt ein Wechselgesang zwischen 'Luxemburg' und den die Einzelfigur umkreisenden Fahnenträgern, deren Text die 'Spielfassung' mit „SPARTAKISTEN“ überschreibt: „SPARTAKISTEN Wir müssen durch Himmel und Erde, durch Schmutz und Sand waten und uns langsam, stückweise gewinnen. Das macht Schwierigkeiten. Man will es nicht. LUXEMBURG Man will uns hindern den Weg zu gehen. Wir sollen einen anderen gehen. Für den ich mich bedanke. SPARTAKISTEN Du willst wieder Mensch werden? LUXEMBURG Wir versuchen es alle. Der eine tut dies, der andere das in seiner Zelle, der eine Freiübungen, der andre lernt Sprachen. Ich rede mit Engelszungen und Teufelszungen.

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Tragödie als Bühnenform SPARTAKISTEN Das gefällt mir. LUXEMBURG Das kann ich verstehen. SPARTAKISTEN Ich bin auf einem russischen Acker erfroren. Dein Werk.“ (VV, S. 47)146

Der hier dem Chor der Spartakisten zugeordnete Text, den man aufgrund der Laufbewegung der Fahnenträger auf der Drehbühne nicht vollständig verstehen kann, basiert auf mehreren bei Döblin geschilderten Gesprächen zwischen 'Rosa' und ihrem toten Freund, die unter anderem die 'Lebensform' und 'Bewegungsmöglichkeiten' der Toten thematisieren.147 Das in der Inszenierung den Wechselgesang abschließende Zitat „Dein Werk“ bezieht sich in Döblins Text auf die Imaginationskraft der Protagonistin, die den Toten am Leben halte, so das Gespenst: „Ja. Aus deiner Brust, von deinem Blut bin ich. Aber ich bin auch der Hannes, der im November von einer Granate getroffen wurde und im russischen Eis liegenblieb. Meine Kraft allein hätte nicht ausgereicht, mich so lange auf der Erde zu halten und das zu treiben, was ich jetzt treibe. Es ist dein Werk.“ (NOV4, S. 95)

Die zunächst äußerst rätselhaft anmutende Übertragung des Textes der Toten-Figur auf den Spartakisten-Chor lässt die Szene, bei Betrachtung der Textherkunft, als weitere Gefängnis-Vision der Luxemburg-Figur erscheinen. Die Schlusszeile des Wechselgesangs – „Ich bin auf einem russischen Acker erfroren“ – nimmt das Thema des Soldaten-Chors wieder auf, der hier als gleichfalls untote Figur im Gewand der 'Spartakisten' wiederkehrt. Nach mehrfacher Wiederholung dieses Satzes, legen die Männer auf ein Kommando des Chorführers ihre Fahnen mit einem lauten Knall auf den Boden und bewegen sich, immer noch im Laufschritt, zur Figur der Luxemburg in der Mitte der Drehbühne. Der Chor umringt die Protagonistin und hebt sie, wie eine Trophäe in seiner Mitte, nach oben. Auf den Schultern der sie umringenden Männer stehend reckt sie ihren rechten Arm wie in Siegespose nach oben. Der Chor übernimmt diese Geste. Auf die Melodie des Wechselgesangs wiederholt eine Einzelstimme die beiden letzten Silben des Wortes „erfroren“: „ro-o-o-oo o o o-oren“. Darauf spricht der Spartakisten-Chor sehr laut: „Déin Wérk“, was von einem nicht-sichtbaren Frauenchor auf der Hinterbühne wiederholt wird.

146 Hervorhebung durch Unterstreichung im Original. 147 Vgl. NOV4, S. 93ff.

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Verratenes Volk Der Inszenierungstext lässt im Dunkeln, um was für ein „Werk“ es sich handelt. Im Kontext der Anspielung auf die Kriegstoten und der vom Chor unterstützten Siegespose der Luxemburg-Figur erscheint die Szene in einem ambivalenten Licht. Diese ambivalente Beziehung von Geste und Wortsinn rührt meines Erachtens von der Vermischung der Erzählebenen, die hier zwischen den Visionen der inhaftierten Luxemburg-Figur – Erscheinen der Untoten, Präsenz des Kriegs, Antizipation der siegreichen Revolution – und dem Hereinbrechen der Revolutionserzählung in die Szene hin- und herwechselt. Dies wird auch durch den Fortgang der Szene deutlich. Nachdem 'Rosa Luxemburg', immer noch auf den Schultern des Spartakisten-Chors stehend, die ärztliche Diagnose ihrer 'Zwangsvorstellungen' bestätigt hat, wird die Hebefigur aufgelöst, so dass die Protagonistin auf den Bühnenboden gleitet. Die Männer lassen sich ebenso auf den Boden fallen. Wie in sich zusammengefallene Erscheinungen liegen sie jetzt im Kreis um 'Luxemburg'. Diese berichtet von einer weiteren Begegnung mit dem Gespenst: „Auf dem kalten Zellenboden komme ich zu Bewusstsein. Jemand hat mich aus dem Bett geworfen“. Sie richtet sich auf und zeigt nach oben: „Wer? / Du?“ (VV, S. 48) Darauf springen Chor und Protagonistin plötzlich auf und laufen in verschiedene Richtungen, Letztere auf die Vorderbühne, die Männer zur rückseitigen Bühnenwand, wo sie, die Hände erhoben, wie zuvor 'Spiridonowa', stehen bleiben. Die Bühnenbeleuchtung geht aus, und man hört einen dumpfen Knall. Als das Licht nach kurzer Zeit wieder angeht, ist eine riesige rote Fahne zu sehen, die in der Mitte der Drehbühne wie ein Speer im Boden steckt. Der Ort des Einschlags der speerförmigen roten Fahne ist durch einen kreisrunden Lichtspot markiert. Das übrige Bühnenlicht wechselt nun in unregelmäßigen Abständen seine Farbe, es zuckt wie aufeinander folgende Blitze. Daher scheint der Text der Protagonistin hier, was äußerst selten ist, der visuellen Gestaltung zu folgen, wenn er ein Gewitter und einen Blitzschlag im Männerbau beschreibt. Der Chor bestätigt 'Luxemburgs' Bericht mit leisen, beschwörenden Stimmen und gedehnter Aussprache. Der Donner scheint zu ihr zu sprechen: „Lass los, Rosa“ (VV, S. 48). Der Chor wiederholt mehrfach flüsternd, wodurch er in die Nähe des Gespensts rückt, das 'Rosa Luxemburg' indessen, über den Bühnenboden um den Lichtspot mit der roten Fahne kriechend, zu suchen scheint. Während der raunenden Wiederholung des Chors wird die Stimme der Kalfaktor vernehmbar, die mit dem Anstaltsarzt über 'Luxemburg' spricht. Gleichzeitig wird ein kleiner Frauenchor sichtbar, der in einer Riege, aufgestellt am äußeren Rand der Drehbühne, nach innen, zur Szene 'Luxemburgs' gerichtet, vorbeifährt. Die Kostüme der Frauen sind die gleichen wie die des vorangehenden Chorauftritts

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Tragödie als Bühnenform der Mitgefangenen. Wie zur Übergabe bereit hält der Frauenchor hält ein riesiges Schwert. Tanja, die Kalfaktor, kommt jetzt zu 'Luxemburg' in die Bühnenmitte. Während sie dieser bestätigt, dass sie die vorangehenden Szenen, die zwischen Bericht und Darstellung oszillieren, geträumt habe, sieht man rechts von der Bühnenmitte ebenfalls den Arzt stehen, der die Szene beobachtet. 'Rosa Luxemburg', die immer noch in das weiße Laken gehüllt ist, fordert Tanja auf, ihr beim Umziehen zu helfen. Diese bringt ihr ein Kostüm und spricht, während 'Rosa Luxemburg' es anzulegen beginnt, in anklagendem Tonfall: „Denkst du, Lenin lässt zu, dass du hier Krawall machst, eine Polin, eine Jüdin, eine Frau. Revolution in Deutschland. Dass du Bleistiftspitze und Speerspitze verwechselst. Er verurteilt dich.“ (VV, S. 48)

Darauf holt die Kalfaktor einen Zettel aus ihrer Rocktasche und liest 'Rosa Luxemburg' den folgenden Text vor: „Du hast geirrt, in der Frage der Unabhängigkeit Polens, sagt Lenin. Du hast geirrt, in der Beurteilung des Menschewismus, sagt Lenin. Du hast geirrt, in der Akkumulationstheorie des Kapitals, sagt Lenin. Du hast geirrt, in der Frage der Vereinigung von Menschewisten und Bolschewisten, sagt Lenin. Du hast geirrt, in der Bauernfrage, sagt Lenin. Du hast geirrt, in der Frage der Diktatur des Proletariats, sagt Lenin. Du hast geirrt, in der Frage der Führungsrolle der Partei, sagt Lenin. Du hast geirrt, in der Frage der Bewegung der Masse, sagt Lenin. Du hast vor allem in deinen Gefängnisschriften geirrt, sagt Lenin, aber trotz aller Fehler, sagt Lenin, bist du sein Adler, wenn du tot bist.“ (VV, S. 48)

Die Geste des Vorlesens ruft den Eindruck des Verlesens einer Anklageschrift hervor. Dieser Eindruck korrespondiert mit den hier eingesetzten sprachlichen Mitteln: Die Wiederholung des Namens 'Lenin' zeigt ein Sprechen im Namen von an, der Satzbau trennt den vorderen Satzteil, der die Tatsache des angeblichen 'Irrtums' Luxemburgs benennt, vom mittleren Satzteil ab, der den Inhalt des 'Irrtums' definiert. So erscheint Tanja hier nicht nur als extrovertierte Selbstreflexion der 'Luxemburg', sondern geradezu als stellvertretende Richterin der Protagonistin, die schweigend ihrer Anklage zuhört. Rätselhaft erscheint vor allem die Todesdrohung, die den Anklage-Text abschließt. Wieder vermischen sich hier die zwei Ebenen der fiktiven Figur – die einsamen politischen Reflexionen der Inhaftierten sowie die bei Döblin geschilderten traumhaften Visionen 'Rosas'. Diese werden von der Inszenierung einerseits nach außen gekehrt und andererseits so übereinander gelegt, dass sie teilweise nicht voneinander unterscheidbar sind. So warnt Tanja in Döblins Erzäh-

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Verratenes Volk lung 'Rosa' vor der tödlichen Macht der Untoten-Erscheinung: „Er wird dich umbringen, Rosa.“ (NOV4, S. 53) In Schleefs 'Spielfassung' folgt auf Tanjas Anklage-Text die Todesdrohung – „Er tötet dich, denkst du er läßt dich leben“ (VV, S. 48f.) –, die so zur direkten Warnung vor 'Lenin' wird. Die Inszenierung nimmt damit Bezug auf die zuvor von der Luxemburg-Figur formulierte Kritik an Lenins Machtpolitik und seinem Verständnis von Diktatur, die Rosa Luxemburg in ihrem nach der Februarrevolution 1917 verfassten Text „Zur russischen Revolution“ als 'bürgerliche' darstellt, da sie auf einer oligarchischen Herrschaftsstruktur fuße, welche wiederum mit zutiefst undemokratischen Mitteln befestigt werde. Der Vorwurf des Irrtums, der der Protagonistin hier gemacht wird – „in der Frage der Diktatur des Proletariats“, „in der Frage der Führungsrolle der Partei“ –, erscheint somit als nachträgliche Beurteilung der Position Luxemburgs aus der Perspektive der siegreichen Revolution, die die Bedenken der Demokratietheoretikerin kurzerhand hinweggefegt hat. Während der stellvertretenden Verlesung des Urteils legt 'Rosa Luxemburg' das ihr von Tanja gebrachte Kostüm an: Es basiert auf dem gleichen, stilisierten roten Sporttrikot mit kurzen Hosen und ärmellosem Hemd wie das des Spartakisten-Chors. Den Oberkörper bedeckt zudem eine silberne Rüstung, die die nackten Arme zu sehen gibt, den Kopf ein stählerner Helm. Im Gegensatz zur Rüstung verweist der Helm eher auf die militärische Ausstattung im Ersten Weltkrieg als auf mittelalterliches Rittertum. Breitbeinig und mit ausgebreiteten Armen steht die so gerüstete Luxemburg-Figur im Lichtkreis auf der Mitte der Drehbühne. Mit der rechten Hand umfasst sie die immer noch im Bühnenboden steckende riesige, den Körper der Schauspielerin mindestens um das Doppelte überragende rote Fahne, die zuvor wie ein Speer, per 'Blitzschlag', von oben auf die Bühne geschleudert wurde. Ihre linke Hand steckt in einem eisernen Handschuh, mit dem sie nun das gleichermaßen überdimensionale Schwert hält, das der Frauenchor auf die Szene gebracht hat. Während ihr linker Fuß nackt ist, trägt sie am rechten einen schwarzen Schuh – was neuerlich eine der Figuren des Satan assoziieren lässt. Solchermaßen kostümiert erscheint die Protagonistin wie eine Jeanne d’Arc-Figur mit den Insignien des modernen Soldaten (Stahlhelm), der Revolution (rote Fahne) sowie auch des vormodernen christlichen Teufelsbilds (Pferdefuß). Aufgrund der zahlreichen Figurationen des Satans, die die Beschäftigung mit der Textgenese der Inszenierung zu lesen gibt, legt der einseitig getragene schwarze Schuh hier zunächst das Bild einer Teufelsfigur nahe. Er lässt jedoch ebenso die Assoziation einer anderen Schwellenfigur, der des Ödipus ('Schwellfuß'), zu. Während

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Tragödie als Bühnenform Ödipus als „Mann, der zuviel wusste“ (Foucault)148 die Schwelle zum Wissen mit tragischen Folgen überschritten hatte, steht die Schwellenfigur der Jeanne d’Arc für die problematische Beziehung von oben und unten, Himmel und Erde. Ihr Bezug zum Himmel wird in der Inszenierung durch den Lichtstrahl beziehungsweise Blitzschlag markiert. Statt der göttlichen Stimmen, die Jeanne d’Arc ihren Auftrag verkünden, fällt in Verratenes Volk allerdings die rote Fahne vom Himmel. Der solchermaßen nicht ohne Ironie gekennzeichnete Auftrag zur Revolution wird indes wiederum durch den Stahlhelm konterkariert, der für den verheerenden Militarismus am Anfang des 20. Jahrhunderts steht. Diese Ikonisierung der Galionsfigur des deutschen Sozialismus in einem zeitlich wie inhaltlich ambivalenten Jeanne d’Arc-Bild149

148 Vgl. Michel Foucault, „König Ödipus: Der Mann, der zuviel wußte“. In: Lettre International, Nr. 5, 1989, S. 68-72. 149 In einem Gespräch mit Alexander Kluge über die Arbeit an Döblins November-Roman verweist Schleef mit der Analogie der Figuren Jeanne d’Arc und Rosa Luxemburg zugleich auf die Differenz der beiden weiblichen Ikonen des Befreiungskampfs, welche er in der Bereitschaft zum handelnden Eingreifen verortet. Alexander Kluge: „Zu Silvester [...] gründen [sie] die Kommunistische Partei gegen die Bedenken von Rosa Luxemburg, die es besser fände, einen Theoretikerbund oder eine unabhängige SPD oder irgendetwas Weltliches zu gründen, nicht aber eine Partei, weil Marx auch nie von einer Partei gesprochen hat.“ Schleef: „Wenn gehandelt werden muß, ist sie eben nicht Jeanne d’Arc, sondern die Literatin, die Intellektuelle, die zu Hause an der Schreibmaschine sitzt oder einen Artikel diktiert. [...] Hätte Rosa Luxemburg nicht Lenin gelesen, sondern die Entstehungsgeschichte des Deutschen Reiches, Heinrich I. und seine Frauen, dann hätte sie gewußt, daß man als Frau entschieden in den Kampf eingreifen muß. Unsere erste deutsche Königin hat selbst die Burg verteidigt, als sie von den Ungarn angegriffen wurde.“ (In: Alexander Kluge, Mag die Mauer fallen, wie spielen EMILIA GALOTTI. Einar Schleef über den November 1918 und historische Loyalität. DCTP Nacht Club, Vox, Deutschland, 2001. Nachgedruckt in: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 84, Einfügungen: C.S.) In dieser Deutung, in der Rosa Luxemburg vor allem als Nicht-Handelnde erscheint, gleicht sie vielmehr als Jeanne d’Arc der Tragödien-Figur Elektra, insofern sich auch die Position der tragischen Protagonistin nach Schleef in Bezug auf ein potenziell handelndes Eingreifen in die Konfliktsituation ex negativo definiert: durch die Nicht-Ausführung des Muttermordes, ihr Warten auf den an ihrer Stelle den Mord ausführenden Bruder Orest (vgl. DFP, S. 255ff.). Im Sinne dieser Parallelsetzung von Luxemburg und der tragischen Figur Elektra, welcher durch ihr Nicht-Handeln eine Rückkehr in den Palast, ins Zentrum der Macht versagt bleibe, so DFP,

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Verratenes Volk ist zugleich die Stillstellung der Protagonistin in diesem Bild: In der beschriebenen Herrichtung und Pose steht die Luxemburg-Figur im zentralen Lichtkreis auf der sich immer noch in Bewegung befindlichen Drehbühne, ausgestellt wie eine Figurine im Museum. Lange Zeit bleibt die stillgestellte Figur schweigend in dieser Pose, an diesem szenischen Ort stehen, so dass die hergerichtete Szene dem Zuschauerblick ausreichend Zeit zur Reflexion und Betrachtung dieses Bildes lässt. Das Bühnenlicht wird verdunkelt, wodurch die Aufmerksamkeit auf die im Lichtkegel befindliche Figur zentriert wird. Irritiert wird diese Fokussierung der Aufmerksamkeit jedoch dadurch, dass die Szene und mit ihr der szenische Mittelpunkt sich durch die Bewegung der Bühne immer noch im Kreis dreht. Zudem werden die Stimmen der um die Luxemburg-Figur auf der Drehbühne herumfahrenden Figuren und Chöre zunehmend lauter. Aus der Stillstellung der ikonisierten Luxemburg-Figur ergibt sich die Frage, inwiefern die Protagonistin in diesem Bild als Opfer markiert wird – im Sinn der von Schleef so bezeichneten 'antiken Konstellation', in der der Einzelne als aus dem Chor 'Ausgestoßener' gleichfalls aus dem Zentrum der Macht, dem 'Palast' Verdrängter, vor diesem, vor der 'Skene' seine Opferung beklagt, an diesem Ort zwischen Chorraum und Skene, dem Proszenium als eigentlichem Un-Ort, der zu keinem der anderen gehört, und an dem sich daher der Konflikt der Nicht-Zugehörigkeit des Protagonisten ausspricht. Welcher Art wäre aber dieser moderne Palast, das Zentrum der Macht – die Partei? Ebert und die Mehrheitssozialisten, die nach dem 9. November 1918 die Regierung weniger übernehmen als übertragen bekommen und in den folgenden Monaten die Revolution, so Döblins Erzählung, weniger vorantreiben als mit allen militärischen Mitteln verhindern? Oder die kommunistische Partei, wie der oben zitierte Anklage-Text im Namen 'Lenins' suggeriert, der der Luxemburg-Figur eine Selbstausschließung qua vorgeblich anachronistischer Revolutionsauffassung unterstellt? Die Revolution selbst, die von Beginn an vergeblich gegen ihre Gegenrevolution kämpft? Auch wenn die Frage nach der Urheberschaft der Definition der Luxemburg-Figur als Opfer mindestens vieldeutig bleibt, kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass die Inszenierung der pluralen Opfer-Figur des 'Verratenen Volks' inhaltlich die Opferung der protagonistischen Figur zur Seite stellt. Dies wird nicht zuletzt auch durch die Definition der Bühnenorte deutlich: zuerst durch die mittels Licht-Rechteck vom restlichen Teil der dunklen Bühne unter-

kann die ambivalent stilisierte Luxemburg-Figur in Verratenes Volk als tragische Protagonistin in Schleefs Revolutions-Stück aufgefasst werden.

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Tragödie als Bühnenform schiedene Wanne, die „die Zelle, das Grab“ (VV, S. 31) darstellt; dann durch die Ausstellung der stillgestellten Figur auf der Mitte der Drehbühne, deren Zentrum von der speerartig auf die Bühne gefallenen roten Fahne markiert ist. Schließlich zieht auch die Öffnung der Szene auf immer häufigere und immer größere Auftritte der Chor-Figur eine Marginalisierung der Einzelfigur nach sich. Wie diese aussieht, soll nachfolgend skizziert werden. „Die Dämme der Revolution brechen“. Verabschiedung der Protagonistin Bis zum Schluss der Szene korrespondiert der Szene der stillgestellten Protagonistin die Erzählung der beginnenden Revolution. Während die Haftentlassung Rosa Luxemburgs chorisch berichtet wird, steht die ikonisierte Revolutionsfigur weiterhin reglos im Zentrum der Drehbühne. Auf den Vergleich der revolutionären Situation in Deutschland mit der Russischen Revolution anspielend, beginnt der auf dem Rand der Drehbühne stehende Frauenchor zu sprechen: „Rußland ist Rußland, / und Deutschland / Deutschland. Plötzlich / ist Deutschland / nicht mehr Deutschland, / sondern Rußland. Heute arbeiten die Reichstagsausschüsse, von der Regierung angetrieben, an einem neuen Verfassungsentwurf. Man will sich hier vor russischen Zuständen schützen. Richtig, / aber zu spät. Am ersten Oktober will Ludendorff sofortigen Frieden. Richtig, / aber zu spät. Die Abdankung des Kaisers ist offizielles Gesprächsthema. Richtig, / aber zu spät. Die Regierung kriecht zur Opposition unter die Decke. Richtig, / aber zu spät. Richtig, / aber zu spät. Auch díe / Lú-xém-búrg“ (VV, S. 49)...

Zum ersten Mal wird hier ein zentraler Satz hörbar, mit dem Döblin die deutsche Revolution 1918/19 bezeichnet und der im Weiteren die Inszenierung leitmotivisch mitprägt: „Richtig, aber zu spät.“150 Der Frauenchor, der die Luxemburg-Figur fahrend umkreist, übernimmt hier die Erzählung der so genannten Novemberrevolution, die mit dem den Zusammenbruch der kaiserlichen Reichsregierung im Oktober 1918 beginnt. Dann folgen die taktischen Waffenstill-

150 Im Hinblick auf das in Verratenes Volk wiederkehrende Motiv des „Richtig, aber zu spät“ ist interessant, dass Schleef in Droge Faust Parsifal das Motiv des „zu spät“ als entscheidendes Merkmal der Tragödie untersucht. Mit Bezug auf Sieben gegen Theben und die Verwendung des Bruderkampf-Motivs in Wagners Parsifal markiert Schleef das gemeinsame Wissen (von Protagonist, Chor und Zuschauern) um das „zu spät“ als ein die antike Tragödie kennzeichnendes Strukturmerkmal sowie als deren inhaltlichen Ausgangspunkt (vgl. DFP. S. 280).

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Verratenes Volk standsgesuche der Obersten Heeresleitung, die Abdankung des Kaisers und der Matrosenaufstand in Kiel.151 Durch die Bewegung der Frauen-Riege auf der sich drehenden Bühne scheinen die Stimmen mal sehr nah, mal von weit weg zu kommen, und durch die unterschiedlichen Positionen auf der Bühne klingt das Sprechen teilweise hallend, wie durch ein Echo vervielfältigt. Zwar lässt dies den gesprochenen Text nicht verzerrt, aber mindestens fremd erscheinen. Einar Schleef, Zeichnung zu Verratenes Volk

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Auf die Erwähnung ihres Namens durch den Chor erwidert 'Rosa Luxemburg' leise, wie fragend: „Ich“ – und fährt nach kurzer Zäsur fort, wie sich ihrer selbst erinnernd: „ertrug alles geduldig die Jahre hindurch und wäre noch viele Jahre geduldig geblieben. Aber nachdem der Umschwung gekommen ist, hat meine Psychologie einen Knick bekommen.“ (VV, S. 49)152 Nachfolgend – die Szene suggeriert weiterhin die Gleichzeitigkeit von chorisch berichtetem Revolutionsbeginn und Stillstellung der hier immer noch als inhaftiert erscheinenden Protagonistin –, fährt der Frauenchor fort:

151 Vgl. NOV4, S. 100ff. 152 Döblin weist diese Äußerung als Teil eines Briefs von 'Rosa' an Sonja Liebknecht aus (vgl. NOV4, S. 101).

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Tragödie als Bühnenform „Der Umschwung ist da. Am 23. Oktober ist Liebknechts Entlassung. Die Luxemburg fordert ihre per Telegramm vom Reichskanzler. Am 26. Oktober desertiert Ludendorff. Damit ist der Krieg quasi verloren. Die Front hält noch, weicht aber schrittweise zurück. [laut] Die Dämme der Revolution / brechen.“ (VV, S. 49)

Hinsichtlich Schleefs Bearbeitung der Textvorlage ist festzuhalten, dass Döblins Berichtform wiederum vom Präteritum ins Präsens transformiert ist. Dadurch wird eine Aktualität der Szene auch in den berichtenden Textteilen behauptet, die den bei Döblin direkten Äußerungen von aufständischen Matrosen, Arbeiter- und Soldatenräten, Flugblättern und Ansprachen im Tempus angeglichen werden. Nach dem letzten Satz des Frauenchors: „Die Dämme der Revolution brechen“, betreten etwa zehn als Matrosen gekleidete Männer, barfuß, im Laufschritt durch die Tür in der Mitte der Bühnenrückwand die Bühne. An der Luxemburg-Figur vorbei laufen sie auf die unbeleuchtete Vorderbühne, wo sie sich zu einer rampenparallelen Reihe aufstellen und, mit Bezugnahme auf den Matrosenaufstand in Kiel, zu sprechen beginnen: „Wir sind kein Schlachtvieh! Kameraden und Genossen, unsere Schicksalsstunde hat geschlagen. Die Macht ist in unseren Händen. Hört auf uns. Sammelt euch um eure erwählten Führer. Keine Unbesonnenheiten. Ruhe und eiserne Nerven sind das Gebot der Stunde. Plündert und raubt nicht. Wir sind unserem Ziel nahe. Zur Unterdrückung unseres Aufstandes nach hier entsandte Truppen haben sich uns angeschlossen. Bravo Hoch Bravo! / Die / Masse / kommt / in Bewegung!“ (VV, S. 50)

Durch die frontale Aufstellung der Matrosen an der Bühnenrampe wird einerseits die Sicht auf den hinter dem Chor liegenden Bühnenraum weitgehend verhindert. Andererseits betont die Aufstellung dieser hier schattenhaft umrissenen Chor-Figur zu einer horizontalen Riege, im Verbund mit der direkten Ansprache der Zuschauer als „Kameraden und Genossen“, die konfrontative Anordnung von Bühne (Revolution) und Zuschauerraum (Deutsches Theater 2000). Des Weiteren wird die Aufmerksamkeit dadurch, dass der Blick auf die hergerichtete Szene der ikonisierten Protagonistin vom Chor versperrt ist, auf das Hören gelenkt: Trotz des Wissens um den historischen Abstand zu den theatral präsentierten Geschehnissen ist dem Hören weit weniger zu entkommen ist als dem distanzierenden Blick auf die Szenerie. „Hört auf uns“. Der appellative Charakter dieses ersten Auftritts der Matrosen, als derjenigen Figur, die für den Beginn der Revolution in Deutschland steht, wird zudem von den Kampfgesten, der erhobenen Faust zu den „Bravo“-Rufen unterstützt.

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Verratenes Volk In den Jubel der Matrosen einstimmend, kommt ein etwa gleich großer Frauenchor ebenfalls durch die mittlere Tür in der Bühnenrückwand auf die Bühne und stürmt, vorbei an der wie erstarrten Luxemburg-Figur, auf die Vorderbühne. Nachdem die Frauen sich zwischen den Matrosen aufgestellt haben, legen sich alle gleichzeitig auf den Boden. Zum letzten Satz ihres Textes: „Die / Masse / kommt / in Bewegung“, beugen die Männer sich über die Frauen in einer auf die einzelnen Worte rhythmisierten Liegestützbewegung. Diese Geste des Männerchors, die gleichfalls sexuelle Eroberung signalisiert, assoziiert mithin auch eine sexuelle Konnotation der revolutionären Erhebung. Das 'In-Bewegung-Kommen' der 'Masse' wird von den Matrosen derart umgesetzt, dass sich alle plötzlich erheben und im Laufschritt, in Umkehrung ihrer Auftrittsbewegung, durch die mittlere Bühnentür verschwinden. Darauf hört man die Stimme von Tanja, die nun in der Mitte der Vorderbühne, wie eine Chorführerin zwischen den übrigen liegenden Frauen sitzt. Sie erscheint jetzt als Sprecherin der verstummten Protagonistin, indem sie einen eindeutig dieser zugeordneten Text übernimmt, der den emotionalen Abstand 'Rosas' zu Partei und Genossen thematisiert. Von Seiten des Frauenchors ist nun wieder der leitmotivisch wiederholte Satz zu hören, der die 'plötzliche' Parallele zwischen der revolutionären Situation in Russland und der in Deutschland sowie das Erstaunen darüber festhält: „Rußland ist Rußland / und Deutschland / Deutschland. Plötzlich / ist Deutschland / nicht mehr Deutschland, / sondern Rußland.“ (VV, S. 49)

Darauf wird von der Hinterbühne das Lied „Herrlicher Baikal“153 eines nicht-sichtbaren Frauenchors hörbar. Während des Lieds betritt der Chor der Fahnenträger wieder die Bühne. Die Männer, nun nackt154, stellen sich rund um die Luxemburg-Figur auf dem äußeren Rand der Drehbühne auf und beginnen, laut, mit großen Zäsuren, chorisch Texte zu sprechen, die zunächst auf Dwingers Beschreibungen des russischen Bürgerkriegs zwischen zaristischen, 'weißen' und revolutionären, 'roten' Truppen rekurrieren: „In / unseren / Hirnen / zwei / neue / Begriffe, / weiß / und / rot“155.

153 Russisches Volkslied aus dem 18./19. Jh. Neben der Schönheit des Baikal-Sees, der als „heiliges Meer“ besungen wird, handelt das Lied von der beinahe aussichtslosen Flucht eines nach Sibirien verbannten (politischen) Gefangenen. 154 So in der Aufführung, abweichend vom Filmmaterial (dctp). 155 Zitiert nach Aufführungsmitschrift.

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Tragödie als Bühnenform Der auf der Vorderbühne liegende Frauenchor antwortet mit der Wiederholung der leitmotivischen Parallelisierung: „Rußland ist Rußland / und Deutschland / Deutschland. Plötzlich / ist Deutschland / nicht mehr Deutschland, / sondern Rußland.“ (VV, S. 49)

Währenddessen lassen die Männer auf der Drehbühne, nicht synchron, aber in regelmäßigem Abstand, zunächst ihre Fahnen, dann sich selbst auf den Bühnenboden fallen, richten sich wieder auf und beginnen den Bewegungsablauf von vorn. Das vervielfältigte Geräusch der auf den Boden knallenden Fahnenstangen assoziiert vielfache Schüsse, während der Frauenchor leitmotivisch den oben zitierten Satz wiederholt. Dann zitiert der Männerchor auf der Drehbühne den Anfangstext des Chors der kriegsgefangenen Soldaten nach Dwingers Sibirischem Tagebuch: „Nein, es geht nicht mehr. Dies Auf und Ab, dies Hin und Her. Ich dachte mir, alle dachten sich. Nein, das geht nicht mehr, um Gottes Willen! Kaltheiß, kalt-heiß, fortfahren-hierbleiben, Krieg-Frieden, Krieg-Frieden!“ (VV, S. 17)

Mit dem Ende dieses Zitats des Soldaten-Chors, das auf die Kontinuität des Kriegs verweist, fallen alle Männer gleichzeitig um. Wie auf einem Schlachtfeld liegen die Körper der Männer jetzt verstreut auf der Drehbühne um die immer noch wie ein Ausstellungsobjekt beleuchtete Protagonistin mit Schwert und roter Fahne in den Händen. Ihre zur Pose erstarrte Haltung und die mehrdeutige Rüstung mit Stahlhelm, Brustpanzer und eisernem Handschuh, scheint nun immer stärker die Ohnmächtigkeit der Figur zu unterstreichen. Nachdem der Männerchor auf der Drehbühne sich langsam, wie in Zeitlupe, aufgerichtet und die Bühne verlassen hat, hört man noch einmal den auf der Vorderbühne liegenden Frauenchor, sehr leise: „Russland ist Russland [...]“ (VV, S. 49). Eine Einzelstimme berichtet von Spitzelorganisationen, antibolschewistischen russischen Exilanten in Berlin sowie von der beginnenden 'Jagd'156 auf Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Zu dieser wird nicht zuletzt in einem am 13. Januar 1919 im Vorwärts erschienenen Hetzgedicht von Artur Zickler aufgerufen, das ein mit „SPITZEL“ überschriebener Textabschnitt in Schleefs 'Spielfassung' zitiert, indem ein Text nach Döblins November-Roman durch handschriftliche Bearbeitung umgeändert wird:

156 Vgl. Döblin, NOV4, S. 102.

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Verratenes Volk 'Spielfassung' Verratenes Volk, „SPITZEL“:

'Spielfassung' in handschriftlicher Überarbeitung:

„Vorerst jagt man hiesiges Wild, Liebknecht, Luxemburg, Radek.“ (VV, S. 50)

„Vorerst jagt man Liebknecht, Radek, Luxemburg und Kumpanei.“ (VV, S. 50)

Die Überarbeitung des Inszenierungstextes nimmt Bezug auf das Hetzgedicht von Zickler mit dem Titel „Das Leichenhaus“. In dessen letzter Strophe heißt es mit Verweis auf den so genannten 'Spartakusaufstand' im Januar 1919, der von der Ebert-Regierung im Verbund mit den präfaschistischen Freikorps blutig niedergeschlagen wurde: „Vielhundert Tote in einer Reih – Proletarier! Es fragten nicht Eisen, Pulver und Blei, ob einer rechts, links oder Spartakus sei, Proletarier! Wer hat die Gewalt in die Straßen gesandt, Proletarier? Wer nahm die Waffe zuerst in die Hand und hat auf ihre Entscheidung gebrannt? Spartakus! Vielhundert Tote in einer Reih – Proletarier! Karl, Rosa, Radek und Kumpanei es ist keiner dabei, es ist keiner dabei! Proletarier!“157

Mit diesem Zitat verweist der Inszenierungstext auf die schon früh beginnende Hetzjagd auf Luxemburg und Liebknecht und hält die Brutalität der politischen Gegner der neu gegründeten KPD fest. Ebenso wird die ideologische Umschreibung der Geschichte, die in der im Gedicht vorgenommenen Schuldzuweisung zum Ausdruck kommt, hervorgehoben. Der Frauenchor steht jetzt in einer Reihe parallel zur Bühnenrampe und fährt fort, von den Ereignissen in Deutschland, den Waffenstillstandsverhandlungen mit Frankreich, der Abdankung des Kaisers und der Ausbreitung der Revolution durch örtliche Machtübernahmen seitens der Arbeiter- und Soldatenräte zu berichten. Während dieses Berichts kommen die Männer des vormaligen 157 Artur Zickler, „Das Leichenhaus“. In: Vorwärts, 13.1.1919. Hier zitiert nach der Kopie eines Faksimiles der Vorwärts-Ausgabe in Einar Schleefs Materialien zur Inszenierung Verratenes Volk. Einar SchleefArchiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2039.

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Tragödie als Bühnenform Matrosen-Chors, jetzt in schwarzen Hosen, weißen Hemden und Hosenträgern auf die unbeleuchtete Vorderbühne und reihen sich in den Frauenchor ein. Nach Ende des Textes drehen sich alle um. Die Frauen legen sich mit dem Kopf zur Bühnenkante auf den Boden, die Männer beugen sich, wie in der vorangehenden Szene, über sie. Während ihres Sprechens führen sie, wie zur Bekräftigung ihrer Worte, wieder die sexuell konnotierte Liegestützbewegung aus. Der Text des Männerchors zitiert ein bei Döblin als Flugblatt des Spartakus-Bundes vom 7. November 1918 ausgewiesenen Text. Der letzte Satz aus Döblins Erzähler-Text158 ist hier in die direkte Rede der ersten Person Plural transponiert, so dass der Text den in der Inszenierung als Sprechfigur auftretenden 'Steglitzer Fabrikarbeitern' zugeordnet ist, die sich an das Publikum als „Arbeiter und Soldaten“ richten: „Die Stunde des Handelns íst gekommen. Arbeiter und Soldaten, was eure Genossen und Kameraden in / Kiel, / Hamburg, / Bremen, / Hannover, / München, / Stuttgart / gelungen ist, gelingt auch euch. Die nächsten Kampfziele heißen: / Befreiung aller zivilen und militärischen Gefangenen. Beseitigung aller Dynastien und Aufhebung der Einzelstaaten, Wahl von Arbeiter[-] und Soldatenräten, Übernahme der Regierung durch ihre Beauftragten, sofortige Verbindung mit dem internationalen Proletariat, besonders der russischen Arbeiterrepublik. Hoch die So-zi-a-listische Republik. Es lebe die // Inter/natio/na---le. // Am / 9. November / betreten wir, die Steglitzer Fabrikarbeiter / die Straße.“ (VV, S. 51)

Nach dem Wort „Internationale“ erheben die Männer sich, stellen sich breitbeinig über die Frauen und sprechen im Rhythmus des Liedtextes die „Internationale“. Leise singend wiederholt der Frauenchor die „Internationale“, worauf der Männerchor in die Wiederholung des Refrains einfällt. Der folgende Text, der zunächst zwischen Männer- und Frauenchor aufgeteilt ist, und dann von allen zusammen gesprochen wird, ist eine gekürzte Fassung von Döblins Beschreibung der revolutionären Aufbruchstimmung am Morgen des 9. November 1918 in Berlin: „FRAUEN Dá kómmen síe. Dá marschíeren síe. Dá síngen síe. Die Rote Fahne fliegt voran. MÄNNER Schluß mit dem Verstecken. Für viele ist dás / der schönste Morgen Berlins. // Begrüßung, // Jubel, // Ansprachen, // Berlin / marschiert / zum Schloß.

