Das Drama nach dem Drama: Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945 [1. Aufl.] 9783839414880

Welche Folgen hatte der Faschismus für die deutsche Dramatik? Wie hat sich die Schreib- und Spielpraxis im geteilten Deu

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Das Drama nach dem Drama: Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945 [1. Aufl.]
 9783839414880

Table of contents :
INHALT
Vorwort
DAS DRAMA NACH DEM DRAMA I: POSITIONEN NACH 1945
Zum jüdischen Schicksal im deutschsprachigen Nachkriegsdrama: Das Beispiel Nelly Sachs
»Alles wird dunkler« – Wolfgang Hildesheimers Theater des Verfalls
Rolf Bongs als ein untypischer Vertreter der »inneren Emigration« – sein Werdegang nach 1945
GRENZGÄNGER UND RAUMVERMESSER. HACKS – MÜLLER – SCHLEEF BERNADETTE GRUBNER
»Kunst ist vorgestellte Praxis«. Peter Hacks’ Pandora vor dem Hintergrund des ›Traditionsdisputs‹ der 1970er Jahre in der DDR
Heiner Müller: Die amerikanische Heterotopie
»Nazi-Theater«? Einar Schleefs Relektüre des Urgötz im geschichtspolitischen Kontext der 1980er Jahre
1989 UND DIE FOLGEN: GESCHICHTE (AUF-)SCHREIBEN
Zwischen Medien und Revolution. Ein Streifzug durch die Theatertexte der Wende
Botho Strauss’ Schlusschor. Ein Drama der verpassten Vereinigungen
Wendetheater – ›Hinwendungsdramatik‹. Zu Dirk Lauckes Für alle reicht es nicht
THEATER UND MYTHOS/ERZÄHLTHEATER
Zurück zu »großen Texten«? Dramaturgie im heutigen Erzähltheater
Mythos Klassiker oder die Dramaturgie des Ursprünglichen
Alte Stoffe in neuer Bearbeitung: Zu Tankred Dorsts und Ursula Ehlers Die Legende vom armen Heinrich
Schwierige Kommunikation: Moritz Rinkes Mythen/De/Konstruktion
DAS DRAMA NACH DEM DRAMA II: AKTUELLE SCHREIPOSITIONEN
»Der Sprung in der Scheibe, mit dem alles begann.« Wort-Regie-Theater. Roland Schimmelpfennigs Hier und Jetzt als polyphone Zeit-Raum-Variation
»Große Ideen«. Utopie und Kritik in Moritz Rinkes sozialen Dramen Republik Vineta und Café Umberto
Geschichte Deutschlands im Vexierspiegel – John von Düffels Rinderwahnsinn als bösartige Farce über Deutschland und die Deutschen
Fantasma von René Pollesch – Theater ohne Plot? Theater mit These!
Archäologische Schnitte, kollidierende Wucherungen: Das post-bürgerliche Schauspiel des Selbst in René Polleschs Theater des Sagbaren
Das intertextuelle Spiel im postdramatischen Theater. Tim Staffels Werther in New York
Junge Stücke am Ende der Geschichte? Die Dramatik junger AutorInnen und der Verlust der Utopie
Sterne und andere S-Klassen. Beobachtungen zu einzelnen Stücken und Autoren des Studiengangs Szenisches Schreiben an der UDK Berlin
DRAMATISCHE »ZERREISSPROBEN«: THEATER – AKTIONISMUS – AUTHENTIZITÄT BRIGITTE MARSCHALL
Als das Theater die Theater verließ: Aktionistische Praxen in den 1960er Jahren
Wie denkt Theater? Zur Politik der Darstellung nach dem Fall
Die Vertreibung der Dichtung durch das Authentische
Das Drama wieder. Eine begriffliche Untersuchung
DIALOGE
Dialoge I: Migration dichten und deuten. Ein Gespräch zwischen Shermin Langhoff, Tunçay Kulaoğlu und Barbara Kastner
Dialoge II: Glücklich ist, wer vergisst? Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Elfriede Jelinek und Rita Thiele
KÜNSTLERISCHE POSITIONEN
The Richter Nordey Project Avignon 2010
Über die Verwendungsmöglichkeiten der Effizienzsteigerung des Volkswagenkonzerns in den letzten zwanzig Jahren als Vorbild für die Inszenierungspraxis am Repertoiretheater. Eine Skizze, ein Versuch
Der Stein (Auszug)
Bakunin auf dem Rücksitz (Auszug)
Autorinnen und Autoren

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Artur Pełka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama

T h e a t e r | Band 22

Artur Pełka, Stefan Tigges (Hg.) Das Drama nach dem Drama. Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland seit 1945

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Roland Schimmelpfennig, »Hier und Jetzt«, Schauspiel Zürich, Schiffbau, Halle 1 (UA: 24.04.2008), Regie: Jürgen Gosch, Bühne: Johannes Schütz; Foto: Arwed Messmer Lektorat & Satz: Artur Pełka, Stefan Tigges Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1488-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Vorwort 11

DAS DRAMA NACH DEM DRAMA I: POSITIONEN NACH 1945 GERALD SOMMERER Zum jüdischen Schicksal im deutschsprachigen Nachkriegsdrama: Das Beispiel Nelly Sachs 23

CHRISTOPH PFLAUMBAUM »Alles wird dunkler« – Wolfgang Hildesheimers Theater des Verfalls 35

AGNIESZKA RAJEWSKA-PERZYŃSKA Rolf Bongs als ein untypischer Vertreter der »inneren Emigration« – sein Werdegang nach 1945 55

GRENZGÄNGER UND RAUMVERMESSER. HACKS – MÜLLER – SCHLEEF BERNADETTE GRUBNER »Kunst ist vorgestellte Praxis«. Peter Hacks’ Pandora vor dem Hintergrund des ›Traditionsdisputs‹ der 1970er Jahre in der DDR 71

JEAN JOURDHEUIL Heiner Müller: Die amerikanische Heterotopie 89

EMMANUEL BÉHAGUE »Nazi-Theater«? Einar Schleefs Relektüre des Urgötz im geschichtspolitischen Kontext der 1980er Jahre 99

1989 UND DIE FOLGEN: GESCHICHTE (AUF-)SCHREIBEN JUTTA WOLFERT Zwischen Medien und Revolution. Ein Streifzug durch die Theatertexte der Wende 117

BERND STEGEMANN Botho Strauss’ Schlusschor. Ein Drama der verpassten Vereinigungen 127

ARTUR PEŁKA Wendetheater – ›Hinwendungsdramatik‹. Zu Dirk Lauckes Für alle reicht es nicht 143

THEATER UND MYTHOS/ERZÄHLTHEATER HANS-PETER BAYERDÖRFER Zurück zu »großen Texten«? Dramaturgie im heutigen Erzähltheater 159

GUIDO HISS Mythos Klassiker oder die Dramaturgie des Ursprünglichen 183

GRAŻYNA KWIECIŃSKA Alte Stoffe in neuer Bearbeitung: Zu Tankred Dorsts und Ursula Ehlers Die Legende vom armen Heinrich 193

TORSTEN ERDBRÜGGER Schwierige Kommunikation: Moritz Rinkes Mythen/De/Konstruktion 203

DAS DRAMA NACH DEM DRAMA II: AKTUELLE SCHREIPOSITIONEN STEFAN TIGGES »Der Sprung in der Scheibe, mit dem alles begann.« Wort-Regie-Theater. Roland Schimmelpfennigs Hier und Jetzt als polyphone Zeit-Raum-Variation 221

GABRIELE FEULNER »Große Ideen«. Utopie und Kritik in Moritz Rinkes sozialen Dramen Republik Vineta und Café Umberto 245

BEATA DRYGAŁA Geschichte Deutschlands im Vexierspiegel – John von Düffels Rinderwahnsinn als bösartige Farce über Deutschland und die Deutschen 265

KALINA KUPCZYŃSKA Fantasma von René Pollesch – Theater ohne Plot? Theater mit These! 275

JOHANN REISSER Archäologische Schnitte, kollidierende Wucherungen: Das post-bürgerliche Schauspiel des Selbst in René Polleschs Theater des Sagbaren 287

IZABELA DZIAŁAK Das intertextuelle Spiel im postdramatischen Theater. Tim Staffels Werther in New York 303

ANDREAS ENGLHART Junge Stücke am Ende der Geschichte? Die Dramatik junger AutorInnen und der Verlust der Utopie 311

ANKE ROEDER Sterne und andere S-Klassen. Beobachtungen zu einzelnen Stücken und Autoren des Studiengangs Szenisches Schreiben an der UDK Berlin 327

DRAMATISCHE »ZERREISSPROBEN«: THEATER – AKTIONISMUS – AUTHENTIZITÄT BRIGITTE MARSCHALL Als das Theater die Theater verließ: Aktionistische Praxen in den 1960er Jahren 345

NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL Wie denkt Theater? Zur Politik der Darstellung nach dem Fall 357