158 Vgl. NOV4, S. 102.

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Verratenes Volk MÄNNER UND FRAUEN [leise] Es muss eine neue Art Mensch geschaffen werden.“ (VV, S. 51)

Auf diese von allen Chormitgliedern leise, wie beschwörend gesprochene Wiederholung des leitmotivisch wiederkehrenden Satzes läuft der gesamte Chor jubelnd auf die Drehbühne, wo Männer und Frauen sich kreischend verfolgen, ausgelassen um die erstarrte Luxemburg-Figur herumtanzen, bevor sie nach und nach paarweise abgehen. Die plötzliche Leere und Stille der Bühne lenkt die Aufmerksamkeit wieder auf die ikonisierte Protagonistin, die in ihrer Pose zur Statue oder zum Denkmal geworden zu sein scheint, was die Assoziation der Vorwegnahme ihres Todes hervorruft. Die Szene verlagert sich nun von der leeren Bühne auf die Hinterbühne, die durch die Öffnung zweier gegenüberliegender Fenster – eigentlich: undurchsichtiger Holzklappen – in der linken und rechten Seitenwand der vollständig mit Holz verschalten, abgerundeten Bühne präsent wird. Die doppelte Republikausrufung am 9. November – die Ausrufung der 'deutschen Republik' durch Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstags und, wenig später, die Ausrufung der 'freien sozialistischen Republik Deutschland' durch Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Schlosses – wird in der Inszenierung mit Hilfe der beiden 'Fenster' umgesetzt. Diese Fensterszene definiert die Hinterbühne – die 'Skene', den 'Palast' (Schleef), das Machtzentrum – als zweigeteilt. Die Ausrufung der Republik von den beiden gegenüberliegenden Fenstern erfolgt in historischer Reihenfolge, nachdem die beiden Figuren sich wechselseitig angekündigt haben, was von einem großen, nicht-sichtbaren Chor jeweils mit dem Satz „Richtig, aber zu spät!“ kommentiert wird. Die Luxemburg-Figur, immer noch auf der Mitte der Drehbühne, wird hier als Zuhörerin der Szene definiert. Die doppelte Republikausrufung nach Schleefs 'Spielfassung': „SCHEIDEMANN LIEBKNECHT Während Scheidemann am Reichstagsfenster über ganz Berlin die Republik ausruft, ruft Liebknecht am Schloßfenster die Republik zum 2. Mal aus, doppelt hält besser. [Chor] Richtig, aber zu spät! Wer war der Erste! SCHEIDEMANN A[r]beiter und Soldaten! Furchtbar waren die 4 Kriegsjahre. Grauenhaft waren die Opfer, die das Volk an Gut und Blut hat bringen müssen. Der unglückselige Krieg ist zu Ende. Das Morden ist vorbei. Die Folgen des Krieges, Not und Elend, werden noch viele Jahre auf uns lasten. Die Niederlage, die wir unter allen Umständen verhindern wollten, ist uns nicht erspart geblieben, weil unsere Verständigungsvorschläge sabotiert wurden, wir selbst wurden verhöhnt und verleumdet. Wir werden eine Arbeiterregierung bilden, der alle sozialistischen Parteien angehören werden. Die neue Regierung darf nicht gestört werden in ihrer Arbeit für Frieden, in der

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Tragödie als Bühnenform Sorge um Brot und Arbeit. Arbeiter und Soldaten! Seid euch der geschichtlichen Bedeutung dieses Tages bewußt. Unerhörtes ist geschehen. Große und unübersehbare Arbeit steht vor uns. Alles für das Volk, alles durch das Volk! Nichts darf geschehen, was [] der Arbeiterbewegung zur Unehre gereicht. Seid einig, treu und pflichtbewußt! Das Alte und Morsche, die Monarchie ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik! LIEBKNECHT Parteigenossen, der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder betritt ein Hohenzoller diesen Platz, nie wieder. Parteigenossen, ich proklamiere die freie, sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in d[e]r jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit findet. Die Herrschaft des Kapitalismus ist gebrochen. Wir rufen unsere russischen Brüder zurück. Beim Abschied warnten sie uns: Habt ihr in 1 Monat nicht das erreicht, was wir erreicht haben, so wenden wir uns von euch ab. Keine 4 Tage hat es gedauert. Das Alte ist niedergerissen, trotzdem müssen wir alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen, die neue staatliche Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände, wir rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf. ES LEBE DIE FREIE SOZIALISTISCHE REPUBLIK!“ (VV, S. 51f.)

Die zu den jeweiligen Republikausrufungen geöffneten Holzklappen in der seitlichen Bühnenwand werfen je ein Licht-Rechteck auf den Bühnenboden, wodurch der Lichtkreis, der den Ort der Protagonistin bezeichnet, an Bedeutung verliert. Die Luxemburg-Figur sitzt nun in der Mitte der Drehbühne. Sie hat ihre Pose aufgegeben, sich Schwert und Fahne entledigt und beginnt sich, im wörtlichen Sinn, zu ent-rüsten. Mit dem Aufgeben der Pose, dem Ablegen der Kampf-, Revolutions- und Kriegsinsignien, wird der Eindruck erweckt, dass der Kampf, dass ihr Kampf vorbei ist. Ein hinter der Tür in der Mitte der Bühnenrückwand zusammengedrängter Frauenchor berichtet von der Entlassung Rosa Luxemburgs aus dem Gefängnis und ihrer Ankunft in Berlin am 10. November. Der in der 'Spielfassung' mit „DIE FREUNDE DER LUXEMBURG“ überschriebene Text des Frauenchors, der die Entwaffnung der Luxemburg-Figur begleitet, fügt Döblins Textfassung zwei Sätze hinzu: „Wußte sie, daß sie sterben muß. Wußte sie, daß sie nur noch 2 Monate lebt?“ (VV, S. 58) Es folgt die chorische Erzählung einer Konfliktszene zwischen kaisertreuen und revolutionären Soldaten beziehungsweise Soldatenräten, die die 'Spielfassung' mit „DIE SÄUBERUNG“ (VV, S. 52) überschreibt.159 Während dieser Szene, die teils an den immer noch 159 Der Begriff der „Säuberung“ assoziiert, neben anderen, heute zeitnahen Verbrechen wie 'ethnischer Säuberung', im Kontext der Revolu-

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Verratenes Volk offenen 'Fenstern', teils auf der Bühne spielt, verlässt die verstummte Protagonistin die Bühne. Die Kalfaktor trägt die riesige Fahne, die zuvor im Bühnenboden steckte, die Luxemburg-Figur das Schwert, das sie hinter sich her schleift, während sie sehr langsam, gegen die Drehbewegung der Bühne, Tanja folgend abgeht. In der Mitte der Drehbühne bleibt der leere Lichtkreis, der ihren szenischen Ort markierte.

„ Verratenes Volk“ Volk “. Revolution als ChorChor - Szene Mit dem Verschwinden der Protagonistin von der Szene160 wird die weitere Erzählung der Revolution und ihres Niedergangs zur ChorSzene. Vorbereitet durch die progressive räumliche Öffnung der Szene wird der Chor nun zur alleinigen Figur der Inszenierung. Mit dieser räumlichen Bewegung folgt die Inszenierung wiederum Döblins Erzählung. Zwar verwendet der vierte Band auch einen erheblichen Anteil auf die Darstellung 'Eberts' und dessen Verantwortung für die Zuspitzung des Konflikts zwischen Regierung und Revolutionären. Jedoch blendet Döblins Text vermehrt mit der Schilderung der Konfliktlage im Januar 1919 auf die Darstellung von Massenbewegungen und Großdemonstrationen.161 tionserzählung auch die Welle der 'Säuberung' innerhalb der KPdSU, die in der Sowjetunion hauptsächlich von 1936 bis 1938 stattfand. Damit wird ein weiterer, über den Kontext der 'Novemberrevolution' in Deutschland hinausweisender Kontext gegeben, der den Kampf innerhalb der kommunistischen Partei anspricht. Der in Schleefs 'Spielfassung' mit „DIE SÄUBERUNG“ überschriebene Text berichtet indes von gewaltsamen Auseinandersetzungen innerhalb des Militärs im in Auflösung begriffenen Staat des Deutschen Reichs im Oktober/November 1918. Der Konflikt betrifft die Auflösung einer Kaserne, die von den kaisertreuen Offizieren und Beamten als Plünderung aufgefasst wird. Die Szene endet mit der Äußerung eines antirevolutionären Offiziers: „Hier verrät ein Volk seinen Kaiser. Einfach abschlachten, dem Spuk ein Ende machen.“ Darauf „ALLE“ – das sind in Schleefs Inszenierungstext Soldaten, Soldatenrat und Masse: „Richtig, aber zu spät“ (VV, S. 53). 160 Wenn sie die Szene noch einmal, zum Schluss der Aufführung wieder betritt, so einzig zur Erzählung der Ermordung Luxemburgs, die die Inszenierung mit dem Ende, oder besser: der endgültigen Niederlage der Revolution gleichsetzt. 161 Insbesondere das 5. Buch von Band 4 mit dem Titel „Die Revolution schon vor der Schlacht geschlagen“ vollzieht diese Fokussierung, die auch in einzelnen Kapitelüberschriften wie „Die Revolution marschiert“, „Die Massen stehen auf der Straße“ und „Das verlassene Volk“ zum Ausdruck kommt.

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Tragödie als Bühnenform Die historische Folie der Erzählung ist die politische Situation in Berlin nach der Abspaltung des Spartakusbundes von der USPD, der Gründung der KPD am 1. Januar 1919, dem Austritt der USPD aus dem Rat der Volksbeauftragten und der darauf folgenden Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn am 4. Januar, der Konstituierung des Revolutionsausschusses am 6. Januar und den Großdemonstrationen gegen die Politik des nun allein von Mehrheitssozialisten geführten Rats der Volksbeauftragten. Dieser hatte sich zunächst mit der ehemaligen Obersten Heeresleitung unter der Führung Hindenburgs verbündet, dann zunehmend mit den reaktionären Freikorpstruppen zur Konsolidierung der Regierungsmacht und Niederschlagung der revolutionären Aufstände.162 Im Zusammenhang mit der Schilderung der Januarereignisse thematisiert Döblins Erzählung die dargestellten Massenbewegungen als Konflikt zwischen 'Massen' und 'Führern', der sich ebenfalls räumlich niederschlägt: Auf der einen Seite ziehen 'draußen' die potenziell revolutionären Massen, Unterstützungsaufrufen von USPD, Spartakusbund und dem gerade gegründeten Revolutionsausschuss folgend, durch die Straßen und warten auf ein Zeichen zur Aktivierung des revolutionären Potenzials. Auf der anderen Seite tagen 'drinnen' die Revolutionsführer, an verschiedenen Orten, über die Frage, was zur Fortführung der Revolution zu tun ist – ohne zu einer Einigung zu kommen. Dieses von Döblin geschilderte, in verschiedene Orte aufgespaltene 'Drinnen' der Revolutionsführer, das mit der räumlichen Aufspaltung die Uneinigkeit der revolutionären Gruppierungen und Parteien darstellt, ist im Fortlauf der Inszenierung nicht szenisch umgesetzt. Die Inszenierung fokussiert die Bewegungen der 'Massen' auf den Straßen Berlins. Mit dieser Konzentration der szenischen Umsetzung auf die Vorgänge 'draußen', auf der Straße, sieht die Inszenierung einerseits von einer expliziten Darstellung der – im folgenden Chor-Text erwähnten – Diskussionen der 'Führer' ab. Andererseits wird gerade durch die Fokussierung auf die Massenbewegungen, die auch bei Döblin prominente Frage nach dem 'Volk' in den Mittelpunkt der Szene gerückt: Wer oder was ist das 'Volk', und welche Äußerungsformen könnten einer Figur 'Volk' entsprechen? Kann das 'Volk' selbst als Sprechfigur auftreten? Wenn nicht, kann es durch die Figur des Chors vertreten werden? Welche Konfliktlinien zeichnet überhaupt das stellvertretende Sprechen in Bezug auf die plurale, von Döblin so bezeichnete Figur des 'Volks'? Wie werden

162 Döblin beschreibt die Vorgänge um den (von ihm nicht) so genannten 'Spartakusaufstand' im 7. Buch des 4. Bandes von November 1918 insbesondere mit Blick auf die von den Regierungstruppen gewaltsam beendete Besetzung des Berliner Polizeipräsidiums.

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Verratenes Volk diese in der chorischen Inszenierung deutlich? Diesen Fragen soll an der Darstellung der folgenden Szenen, mit Blick auf das Verschwinden der Protagonistin und die alleinige Präsenz der ChorFigur auf der Szene, nachgegangen werden. Von der doppelten Republikausrufung am 9. November 1918 wechselt die Inszenierung nun zur Erzählung der Januarereignisse. Im Kapitel „6. Januar: Der Revolutionsausschuß konstituiert sich“ beschreibt Döblin die Situation nach der Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn, welche die folgenden Chor-Szenen grundiert. Während 'Ebert' als 'Amokläufer' gegen die Revolution beschrieben wird, weiß der neu konstituierte Revolutionsausschuss „die Massen“ als „riesiges Schwert“ (NOV4, S. 304) hinter sich. Es scheint jedoch fast zu spät für eine Koordinierung der revolutionären Erhebungen, denn während der Revolutionsausschuss noch über das taktische Vorgehen tagt, sind die Massen „schon im Losbrechen. Die Massen begriffen besser als die Führer“ (NOV4, S. 305). Als sich durch erste Verlagsbesetzungen im Zeitungsviertel „Bewegungen“ zeigen, „die keiner dirigierte“ (ebd.), reagiert der 'provisorische Revolutionsausschuss' am 6. Januar mit einer Proklamation, in der die Regierung Ebert-Scheidemann von USPD und KPD, die sich als Stellvertreter der 'revolutionären Arbeiter und Soldaten' behaupten, für abgesetzt erklärt wird.163 Jedoch, so kommentiert Döblins Erzähler, mit Blick auf den Machtkampf zwischen 'Ebert' und den im 'provisorischen Revolutionsausschuss' organisierten Revolutionären, im Vorgriff auf die kommenden Geschehnisse: „[E]s wird sich ereignen, daß die Richter und Urteilsvollstrecker beim Drehen des Stricks und beim Legen der Schlinge über die eigenen Füße stolpern und mit dem Gesicht selber in die offene Schlinge fallen. Und diesen Augenblick wird der Delinquent, der seine letzte Stunde geschlagen glaubte, benutzen und wird herbeispringen und die Schlinge um den Hals des Urteilsvollstreckers und Richters zuziehen und das zappelnde Opfer – wieder einmal sein Opfer – mit Kraft und routinierten Händen in die Höhe ziehen, zerren, und Beistand werden ihm dabei die eigenen Gehilfen des Gerichts leisten. Das wird die augenblickliche republikanische Regierung sein, von der Revolution eingesetzt, die herrschende Sozialdemokratie, deren Namen spätere Zeiten verfluchen werden. Die deutsche Revolution wird an diesem Strick hängen“ (NOV4, S. 306).

Mit einem Vokabular, das auf die ästhetische Tradition der Tragödie beziehungsweise die Arbeit an der Tragödie anspielt – von Richter, Gericht, Opfer und Verfluchung – beschreibt Döblins Erzähler hier den sich Anfang Januar 1919 in Berlin zuspitzenden Konflikt zwi-

163 So das Zitat der von Ledebour, Liebknecht und Scholze gezeichneten Proklamation nach Döblin (vgl. NOV4, S. 305).

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Tragödie als Bühnenform schen Revolution und Machtkonsolidierung der Regierung, der in dieser Darstellung die von Schleef so genannte 'antike Dimension' einzunehmen scheint. Nur erscheint hier als Opfer dieses tödlichen Konflikts keine Einzelfigur, sondern die Revolution. Der 'Verrat' wird hier als Verrat an der hinter der Revolution stehenden, auf diese setzenden Figur des 'Volks' definiert, wie es bereits im Titel des zweiten Bandes von November 1918 – Verratenes Volk – zum Ausdruck kommt. Auf diese hier von Döblins Erzähler geschilderte Konstellation, die mit Schleef als Umkehrung der 'antiken Konstellation' aufgefasst werden kann, nimmt die Inszenierung mit den folgenden ChorSzenen explizit Bezug: Nicht die Einzelfigur rückt in der von Schleef – modellhaft an Gerhart Hauptmann – dargestellten, modernen Konfliktsituation in den Mittelpunkt, sondern die plurale Figur des Chors. Bei Döblin, dessen Erzähler immer wieder die Theatralität der Darstellung selbst heraushebt, indem er die geschilderten Vorgänge als „Schauspiel“ beziehungsweise als „Szene[n] eines abgrundtiefen Trauerspiels“ (NOV4, S. 306) bezeichnet, fällt dem Konflikt eine plurale Figur zum Opfer: das 'Volk', das sich wartend im Tiergarten versammelt, die Züge, die ziellos durch die Stadt 'irren', die Matrosen, die am 6. Januar zum Kriegsministerium ziehen sowie die Besetzer des Polizeipräsidiums, das schließlich von den Regierungstruppen erstürmt wird. Die Situation, die der in der Inszenierung folgenden chorischen Erzählung der Großdemonstrationen vorausgeht, schildert Döblin am Ende des Kapitels „6. Januar“. Flugblätter der „drei revolutionären Organisationen“ rufen zu Demonstrationen gegen die „konterrevolutionären Machenschaften“ der Regierung Eberts auf. So lautet der als Zitat ausgewiesene Text: „Erscheint in Massen heute elf Uhr vormittags in der Siegesallee. Es gilt, die Revolution zu befestigen und durchzuführen.“ (NOV4, S. 309)

Die Reaktionen auf die Aufrufe schildert Döblin wie folgt: „Vor dem Marstall ziehen die Demonstranten vorbei. Hochrufe auf die Matrosen, die Helden der Revolution [...]. Die Internationale ertönt. Die Marseillaise schmettert. Die unermeßliche Menschenmenge ist auf dem Wege zum Tiergarten, mit vielen tausend roten Fahnen. Sie singen, rufen und schweigen. [...] Die ganze Stadt ist in Bewegung.“ (NOV4, S. 309)

Auf diese Situation der von Gesang, Musik und Sprechchören begleiteten Massendemonstrationen rekurriert die im Folgenden beschriebene Szene, die der Verabschiedung der Protagonistin folgt.

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Verratenes Volk

„DIE REVOLUTION MARSCHIERT“. GESANGSWETTSTREIT DER CHORGRUPPEN Auftakt der folgenden Chor-Szenen ist eine polyphone Ausstellung von Revolutionschören, die Döblins Beschreibung der unzähligen, diversen Sprech- und Gesangschöre von circa einer halben Million Demonstranten unterschiedlicher Gruppierungen aufgreift, welche am 5. und 6. Januar 1919 durch Berlin ziehen. Nacheinander treten zwei Frauen- und zwei Männerchöre, mit jeweils circa fünfzehn Chormitgliedern, durch die Tür in der Mitte der Bühnenrückwand auf die nun vollständig dunkle Bühne. Jeder Chor ein anderes Lied singend, stellen sich die nacheinander eintreffenden Chöre in einer nach außen gerichteten Reihe auf dem äußeren Rand der in Bewegung gesetzten Drehbühne auf. Einzige Lichtquellen der Szene sind vier Lampen, die jeweils von einem Chormitglied gehalten werden. Kostüme der beiden Männerchöre sind schwarze Anzüge, die Mitglieder der beiden Frauenchöre tragen gerade geschnittene, lange schwarze Kleider. Die vier einstimmig gesungenen Chorlieder setzen nacheinander ein, wobei sich die Reihenfolge der Einsätze aus der Abfolge der Auftritte ergibt. Das Lied des ersten Männerchors ist „Es zog ein Rotgardist hinaus“164. Dann folgt „Im Januar um Mitternacht“165, intoniert von einem Frauenchor, schließlich „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“166, gesungen von einem weiteren Frauenchor und, von einem zweiten Männerchor, „Auf, auf zum Kampf!“167 – bis schließlich alle Lieder gleichzeitig zu hören sind. Die Texte der vier Chorlieder 164 Autor des Liedtextes, auf dem Schleefs Fassung beruht, ist Johannes Leschinsky. Der Liedtext steht im Kontext der so genannten 'Märzrevolution', des Volksaufstands im Ruhrgebiet nach dem Kapp-Putsch 1920. 165 Das mit der Zeile „Im Januar um Mitternacht“ beginnende Lied wird auch als „Büxensteinlied“ bezeichnet, so benannt nach der Besetzung des Büxenstein-Verlags im Januar 1919. Der von Schleefs Fassung zitierte Liedtext ist die Umdichtung eines Soldatenlieds mit dem Titel „Argonnerwald um Mitternacht“. Autor der hier zitierten Textfassung ist Richard Schulz. Unter dem Titel „Spartakus 1919“ existiert von der spartakistischen Fassung des Liedes eine Vertonung Hanns Eislers in mehreren Fassungen. 166 Autor der russischen Textfassung: Leonid Petrowisch Radin (1897), der deutschen Textfassung, auf die sich Schleefs Text bezieht: Hermann Scherchen (1918). 167 Der Text des spartakistischen Kampfliedes ist die Umdichtung eines Soldatenlieds, das auch in einer kaisertreuen Variante existiert, in der „Dem Kaiser Wilhelm“ die Hand gereicht wird. Vgl. dazu die Kopien aus dem Liederbuch Schwert und Leier von 1914 in: Material zur Inszenierung Verratenes Volk, Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2138.

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Tragödie als Bühnenform finden sich auf einem dem Material zur Inszenierung zugeordneten Computertyposkript Einar Schleefs, das mit „AUFMARSCH DER MARSCHBLÖCKE“ überschriebenen ist. Den vier Liedern, deren Textfassung hier nach dem Typoskript Schleefs zitiert wird, ist dort jeweils eine Stimmlage zugeordnet, die die Chorgruppen bezeichnet: „Tenor:

ES ZOG EIN ROTGARDIST HINAUS Es zog ein Rotgardist hinaus, er ließ sein Mütterlein zu Haus. Und als die Trennungsstunde kam, er traurig von ihr Abschied nahm. Sie aber leise zu ihm spricht: Spartakusmann tu deine Pflicht. Der Fahnenträger fiel voran, er war kaum achtzehn Jahr: Grüß mir mein liebes Mütterlein, sie soll nicht weinen, traurig sein, denn ich fiel in blutger Schlacht, hab Spartakus viel Ehr gemacht!

Alt:

IM JANUAR UM MITTERNACHT EIN SPARTAKIST STAND AUF DER WACHT. Er stand mit Stolz, er stand mit Recht, stand kämpfend gegen ein Tyrannengeschlecht.

Sopran:

BRÜDER ZUR SONNE ZUR FREIHEIT, Brüder zum Lichte empor. Hell aus dem dunklen Vergangnen leuchtet die Zukunft hervor!

Bass:

AUF, AUF ZUM KAMPF! Zum Kampf sind wir geboren. Auf, auf zum Kampf, zum Kampf! Zum Kampf sind wir bereit! Dem Karl Liebknecht haben wirs geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand. Wir fürchten ja nicht den Donner der Kanonen! Wir fürchten ja nicht die Noskepolizei! Den Karl Liebknecht haben wir verloren, die Rosa Luxemburg fiel durch Mörderhand.“168

168 Einar Schleef, Computertyposkript zur Inszenierung Verratenes Volk. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2137, S. 65, Hervorhebungen im Original.

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Verratenes Volk Einar Schleef, Zeichnung zu Verratenes Volk

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

Die zweite Strophe von „Auf, auf zum Kampf!“, die auf die Ermordung von Liebknecht und Luxemburg rekurriert, wird in der Aufführung nicht gesungen. Durch den Wegfall der zweiten Strophe wird die Nachträglichkeit des Liedtextes – in Bezug auf die Kämpfe in der Zeit des so genannten Spartakusaufstandes Anfang Januar 1919 – gestrichen. Stattdessen tritt die in der ersten Strophe zum Ausdruck kommende Verbindung von Kampfbereitschaft und Loyalität in den Vordergrund. Insgesamt rückt die Auswahl der Liedtexte in Schleefs hier zitierter Fassung die Kampfbereitschaft der Revolutionäre sowie den Glauben an die Durchführbarkeit der Revolution in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zu Döblin, der an dieser Stelle den Gesang von „Internationale“ und „Marseillaise“ durch die Demonstrationszüge erwähnt, hebt die Liedauswahl der Inszenierung den Bezug auf die deutsche Revolution, und explizit auf die Ereignisse im Januar 1919, aus der Sicht der Spartakisten, hervor. Nachdem sich die vier nacheinander auftretenden Chöre alle auf der Drehbühne positioniert haben, sind die vier Lieder gleichzeitig zu hören. Mit der Gleichzeitigkeit der Chorgesänge wird die 'Polyphonie' der Revolution und die gleichzeitige Präsenz der unterschiedlichen Züge und Demonstrationsgruppen betont.169 Durch

169 Diesen Aspekt betont Schleef mit Bezug auf Döblins November 1918 im Gespräch mit Alexander Kluge in dessen Film Mag die Mauer fal-

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Tragödie als Bühnenform diese Synchronizität der verschiedenen Chorgesänge sind von einem Lied jeweils nur einzelne Abschnitte, Worte oder Satzteile verständlich – so zum Beispiel „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ oder „der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand“ sowie das vom Tenor-Chor besonders laut intonierte Wort „Tren-nungs-stunde“. Die Gleichzeitigkeit der Chöre erscheint beinahe als gegenseitiges ÜbertönenWollen, wie ein nicht diachron, sondern synchron aufgeführter Sängerwettstreit. Zudem ergibt sich durch das Fahren der Chor-Riegen auf der Drehbühne der Effekt, dass derjenige Chor, der gerade unter dem Bühnenportal vorbeifährt, am lautesten zu hören und somit am besten verständlich ist, während die anderen Chöre und Chorlieder zeitweilig in den Hintergrund treten. Die Bewegung der Chöre durch das Vorbeifahren auf der Drehbühne kann somit auch als beständiges Auf- und Abtreten der Chorgruppen beschrieben werden. Nach einigen Minuten tritt als erster der Alt-Chor von der Drehbühne auf die Vorderbühne, wo er dicht vor der Bühnenrampe stehen bleibt. Damit tritt auch das von ihm gesungene „Büxensteinlied“, „Im Januar um Mitternacht“ in den Vordergrund der auditiven Wahrnehmung, während die anderen Lieder der Chöre, die noch auf der Drehbühne positioniert sind, zurücktreten. Nach und nach folgen die übrigen Chöre auf die Vorderbühne und stellen sich hinter dem zuerst dort angekommenen Frauenchor auf, dessen Gesang aufgrund der vorderen, rampenparallelen Positionierung immer noch den auditiven Vordergrund der Polyphonie oder des synchron aufgeführten Sängerwettstreits bildet. Schließlich stehen alle Chorgruppen, hinter- und nebeneinander, zum Zuschauerraum gerichtet, an der Bühnenrampe. Der leere Bühnenraum hinter dem Chor ist von den vier auf den Boden gerichteten Lampen der jeweiligen Chorführer nur schwach beleuchtet. Da die Vorderbühne selbst unbeleuchtet ist, erscheint dieser große, circa sechzig Männer und Frauen in schwarzer Kleidung umfassende Chor als schemenhaft konturierte, dunkle Gruppe, die die gesamte horizontale Ausdehnung der Vorderbühne, vom linken zum rechten Bühnenportal, einnimmt. Nach kurzer Zeit beenden alle vier Chorgruppen gleichzeitig ihren Gesang. Dies ergibt den Eindruck, dass die vier Chöre sich zusammengeschlossen haben. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn nach einer gleichermaßen kurzen Zäsur, wie zum Atemholen, alle Chormitglieder gemeinsam zu sprechen beginnen: „Die Revolution marschiert“.

len, wir spielen EMILIA GALOTTI. A.a.O. Nachgedruckt in: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 83.

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Verratenes Volk

DAS „VERRATENE VOLK“. DER CHOR ALS FIGUR DER ZEUGENSCHAFT Der große Chor, der in der folgenden Szene von einer auf dem Rang positionierten Chorführerin dirigiert wird, spricht nun, im Zusammenschluss der Chorgruppen, gemeinsam und gleichzeitig. Dabei wird das Prinzip der Vierchörigkeit jedoch aufrechterhalten. Das heißt, dass der große Chor sich abschnittweise aufteilt, wobei einzelne der vorgenannten Stimmgruppen – Alt, Sopran, Bass, Tenor – nacheinander Teile des Textes sprechen, dann wieder alle Chorgruppen gemeinsam und gleichzeitig und so fort. Der Text des Chors thematisiert die Situation der Menschen, die am 6. Januar 1919, den Aufrufen des Revolutionsausschusses folgend, zum zweiten Mal massenhaft im Berliner Tiergarten zusammenströmen und auf die Revolutionsführer warten. Diese kommen jedoch nicht, sondern diskutieren ihre Differenzen bezüglich strategischer Positionen, so Döblins Erzähler. In Die deutsche Revolution 1918/19 fasst der Historiker Sebastian Haffner die Situation der Massenproteste am 5./6. Januar nach der Entlassung des Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn durch den preußischen Innenminister folgendermaßen zusammen: „Was am 5. Januar in Berlin geschah, hatte niemand [...] vorausgesehen. Es war eine spontane Massenexplosion. [...] Am 4. Januar [...] trafen sich im Polizeipräsidium der Vorstand der Berliner USPD, die Revolutionären Obleute und zwei Vertreter der [...] KPD, Liebknecht und Pieck, mit Eichhorn und beschlossen, für den Sonntag zu einer Protestdemonstration gegen Eichhorns Absetzung aufzurufen [...]. Aufgerufen hatten sie für Sonntag um zwei Uhr 'zu einer imposanten Massenkundgebung in der Siegesallee'. Aber schon am Vormittag strömten wieder, wie am 9. November, aus allen Arbeitervorstädten riesige Marschkolonnen ins Berliner Stadtzentrum, und um zwei Uhr standen Hunderttausende Kopf an Kopf, nicht nur in der Siegesallee, sondern quer durch den Tiergarten, die Linden entlang, auf dem Schlossplatz [...] bis hinunter zum Alexanderplatz, wo das Polizeipräsidium lag. Es war keine friedliche Versammlung. Es war ein Aufmarsch. Viele waren bewaffnet. [...] Nachdem sie sich Reden angehört hatten [...], gingen die Massen keineswegs auseinander. Genau wie am 9. November ergriffen vielmehr überall plötzlich einzelne [...] die Initiative, gaben Parolen aus und stellten bewaffnete Gruppen und Züge zusammen. [...] Am Nachmittag hatte sich aus der Demonstration eine bewaffnete Aktion entwickelt. Ihr Hauptziel war das Zeitungsviertel. [...] Noch in der Nacht waren überall in der Berliner Innenstadt aufgeregte Züge unterwegs, auf der Suche nach strategischen Zielen, die es zu besetzen [...] galt. [...] Die Revolution, die seit dem 10. November stillgelegen hatte, war wieder ausgebrochen. [...] Am Abend dieses Sonntags waren im Berliner Polizeipräsidium sechsundachtzig Männer versammelt: siebzig Revolutionäre Obleute, zehn Vorstandsmitglieder der Berliner USPD [...], dazu zwei Soldaten- und ein Matrosenvertreter, Liebknecht und Pieck als Abgesandte

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Tragödie als Bühnenform der KPD und [...] Eichhorn selbst. [...] Folgender Aufruf ging noch in der Nacht hinaus: 'Arbeiter! Soldaten! Genossen! Mit überwältigender Wucht habt ihr am Sonntag euren Willen kundgetan, daß der letzte bösartige Anschlag der blutbefleckten Ebert-Regierung zuschanden gemacht werde. Um Größeres handelt es sich nunmehr. Es muß allen gegenrevolutionären Machenschaften ein Riegel vorgeschoben werden! [...] Erscheint in Massen heute elf Uhr vormittags in der Siegesallee! [...]' [...] Dieser Aufruf wurde befolgt. Die Massen waren am Montag vormittag wieder auf den Straßen, vielleicht noch zahlreicher als am Sonntag. Kopf an Kopf standen sie wieder von der Siegesallee bis zum Alexanderplatz, bewaffnet, erwartungsvoll, tatbereit. [...] Jetzt glaubten sie eine Führung zu haben, jetzt erwarteten sie Entscheidung, Kampf und Sieg. Und dann geschah nichts. Die Führung ließ nichts von sich hören. Einzelne Gruppen machten sich wieder selbständig [...]. Die Stunden vergingen. [...] Und es kam kein Befehl. [...] Vom Nachmittag an begannen die Massen sich langsam zu lichten. Am Abend hatten sie sich zerstreut. Und als es Mitternacht schlug, lag die Berliner Innenstadt leer. An diesem 6. Januar 1919 war, obwohl es noch niemand wusste, die deutsche Revolution gestorben.“170

Döblins Schilderung der Ereignisse des 5./6. Januars erstreckt sich – im Wechsel zwischen Straßenszenen (Massenversammlungen im Tiergarten, Demonstrationszüge, Besetzungen) und Innenräumen (Diskussionen der uneinigen Mitglieder des Revolutionsausschusses an wechselnden Orten, die Regierung Ebert in der Reichskanzlei) sowie Nahaufnahmen einzelner Figuren ('Rosa', 'Radek', 'Karl', 'Noske') –, über das gesamte fünfte Buch des vierten Bandes unter dem Titel „Die Revolution schon vor der Schlacht geschlagen“. Der Inszenierungstext nach Schleefs 'Spielfassung' stellt eine stark geraffte Textfassung dieses fünften Buchs Döblins dar, mit Änderungen, die im Folgenden näher zu betrachten sind. Dabei tritt zwischen den Chor-Texten immer wieder eine in der 'Spielfassung' als 'Satan' benannte Figur auf, deren Tenor die Beschwichtigung beziehungsweise Verurteilung der revolutionären 'Masse' ist. Auf diese Stimme wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Zunächst soll hier zur Dokumentation der Szene der in der 'Spielfassung' mit „TIERGARTEN VERRATENES VOLK“ (VV, S. 54) überschriebene Text zitiert werden: „DIE MASSE [alle] Die Revolution marschiert. Was sich an diesen Tagen in Berlin zeigt, ist die / größte / proletarische / Masse, / die die Geschichte je gesehen hat. Wir glauben nicht, daß in / Rußland / Massendemonstrationen dieses Umfangs stattgefunden haben. [Teilchöre, satzweise] Vom Roland bis zur

170 Sebastian Haffner, Die deutsche Revolution 1918/19. Neuausgabe von 1979. Rowohlt: Reinbek, 2004, S. 155ff.

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Verratenes Volk Viktoria stehen die Proletarier Berlins Kopf bei Kopf, bis weit / in den Tiergarten. Wir haben unsere Waffen mitgebracht. Unsere Roten Banner wehen. Wir sind bereit, / wir kämpfen. Das ist eine Armee, / eine neue Armee in Berlin, / eine Armee von 200 000 Mann, wie sie kein Ludendorff gesehen hat. [alle] Wir stehen / und warten. / Wir warten / auf das Signal. Hunderttausende / wälzen sich dem Tiergarten zu, unter Hóch- únd Níederrufen, / mit Musík únd Gesáng, / von allen Teilen der Stadt. Der breite Strom / réißt / Táusende / Únentschlossene / mit. Die friedlichen Bürger pressen sich glótzénd aneinander: Hier marschieren die Richter und Rächer, dás / Rícht/schwért / erhóben. [Teilchöre, satzweise] Aber wér / ist das Gericht? Wér / ist der Gerichtsherr? Wér / fällt das Urteil? [alle] Die / Massen / sind / da, [Teilchöre, satzweise] wo aber ihre Führer? Man sieht keinen! Sind sie nicht da? [alle] Kommen síe, / halten síe / Reden / und / verschwinden wieder. [Teilchöre, satzweise] Was ist los? Sie diskutieren. Sie diskutieren. Sie diskutieren! [alle] Gestern / war alles klar. / Heute ist / alles / anders. SATAN LENIN wispert ins Ohr [Männerstimme] Wahnsinnige. Was ihr vorhabt, ist Blutvergießen. Ihr stürzt das Volk in einen Bürgerkrieg. Nicht genug vom Krieg? Stop. Es ist noch nicht zu spät. Das wäre der bewaffnete Aufstand! Heute ist Montag, gestern war Sonntag. Wie soll von gestern auf heute plötzlich Revolution und Bürgerkrieg dasein, ohne Notwendigkeit, Grund, Ziel. Niemand will den Aufstand. DIE MASSE Niemand will / den Aufstand? Niemand? Der Rausch der Revolution bewegt die Masse. [Teilchöre] Sie schreit / Revolution, Revolution ihre Kapelle, Revolution ihr Gesang, ihr Schweigen / schréit / Revolution. // [alle] Ein böser Tag. // Ignoranz, Feigheit, Verrat und Schwäche, [Teilchor] gekleidet im Gewand der Theorie aus Zuverlässigkeit und Umsicht, machen sich unverzüglich án íhr Wérk, [alle] die Revolution totzuschlagen. [Teilchöre, satzweise] Wo sind die Führer? Sie diskutieren. Sie diskutieren. Sie diskutieren. [alle] Kleinkariertes Parteiengezänk. Liebknecht / diskutiert, Luxemburg / diskutiert, Bürokratie und Cliquenwirtschaft / diskutieren. [Einzelstimme] Ignoranz. [alle] Die Gründung einer Partei fíndet státt, díe ihre Mitglieder ópfert. [alle, leise] Die Massen stehen. / Nachmittag, / der Aufmarsch im Tiergarten [in der Siegesallee*] ist l´ängst beendet. Kapellen haben gespielt, Lieder sind verklungen. Aber die Masse steht / und steht. / Stúmm stéhen wír. [Teilchöre, satzweise, lauter] Die Ankläger stehen. Die Gerichtssitzung sollte beginnen. Man hat uns gerufen. Wir sind da. Wir wußten, was man von uns erwartet. Scharf und hart stehen die kahlen Äste im grauen Regenhimmel. Stunden vergehen. Ein Nebel zieht von der Spree her. Die Kälte nimmt zu. Da und dort beginnen Gruppen von neuem zu singen. Man ist müde. Man stellt die

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Tragödie als Bühnenform Gewehre zusammen. Man debattiert, redet durcheinander, erkundigt sich bei anderen Gruppen, die wissen auch nichts. Schon bröckelt die Masse. Die ersten, die am frühen Nachmittag abziehen, sind Trupps, die geschlossen ins Zeitungsviertel, in die Kámpfzone marschieren. [alle] Als es dunkelt, / irren große und kleine Züge / durch die Stadt, [Teilchor, laut] ungläubig [Teilchor, laut] erschrocken, / [alle, leise] daß nichts / erfolgt, [lauter werdend] bewaffnetes Proletariat ohne Plan und Ziel, / von seiner Führung im Stich gelassen. Das verratene Proletariat Berlins / steht / im Regen. [Teilchöre] In der Siegesallee greifen Auflösung und Zersetzung um sich. Ein komplettes Durcheinander. Nichts mit Tanzen, / Singen, / Bier und Schnaps. [alle] Bewaffnete Kolonnen, / lose Soldatenhaufen, / massenhaft Frauen, / Zivilistentrupps, / orientierungslos trottet Berlín dúrch Berlín. [leise] Masse ist nicht geduldig. Wo sind die Führer. Sie diskutieren sie diskutieren sie diskutieren. [lauter werdend] Das verratene Volk wirft die Gewehre ins Dunkle, setzt sich in eine Kneipe, wärmt sich auf, das verratene Volk kehrt dahin zurück, wo es morgens aufgebrochen ist. Alles ist verdrossen, vergnatzt, viele halten Bier und Gewehr in der Faust, noch immer bereit, sich den aktiven Kämpfern anzuschließen. [Teilchor] Richtig, / aber zu spät. Jétzt múß die Entschéidung fállen! / Sie fällt! / ÁUS! SATAN [Frauenstimme] Arbeiter, Soldaten, Bürger! Heute um 1 Uhr sind 3000 Mann mit starker Artillerie und Maschinengewehren durch Berlin marschiert. Die Regierung hat gezeigt, daß sie die Macht hat, euren Willen durchzusetzen. Im Osten der Stadt plündern Räuber Autos. Räuberei und Plünderung entpuppen sich als letztes, als einziges Ziel des Aufruhrs. DIE MASSE [alle, laut] ÁUS // [flüsternd] der Traum von einer Einigung aller sozialistischen Parteien. ÁUS. / [flüsternd] Die Berliner Arbeiterschaft läßt ihre Todesmutigen im Zeitungsviertel allein. [ÁUS*] [flüsternd] Der Sturm auf das Rote Polizeipräsidium beginnt. / Die letzte Rote Bastion. / Hier entscheidet sich alles. Richtig, / aber zu spät. // [laut] ÁUS. // ÁUS. // ÁUS.“ (VV, S. 54ff.)171

Der in weiten Teilen wortwörtlich Döblins Erzählung folgende Text des Chors, lässt sich als auf das „verratene Volk“ fokussierte, gestraffte Fassung der entsprechenden Szenen in November 1918 beschreiben. Dabei fallen als erstes zwei entscheidende grammatikalische Änderungen im Verhältnis zur Textvorlage Döblins ins Auge: 171 Hier zitiert in der handschriftlichen Bearbeitung der 'Spielfassung' (VV) sowie in Abgleichung mit der Fernsehdokumentation der Szene von Alexander Weil/dctp (markiert durch *). Absatzmarkierung nach 'Spielfassung'. Einfügungen zu Sprechweisen und Stimmverteilung in eckigen Klammern: C.S., Betonungs- und Rhythmuszeichen (C.S.) wie üblich.

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Verratenes Volk Zunächst ist der Chor-Text hier grundsätzlich ins Präsens transponiert. Mit Blick auf die zugrunde liegende Erzählung Döblins ist dies eine Vereinheitlichung der dort beständig wechselnden Tempi. So ist die Erzählung der Massendemonstrationen bei Döblin weitgehend im Präteritum abgefasst, jedoch wechselt das Erzähltempus beispielsweise dann ins Präsens, wenn von den Reaktionen der von den Massenaufläufen überraschten Revolutionsführer, von deren ungläubigem Vergleich zwischen 'gestern' und 'heute' die Rede ist.172 Die durchgängige Präsensfassung des Chor-Textes in der Inszenierung betont hingegen das behauptete 'Hier und Jetzt' der geschilderten Situation, was die direkte Konfrontation des Publikums mit dem Bericht von der Revolution beziehungsweise von dem hier thematisierten 'Verrat' an der Revolution hervorhebt. Zum Zweiten ist festzuhalten, dass die Inszenierung den ChorText teilweise von der dritten Person Plural – bei Döblin – in die erste Person Plural transponiert, so dass aus der distanzierten Beschreibung der 'Proletarier' beziehungsweise der 'neuen Armee in Berlin' eine Übernahme ins 'wir' wird. So wird zum Beispiel aus „Sie hatten ihre Waffen mitgebracht“ (NOV4, S. 314) bei Döblin im ChorText der Inszenierung: „Wir haben unsere Waffen mitgebracht.“ (VV, S. 54) Es zeigt sich jedoch, dass diese Sprechhaltung, die sich durch die Übernahme der distanzierten Beschreibung in die identifikatorische, plurale Figur des 'Wir' kennzeichnet, keineswegs durchgängig ist. Wenig später heißt es im Chor-Text der Inszenierung, immer noch im Präsens, nun aber in der dritten Person, berichtend: „Als es dunkelt, irren große und kleine Züge durch die Stadt, ungläubig erschrocken, daß nichts erfolgt, bewaffnetes Proletariat ohne Plan und Ziel, von seiner Führung im Stich gelassen.“ (VV, S. 55)

Abgesehen vom Tempus, heißt es fast wortgleich bei Döblin: „Als es dunkelte, irrten große und kleine Züge durch die Stadt, noch immer ungläubig und erschrocken, daß nichts erfolgte, bewaffnetes Proletariat ohne Plan und Ziel, kläglich von seiner Führung im Stich gelassen.“ (NOV4, S. 320)

So bleibt der Chor-Text der Inszenierung zwar durchweg im Präsens, wechselt aber mit der Personalität des Sprechtextes die Sprechperspektiven. Entscheidend für die Haltung der Chor-Figur beziehungsweise für den Stellenwert des Chor-Textes in Bezug auf die Form des Berichts der Revolution ist der Beginn der zitierten „Tiergarten“-Szene, 172 Vgl. NOV4, S. 314f.

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Tragödie als Bühnenform der bei Döblin als 'Augenzeugenbericht' bezeichnet ist. Schleefs 'Spielfassung' übernimmt Döblins Kapitelüberschrift „Die Revolution marschiert“ als ersten Satz des Chor-Textes. Der bei Schleef folgende, in der Inszenierung chorisch gesprochene Text wird von Döblins Erzähler als Bericht mehrerer oder vieler Augenzeugen ausgewiesen. Zum Vergleich die beiden Texte: Döblin, November 1918, Bd. 4, Fünftes Buch, Kapitel „Die Revolution marschiert“:

Schleef, 'Spielfassung' Verratenes Volk, Beginn der Szene „TIERGARTEN VERRATENES VOLK“:

„Über alles Maß hinaus ging dieser Aufmarsch der revolutionären Arbeiterschaft. Später, als alles vorbei war, berichteten Augenzeugen: 'Was sich in diesen Tagen in Berlin zeigte, war vielleicht die größte proletarische Masse, die die Geschichte je gesehen hat. Wir glauben nicht, daß in Rußland Massendemonstrationen dieses Umfangs stattgefunden haben. Vom 'Roland' bis zur 'Viktoria' standen die Proletarier Kopf bei Kopf. Bis weit in den Tiergarten standen sie. Sie hatten ihre Waffen mitgebracht. Sie ließen ihre roten Banner wehen. Sie waren bereit, alles zu tun, alles zu geben, selbst das Leben. Es war eine neue Armee, eine neue Armee in Berlin, eine Armee von zweihunderttausend Mann, wie sie kein Ludendorff gesehen hatte. Sie stand und wartete. Sie wartete auf das Signal.'“ (NOV4, S. 313f.)

„Die Revolution marschiert. Was sich an diesen Tagen in Berlin zeigt, ist die größte proletarische Masse, die die Geschichte je gesehen hat. Wir glauben nicht, daß in Rußland Massendemonstrationen dieses Umfangs stattgefunden haben. Vom Roland bis zur Viktoria stehen die Proletarier Berlins Kopf bei Kopf, bis weit in den Tiergarten. Wir haben unsere Waffen mitgebracht. Unsere Roten Banner wehen. Wir sind bereit, wir kämpfen. Das ist eine Armee, eine neue Armee in Berlin, eine Armee von 200 000 Mann, wie sie kein Ludendorff gesehen hat. Wir stehen und warten. Wir warten auf das Signal.“ (VV, S. 54)

Zunächst wird mit der Übernahme des mehrstimmigen 'Augenzeugenberichts' in den Chor-Text der Chor selbst als Figur der Zeugenschaft aufgerufen. Im Gestus der Zeugenfigur berichtet der Chor hier, „[w]as sich an diesen Tagen in Berlin zeigt“. Er verweist damit auf eine Möglichkeit der Chor-Figur, die darin besteht, etwas zu Gehör zu bringen, was auf der Szene notwendig abwesend ist.

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Verratenes Volk Zugleich arbeitet der Gestus des Zeugenberichts einer vereindeutigenden Interpretation des Chors als identifikatorischer Sprechfigur entgegen. Eine Ineinssetzung der Chor-Figur mit der im Tiergarten versammelten 'Masse' wird dadurch unterlaufen. Auf der anderen Seite scheint die Übernahme der grammatikalischen Form des pluralen 'Augenzeugenberichts' – „Wir glauben nicht, dass...“ – in den weiteren Chor-Text, mithin die Transformation des Berichts über die Massen in der dritten Person Plural – „Sie hatten ihre Waffen mitgebracht“ – in die erste Person Plural, für eine Identifikation des Chors mit der in Döblins 'Augenzeugenbericht' beschriebenen Masse zu sprechen. Diese potenzielle Identifizierung von Chor-Figur und 'Masse' erweist sich jedoch bereits auf der Ebene des Textes immer wieder als fragil beziehungsweise höchst ambivalent: So beschreibt der Chor-Text in der Übernahme des 'Augenzeugenberichts' die in der Siegesallee 'aufmarschierten' Massen als einer 'neuen Armee' nicht, indem die Sprechperspektive eines identifikatorischen 'Wir' eingesetzt wird, sondern die Sprechfigur bleibt dem darzustellenden Objekt äußerlich. Vielmehr zeigt der Chor-Text hier auf das zu beschreibende Phänomen: „Das ist eine Armee“. Damit nimmt der Text wieder den Gestus des Zeigens ein, welcher der Berichtform zueigen ist. Der Gestus des Chor-Textes oszilliert zwischen der Sprechposition einer fragilen Identifikation mit der geschilderten Figur der 'Masse' – „Hier marschieren die Richter und Rächer“ – und einer grammatikalisch definierten Form des Berichts über etwas – „Hunderttausende wälzen sich dem Tiergarten zu“. Jedoch bleibt der Gestus des Zeigens, der dem Modus des Berichts eignet, stets im Vordergrund des Chor-Textes. Die Nachträglichkeit des Sprechens, die – trotz Tempusverschiebung – dem chorischen Bericht innewohnt, lässt somit die im Text auftretende Sprechfigur des 'Wir' als zitierte Figur erscheinen. So können die „Ankläger“, das „verratene Proletariat Berlins“, grammatikalisch als 'wir' auftreten – „Man hat uns gerufen. Wir sind da.“ Gleichzeitig können jedoch die ChorFigur und die Sprechfigur des 'Wir' nicht als miteinander identische Figuren bezeichnet werden. Das beständige Oszillieren der Sprechperspektiven im Chor-Text verdeutlicht die Nicht-Identität von Chor-Figur und 'Volk' beziehungsweise 'Masse' beziehungsweise 'Verratenem Volk'. Gerade durch den Gestus des Zeigens, der durch die Figur der Augenzeugenschaft in Döblins Text aufgerufen wird, wird deutlich, dass die Figur des Chors als Sprechfigur und die Figur 'Volk' als Sprachfigur, über die der Text spricht, nicht identisch im Sinne von Darstellung sein können. Die Figur 'Volk', die in Döblins Erzählung weniger als Sprecher, denn als Besprochene auftritt, wird im chorischen Sprechen nicht repräsentiert, insofern sich dieses durch die Übernahme

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Tragödie als Bühnenform von Sprechfiguren im Modus des Berichts kennzeichnet. Festzuhalten ist daher die besonders an dieser Stelle hervortretende Differenz zwischen der ästhetischen, theatralen Figur des Chors und den im chorischen Sprechen auftretenden inhaltlichen Chor-Figurationen – wie 'Volk', 'Matrosen', 'Soldaten', 'Hunderttausende'. Die theatrale Figur des Chors stellt diese pluralen Figurationen nicht dar, sondern bringt vielmehr in wechselnden Sprechperspektiven und Erzählhaltungen Positionen und Geschehnisse zu Gehör, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht repräsentiert werden können. Die Möglichkeit der theatralen Figur des Chors, das eigentlich Nicht-Repräsentierbare und auf der Szene notwendig Abwesende zu Gehör zu bringen, wird zudem von der räumlichen Disposition der Szene unterstützt: Indem der Chor sich, auf der dunklen Vorderbühne stehend, wie eine große Schattenfigur von dem hinter ihm liegenden, fast unbeleuchteten Bühnenkasten absetzt, wird hier fast nichts zu sehen gegeben. Mit der Ausblendung der visuellen Ebene ereignet sich die Chor-Szene auf der auditiven Ebene, was den Theaterraum in erster Linie zum Hörraum macht und somit Chor als Figur des Gehörtwerdens exponiert. Um auf die im Chor-Text thematisierte Frage des 'Verrats' zurückzukommen, soll noch einmal die Figur des 'Satan' betrachtet werden. Der erste Auftritt des Satan in dieser Szene erfolgt als Stimme der Beschwichtigung. Eine einzelne Stimme, so Schleefs Textfassung, tritt hier vor den Chor und warnt mit Verweis auf die Erinnerung an den Weltkrieg vor einem „Bürgerkrieg“ (VV, S. 54). In Döblins Erzählung gehört diese Stimme einem „Dämon“ (NOV4, S. 314), der den Mitgliedern des Revolutionsausschusses, die nachts im Marstall versammelt und von der Heftigkeit und Größe der Massenversammlungen irritiert sind, in die Ohren „wispert“: „Ihr seid Wahnsinnige. Was ihr vorhabt, ist Blutvergießen. Ihr stürzt das Volk in einen Bürgerkrieg. War nicht schon genug Krieg? Haltet ein. Es ist noch nicht zu spät.“ (NOV4, S. 314f.)

Der 'Dämon' wird also hier als Gegner der revolutionären Erhebungen gezeichnet. Schleefs Textfassung führt die Stimme des 'Dämons' weiter, indem sie die bei Döblin nicht als Rede markierten Überlegungen der USPD-Mitglieder, die zur selben Zeit in der Schicklerstraße tagen, in die Redefigur des 'Satan' miteinschließt. So heißt es in November 1918 hinsichtlich der unausgesprochenen Gedanken der versammelten Unabhängigen: „Aber so ist es doch nicht gemeint gewesen. Das wäre doch der bewaffnete Aufstand. [...] Einer sieht den anderen an. Heute ist Montag und gestern war Sonntag. Wie soll denn von gestern auf heute plötzlich Revolution und Bürgerkrieg dasein, ohne Grund, ohne Notwendigkeit, ohne unsere Ab-

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Verratenes Volk sicht. [...] So sitzt man in der Schicklerstraße und stellt fest: Niemand hat den Aufstand gewollt.“ (NOV4, S. 315)

„Niemand will den Aufstand“, lautet der letzte Satz der ersten Stimme des 'Satan' in Verratenes Volk, hier ins Präsens gesetzt, der bei Döblin die Stimmung der Unabhängigen zusammenfasst. Döblins Figur des Dämons, der zwischen den Mitgliedern des Revolutionsausschusses im Marstall umhergeht, sowie die atmosphärische Situationsschilderung im Quartier der Unabhängigen, werden somit in Schleefs Textfassung zusammengeschlossen. Indem der Chor bei Schleef den letzten Satz des 'Satan': „Niemand will den Aufstand“, fragend wiederholt: „Niemand will den Aufstand? Niemand?“, wird die von 'Satan' als allgemeine Behauptung deklarierte Feststellung öffentlich – und darüber hinaus öffentlich in Frage gestellt. Durch das öffentliche Infragestellen der Beschwichtigungsstimme der als konterrevolutionär definierten Figur des Satan wird des Weiteren die Differenz zwischen revolutionärer Stimmung auf der Straße und den zweifelnden Überlegungen in den Quartieren der Revolutionsführer in eine direkte Konfrontation übersetzt. Der Konflikt zwischen 'Drinnen' und 'Draußen', die bei Döblin als voneinander absolut getrennte Räume erscheinen, wird durch diese Übersetzung in die direkte Konfrontation zwischen Chor und Einzelstimme im wörtlichen Sinn ver-öffentlicht. Diese Auffassung des veröffentlichenden Sprechens, die den Gestus der Chor-Figur kennzeichnet, wird zudem von der Definition des Bühnenraums hervorgehoben: Indem die Hinterszene hier völlig ausgeblendet wird, wird die Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Hinter- und Vorderszene hinfällig. Die Chor-Szene, die einzig das 'Volk' auf der Straße thematisiert, indem sie die bei Döblin als vom Außen absolut getrennt definierten Innenräume der politischen Verhandlungen ausblendet, signalisiert auch im Hinblick auf den Bühnenraum: Alles ist außen, alles ist öffentlich. War in der Szene der doppelten Republikausrufung die Hinterszene noch als zweigeteiltes Machtzentrum definiert, erscheint an dieser Stelle nun ein politisches Vakuum. Die Szene spielt jetzt vor einem 'Palast', der eingestürzt ist, das Machtzentrum erscheint als Leerstelle. Diese Problematik thematisiert auch der Text des Chors. Angesichts der auf der Straße marschierenden „Richter und Rächer“, die als „Ankläger“ gegen den 'Verrat' an der Revolution auftreten, stellt der Chor die Frage: „Aber wer ist das Gericht? Wer ist der Gerichtsherr? Wer fällt das Urteil?“ Die „Führer“, die die Macht im Sinne der versammelten 'Massen' übernehmen sollten, sind nicht da. Der Konflikt zwischen dem im Text thematisierten Warten der auf den Straßen versammelten 'Massen' und der Abwesenheit der

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Tragödie als Bühnenform Revolutionsführer kommt in der mehrfach wiederholten Satzkette „Sie diskutieren. Sie diskutieren. Sie diskutieren.“ zum Ausdruck. Worin besteht also der im Chor-Text thematisierte 'Verrat' der 'Massen', des versammelten 'Volks'? – „Masse ist nicht geduldig.“ Das zum Aufstand gegen die Regierung bereite, aber bereits jetzt, so Schleefs Text, „verratene Volk“173 wartet auf eine „Entscheidung“ zur Machtübernahme von Seiten der Revolutionsführer. „Jetzt muß die Entscheidung fallen! Sie fällt!“, so der Text der 'Spielfassung', dem an dieser Stelle handschriftlich in Versalien das Wort „AUS!“ hinzugefügt ist. Im chorischen Sprechen signalisiert hier eine lange Zäsur die Anspannung der Situation und deren plötzlichen Umschlag: „Sie fällt! // AUS!“ Die mehrfache Wiederholung des sehr laut gesprochenen Wortes „AUS“ im letzten Abschnitt des Chor-Textes thematisiert die Enttäuschung nach der ausgebliebenen Entscheidung. Im Wechsel zwischen sehr lauter Intonation, beinahe einem Schrei auf das Wort „AUS“, und einem sehr leisen Sprechen, fast Flüstern, beschreibt der Chor hier den Inhalt dieser Desillusionierung als Ende eines „Traums“. „AUS“, so der Chor-Text, sei der „Traum von einer Einigung aller sozialistischen Parteien“. Der Wechsel zwischen Flüstern des Textes und Schrei, der extreme Unterschied der Stimmmodulation, der hier zudem durch die langen Zäsuren vor und nach den Wiederholungen des „AUS“ hervorgehoben wird, scheint den Gegensatz beziehungsweise den radikalen Bruch zwischen der beschriebenen Situation der ausgefallenen Entscheidung und dem erwähnten Traum zu unterstreichen. Mit dem zum Schluss des ChorTextes berichteten Sturm auf das besetzte Polizeipräsidium endet also nicht nur die Revolution, wie die nachdrückliche Formulierung des „AUS“ nahe legt, sondern auch ein Traum.

ENDE EINES TRAUMS ODER WIEDERKEHR EINES GESPENSTS? Der Nachdrücklichkeit des dreimal wiederholten Schreis auf das Wort „AUS“ wohnt die Formelhaftigkeit einer Beschwörung inne. Diese mag auf die Gespenstigkeit der Idee verweisen, die diesen (unmöglich gewordenen) Traum begründet. Schon das Wort „Traum“ deutet auf den Modus der Wiederkehr, der die Auftrittsweise des Gespensts bezeichnet. Das Gespenst, das in dieser formelhaften Beschwörung des „AUS“ wiederkehrt, scheint „das Gespenst

173 Bei Döblin das „verlassene Volk“, so das gleichnamige Kapitel, in welchem es über die Auflösung der Versammlungen heißt: „Noch immer Montag. Es ist dunkel. Der Regen fällt. Die letzten Züge verlassen die Siegesallee. Die Massen waren nicht ungeduldig. Aber jetzt ist klar: Sie sind verlassen.“ (NOV4, S. 325)

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Verratenes Volk des Kommunismus“174 selbst zu sein, dessen erste Auftrittsform bereits im Manifest der Kommunistischen Partei die des Gespensts sei, wie Jacques Derrida konstatiert.175 Dem Kommunismus selbst sei somit von Beginn seiner Formulierung die Form der Gespenstigkeit eingeschrieben. In seinem Essay Marx’ Gespenster entwirft Derrida, in Bezug auf die im vieldeutigen Titel genannten Gespenster Marx’, eine „Politik des Gedächtnisses, des Erbes und der Generationen“, welche notwendig ein „Mitsein mit den Gespenstern“176 erfordere. Notwendig sei die Auseinandersetzung mit dem Gespenstischen – welches „niemals als solches präsent“177, immer jedoch pluralisch sei, das heißt mehr als eins, ja vielmehr „das mehr als Eine“178 –, aufgrund der Frage nach der Gerechtigkeit, so Derrida im Vorwort zu Marx’ Gespenster: „Wenn ich mich anschicke, des langen und breiten von Gespenstern zu sprechen, von Erbschaft und Generationen, von Generationen von Gespenstern, das heißt von gewissen anderen, die nicht gegenwärtig sind, nicht gegenwärtig lebend, weder für uns noch in uns, noch außer uns, dann geschieht es im Namen der Gerechtigkeit. Der Gerechtigkeit dort, wo sie noch nicht ist, noch nicht da, dort, wo sie nicht mehr ist, das heißt da, wo sie nicht mehr gegenwärtig ist, und da, wo sie niemals, nicht mehr als das Gesetz, reduzierbar sein wird aufs Recht. Von da an, wo keine Ethik, keine Politik, ob revolutionär oder nicht, mehr möglich und denkbar und gerecht erscheint, die die nicht in ihrem Prinzip den Respekt für diese anderen anerkennt, die nicht mehr oder die noch nicht da sind, gegenwärtig lebend, seien sie schon gestorben oder noch nicht geboren, von da an muß man vom Gespenst sprechen, ja sogar zum Gespenst und mit ihm.“179

Dem Sprechen 'mit dem Gespenst', das seine ambivalente Existenz im heterogenen Vorgang des Erbens gründe, sei somit selbst eine tiefe Ambiguität zueigen. So zeigt Derrida eine ambivalente Doppelbewegung im Sprechen mit dem Gespenstischen: in der Geisterbeschwörung einerseits und der Jagd auf Gespenster andererseits. Noch der Austreibung, dem Exorzismus der Geister wohne mithin immer auch die Ebene einer performativen Bestätigung inne. Diese 174 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies., Werke (MEW). Bd. 4. Berlin: Dietz, 1972, S. 459-493, hier: S. 461. 175 Vgl. Jacques Derrida, Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale. Frankfurt am Main: Fischer, 1995, S. 18. 176 Ebd., S. 11, Hervorhebung im Original. 177 Ebd., S. 10, Hervorhebung im Original. 178 Ebd., S. 14, Hervorhebung im Original. 179 Ebd., S. 11, Hervorhebungen im Original.

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Tragödie als Bühnenform Ambiguität der Gespensterbeschwörung, die nach Derrida jedes Sprechen mit oder zu einem notwendig zwiespältigen Erbe kennzeichnet, scheint auch die dreifache formelhafte Wiederholung des „AUS“ seitens des Chors zu markieren, in der das Ende des kommunistischen 'Traums' besprochen wird. Im Hinblick auf die von Derrida aufgeworfene Gerechtigkeitsproblematik, in deren Namen die Auseinandersetzung mit dem gespenstischen Erbe notwendig sei, ist also zu fragen, inwiefern – mit Blick auf den ungerä/echten 'Verrat' der „Richter und Rächer“, von denen der Chor-Text in Verratenes Volk spricht – die Beschwörung des Kommunismus, die in der dreifachen Formel des „AUS“ zum Ausdruck kommt, als Frage nach der Gerechtigkeit aufgefasst werden kann. Im Rückblick auf die Szene der Nietzsche-Figur, die mit Ecce homo in Verratenes Volk als zorniger Anti-Idealist auftritt, der mit der 'Umwertung aller Werte' seine finale Abrechnung mit dem Idealismus ankündigt, stellt sich die Frage nach der Auseinandersetzung mit dem Gespenstischen 'im Namen der Gerechtigkeit' umso radikaler. – Gerade hinsichtlich Nietzsches formelhafter Beschwörung der 'Umwertung aller Werte', mit der seine apokalyptische Ankündigung von bisher unvorstellbaren Kriegen und die Verkündigung des Endes der Politik einhergeht, kann Derridas Analyse der ambivalenten Doppelbewegung von Gespensterbeschwörung geltend gemacht werden. Spielt nicht der Entwurf des 'Übermenschen' durch die Zarathustra-Figur, den Nietzsche in Ecce homo als sein 'teuflisches' alter ego an die Wand malt, auf der Rückseite des angeblich durch den 'ersten Immoralisten' verworfenen Idealismus? – Auch Nietzsches apokalyptische Ankündigung der 'Umwertung aller Werte' scheint mit der Beschwörung des 'Gespensts des Kommunismus' als Gespenst wiederzukehren. Auch auf dieses Gespenst scheint die Chor-Szene, aus der Perspektive nach dem Ersten Weltkrieg und vom Ende der Revolution, zurückzublicken. Mit Nietzsches anti-idealistischer Gespensterbeschwörung taucht auch die Frage nach dem Konzept des 'Übermenschen' wieder auf. Im Zusammenhang mit der chorischen Verkündung vom Ende des kommunistischen Traums, der in der Beschwörung, folgt man Derridas Analyse, gleichzeitig mit der Verkündigung seines Endes als Gespenst wiederkehrt, stellt sich die Frage nach einer potenziellen Parallele zwischen dem Entwurf der antimetaphysischen Figur des 'Übermenschen' und der Forderung nach einer 'neuen Art Mensch', die, so Döblins Erzählung mit Blick auf Lenin, zur Durchführung der Revolution beziehungsweise zur Verwirklichung des Sozialismus 'geschaffen' werden müsse. Die folgende Chor-Klage kann in diesem Sinn auch als ironischer Kommentar zu den Konzepten eines 'neuen Menschen' aufgefasst werden.

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Verratenes Volk

CHOR-KLAGE UND DIE FRAGE NACH DEM OPFER Nach Ende des Chor-Textes wird noch einmal die in Schleefs 'Spielfassung' als 'Satan' ausgewiesene Einzelstimme hörbar: „Mit wachsendem Entsetzen folgen wir dem mörderischen Bürgerkrieg. Er muß enden, soll nicht ganz Deutschland zugrunde gehen. Berlins Beispiel hat eine demoralisierende Wirkung. Es erzeugt eine Epidemie von Krankheiten, das einzige Mittel der Heilung besteht in einer Regierung, die vom Vertrauen des Volkes getragen wird und alle sozialistischen Parteien einschließt, die entschlossen ist, Demokratie und Sozialismus in Deutschland zum Siege zu verhelfen. Überall wächst der Zorn auf Berlin.“ (VV, S. 56)

In Döblins Erzählung ist dieser Text als Zitat eines den 'Spartakusaufstand' betreffenden Telegramms von Kurt Eisner an die Reichsregierung ausgewiesen.180 Mit dem direkten Anschluss dieses Textes, der die revolutionären Aufstände in Berlin verurteilt und – „zu spät“ – eine sozialistische Einheitsregierung fordert, an den ChorText, konfrontiert Schleefs Textfassung diese Forderung mit dem gerade von Seiten des Chors verkündeten „AUS“ des „Traum[s] von einer Einigung aller sozialistischen Parteien“. Nach dieser, von Döblins Erzähler als einigermaßen naiv dargestellten, aus der Sicht des Chor-Textes mindestens verspäteten Äußerung der Einzelstimme beginnt der große Chor, immer noch auf dem vorderen Teil der beinahe unbeleuchteten Bühne stehend, die von Hanns Eisler komponierte „Ballade von der Krüppelgarde“ zu singen: „Wir sind die Krüppelgarde, die schönste Garde der Welt, wir zählen fast 1 Milliarde, wenn man die Toten mitzählt. Die Toten können nicht mitgehn, die müssen im Grabe sein, und können nicht im Schritt gehen, die Mehrzahl hat nur ein Bein. Unser Leutnant kommt von den Toten, unser Hauptmann hat einen Stumpf, unser Feldmarschall kriecht am Boden und ist nur noch ein Rumpf. Wir sind die Garde der Krüppel, und jedem zweiten Mann schnallt man solide Knüppel direkt an den Knochen an.

180 Vgl. NOV4, S. 472f.

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Tragödie als Bühnenform [gesprochen] Sie sagten: Es sind die Prothesen viel schöner als Arm und Bein. Sie sagten: Die Blinden lesen mit den Fingern nochmal so fein. [gesungen] Und könnten die Toten genesen, sie brächten sie auch noch in Trab, statt hoffnungslos zu verwesen in einem Massengrab. [gesprochen] Sie sagten: Nun geht man wieder an die Arbeit und faulenzt nicht. Sie sagten: Es tun die falschen Glieder am Fließband auch ihre Pflicht! [gesungen, langsam] Wartet ab, wenn wir auch hinken, gegen euch werdn wir stramm marschiern. Was tuts, wenn wir zum linken das rechte Bein verliern. [schnell] Wir sind die Krüppelgarde, das stärkste Bataillon, die allererste Reihe in der Weltrevolution.“181

Subjekt des antimilitaristischen Lieds ist ein Chor von Kriegsopfern, der seine politische Position in der „allerersten Reihe der Weltrevolution“ verankert. Indem die sarkastische Racheankündigung des Chors nicht nur im Namen der Überlebenden, sondern auch der Toten statthat, wird der Chor hier selbst zur gespenstischen Figur, die wiederum zur Auseinandersetzung mit dem Erbe des Militarismus auffordert beziehungsweise die Dringlichkeit einer solchen Auseinandersetzung einklagt. Nach dieser chorischen Anklage öffnet sich die Holzklappe in der linken Bühnenrückwand, aus der nun Licht in den bis dahin fast unbeleuchteten Bühnenraum fällt. Ein Frauenchor spricht aus diesem 'Fenster' einen Bericht vom Sturm auf das besetzte Polizeipräsidium, den Toten und Verwundeten der Kämpfe.182 Indem der

181 Musik: Hanns Eisler („Ballade von Krüppelgarde“. In: Ders., Balladenbuch op. 18, Nr. 1), Text: David Weber. Hier zitiert nach: Einar Schleef, Computertyposkript zur Inszenierung Verratenes Volk. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2137, Absatzmarkierungen nach Computertyposkript Schleefs, Einfügungen: C.S. 182 Der Kampf um das besetzte Polizeipräsidium umfasst bei Döblin weite Teile des 7. Buchs von Band 4 („Das Polizeipräsidium – Der schwarze Schwan fliegt“). Die in der 'Spielfassung' von Verratenes

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Verratenes Volk Frauenchor auf der Hinterbühne die Szenen im Innern des Gebäudes schildert, während laut 'Spielfassung' Tanja vom „Tumult“ (VV, S. 56) auf den umliegenden Straßen berichtet, erscheint die Hinterszene, zu der die Bühne sich hier wieder geöffnet hat, nun als das Polizeipräsidium definiert. Der große Chor steht weiterhin schweigend auf der Vorderbühne und ist somit als Hörer und Zeuge des Chorberichts definiert. Der Bericht vom „FALL DES POLIZEIPRÄSIDIUMS“ durch den Frauenchor endet mit der Beschreibung des „Aufruhr[s]“ (VV, S. 57) in den Straßen rings um den Alexanderplatz. Auf das Wort „Aufruhr“ laufen die Mitglieder des großen Chors in Richtung Hinterbühne, die Holzklappe schließt sich. Allein auf der jetzt wieder dunklen Bühne bleibt Tanja zurück, die von tumulthaften Szenen nach der Erstürmung des Präsidiums und von einem massenhaften Eingreifen in die Kampf- und Verhaftungsszenen zugunsten der Besetzer berichtet. Die Szenerie von Tod und Zerstörung, mit der ihr Text endet, wird von dem Frauenchor am Fenster wiederholt: „Als endlich im Innern aufgeräumt ist, widmet man sich denen auf der Straße, verjagt die, die übereinander stolpern, nach alle[n] Seiten spritzen, sich überrennen, selber verletzen, viele bleiben verletzt liegen, suchen in den inzwischen verbarrikadierten Häusern vergeblich Zuflucht, es ist, als wäre eine Bombe in einer Menschenmenge explodiert.“ (VV, S. 57)

Auf das letzte, stark akzentuiert und laut gesprochene Wort „éx/pló/díert“ schließt sich die Fensterklappe erneut mit einem lauten Knall, worauf die Bühne dunkel ist. Döblins Text erzählt zum Schluss des Kapitels „Fall des Präsidiums und Nachspiel“ von Folter und Erschießung der Aufständischen durch die Regierungstruppen auf einem Kasernenhof183, worauf sich der Schlusstext von Tanja bezieht, der von der politisch motivierten Umdeklarierung der Toten spricht: „Die Toten, die man später bei den Aufräumungsarbeiten sammelt, werden als Opfer früherer Kämpfe deklariert. Berlin ist wieder sauber.“ (VV, S. 57)

Nach Ende des Berichts vom Fall des Polizeipräsidiums ändert sich das Bühnenlicht: Auf dem Bühnenboden erscheint ein von der Mitte der Bühnenrückwand nach vorne verlaufender Lichtsteg, auf dem eine Gruppe nackter Männer in zwei Reihen, in extrem langsamer Bewegung zu sehen ist. Getragen und gleichfalls sehr langsam singt Volk mit „DER FALL DES POLIZEIPRÄSIDIUMS“ (VV, S. 56f.) betitelte Szene beruht hauptsächlich auf dem letzten Kapitel, „Fall des Präsidiums und Nachspiel“ (vgl. NOV4, S. 505ff.). 183 Vgl. NOV4, S. 508.