FRANK RADDATZ Die Vertreibung der Dichtung durch das Authentische 373

MARITA TATARI Das Drama wieder. Eine begriffliche Untersuchung 385

DIALOGE Dialoge I: Migration dichten und deuten. Ein Gespräch zwischen Shermin Langhoff, Tunçay Kulaoğlu und Barbara Kastner 399

Dialoge II: Glücklich ist, wer vergisst? Eine E-Mail-Korrespondenz zwischen Elfriede Jelinek und Rita Thiele 409

KÜNSTLERISCHE POSITIONEN FALK RICHTER The Richter Nordey Project Avignon 2010 419

OLIVER KLUCK Über die Verwendungsmöglichkeiten der Effizienzsteigerung des Volkswagenkonzerns in den letzten zwanzig Jahren als Vorbild für die Inszenierungspraxis am Repertoiretheater. Eine Skizze, ein Versuch 445

MARIUS VON MAYENBURG Der Stein (Auszug) 453

DIRK LAUCKE Bakunin auf dem Rücksitz (Auszug) 463

Autorinnen und Autoren 485

VORWORT »Was ist angesichts des Wirklichen, die Vermittlerrolle der Phantasie?« fragt sich der Filmemacher Robert Bresson 1975 in seinen Notizen zum Kinematographen.1 Diese schlichte Frage scheint heute durch die komplexen und zumeist multimedial gesteuerten Einbrüche der Realität(en) in unsere Lebens- und Kunstpraxis ästhetisch in den Hintergrund gedrängt worden zu sein. Folgt man der kritischen Position von Frank Raddatz, der für das (postdramatische) »Theater der Informationsgesellschaft« einen folgenschweren »Hype des Authentischen« diagnostiziert, können die gegenwärtig z.T. schon erstarrenden »Gesten des Authentischen« (Hans-Thies Lehmann) sowohl zu einer »Liquidation des Autors« führen als auch dazu beitragen, dass dem Theater »der Wille zur Gestaltung von Zukunft« abhanden kommt.2

1 2

Vgl. Bresson, Robert: Notizen zum Kinematographen, Berlin: Alexander Verlag, 2007, S. 111. Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten: Sophokles, Shakespeare, Kleist, Büchner, Brecht, Müller, Schleef, in: Berlin: Theater der Zeit 2002 (= Recherchen 12), S. 18. Zum postdramatischen Diskurs vgl. auch die weiteren Positionen von Ders.: »Ein Schritt fort von der Kunst (des Theaters). Überlegungen zum postdramatischen Theater« sowie von Menke, Christoph: »Doppelter Fortschritt: postdramatisch – postavantgardistisch«, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch (Hg.), Kust – Fortschritt – Geschichte, Berlin: Kadmos 2006, S. 169177 u. 177-190. Die von Raddatz vorgetragene Kritik am postdramatischen Theater erscheint jedoch hier differenzierter als z.B. die eindimensionalen Frontalangriffe von Birgit Haas, die das postdramatische Theater mit seinen »selbstreflexiven Nullschleifen« als ein »Theater ohne Theater« bezeichnete, dessen Ästhetik der Dekonstruktion attackierte, diesem eine a-politische Haltung sowie eine sprachliche Zerrüttung vorwarf und übereilig forderte »Theater und Performanz scharf voneinander abzugrenzen, um somit ein text- und menschengebundenes Drama zu rekonstruieren«. Vgl. Haas, Birgit: Plädoyer für ein politisches Drama, Wien: Passagen Verlag 2007, S. 13 u. 59.

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STEFAN TIGGES

Funktion und Spielraum der Phantasie, Roland Schimmelpfennig spricht von einem »Theater der Vorstellungskraft«3, ließen sich ebenso mit Heiner Müller (neu) befragen und wieder reflexiv bewegen, der die Aufgabe der Kunst darin begreift, »die Wirklichkeit unmöglich zu machen«4 und damit ein utopisches Moment anklingen lässt, obwohl die (postmoderne) Geschichte gerade politisch, ökonomisch sowie ästhetisch an ihrem Endpunkt angekommen war. Wie auch die ästhetischen Maßverhältnisse von Wirklichkeit/Authentizität und Fiktion sowie der Raum unserer vor-gestellten bzw. erinnerten Gegenwart und (jüngeren) Vergangenheit im Einzelnen bestimmt sind – bilanziert Elfriede Jelinek in einer E-Mail-Korrespondenz mit Rita Thiele im Sinne der auch ›archäologisch‹ ausgerichteten Ästhetik dieses Bandes: »Die Geschichte stirbt nicht. Sie kommt immer wieder zurück ob wir wollen oder nicht.« Dass die Auseinandersetzung mit und die Arbeit an der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach wie vor eine zentrale Bedeutung hat bzw. das künstlerisch be- und verarbeitete Erinnerte, d.h. das Gedächtnis zugleich auch als »produktive Einbildungskraft« und als »ästhetische Kategorie«5 zu verstehen ist, zeigen viele der hier versammelten Beiträge auf unterschiedliche Art und Weise. 3

4 5

Vgl. Laudatio von Roland Schimmelpfennig anlässlich der Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung an Jürgen Gosch und Johannes Schütz, abgedruckt in: Theater heute 6 (2009), S. 3639. Zit. nach Lehmann, Das politische Schreiben, S. 19. Vgl. Sigmund, Gerald: Theater als Gedächtnis. Semiotische und psychoanalytische Untersuchungen zur Funktion des Dramas, Tübingen: Gunter Narr 1996, S. 14 u. 59. Sigmund präzisiert: »Das Gedächtnis als ästhetische Kategorie beschreibt eine Krise der Darstellung, indem es die Repräsentation an ihre Grenze führt, dorthin, wo sich das Undarstellbare am Menschen und das Unaussprechliche in der Interaktion zu artikulieren beginnen. Als ästhetisches ›Mehr‹ der Fiktion kann das Gedächtnis dann aber nur erscheinen, wenn es anders verstanden wird als es umgangssprachlich verstanden wird. Dort dient es als Garant für die Kontinuität gesellschaftlicher Prozesse und für die Identität individueller Lebensentwürfe und bürgerlicher Subjektivität. Wird das Gedächtnis dagegen zum ästhetischen Prinzip unterbricht es […] die einfache Gleichung von Gedächtnis und Identität. Weit davon entfernt, bereits Bekanntes durch die Erinnerung für die Gegenwart wieder präsent und damit wieder relevant zu machen, ist ihm darum zu tun, das Erinnerte aus Spuren des Alten völlig neu zu erzeugen«, womit das Gedächtnis als ein »dynamischer Transformations- und Produktionsmechanismus« zu verstehen ist (ebd. S. 59f. u. S. 76).

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VORWORT

Das Drama nach dem Drama beinhaltet eine entsprechend programmatisch doppelte Denkbewegung, indem die wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträge einerseits historische Zäsuren, Brüche, Kontinuitäten sowie Erneuerungen im geteilten sowie wiedervereinigten Deutschland mitverhandeln und dazu beitragen, an der (deutsch-)deutschen politischen Kultur- bzw. Mentalitätsgeschichte mitzuschreiben, womit zentrale Resonanzräume der jüngeren Vergangenheit neu geöffnet, verdichtet und in der Gegenwart gespiegelt werden. Andererseits schwingt hier eine ästhetikgeschichtliche Dimension mit, um formale und inhaltliche Entwicklungsschübe der Schreib- und Spielpraxis zwischen 1945 und 2011 genauer zu bestimmen und damit sowohl einen Beitrag zur theatergeschichtlichen Verortung zu leisten als auch in die Zukunft weisende theatertheoretische Diskurse zu motivieren. Plädierte der Historiker Martin Brozat im Rahmen des in den 80er Jahren besonders polarisierenden und aufgrund der (neuen) Geschichtsschreibung in den 90er Jahren wieder aufgeflammten Historikerstreikes für eine »Historisierung des Nationalsozialismus« und fragte sich »wie historisch der Nationalsozialismus vierzig Jahre nach Ende des Dritten Reiches« sei6, so erscheint im Deutschland der 50er Jahre die Frage des 6

Vgl. Brozat, Martin: »Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus«, in: Karl Heinz Bohrer/Kurt Scheel (Hg.), Die Botschaft des »Merkur«. Eine Anthologie aus fünfzig Jahren der Zeitschrift, Stuttgart: KlettCotta Verlag 1997, S. 351-362; (EA Merkur, 1985). Brozat, dessen Position hier stellvertretend skizziert werden soll, präzisiert: »Wie historisch ist der Nationalsozialismus vierzig Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches; blockiert Hitler noch immer den Zugang zur deutschen Geschichte; was heißt das: vergangene Geschichte? Solche Fragen leicht zu vermehren, richten sich nicht nur an Historiker. Sie berühren individuelle und kollektive Geschichtsschreibung, rechtliche Festschreibung der Vergangenheitsbewertung, politische Pädagogik, zeitgeschichtliche Medien-Publizistik mit allen ihren Eigengesetzlichkeiten. Und diese Fragen zu stellen, hat fast etwas politisch Verdächtiges, denn der Nationalsozialismus als Negativ-Maßstab der politischen Erziehung, als Gegenmodell von Recht, Freiheit und Friedensordnung, scheint unverzichtbar für die Orientierung und Begriffswelt der Gegenwart. Dem steht gegenüber, dass die Moralität der Betroffenheit von der NS-Vergangenheit sich mittlerweile stark erschöpft hat. Sie hat durch neue weltgeschichtliche Gewalt- und Katastrophenerfahrungen an Singularität eingebüßt und ist inzwischen vielfach zu einem etablierten Set ebenso risikoloser wie vager Gesinnungsbekenntnisse ohne moralische Kraft geworden. Das zum Stereotyp verflachte Diktum der ›nationalsozialistischen Gewaltherrschaft‹ kann wohl nur durch stärker differenzierende historische Einsicht auch moralisch neu erschlossen wer-