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Tragödie als Bühnenform der Chor noch einmal Brechts „Grabrede über einen Genossen, der an die Wand gestellt wurde“184: „Aber als er zur Wand ging, um erschossen zu werden Ging er zu einer Wand, die von seinesgleichen gemacht war Und die Gewehre, gerichtet auf seine Brust, und die Kugel Waren von seinesgleichen gemacht.“185

Bei der Wiederholung der Anfangszeilen fällt die Hälfte des Chors, auf das Wort „Gewehre“, um. Darauf wird die Bühne wieder dunkel. Mit der Wiederholung der „Grabrede“, die hier wie ein Kommentar zu der zuvor berichteten Erstürmung des besetzten Polizeipräsidiums erscheint, die in Döblins Erzählung das endgültige Ende der Revolution markiert, endet die von Schleef mit „Verratenes Volk“ überschriebene Szene. Zum dritten Mal in diesen aufeinander folgenden Chor-Szenen wird hier die Frage nach dem Opfer gestellt: zunächst durch den großen Chor in Bezug auf die im Tiergarten versammelten, vergeblich auf die Revolutionsführer wartenden Massen, die Döblin als das 'verlassene Volk', Schleefs Textfassung als 'verratenes Volk' bezeichnet. Zum zweiten Mal fragt der große Chor mit der „Ballade von der Krüppelgarde“ nach den Opfern des Weltkriegs mit Blick auf den unüberwundenen Militarismus, wobei die Geste der Frage mit der Ankündigung der massenhaften Einreihung der Kriegsopfer in die „Weltrevolution“ verknüpft wird. Schließlich wendet sich die Frage nach dem Opfer mit dem Zitat der „Grabrede“ wieder zurück auf die Frage nach dem Konflikt zwischen dem Einzelnem, der hier als nackter sterblicher Körper erscheint, und dem Kollektiv beziehungsweise der vom Kollektiv verfolgten Umsetzung einer Idee. Mit Brechts Text, der die Problematik der Singularität thematisiert, verweist der Abschluss der Chor-Szene zurück auf die im Text über das „Verratene Volk“ ausgesprochene Frage nach dem Verhältnis von Einzelnem und Partei. Schleefs Textfassung der ChorSzene konstatiert mit Bezug auf die Gründung der KPD im Januar 1919: „Die Gründung einer Partei findet statt, die ihre Mitglieder opfert.“ (VV, S. 54) Dieser Satz aus Schleefs 'Spielfassung' ist einer der wenigen in dieser Szene, die nicht auf Döblins Erzählung rekurrieren. Da das zweite Zitat der „Grabrede“ direkt auf den ChorBericht vom Ende der Revolution folgt, verweist die Szene zurück auf die in diesem Satz angesprochene Problematik. Indem die drei184 Bertolt Brecht/Hanns Eisler, vgl. Anmerk. 135. 185 Bertolt Brecht, „Bericht über den Tod eines Genossen“. (Aus: Lieder Gedichte Chöre) In: Ders., Werke (GBA). A.a.O., Bd. 11, S. 236. Vgl. auch: Bertolt Brecht: Die Mutter (1933). V. 21ff. In: Ders., Werke (GBA). A.a.O., Bd. 3, S. 310.

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Verratenes Volk malige Frage nach dem Opfer in der beschriebenen Weise variierend gestellt wird, schließt die Inszenierung die Frage nach dem Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv mit der Frage nach dem Verhältnis von Revolution und Partei zusammen. Dadurch, dass der Einzelne hier nicht mehr als Protagonist, sondern als nackter Körper beschrieben wird, der in Stimme und Bewegung Teil einer Chorformation ist, thematisiert die Szene im Verbund mit den vorangehenden Chor-Szenen auch Schleefs These von der 'Umkehrung der antiken Konstellation', die nach seiner Auffassung die ästhetischen und inhaltlichen Problemstellungen der Moderne kennzeichnet. Inwiefern und wie die Problematik des Verschwindens des Protagonisten mit der Umkehrung der Opferfrage zusammenhängt, thematisieren die folgenden Szenen, die Verrat und Ermordung von Luxemburg und Liebknecht in Verbindung mit dem Skandalon des geopferten Chors setzen.

Der „„Go Golgathaweg Go lgathaweg der Arbeiterklasse“. Das letzte Gespräch und die chorische Wiederkehr der Frage nach dem Opfer Die Frage nach dem Opfer prägt auch den letzten Abschnitt der Inszenierung. Die nachfolgend geschilderte Szene porträtiert, wiederum Döblins Erzählung folgend186, das letzte Gespräch zwischen den Figuren Luxemburg und Liebknecht vor deren Ermordung. Mit der Rückkehr der Protagonisten auf die Szene, insbesondere der zuvor zur Ikone erstarrten Protagonistin, scheint sich die Frage nach dem Opfer zunächst auf die Tragödie des Einzelnen – hier: der beiden Einzelfiguren Luxemburg und Liebknecht – zuzuspitzen. Mit der vor allem auditiv vermittelten Rückkehr des Chors auf die Szene, die zunächst den als Opfer markierten Protagonisten zu gehören scheint, stellt sich die Frage nach dem Opfer jedoch wieder neu: Wer wird hier geopfert, und von wem? In welchem Verhältnis stehen hier Chor und Einzelfigur? Welche politische Konstellation ergibt sich auf der Szene nach dem und durch den Mord an den Protago186 Schleefs Textfassung schließt dabei zwei Gesprächsszenen zwischen 'Karl' und 'Rosa' aus Döblins Erzählung zusammen: 1) eine in einer 'Unterschlupfwohnung' in Neukölln, die während der Erstürmung des Polizeipräsidiums durch die Regierungstruppen stattfindet – Kapitel „Am Halleschen Tor und in Neukölln“ im 8. Buch des 4. Bandes von November 1918, das mit „Der Mord an Karl und Rosa“ betitelt ist –, und 2) eine in ihrem letzten Versteck in einer Wohnung in Wilmersdorf – Kapitel „Der Morgen des letzten Tages“ und „Karl schwelgt in Miltons 'Verlorenem Paradies'“, beide ebenfalls Teil des 8. Buchs von Band 4.

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Tragödie als Bühnenform nisten der Revolution? Wie lässt sich der von Schleef in Döblins Erzähltext eingefügte, markant herausstechende Satz auffassen: „Die Gründung einer Partei findet statt, die ihre Mitglieder opfert“ (VV, S. 54)? Welche Bedeutung kommt ihm zu, vor allem im Hinblick auf Funktion und Bedeutung des Chors in Verratenes Volk, durch den dieser Satz in der vorangehenden Szene ausgesprochen wird? Welche Partei ist gemeint? Die 'Ebert-Noske-Scheidemann', wie Rosa Luxemburg in ihren letzten Artikeln von Januar 1919 in der Roten Fahne die von der vormaligen SPD übrig gebliebene Partei der Regierenden bezeichnet? Dies scheint zunächst, vor allem im Zusammenhang mit dem Zitat des im Vorwärts erschienenen ZicklerGedicht, das zum Mord an Luxemburg und Liebknecht aufruft, am nächstliegenden. Andererseits geht es aber gerade um die Gründung einer Partei, und die Partei, die am 1.1.1919 gegründet wird und in der Luxemburg und Liebknecht Mitglied sind, ist die KPD. Stellt die Inszenierung also die Frage, inwiefern diese Partei Luxemburg und Liebknecht als deren Mitbegründer und Vordenker 'geopfert' hat? Oder geht sie noch einen (chronologischen) Schritt weiter – zumal mit Blick auf den Untertitel der Inszenierung, der auf den Zusammenhang mit dem Jahr 1989 als zweiter deutscher Revolution im 20. Jahrhundert anzuspielen scheint? Zwar wird in Verratenes Volk die Feststellung der konkreten Verantwortung für den politischen Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht szenisch nicht umgesetzt. Das Wissen um den Tathergang am 15.1.1919 – um die Rolle der im Hotel Eden stationierten Gardekavallerieschützendivision und deren Mitglieder als nie für die Morde bestrafte Täter, die Rolle des General Waldemar Pabst als Befehlsgeber sowie der SPD-Regierung, namentlich Gustav Noskes, als mit der Billigung der Morde politisch Verantwortlicher – kann jedoch als historische Folie der Inszenierung sowie deren Rezeption im Jahr 2000 angesehen werden.187 Im Hinblick auf die Einfügung des Satzes über die Opferung der Parteimitglieder scheint die Inszenierung die Frage nach der Verantwortung jedoch anders zu stellen. Zumindest lässt die Auseinandersetzung mit der Genese des Inszenierungstextes auf eine weitere historische Perspektivierung der Fragestellungen schließen, die nicht mit der Reflexion der Ereignisse 1918/19 endet. Solchermaßen als Ausweitung der Perspektive begriffen, scheint die Insze187 So schildert Döblin im 4. Band von November 1918 ausführlich nicht nur die Morde, sondern ebenso detailliert die ideologisch motivierten Falschdarstellungen in der Berliner Presse, die politischen Hintergründe und Reaktionen der Regierungsmitglieder sowie die mit Freispruch endenden Gerichtsprozesse, die den Tätern gemacht wurden (vgl. 9. Buch von Band 4, „Das Ende einer deutschen Revolution“ in: NOV4, S. 599ff.).

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Verratenes Volk nierung das in ihrem Untertitel benannte Problem wieder ins Spiel zu bringen: „Wir sind ein Volk. Wir waren ein Volk. Verratenes Volk.“ Schleefs Verratenes Volk zeigt zwar die Ermordung der Figuren Liebknecht und Luxemburg und setzt das Wissen um die Verantwortlichen für diese Morde voraus, fokussiert jedoch mit den bei Döblin zitierten letzten Artikeln von Luxemburg und Liebknecht die reziproke Beziehung von Chor und Protagonisten im Hinblick auf die Frage nach dem Opfer, die auch in den zitierten Artikeln thematisiert wird. Diese wechselseitige Beziehung zwischen dem 'Volk', das nicht repräsentiert werden kann, und den in der letzten Szene als Opfer markierten Protagonisten der Revolutionserzählung soll bei der folgenden Skizzierung der Szene im Vordergrund stehen.

„ORDNUNG HERRSCHT IN BERLIN“. LEKTÜREN Die Szene des letzten Gesprächs zwischen 'Luxemburg' und 'Liebknecht' zeigt die beiden Protagonisten, die sich nach der Niederschlagung des 'Spartakusaufstandes' als Verfolgte in verschiedenen Berliner Wohnungen verstecken, bei der täglichen Zeitungslektüre. Die Tagesausgaben des nun nicht mehr von Revolutionären besetzten Vorwärts und der Roten Fahne werden unter der Tür durchgeschoben188, und 'Luxemburg' und 'Liebknecht' lesen sich gegenseitig ihre Artikel vor. Zitiert werden insbesondere die jeweils letzten Artikel von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die am 14. und 15. Januar 1919 in der Roten Fahne erschienen sind: „Die Ordnung herrscht in Berlin“ titelt Rosa Luxemburg am 14. Januar in Bezugnahme auf ein gleichnamiges Flugblatt der Regierung, das den Sieg über die Aufständischen als Ordnungswiederherstellung verkündet. „Trotz alledem!“ betitelt Karl Liebknecht am 15. Januar seinen Artikel, in dem in theologischem Vokabular die Niederlage der Revolution als Ankündigung ihrer Wiederkunft definiert wird. Zunächst soll auf den Artikel Luxemburgs näher eingegangen werden, da hierin ihre Kritik an der Haltung der Revolutionsführer offenbar wird, die als Differenz zwischen den beiden Protagonisten auch in ihrem letzten Gespräch in Verratenes Volk thematisiert wird. Bereits in einem am 11. Januar 1919 in der Roten Fahne publizierten Artikel setzt sich Rosa Luxemburg explizit mit dem „Versagen der Führer“189 während der revolutionären Januaraufstände auseinander. Aus der Position der neu gegründeten Kommunisti-

188 Vgl. VV, S. 57 u. S. 60. 189 Vgl. Rosa Luxemburg, „Das Versagen der Führer“. (Die Rote Fahne, Nr. 11, 11.1.1919). In: Dies., Gesammelte Werke. Bd. 4, a.a.O., S. 523-526.

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Tragödie als Bühnenform schen Partei analysiert sie, stellvertretend für diese im Pluralis sprechend, das Verhalten des Revolutionsausschusses, dem auch Karl Liebknecht angehört, als 'kläglichstes Versagen'. An erster Stelle kritisiert Luxemburg die „völlige Direktionslosigkeit“, die das Zögern des Revolutionsausschusses für die „Kampfenergie der Massen“190 bedeutet hätte, sowie die Verhandlungen, die dieser unter der Leitung der USPD-Führung mit der Regierung Ebert aufgenommen hatte. Unter dem Schlagwort der Einigkeit aller sozialistischen Parteien würden die zuvor von demselben Revolutionsausschuss ausgegebenen Parolen zum Generalstreik sowie der Aufruf zum bewaffneten Kampf gegen die Regierung nun wieder negiert und somit die „entscheidende Revolutionskrise in einen faulen Kompromiß mit der Gegenrevolution“191 aufgelöst. Die Gegenrevolution konturiert sich hier als Regierung EbertScheidemann, die Luxemburg als „Verräter des Sozialismus“ gelten, da diese sich um des puren Machterhalts willen mit der „Bourgeoisie“ sowie mit dem antirevolutionären Militär verbündet hätten. Die hauptsächlich von den USPD-Mitgliedern im Revolutionsausschuss eingeleitete „Unterhandlungspolitik“ mit dieser Regierung laufe letzten Endes auf eine „Kapitulation der revolutionären Arbeiterschaft“ hinaus, welche somit hier als Spielball von wesentlich außerhalb ihrer eigenen Interessen liegenden politischen Kämpfen gekennzeichnet wird. Dies ist der eigentliche 'Verrat', den Rosa Luxemburg hier skizziert und von dem sie sich, im Namen der Kommunistischen Partei, distanziert: „Die Kommunistische Partei macht diese beschämende Politik selbstverständlich nicht mit und lehnt jede Verantwortung für sie ab. Wir betrachten nach wie vor als unsere Pflicht, die Sache der Revolution vorwärtszutreiben [...] und durch rücksichtslose Kritik die Massen vor den Gefahren der Zauderpolitik der revolutionären Obleute wie der Sumpfpolitik der USP zu warnen.“192

Die „Krise der letzten Tage“, so Luxemburg, zeige sich in der „mangelnden Führung“ einerseits sowie im Fehlen eines „Organisationszentrums“193 andererseits. Demnach sei aus dieser „Krise“ vor allem die Lehre zu ziehen, dass „der revolutionären Energie der Massen“ die „Schaffung entsprechender Organe zu ihrer Führung im Kampfe“194 gegenüberzustellen sei.

190 191 192 193 194

Rosa Luxemburg, „Das Versagen der Führer“. A.a.O., S. 523. Ebd., S. 524. Ebd., S. 525. Ebd. Ebd., S. 526.

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Verratenes Volk In ihrem Artikel „Kartenhäuser“195, der am 13. Januar 1919 in der Roten Fahne erscheint, zeichnet Rosa Luxemburg ein Bild von Kampf, Verwüstung und Tod nach der gewaltsamen Niederschlagung der Aufstände. Ausgangspunkt dieses Artikels196 ist zunächst die Zeichnung des 'Verrats' der Revolution durch die Regierung Ebert. Ziel dieser Regierung sei es, so Luxemburg, „mit materieller Hilfe des gegenrevolutionären Militärs und mit moralischer Unterstützung des Bürgertums auf den Leichen der Berliner revolutionären Arbeiter ihre Regierungsgewalt neu aufzurichten“197. Das Dilemma der derzeitigen Machthaber bestünde jedoch darin, dass „die Sache“ aus der Sicht von „gegenrevolutionäre[m] Offizierskorps“ und Bürgertum, so Luxemburg, „umgekehrt gemeint war: Die EbertScheidemann sollten für die Bourgeoisie [die] Kastanien aus dem Feuer holen und nicht die Bourgeoisie für die EbertScheidemann“198. In dieser Situation sei die Verhandlungspolitik, die personalen Rücktrittsforderungen gegen die Regierung sowie der „'Einigungs'rummel der USP“ als der eigentliche „Verrat[] an der Sache der Revolution“199 anzusehen. Für Luxemburg zeigt sich in der „gegenwärtigen Krise“ folgende politische Konstellation: Zum Ersten gebe es die Regierung Ebert, welche ihre Herrschaft auf militärischen Basis der Konterrevolution stützen wolle, zum Zweiten die USPD, welche über die Verhandlungen wieder an der Macht partizipieren wolle und zum Dritten das Bürgertum, welches die Revolution komplett revidieren und das Gesellschaftssystem auf den Stand vor dem 9. November 1918 zurückdrehen wolle. Alle diese Positionen seien jedoch „Kartenhäuser“, so Luxemburg, da sie jeweils auf „überholte, überwundene Etappen“200 hinauswollten, die Revolution sich aber nicht zurückschrauben lasse. Denn davon, dass der „Siegeszug der Revoluti-

195 Vgl. Rosa Luxemburg, „Kartenhäuser“. Die Rote Fahne, Nr. 13, 13.1.1919. In: Dies., Gesammelte Werke. Bd. 4, a.a.O., S. 527-530. 196 Die Lektüre des Artikels „Kartenhäuser“ verdeutlicht, dass es sich bei der zweiten Äußerung des 'Satan' aus der vorangehenden Szene des großen Chors in Verratenes Volk um ein Zitat Gustav Noskes (!) handelt. So die 'Spielfassung' unter der Figurenüberschrift „SATAN“: „Arbeiter, Soldaten, Bürger! Heute um 1 Uhr sind 3000 Mann mit starker Artillerie und Maschinengewehren durch Berlin marschiert. Die Regierung hat gezeigt, daß sie die Macht hat, euren Willen durchzusetzen. Im Osten der Stadt plündern Räuber Autos. Räuberei und Plünderung entpuppen sich als letztes, als einziges Ziel des Aufruhrs.“ (VV, S. 55) 197 Rosa Luxemburg, „Kartenhäuser“. A.a.O., S. 527. 198 Ebd., S. 528. 199 Ebd., S. 529. 200 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform on“201 sich nicht aufhalten lasse, ist Rosa Luxemburg überzeugt. Die Gewissheit über das revolutionäre Fortschreiten zu einer „Verwirklichung des Sozialismus“202 rührt für Luxemburg aus der Annahme, dass die „Generalabrechnung zwischen Arbeit und Kapital“ als „welthistorische Auseinandersetzung zwischen zwei Todfeinden“203 immer wieder in den Vordergrund treten würde, solange der ihnen inhärente Widerspruch nicht gelöst sei, in dem ihre 'Todfeindschaft' begründet liege. Daher würden sich, so Luxemburg, immer größere „Massen“ zu jener „Partei“ bekennen, die als Einzige diesen „historisch vorgezeichneten Weg“ gehe, „bis zum Siege“204. Trotz ihrer immer wieder bekundeten Sympathie zu den spontanen revolutionären Erhebungen markiert Rosa Luxemburg hier einen Widerspruch zwischen den von ihr kritisierten Revolutionsführern und der Partei. Diese sei weniger als Vertretung der Arbeiterklasse aufzufassen denn vielmehr als „bewusste Vorhut der proletarischen Klassenbewegung“205. Dieser Widerspruch geht aus Luxemburgs Kritik an dem von Liebknecht mitbegründeten Revolutionsausschuss hervor und wird in der Szene des letzten Gesprächs zwischen den Figuren Liebknecht und Luxemburg in Verratenes Volk thematisiert. Die politische Situation, mit der sich die verfolgten Politiker in den letzten Tagen vor ihrer Ermordung konfrontiert sehen, beschreibt Rosa Luxemburg in ihrem letzten Artikel, der unter dem Titel „Die Ordnung herrscht in Berlin“ am 15.1.1919 in der Roten Fahne erscheint.206 Hier stellt Luxemburg die als vorläufig aufgefasste Niederlage der Revolution von Januar 1919 in einen internationalen historischen Kontext zu vorausgegangenen Revolutionen. Mit Blick auf die siegessichere Verkündung der Wiederherstellung der 'Ordnung' seitens der Regierung wird die akute Niederlage der deutschen Revolution darüber hinaus in den Kontext des gerade verlorenen Weltkriegs gestellt. Nachdem Luxemburg die Brutalität des Vorgehens gegen die militärisch unterlegenen Besetzer im Zeitungsviertel skizziert hat, fährt sie fort: 201 202 203 204 205

Ebd., S. 530. Ebd., S. 529. Ebd., S.530. Ebd. So Luxemburg in einem Artikel von 1910 mit dem Titel „Der politische Führer der deutschen Arbeiterklasse“ (zuerst in: Die Gleichheit. 20. Jg., 1910, Nr. 10, S. 146-149). In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke. Bd. 2, 1906-1911. Berlin: Dietz, 1972, S. 279-288, hier: S. 280. 206 Vgl. Rosa Luxemburg, „Die Ordnung herrscht in Berlin“ (Die Rote Fahne, Nr.14, 14.1.1919). In: Dies., Gesammelte Werke. Bd. 4, a.a.O., S. 531-536.

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Verratenes Volk „Wer denkt da noch angesichts so glorreicher Taten an die schmählichen Niederlagen vor den Franzosen, Engländern und Amerikanern? 'Spartakus' heißt der Feind und Berlin der Ort, wo unsere Offiziere zu siegen verstehen“207.

Eine solchermaßen, nur durch wiederkehrende militärische Machtkonsolidierung aufrechterhaltene 'Ordnung' gehe jedoch, so ist Luxemburg überzeugt, „unaufhaltsam ihrem historischen Geschick, ihrem Untergang entgegen“208. Im Folgenden werden die als vorübergehend definierten Widersprüchen, die sich in den revolutionären 'Niederlagen' zeigen, analysiert. Auf diese Analyse bezieht sich das in Verratenes Volk porträtierte letzte Gespräch der Protagonisten. Ein „endgültiger Sieg des revolutionären Proletariats“, der Sturz der Regierung Ebert und die Errichtung einer „sozialistischen Diktatur“ sei „in dieser Auseinandersetzung“, so Luxemburg, aufgrund der „politische[n] Unreife der Soldatenmasse“209 nicht zu erwarten gewesen. Letztere sieht sie als „Symptom“ einer „allgemeinen Unreife der deutschen Revolution“, welche vor allem im Fehlen einer „direkte[n] Gemeinsamkeit der Aktion“210 bestünde. Luxemburg fragt daher kritisch – und in Bezug auf ihre Solidarität mit den spontanen revolutionären Aktionen auch selbstkritisch –, ob die Januarkämpfe deshalb überhaupt ein Fehler gewesen seien. Ja, so urteilt sie, wenn es sich bei den Aufständen um einen absichtlich herbeigeführten „sogenannten 'Putsch'“211 gehandelt hätte. Dies sei aber nicht der Fall gewesen. Vielmehr seien die revolutionären Erhebungen hauptsächlich die spontane Reaktion auf eine „brutale Provokation der Regierung“, deren „Anschlag gegen das Berliner Polizeipräsidium“212 gewesen. Trotz ihrer in den vorangehenden Artikeln geäußerten Kritik am „Versagen der Führer“, welches sich in erster Linie in Unentschlossenheit und Direktionslosigkeit zeige, verteidigt Luxemburg hier explizit die Spontaneität der Aufstände gegen die als Gegenrevolution definierten Vorgehensweisen der Regierung. Noch in der 'Unreife' dieser Revolution sei aber das „Grundproblem [...] klar aufgestellt worden“213: der Sturz der mit den alten Machthabern paktierenden Regierung Ebert. Aus den genannten Widersprüchen der Revolution habe sich, so Luxemburg, die als vorläufig angesehene Niederlage notwendig er207 208 209 210 211 212 213

Rosa Luxemburg, „Die Ordnung herrscht in Berlin“. A.a.O., S. 531f. Ebd., S. 532. Ebd. Ebd., S. 533. Ebd. Ebd. Ebd., S. 534.

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Tragödie als Bühnenform geben. Jedoch entwickle sich gerade aus den als historischen Erkenntnisschritten definierten Niederlagen das zukünftige revolutionäre Potenzial, die potenzielle Zuspitzung der revolutionären Situation, die schließlich zum Sieg der Revolution führen werde: „Aus diesem Widerspruch zwischen der Zuspitzung der Aufgabe und den mangelnden Vorbedingungen zu ihrer Lösung in einer anfänglichen Phase der revolutionären Entwicklung ergibt sich, daß die Einzelkämpfe der Revolution formal mit einer Niederlage enden. Aber die Revolution ist die einzige Form des 'Krieges' – auch dies ihr besonderes Lebensgesetz –, wo der Endsieg nur durch eine Reihe von 'Niederlagen' vorbereitet werden kann!“214

So entwickelt Rosa Luxemburg hier die in Verratenes Volk thematisierte Dialektik des Siegs der Revolution im historischen Durchgang durch ihre Niederlagen. Dem Glauben an das dialektische Fortschreiten der Revolution setzt Luxemburg jedoch eine Bedingung entgegen, die sich in der Frage äußert, der sich die Revolution selbstkritisch stellen müsse: „Es fragt sich, unter welchen Umständen die jeweilige Niederlage davongetragen wurde, ob sie sich dadurch ergab, daß die vorwärtsstürmende Kampfenergie der Massen an die Schranke der mangelnden Reife der historischen Voraussetzungen geprallt, oder aber dadurch, daß die revolutionäre Aktion selbst durch Halbheit, Unentschlossenheit, innere Schwächen gelähmt war.“215

Aufgrund des Widerspruchs zwischen der Unentschlossenheit der 'Führer' und dem offensiven Handeln der aufständischen 'Massen' kommt Rosa Luxemburg zu dem Schluss, dass im Fall der Januarkämpfe beides zutreffend sei. Noch einmal benennt sie abschließend die Verantwortlichkeit für die Situation der Niederlage: „Die Führung hat versagt“216. Demgegenüber hält sie fest: „Die Massen waren auf der Höhe“217. Mit dieser Gegenüberstellung wird der Konflikt konturiert, den die Inszenierung in der von Schleef mit „Verratenes Volk“ betitelten Chor-Szene skizziert. Der historische Auftrag bestehe nun für die Revolution darin, so Luxemburg, dass „von den Massen und aus den Massen heraus“218, unter Berücksichtigung der durch die vorläufige Niederlage gewonnenen Erkenntnisse, eine Führung neu ge-

214 215 216 217 218

Ebd., S. 534, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 535. Ebd., S. 536. Ebd. Ebd.

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Verratenes Volk schaffen werden müsse. Im Glauben daran, dass dies nicht nur geschehen könne, sondern geradezu notwendig geschehen werde, schließt der Artikel mit einer formelhaften Bekräftigung der 'historischen' Notwendigkeit des Siegs der Revolution, als Antwort auf die von den Machthabern verkündete Wiederherstellung der Ordnung: „'Ordnung herrscht in Berlin!' Ihr stumpfen Schergen! Eure 'Ordnung' ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon 'rasselnd wieder in die Höh’ richten' und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“219

Hier tritt die Revolution als überzeitliche Größe an die Stelle Gottes, indem mit theologischem Vokabular auf die ewige Gültigkeit der Figur verwiesen wird: Zum einen wird mit dem „Posaunenklang“ die Offenbarung der Apokalypse aufgerufen, wodurch die Revolution die Stelle des Jüngsten Gerichts als endgültiger Schaffung einer göttlichen Gerechtigkeit einnimmt. Zum anderen spielt die Redefigur „Ich war, ich bin, ich werde sein“ auf die alttestamentarische Offenbarung des unaussprechlichen Namens Gottes gegenüber Moses an.220 Diese Redefigur und deren Übertragung auf die überzeitliche Gültigkeit der Revolution scheint einem Gedicht Ferdinand Freiligraths mit dem Titel „Die Revolution“ entnommen. Darin kündigt die (personifizierte) Revolution, die aus der Perspektive von 1851 als Verfolgte porträtiert wird, mit dieser auf die Überzeitlichkeit Gottes anspielenden Formel ihre Wiederkehr an. „Sie spricht mit dreistem Prophezein, So gut wie weiland euer Gott: Ich war, ich bin – ich werde sein!“221

Auch die vorangehende Formulierung „'rasselnd wieder in die Höh’ richten'“ ist einem Gedicht Freiligraths entlehnt, das in der letzten Ausgabe der unter anderem von Karl Marx herausgegebenen Neuen

219 Ebd., Hervorhebung im Original. 220 Vgl. Ex, 3,14: „Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der 'Ich-binda'. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der 'Ichbin-da' hat mich zu euch gesandt.“ (Einheitsübersetzung) bzw.: „Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde. Und sprach: So sollst du zu den Israeliten sagen: 'Ich werde sein', der hat mich zu euch gesandt.“ (Luther-Übersetzung) 221 Ferdinand Freiligrath, „Die Revolution“. In: Ferdinand Freiligrath, Werke. Bd. 1 (Nachdruck der Ausgabe: Bongs Goldene Klassiker Bibliothek, Berlin, 1909, Teil 1-3). Hildesheim/New York: Georg Olms Verlag, 1974, Teil 2, S. 135-136, hier: S. 136, Hervorhebung im Original.

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Tragödie als Bühnenform Rheinischen Zeitung am 19.5.1849 erschien.222 Unter dem Titel „Abschiedswort der Neuen Rheinischen Zeitung“ spricht Freiligraths Gedicht ebenfalls aus der Perspektive der untoten Revolution von deren notwendiger Wiederkehr. Luxemburgs Artikel zitiert hieraus die vorletzte Strophe: „Nun ade, nun ade, du kämpfende Welt! Nun ade, ihr ringenden Heere! Nun ade, du pulvergeschwärztes Feld! Nun ade, ihr Schwerter und Speere! Nun ade – doch nicht für immer ade! Denn sie töten den Geist nicht, ihr Brüder! Bald richt’ ich mich rasselnd in die Höh’, Bald kehr’ ich reisiger wieder!“223

Indem Rosa Luxemburgs Artikel nicht nur Freiligraths Revolutionsgedichte zitiert, sondern dessen Anspielung auf die Vergöttlichung der Revolution als überzeitlicher Größe noch durch die Erwähnung der apokalyptischen Posaunen verstärkt wird, manifestiert sich hier ein gleichsam post-theologischer Glaube an den notwendig kommenden Sieg der Revolution. Diese teleologische Geschichtsauffassung wird in dem bei Schleef porträtierten letzten Gespräch zwischen den Figuren Luxemburg und Liebknecht radikal bezweifelt.

ZWISCHEN VORWÄRTS UND ROTER FAHNE. DISKUSSION DER STANDPUNKTE Nach der Szene des Männerchors, in der zum zweiten Mal Brechts „Grabrede“ zitiert wird, ist die Bühne dunkel geworden. Als das Licht den abgerundeten Bühnenkasten wieder hell erleuchtet, stehen die Figuren Liebknecht und Luxemburg unter dem Bühnenportal. Aufgrund der ausschließlichen Beleuchtung des hinter dem Portal befindlichen leeren Bühnenraums ist die Szene von hinten beleuchtet, das Bühnenlicht also nicht auf die beiden Einzelfiguren ausgerichtet. Diese stehen, zum Zuschauerraum gerichtet, weit voneinander entfernt auf einer rampenparallelen Linie in der Höhe des Eisernen Vorhangs. Die Kostüme der Figuren können als stilisiert historisierende bürgerliche Kleidung beschrieben werden. So trägt 'Rosa Luxemburg', rechts unter dem Bühnenportal stehend, ein bodenlanges schwarzes Kleid mit weißer Bluse und enger

222 Zu diesem Verweis Luxemburgs auf Freiligrath vgl.: Gilbert Badia, Rosa Luxemburg. Journaliste, polémiste, révolutionnaire. Paris: Éditions sociales, 1975, S. 626. 223 Ferdinand Freiligrath, „Abschiedswort der Neuen Rheinischen Zeitung“. In: Ders., Werke. Bd. 1, a.a.O., Teil 2, S. 140-141, hier: S. 141.

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Verratenes Volk schwarzer Weste darüber, 'Karl Liebknecht', der auf der linken Seite dieser gedachten Linie steht, eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und darüber ebenfalls eine schwarze Weste. Der erste Teil des Gesprächs, das die politischen Differenzen Luxemburgs und Liebknechts in den Tagen der Januaraufstände thematisiert, ist in Schleefs Textfassung mit „NEUKÖLLN“ (VV, S. 57) überschrieben, der zweite Teil mit „WILMERSDORF“ (VV, S. 60). Damit verweist die Szene auf die bei Döblin in verschiedenen Kapiteln des achten Buchs von Karl und Rosa geschilderten mehrmaligen Umzüge der nach dem so genannten 'Spartakusaufstand' im Januar 1919 verfolgten Politiker, deren letzte als Versteck benutzte Wohnung sich in Berlin-Wilmersdorf befand. Die Auseinandersetzung mit den jeweils eigenen politischen Positionen im Hinblick auf die Niederschlagung der Aufstände verläuft entlang von Zeitungslektüren, die in Schleefs Textfassung den Ausgangspunkt für das Gespräch der Figuren darstellt. Zeitungslektüren und Kurierbotschaften bilden auch in Döblins Erzählung den Anlass für die von der Inszenierung aufgenommenen Dialoge der Protagonisten. Dabei wird die bei Döblin anfänglich durch den Erzähler übernommene Situationsschilderung in Schleefs Text von den beiden Einzelfiguren zusammengefasst, so die 'Spielfassung': „LUXEMBURG mit dem VORWÄRTS Das war das Ende. Das Polizeipräsidium ist gestürmt, die letzte Bastion der Berliner Arbeiter, der Novemberrevolution ist gefallen. Jetzt ist Schluß. Sie werden alle umbringen. [...] Berlin wird sauber. LIEBKNECHT Wir sind allein. Die Schreckensnacht der Revolution ist vorbei [...]. Wieviele Tote?“ (VV, S. 57f.)224

Die Perspektive dieses als Zweierszene umgesetzten Gesprächs ist also die des Endes der Revolution. Von diesem Ende her ergibt sich für die Protagonisten die Notwendigkeit einer kritischen Revision ihrer jeweiligen Positionen. Diese Revision wird in der Theaterszene zunächst als Streitgespräch umgesetzt. Eingeleitet wird der Streit mit der von 'Luxemburg' an 'Liebknecht' gerichteten Frage: „Mußte das sein?“ (VV, S. 58) Dabei unterstreicht 'Luxemburg' in der folgenden Präzisierung ihre Zugehörigkeit zu einer kollektiv eingenommenen Position, die von ihr hier im Gestus des stellvertretenden Sprechens in der ersten Person Plural eingenommen wird: „Alles haben wir dir vorausgesagt, alles. Du wolltest nicht hören.“ (VV, S. 58) Mit dieser Zugehörigkeitserklärung, die ihr Sprechen als Sprechen im Namen vieler – der Partei – ausdrückt, verstärkt sich der Konflikt zwischen der hier von 'Luxemburg' eingenommenen Po224 Vgl. NOV4, S. 512f.

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Tragödie als Bühnenform sition der Kritik und der Position 'Liebknechts', der seine Haltung rechtfertigt. So fordert 'Luxemburg' von 'Liebknecht', im Namen des gegen dessen Haltung stehenden Kollektivs „Rechenschaft“ für die Opfer des niedergeschlagenen Aufstands: „Es sind deine Toten. Du hast sie in den Tod getrieben. [...] Ich, wir fordern von dir Rechenschaft für diese Toten. [...] Wir haben auf dich eingeredet, mit Tatsachen, mit Argumenten. Wir haben dir gezeigt, wie die Dinge liegen, innerhalb der Arbeiterschaft und bei unseren Gegnern, worauf man sich präparieren muß. Jedes Kind konnte voraussehen, was kommt. Deine Freunde, deine Partei. Die großen Massen waren nicht mit dir. Du weißt immer noch nicht, was du angerichtet hast. Du bist blind.“ (VV, S. 58)

Dieser durch die Geste der Anklage sowie die Rechenschaftsforderung 'Luxemburgs' markierten Unversöhnlichkeit der Positionen korrespondiert auch die große räumliche Entfernung der Figuren auf der Bühne. Zudem wird die Konfliktzeichnung dadurch unterstützt, dass sich die Sprechweise an den entsprechenden Stellen beidseits durch einen ausgestellt emotionalen, lauten, aggressiven Tonfall auszeichnet. Eine erste Annäherung der beiden Figuren ergibt sich durch die Äußerung der Ratlosigkeit angesichts der politischen Ohnmacht, die die Situation der Untergetauchten kennzeichnet. Auch der Beschluss, wenigstens weiter zu schreiben, kann den Eindruck der Ohnmacht nicht mindern. Bei 'Luxemburg' spielen darüber hinaus noch grundsätzlichere Zweifel an der Durchführbarkeit der Revolution mit. Wenn sie das Fortwirken des Militarismus in der Gesellschaft herausstellt, bezieht sie sich auf die von Döblins 'Karl' formulierte Angst vor der aus Krieg, Militarismus und Verelendung hervorgegangenen Figur des „Wolfsmenschen“225, die 'Karl' bei der Verbündung der Regierung mit den Freikorpstruppen zur Niederschlagung der Revolution am Werk sieht. So formuliert Schleefs Luxemburg-Figur: „Die Deutschen haben den Krieg im Leibe, alle, von Oben bis Unten. Da hilft auch die Beseitigung einer Klasse nichts. Denen kannst du jede beliebige Gesellschaft bauen, sie machen Krieg, Krieg. Karl, wenn du diese Barbaren mit oder ohne Monokel in den Himmel bringst, dann organisieren sie oben die Himmlischen Heerscharen und führen Krieg gegen den Lieben Gott.“ (VV, S. 59)

225 Vgl. Alfred Döblin, November 1918, Bd. 3, Heimkehr der Fronttruppen, a.a.O. Darin insbesondere das Kapitel „Die neuen Wolfsmenschen“, ebd., S. 350 ff.

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Verratenes Volk Diesen hier geäußerten fundamentalen Zweifel an der Möglichkeit des Aufbaus einer neuen, gerechten, sozialistischen Gesellschaft mit und für diese vom Krieg gezeichneten Deutschen kommentiert 'Liebknecht': „Dieser Krieg ist schon in guten Händen, beim Satan.“ (VV, S. 59) Wofür kämpft aber Satan? In der bei Döblin skizzierten MiltonLektüre 'Karls'226 steht der Satan aus Paradise Lost für den Kampf gegen das göttliche Erkenntnisverbot. Somit ist für 'Karl' Satan, der aus dem himmlischen Chor der Engel austritt, indem er gegen Gott rebelliert, wofür er von diesem verstoßen wird, eine tragische Figur der Aufklärung. Satan, der für die Freiheit der Erkenntnis und für die Selbstbestimmung des Menschen eintrete, werde somit zum Vorbild für die unterdrückte Arbeiterklasse, die gegen die Kapitalisten aufsteht, so 'Karl' in November 1918: „Das ist ein Satan aus unserem Stoff, so dass man sich kaum eine bessere Verkörperung der Menschenwürde vorstellen kann. Ja, im Grunde steht da ein Mensch gegen Gott.“ (NOV4, S. 581) „Allen Gewalten zum Trotz und nimmer sich beugen“ (NOV4, S. 584), so 'Karl', sei das Motto Satans, der darum das Urbild des gegen eine übermächtige Gegenaufklärung aufstehenden Revolutionärs verkörpert. Schleefs Textfassung nimmt hier Bezug auf die bei Döblin ausführlich geschilderte Milton-Lektüre 'Karls'. So antwortet 'Luxemburg' in der Gesprächsszene ironisch: „Nennen wir uns jetzt nicht mehr Spartakisten[,] sondern Satanisten“ (VV, S. 59).227 Jedoch scheint der erwähnte „Kampf der Engel gegen Gott“ angesichts des 'Endes' der Revolution zu der Frage zu führen, „[w]arum [...] der ganze Pazifismus nichts“ (ebd.) tauge, so 'Luxemburg'. Auch das Konzept eines 'neuen stählernen Menschen', das 'Liebknecht' daraufhin wieder ins Spiel bringt, wird von 'Luxemburg' entschieden abgelehnt. „Pazifismus nützt nichts, Beseitigung der Kriegsklassen nützt nichts, was nützt denn?“, fragt 'Liebknecht'. „Nichts. Nein, gar nichts“ (ebd.), antwortet 'Luxemburg' und fasst damit die den ersten Teil des Gesprächs bestimmende Resignation zusammen. Mit der Diskussion über ein mögliches neues Versteck, begleitet vom Austausch der Zeitungen, wechselt die Szene zum zweiten Teil nach „WILMERSDORF“. Im Vorwärts entdeckt 'Liebknecht' das bereits zitierte, unter dem Namen Zickler veröffentlichte Hetzgedicht.228 Über die Zeitung

226 Vgl. das Kapitel „Karl schwelgt in Miltons Verlorenem Paradies“, das an dieser Stelle Textvorlage für Schleef 'Spielfassung' ist, in: NOV4, S. 576. 227 Vgl. NOV4, S. 584. 228 Artur Zickler, „Das Leichenhaus“. In: Vorwärts, 13.1.1919. Hier zitiert nach der Kopie eines Faksimile der Vorwärts-Ausgabe in Einar

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Tragödie als Bühnenform gebeugt liest er, mit lauter, empörter Stimme das bei Schleef wortgetreu zitierte Gedicht aus dem Vorwärts vor und schließt daraus, dass man ohne Diktatur nicht auskomme, wenn man nicht ermordet werden wolle. An die Vorwärts-Lektüre schließt sich in der Gesprächsszene eine weitere Diskussion zum Verhältnis von Diktatur und Demokratie sowie zur Beurteilung der revolutionären Niederlage an.

LIEBKNECHTS „TROTZ ALLEDEM“ „GOLGATHAWEG DER ARBEITERKLASSE“

UND DER

Aufgrund der weiteren Bedeutung insbesondere des Zitats vom „Golgathaweg der Arbeiterklasse“, mit dem 'Luxemburg' auf die letzte Publikation Karl Liebknechts229 verweist, soll im Folgenden ein Blick auf die Herkunft dieses Zitats geworfen werden. Wegen der komplexen Verwobenheit der verschiedenen Zitate im Sprechtext der Figur 'Luxemburg', die die Bewertung der Niederlage der Revolution betreffen, sei zunächst der Text der 'Spielfassung' den zitierten Quellentexten gegenübergestellt. Schleef, 'Spielfassung' Verratenes Volk:

Quellen:

„LUXEMBURG Aus dem Widerspruch zwischen der Zuspitzung der Aufgabe und der mangelnden Verbindung zu ihrer Lösung in einer anfänglichen Phase ergibt sich, daß die Einzelkämpfe der Revolution formell mit einer Niederlage enden. Aber die Revolution ist die einzige Form des Krieges, wo der Endsieg nur durch eine Reihe voll Niederlagen vorbereitet werden kann.

„Aus diesem Widerspruch zwischen der Zuspitzung der Aufgabe und den mangelnden Vorbedingungen zu ihrer Lösung in einer anfänglichen Phase der revolutionären Entwicklung ergibt sich, daß die Einzelkämpfe der Revolution formell mit einer Niederlage enden. Aber die Revolution ist die einzige Form des 'Krieges' – auch dies ihr besonderes Lebensgesetz –, wo der Endsieg nur durch eine Reihe von 'Niederlagen' vorbereitet werden kann!“230

Schleefs Materialien zur Inszenierung Verratenes Volk, a.a.O. Vgl. zu dieser Zitation: VV, S. 60, NOV4, S. 526. 229 Das heißt auf dessen Artikel „Trotz alledem!“ (Die Rote Fahne, Nr. 15, 15.1.1919). In: Karl Liebknecht, Gesammelte Reden und Schriften. Bd. 9, Mai 1916 bis 15. Januar 1919. Berlin: Dietz, 1974, S. 709713. 230 Rosa Luxemburg, „Die Ordnung herrscht in Berlin“. A.a.O., S. 534, Hervorhebung im Original.

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Verratenes Volk Das ist dein Golgathaweg der Arbeiterklasse!

Hier mein Artikel! ORDNUNG HERRSCHT IN BERLIN Noch mitten im Kampf, unter dem Siegesgeheul der Gegenrevolution, müssen sich die Proletarier über die Geschehnisse Rechenschaft ablegen und die Vorgänge und ihre Ergebnisse in großen historischen Maßstäben messen. Die wirtschaftlichen Kämpfe stehen noch ganz im Anfang, sie sind es, die den Klassenkampf speisen.“ (VV, S. 61)232

„Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht.“231

„Noch mitten im Kampf, mitten im Siegesgeheul der Gegenrevolution müssen sich die revolutionären Proletarier über das Geschehene Rechenschaft ablegen, die Vorgänge und ihre Ergebnisse am großen historischen Maßstab messen. [...] Sodann sind – was nur der tiefere Zusammenhang jener politischen Unfertigkeiten der Revolution – die wirtschaftlichen Kämpfe, die eigentliche vulkanische Quelle, die den revolutionären Klassenkampf fortlaufend speist, erst im Anfangsstadium begriffen.“233

Wie aus Schleefs Textfassung ersichtlich wird, ist Luxemburgs am 14.1.1919 in der Roten Fahne erschienener Artikel „Die Ordnung herrscht in Berlin“ nach Döblins Erzählung zitiert. Das anfängliche Zitat allerdings, das die bereits erläuterte These Luxemburgs zur Dialektik von Sieg und Niederlage der Revolution betrifft, erscheint im Kontext der theatralen Gesprächsszene eher als These Liebknechts, da Schleefs Luxemburg-Figur diese These dem letzten Artikel Karl Liebknechts zuzuschreiben scheint. Denn mit den Worten „Das ist dein Golgathaweg der Arbeiterklasse“ verweist die Luxemburg-Figur hier auf Liebknechts einen Tag später in der Roten Fahne unter dem Titel „Trotz alledem!“ erschienenen Artikel – welcher bei Döblin nicht explizit zitiert wird. Schleefs Textfassung fügt diesen Verweis auf den Liebknecht-Artikel also in die Szene der Auseinandersetzung zwischen 'Liebknecht' und 'Luxemburg' ein, um mit diesem Verweis die Beurteilung der revolutionären Niederlage mit der Frage nach dem Opfer zu verknüpfen. Mit der Einfügung des „Golgatha“-Zitats stellt sich nicht nur die Frage, wer hier geopfert wird und für wen, sondern auch in welcher Beziehung Arbeiterklas231 Karl Liebknecht, „Trotz alledem!“ (Die Rote Fahne, Nr. 15, 15.1.1919) A.a.O., S. 713. 232 Hervorhebung durch Versalien im Original. Zum Zitat des Artikels „Die Ordnung herrscht in Berlin“ von Rosa Luxemburg in der Erzählung Döblins vgl. NOV4, S. 536. 233 Rosa Luxemburg, „Die Ordnung herrscht in Berlin“. A.a.O., S. 532f.

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Tragödie als Bühnenform se und Einzelner im Kontext der quasi heilsgeschichtlichteleologischen Erzählung des kommenden Siegs des Sozialismus stehen. Der Titel von Liebknechts Artikel „Trotz alledem!“ spielt abermals auf ein Gedicht Freiligraths an, das in seiner zweiten Variante von Juni 1848 auch als Lied bekannt ist, welches nach der gescheiterten Revolution die Widerständigkeit des revolutionären Geists beschwört und dessen zukünftigen Sieg verkündet: „So füllt denn nur der Mörser Schlund Mit Eisen, Blei und alledem: Wir halten aus auf unserm Grund, Wir wanken nicht trotz alledem! Trotz alledem und alledem! [...] Nur, was zerfällt, vertretet ihr! Seid Kasten nur, trotz alledem! Wir sind das Volk, die Menschheit wir, Sind ewig drum, trotz alledem! Trotz alledem und alledem: So kommt denn an, trotz alledem! Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht – Unser die Welt trotz alledem!“234

In seinem Artikel nimmt Liebknecht zunächst Bezug auf die von Rosa Luxemburg in „Die Ordnung herrscht in Berlin“ dargelegte Logik des Siegs der Revolution im dialektischen Durchgang durch ihre 'scheinbaren' Niederlagen. So schreibt Liebknecht: „Jawohl, sie [die Spartakisten, C.S.] wurden geschlagen. Und es war historisches Gebot, daß sie geschlagen wurden. Denn die Zeit war noch nicht reif. [...] Aber es gibt Niederlagen, die Siege sind; und Siege, verhängnisvoller als Niederlagen.“235

Auf diese an Rosa Luxemburgs Dialektik der revolutionären Niederlage anknüpfende Exposition nimmt der Text, vor allem hinsichtlich des verwendeten Vokabulars, eine bemerkenswerte Wende: „Die Besiegten der blutigen Januarwoche, sie haben ruhmvoll bestanden; sie haben um Großes gestritten, ums edelste Ziel der leidenden Menschheit, um geistige und materielle Erlösung der darbenden Massen; sie haben um Heiliges Blut vergossen, das so geheiligt wurde. Und aus jedem Tropfen dieses Bluts, dieser Drachensaat für die Sieger von heute, werden

234 Ferdinand Freiligrath, „Trotz alledem! (Variiert)“. In: Ders., Werke. Bd. 1, a.a.O., Teil 2, S. 129-131, hier: S. 130f., Hervorhebung: C.S. 235 Karl Liebknecht, „Trotz alledem!“ A.a.O., S. 709f.

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Verratenes Volk den Gefallenen Rächer erstehen, aus jeder zerfetzten Fiber neue Kämpfer der hohen Sache, die ewig ist“236.

Liebknecht stellt hier die besiegten Revolutionäre des Januar 1919 in einen weiter greifenden ideellen Kontext: Indem sie für das „edelste Ziel der leidenden Menschheit“ gekämpft hätten, das nicht nur materielle, sondern auch geistige Erlösung sei, würden sie zu Vorkämpfern gerade dieser zukünftigen Erlösung, deren notwendiges Kommen im Folgenden dargelegt wird. Das „Ziel“ selbst, um das blutig gerungen worden sei, wird als ein „Heiliges“ dargestellt. Das darum vergossene „Blut“, mithin die Opfer auf dem Weg zur Erringung dieses Ziels, seien daher selbst „geheiligt“. Das Blut der Opfer wird als „Drachensaat“ für die gegenwärtigen Machthaber definiert, deren Sieg somit als vorläufig gelte. Die Dialektik des durch Niederlagen vorwärts schreitenden Siegs der Revolution nähert sich in dieser Kontextualisierung mit der 'Heiligung' der Opfer durch deren Blut einer quasi heilsgeschichtlichen Erzählung an. In gewisser Weise wird der 'messianistische' Geschichtsentwurf, der aus Rosa Luxemburgs Dialektik von Sieg und Niederlage der Revolution spricht – „Ich war, ich bin, ich werde sein“ –, durch diese Kontextualisierung 'christianisiert'. Dieser Eindruck vertieft sich im Fortlauf der Lektüre. So wird mit Blick auf „Sieger“ und „Besiegte“ der Januarkämpfe ein an die Form des Passionsspiels erinnerndes Bild gemalt: Den gegenwärtigen Siegern, so Liebknecht, bleibe nur mehr eine „kurze Galgenfrist“, bis sie „am Pranger der Geschichte“237 stünden und somit deren hier gezeichneter Verrat offensichtlich und öffentlich verkündet werde. Denn die vorgeblichen Sieger würden sich durch ihren offenkundig werdenden Verrat als „Judasse“ erweisen: „Nie waren solche Judasse in der Welt wie sie, die nicht nur ihr Heiligstes verrieten, sondern auch mit eigenen Händen ans Kreuz schlagen.“238 Mit der Zeichnung der Regierung Ebert als 'Judas' wird nicht nur die prominenteste christliche Erzählung des Verrats zitiert, sondern der Verräter wird, anders als im christlichen Mythos, selbst zum Mörder, indem er das heilige Opfer eigenhändig ans Kreuz schlägt. Bedeutender als diese im Wortsinn 'dramatische', weil den Handlungsanteil des Täters steigernde Verratserzählung ist aber die in diesem Bild vorgenommene Umkehrung: Anders als in der christlichen Erzählung, nach der Jesus für die zukünftige Erlösung der Menschen stirbt, wird hier nicht ein Einzelner für das Volk (der Gläubigen) geopfert, sondern das Volk selbst, die verratene Arbeiterklasse! 236 Karl Liebknecht, „Trotz alledem!“ A.a.O., S. 710. 237 Karl Liebknecht, „Trotz alledem!“ A.a.O., S. 711. 238 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform Offenkundig ist in dieser Figur der Umkehrung die Parallele zu Schleefs These von der „Umkehrung der antiken Konstellation“ (DFP, S. 12), nach der nicht mehr der Einzelne, die Einzelfigur als aus dem Zentrum der Macht ausgestoßene, geopferte Figur erscheine, sondern der Chor.239 Schleefs These jedoch betrifft zunächst die Form des Theaters: Die Umkehrung der antiken Konstellation zwischen Chor und Protagonist steht in Schleefs Analyse von Theatertexten und Bühnenformen für die moderne Form der Tragödie. Konträr zu Schleefs Auffassung des Tragischen in der Moderne wird indessen Liebknechts Auffassung dieser Opferkonstellation getragen von einem optimistischen Glauben an den zukünftigen Sieg der Unterlegenen, im Rahmen seiner teleologischen Geschichtsauffassung. Dieser Optimismus – der sich nicht zuletzt im Bild der „Drachensaat“240 für die „Brudermörder“241 äußert –, begründet sich im Glauben an den Erkenntnisgewinn durch die Niederlage und die Lernfähigkeit der Unterlegenen, die somit im notwendig kommenden zukünftigen Konflikt nicht mehr unterlegen sein würden: „Die Geschlagenen von heute, sie haben gelernt. [...] Und das Wort, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur das eigene Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, es hat durch die bittere Lehre dieser Woche eine neue, tiefere Bedeutung für sie gewonnen.“242

239 Im Vorwort zu Droge Faust Parsifal entwirft Schleef diese „Umkehrung der antiken Konstellation“, die er im Theater Gerhart Hauptmanns ausmacht, in wenigen, thetischen Sätzen: „In Hauptmanns WEBERN erfährt der Chor, die Weber, eine neue Deutung, eine moderne. Obwohl Hauptmann im Stoff historisch zurückgeht, der Chor wird zum Ausgestoßenen, die Umkehrung der antiken Konstellation. Ödipus ist der Chor-Ausgestoßene, konträr stößt Dreißiger den Chor aus.“ (DFP, S. 12) Schleef beschreibt diese „Umkehrung der antiken Konstellation“ als „Neudefinierung des Opfers“ (ebd.), welche die Form der nach-klassischen, modernen Tragödienarbeit bezeichne. Hauptmanns Definition des theatralen Konflikts ergebe sich aber weniger aus der „Arbeit am Vorbild“ (ebd.), als „vielmehr aus der Definition der gesellschaftlichen Zustände, in denen er lebt. Die Menschenzusammenballung, die jetzt mit 'Proletariat' bezeichnet wird, ist der neue Chor, der aber nicht die Herrschaft trägt, sondern, von ihr verstoßen, verheizt, sich irgendwo verstecken muß, sofort mit seinem Erscheinen auf der Bildfläche 'pestkrank' ist.“ (Ebd., Hervorhebung: C.S.) 240 Karl Liebknecht, „Trotz alledem!“ A.a.O., S. 710. 241 Ebd., S. 712. 242 Ebd.

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Verratenes Volk Liebknecht zieht aus diesem Glauben an die Lernfähigkeit, der auch Rosa Luxemburgs Dialektik der Niederlage grundiert, den gleichen Schluss wie Luxemburg. Der zukünftige umfassende 'Sieg' der Revolution ist Gewissheit: „Denn Spartakus – das heißt Feuer und Geist, das heißt Seele und Herz, das heißt Wille und Tat der Revolution des Proletariats. [...] Spartakus, das heißt Sozialismus und Weltrevolution.“243

Nach dieser formelhaften Bekräftigung der Omnipotenz und Überzeitlichkeit der Revolution endet Liebknechts Text in einer Gegenüberstellung von Kreuz und Jüngstem Gericht, das heißt gegenwärtiger Opferung der Arbeiterklasse durch ihre Verräter und Ankündigung einer überzeitlichen Gerechtigkeit, die sich in der metaphysisch konnotierten Verurteilung der Schuldigen manifestiert: „Noch ist der Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse nicht beendet – aber der Tag der Erlösung naht. Der Tag des Gerichts für die EbertScheidemann-Noske und für die kapitalistischen Machthaber“244.

Abgesehen von der Rachefigur, die mit den „Posaunen des Jüngsten Gerichts“ hier auch die Auferstehung der „Leichen der hingemordeten Kämpfer“245 verkündet, ist im Hinblick auf die Inszenierung vor allem bemerkenswert, dass für das zu erreichende Ziel der 'Erlösung der Menschheit' die überindividuelle Qualität dieser Zukunft hervorgehoben wird: „Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm; es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen. Trotz alledem!“246

Dieser Glaube an die überindividuelle und überzeitliche Wirksamkeit der Idee der Revolution als endgültiger Befreiung der Menschheit, der hier, „trotz alledem“, zum Ausdruck kommt, wird auf dem Theater, in der nachfolgend beschriebenen chorischen Intervention radikal in Zweifel gezogen.

243 244 245 246

Ebd., S. 712f. Ebd., S. 713. Ebd. Ebd.

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Tragödie als Bühnenform

PASSION UND CHOR-KLAGE. LIEBKNECHTS „GOLGATHA“-ZITAT MIT BACHS MATTHÄUS-PASSION In der Szene des letzten Gesprächs der Protagonisten in Verratenes Volk wird nach dem Satz 'Luxemburgs' – „Das ist dein Golgathaweg der Arbeiterklasse!“ – ein Chor von der Hinterbühne hörbar, der wie ein Echo zweimal singend wiederholt: „Der Golgathaweg der Arbeiterklasse“247. Dieses chorische Echo des Liebknecht-Zitats ist selbst wiederum ein musikalisches Zitat248: Der Text wird auf die Melodie der Anfangs- beziehungsweise Endzeile249 eines Rezitativs aus Bachs Matthäus-Passion gesungen.250 Das Alt-Rezitativ mit dem Titel „Ach Golgatha“ folgt der Erzählung der Kreuzigung durch das Rezitativ des Evangelisten und beklagt den Tod Jesus’. Die 'Schimpflichkeit' des Kreuzestodes tritt hier antithetisch in Gegensatz zur 'Herrlichkeit' des Menschheitserlösers: „Ach Golgatha, unselges Golgatha! Der Herr der Herrlichkeit muß schimpflich hier verderben, Der Segen und das Heil der Welt Wird als ein Fluch ans Kreuz gestellt. Der Schöpfer Himmels und der Erden Soll Erd und Luft entzogen werden. Die Unschuld muß hier schuldig sterben, Das gehet meiner Seele nah; Ach Golgatha, unselges Golgatha!“251

247 Zitiert nach Aufführungsmitschrift. 248 Den Hinweis auf dieses musikalische Zitat verdanke ich einem Vortrag von Gerd Rienäcker („Droge Faust Parsifal – Nachdenken über ein Buch von Einar Schleef“. 19.1.2005, Literaturforum im BrechtHaus, Berlin). 249 Das Chor-Zitat entspricht somit in der Wiederholung musikalisch genau der Abwärts-Transposition der Endzeile in Bachs Rezitativ im Vergleich zur Anfangszeile. 250 Auch Döblins November-Roman verweist in einer der Szenen, die Textvorlage der Gesprächsszene in Verratenes Volk sind (Bd. 4, 8. Buch, Kapitel „'Viel hundert Tote in einer Reih'“), auf die MatthäusPassion: Nach einem Gespräch mit 'Rosa' in der letzten gemeinsamen Versteckwohnung in Wilmersdorf setzt sich 'Karl' ans Klavier und spielt „eine klagende Arie aus der Matthäuspassion von Bach“ (NOV4, S. 527). 251 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion. Satz 59 (NBA). Satznummerierung nach der Neuen Bach-Ausgabe und Quellenangabe nach: Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. Kassel: Bärenreiter, 1997 (2. verbesserte und ergänzte Auflage), S. 196.

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Verratenes Volk Im Folgenden soll der mit dem „Golgatha“-Zitat in Verratenes Volk gegebene Kontext der Matthäus-Passion, insbesondere mit Blick auf Funktion und Bedeutung des Chors, etwas umfassender betrachtet werden – auch deshalb, weil die großen Vokalwerke Bachs, vor allem seine Passionen und die in ihnen niedergelegte Auffassung des Chors, für Schleef von zentraler Bedeutung sind. In Droge Faust Parsifal stellt Schleef heraus, dass über Bach der aus dem Theater – nach seiner Analyse hauptsächlich durch den seit der Renaissance fortentwickelten Einsatz der Zentralperspektive in den Bühnenräumen – vertriebene Chor, sowohl als ästhetische Figur wie auch mit seiner inhaltlichen Sprengkraft, in die Musik eingewandert sei. Mit der Chor-Figur und -thematik sei ebenso die 'antike Konstellation', mit der Schleef den Zusammenhang von Form und Inhalt des tragischen Konflikts beschreibt, in die Musik eingezogen. Insbesondere Wagners Bezüge auf Bach machten dies deutlich. So werde in Parsifal nicht nur das Abendmahlsmotiv mit seinem chorischen Konfliktpotenzial aus der Tradition der Passionsmusik in das moderne Musiktheater übernommen. Vor allem auch die Form der Klage der Protagonisten Amfortas und Kundry wiesen deutliche Bezüge zu Auffassung und Form der Klage bei Bach auf. In der musikalischen Ausformung der Klage sieht Schleef den zentralen Punkt der Auseinandersetzung Bachs mit der Tragödie. Dabei fasst Schleef die Klage unter zwei Aspekten: in Bezug auf die Einzelfigur als Aussprechen ihres Leidens, in Bezug auf den Chor als Übernahme der Klage des Protagonisten über dessen unvermeidlichen Untergang. Die aus der Antike überlieferte Tragödie sei zwar – wie der Chor – vom Sprechtheater scheinbar aufgegeben worden, jedoch nicht nur für die deutschen Klassiker, sondern auch über diese hinaus formal problematisches Vorbild geblieben. Die formale Problematik der Arbeit am Vorbild – das heißt: die in der deutschen Klassik und bis heute wirksame Unklarheit über die Form der antiken Tragödie –, sei in Klassik und Nachklassik hauptsächlich in einer fehlenden Auffassung der Chor-Figur begründet. Auch Wagner, der in seiner Musiktheaterreform den Opernchor zugunsten des modernen Orchesters abschaffen wollte, sieht sich nicht nur musikalisch, sondern ebenso inhaltlich mit diesem von Schleef konstatierten Problem konfrontiert. Im Aufweisen der Bezüge Wagners zu Bach sowie in seinen eigenen dramaturgischen Auseinandersetzungen mit Wagner sucht Schleef diese Problematik einer fehlenden Chor-Auffassung zu klären. Denn von allen nachträglichen Versuchen, sich der antiken Tragödie zu nähern, sei Bach, bezüglich seiner Formmittel und vor allem bezüglich des Einsatzes und der Bedeutung des Chors der 'antiken Konstellation' am nächsten gekommen, so Schleef in Droge Faust Parsifal. „Seine Oratorien und Kantaten definieren das Wechselspiel zwischen Gemein-

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Tragödie als Bühnenform de und Opfer, zwischen Chor und Ausstoßung.“ (DFP, S. 188) Und genau dieses, von Schleef als konfliktuös aufgefasste „Wechselspiel“ zwischen Chor und Einzelfigur beziehungsweise Einzelstimme bildet für Schleef die Voraussetzung für eine mögliche theatrale Auseinandersetzung mit Form und Inhalt der Tragödie.

Matthäus-Passion Kontext 1: Bachs MatthäusBachs Matthäus-Passion ist, vor allem im Hinblick auf ihre durchgängig doppelchörige Anlage, eine Weiterentwicklung der bereits im 17. Jahrhundert verbreiteten Form der oratorischen Passion, die eine Form der Vertonung der christlichen Leidensgeschichte auf der Grundlage der biblischen Evangelientexte ist. Als Hauptmerkmal der oratorischen Passion, im Unterschied zu anderen Formen von Passionen, konstatiert Emil Platen in seiner Untersuchung der Matthäus-Passion die Heterogenität des Textes beziehungsweise der verschiedenen Textschichten.252 Im Fall der Matthäus-Passion ließen sich, so Platen, die verschiedenen Textsorten generell differenzieren als 1) Bibeltext, das heißt der die Leidensgeschichte Christi thematisierende Text nach dem Matthäus-Evangelium in der Übersetzung Luthers, sowie 2) freie poetische Formen, die sich wiederum einteilen lassen in a) so genannte 'Singgedichte', das sind Arien und Rezitative, als deren Autor Picander alias Christian Friedrich Henrici zeichnet, und b) Choralstrophen, deren Autoren verschiedene zeitgenössische Kirchenlieddichter sind.253 Im Hinblick auf die theatrale Qualität von Bachs Passionsarbeiten erscheinen mir zwei Feststellungen von Platen bemerkenswert: Zum einen gäbe es in den Evangelien-Zitaten der direkten Rede kei-

252 Vgl. Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. A.a.O., S. 37. Zum Gestaltungsprinzip der oratorischen Passion zitiert Platen eine Abhandlung des Theoretikers Johann Adolf Scheibe von 1737 mit dem Titel „Von den geistlichen Oratorien und zwar von der poetischen Beschaffenheit derselben“: „Der Inhalt ist insgemein die Paßionshistorie [...] wie uns solche die Evangelisten beschrieben haben. Diese Worte theilet man unter die darinnen vorkommenden Personen ab; was aber bloße Erzählungen sind, giebt man dem Evangelisten. Zwischen gewisse Stellen und bey besondern erbaulichen Gelegenheiten, rücket man Arien, Choräle, oder auch ganze andächtige Betrachtungen ein, die man von gewissen erdichteten Personen singen läßt.“ Hier zitiert nach Emil Platen, a.a.O., S. 38. 253 Unter diesen tritt betreffend die Quantität der Autorschaft für die Choraltexte der Matthäus-Passion Paul Gerhardt hervor, bekannt als Autor des berühmten Klage-Chorals „O Haupt voll Blut und Wunden“. In Schleefs Theaterarbeit kommt der Umsetzung dieses Chorals in der Inszenierung Wessis in Weimar (UA: Berliner Ensemble 1993) ein zentraler Stellenwert zu.

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Verratenes Volk ne kontinuierliche Festlegung beziehungsweise Zuweisung einer Stimme zu einer einzigen personal definierten Figur. Einzig die Stimme Jesu werde deutlich von den Stimmen der 'alienae personae' unterschieden. Sogar die von Picander entworfene Figur der 'Tochter Zion', die das Geschehen emphatisch begleitet, sei von Bach auf die beiden Chöre sowie in den Arien und Rezitativen auf die vier Stimmen Bass, Tenor, Alt und Sopran aufgeteilt. Zum anderen hebt Platen die 'epische' Struktur der Matthäus-Passion hervor. Diese zeige sich nicht nur im Vorhandensein der berichtenden Figur des Evangelisten, sondern gerade auch in deren Zurücktreten zugunsten weiterer kommentierender oder kontemplativer Einschübe: „Bei wichtigen Geschehnissen oder bedeutsamen Aussagen wird der Bericht durch kommentierende Betrachtungen in solistischer oder chorischer Ausführung unterbrochen.“254 Zusammenfassend beschreibt Platen die Struktur der Abfolge von direkter Rede der Einzel- und Chor-Figuren, erzählendem Rezitativ des Evangelisten, betrachtenden oder klagenden Rezitativen und Arien der Einzelstimmen sowie Chorälen in der Matthäus-Passion als „Reihe von Szenen“, vergleichbar der „Bilderfolge eines mittelalterlichen Passionsaltars“255. Parallel zur Heterogenität der Textsorten lässt sich auch eine Heterogenität der Zeitebenen beziehungsweise -formen feststellen. Platen unterscheidet hinsichtlich der Texte zwei Zeitebenen: Erstens die 'fiktive Gegenwart, die der Bibeltext in Erzählerfigur und direkter Rede der auftretenden Einzel- und Kollektivfiguren liefert; zweitens die 'reale Gegenwart' der Betrachtenden, wozu er sowohl Arien und Rezitative als auch Choräle zählt. Für die Zeitform der 'realen Gegenwart' unterscheidet Platen anhand der verschiedenen musikalischen Formen zum einen Rezitative, welche für eine direkte Reaktion auf das geschilderte Geschehen stünden, für Anteilnahme, Mitleid, Empörung und Trauer; zum anderen Arien, welche das Geschehen abstrahierten, aus größerer Distanz betrachteten und somit auf die Ebene der Zuhörer zurückführten. Schließlich zählt er zu dieser Zeitform auch die Choräle, welche die 'Glaubenswirklichkeit' der Kirche widerspiegelten. Dem Erzähler komme hinsichtlich der Zeitebenen eine Zwischenposition zu. Gerade mit Blick auf die Choräle sowie auf die strittige Frage nach der Teilnahme der Zuhörer an der Aufführung durch Mitsingen der Choralstrophen ist meines Erachtens jedoch von mindestens drei Zeitebenen zu sprechen: erstens der in der Bibelerzählung dargestellten Zeit – wobei dem Evangelisten als Erzähler, der oft nur

254 Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. A.a.O., S. 38. 255 Ebd., S. 41.

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Tragödie als Bühnenform sagt, dass jemand sprach und wer, wiederum eine andere Zeitebene innerhalb dieser Erzählung zukommt; zweitens der Zeit der Kontemplation beziehungsweise der Klage in den nicht-biblischen Rezitativen und Arien, die eine deutlich nachträgliche Perspektive zum Geschehen einnehmen; und drittens der Zeit der Choräle, die inhaltlich die Perspektive der zeitgenössischen Gläubigen repräsentieren mögen, die aber vor allem formal, auch und gerade in der Sprechperspektive der häufig verwendeten ersten Person Plural256, auf eine potenzielle Teilhabe der Gläubigen an der Aufführung verweist, so dass die Zeitebene der Choräle dazu tendiert, sich mit der Aufführungszeit zu vermischen. Mit Blick auf die dramaturgische Struktur und die Funktion der Chor-Figur in Verratenes Volk – sowie in Schleefs Theaterarbeit generell – ist die Doppelfunktion des Chors von Interesse, wie sie in Bachs Passionen deutlich wird: Zum einen tritt der Chor auf der Ebene des erzählten Geschehens in wechselnden Kollektivfiguren ('turbae') auf, so in der Matthäus-Passion beispielsweise als Chor der Schriftgelehrten (Verurteilung Jesu), der Jünger (Abendmahl, Verratsfrage) sowie des versammelten Volks (Kreuzigungsforderung, Verspottung). Zum anderen tritt der Chor auf der Ebene der Reflexion des erzählten biblischen Geschehens in der – im Verhältnis zum erzählten Geschehen – nachträglichen Position des Chors der Gläubigen auf, so im Anfangschor „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ und im Schlusschor „Wir setzen uns in Tränen nieder“, im Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ sowie in den chorischen Parts von Arien und Rezitativ, etwa in der dem „Golgatha“-Rezitativ nachfolgenden Alt-Arie „Sehet, Jesus hat die Hand“, in welcher der Chor als Figur der Frage auftritt. Den verschiedenen Funktionen des Chors entspricht auf der Beschreibungsebene die Unterscheidung der Begriffe 'turba(e)', der den jeweiligen Chor auf der Erzählebene inhaltlich konturiert, und 'Chor', der zunächst – im Unterschied zur inhaltlichen Bezeichnung der 'turbae' – die Form des vielstimmigen Auftritts selbst bezeichnet. Letztere kann wiederum unterschiedliche inhaltliche Konnotierungen annehmen. Die Chöre der Matthäus-Passion variieren nicht nur die Form ihrer musikalischen Umsetzung. Vielmehr wechselt der Chor als ästhetische Figur genauso zwischen diesen unterschiedlichen Funktionen, wie es strukturell durch den Wechsel zwischen den heterogenen Textebenen angelegt ist. Zudem vermag der Chor in

256 Vgl. z.B. den in den Eingangschor eingefügten Choral „O Lamm Gottes, unschuldig“, wo es heißt: „All Sünd hast du getragen, / Sonst müssten wir verzagen. Erbarm dich unser, o Jesu!“ Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion. Satz 1 (NBA).