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STEFAN TIGGES

kollektiven Erinnerns und der Vergangenheitsbewältigung durch das anhaltende Schockerlebnis und die noch offen liegenden Wunden zwangsläufig in einem völlig anderen Licht. Am Beispiel von drei AutorenInnen, deren Gemeinsamkeit allein darin besteht, dass deren dramatisches Werk in der gegenwärtigen Theaterpraxis so gut wie keine Rolle spielt, wird danach gefragt, wie diese sich jeweils ins Verhältnis zu ihrer/der Geschichte setzen und ästhetisch in der Nachkriegsgeschichte positionieren. Steht bei Nelly Sachs der Versuch im Vordergrund, eine »künstlerische Autonomie über die eigene schicksalhafte Geschichte zu erlangen«, eine Identität in der »Erinnerungsgemeinschaft der Verfolgten« zu entwickeln und auf formaler Ebene eine gattungsübergreifende »Dramenkonzeption im Geiste des Totaltheaters« zu entwerfen (Sommerer), blendet Rolf Bongs als »untypischer Vertreter der inneren Imigration« zunächst die Vorgeschichte aus, um sich in ein düsteres Werk voller Zerstörungsmomente zu flüchten, wobei sich die Frage stellt, inwiefern der Autor sich nicht doch auf eine verschlüsselte Art und Weise mit der eigenen »schuldhaften Verstrickung im Nationalsozialismus« auseinandersetzt und sich so in die (Text-) Lücken einschreibt (Perzyńska). Christoph Pflaumenbaum durchleuchtet in bereits das absurde Theater streifenden Stücken Wolfgang Hildesheimers »dramatische Verdunklungsstrategien« und diagnostiziert eine »Verfallsästhetik«, in der eine fundamentale Sprachkapitulation zum Ausdruck kommt. Auch wenn heute einige der hier wieder gelesenen (Zeit-)Stücke aus unterschiedlichen Gründen zu Recht keinen Platz mehr in den Spielplänen der Theater finden, stimmt speziell das Beispiel Nelly Sachs – ähnlich sieht es bei Gertrud Kolmar und Else Lasker-Schüler aus7 – nachdenklich. Anders stellt sich die Situation von Peter Hacks, Heiner Müller und Einar Schleef dar, deren Werk im folgenden Kapitel aus verschiedenen Perspektiven, die ebenso auf unterschiedliche Zeit-Räume zielen, reflektiert werden. Gerade hier zeigt sich, wie spannend und aufschlussreich sich eine politisch stark bestimmte Ästhetikgeschichte im Rückblick dar-

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den. Deshalb erscheint das schon gewandelte und sich wahrscheinlich weiter verändernde Verhältnis von Moralität und historischem Verstehen auch als der eigentliche Sinn und Angelpunkt der Frage, wie vergangen, wie geschichtlich der Nationalsozialismus inzwischen geworden ist« (ebd., S. 351). Eine der wenigen Ausnahmen bildet Frank Patrick Steckel, der LaskerSchülers Die Wupper 1992 am Bochumer Schauspielhaus inszenierte und Nacht von Gertrud Kolmar am 27.02.2000 am Schauspielhaus Düsseldorf uraufführte.

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VORWORT

stellt. Während Bernadette Grubner den poltisch-ästhetischen »Traditionsdisput« der 70er Jahre in der DDR fokussiert, danach fragt mit welchen Strategien Hacks in Pandora den »utopischen Impetus der deutschen Klassik aktualisiert« und aus dem Stück eine »hochverdichtete Kulturgeschichte aus dem Blickwinkel der DDR« herausliest, reist Jean Jourdheuil gedanklich mit Heiner Müller nach Amerika, der dort während zweier Aufenthalte in einem produktiven Abstand zur (künstlerisch) stagnierenden DDR der 70er Jahre ein völlig neues, postmodern geprägtes künstlerisches Raumverständnis für sich entdeckte, das sein folgendes Werk nachhaltig beeinflusste. Emmanuel Béhague vermisst dagegen Einar Schleefs Frankfurter Zeit von 1980-1985 am Beispiel von dessen fulminanter Relektüre des Urgötz, wobei sowohl aufführungsästhetische Gesichtspunkte als auch das gesellschaftliche Klima der Zeit speziell in der Frage der nationalen Identität berücksichtigt werden, das, so eine der Thesen, von Schleef maßgeblich mitreflektiert bzw. implizit kritisiert wird. Eine im Rahmen des sich immer signifikanter ausdifferenzierenden Genres des Autofiktionstextes ästhetisch avancierte Position nimmt u.a. Falk Richter ein, der seine persönlichen Schreibbewegungen transparent reflektiert und sich fragt, wie er sein (imaginiertes) Tagebuch im Hier und Jetzt szenisch verwirklichen kann. In seinen in Deutschland erstmals veröffentlichen Notizen zu seinem Projekt My secret garden, das er 2010 mit Stanislas Nordey für das Festival in Avignon realisierte, heißt es: »Erinnerung und Biographie müssen erkämpft werden und werden performativ hergestellt. Wer bin ich? Was erinnere ich? Wie erinnere ich es?« Eine andere Art des Inszenierens von Bühnentexten im System des deutschen Repertoiretheaters, die eine neue Form der Dramaturgie bzw. der Diskursarbeit voraussetzt, ein anderes Figuren- bzw. Rollenverständnis und damit auch neue Erzählmuster einfordert, indem die Schauspieler durch »frei assoziierbare Sprechräume« bewegt und dabei bewusst produktive Widersprüche in Kauf genommen werden, schwebt auch Oliver Kluck in seinem hier erstmalig abgedruckten »Selbstversuch« vor. Ähnlich wie bei René Pollesch, dessen Arbeit in zwei Beiträgen reflektiert wird, springt auch hier das diskursive selbstreferentielle, subjektivitätsund theaterpolitische Moment in die Augen, womit die »Wundstellen der Realität« (Kupczyńska) offengelegt werden und die implantierten »Theorien eine Art Klettergerüst für die Wucherungen der Materialien« (Reißer) konstituieren. Lässt sich bei diesen Texten überhaupt noch von (druckbaren) »Lesedramen« sprechen oder sind diese vielmehr als »The-

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STEFAN TIGGES

atertexte«8 oder Bühnen- bzw. Spieltexte zu bezeichnen? Begründen die innovativen künstlerischen Formate bereits einen Raum jenseits des postdramatisch-performativen Theaters? Werden aktuelle post-epische Formen des Theaters möglicherweise bald verstärkt von neo-dramatischen Formen abgelöst oder wird das dramatische Transformations- und Innovationspotential, das gleichermaßen von Texten als auch von Spielästhetiken ausgehen kann, so Marita Tatari, künstlerisch unterschätzt sowie theoretisch unterdrückt?9 Hans-Peter Bayerdörfer fragt sich in seinen vielschichtigen Überlegungen zu Dramaturgien im heutigen Erzähltheater, in denen er am Beispiel von Romanadaptionen weniger Dramatisierungs- als Theatralisierungsstrategien in den Mittelpunkt stellt und das Erzähltheater bewusst nicht in binärer Opposition zum dramatischen Theater begreift, »ob die Zukunft von Bühnenkunst immer ausschließlicher durch mediale Verfahren bestimmt sein wird, oder ob sich eine substanzielle Rückbesinnung an die sprachliche Vermittlung von Personalität, Ereignis, Wahrnehmung und Kommunikation erhält oder wieder herstellt« und leistet damit einen wegweisenden Beitrag zur wiedererstarkten bzw. neuen narratologischen Forschung. Geht also mit dem Siegeszug des (post-)epischen Theaters eine »Reliterarisierung des Theaters« einher, wie Bayerdörfer es als These in den Raum stellt? Daran knüpft – wenn auch aus einem (terminologisch) anderen Blickwinkel – Anke Roeder an, die prognostiziert: »Aber es scheint sich in der Postdramatik wieder eine Hinwendung zur erzählten Geschichte abzuzeichnen.« Guido Hiss blickt dagegen am Beispiel des Klassikertheaters auf Dramaturgien des Ursprünglichen, indem er Mythen als Medien liest, die Beziehung von Theater und Mythos auf der »Grundlage eines medienwissenschaftlich überarbeiteten Mythos-Begriffes neu durchdenkt«, das »Theater als Instrument einer Archäologie sozialer Muster« versteht und damit einen fruchtbaren Diskurs anstößt, in dessen Spiegelungs- und 8

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Vgl. Bayerdörfer, Hans Peter (Hg.): Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas, Tübingen: Max Niemeyer 2007. Vgl. darin speziell die Beiträge von ders.: »Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung« sowie von Birkenhauer, Theresia »Zwischen Rede und Sprache, Drama und Text: Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion« (S. 1-14 bzw. S. 15-23). Vgl. hierzu auch Tigges, Stefan (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater sowie Tigges, Stefan/Pewny, Katharina/Deutsch-Schreiner, Evelyn (Hg.): Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance, Bielefeld: transcript 2008 u. 2010.