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Verratenes Volk den Chorälen insofern über die Aufführung hinauszuweisen, als er sich vermittels der Textkenntnis der versammelten Gemeinde potenziell mit dem Publikum zusammenzuschließen kann. Zwar bleibt die Frage der Teilhabe im Hinblick auf ein Mitsingen der Choralstrophen nach Platen umstritten. Jedoch weist nach meiner Ansicht der Zusammenhang von potenzieller Textkenntnis und Form der Chorals – vor allem was die Zeitebene und Sprechperspektive betrifft – darauf hin, dass der Chor im Choral eine Form der Öffentlichkeit herzustellen vermag, die tendenziell weniger die Zuschauerschaft der Aufführung als die Teilnahme an derselben betrifft.257

Matthäus--Passion Kontext 2: Das „Golgatha“„Golgatha“-Rezitativ der Matthäus Das in Verratenes Volk auf das Liebknecht-Zitat der LuxemburgFigur folgende musikalische Zitat aus der Matthäus-Passion nimmt die Melodie von Anfangs- und Schlusszeile des oben zitierten AltRezitativs auf, das bei Bach unter dem Titel „Ach Golgatha“ auf die Erzählung der Kreuzigung durch Evangelisten und Chor folgt. Der Begriff des 'Recitativo' gilt nach Platen in der Barockmusik als Sammelbegriff für einen „im wesentlichen syllabischen, dem Sprachakzent angepaßten und den Wortaffekt 'exprimierenden' Gesangstil, der zwecks besserer Verständlichkeit der Worte nur durch ein Baßfundament und gelegentliche [...] Begleitakkorde gestützt wird“258. Von Bedeutung im Hinblick auf die für Schleef zentrale Auseinandersetzung mit der Form des Sprechens, auch und vor allem im Gesang, ist die in dieser Definition des 'Recitativo' hervorgehobene Konkordanz von Sprachakzent, also dem Klang der Sprechsprache, und Gesangstil. In Droge Faust Parsifal formuliert Schleef sein Postulat vom Vorrang des Sprechens in Theater und Musiktheater unter dem Titel 'gesprochener Gesang', den er ex negativo von 'gesungenem Sprechen' absetzt. Hinsichtlich seiner Auseinandersetzung mit Wagner, vor allem aber auch mit Bach, unterstreicht er im 257 Dass diese performative Auffassung der Teilhabe an einer Aufführung auch im Chor-Theater nicht auszuschließen ist bzw. deren Ausschluss in der Aufführung gar nicht angelegt ist, hat sich am Premierenabend von Schleefs Sportstück-Inszenierung am 23.1.1998 am Wiener Burgtheater gezeigt. Nicht nur, dass das Publikum nach der ca. 6-stündigen so genannten 'Kurzfassung' der Inszenierung dem Chor eine weitere Stunde lang Zugaben abverlangte. Auch war zu beobachten, dass ein großer Teil der Zuschauer dieser hauptsächlich in Chorgesang bestehenden Nach-Aufführung weder schweigend noch auf seinen Sitzplätzen verharrend folgte, sondern ungewöhnlich aktiv an derselben teilnahm. 258 Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. A.a.O., S. 75. Hervorhebung: C.S.

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Tragödie als Bühnenform Sinne des 'gesprochenen Gesangs' die Bedeutung der Spracharbeit beim Gesang: „Wenn bei Bach der Sänger nicht deklamieren kann, erscheint der Tonfall des Satzes, der Replik nicht. Es leidet nicht nur die Wortverständlichkeit, sondern die Notenwerte stimmen nicht, eben jenes Gefüge, das der Komponist nicht mehr festzulegen vermag. Obwohl der einzelne Notenwert feststeht, ist seine Ausführung dennoch davon abhängig, wie der betreffende Sänger ein Schluß-M, -N, -T oder -D ausspricht, den Wortabschluß mit dem Beginn des nächsten Wortes verbindet oder trennt.“ (DFP, S. 115)

Die Form des 'Recitativo' erscheint im Hinblick auf Schleefs Forderung des 'gesprochenen Gesangs' beinahe als vergessene Voraussetzung der theatralen Vertonungsmöglichkeit. Das barocke Rezitativ wird weiterhin unterschieden in die Unterformen des 'Recitativo secco', welches nur durch Basso Continuo-Instrumente begleitet wird (in der Matthäus-Passion etwa durch einzelne Orgel-Akkorde), sowie 'Recitativo accompagnato', welches sich durch Begleitung des Orchesters oder einer kleineren Instrumentengruppen auszeichnet. Das „Golgatha“-Rezitativ wird bei Platen als 'motivgeprägtes Accompagnato' bezeichnet, welches sich im engen Bezug zwischen Text und Musik als eigene Form, vom damals üblichen akkordgestützten Sprechgesang absetze.259 Die Rezitative der Matthäus-Passion sind Vertonungen der freien Gedichtformen, als deren Autor hier Picander zeichnet. Indem die von den Einzelstimmen vorgetragenen Rezitative der MatthäusPassion nicht als Einzelform erschienen, sondern immer als Vorspruch zu einer anschließenden Arie, so Platen, stünden sie inhaltlich und formal in Abhängigkeit zu dieser, als Verweis auf etwas Weiteres, Kommendes. So verwiese das „Golgatha“-Rezitativ auf die nachfolgende Alt-Arie mit Chor „Sehet, Jesus hat die Hand“260. Die Musik des Rezitativs sei nicht auf ein Zentrum bezogen, so Platen, sondern linear konzipiert. Im Vergleich zu anderen Liedformen, zeichneten die Rezitative der freien Gedichtformen sich durch ihre relative Kürze von zehn bis fünfzehn Takten aus, was die Erwartung einer Fortsetzung unterstütze. Insgesamt bestimme die sprachliche Syntax den Formverlauf des Rezitativs, was die oben erwähnte Abhängigkeit der musikalischen Form des Rezitativs von der Sprache belege. Dem 'motivgeprägte Accompagnato'-Rezitativ „Ach Golgatha“ ist in der Matthäus-Passion die Alt-Stimme zugewiesen, die im Zusammenhang der barocken Formsprache allgemein als Stimme der Kla259 Vgl. Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. A.a.O., S. 88. 260 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion, Satz 60 (NBA).

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Verratenes Volk ge gelten kann. Neben Basso Continuo wird der Gesang hier von Oboen begleitet, deren dunkle Klangfarbe die musikalische Atmosphäre des Rezitativs prägen. Dies führt Platen zu der Aussage, dass die Szene eine „Ausweglosigkeit“ zeichne, die „alles verdunkelt“ und wie „gelähmt“ erscheinen lasse. Letzteres bestätigt sich für Platen durch das „lange[] Verharren auf dem Ausgangspunkt (das erste Motiv erklingt sechsmal und bewegt sich auch dann nur zögernd weiter)“ sowie die „Unklarheit der harmonischen Progression (durch zahlreiche Trugschlüsse)“261. Vor allem die „Ratlosigkeit“ der von Picander entworfenen Figur 'Tochter Zion' komme hierin musikalisch zum Ausdruck. So ende die Singstimme denn auch „auf dem Leitton wie mit einer Frage“262. Neben der hier konstatierten Ratlosigkeit, die bereits das erste Wort, die „Ach“-Interjektion zum Ausdruck bringt, ist meines Erachtens hervorzuheben, dass sich die Figur der Klage im „Golgatha“Rezitativ vor allem durch die Ambivalenz von Empörungs- und Ohnmachtsausdruck auszeichnet. Die Empörung wird dabei sprachlich in antithetischen Figuren ausgedrückt, so in dem Chiasmus: „Der Herr der Herrlichkeit muss schimpflich hier verderben.“ Zunächst wird das dem Kreuzigungsopfer zugeschriebene Attribut der „Herrlichkeit“ durch die Wiederholung des Wortes „Herr“ in „Herrlichkeit“ verstärkt. Diese Verstärkung wird zudem von der Alliteration des zweimal aufeinander folgenden „H“ unterstrichen. Die sprachliche Heraushebung der „Herrlichkeit“ verstärkt wiederum den Gegensatz zum 'schimpflichen Verderben', das der Kreuzigungstod aus der Perspektive der Alt-Stimme darstellt. Die in dem sprachlichen Chiasmus dargelegte Empörungsgeste kommt ebenfalls musikalisch zum Ausdruck, indem die Tonhöhe auf das Wort „Herrlichkeit“ deutlich ansteigt und die Stimme bei allen drei Silben des Wortes auf dieser Tonhöhe verharrt, während sie entsprechend auf das Wort „schimpflich“ wieder absteigt, um sich schließlich auf „verderben“ am stimmlichen Tiefpunkt wiederzufinden. Die extremen vertikalen Bewegungen der Stimme korrespondieren somit den durch die sprachliche Kreuzfigur des Chiasmus hervorgebrachten Paradoxien. Diese werden inhaltlich durch die Gegenüberstellung unvereinbarer Gegensätze gezeichnet: „Herr der Herrlichkeit“ versus 'schimpfliches Verderben'; „Segen“ und „Heil der Welt“ versus „Fluch“ und Kreuzigung des Heilsbringers; „Schöpfer“identität des Gottessohns versus Ohnmacht des Gekreuzigten; „Unschuld“ des Opfers versus 'schuldiges Sterben' desselben.

261 Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. A.a.O., S. 198. 262 Ebd.

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Tragödie als Bühnenform Dabei begründet sich die Gleichzeitigkeit von Unschuld und Schuldzuweisung beziehungsweise -übernahme in der Gleichsetzung von Sterblichkeit mit 'Schuldigkeit', welche aus der christlichen Auffassung des Sündenfalls als 'Erbsünde' hervorgeht. Neben der Anklage der Verurteilung des Unschuldigen – „Die Unschuld muss hier schuldig sterben“ – formuliert sich in dieser Zeile auch die Paradoxie der Sterblichkeit des Gottessohnes, dessen Sterblichkeit die Übernahme der menschlichen 'Schuldigkeit' bedeutet, und seiner Unsterblichkeit, der Ewigkeit Gottes. Auf die Ambivalenz des Bildes vom sterblichen Gott verweist zudem das Wort „muss“, das auf die Notwendigkeit der Opferung des Gottessohnes zur Erlösung der ganzen sterblichen Menschheit verweist. Der Verweis auf die Erlösung sowie die Ewigkeit und Unsterblichkeit Gottes tritt hier, in der Geste der Klage, jedoch zunächst zurück, indem die Menschlichkeit des Gottessohnes herausgestellt wird, sein Leiden und seine Sterblichkeit in den Vordergrund treten. Die von der anfänglichen „Ach“-Interjektion eingeführte Ohnmachtsgeste wird musikalisch so umgesetzt, dass die Singstimme bei dem die erste Zeile abschließenden Wort „Golgatha“ auf einer Tonhöhe verharrt, so dass die Zeile „Ach Golgatha, unselges Golgatha“ einerseits in sich abgeschlossen wirkt. Andererseits wird die Vorstellung eines Fortschreitens aus dieser Situation erschwert. Überhaupt wirkt die 'harmonische Progression' (Platen) des Rezitativs tatsächlich wie ein Immer-wieder-von-Neuem-Ansetzen der Melodik. Der Eindruck des Verharrens ergibt sich zudem aus der inhaltlichen wie musikalischen Wiederholung der Anfangszeile zum Schluss: „Ach Golgatha, unselges Golgatha!“ Die Wiederholung der Anfangszeile als Endzeile ist musikalisch allerdings in eine tiefere Tonhöhe gesetzt, so dass die zuvor in Musik und Text dargestellte Ausweglosigkeit noch einmal durch den Abstieg der Tonhöhe der wiederholten Melodie unterstrichen wird. Auf die Paradoxie der Suche nach Erlösung im Bild des erniedrigten, sterblichen Gottessohns kommt die dem „Golgatha“-Rezitativ folgende, responsorisch strukturierte Arie zurück. Während der Chor hier in der Geste des ratlosen Suchens als Figur der Frage auftritt, fordert die Alt-Stimme explizit dazu auf, „Erlösung“ in den Armen des Gekreuzigten zu suchen: „Alto I:

Chor II: Alto I:

Chor II:

Sehet, Jesus hat die Hand, Uns zu fassen, ausgespannt, Kommt! Wohin? In Jesu Armen Sucht Erlösung, nehmt Erbarmen. Suchet! Wo?

330

Verratenes Volk Alto I:

Chor II: Alto I:

In Jesu Armen. Lebet, sterbet, ruhet hier, Ihr verlass’nen Küchlein ihr, Bleibet! Wo? In Jesu Armen.”263

Die hier zum Ausdruck kommende Paradoxie des in der Kreuzfigur begründeten Erlösungsglaubens kehrt wieder in der die MatthäusPassion abschließenden Chor-Klage. Dort wird, auf Seiten der Sprache, die Geste der Beweinung des toten Gottessohnes – „Wir setzen uns mit Tränen nieder“ – mit der 'Beruhigung' des „ängstlichen Gewissen[s]“ durch den erlittenen Tod der Gottesfigur, ja mit 'höchst vergnügtem' Einschlafen konfrontiert: „Wir setzen uns mit Tränen nieder Und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte ruh! Ruht, ihr ausgesognen Glieder! Ruhet sanfte, ruhet wohl! Euer Grab und Leichenstein Soll dem ängstlichen Gewissen Ein bequemes Ruhekissen Und der Seelen Ruhstatt sein. Ruhet sanfte, sanfte ruh! Höchst vergnügt schlummern da die Augen ein.“264

Dieser Geste der 'Beruhigung', die dem paradoxalen Bild der Erlösung durch das Kreuz hier scheinbar entgegengesetzt wird, widerspricht meines Erachtens jedoch die musikalische Struktur der Chor-Klage. Zwar scheint zunächst die von Bach aufgenommene Tradition des Wiegenlieds für eine solche 'Beruhigungs'-Geste zu sprechen. Die teilweise antiphonische Setzung der beiden Chöre – in der Zeile „Ruhe sanfte, sanfte ruh!“ –, der Wechsel zwischen Einchörigkeit und Zweichörigkeit, das Changieren zwischen Vereinigung der beiden Chöre und Aufspaltung sowohl der beiden Chöre wie auch der Chöre in deren unterschiedliche Stimmen, was dem 'wiegenden' Motiv eine beständige Echostruktur gibt, scheinen einer 'Beruhigung' vielmehr entgegenzustehen. So endet der Schluss-

263 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion. Satz 60 (NBA), hier zitiert nach: Emil Platen, a.a.O., S. 196f. 264 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion. Satz 67 (NBA), hier zit. nach: Emil Platen, a.a.O., S. 210.

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Tragödie als Bühnenform Chor und damit die Passion auch, wie Platen schreibt, „mit einer eindringlichen Dissonanz“265. Diese Dissonanz mag, genau wie die sprachlich und musikalisch durchgeführten Paradoxien der Kreuzfigur, den „Sprengsatz“ bezeichnen, der für Gerd Rienäcker Bachs Passionen innewohnt. Dieser bestünde, unabhängig von einer potenziellen Intention des Komponisten, darin, dass „da von der notwendigen Veränderung des Bestehenden die Rede sei, und dies ist unbequem“266 – bis heute, hebt Rienäcker hervor. Dieser 'unbequeme' Gedanke von einer notwendigen Veränderung des Bestehenden267, der für Rienäcker die Konfliktdarstellungen in Bachs Passionen kennzeichnet, sei gerade im paradoxalen Bild des Gekreuzigten präsent. Denn, so umreißt er das 'Ecce homo' der Bach-Passionen: „'Eilt nach Golgatha', heißt es in der Johannes-Passion. Oder 'Kommt in Jesu Arme kurz vor Jesu Tod'. Also diese ungeheure Botschaft, dass nicht oben, sondern ganz unten, im Schmutz, im tiefsten Elend, das Heil wäre, die Menschen selbst ihre Sachen machen und den Niedrigen helfen müssen.“268

Genau dieses im doppelten Wortsinn 'Ungeheure' kehrt meines Erachtens in der chorischen Übernahme des „Golgatha“-Rezitativs in Verratenes Volk wieder. Wie und unter welchen Aspekten, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Bachs „Golgatha“„Golgatha“-Rezitativ als chorisches Echo des Lieb Liebknechtknecht-Zitats Mit dem musikalischen Zitat des „Golgatha“-Rezitativs aus Bachs Matthäus-Passion antwortet der Chor in Verratenes Volk auf das Zitat des Liebknecht-Artikels „Trotz alledem!“:

265 Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. A.a.O., S. 213. 266 Gerd Rienäcker im Gespräch mit Stefan Amzoll „über das Humanitätsproblem und den Antijudaismus bei Johann Sebastian Bach“. Stefan Amzoll/Gerd Rienäcker, „Kreuziget ihn!“ In: Freitag, Nr. 31, 28.7.2000, S. 3. 267 Rienäcker verweist an dieser Stelle auch auf die „Revolutionsidee“, welche nolens volens in Bachs „Theologie von unten“ zum Ausdruck komme (vgl. ders. in: Stefan Amzoll/Gerd Rienäcker, „Kreuziget ihn!“, a.a.O.). 268 Ebd.

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Verratenes Volk Verweis der Luxemburg-Figur auf Liebknecht:

Chor-Echo:

Musikalische Quelle/„Golgatha“Rezitativ:

„Der Golgathaweg der Arbeiterklasse. / Der Golgathaweg der Arbeiterklasse.“269

„Ach Golgatha, unselges Golgatha! [...] Ach Golgatha, unselges Golgatha!“270

„Das ist dein Golgatha-Weg der Arbeiterklasse.“ (VV, S. 61)

Das musikalische Zitat der Anfangszeile sowie der auch bei Bach wortgleichen, in Tonhöhe nach unten transponierten Endzeile des „Golgatha“-Rezitativs wird sehr genau ausgeführt: Chor: „Der V.Volk „Ach Alt: M.-P.

Gol-

ga-

thaweg

der

Arbei-

ter-

klas-

se“

Gol-

ga-

tha,

un-

sel-

ges

Gol-

ga-

tha“

Aufgrund der abweichenden Anzahl der Textsilben weicht das Melodie-Zitat einzig in der Horizontale von der musikalischen Quelle ab. Die vertikale Notierung der Melodie, das heißt die Tonhöhe der jeweiligen Silben, stimmt genau mit Bachs Rezitativ überein. So entsteht, vor allem mit Blick auf das anfängliche „Gol-ga-tha“, der Eindruck einer musikalischen Folie, die als Form der Lesbarmachung über das Liebknecht-Zitat gelegt wird. Welcher Art wird nun aber das Liebknecht-Zitat lesbar gemacht? Welche inhaltlichen Folgen ergeben sich aus dieser Formgebung für das Liebknecht-Zitat und den damit gegebenen Kontext für den die Inszenierung grundierenden Konflikt zwischen 'Volk' und revolutionären 'Führern', wie es die vorangehende Szene des großen Chors beschreibt? Wie wirkt sich die Folie des Formzitats auf die Darstellung des Verhältnisses von Chor und Einzelfigur aus? Zunächst kann festgehalten werden, dass die Übernahme der Rezitativ-Melodie die Form der Klage aufruft, wie sie in Bachs Passionen auftritt. Diese Form der bei Bach von der Einzelstimme vorgetragenen Klage wird hier aber von der Chor-Figur übernommen, 269 Zitiert nach Aufführungsmitschrift. Die 'Spielfassung' vermerkt in einer handschriftlichen Einfügung nach dem Satz der LuxemburgFigur: „Golgatha-Lied“ (vgl. VV, S. 61). 270 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion. Satz 59 (NBA).

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Tragödie als Bühnenform was den Status der Klage wesentlich verändert. Die chorische Übernahme von Bachs Klagefigur stellt in der stimmlichen Potenzierung zuerst eine Vervielfältigung der Klage dar. Diese formale Vervielfältigung der Klage korrespondiert aber auch inhaltlich zur Pluralität der beklagten Figur: Die Chor-Klage bezieht sich explizit auf die „Arbeiterklasse“. Diese befinde sich, obzwar der „Tag der Erlösung“ nahe, wie Liebknecht schreibt, „noch“ auf dem „Golgathaweg“271. Das chorische Zitat des Bach-Rezitativs streicht diese messianische Ankündigung der „Erlösung“, die bei Liebknecht die notwendig kommende Revolution ist, aus. Mit der chorischen Umwendung des Klage-Rezitativs steht der Aspekt der Opferung in Liebknechts Zitat im Vordergrund. Denn mit dem Namen Golgatha – „das ist verdeutschet Schädelstätt“272, wie der Evangelist in Bachs MatthäusPassion übersetzt –, ist zunächst die Hinrichtungsstätte bezeichnet. In Bachs Rezitativ wird mit der viermaligen Nennung des Begriffs „Golgatha“ der Aspekt des Leidens des unschuldig Geopferten herausstellt, während der Aspekt der Erlösung zurücktritt. Ja, mehr noch scheint der Name „Golgatha“ gerade das Skandalon der Abwesenheit des Erlösungsgedankens zu bezeichnen. „Der Segen und das Heil der Welt“, so heißt es, wird selbst „als ein Fluch ans Kreuz gestellt“. Diesen Gedanken, der sozusagen die schwarze Seite des paradoxen Kreuz-Bildes darstellt, scheint die Chor-Intervention in Verratenes Volk aufzunehmen. Zwar spricht auch Liebknecht in seiner Analogie von revolutionärer Niederlage und christlicher Leidensgeschichte vom Skandal der Opferung der Arbeiterklasse, die im Bild vom 'heiligenden' Blut selbst als 'heilig' erscheint. Das Chor-Echo des Liebknecht-Zitats stellt jedoch mit der Übernahme des „Golgatha“-Rezitativs den Gestus der Klage in den Vordergrund. Mit der Vielstimmigkeit der Klage rückt so, auf der Folie des Bach-Rezitativs, die von Liebknecht vorgenommene Umkehrung der Kreuzigungsszene in den Blick: Nicht der Einzelne wird hier als (geheiligtes) Opfer gezeigt, sondern die plurale Figur der „Arbeiterklasse“. Das von der Chor-Klage herausgestellte Skandalon ist gerade diese Umkehrung der Opferkonstellation. An die Stelle der Ankündigung der „Erlösung“ – die im Gegensatz zu Liebknechts Text in Bachs „Golgatha“-Rezitativ abwesend bleibt –, ist der Gestus der Frage getreten. Genau wie die AltStimme im Bach-Rezitativ beharrt auch der Chor mit der wiederholten Nennung des Namens „Golgatha“ und dem musikalischen Motiv, das durch das „Verharren auf dem Ausgangspunkt“273 gekenn-

271 Karl Liebknecht, „Trotz alledem!“ A.a.O., S. 713. 272 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion. Satz 58a (NBA). 273 Emil Platen, Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. A.a.O., S. 198.

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Verratenes Volk zeichnet ist, auf der Frage nach dem Opfer, das hier die geopferte Arbeiterklasse ist. So zieht das Chor-Echo des Liebknecht-Zitats auf der Folie des Bach-Rezitativs die Messianizität des sozialistischen Erlösungsgedankens, der in Liebknechts Artikel in post-theologischer Terminologie theatralisch entfaltet wird, radikal in Zweifel. Keine Posauen. Keine nahende Erlösung. Die szenische Situation des letzten Gesprächs zwischen den Figuren Luxemburg und Liebknecht blickt auf die Revolution aus der Perspektive der Nachträglichkeit. Schleef entfaltet mit Döblin in den wechselseitigen Lektüren der jeweils letzten Publikationen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht durch ihre theatralen Wiedergänger eine Szene der kritischen Revision der niedergeschlagenen Revolution. Die Perspektive der Einzelfiguren wird dabei vom Auftritt der Chor-Figur grundiert, die mit der Lesbarmachung des LiebknechtZitats auf der Folie des Bach-Rezitativs auf den Auftritt der Einzelfiguren antwortet – und zwar in Form einer Frage. Unter dem Gesichtspunkt der Grundierung der Einzelfigur durch den Chor wird die Frage nach dem Opfer insofern ausgeweitet, als die Opferung von Chor und Einzelnem in einem reziproken Verhältnis stehen und nicht voneinander abgelöst betrachtet werden können. Die Szene der verfolgten Politiker, die, wie es Döblins Erzählung unter der Perspektive der Nachträglichkeit entwickelt, ihrem unvermeidlichen Tod entgegensehen, indem sie ihre nahende Ermordung vorausahnen, stellt mit dem chorischen Echo auf das Liebknecht-Zitat die Frage, wie und ob auf der Basis der oder nach der Opferung der 'Arbeiterklasse' beziehungsweise des 'Volks' überhaupt eine wie auch immer geartete neue Gesellschaft begründet werden kann. Mit der Position der Klage, die der Chor hier einnimmt, wird nicht nur die Opfer-Terminologie, in der Liebknecht die messianische Geschichtsauffassung darlegt, untergraben, sondern die Opferfigur selbst radikal in Frage gestellt. Das ist die Position der Klage, wie sie seit der antiken Tragödie tradiert ist, wie sie bei Bach in verschiedenen Formen – Einzelstimmen und Chor – bearbeitet wird, und wie sie hier, bei Schleef, von der Chor-Figur übernommen wird. Mit der Zitation des Liebknecht-Zitats korrespondiert diese formale Übernahme der Klage durch die Chor-Figur der These Schleefs von der 'Umkehrung der antiken Konstellation', insofern diese die in der sozialen Problematik274 bestehenden Grundkonflikte des mo274 Dass diese sich der 'dramatischen' Darstellung durch einzelne als handlungsmächtig definierte fiktive Figuren entzieht, legt Schleef an den 'chorischen' Figuren Hauptmanns dar (vgl. DFP, S. 12ff., zu Hauptmanns Bühnenform und der Wiederkehr der Chor-Figur mit der Theatralisierung der sozialen Problematik im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. ebd., S. 74ff., S. 178ff., S. 210).

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Tragödie als Bühnenform dernen Theaters bezeichne. Mit dieser von Schleef konstatierten Umkehrung der Opferfigur scheint die Form der Klage geradezu notwendig chorisch zu werden – beziehungsweise sich ihrer chorischen Traditionslinie zu erinnern. Mit Blick auf die solchermaßen zugespitzte Frage nach dem Opfer, beziehungsweise auf die radikale Infragestellung der Opferfigur überhaupt, tendiert der Chor in Verratenes Volk dazu, nicht nur die Position der Klage, sondern über weite Teile auch die des Erzählers zu übernehmen (so in der Szene der kriegsgefangenen Soldaten, den Chor-Erscheinungen in der Luxemburg-Szene, in der Revolutionserzählung des Matrosen-Chors, dem großen Chor der Tiergarten-Szene und schließlich der Erzählung vom Sturm auf das Polizeipräsidium). Zudem erinnert die häufige Einfügung der Chor-Lieder beziehungsweise ganzer Lied-Szenen (wie dem Auftritt der Revolutionschöre auf der Drehbühne) in den Ablauf der Aufführung strukturell an den stark vom Chor geprägten und auf diesen hin konzipierten Aufbau der Passionen Bachs. Die auch den Schluss der Inszenierung prägende Tendenz der szenischen Bedeutungszunahme der Chor-Figur erscheint also, hinsichtlich der oben skizzierten Fragestellungen, nicht zuletzt als ästhetische Konsequenz aus der politischen Zuspitzung des Konflikts, der in Verratenes Volk mit der Thematisierung der OpferFrage ausgesprochen wird.

„WEHE“ UND „WEH“. DAS ENDE DES LETZTEN GESPRÄCHS Die scheinbar rein protagonistische Szene hat sich durch die Einfügung des gedoppelten „Golgatha“-Zitats als nicht von ihrem chorischen Grund abgelöst erwiesen. Indem der Chor mit der Lesbarmachung des Liebknecht-Zitats auf der Folie des Bach-Rezitativs auf der nicht-sichtbaren Hinterbühne auftritt, wird die Chor-Figur hier gleichsam als Hinter-Grund des protagonistischen Auftritts konturiert. Diesem Eindruck korrespondiert die Geste des Zuhörens seitens der Luxemburg-Figur, die beim Lautwerden des Chor-Echos ihre Sprechhaltung unterbricht, so dass ihre Rede, wie bereits oftmals zuvor, vom Einsatz der Chor-Figur zäsuriert wird. Die chorische Konturierung des protagonistischen Auftritts kennzeichnet so die Wahrnehmung des weiteren Verlaufs der Gesprächsszene zwischen 'Luxemburg' und 'Liebknecht'. Im Folgenden sei der inhaltliche Fortgang dieses Gesprächs zwischen den beiden Einzelfiguren dargestellt. Nach dem Chor-Echo auf das Liebknecht-Zitat hält 'Luxemburg' 'ihren' Artikel „Die Ordnung herrscht in Berlin“ gegen Liebknechts These vom „Golgathaweg der Arbeiterklasse“. 'Liebknecht' wiederum hält dagegen, man müsse, „um sich zu orientieren, auf den Ausgangspunkt der Revolution zurückgehen“ (VV, S. 61). Er verweist

336

Verratenes Volk auf die Übereinstimmung der von ihm und Luxemburg während des Kriegs vertretenen politischen Ziele mit denen des Matrosenaufstands von 1918: Beendigung des Kriegs und „Sturz der Regierung und des Regimes“ (ebd.). Von diesem Ausgangspunkt der Novemberrevolution sei man aber abgewichen, so 'Liebknecht', und habe „die Sache überlastet, mit Ideen beschwert und dadurch ruiniert“ (ebd.). Zunächst bestätigt 'Luxemburg' die Auffassung 'Liebknechts' von der vertanen historischen Chance auf eine konsequente Durchführung der Revolution im Sinne der damaligen Spartakus-Gruppe. Vor allem im Hinblick auf die am 6. Januar im Berliner Tiergarten versammelten hunderttausenden Menschen, die vergeblich auf das Zeichen zu einer revolutionären Aktion gegen die mit der Gegenrevolution paktierende Regierung Ebert warteten, sei die Möglichkeit, „das augenblicklich Notwendige“ (VV, S. 61f.) zu tun, vertan worden. Denn, so 'Luxemburg', „wir waren Demokratie, die überwältigende Mehrheit des Volkes“ (VV, S. 62).275 Als aber 'Liebknecht' die Fehler der Revolution generell in der theoretischen Diskussion und im Festhalten an „Dogmen“ sieht, wendet 'Luxemburg' sich strikt gegen eine Theoriefeindlichkeit, die sie in seinen Äußerungen ausmacht. Daraufhin hält 'Liebknecht' ihr das Vorbild einer „Diktatur a la Lenin“ entgegen, die sie zugunsten ihres entschiedenen Eintretens für Demokratie kritisieren würde. 'Luxemburg' jedoch beharrt auf ihrem Standpunkt und wirft 'Liebknecht', der hier als ihr Antagonist erscheint, vor, in einfacher Übertragung der russischen auf die deutschen Verhältnisse narzisstisch „den Lenin“ spielen gewollt zu haben: „Dir hat es freigestanden, den Lenin zu spielen! [...] du wolltest Diktatur, dich eigenmächtig zur Regierung aufwerfen. Du bist entlarvt. Lenin.“ (VV, S. 62) Das Festhalten der Luxemburg-Figur an ihren Standpunkten, insbesondere auch an ihrer Kritik an Lenin, wird ebenso räumlich in Szene gesetzt: Während 'Liebknecht' sich unruhig von links nach rechts, auf seine Gegenspielerin zu und von ihr weg bewegt, hält diese während der ganzen Zeit an ihrer räumlichen Position, dem von ihr eingenommenen Ort neben dem rechten Bühnenportal fest. Die Situation des Eingesperrtseins der beiden Figuren kommt dabei auch dadurch zum Ausdruck, dass sich sämtliche Bewegungen in dieser Szene auf der horizontalen Linie unter dem Eisernen Vor275 Bemerkenswert erscheint außerdem, dass Schleefs 'Spielfassung' diesen Satz 'Luxemburgs' ins Indikativ Präteritum setzt, während Döblins Figur 'Rosa' hier im Konjunktiv spricht: „Denn wir wären Demokratie, die überwältigende Mehrheit des Volkes gewesen.“ (NOV4, S. 538) Während die Formulierung Döblins hier den Aspekt der Möglichkeit der vergangenen Situation betont, unterstreicht Schleefs Textfassung demgegenüber die Vergangenheit.

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Tragödie als Bühnenform hang abspielen. Im Gegensatz zu der die gesamte Inszenierung kennzeichnenden räumlichen Bewegung, welche die Figuren, auch und besonders die Chor-Figuren, von hinten nach vorne, von der Mitte der Bühnenrückwand in Richtung Bühnenrampe 'wirft' – was nach Schleefs Auffassung die Entwurfsbewegung des Autors spiegelt276 –, erscheinen die Einzelfiguren in der Szene des letzten Gesprächs gleichsam fixiert auf die rampenparallele Linie unter dem Eisernen Vorhang. Auf der Ebene des Textes kommt das Eingesperrtsein der Figuren auch im Zitat des von Döblin skizzierten Gegensatzes zwischen 'draußen' und 'drinnen' zum Ausdruck. So konstatiert Schleefs Liebknecht-Figur: „Draußen rückt man von uns ab.“ (VV, S. 62) Mit der Skizzierung des Gegensatzes zwischen drinnen und draußen passiert gleichzeitig auf der Szene eine räumliche Annäherung der

276 In diesem Sinn definiert Schleef in Droge Faust Parsifal die Organisation des Theaterraums, in dem die Bühnenrampe als Ort der Begegnung zwischen Bühne und Zuschauerraum, Autor und Publikum aufzufassen sei: „Im Zusammentreffen von Bühne und Zuschauerraum begegnen sich Autor und Publikum. Beide trennen räumlich Rampe und Portal. Der Zuschauer nimmt vom Zuschauerraum den Fluchtpunkt in der unteren Mitte der Bühnenrückwand an und sieht, wie die von dort ausgehenden Linien auf das Portal treffen, von dem reflektiert, sich in seinem Augenpunkt vereinen. Nehme ich als angenommenen Fluchtpunkt den Autor an, so gilt für ihn der gleiche Blick von der Bühne in den Zuschauerraum, wie umgekehrt für den dort befindlichen Zuschauer. Bis zum Portal haben Zuschauer und Autor jeweils ein Dreieck aus Fluchtlinien vor sich. In der Mitte berühren sich die beiden Dreiecke, ihre gemeinsame Kante ist die Rampe“ (DFP, S. 101). Diese Auffassung des Theaterraums hat weitreichende Folgen, insofern das Theater hier als von hinten organisiert erscheint. So Schleef: „Der Autor schickt jetzt aus sich, dem Fluchtpunkt, die Figuren in die Fluchtlinien, bewegt sie zu sich und von sich, läßt sie bis an die Rampe vor und nimmt sie wieder zurück“ (DFP, S. 101). Indem der Fluchtpunkt auf der Mitte der Bühnenrückwand nicht als Endpunkt, sondern als Ausgangspunkt der Entwurfsbewegung (des Autors, Regisseurs) definiert wird, kehrt Schleef die Auffassung vom Bühnenraum als perspektivisch organisiertem Bildraum um. Aus dieser Bewegung der Umkehrung des perspektivischen Trichters, dem allerdings auf der Seite des Zuschauerraums ein reziprok organisiertes Dreieck gegenübersteht, erklärt sich, warum Schleefs Theater den Auftritt der Figuren zumeist von diesem auf der Mitte der Bühnenrückwand angenommenen Punkt aus organisiert – so in Verratenes Volk aus der mittleren Tür als Sogpunkt in der abgerundeten Bühne, sowie ebenfalls der vertikal nach vorne, in Richtung der Bühnenrampe verlaufende Lichtsteg in der zweiten Szene des „Grabrede“-Chors.

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Verratenes Volk beiden Figuren. 'Luxemburg' konstatiert jetzt die Surrealität der Situation, wenn sie bemerkt: „[U]nsere Existenz fängt an traumhaft zu werden.“ (VV, S. 63) Damit wird eine Bewegung beschrieben, die sowohl die Inszenierung wie auch Döblins November-Roman zu kennzeichnen scheint: Mit dem Festhalten des definitiven Endes der Revolution erscheinen die Figuren mehr und mehr als ihre eigenen Wiedergänger, deren Geschichte bekannt ist und die aufgrund ihrer 'Gespenstigkeit wiederkehrt beziehungsweise wieder erzählt werden muss. Auf der Ebene der Inszenierung wird der Untoten-Charakter der Figuren durch die wiederholte Betonung der Perspektive der Nachträglichkeit dargestellt – so in den Berichtformen – sowie durch die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeitschichten – wie im Bild Rosa Luxemburgs als revolutionärer Jeanne d’Arc-Figur mit den Insignien des modernen Soldaten. In der Szene der räumlichen Annäherung der beiden Einzelfiguren fordert 'Luxemburg' jetzt 'Liebknecht' auf, ihr 'seinen' Artikel vorzulesen. Dieser re-zitiert daraufhin den letzten Absatz des oben diskutierten „Trotz alledem!“-Artikels von Karl Liebknecht. Das Zitat endet mit dem Satz über den „Golgathaweg der deutschen Arbeiterklasse“, der in seiner dritten Erwähnung die Erinnerung an das Chor-Echo und mithin an das Bach-Zitat des Chors evoziert. Auf der Szene bleibt an dieser Stelle aber ein neuerliches Echo aus. Stattdessen kommentiert die Liebknecht-Figur die im Artikel genannte, auf den „Golgathaweg“ folgende „Erlösung“ der Arbeiterklasse wiederum mit einem Zitat. Er stimmt den von Luther geschriebenen Choral „Ein’ feste Burg“ an, genauer: dessen dritte Strophe, in deren zweite Hälfte schließlich 'Luxemburg' mit einfällt: „Und wenn die Welt voll Teufel wär Und wollt uns gar verschlingen, So fürchten wir uns nicht so sehr, Es soll uns doch gelingen. Der Fürst dieser Welt, Wie saur er sich stellt, Tut er uns doch nicht, Das macht, er ist gericht, Ein Wörtlein kann ihn fällen.“277

Der im Reformationskontext geschriebene Luther-Choral wird auch von Döblins 'Karl' zitiert, der ihn allerdings in den Kontext der Überzeitlichkeit und des notwendig kommenden Siegs der Revolution stellt:

277 „Ein’ feste Burg“, Text und Musik: Martin Luther (vgl. VV, S. 63).

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Tragödie als Bühnenform „Spartakus. Wir sind ein Heer Gefangener und kämpfen gegen unsere Sklavenvögte. Was unser Heer will, ist so alt wie die Welt, und darum soll, muß und wird der Kampf weitergeführt werden, bis zum Sieg, und sollte er die Welt überdauern. (Er zitterte.) Und wenn die Welt voll Teufel wär [...]“ (NOV4, S. 573).

'Karl' zitiert auch den Schluss des Chorals – ex negativo mit Bezug auf das überindividuelle Fortdauern des revolutionären Anspruchs, das, wie das Reich Gottes, in Absehung von der singulären Sterblichkeit des Einzelnen fortbesteht: „Und am Schluß singt das Lied – hier wird man nicht mit Klassenkampf kommen, man darf es in der Kirche singen, und ich habe es in der Schule gelernt: – Nehm’n sie uns den Leib, Gut Ehr’, Kind und Weib, laß fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn. Das Reich muß uns doch bleiben.“ (NOV4, S. 573)

Schleefs Textfassung streicht diese Passage278, die den Ewigkeitsanspruch der Revolution noch einmal explizit macht, und geht zur die Szene beschließenden Textpassage 'Luxemburgs' über. Dieser letzte Textabschnitt der Luxemburg-Figur setzt damit ein, dass sie 'Liebknecht' um Verzeihung für die Härte der vorausgegangenen Auseinandersetzungen bittet. 'Luxemburg' konturiert mit der Erinnerung an Anfang und Endpunkt der Revolution noch einmal den Kontrast zwischen Proklamation und nicht erfolgter Durchführung der Revolution. Sie schließt daraus eine nicht revidierbare Unversöhnlichkeit zwischen Volk und Revolutionsführern. Schleef fügt in den Text der Luxemburg-Figur, der bei Döblin auf beide Figuren, 'Karl' und 'Rosa' verteilt ist, ein weiteres Faust-Zitat ein, das auf die bereits zitierte Kerker-Szene, die letzte Szene des Faust in dessen Früher Fassung rekurriert. Somit nimmt 'Luxemburg' hier noch einmal Bezug auf den zuvor in der Inszenierung als Vision der Inhaftierten aufgetretenen Margarethe-Chor, in dessen Text Margarethe ihren herannahenden Tod voraussieht, die letztendliche Verurteilung der Figur, die in der Zeile „Krack das Stäbgen bricht!“ ausgesprochen wird. Aufgrund der Verwobenheit der verschiedenen Texte und Textebenen in dieser letzten Passage der 'Spielfassung' soll hier noch einmal der Inszenierungstext den entsprechenden Quellentexten gegenübergestellt werden.

278 Vgl. die handschriftliche Überarbeitung der 'Spielfassung': VV, S. 63.

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Verratenes Volk 'Spielfassung' Verratenes Volk:

Quellen:

„LUXEMBURG Kannst du mir verzeihen? Ich habe dir oft zugesetzt. Aber du hattest recht. Wir hätten mit dir gehen sollen. Wir hatten kein Vertrauen. Es fehlte uns etwas. Wir rechneten zuviel. Zuviel gerechnet, von Anfang an, rechnen und rechnen. Erinnerst du dich noch an die Novemberversammlung in der Sophienstraße? Wir hatte[n] gerade 17 Einladungen herausgeschickt, 17 Einladungen. Nachher standen die Leute auf der Straße bis zur Kirche, wir mußten eine Parallelversammlung abhalten. Wir unterschätzten stets unsere Stärke. Am 5. Januar hatten wir alles in der Hand, am 6. hätten wir marschieren können. (Er läßt resigniert den Kopf sinken, bedeckt die Augen mit der Hand) Hörst Du die Bürger schlürpfen nur über die Gassen ! Hörst du ! Kein lautes Wort. Die Glocke ruft! Krack das Stäbgen bricht! Nie wird die Welt uns das verzeihen. (Nach einer Pause blickte er sie starr an.) War das unsere Probe? Es war unsere Probe. Es war sie. Wehe uns.“ (VV, S. 64)

„'Kannst du mir verzeihen, Karl? Ich habe dir oft zugesetzt. Aber du hattest recht. Wir hätten mit dir gehen sollen. Wir hatten kein Vertrauen. Es fehlte uns etwas. Wir rechneten zuviel.' Er nickte trübe: 'Immer habt ihr zuviel gerechnet, von Anfang an. Rechnen und rechnen. Erinnerst du dich noch aus der Novemberzeit an unsere Versammlung in der Sophienstraße? Ich glaube, ihr hattet gerade siebzehn Einladungen herausgeschickt, siebzehn Einladungen. Nachher standen die Leute auf der Straße, wir mußten eine Parallelversammlung abhalten. Wir unterschätzten immer unsere Stärke. Und am 5. Januar hatten wir alles in der Hand, am sechsten hätten wir marschieren können...'“ (NOV4, S. 573f.) „Hörst du die Bürger schlürpfen nur über die Gassen! Hörst du! Kein lautes Wort. Die Glocke ruft! – Krack das Stäbgen bricht!“279 „Er ließ resigniert den Kopf sinken und bedeckte die Augen mit der Hand: 'Nie wird die Welt uns das verzeihen.' Und nach einer Pause blickte er sie starr an: 'War das unsere Probe, Rosa? Es war unsere Probe. Es war sie. Wehe uns.'“ (NOV4, S. 574)

Zunächst wird in der Inszenierung der gesamte Text, der bei Döblin als Dialog beider Figuren ausgewiesen ist, von 'Luxemburg' übernommen. Dies fällt insbesondere bei der abschließenden Figur der Bedrohung, die in 'Luxemburgs' „Wehe uns“ zum Ausdruck kommt, ins Gewicht: Die hier zum Ausdruck kommende Bedrohung der Figuren wird durch die Textmontage mit 'Luxemburgs' Zitat von Mar279 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Frühe Fassung. V. 90f. A.a.O., S. 539.

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Tragödie als Bühnenform garethes Vorausschau auf ihre Hinrichtung in Bezug gesetzt. Deutlich wird zumal, dass Schleefs Setzung der Figur Luxemburg als tragische Protagonistin unter modernen Vorzeichen Bezug nimmt auf Goethes Faust, verstanden als Tragödie der Margarethe – und damit auf Goethes Auseinandersetzung mit der Form der Tragödie, die in ihrer antiken Ausformung der Darstellung des Untergangs der weiblichen Figuren einen zentralen Platz einräumt.280 Zu 'Luxemburgs' Faust-Zitat – „Hörst du die Bürger schlüpfen nur über die Gassen“ –, erscheint jetzt, wie auf ein Zeichen, der gesamte große Chor auf der Bühne. Kostüme sowie Größe des Chors sind die gleichen wie in der mit „VERRATENES VOLK“ (VV, S. 54) überschriebenen Tiergarten-Szene. In ungeordneter Formierung stellt der Chor sich so hinter den Protagonisten auf, dass er die ganze Breite der Bühne ausfüllt. Vom Zitat Margarethes im Kerker bis zur abschließend angekündigten Bedrohung spricht 'Luxemburg' langsam, wie zögernd, und mit leiser Stimme. Der Chor, der jetzt auch sichtbar Grund und Hintergrund der protagonistischen Szene ist, erscheint hier als Zuhörer. Nach 'Luxemburgs' „Wehe uns“ geht das Licht langsam aus, bis zum Black. Wie das „Wehe uns“ der Einzelfigur aufnehmend und vervielfältigend, singt der Chor im komplett verdunkelten Theater das „Arbeiterlied“ aus Ernst Tollers Stück Die Maschinenstürmer: „Weh, weh, weh und weh, Ob Elend, Sklaverei und Not! Hört vom Moor aus dumpfen Ställen, Fiebergassen, Arbeitshöllen, hört des Volkes Sturmlied gellen: Arbeit oder Tod! Wann, wann, wann und wann zerzaust ein Sturm den Lügentand? Nicht Schmarotzer sollen raffen, Schieber, Parasiten, Laffen,

280 So Droge Faust Parsifal: „Den Platz, den die antiken Autoren der Frau noch einräumen, d.h. ihrer ausführlich dargestellten Besiegung, dieser Platz wird ihr von den deutschen Klassikern weitgehend verweigert.“ (DFP, S. 9) In diesem Sinn begreift Schleef Goethes Arbeit am Faust-Stoff auch als Rücknahme der zentralen Position Margarethes, die dieser in der Frühen Fassung noch eingeräumt wird. Auf diesem Hintergrund können alle Auseinandersetzungen Schleefs mit Goethes Faust als Korrektiv dieser Verdrängungsbewegung aufgefasst werden, nicht zuletzt auch die Arbeit an der MargaretheFigur der Frühen Fassung des Faust in den Luxemburg-Szenen in Verratenes Volk.

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Verratenes Volk freie Menschen sollen schaffen frei auf freiem Land! Auf, auf, auf und auf! Dem Feind ins Aug, ins Aug gesehn! Nacht vorbei, das Licht gewinnet, voll das Maß, der Sand verrinnet. Richter sitzt, der Spruch beginnet: Wer wird bestehn?“281

Im Kontext von Tollers Stück thematisiert das Chor-Lied die zunehmende Verarmung der Arbeiter durch die Mechanisierung der Arbeit. Diese existenzielle Bedrohung der Arbeiter wird, wiederum drohend, von „Volkes Sturmlied“ zurückgewiesen: „Arbeit oder Tod!“, lautet die Kampfparole der „Maschinenstürmer“. Auch hier wird das Motiv des Verrats gezeichnet: Die 'Verräter' in Tollers „Arbeiterlied“ sind die Kapitalisten und deren Unterstützer, die als „Schmarotzer“, „Schieber, Parasiten, Laffen“ bezeichnet werden. Gegen diese steht von Seiten der Arbeiter die Forderung der Freiheit, hier besonders auf die Vergesellschaftung von Landbesitz und Produktionsmitteln zugespitzt: „Freie Menschen sollen schaffen / frei auf freiem Land“. Ähnlich wie in der Chor-Szene des 'Verratenen Volks', das im Berliner Tiergarten versammelt ist, ähnlich wie in Liebknechts Artikel „Trotz alledem!“ wird auch in Tollers „Arbeiterlied“ ein Gericht angekündigt. Dieses soll die Ungleichgewichtung der Machtverteilung zwischen Arbeitern und Kapitalisten beziehungsweise Nutznießern des kapitalistischen Gesellschaftssystems beenden. Wie in Liebknechts Artikel wird auch hier die Zeit des kommenden Gerichts als nicht mehr fern angenommen: „Nacht vorbei, das Licht gewinnet, / voll das Maß, der Sand verrinnet.“ Die Frage, die das angekündigte Gericht stellen wird, lautet: „Wer wird bestehn?“

281 Text: Ernst Toller, Musik: Klaus Pringsheim. Aus: Ernst Toller, Die Maschinenstürmer (UA: 1922). Hier zitiert nach: Materialien zu Schleefs Inszenierung Verratenes Volk, Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2137. In Tollers Stück ist der Liedtext, von dem die in Verratenes Volk zitierte Fassung leicht abweicht, aufgeteilt auf zwei Einzelstimmen ('Erster Arbeiter' und 'Zweiter Arbeiter') und eine Chor-Figur, die in die letzte Strophe einstimmende 'Menge' (vgl. Ernst Toller, Die Maschinenstürmer. Ein Drama aus der Zeit der Ludditenbewegung in England in fünf Akten und einem Vorspiel. In: Ders., Gesammelte Werke. Hrsg. von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald. München: Carl Hanser, 1978, Bd. 2, Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918-1924), S. 113-190, hier: 126f.).

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Tragödie als Bühnenform Das Lied setzt mit einer Klage-Interjektion ein, dem viermal wiederholten Ausruf „Weh“. Die zweite Strophe stellt die Frage nach dem „Wann“ – wann wird das als Lügengebäude aufgefasste gesellschaftliche System zusammenbrechen, wann der Konflikt zwischen besitzlosen Arbeitern und Besitzenden aufbrechen. Die letzte Strophe schließlich apostrophiert die Aufbruchstimmung, indem in ebenfalls viermal wiederholtem „Auf“ zur Teilnahme am Kampf gegen die kritisierten Verhältnisse aufgerufen wird. Die Wortwiederholungen der jeweils ersten Zeilen, also der Klage, der Frage sowie schließlich der Aufforderung können dabei als Verstärkung gelten. In der letzten Strophe des vierstimmigen Chorlieds verstärkt sich zudem der Eindruck der wiederholten Aufforderung durch die Aufteilung des Chors in der ersten Zeile. Hierdurch wird die Aufforderung nochmals vervielfältigt, indem auf die ersten drei „Auf“ jeweils wie ein Echo eine chorische Wiederholung des Wortes folgt. In der Inszenierung des Chorlieds wird das Tempo zum Schluss des Lieds, von der vorletzten Zeile an, langsamer, die Intonation der einzelnen Worte noch akzentuierter, so dass die Gerichtssituation deutlich betont wird: „Rí-chtér sítzt dér Sprúch bégínnet / Wér Wér wírd béstéhn?“ Das Lied endet, vierstimmig, in einer Dissonanz. Der Beginn des Chorlieds scheint in der viermaligen „Weh“-Klage den von 'Luxemburg' ausgesprochenen Fluch zu wiederholen: „Wehe uns“. Damit übernimmt der Chor nicht nur das Thema der Protagonistin, sondern transformiert auch die von ihr ausgesprochene Verfluchung zur Chor-Klage. Wieder erscheint in der Übernahme des Themas der Protagonistin durch den Chor und dessen Form der Klage das bereits im chorischen „Golgatha“-Zitat deutlich gewordene Motiv der Verknüpfung von Einzelfigur und Chor. Der Schluss des Lieds, der inhaltlich auf die auch in Liebknechts Text „Trotz alledem!“ enthaltene Figur einer notwendig kommenden Herstellung von Gerechtigkeit verweisen mag – hier in Form eines nicht näher bezeichneten 'Richters', dort in Form eines revolutionären 'Jüngsten Gerichts' –, stellt formal die Frage in den Vordergrund. Mit dieser Frage endet der chorische Abschluss der Gesprächsszene.

„Engelstanz“ Engels tanz“ und „Teufelswut“. Nachspiel oder doppelter Schluss? Die folgenden beiden Chor-Szenen, die den Abschluss der Inszenierung bilden, sind in Entwürfen Schleefs zur Inszenierung mit „Engelstanz“ und „Teufelswut“ überschrieben.282 Die beiden in Schleefs

282 Vgl. Einar Schleef, Computertyposkript zur Inszenierung Verratenes Volk. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur

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Verratenes Volk Entwürfen offenbar eng miteinander verknüpften Chor-Szenen, die ohne Sprechtext auskommen, also reine Tanz- und Gesangsszenen sind, die sich aber in Inhalt und Aufführungsform extrem voneinander unterscheiden, können mit Blick auf Döblins NovemberRoman auch als Nachspiel aufgefasst werden. Bei Döblin folgt auf die ausführliche Darstellung der Ermordung von 'Karl' und 'Rosa' das den vierten Band abschließende neunte Buch mit dem Titel „Das Ende einer deutschen Revolution“. Dort werden – neben dem Untergang der fiktiven Einzelfigur Becker, deren Beispielhaftigkeit in Bezug auf das gesellschaftliche Scheitern nach der Rückkehr aus dem Krieg der Erzähler explizit hervorhebt – ausführlich die öffentlichen Reaktionen auf die Ermordung Luxemburgs und Liebknechts geschildert, wiederum anhand zahlreicher Zitate aus Zeitungsartikeln. Die Erzählung thematisiert die nicht erfolgte Bestrafung der Täter, die verfälschenden Darstellungen der Morde von Seiten der Regierung Ebert283 sowie die Fortsetzung des 'Verrats' an der Revolution als „alte[n] Betrug“ (NOV4, S. 626) in den folgenden, vom Bürgerkrieg gezeichneten Jahren in Deutschland. Statt dieser detaillierten Schilderung der Folgen der Novemberrevolution und insbesondere der Januaraufstände sowie der Ermordung von Liebknecht und Luxemburg bei Döblin setzt Schleefs Inszenierung als Nachspiel die beiden im Folgenden dargestellten Chor-Szenen. Anstelle der Erzählung tritt hier ein chorisch inszenierter Kommentar der vorangehenden Szenen, der wiederum die Form eines doppelten Schlusses anzunehmen scheint. Nach Ende des Chor-Lieds, in dem der gesamte Theaterraum unbeleuchtet war, wird der abgerundete, weiße Bühnenkasten wieder voll ausgeleuchtet. Direkt an die Tollers „Arbeiterlied“ beendende Frage „Wer wird bestehn?“ schließt der große Chor die Intonation eines weiteren Liedes an: „Sing we and chant it, while love doth grant it. Falalalala, lalalalala, fa-la-la-la.”284

2137. Auf einem weiteren Ausdruck eines Computertyposkripts wird die Szene zuerst als „MENSCHENKLAGE“, dann als „MENSCHEN ENGEL TEUFEL“ (ebd., S.78) bezeichnet. 283 Vgl. das erste Kapitel mit dem Titel „Die Regierung, von keinem Terror gehindert“ (NOV4, S. 599). 284 „Sing we and chant it”, Musik: Thomas Morley, Text: Drayton. Hier zitiert nach: Einar Schleef, Computertyposkript zur Inszenierung Verratenes Volk. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2137.

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Tragödie als Bühnenform Der Chor wiederholt diese Zeilen des in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts von dem englischen Komponisten und MadrigalTheoretiker Thomas Morley geschriebenen Lieds „Sing we and chant it“. Das Lied verbindet sich hier mit einem Tanz, in den auch die immer noch hinter dem Chor, auf der Höhe des Bühnenportals stehenden Protagonisten miteinbezogen werden: Mit Beginn des Lieds wenden die Chormitglieder sich in einer Drehbewegung nach hinten und schreiten mit stilisierten Tanzschritten, die durch zäsurierte Bewegungen unterbrochen werden, in Richtung Drehbühne. Die Zäsuren der Tanzbewegungen, die jeder einzeln für sich ausführt, richten sich dabei nach dem Rhythmus des Liedes, der etwa wie folgt angegeben werden kann: „Síng we and chánt it, whíle love doth gránt it. Fálalalala, lálalalala, fá-la-la-lá.”

Die chorisch ausgeführten Bewegungen werden dabei, in Form eines Freeze, auf den jeweils betonten Silben angehalten. Indem jedes Chormitglied für sich allein tanzt, so dass die Bewegungen zwar auf den Rhythmus des chorisch intonierten Textes gleichzeitig, nicht aber gleichförmig ausgeführt werden, erscheint die Szene weniger als streng durchkomponierte Choreografie denn als Zitat einer alltäglichen Tanzszene, in der die Tanzenden, wie etwa in der Clubkultur üblich, dem gemeinsamen Rhythmus auf je eigene Weise folgen. Andererseits führt das zeitweilige Verharren in der Bewegung dazu, dass die je eingenommene Haltung wie eine Pose aussieht, die in ihrer Gestik wiederum an Ballettformen aus dem 16./17. Jahrhundert erinnern mag.285 Indem der Chor in Richtung Drehbühne schreitet, die sich bei Beginn des Lieds in Bewegung gesetzt hat, werden die Schritte und Armbewegungen der Chormitglieder beim Wechsel der Posen beziehungsweise im tanzenden Voranschreiten ausladender. So ergibt sich der Eindruck einer fröhlichen Unbeschwertheit der Szene, die auf der Seite des Textes nicht nur vom Inhalt der ersten beiden Zeilen, sondern gerade auch durch die folgende Glossolalie des „Falalalala...“ hervorgerufen wird. Dieser Eindruck einer unbeschwerten, fröhlichen Chor-Szene mag an die Eingangsszene der Inszenierung, Miltons Erzählung der Paradiessituation vor dem Sündenfall erinnern. Oder sie mag demgegenüber auf die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft verweisen, die Liebknechts Artikel „Trotz alle285 Im Sinne eines solchen historischen Verweises wird die Chor-Szene des „Sing we and chant it“ in Alexander Weils Film über Verratenes Volk auch mit dem Verweis „Lied aus der Zeit John Miltons“ versehen (vgl.: Alexander Weil, Verratenes Volk. A.a.O.).

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Verratenes Volk dem!“ als Szene nach dem 'Jüngsten Gericht' der Revolution figuriert. Auf dem Weg des Chors von der Vorderbühne zur Drehbühne werden 'Luxemburg' und 'Liebknecht' in den Chor-Tanz integriert. Indem sie Gesang, Körperrhythmus und Raumbewegung des Chors übernehmen, gehen die Einzelfiguren in diesem auf. Die Protagonisten sind jetzt Teil des Chors geworden, visuell einzig aus diesem herausgehoben durch ihre Kleidung: Während alle übrigen Männer schwarze Anzüge, die Frauen schwarze, knielange Kleider tragen, stechen die beiden (vormaligen) Protagonisten nur mehr durch ihre weißen Hemden, die Luxemburg-Figur zudem durch ihr bodenlanges Kleid aus der Menge heraus. Diese durch das Kostüm gesetzte Unterscheidung zwischen Chor und Einzelfiguren bleibt aber gering, zumal sie durch die große Anzahl der Chormitglieder und die beständige Bewegung aller durch den Raum verwischt wird. Der Chor verteilt sich nun über die gesamte Drehbühne. In den improvisiert über diese Fläche kreisenden Bewegungen der Chormitglieder wird jetzt auch Einar Schleef sichtbar, der, anders als etwa in der Golemoder Sportstück-Inszenierung, nicht durch einen schwarzen Frack als Spielleiter gekennzeichnet ist, sondern ebenfalls im schwarzen Anzug als Chormitglied. Nach einigen Minuten geht der Chorgesang ins Crescendo über, die Chormitglieder bilden einen Kreis, indem sie sich an den Händen fassend auf den äußeren Rand der Drehbühne stellen. Aus dieser Figur zieht sich der Kreis nach innen zusammen, formiert sich zu einem ungeordneten Pulk und wird wieder nach außen gezogen. Nach mehrmaliger Wiederholung dieser Bewegung löst sich der Kreis auf. Wieder einzeln tanzend kommen die Chormitglieder nun, die zäsurierte Bewegung und das zeitweilige Verharren in einer Pose vom Anfang wiederholend, zurück auf die Vorderbühne, wobei Schritt- und Armbewegungen immer kleiner werden. Korrespondierend zu dieser Geste der Zurücknahme wird auch der Chorgesang immer leiser. Schließlich kommt der Chor auf der Vorderbühne nahe der Bühnenrampe zum Stehen. Die Chormitglieder stehen in lockeren Reihen über die gesamte Horizontale der Vorderbühne verteilt, so dass wie in den vorangehenden großen Chor-Szenen der Blick auf den hinteren Bühnenteil verdeckt ist. Aus der Geste der wechselseitigen Zuwendung im Chor-Tanz ist jetzt wieder die frontale Reihung des Chors an der Bühnenrampe geworden, die auf der Ebene der räumlichen Begegnung die Konfrontation mit dem Zuschauerraum betont. Aus dieser räumlichen Position schließt der Chor den folgenden, die Aufführung beendenden Gesang an, der direkt aus dem letzten chorisch gesungenen „Sing we and chant it“ hervorzugehen scheint. Es handelt sich um das Chor-Lied „Dies

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Tragödie als Bühnenform irae“, genauer: die ersten beiden dreizeiligen Strophen der Sequenz, deren musikalische Ausformung hier dem Requiem Mozarts folgt: „Dies irae, dies illa solvet saeclum in favilla, teste David cum Sibylla. Quantus tremor est futurus, quando judex est venturus, cuncta stricte discussurus.“286

Die „Dies irae“-Sequenz, die seit dem 13. Jahrhundert – bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil – fester Bestandteil der Totenmesse der römischen Liturgie war, behandelt in der Form eines langen Hymnus den Tag des Jüngsten Gerichts, als den Tag, an dem die göttliche Gerechtigkeit im Wortsinn 'endlich' hergestellt wird. Dabei kommt im Verlauf des Hymnus durchaus die Ambivalenz der messianischen Erwartung wie auch der Furcht vor dem Kommen dieses Tages zum Ausdruck. Die ersten beiden Strophen, die Schleefs Chor-Szene zitiert, thematisieren allerdings die durchaus furchterregende Ankündigung dieses Gerichtstags: „Tag des Zorns, jener Tag, der die Welt in Asche auflöst, wie es David und Sybilla bezeugen. Welch ein Zittern sein wird, wenn der Richter gekommen ist, der alles streng untersuchen wird.“287

Mit den mehrfach wiederholten beiden Anfangsstrophen des „Dies irae“ nimmt der Chor hier Bezug auf die zuvor in der Inszenierung explizit ausgesprochenen Ankündigungen eines Gerichtstags: Zuerst werden in der Tiergarten-Szene die durch die Straßen Berlins ziehenden Menschenmengen vom Chor als ein solches letztes Gericht definiert: „Hier marschieren die Richter und Rächer, das Richtschwert erhoben“ (VV, S. 54). Diese Ankündigung ist allerdings zwiespältig, da der hier aufgesplitterte Chor gleich darauf die Frage nach der Durchführbarkeit der angekündigten Abrechnung stellt: „Aber wer ist das Gericht? Wer ist der Gerichtsherr? Wer fällt das 286 Text zitiert nach: dtv-Atlas Musik. A.a.O., S. 190. 287 Freie Übersetzung: C.S. Das letzte Wort „discussurus“, von „discutio“, hat neben „untersuchen“, „diskutieren“ zudem die Bedeutung von „zerschlagen“, „zertrümmern“, „auseinanderjagen“, „zerteilen“, „beseitigen“. Vgl. Langenscheidts Taschenwörterbuch Lateinisch. Hrsg. von Hermann Menge. Berlin/München/Wien/Zürich: Langenscheidt, 1984 (36. Auflage).

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Verratenes Volk Urteil?“ (ebd.) Aufgrund der Abwesenheit der Revolutionsführer, des Fehlens eines Gerichtsherrn, so die Szene, scheint das angekündigte Gericht nicht durchführbar. Die Bewegung der Massen bleibt stecken. Die Revolution wird in der Geste des Wartens, die der Chor beschreibt, stillgestellt. Auf diese Stillstellung scheint sich die Geste des „Dies irae“ hier zu beziehen. Eine weitere Ankündigung der Figur eines letztgültigen Gerichts – im Kontext mit der Annahme einer notwendig kommenden revolutionären Situation – ist in der letzten Strophe des „Arbeiterlieds“ aus Tollers Maschinenstürmer enthalten, das der Chor nach dem letzten Gespräch der Protagonisten 'Luxemburg' und 'Liebknecht' singt. Dort heißt es: „Nacht vorbei, das Licht gewinnet, voll das Maß, der Sand verrinnet. Richter sitzt, der Spruch beginnet: Wer wird bestehn?“288

Indem jetzt mit dem „Dies irae“ auf die biblische Apokalypse Bezug genommen wird, stellt der Chor – wie es auch Liebknechts Text „Trotz alledem!“ macht – die Racheankündigungen noch einmal in einen wesentlich weiteren Kontext, nämlich in die Tradition der christlichen Apokalypseerwartung. Insofern ist die hier, im chorischen „Dies irae“ angekündigte Form der kommenden Herstellung von Gerechtigkeit nicht mehr von dieser Welt. Fasst man die Szene als kommentierendes Nachspiel auf, erscheint dies als negative Wendung aus posttheologischer Sicht – insbesondere aus Schleefs eben auch postsozialistischer Perspektive. Während des laut und bestimmt, das heißt genau akzentuierten chorischen „Dies irae“ hört man immer wieder den sehr lauten Schrei einer einzelnen Stimme, die nicht aus dem Chor kommt.289 Nach mehreren Wiederholungen der beiden zitierten Strophen wenden sich die Chormitglieder auf das letzte Wort der zweiten Strophe: „discussurus“, um und gehen, dieses wiederholend, in Richtung des hinteren Bühnenteils. Als die frontal an der Bühnenrampe positio-

288 Materialien zu Schleefs Inszenierung Verratenes Volk, Einar SchleefArchiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2137 (vgl.: Ernst Toller, Die Maschinenstürmer... A.a.O., S. 126f.). 289 Laut Auskunft von Susan Todd (Produktionsassistentin und Kostümbildnerin bei Verratenes Volk, ab 2001 Archivarin des Einar Schleef-Archivs der Akademie der Künste Berlin), handelt es sich um die Stimme Einar Schleefs, der hier wieder als Spielleiter auftritt. Schleef, hinter dem Chor auf der rechten Seitenbühne stehend, ruft laut Todd mehrfach „Hass“ in die chorische Szene des „Dies irae“ hinein.

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Tragödie als Bühnenform nierte Chor-Figur sich in der Bewegung auflöst und nach hinten wendet, sieht man die auf dem Boden liegenden Einzelfiguren 'Luxemburg' und 'Liebknecht'. Der Chor geht an diesen vorbei bis zur Bühnenrückwand. Dort stellen sich alle Chormitglieder nebeneinander mit dem Rücken zum Publikum auf, die Arme erhoben. Mit dieser Figur erinnert der Chor an die Szene 'Spiridonowas', die während der ganzen Zeit ihres Auftritts in dieser Haltung an der Bühnenrückwand gestanden hatte. Zudem erinnert die Geste der mit erhobenen Armen an der Wand stehenden Chormitglieder an die zweimal zitierte „Grabrede“ Brechts, in der die Wand, an die der zu Erschießende gestellt wird, als eine Wand „von seinesgleichen“ beschrieben wird. Als jetzt alle Chormitglieder nebeneinander mit erhobenen Armen an der rund gewölbten abschließenden Bühnenwand stehen, endet die chorische Wiederholung des vieldeutigen Worts „discussurus“, und damit das Chorlied. Der Chor erscheint der im „Dies irae“ ausgesprochenen Geste der Weltzertrümmerung ausgeliefert. Der Eiserne Vorhang fährt nach unten.

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SCHLUSSBEMERKUNG

Der Schluss der Inszenierung Verratenes Volk gibt in mehrfacher Hinsicht zu denken. Zunächst signalisiert das Herunterfahren des Eisernen Vorhangs in inhaltlicher Hinsicht das Ende der theatralen Figuren Luxemburg und Liebknecht sowie des Chors, der hier vom gesamten Ensemble gebildet wird. Indem die Aufführung mit der chorischen Geste des zu seiner Erschießung an die Wand Tretenden endet, wird die Erzählung vom Tod der Revolutionsprotagonisten als unhintergehbar mit der Chor-Figur verknüpft gezeigt. Damit unterstreicht die Inszenierung den von Schleef in Droge Faust Parsifal niedergelegten Gedanken, dass sich Chor und Einzelfigur nicht voneinander getrennt betrachten ließen.1 Nachdem das bürgerliche Theater diesen formalen wie inhaltlichen Zusammenhang nachhaltig verdrängt habe, so Schleef, scheint er gerade mit den in Verratenes Volk exponierten Fragestellungen wieder deutlich herauszutreten. Worin genau besteht aber hier die Verknüpfung von Einzelfigur und Chor? Was bedeutet dieser Schluss für die in der Inszenierung gestellte Frage nach der Beziehung zwischen Einzelnem und Chor, zwischen Massen und Revolutionsführern, zwischen Volk und in dessen Namen Sprechenden? Worin besteht letztlich der im Titel der Inszenierung annoncierte Verrat? Im Gedanken des stellvertretenden Sprechens, der Idee der Repräsentation selbst? Oder zunächst, mit Blick auf den Januar 1919, in der Niederschlagung der Revolution? In der Gründung einer Partei, „die ihre Mitglieder opfert“, wie Schleef in seiner Textfassung festhält? Im Glauben an den, im Durchgang durch ihre Niederlagen, notwendig kommenden Sieg der Revolution, wie es Rosa Luxemburg formuliert? In der Rede vom „Golgathaweg der Arbeiterklasse“, mit der Liebknecht den christlichen Erlösungsgedanken sozialistisch umwendet und den Schleef mit seiner Analyse der „Umkehrung der antiken Konstellation“ in der Moderne konfrontiert? Wie tritt die Umwendung des LiebknechtZitats, das auf der Folie der Matthäus-Passion zur chorischen Klage

1

Vgl. DFP, S. 276.

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Tragödie als Bühnenform transformiert wird, in Bezug zum Schluss der Inszenierung? Was bedeutet es, wenn der Chor zur geopferten Figur wird, wenn die Arbeiterklasse, auf dem Hintergrund des Glaubens an eine überindividuelle sozialistische Zukunft, zur Erlöserfigur stilisiert wird, deren Opferung eben diese Zukunft garantieren soll? Mit der Chor-Klage zieht die Inszenierung diesen posttheologischen Erlösungsgedanken, den teleologischen Glauben an den sozialen Fortschritt radikal in Zweifel. Vielmehr wird mit dem musikalischen Zitat des „Golgatha“-Rezitativs gerade dessen Abwesenheit thematisiert. Indem die Schlussszene der Inszenierung Geschichte und Form von Chor und Einzelfigur als unablösbar miteinander verbunden darstellt, scheint in Bezug auf den Zweifel am Erlösungsgedanken auch die Geschichtsmächtigkeit des Einzelnen in Frage gestellt. Ist also mit der Möglichkeit des Glaubens an eine sozialistische Zukunft auch der „Begriff Politik [...] gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen“ (EH, S. 366), wie Nietzsche in Ecce homo ankündigt? Oder fragt die Inszenierung nach einer anderen Form von Politik, jenseits des Gegensatzes von stellvertretendem Sprechen und sprachlosem Volk? Worin schließlich besteht der im Untertitel der Inszenierung aufgerufene Bezug zu 1989: Wir sind ein Volk, beziehungsweise zur gesellschaftspolitischen Situation und der Betrachtung der Ereignisse von 1989 im Aufführungsjahr 2000: Wir waren ein Volk? Einar Schleef, Zeichnung zu Verratenes Volk

Einar Schleef-Archiv, Akademie der Künste Berlin

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Schlussbemerkung Die chorischen Auftritte in Verratenes Volk nehmen zumeist die Form des Berichts und der Klage an. Vor allem aber wird der Chor hier als Figur der Frage konturiert. Mit der Chor-Figur, die weniger den Protagonisten auf der Szene als eher dem Publikum gegenübertritt, mit den ästhetischen Möglichkeiten der chorischen Form wird das der Inszenierung zugrunde liegende Material nicht zur Darstellung gebracht, sondern vielmehr befragt. Der abrupte Schluss der Inszenierung, der die aufgeworfenen Fragen weniger beantwortet als in den Raum stellt, verdeutlicht dies im Herunterfahren des Eisernen Vorhangs: Der ausgeräumte Bühnenkubus ist verschwunden, zurück bleibt der hell erleuchtete Zuschauersaal, in dem die Schlussszenen nachhallen. Die Geste des herunterfahrenden Eisernen Vorhangs signalisiert aber nicht nur den Schluss einer Theaterszene. Dies könnte das Zuziehen eines Stoffvorhangs ebenso anzeigen. Mit dem Einsatz des Eisernen Vorhangs rekurriert Schleef auf die Architektur des Guckkastentheaters, in welchem Wahrnehmungs- und Darstellungsraum, Zuschauerraum und Bühne als zwei konstitutiv voneinander getrennte Räume definiert sind. Der Eiserne Vorhang, den Schleef vielfach in seinen Theaterarbeiten verwendet, markiert die Grenze zwischen diesen beiden Räumen. Vom Grundriss aus gesehen, der das Theater als Gebäude im öffentlichen Raum beschreibt, trennt das als Bildfläche definierte Bühnenportal des Guckkastens die Theateranlage in zwei Teile: den fiktiven Raum der Theaterszene und den Schauraum der Zuschauer. Wagner beschreibt dies in seiner Rede zur Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses mit der Metapher des fern-sehens. Schleef hat diese für das Guckkastentheater konstitutive Grenze, die durch das Herunterfahren des Eisernen Vorhangs markiert wird, vielfach bearbeitet: Zum einen wird, wie in Der Golem in Bayreuth und Ein Sportstück, das gesamte Theatergebäude als Aufführungsraum behauptet. Zum anderen wird in frontalen Chorauftritten an der Bühnenrampe und im energetischen Zulauf auf diese die Bühnenkante als Grenze zwischen Wahrnehmungs- und Darstellungsraum thematisiert. Die in Salome2 prominent verwendete Stegform durchläuft das Theater von der Bühnenrückwand bis zum Abschluss des Zuschauerraums, durchquert also die Bühnenkante, die damit als Grenze hinfällig wird. In seiner Auseinandersetzung mit Wagner und dessen Reformierung der Theaterbühne problematisiert Schleef die Einrichtung des Orchestergrabens als nachhaltige Abtrennung der Bühne vom Zuschauerraum sowie als Manifestierung der Trennung von Sichtbarkeit und Hörbarkeit im Theaterraum. Wagner will, so proklamiert er in Oper und Drama, den Chor durch das moderne Orchester ersetzen. Dieses, und mit ihm der

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Einar Schleef nach Oscar Wilde, Düsseldorfer Schauspielhaus 1997.