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VORWORT

Reibungsraum durchaus auch aktuelle Schreib- und Spielpositionen mitreflektiert werden können. Warum bedarf es heute (wieder) mythischer Erzählungen fragt sich Torsten Erdbrügger, der die Mythen/De/Konstruktion bei Moritz Rinke erkundet, wohingegen Grażyna Kwiecińska Tankred Dorsts und Ursula Ehlers Mythenüberschreibung der Legende vom armen Heinrich befragt, sich dabei auf die Metapher des Schauens konzentriert, womit, so die These, die Rolle der sehenden Zuschauer aufgewertet und das Theater von dem Autorenpaar wieder ästhetisch Richtung Schaubühne bewegt wird. Dass die Medien in der (Nach-)Wendezeit in beiden Teilen Deutschlands bei der Geschichtsaufbereitung eine prägende (auf- sowie verklärende) Rolle einnahmen, mediale, z.T. mythisch aufgeladene Parallelwelten entstanden und die zahlreichen »neuen intermedialen Zeitstücke« erheblich ästhetisch beeinflussten, indem »die Figuren weniger im Dialog untereinander als in den Dialog mit dem medialen Diskurs traten«, zeigt Jutta Wolfert in ihrem Streifzug durch die Theatertexte der Wende. Es stellt sich jedoch die Frage, ob von den »hybriden Bühnentexten« eine so radikale »Entliterarisierung« ausgeht, wie Wolfert diagnostiziert. Dass sich am Beispiel eines Wohnhauses in Dresden und dessen wechselnden Bewohnern (dunkle) Räume der deutschen Geschichte beleuchten lassen und dass der Mauerfall eine komplexe dramatische Vor- und Nachgeschichte hat, zeigt Marius von Mayenburg in seinem Stück Der Stein (2008), aus dem wir einige Passagen nachdrucken. Bernd Stegemann ruft dagegen das wohl bedeutendste westdeutsche »Drama der verpassten Vereinigungen« auf und untersucht wie die »Gedächtnisbildung und Mnemotechniken in Botho Strauss Schlusschor selbst zur Handlung werden« und die »Versuche, doch noch eine gemeinsame Geschichte herstellen zu können«, scheitern. Ein ähnlich pessimistischer Grundton findet sich auch in Dirk Lauckes Stück Für alle reicht es nicht, in dem Post-Wende-Phänomene als auch Globalisierungsfolgen verhandelt werden und, so Artur Pełka, Spuren zu finden sind, die auf den Einfluss Heiner Müllers hinweisen. Die von Pełka aufgeworfene Frage, ob sich Lauckes Theatertexte ästhetisch in der Tradition des Volksstücks als soziale Dramen einstufen lassen, kann auch an Lauckes zuletzt am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführten Stück Bakunin auf dem Rücksitz überprüft werden, das in Form eines längeren Auszugs in diesen Band aufgenommen wurde. Andreas Engelhart untersucht gleich mehrere zeitgenössische Stücke, wobei sein Interesse darauf hin zielt, wie sich die jungen AutorenInnen ästhetisch zwischen Tradition und Postmoderne/Postdramatik positionieren und inwiefern in den Stücken noch Raum für Entwürfe von gesellschaftlichen Phantasien oder gar Utopien ist, wie es z.B. in den Texten

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STEFAN TIGGES

des eine Generation älteren Moritz Rinke der Fall ist, worauf Gabriele Feulner hinweist. Bestätigt sich hier und in den folgenden Einzelanalysen weiterer Theatertexte von Roland Schimmelpfennig, John von Düffel und Tim Staffel u.a. die Diagnose von Anke Roeder, dass speziell junge AutorenInnen zunehmend weniger über politische Themen schreiben, da »das Politische als persönliches Erlebnis« gestaltet bzw. »das Persönliche das Politische« ist? Konstatierte Hans-Thies Lehmann für die Frage wie politisch postdramatisches Theater sei, dass eine Beschreibung seiner Ästhetik wie seiner Politik sich keinesfalls darauf beschränken könne, »das theatral Dargestellte zu untersuchen, sondern das Theater als Verhalten und als Situation auf das Dargestellte bezogen werden müsse«10, fragt Nikolaus Müller-Schöll entsprechend danach, wie Theater heute (politisch) denkt und entwickelt unter Einbeziehung von Christoph Schlingensiefs Via Intolleranza II eine u.a. an Walter Benjamins philosophischem Geschichtsbegriff angelehnte »Politik der Darstellung nach dem Fall«, die insbesondere den Begriff der »Erfahrungsarmut« neu verhandelt und mit dem jüdisch-christlichen Ursprungsmythos (Paradies, Sündenfall, Vertreibung) und dem Fall der Mauer zwei zentrale Zäsuren aufruft. Die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben und die Suche nach Realerfahrungen thematisiert auch Brigitte Marschall, die mit Wolf Vostell, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Günter Bruns, Richard Schwarzkogler oder Valie Export zentrale ästhetische Wegbereiter der heutigen Performancepraxis und Aktionskunst aufruft, auf die sich auch Christoph Schlingensief mit seiner kunstformenüberschreitenden Décollage-Ästhetik in verschiedenen Arbeiten berief und dabei sowohl die Wirklichkeit in den Bühnenraum einbrechen als auch die Theatralität in den öffentlichen Raum ausbrechen ließ. Um ästhetische Interventionen bzw. Strategien »das Theatrale in der Peripherie des Theaterraums zu suchen« geht es u.a. auch in dem Ge10 Vgl. H.-T. Lehmann, Das politische Schreiben, S. 11. Lehmann, der wie Müller-Schöll mit dem Begriff der »Unterbrechung« operiert, nennt hier drei zentrale Denkrichtungen: »Erstens: Das Politische kann im Theater nur indirekt erscheinen, in einem schrägen Winkel, modo obliquo. Und zweitens: Das Politische kommt im Theater zum Tragen, wenn und nur wenn es gerade auf keine Weise übersetzbar oder rückübersetzbar ist in die Logik, Syntax und Begrifflichkeit des politischen Diskurses in der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Woraus drittens die nur scheinbar paradoxe Formel folgt, dass das Politische des Theaters gerade nicht als Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen zu denken sein muss« (ebd. S. 16 u. 17).

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VORWORT

spräch zwischen Shermin Langhoff, Tuncay Kulaoglu und Barbara Kastner, die gemeinsam neue Kunst- und Denkräume erschließen und sich fragen, warum die postmigrantische Realität noch immer nicht im Theater angekommen ist, wie es z.B. im Film längst der Fall ist. Politisch als auch ästhetisch brisant erscheint auch die Frage, wie eine postmigrantisch geprägte Kunstpraxis der Gefahr begegnet, von Integrationsdebatten funktionalisiert zu werden und mit welchen ästhetischen Strategien sich möglichst weitere autonome Freiräume erkämpfen lassen, die in naher Zukunft zweifellos auch von Stadttheatern sowie anderen Kunstinstitutionen in einem noch größeren Maßstab angestrebt werden.11

Stefan Tigges, Berlin im Juli 2011

Der vorliegende Band beinhaltet teils ausgewählte Beiträge zur im Oktober 2009 in Łódź stattgefundenen Tagung »Bühne frei! Verwandlungen dramatischer Formen in Deutschland nach 1945«. Die Tagung organisierte der Lehrstuhl für Drama und Theater (Prof. Małgorzata Leyko) sowie der Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz (Prof. Joanna Jabłkowska) an der Universität Łódź in Kooperation mit der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit. Die Herausgabe des Bandes wurde im Rahmen des Projekts »BÜHNE als BRÜCKE. Theater und Drama als Faktoren des deutsch-polnischen Kulturtransfers nach 1989« vorbereitet und aus Mitteln der DeutschPolnischen Wissenschaftsstiftung finanziert.

11 Vgl. dazu auch: Thiele, Rita: »Schauspiel Köln: Theater für eine multikulturelle Stadt«, in: S. Tigges/K. Pewny/E. Deutsch-Schreiner (Hg.), Zwischenspiele, S. 185-190. Thiele skizziert hier das von ihr und Karin Beier begründete Kölner Modell, in dem ähnliche Überlegungen eine Rolle spiel(t)en wenngleich es sich hier um einen wesentlich diffiziler zu steuernden Stadttheater-Apparat handelt.