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Tragödie als Bühnenform (ehemalige) Chorraum, wird jedoch als Störfaktor in der visuellen Wahrnehmung der Szene aufgefasst und soll daher aus dem sichtbaren Bühnenraum verschwinden. Mit dem Bayreuther Graben zwischen Bühne und Vorproszenium, so hält Schleef fest, vertiefe sich der räumliche und gedankliche Riss zwischen Szene und Wahrnehmung, Sängern und Orchester, Musik und Text. Um unter dem Schlagwort der 'Illusion' sein Musiktheater als reine Schauanlage zu konstituieren, perfektioniert Wagner mit der Einrichtung des Orchestergrabens die Aufteilung des Theaters in zwei voneinander getrennte Räume. Im Guckkasten als einem Theater ohne Orchestergraben und Chorraum ist die Grenze zwischen diesen beiden Räumen durch die Bühnenkante markiert. An dieser von der optischen Konstruktion des Theaterraums ausgehenden Grenze arbeitet Schleefs Szenografie, indem sie das Theatergebäude demgegenüber vom Grundriss aus definiert. Dies bedeutet, dass das Theater nicht in erster Linie als Schauanlage begriffen wird, sondern als öffentliches Gebäude in einer städtischen Umgebung. Gleichwohl ist sich Schleefs Theater der Zurichtung des Theaterraums unter dem Vorrang der visuellen Wahrnehmung hoch bewusst. Davon zeugt die Doppelbewegung des Ausstellens und Behauptens der Bühnenkante als Grenze einerseits und der Befragung, Bearbeitung beziehungsweise Dekonstruktion dieser Grenze andererseits. Genau diese Doppelbewegung kennzeichnet auch den Schluss der Inszenierung Verratenes Volk: Zum einen wird im Herunterfahren des Eisernen Vorhangs, der die theatrale Szene im doppelten Wortsinn abschließt, auf die Existenz zweier voneinander getrennter Räume im Theater verwiesen. Zum anderen wird mit dieser Geste des Abschließens der Szene der Vorgang der Veröffentlichung unterstrichen. Indem die in der Inszenierung gestellten und ausgestellten Fragen an das Publikum weitergegeben werden, wird das Theater weniger als Wahrnehmungs- und Darstellungsraum denn in erster Linie als öffentlicher Raum thematisiert. Neben der zentralen Problematisierung des Theaterraums als öffentlichem Ort sowie der Form der Veröffentlichung, welche die Figur des Chors kennzeichnet, ist Schleefs Theater vor allem auch durch die Autonomie der theatralen Szene charakterisiert. Dies bedeutet, dass, bis auf die Gestaltung des Bühnenlichts und die Einrichtung weniger baulicher Grundelemente, die Theaterszene vollständig von den theatralen Figuren selbst hervorgebracht wird – und zwar auf der visuellen wie auf der auditiven Ebene. An die Stelle eines 'Bühnenbilds'3 tritt in Schleefs Theater die Szenografie der Fi-

3

Der Begriff des 'Bühnenbilds' erscheint in diesem Zusammenhang insofern problematisch als er auf die Nachahmung eines Abbilds bzw. auf den Vorgang der Abbildung als solchen rekurriert und damit die

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Schlussbemerkung guren. Was zu sehen gegeben wird, ist nichts außer den Figuren selbst und ihrer Konstellation im Raum: das Kostüm, die Körperhaltung der Schauspieler, ihre Bewegungen, die Vorgänge des Sprechens und Schweigens, die Art und Weise des theatralen Auftritts. Der in Schleefs Theater zentralen Figur des Chors ist zudem eigen, dass sie sozusagen ihre eigene Umgebung ist. Als räumliche Figur verweist der Chor darauf, dass die theatrale Figur, entgegen den Gesetzen der Bildwahrnehmung, nicht unter dem Diktum ihrer Abbildlichkeit diskutiert werden kann. Die Bewegung der Bildwerdung der Figur unterläuft Schleefs Szenografie auch dadurch, dass die Chor-Figur beziehungsweise die chorische Form als nicht vom Auftritt der Einzelfigur abzutrennender Grund aufgefasst wird. In Verratenes Volk wird dies deutlich, indem die Szene der 'Rosa Luxemburg' von zahlreichen chorischen Auftritten begleitet beziehungsweise grundiert wird. Auf der auditiven Ebene behauptet sich die Autonomie der Theaterszene, indem alles, was zu hören gegeben wird, ebenfalls von den theatralen Figuren selbst erzeugt wird: Der Klang der Szene, Sprechen, Gesang und Geräusche, werden körperlich hervorgebracht. Im Mittelpunkt von Schleefs Theater steht die Stimme. Musikeinspielungen vom Band gibt es nicht, zumeist auch keine Instrumente. Die Stimme bringt beides hervor: 'Wortsprache' und 'Tonsprache' (Wagner).4 Im Hinblick auf die ausschließliche Hervorbringung der auditiven Szene durch die Stimme stellt die Inszenierung des Golem eine Ausnahme dar. Jedoch wird das Orchester hier zum einen sichtbar gemacht, indem es auf der Bühne auftritt. Zum anderen wird das Orchester durch diesen Vorgang als Chor und somit als theatraler Mitspieler definiert.

4

Definition des Bühnenausschnitts als Bildfläche aufruft. Der Begriff 'Bühnenbild' wäre somit im Kontext des Gegenwartstheaters, das den Gedanken der (flächigen) Abbildung in vielfacher Weise konterkariert, umfassender zu diskutieren. Zu Schleefs Ablehnung einer 'Möblierung' der Bühne bzw. des Bühnenbilds als Raumdekoration im Zusammenhang mit seiner Arbeit an der Tragödie als Bühnenform vgl.: DFP, S. 475. Für die Salzburger Festspiele plante Schleef Ende der 1990er-Jahre eine Inszenierung von Glucks Oper Orpheus und Eurydike – ohne Orchester, aber mit einem Chor „aus vielen hundert Männern“, so Schleef im Gespräch mit Alexander Kluge (vgl. Alexander Kluge/Einar Schleef, „Der Feuerkopf spricht“. In: Alexander Kluge, Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. A.a.O., S. 4-11, hier: S. 6). Anstelle eines Orchesters solle es in seiner Inszenierung nur „einzelne Instrumente“ geben, so Schleef, „eine Feuerwehrkapelle und eine Zithergemeinschaft“ (ebd.). In erster Linie jedoch sei Glucks Oper als Chor-Stück zu verstehen, das daher hauptsächlich „a capella“ (ebd.) aufzuführen sei.

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Tragödie als Bühnenform Meine anhand dreier später Inszenierungen entwickelte Auseinandersetzung mit Schleefs Szenografie des Chors betrachtet sich insofern als unabgeschlossen, als jede neuerliche Beschäftigung mit den hier dargestellten Gegenständen und Themenfeldern wiederum neue Fragen aufwirft und weitere Aspekte hinzuzuziehen auffordert. So wäre etwa Schleefs „Formenkanon“ (DFP, S. 472 u. ff.) insbesondere unter Einbezug des umfangreichen und vielfältigen Materials aus dem Nachlass, das bisher wissenschaftlich weitgehend unerschlossen ist, näher zu diskutieren. Gerade angesichts des Phänomens einer umfassenden 'Rückkehr' des Chors und chorischer Formen auf dem Gegenwartstheater geben Schleefs Inszenierungen mit der Thematisierung des Konflikts zwischen Einzelnem und Chor, seine Arbeit an der Bühnenform sowie die hiermit verbundene Auseinandersetzung mit einer Möglichkeit der Tragödie weiter zu denken.

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SIGLENVERZEICHNIS IGLENVERZEICHNIS

DFP

Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997

VV

Schleef, Einar: Verratenes Volk. 'Spielfassung'. Computertyposkript. Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur 2139

SP

Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Reinbek: Rowohlt, 1998

GB

Berkéwicz, Ulla: Der Golem in Bayreuth. Ein Musiktheaterspiel. Musik von Lesch Schmidt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999

NOV4

Döblin, Alfred: November 1918. Eine deutsche Revolution. Vollständige Ausgabe in 4 Bänden, mit einem Nachwort von Heinz D. Osterle. Bd. 4, Karl und Rosa. München: dtv, 1978

EH

Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Ders.: Sämtliche Werke (KSA). Bd. 6. Berlin/New York: de Gruyter, dtv: München, 1988, S. 255374

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QUELLENVERZEICHNIS

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Tragödie als Bühnenform Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980 Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band I.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980, S. 203-430 Behrens, Wolfgang: Einar Schleef. Werk und Person. Berlin: Theater der Zeit, 2003 Berghaus, Ruth/Müller, Heiner: „Ruth Berghaus und Heiner Müller im Gespräch. Aufgezeichnet und unter Teilnahme von Sigrid Neef“. In: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Bd. 2. Hrsg. von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1990, S. 71-93 Berkéwicz, Ulla: Der Golem in Bayreuth. Ein Musiktheaterspiel. Musik von Lesch Schmidt. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999 Berkéwicz, Ulla/Schmidt, Lesch: Der Golem in Bayreuth. Ein Musiktheaterspiel von Ulla Berkéwicz. Lesch Schmidt. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2001 Berkéwicz, Ulla: „Der Golem und 'Der Golem in Bayreuth'“. In: Berkéwicz, Ulla/Schmidt, Lesch: Der Golem in Bayreuth. Ein Musiktheaterspiel von Ulla Berkéwicz. Lesch Schmidt. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2001, S. 9-14 Bezirksamt Mitte von Berlin (Hg.): „Wir waren das Volk. Alexanderplatz, 4. November 1999“. Pressetext der Initiative 'Geschichte im Stadtraum'. In: http://uinic.de/alex/programm.html (Stand: Mai 2010) Brecht, Bertolt: „Bericht über den Tod eines Genossen“. In: Ders.: Werke (GBA). Hrsg. von Werner Hecht u.a. Bd. 11. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988, S. 236 Brecht, Bertolt: Die Mutter. In: Ders.: Werke (GBA). Hrsg. von Werner Hecht u.a. Bd. 3. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988 Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden (GBA). Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1988-2000 Bosse, Heinrich/Renner, Ursula (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Frankfurt am Main/Basel: Rombach, 1999

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Tragödie als Bühnenform Fischer-Lichte, Erika/Kolesch, Doris/Weiler, Christel (Hg.): Transformationen. Theater der neuziger Jahre. Berlin: Theater der Zeit, 1999 Fleig, Anne: „Zwischen Text und Theater. Zur Präsenz der Körper in Ein Sportstück von Jelinek und Schleef“. In: Fischer-Lichte, Erika/Fleig, Anne (Hg.): Körperinszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen: Attempo, 2000, S. 81-104 Foucault, Michel: „König Ödipus: Der Mann, der zuviel wußte“. In: Lettre International, Nr. 5, 1989, S. 68-72 Freiligrath, Ferdinand: „Abschiedswort der Neuen Rheinischen Zeitung“. In: Ders.: Werke. Bd. 1. Hildesheim/New York: Georg Olms, 1974, Teil 2, S. 140-141 Freiligrath, Ferdinand: „Die Revolution“. In: Ders.: Werke. Bd. 1. Hildesheim/New York: Georg Olms, 1974, Teil 2, S. 135-136 Freiligrath, Ferdinand: „Trotz alledem! (Variiert)“. In: Ders.: Werke. Bd. 1. Hildesheim/New York: Georg Olms, 1974, Teil 2, S. 129131 Freiligrath, Ferdinand: Werke. (Nachdruck der Ausgabe bei Bong, Berlin, 1909, Teil 1-3) Hildesheim/New York: Georg Olms, 1974 Gerecke, Gabriele/Müller, Harald/Müller-Schwefe, Hans-Ulrich (Hg.): Einar Schleef Arbeitsbuch. Berlin: Theater der Zeit, 2002 Girard, René: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt am Main: Fischer, 1992 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Eine Tragödie. In: Ders.: Faust. Texte. Hrsg. von Abrecht Schöne. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2005, S. 9-464 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Frühe Fassung. In: Ders.: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2005, S. 467-539 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Kommentare. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2005 Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Texte. Hrsg. von Albrecht Schöne. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag, 2005 Goldman, Emma: Niedergang der Russischen Revolution. Berlin: Karin Kramer, 1987 Goldman, Emma: Die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution. Mit einem Vorwort von Rudolf Rocker. Berlin: Der Syndikalist, 1922 Gürtler, Christa (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1990, S. 157-161 Habel, Heinrich: Festspielhaus und Wahnfried. Geplante und ausgeführte Bauten Richard Wagners. München: Prestel, 1985 Haffner, Sebastian: Die deutsche Revolution 1918/19. Neuausgabe von 1979. Reinbek: Rowohlt, 2004

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Tragödie als Bühnenform Heeg, Günther: „Der Chor als Schnittstelle des Politischen“. In: www.thewis.de. Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Stand: Mai 2010) Heeg, Günther: „Einsamkeit. Schnittstelle“. In: Haß, Ulrike/Oberender, Thomas (Hg.): Krieg der Propheten. Zur Zukunft des Politischen II. Berlin: Alexander Verlag, 2002, S. 56-88 Heeg, Günther: „Herr und Knecht, Furcht und Arbeit, Mann und Weib. Einar Schleefs archäologische Lektüre von Brechts Puntila“. In: Silberman, Marc (Hg.): drive b: Brecht 100. Brecht Yearbook, Nr. 23, Berlin: Theater der Zeit, 1997, S. 147-152 Heeg, Günther: „Szenen“. In: Bosse, Heinrich/Renner, Ursula (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Frankfurt am Main/Basel: Rombach, 1999, S. 251-269 Heeg, Günther/Mungen, Anno (Hg.): Stillstand und Bewegung. Intermediale Studien zur Theatralität von Text, Bild und Musik. München: epodium, 2004 Hofmannsthal, Hugo von: Elektra. In: Ders.: Gesammelte Werke. Dramen II. 1892-1905. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main: Fischer, 1979, S. 185239 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke. Dramen II. 18921905. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main: Fischer, 1979 Holl, Susanne: „Im Rückblick von Bayreuth. Zum medialen Verbund von Perspektive, Licht und Architektur im Theater“. In: Leeker, Martina (Hg.): Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 2001, S. 542-561 Janz, Marlies: „Das Verschwinden des Autors. Die Celan-Zitate in Elfriede Jelineks Stück Stecken, Stab und Stangl“. In: CelanJahrbuch 7 (1997/98), 1999, S. 279-292 Janz, Marlies: Elfriede Jelinek. Stuttgart: Metzler, 1995 Jelinek, Elfriede: „Die Leere öffnen (für, über Jossi Wieler)“. In: http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/ (Stand: Mai 2010) Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Reinbek: Rowohlt, 1998 Jelinek, Elfriede: „Ich möchte seicht sein“. In: Gürtler, Christa (Hg.), Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt am Main: Neue Kritik, 1990, S. 157-161 (Auszugsweise zuerst in: Theater heute. Jahrbuch, 1983, S. 102) Jelinek, Elfriede: „Sinn egal. Körper zwecklos“. In: Theaterschrift, Nr. 11, 1993, S. 22-33 Jelinek, Elfriede: Stecken, Stab und Stangl. Eine Handarbeit. In: Dies.: Stecken, Stab und Stangl – Raststätte – Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1997

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Quellenverzeichnis Jelinek, Elfriede: Stecken, Stab und Stangl – Raststätte – Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1997 Jelinek, Elfriede: Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1992 Jelinek, Elfriede: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften. In: Dies.: Theaterstücke. Reinbek: Rowohlt, 1992, S. 7-78 Karschnia, Alexander/Kohns, Oliver/Kreuzer, Stefanie/Spies, Christian (Hg.): Zum Zeitvertreib. Strategien, Institutionen, Lektüren, Bilder. Bielefeld: Aisthesis, 2005 Kleist, Heinrich von: Penthesilea. Ein Trauerspiel. In: Ders.: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß, Peter Staengle, Ingeborg Harms. Bd. I, Dramen, 5. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1992 Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Berliner Ausgabe. Hrsg. von Roland Reuß, Peter Staengle. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1988Kluge, Alexander: Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften. Bd. 5. Hrsg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8, 2003 Kluge, Alexander/Schleef, Einar: „Der Feuerkopf spricht“. In: Kluge, Alexander: Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften. Bd. 5. Hrsg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8, 2003, S. 4-11 Kluge, Alexander/Schleef, Einar: „Endkampf in einer Ritterburg. Einar Schleef und die Gesangsmaschinen des PARSIFAL“. In: Kluge, Alexander: Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften. Bd. 5. Hrsg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8, 2003, S. 56-63 Kluge, Alexander/Schleef, Einar: „Mag die Mauer fallen, wir spielen Emilia Galotti. Einar Schleef über den November 1918 und historische Loyalität“. In: Kluge, Alexander: Einar Schleef – Der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften. Bd. 5. Hrsg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8, 2003, S. 80-87 Kolb, Frank: Agora und Theater, Volks- und Festversammlung. Berlin: Mann, 1981 Kott, Jan: Gott-Essen. Berlin: Alexander Verlag, 1991 (Reprint der deutschen Ausgabe im Piper Verlag München, 1975) Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG). Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München: Text + Kritik, 1978Kubler, George: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982 Kulturprojekte Berlin GmbH (Hg.): „Wir sind das Volk!“ Magazin zur Ausstellung Friedliche Revolution 1989/1990. Berlin, 2009

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Tragödie als Bühnenform Kurzenberger, Hajo: „Chorisches Theater der neunziger Jahre“. In: Fischer-Lichte, Erika u.a. (Hg.): Transformationen. Theater der neuziger Jahre. Berlin: Theater der Zeit, 1999, S. 83-91 Langenscheidts Taschenwörterbuch Lateinisch. Hrsg. von Hermann Menge. Berlin/München/Wien/Zürich: Langenscheidt, 1984 (36. Auflage) Leeker, Martina (Hg.), Maschinen, Medien, Performance. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten. Berlin: Alexander Verlag, 2001 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1999 Lehmann, Hans-Thies: „Theater des Konflikts. EinarSchleef[at]post110901.de“. In: Gerecke, Gabriele/Müller, Harald/MüllerSchwefe, Hans-Ulrich (Hg.): Einar Schleef Arbeitsbuch. Berlin: Theater der Zeit, 2002, S. 42-53 Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler, 1991 Lehmann, Hans-Thies: „Zeitskulpturen. Zu einigen Theaterformen am Ende des 20. Jahrhunderts. In: Theaterschrift. Nr. 12, 1997, S. 28-47 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. In: Ders.: Werke. Bd. 4, Dramaturgische Schriften. Hrsg. von Herbert G. Göpfert, Karl Eibl. München: Hanser, 1973, S. 229-720 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Hrsg. von Herbert G. Göpfert u.a. München: Hanser, 1970-1979 Liebknecht, Karl: Gesammelte Reden und Schriften. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus des ZK der SED. Berlin: Dietz, 1958Liebknecht, Karl: „Trotz alledem!“ In: Ders.: Gesammelte Reden und Schriften. Bd. 9, Mai 1916 bis 15. Januar 1919. Berlin: Dietz, 1974, S. 709-713 Luxemburg, Rosa: Briefe an Freunde. Nach d. von Luise Kautsky fertiggestellten Manuskript hrsg. von Benedikt Kautsky. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, 1986 Luxemburg, Rosa: Briefe aus dem Gefängnis. 16., erweiterte Auflage. Berlin: Dietz, 2000 Luxemburg, Rosa: „Das Versagen der Führer“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, August 1914 bis Januar 1919. Berlin: Dietz, 1974, S. 523-526 Luxemburg, Rosa: „Der politische Führer der deutschen Arbeiterklasse“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Bd. 2, 1906-1911. Berlin: Dietz, 1972, S. 279-288

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Quellenverzeichnis Luxemburg, Rosa: „Die Ordnung herrscht in Berlin“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, August 1914 bis Januar 1919. Berlin: Dietz, 1974, S. 531-536 Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke. Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus des ZK der SED, ab 1990 von der RosaLuxemburg-Stiftung Gesellschaftsanalyse und Politische Bildung e.V. Berlin: Dietz, 1970Luxemburg, Rosa: „Kartenhäuser“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, August 1914 bis Januar 1919. Berlin: Dietz, 1974, S. 527-530 Luxemburg, Rosa: „Zur russischen Revolution“. In: Dies.: Gesammelte Werke. Bd. 4, August 1914 bis Januar 1919. Berlin: Dietz, 1974, S. 332-365 Maeterlinck, Maurice: Die Blinden. In: Ders.: Die frühen Stücke. Übersetzt und hrsg. von Stefan Gross. München: Text + Kritik, 1983, Bd. 1, S. 107-132 Maeterlinck, Maurice: Die frühen Stücke. Übersetzt und hrsg. von Stefan Gross. München: Text + Kritik, 1983 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Dies.: Werke (MEW). Bd. 4. Berlin: Dietz, 1972, S. 459-493 Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke (MEW). Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin: Dietz, 19561990 Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005 Metzler Lexikon Theatertheorie. Hrsg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2005 Milton, John: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen übertragen und hrsg. von Hans Heinrich Meier. Stuttgart: Reclam, 1968 Milton, John: Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimile-Druck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart: Metzler, 1965 Milton, John: Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Uebersetzt und durchgehends mit Anmerckungen über die Kunst des Poeten begleitet von Johann Jacob Bodmer. Zürich: Conrad Drell und Comp., 1742 Michels, Ulrich (Hg.): dtv-Atlas Musik. München: dtv, 2001 (Durchgesehene und aktualisierte Sonderausgabe des im dtv in zwei Bänden 1977 und 1985 erstmals erschienenen dtv-Atlas Musik) Müller, Heiner: „Dunkles Getümmel ziehender Barbaren“. In: Ders., Gesammelte Irrtümer. Texte und Gespräche. Bd. 3. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1994, S. 92-93

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Tragödie als Bühnenform Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Bd. 2. Hrsg. von Gregor Edelmann und Renate Ziemer. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1990 Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer. Texte und Gespräche. Bd. 3. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1994 Müller, Heiner/Landolt, Patrick: „Nicht Einheit sondern Differenz.“ In: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer. Bd. 3. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1994, S. 37-44 Müller, Heiner/Ophuls, Jeanne: „Jetzt sind wir nicht mehr glaubwürdig.“ In: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer. Bd. 3. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, 1994, S. 76-82 Müller, Heiner/Raddatz, Frank: „Für immer in Hollywood oder: In Deutschland wird nicht mehr geblinzelt“. In: Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer. Texte und Gespräche. Bd. 3. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, S. 214-230 Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des 'konstruktiven Defaitismus'. Lektüren zur Theorie eines Theater der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Basel/Frankfurt am Main: Stroemfeld/Nexus, 2002 Müller-Schöll, Nikolaus: „Entstaltung der moralischen Anstalt. Zur Ausstellung der 'Sprachbildung' im 'Trailer' von Einar Schleefs Inszenierung 'Wessis in Weimar'“. In: Ensslin, Felix (Hg.): Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? Schillers Ästhetik heute. Berlin: Theater der Zeit, 2006, S. 252-267 Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft. Aus dem Französischen von Gisela Febel und Jutta Legueil. Stuttgart: Edition Patricia Schwarz, 1988 Nekula, Marek/Koschmal, Walter/Rogall, Joachim (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. München: Beck, 2001 Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke (KSA). Bd. 3. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1988, S. 343-651 Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. Wie man wird, was man ist. In: Ders.: Sämtliche Werke (KSA). Bd. 6. Berlin/New York: de Gruyter, dtv: München, 1988, S. 255-374 Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. In: Ders.: Sämtliche Werke (KSA). Bd. 2. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1988 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1880 – 1882. In: Ders.: Sämtliche Werke (KSA). Bd. 9. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1988 Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1887 – 1889. In: Ders.: Sämtliche Werke (KSA). Bd. 13. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1988

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Quellenverzeichnis Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden (KSB). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1986 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe (KSB). Bd. 8, Januar 1887 Januar 1889. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1986 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA). Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York: de Gruyter, München: dtv, 1967-77 und 1988 (2., durchgesehene Auflage), Neuausgabe: 1999 Platen, Emil: Johann Sebastian Bach. Die Matthäus-Passion. 2. verbesserte und ergänzte Auflage. Kassel: Bärenreiter, 1997 Poschmann, Gerda: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramatische Analyse. Tübingen: Niemeyer, 1997 Primavesi, Patrick: „Rhythmus. Störung“. In: Arbeitskreis Einar Schleef Sangerhausen e.V. (Hg.): Schleef Block I. Kolloquium 2004. Sangerhausen, 2004, S. 73-86 Raddatz, Frank: „Am Anfang ist das Fest“. In: www.thewis.de. Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Stand: Mai 2010) Raddatz, Frank: „Die Auferstehung des Tragischen“. In: Gerecke, Gabriele u.a. (Hg.), Einar Schleef Arbeitsbuch. Berlin: Theater der Zeit, 2002, S. 202 Reich, Sabine: „RAUMTEILER“. In: www.thewis.de. OnlineZeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Stand: Mai 2010) Reich, Sabine: „Über das Wohnen“. In: Arbeitskreis Einar Schleef Sangerhausen e.V. (Hg.): Schleef Block I. Kolloquium 2004. Sangerhausen, 2004, S. 41-50 Reich, Sabine: „Sprach-Räume. Sangerhausen und Todtnauberg“. In: Gerecke, Gabriele u.a. (Hg.): Einar Schleef Arbeitsbuch. Berlin: Theater der Zeit, S. 210-214 Riemer, Peter/Zimmermann, Bernhard (Hg.): Der Chor im antiken und modernen Drama. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1998 Rienäcker, Gerd: Richard Wagner. Nachdenken über sein 'Gewebe'. Berlin: Lukas-Verlag, 2001 Rienäcker, Gerd: „Verdammteste Arbeit, verdammtester Ernst. Nachdenken über ein Buch von Einar Schleef“. In: Theater der Zeit, Nr. 1, 2007, S. 26-29 Roesner, David: „Kompositionen der Ausdrucksnot. Einar Schleefs Musikalisierung von Sprache in seiner Inszenierung 'Verratenes Volk'“. In: Bayerdörfer, Hans-Peter (Hg): Stimmen – Länge – Töne. Synergien im szenischen Spiel. Tübingen: Narr, 2002

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Tragödie als Bühnenform Roesner, David: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson. Tübingen: Narr, 2003 Schiller, Friedrich: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begr. von Julius Petersen. Fortgef. von Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese und Siegfried Seidel. Hrsg. im Auftrag der KlassikStiftung Weimar und des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Norbert Oellers. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1943ff. Schiller, Friedrich: „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 10, Die Braut von Messina, Wilhelm Tell, Die Huldigung der Künste. Hrsg. von Siegfried Seidel, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1980, S. 7-15 Schleef, Einar: Die Bande. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982 Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997 Schleef, Einar: Gertrud. Bd. I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1980 Schleef, Einar: Gertrud. Bd. II, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984 Schleef, Einar: Republikflucht Waffenstillstand Heimkehr. Berlin: Argon, 1992 Schleef, Einar: Tagebuch 1981-1998. Frankfurt am Main. Westberlin. Hrsg. von Winfried Menninghaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009 Schlögel, Karl: „Die russische Obsession. Edwin Erich Dwinger“. In: Thum, Gregor (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 66-87 Schlögel, Karl: „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft. Russland als Projektionsfläche deutscher Träume und Albträume im zwanzigsten Jahrhundert: Die Romane von Edwin Erich Dwinger“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 105, 7.5.1998, S. 44 Schmid, Herta/Striedter, Jurij (Hg.): Dramatische und theatrale Kommunikation. Beiträge zur Geschichte und Theorie des Dramas und Theaters im 20. Jahrhundert. Tübingen: Narr, 1992 Schmidt, Christina: „Chor der Untoten. Zu Elfriede Jelineks vielstimmigem Theatertext Wolken.Heim.“ In: Karschnia, Alexander u.a. (Hg.): Zum Zeitvertreib. Strategien, Institutionen, Lektüren, Bilder. Bielefeld: Aisthesis, 2005, S. 223-232 Schmidt, Christina: „Gehörtwerden. Einar Schleefs Chor-Stück 'Verratenes Volk'“. In: Arbeitskreis Einar Schleef Sangerhausen (Hg.): Schleef Block I. Kolloquium 2004. Sangerhausen, 2004, S. 61-72 Schmidt, Christina: „Miriam Dreysse Passos de Carvalho, Szene vor dem Palast“ (Rezension). In: Theater der Zeit, Nr.11, 2000, S. 9798

370

Quellenverzeichnis Schmidt, Christina: „Proszenium, Orchestra und Orchester – Zur Topografie fragiler Theaterorte“. In: www.thewis.de. OnlineZeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (Stand: Mai 2010) Schmidt, Christina: „Sprechen sein. Elfriede Jelineks Theater der Sprachflächen“. In: Sprache im technischen Zeitalter. Nr. 153, 2000, S. 65-74 Schmidt, Christina: „Von der nach-protagonistischen Figur zum Chor. Einar Schleefs Inszenierung Ein Sportstück“. In: Arteel, Inge/Müller, Heidy Margrit (Hg.): Elfriede Jelinek – Stücke für oder gegen das Theater? Brüssel: Koninklijke Vlaamse Academie von België, 2008, S. 43-50 Semper, Gottfried: „Königlicher Festbau in München (1867). Baubeschreibung.“ In: Habel, Heinrich: Festspielhaus und Wahnfried. Geplante und ausgeführte Bauten Richard Wagners. München: Prestel, 1985, S.629-640 Silberman, Marc (Hg.): drive b: Brecht 100. Brecht Yearbook, Nr. 23, Berlin: Theater der Zeit, 1997 Sophokles, Elektra. Übertragen von Wolfgang Schadewaldt. Hrsg. von Hellmut Flashar. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel, 1994 Stanitzek, Georg: „'Elfriede Jelinek': Fiktion und Adresse“. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.): Elfriede Jelinek. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Nr. 117, 2., erweiterte Auflage, München: Text + Kritik, 1999, S. 8-16 Szondi, Peter: Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978 Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1959). In: Ders.: Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, S. 9-148 Thum, Georg (Hg.): Traumland Osten. Deutsche Bilder vom östlichen Europa im 20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006 Toller, Ernst: Die Maschinenstürmer. Ein Drama aus der Zeit der Ludditenbewegung in England in fünf Akten und einem Vorspiel. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald. München: Carl Hanser, 1978, Bd. 2, Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918-1924), S. 113-190 Toller, Ernst: Gesammelte Werke. Hrsg. von John M. Spalek, Wolfgang Frühwald. München: Carl Hanser, 1978 Trotzki, Leo: Geschichte der russischen Revolution. Bd. 2, Oktoberrevolution. Berlin: S. Fischer, 1933 Wagner, Richard: „Das Bühnenfestspielhaus in Bayreuth. Nebst einem Berichte über die Grundsteinlegung desselben“. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911], Bd. 9, S. 322-344

371

Tragödie als Bühnenform Wagner, Richard: Oper und Drama. I. Die Oper und das Wesen der Musik. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911], Bd. 3, S. 222-320 Wagner, Richard: Oper und Drama. II. Das Schauspiel und das Wesen der dramatischen Dichtkunst, III. Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft. In: Ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911], Bd. 4, S. 1-229 Wagner, Richard: Parsifal. Ein Bühnenweihfestspiel. In: Ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Bd. 10. Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911] Wagner, Richard: Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volksausgabe. Leipzig: Breitkopf & Härtel, o.J. [1911] Wagner, Richard: Werke, Schriften und Briefe. Hrsg. von Sven Friedrich. Digitale Bibliothek, Bd. 107. Berlin: Directmedia, 2004 Wege, Carl (Hg.): Brechts 'Mann ist Mann'. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982 Weil, Alexander: „Verratenes Volk. 5 Stunden-Marathon von Einar Schleef über den NOVEMBER 1918“. In: Kluge, Alexander: Einar Schleef – der Feuerkopf spricht. Facts & Fakes. Fernsehnachschriften. Bd. 5. Hrsg. von Christian Schulte, Reinald Gußmann. Berlin: Vorwerk 8, 2003, S. 64-74 Wilhelm II: Wilhelms II. Abschiedsbrief an das deutsche Volk. Den Deutschen ein Spiegel. Berlin: Curtius, 1919 Wöll, Alexander: „Der Golem. Kommt der erste künstliche Mensch und Roboter aus Prag?“ In: Nekula, Marek/Koschmal, Walter/Rogall, Joachim (Hg.): Deutsche und Tschechen. Geschichte – Kultur – Politik. München: Beck, 2001, S. 235-245 Žižek, Slavoj: „'Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug'. Das Subjekt der Oper und seine Schicksale“. In: Lettre International. Nr. 19, 1992, S. 55-64

Filme Kluge, Alexander: Endkampf in einer Ritterburg. Einar Schleef und die Gesangsmaschinen des PARSIFAL. dctp, News & Stories, Sat 1, Deutschland, 1995 Kluge, Alexander: Mag die Mauer fallen, wir spielen EMILIA GALOTTI. Einar Schleef über den November 1918 und historische Loyalität. dctp, DCTP Nacht Club, Vox, Deutschland, 2001 Schleef, Einar/Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Fernsehdokumentation der Aufführung des Wiener Burgtheaters am 21.5.1998 im Schiller Theater, Berlin, anlässlich des 35. Theatertreffens. ZDF/3sat, Deutschland, 1998

372

Quellenverzeichnis Weil, Alexander: Verratenes Volk. 5-Stunden-Marathon, Einar Schleefs Musikdrama am Deutschen Theater nach John Milton, Edwin E. Dwinger und Alfred Döblins November 1918. dctp, News & Stories, Sat 1, Deutschland, 2000

Archivalien Archivalien Zitiertes Material aus dem Einar Schleef-Archiv der Akademie der Künste Berlin: Signatur

Beschreibung

7195

Fotografie der Plakataktion „Wir waren das Volk“ am Alexanderplatz, Berlin, 1999, Material zu Verratenes Volk

1995

Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimile-Druck der Bodmerschen Übersetzung von 1742

2009

Wilhelms II. Abschiedsbrief an das deutsche Volk, Text in Kopie o.O. und J.

2023

Dwinger, Edwin Erich: Die Armee hinter Stacheldraht, Text in Kopie o.O. und J.

2039

Zickler, Artur: „Das Leichenhaus“. In: Vorwärts, 13.1.1919. Zeitungsfaksimile in Kopie

2040

Schlögel, Karl: „Sibirien ist eine deutsche Seelenlandschaft...“. FAZ, 7.5.1998, Zeitungsartikel in Kopie

2049

Besetzungsliste Verratenes Volk

2137

Schleef, Einar: Computertyposkript zu Verratenes Volk

2138

Schwert und Leier (1914), Liedtexte in Kopie, o.O. und J.

2139

Schleef, Einar: Verratenes Volk. 'Spielfassung'. Computertyposkript

373

Tragödie als Bühnenform 2140

Schleef, Einar: Computertyposkript zu Verratenes Volk

2147

Nietzsche, Friedrich: Ecce homo, Text in Kopie o.O. und J., mit handschriftlichen Strichen

374

Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten Dezember 2010, ca. 130 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz Mai 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen Juni 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten Januar 2011, 246 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Schule Ein Handbuch zur kulturellen Bildung 2009, 352 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1072-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Gabi dan Droste (Hg.) Theater von Anfang an! Bildung, Kunst und frühe Kindheit

Stephanie Metzger Theater und Fiktion Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart

2009, 260 Seiten, kart., inkl. Begleit-DVD, 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1180-9

April 2010, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1399-5

Jennifer Elfert Theaterfestivals Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells 2009, 406 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1314-8

Friedemann Kreuder, Michael Bachmann (Hg.) Politik mit dem Körper Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968 2009, 294 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1223-3

Hajo Kurzenberger Der kollektive Prozess des Theaters Chorkörper – Probengemeinschaften – theatrale Kreativität 2009, 252 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1208-0

Kuan-wu Lin Westlicher Geist im östlichen Körper? »Medea« im interkulturellen Theater Chinas und Taiwans. Zur Universalisierung der griechischen Antike August 2010, 376 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1350-6

Artur Pelka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945 Dezember 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1488-6

Christoph Rodatz Der Schnitt durch den Raum Atmosphärische Wahrnehmung in und außerhalb von Theaterräumen August 2010, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1585-2

Kati Röttger, Alexander Jackob (Hg.) Theater und Bild Inszenierungen des Sehens 2009, 322 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-706-6

Franziska Schössler, Christine Bähr (Hg.) Ökonomie im Theater der Gegenwart Ästhetik, Produktion, Institution 2009, 370 Seiten, kart., farb. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1060-4

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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