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D AS D RAMA NACH DEM D RAMA I: P OSITIONEN NACH 1945

ZUM

SCHICKSAL IM DEUTSCHSPRACHIGEN NACHKRIEGSDRAMA. DAS BEISPIEL NELLY SACHS JÜDISCHEN

GERALD SOMMERER

»Irgendwann wird es Zeit, still am Weiser zu stehen, Schmalen Vorrat zu sichten, zögernd heimzugehen, Nichts als Sand in den Schuhen Kommender zu sein.«1 Für Anna Ploemacher-Bock (1959-2010)

Die literaturwissenschaftliche Debatte über das szenische Werk von Nelly Sachs steht bislang noch aus. In den überschaubaren Beiträgen, die ihre Arbeiten für das Theater zur Kenntnis nehmen, geschieht dies zumeist marginal und ohne weitergehende Fragestellungen. Punktuelle Untersuchungen zu einzelnen szenischen Werken wurden in den vergangenen Jahren publiziert, jedoch blieb ihnen die wünschenswerte Initiierung einer kritisch-philologischen Diskussion versagt. Ebenso wenig finden jene vereinzelten Monographien diskursiven Nachhall, welche das Forschungsdesiderat erkennen und aufgreifen.2 Somit stellt sich die nahe liegende Frage, warum die szenischen Angebote der Nelly Sachs so gut wie keine Rezeption bei Publikum, Literaturwissenschaft und/oder Theaterschaffenden gefunden haben, zumal mit der Veröffentlichung der dramatischen Texte 1962 die Rezeptionsvoraussetzungen gegeben sind.3 Mit dieser Feststellung kontrastiert auch die Tatsache, dass selbst in der No-

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Kolmar, Gertrud: »Die Fahrende«, in: Dies.: Weibliches Bildnis. Gedichte, München: dtv 1987, S. 9. Vgl. hierzu: Sommerer, Gerald: »Aber dies ist nichts für Deutschland, das weiß und fühle ich.« Nelly Sachs – Untersuchungen zu ihrem szenischen Werk, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 9-12. Sachs, Nelly: Zeichen im Sand. Die szenischen Dichtungen der Nelly Sachs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962.

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belpreisurkunde von 1966 ausdrücklich das (frühe) dramatische Schaffen neben ihrer Lyrik als gleichberechtigt preiswürdig erwähnt wird. Nelly Sachs hat sich selten und spärlich dichtungstheoretisch geäußert. Die wenigen diesbezüglichen Erkenntnisse ihrer Reflexionen können daher nur aus den Briefen oder aus den beigefügten Anmerkungen zu den Dramen gezogen werden: »Wir nach dem Martyrium unseres Volkes sind geschieden von allen früheren Aussagen durch eine tiefe Schlucht, nichts reicht mehr zu, kein Wort, kein Stab, kein Ton – (schon darum sind alle Vergleiche überholt) was tun, schrecklich arm wie wir sind, wir müssen es herausbringen, wir fahren zuweilen über die Grenzen, verunglücken, aber wir wollen ja dienen an Israel, wir wollen doch keine schönen Gedichte nur machen, wir wollen doch an unseren kleinen elenden Namen, der untergehen kann, nicht das Unsägliche, das Namenlose heften, wenn wir ihm nicht dienen können. Nur darum geht es, denke ich, nur darum, und deswegen unterscheiden wir uns von den früheren, denn der Äon der Schmerzen darf nicht mehr gesagt, gedacht, er muß durchlitten werden.«4

Was kollektiv erinnert werden soll, erfordert einen konsensfähigen Ausdruck. Zweifellos bleibt dabei die Tatsache bestehen, dass die Erfahrung namenlosen Leidens und sinnloser Grausamkeit unhintergehbar bleibt. Sie ist durch keine Form der (ästhetischen) Repräsentation adäquatauthentisch darstellbar. In nuce gibt dieses Briefzitat von 1947 Auskunft über die poetologischen Erfordernisse an den neu zu begründenden künstlerischen Gestaltungsprozess. Drei basale Anforderungen werden in diesem Zitat besonders betont: Die Umwertung dichterischer Formensprache, ein spezifisches Verhältnis zu Israel sowie die Selbstaneignung eines Dichterbildes aus dem Geist des Chassidismus. Israel dienen, diese Wendung benennt exakt die schriftstellerische Motivation von Sachs, meint in dieser frühesten Phase ihres neuen Schreibverfahrens hauptsächlich, dass durch Erinnerung an die Vergangenheit die Unterschiede zwischen Gestern und Heute erfahrbar werden. Im Werk von Nelly Sachs wird dieser Unterschied durch die Erfahrung des Todes ins Bewusstsein gebracht, die, laut Assmann, die »an den Toten sich knüpfende Erinnerung die Urform kultureller Erinnerung« darstellt. Im Rekurs auf die Bibel als einen literarischen Urtext werden in den neu geschriebenen Texten der Gegenwart die Toten vergegenwärtigt und mitgedacht. Auf diese Weise erhalten sie konstitutive Funktion bei

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Dinesen, Ruth/Müssener, Helmut (Hg.): Briefe der Nelly Sachs, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 83f.

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der Wiedererrichtung und Reetablierung jüdischer Gemeinschaft nach dem Holocaust: »Totengedenken ist in paradigmatischer Weise ein Gedächtnis, ›das Gemeinschaft stiftet‹ […]. In der erinnernden Rückbindung an die Toten vergewissert sich eine Gemeinschaft ihrer Identität. In der Verpflichtung auf bestimmte Namen steckt immer auch das Bekenntnis zu einer soziopolitischen Identität.«5

Jener vielen, die anonym hingemordet wurden, wird unter dem Namen Israel gedacht. Gleichzeitig soll durch Nelly Sachs’ Paradigma des literarischen Totengedenkens diesem Namen die soziopolitische Identität der Erinnerungsgemeinschaft der Verfolgten eingeschrieben werden. Die Konfrontation des Publikums mit der Schuldfrage wird in frühen Nachkriegsdramen nur im Ansatz gewagt.6 Daher erscheint es bloß konsequent, dass das Schicksal der ermordeten europäischen Juden gar nicht behandelt wird. Die somit gegebene Identifikationsmöglichkeit für die Rezipienten ist inhaltlich wie auch formal derart angelegt, dass sich trotz der singulären Verbrechen der jüngsten Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis der Deutschen eine unüberwindliche Mauer der Leugnung und Ablehnung ausbildet. Ergänzt wird diese Haltung durch eine Selbstwahrnehmung als Opfer, die ihre Argumente auch aus frühen Nachkriegsdramen ziehen kann, namentlich aus ihrem ausgeprägten Hang zu einer Ästhetik des nationalen Kataklysmus. Für Genton folgt daraus eine harsche Kritik an der dramatischen Kunst der Nachkriegszeit: »Wenn der ›Führer‹ kaum und die Vernichtung der Juden überhaupt nicht erwähnt werden, haben wir es dann nicht mit einem Beitrag der Kunst zur Schaffung eines Tabus zu tun, wird sie nicht selbst Ausdrucks dieses Tabus?«7

Es ist kein Tabu, dass in frühen Nachkriegsdramen etwas erschaffen wird, sondern sich Sublimeres ereignet. Die Splitter von Fakten, die als semantische Andeutungen an den Holocaust in ihnen durchaus vorkommen, werden zusammen mit den subjektiven Erfahrungen der Rezipienten als Opfer der Bombenangriffe und/oder der Vertreibung so in die eigene Erinnerung integriert, dass sie den konstituierenden Gründungsmy-

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Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München: C. H. Beck 1997, S. 63. Vgl. hierzu: G. Sommerer: Nelly Sachs, S. 19-37. Genton, Bernard: »Die Kultur des schlechten Gewissens. Drei Werke aus dem Berlin des Jahres 1946«, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, H. 3, Juni/Juli 1996, S. 31-43, hier S. 43.

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thos für den friktionslosen Neuanfang im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bilden: »Der Ermordung der Juden sollte ihre Tilgung aus dem Gedächtnis folgen. Die Tat blieb unvollendet. Proklamiert wurde sodann die Stunde Null.«8 Erinnerung an den Holocaust ist damit zur alleinigen Sache der Opfer geworden. Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels zeigt überlebende Juden aktiv beim Wiederaufbau ihrer zerstörten Häuser, es zeigt sie bei der Aneignung ihrer eigenen leidvollen Geschichte sowie bei dem Versuch der Reetablierung ihrer Traditionen in den rituellen Handlungen.9 Dies alles geschieht unter dem allgegenwärtigen Eindruck der drückenden Last der Vergangenheit. Der dramatische Text funktioniert als das Medium, in dem das kulturelle Gedächtnis der Menschen bewahrt und sogleich immer wieder fortgeschrieben werden muss. Darauf verweist er formal mit der bewussten Umdefinition einer aus der judenfeindlich-christlichen Tradition kommenden Gattungsform sowie durch sein offenes Ende, dass die Apotheose der Figur des Zaddik zeigt und damit die jüdische Dorfgemeinschaft von nun an ihrer eigenen selbstbewussten Verantwortung überlässt. Inhaltlich kommt dem künstlerischen Text diese Funktion durch die zitierende Verwendung kanonischer Ursprungstexte und Quellen jüdischer Mystik zu. Im erkannten Autoritätsverlust der heiligen Texte und im erinnernden Schreibverfahren des fiktionalen Stückes konstituiert sich der Versuch, jüdisches Denken und Leben nach dem Holocaust in deutscher Sprache überhaupt möglich zu erhalten. Das Eli-Stück zeugt deshalb nachdrücklich von einem ersten Versuch, künstlerische Autonomie über die eigene schicksalhafte Geschichte zu erlangen, mehr noch davon, jüdisches Denken und Leben nach dem Holocaust in deutscher Sprache sowie überhaupt denkbar zu halten.

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Darmstädter, Tim: »Die Verwandlung der Barbarei in Kultur. Zur Rekonstruktion der nationalsozialistischen Verbrechen im historischen Gedächtnis«, in: Michael Werz (Hg.), Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Frankfurt a.M.: Neue Kritik 1995, S. 115-140, hier S. 115f. N. Sachs: Zeichen im Sand, S. 5-91. Publiziert wird das Stück erst 1951, und zwar auf Initiative eines frühen Förderers und Freundes von Nelly Sachs, dem Exilforscher Walter A. Berendsohn. Er besorgt die Subskribenten für die auf 200 Exemplare begrenzte Auflage und verhilft Nelly Sachs so zur dritten Publikation eines ihrer Werke nach dem 1946 im Ostberliner Aufbau-Verlag erschienenen Gedichtband In den Wohnungen des Todes sowie dem 1949 im ebenso renommierten Amsterdamer Exil-Verlag Querido verlegten Gedichtband Sternverdunkelung.

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Bei Nelly Sachs’ Dramendebüt Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels handelt es sich um ein Werk, dessen Verbundenheit und Solidarität mit den jüdischen Opfern ihm bereits mit dem Titel eingeschrieben wurde. Die jüngste Vergangenheit, die im Entstehungszeitraum des Dramas noch Gegenwart ist, wird aus einer radikal anderen Sichtweise heraus auf ihr Fortwirken hin betrachtet. Aus der mittelalterlichen Gattung des Mysterienspiels, in der christliche Spielleute für ein christliches Publikum die Rollen derer annehmen, welche sie verachten, verfolgen und oft genug töten, wird nicht nur durch den Austausch der Kernfabel – was bereits am Titel des Dramas erkennbar wird – der Versuch unternommen, künstlerische Autonomie über die eigene schicksalhafte Geschichte zu erlangen. Somit durchbricht Sachs durch eine radikale Neubestimmung des bisherigen Gattungsbegriffs eine verhängnisvolle antisemitische (nicht bloß literaturgeschichtliche) Tradition. In einem Brief von 1948 begründet Nelly Sachs rückblickend jenen poetologischen Grundansatz von der Notwendigkeit einer allgemeinen künstlerischen Neuorientierung: »Unsere Zeit, so schlimm sie ist, muß doch wie alle Zeiten in der Vergangenheit in der Kunst ihren Ausdruck finden, es muß mit allen neuen Mitteln gewagt werden, denn die alten reichen nicht mehr aus.«10 Um die »apokalyptische Zeit zu fangen«, wie Sachs im selben Brief ihr Schreiben in ein biblisches Bild fasst, ist somit die konsequente Hinterfragung aller künstlerischen Überlieferung auf ihre Tauglichkeit der Katastrophe etwas künstlerisch Gültiges entgegenzusetzen erforderlich. Gleichzeitig ist es unverzichtbar, die historischen Fakten in die Konzeption miteinzubeziehen. Das Bemühen um die Festsetzung der geschichtsphilosophischen Relevanz dieses Dramentextes, seines singulären Standpunkts innerhalb jüdischer wie nichtjüdischer Diskurse um jüdisches Geschichtsverständnis und Erinnerung nach dem Holocaust steht bis heute noch aus. Es soll hier, zumindest ansatzweise, der Ort sein, den Text von Sachs in einen grundsätzlichen Bezug zu setzen zu Positionen, die in zwei kontroversen Monographien jüdischer Denker über verbliebene Möglichkeiten jüdischer Erinnerung und damit neuer jüdischer Identitätsfindung entwickelt wurden.11

10 R. Dinesen/H. Müssener (Hg.), Briefe, S. 98. 11 Vgl. hierzu: Münz, Christoph: Geschichtstheologie und jüdisches Gedächtnis nach Auschwitz. Über den Versuch, den Schrecken der Geschichte zu bannen, hg. v. Stadt Frankfurt a.M. – Arbeitsstelle Fritz Bauer Institut – Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust 1994 (= Materialien 11), S. 10-14.

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Richard Lowell Rubenstein und Emil Ludwig Fackenheim gehören mit ihren Mitte und Ende der 60er Jahre entstandenen Beiträgen zu den ersten Exponenten einer theologisch-philosophisch fundierten Diskussion über die Holocaust-Problematik, bei der es besonders um Stellungnahmen zu einer angemessenen Form der Erinnerung sowie um Fragen zur jüdischen Identität nach Auschwitz geht.12 In ihren besonders im angloamerikanischen Sprachraum rezipierten Schriften findet sich auf überraschende Art die bis heute andauernde innerjüdische geschichtstheologische Theodizee-Kontroverse wieder, die durch Nelly Sachs bereits Jahrzehnte vorher durch den eingeschriebenen Imperativ der Erinnerung in Eli in dramatischer Form einen ersten gültigen Ausdruck fand. Münz kondensiert Rubensteins Position zu drei Worten: Gott ist tot.13 Diese radikale Synthese erschließt sich für Rubenstein notwendig aus der Gegenüberstellung von traditionell-religiösem Judentum und historischem Faktum: »(1) Gott, […], kann es unmöglich erlaubt haben, daß der Holocaust geschehen ist, (2) der Holocaust ist aber geschehen. Deshalb (3) existiert Gott, so wie er in der jüdischen Tradition gedacht ist, nicht.«14 Damit aber suspendiert Rubenstein die Jahrtausende währende innige Verbundenheit der Juden mit Gott. Die Linearität der auf ein utopisches Ziel hin ausgerichteten Konzeption geschichtlichen Denkens kann danach nicht weiter gedacht werden. Daher steht für ihn auch die alle bisherige Geschichte des Judentums prägende Kategorie der kollektiven, in den kanonischen Texten aufgehobenen Erinnerung zur Disposition. Rubenstein entwickelt alternativ dazu eine Vorstellung vom Judentum, das sich »einem zyklischnaturorientierten, mythischen und zukunftsgerichteten Denken«15 hin öffnet. Die Radikalität des Geschehenen, dem jede Sinnzuschreibung zuzuordnen misslingt, provoziert zwingend eine ebensolche radikale Revision jüdischen Denkens.

12 Rubenstein, Richard Lowell: After Auschwitz. Radical Theology and Contemporary Judaism, New York: Macmillan 1966.; Fackenheim, Emil Ludwig: God’s Presence in History, New York: Harpercollins 1970. 13 Ch. Münz: Geschichtstheologie, S. 11. Vgl. hierzu auch Nietzsches Diktum: »Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!« Nietzsche, Friedrich: »Die fröhliche Wissenschaft. Zweites Buch«, in: Ders.: Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, Bd. II, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, Abschnitt 125, S. 127. 14 Katz, Steven T.: The Post-Holocaust Dialogues. Critical Studies in Modern Jewish Thought, New York: University Press 1983, S. 174. Die hier zitierte Übersetzung nach Ch. Münz: Geschichtstheologie, S. 11. 15 Ch. Münz: Geschichtstheologie, S. 11.

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Fackenheims Gegenposition versucht der Negation Gottes und der Abkehr von einer Religion der Geschichte hin zu einer religiösen Naturanschauung dadurch zu entgehen, indem er den Holocaust als ähnlich geschichtsmächtige Offenbarung Gottes wie den Auszug aus Ägypten oder die Sinai-Offenbarung betrachtet, die zu den basalen Grunderfahrungen jüdischer Identitätsstiftung (root experiences)16 gehören. Es ist für Fackenheim bedeutend, die unerklärbare Singularität des Holocaust zu betonen. Will jedoch religiöses wie auch säkulares Judentum fortexistieren, muss es sich der unabschließbaren Aufgabe stellen, eine Antwort auf Auschwitz zu geben. Diese Antwort kann aber nur so wie seit Jahrtausenden in der vergegenwärtigenden Arbeit des Erinnerns liegen. Gott selbst ist es als »gebietende Stimme von Auschwitz«, der Juden zu dieser Arbeit verpflichtet: »Es ist den Juden verboten, Hitler nachträglich siegen zu lassen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergehe. Es ist ihnen geboten, der Opfer von Auschwitz zu gedenken, damit das Andenken an sie nicht verlorengehe. Es ist ihnen verboten, am Menschen und seiner Welt zu verzweifeln und Zuflucht entweder im Zynismus oder der Jenseitigkeit zu suchen, damit sie nicht dazu beitragen, die Welt den Mächten von Auschwitz auszuliefern. Schließlich ist es ihnen verboten, am Gott Israels zu verzweifeln, damit das Judentum nicht untergehe. Ein säkularisierter Jude kann nicht durch einen bloßen Willensakt zum Gläubigen werden, noch kann dies von ihm gefordert werden. […] Und ein religiöser Jude, der seinem Gott treu geblieben ist, kann sich vielleicht zu einer neuen, möglicherweise revolutionären Haltung zu Ihm gezwungen sehen. Eine Möglichkeit jedoch ist gänzlich undenkbar. Ein Jude darf auf Hitlers Versuch, das Judentum zu vernichten, nicht antworten, indem er selbst an dessen Vernichtung mitarbeitet. In alten Zeiten war die undenkbare jüdische Sünde der Götzendienst. Heute ist es die, auf Hitler zu antworten, indem man sein Werk verrichtet.«17

Jüdische Religion und jüdisch-säkulares Leben, so der Appell Fackenheims, steht in der Pflicht, der »gebietenden Stimme von Auschwitz« Gehör zu schenken. Denn in ihr kommt zum Ausdruck, dass der Plan der Mörder, alles jüdische Leben und alle Erinnerung daran aus der Menschheitsgeschichte zu tilgen, zuletzt doch nicht gelang. Indem Juden dem Gebot der Stimme folgen und von den Verbrechen Zeugnis ablegen, be16 Ebd., S. 13. 17 Fackenheim, Emil L.: »Die gebietende Stimme von Auschwitz.«, in: Michael Brocke/Herbert Jochum (Hg.), Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust, Gütersloh: Chr. Kaiser 1993, S. 73-110, hier S. 95.

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harren sie auf ihrem unveräußerlichen Recht auf Leben. Damit negieren sie den Vernichtungsplan der Nazis und stehen, so Fackenheim weiter, »für die ganze Menschheit«.18 Nelly Sachs’ Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels kann als der szenische Text der deutsch-jüdischen Literaturgeschichte bezeichnet werden, der zum ersten Mal mit originär jüdischen Inhalten (historischen, religiösen, mystischen) explizit auf die Schrecken des Holocaust reagiert. Damit wird die Revision einer literaturgeschichtlichen These Feinbergs zum jüdischen Schicksal im deutschsprachigen Nachkriegsdrama eingeleitet: »Bis Mitte der 50er Jahre wurde kein Drama geschrieben oder aufgeführt, in dem das jüdische Schicksal im Dritten Reich im Brennpunkt stand. In den frühen Stücken, welche Vergangenheitsbewältigung zu leisten versuchten, ist die Judenverfolgung nur eine Nebenhandlung, gekennzeichnet durch den Auftritt eines jüdischen Opfers oder Überlebenden.«19

Als erstes Holocaust-Drama versucht es in der dargestellten Art eine Diskussion anzustoßen, die nur eine Voraussetzung hat: sich vor dem Hintergrund der Geschichte mit den angewandten ästhetischen Mitteln ernsthaft zu befassen. Die Gründe für die verfehlte Rezeption des Stückes sind nicht dem Stück anzulasten, sondern liegen einerseits im zähen Widerwillen des deutschsprachigen Publikums neben sich noch andere Opfer des Krieges zu akzeptieren, andererseits am fehlenden Engagement der Bühnen, Eli in die Repertoires aufzunehmen. Ein Drama, das nicht aufgeführt wird, ist dem Vergessen anheim gegeben. In der ihrem Dramenerstling Eli folgenden neu entwickelten intermedialen und triadischen Dramenkonzeption des Totaltheaters20 vollzieht Sachs’ Schreibverfahren auf der Folie von aktualisierten Urtexten und ihren darin enthaltenen prototypischen Konfliktkonstellationen eine Neuschreibung der Geschichte durch die kritische Befragung des gescheiterten Konzepts der Aufklärung. Die heiligen Texte werden in einer radikalen Transformation vor dem Hintergrund einer säkularen Realität befragt, um so den permanenten gewalttätigen Unterstrom aller bisherigen Geschichte als eigentlichen Motor seines Verlaufs festzustellen. Erstmals in ihrem szenischen Werk werden dafür in den Stücken Abram

18 Ebd., S. 96f. 19 Feinberg, Anat: Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama, Köln: Prometh 1988, S. 18. 20 Vgl. hierzu: G. Sommerer: Nelly Sachs, S. 83f.

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im Salz21, Nachtwache22 und Simson fällt durch Jahrtausende23 Wort, Mimus (Tanz) und Musik als sowohl gleichberechtigte als auch komplementäre Handlungsträger intendiert. Früheste kultische Texte der Menschheitsgeschichte werden zur klärenden Auskunft über den gegenwärtigen geschichtsphilosophischen Zustand herangezogen, um die Aufrechterhaltung einer utopischen, weil gewaltfreien, gerechten und erinnernden Zukunft als denkbare Möglichkeit zu retten. Für die These, wie permanent und intensiv Nelly Sachs ihr szenisches Schreiben sowohl formal als auch inhaltlich weiter zu entwickeln trachtet, stehen die Arbeiten an den so genannten mimischen Szenen, deren Publikationsgeschichte mit dem Jahr 1959 beginnt.24 Als erste szenische Arbeit nach den kultischen Stücken des Totaltheaters erscheint in diesem Jahr – die letzten Totaltheaterstücke Simson fällt durch Jahrtausende und Nachtwache werden ebenfalls fertig gestellt – in der Schweizer Literaturzeitschrift Hortulus das Stück Der magische Tänzer. Versuch eines Ausbruchs als Urdruck.25 Texte dieser neuen Art sind das Ergebnis des Bemühens, die dramaturgische Poetik des Totaltheaterkonzeptes durch eine bewusst offen fragmentarische Schreibweise zu transponieren und so parallel zu den bisherigen Stücken alternative relevante ästhetische Aussagemöglichkeiten zu finden. Die ersten frühen Versuche dieser avancierten Werkgruppe entstehen Mitte der 50er Jahre, also schon während der hohen Zeit ihrer Arbeiten an Nachtwache und Simson fällt durch Jahrtausende. In ihren stark konzentrierten hermetischen Körper-, Bild- und Bühnensprachen erheben Realität und visionäre Traumwelt gleichberechtigt Anspruch auf dichterische wie außerdichterische Relevanz und Autorität. Bahr konzediert dem Simson-Stück stellvertretend für die Dramentexte des kultischen Totaltheaters: »Die Szene verdeutlicht, daß Nelly Sachs’ Dramatik keine Handlungsdramatik, sondern vom Wort ausgehende Bilddramatik ist. Das Simson-Spiel vermittelt in konzentrierter Form ihre Vorstellung vom Totaltheater.«26 Diese zutreffende Analyse lässt sich in noch weitaus stärkerem Umfang auf die 21 22 23 24 25

N. Sachs: Zeichen im Sand, S. 93-122. Ebd., S. 123-183. Ebd., S. 185-238. Vgl hierzu: G. Sommerer: Nelly Sachs, S. 161-168. Nelly Sachs: »Der magische Tänzer. Versuch eines Ausbruchs«, in: Hilty, Hans Rudolf (Hg.): Hortulus. Illustrierte Zweimonatsschrift für neue Dichtung, Heft 5, Oktober 1959, St. Gallen: Tschudy Verlag, S. 138-145. Siehe auch: N. Sachs: Zeichen im Sand, S. 239-252. 26 Bahr, Erhard: Nelly Sachs. Autorenbücher 16, München: C. H. Beck 1980, S. 182.

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Poetik der mimischen Szenen anwenden. Der Anspruch, die modifizierte und konzentrierte Form von Totaltheater zu sein, kommt den mimischen Szenen zu, weil sie das markant bestimmende Verhältnis von Wort, Mimus und Musik zugunsten der narrativen und reflexiven Momente des Textganzen zu erkennen und auszugleichen suchen. Zugleich wird jedoch das synthetisierende Verfahren des Totaltheaters, aus disparaten Wirklichkeiten Momente von Wahrheit zu kondensieren, beibehalten. Im Gegensatz zu postmodernen Poetiken und deren Absicht, im kritischen Gestus der Destruktion Differenzen zu denken, erhofft die Intention des Totaltheaters mit Hilfe der Aktualisierung von Erinnerungen zusammenzufügen, was gewaltsam getrennt wurde. Die poetologische Intention der mimischen Szenen muss daher bei Betrachtung ihres dramatischen Konzeptes dem doppelten Wortsinne nach verstanden werden, nämlich als zielgerichtetes Vorhaben sowie gleichzeitig als Prozess der Wundheilung. Zusätzlich erfordert dieses neue szenische Schreibverfahren eine weitere Revision bisheriger formaler Mittel. Die mimischen Szenen kennzeichnet daher zum einen eine prägnante Kürze, was mit ihrem jeweils stark verringerten Personentableau korreliert; zum anderen manifestiert sich in ihnen eine fast vollständige Abkehr von Fabel und Handlungsdramatik, an deren Stelle Unabgeschlossenheit, szenisch-tänzerische Dynamik und andeutungsvolle Unhintergehbarkeit treten. Das Risiko dieser dramatischen Werke liegt darin, dass sie mit besonders vielen literarischen (und damit auch gesellschaftlichen) Konventionen und Erwartungen brechen. Ihre hervorstechendste Motivation ist wohl darin zu finden, dass ihr theaterästhetischer Gehalt mehr einem Versprechen denn seiner Einlösung ähnelt. Sie verweisen auf eine Zukunft, in der aus Texten, Bildern und Bewegungen zusammenhängende Bedeutungen synthetisierbar werden. In dieser Überwindung aller Gattungsgrenzen liegt gleichzeitig Annäherung, Distanz und Hoffnung. Die gleichberechtigte Verbindung verschiedenster künstlerischer Ausdrucksmittel zu einer gemeinsamen szenischen Synthese stellt ein Experimentierfeld dar, in dem momenthaft das Andere aufblitzt, das von aller bisherigen Erfahrung Entfernteste. Bis heute findet das Theater der Nelly Sachs nicht statt. Ihre hochartifizielle Dramatik der Verstörung und des Eingedenkens fand und findet weder Bühne noch Zuschauer. In der jahrzehntewährenden Verweigerung, in den szenischen Werken mehr als inszenierbare Versöhnungsgesten sowie die private Konfession einer alten, kranken Frau zu sehen, liegt die Missachtung aller ihnen bewusst eingeschriebenen Verweisebenen. Als größtes Rezeptionshindernis wird dabei offensichtlich ihr Anteil an ver-

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meintlich unhintergehbaren mystischen Inhalten angesehen, die völlig ohne Aktualität und Bedeutung für heutige Bühnen und Rezipienten zu sein scheinen. Dagegen ist der mystische Gehalt in den szenischen Werken als ein solcher analysiert worden, der ohne wirkliche theologische Grundlage funktioniert, oder stärker formuliert, um ein Wort Scholems in Bezug auf Bubers Auffassung des Judentums heranzuziehen: Die Mystik der Nelly Sachs ist eine »atheistische Mystik«.27 Alle mystischen Elemente in den Dramen sollen dazu beitragen, das fundamentale Verhältnis der Menschheit zu objektiven, geschichtlichen Fakten in einer zerschlagenen Welt zu klären und taugen exakt deshalb nicht zur Weltflucht oder Innerlichkeitsfrömmelei. Falsch läge daher, wer aus den den Texten eingeschriebenen Fragmenten aus Chassidismus, Sohar, Kabbala und auch solchen aus fernöstlichen und christlichen Mystiken auf eine tief verwurzelte Religiosität der Autorin schlösse. Sachs selbst hat sich, wenn auch vergeblich und vielleicht sogar mit zuwenig Vehemenz, gegen die eindimensionale Betrachtungsweise ihrer Werke verwahrt und der verfehlten Rezeption ihres Werkes kraft- und auch ratlos zuschauen müssen. In einem unveröffentlichten Brief an Professor Robert Kahn anlässlich eines Vortrages im Leo-Baeck-Institut in New York formuliert sie am 24. Februar 1967, nachdem Prof. Kahn in einem Vortrag anscheinend solch eindimensionale Sichtweise in Bezug auf ihr Werk vertreten hat, um »einige Missverständnisse aufzuklären«, ungewohnt scharf: »Zuerst: alles was ich geschrieben habe, ist entstanden immer nahe am Tod. Der Tod ist mein Lehrmeister gewesen. Er hat mir die Sprache die in Scherben lag aufs neue zusammengesetzt. […] Sehr verehrter Herr Professor Kahn, wenn Ihr Wort, daß mein Werk ein religiöses Spielen sei, wahr wäre, so würde ich keinen Augenblick zögern und alles was ich geschrieben habe den Flammen übergeben. Wenn ich Sie um eine Antwort bitten darf, wäre ich dankbar.«28

Vor der Realität des Todes kann nicht geflohen werden: In szenischen Texten, welche dieses unausweichliche Faktum permanent reflektieren, erschiene darum ein solches Ansinnen doppelt unmöglich. Daher lassen sie auch keine Schuld erträglich werden, weil ihnen die Bedeutungsebene einer unverbindlichen, transzendentalen Flucht durch die Vermittlung ei27 Vgl hierzu: Scholem, Gershom: »Martin Bubers Auffassung des Judentums«, in: Ders.: Judaica 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 133-192, hier S. 163. 28 »Brev från Nelly Sachs J-P«; unveröffentlichter Brief: Kungliga Biblioteket Stockholm: L 90:2. Der angesprochene Vortrag sowie eine Antwort von Prof. Kahn konnten nicht ermittelt werden.

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ner Trost spendenden Religion oder Mystik fehlt. Was in den Szenen unversöhnlich kollidiert, ist das Bewusstsein als Verfolgte(r) leben zu müssen und andererseits ein Bewusstsein als (selbstexculptierter) Unbeteiligter (und/oder Rezipient) leben zu dürfen. Wenn die interessierten Leser aus Literatur-, Theater- und Musikwissenschaft die Dramen der Nelly Sachs inklusive ihrer radikalen Säkularisierung rezipierten und nicht mehr als »religiöses Spielen» abtäten, dann könnte über das dramatische Werk der ersten Literaturnobelpreisträgerin deutscher Sprache eine ihm angemessene Diskussion beginnen. Die szenischen Werke von Nelly Sachs charakterisiert elementar und unbestechlich ein tiefer ethischer Imperativ. Diesen permanent nachweisbaren Unterstrom in den Sedimentschichten ihrer szenischen Werke freizulegen ist basale Intention der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung. In den szenischen Vergegenwärtigungen der unzähligen Opfer verfehlter Geschichte verbindet die Protagonisten, dass sie keine geglückte Erfahrung in sich tragen. Ihr permanenter Schmerz und die erfahrenen Demütigungen des Daseins als ihre grundlegende psycho-physische Disposition provozieren das Theater als Gattung insgesamt, werden doch so die Fragen nach seinen Grenzen virulent. Erst durch die Radikalität der dramatischen Paradigmen – Täter-Opfer, Exil, Schuld und Scham, das nackte Leben29 überleben – wird eine adäquate Gegenwartsanalyse ermöglicht und werden Formen und Grenzen einer künftigen Gesellschaftspraxis kritisch hinterfragt. Theater als Ort solcher Praxis wäre unvereinbar mit terminiertem offiziellen Erinnern. Hierin liegen die Würde und Autorität der Szenen. Sie sind bewusst gesellschaftlich unterlegt und mit der Ahnung von einer utopischen Hoffnung versehen, deren Kern Auschwitz bildet und um den alles kollektive Handeln gruppiert ist: Aus Verantwortung gegenüber einer Zukunft, der die Hoffnung auf Erlösung aus der schlechten Gegenwart nicht genommen werden kann.

29 Vgl hierzu: Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002; Ders.: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.

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»A L L E S W I R D D U N K L E R « WOLFGANG HILDESHEIMERS THEATER DES VERFALLS CHRISTOPH PFLAUMBAUM

»Nehmen wir also für den kurzen Augenblick dieser Stunde an, ich sähe – wie man so schön sagt – die Dinge zu schwarz. In der Tat hege ich keinen sehnlicheren Wunsch als den: unrecht zu haben. Für den ehrlichen und überzeugten Pessimisten kann es nichts Herrlicheres geben, als sich endgültig widerlegt zu sehen. Wohlgemerkt: es ist zwar noch kein Pessimist widerlegt worden, keiner hat unrecht behalten. Dennoch: das Streben danach bleibt seine Lebensaufgabe.« (W. Hildesheimer: Zur Verleihung des Bremer Literaturpreises, 1966)

Als Wolfgang Hildesheimer 1955 während der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden proklamiert, dass die Kunst der Erfindung der Wahrheit diene, beruft sich diese erste poetologische Selbstverortung eines zwar nicht mehr jungen, wohl aber erst jüngst publizierenden Autors auf die Formel des ›bedeutenden Schweizer Schriftstellers und Architekten Max Frisch‹. Die Wahrheit lasse sich nicht zeigen, so das Credo Frischs, sondern nur erfinden. Der damals 39jährige Hildesheimer, der für sein Hörspiel Prinzessin Turandot gewürdigt wird, bekennt vor diesem Hintergrund, dass ein Werk, welches die Wahrheit enthält, nur ein Kunstwerk sein könne. Gewonnen wird diese Wahrheit entweder durch Plausibilität oder durch das extreme Gegenteil, wenn etwa die Figuren so unplausibel dargestellt werden, »daß ihre krasse Irrealität die Absicht des Autors sofort eindeutig verrät: die Absicht nämlich, durch bewußte Anwendung der Umschreibung, der Übertreibung, ja, sogar der kunstvollen

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Lüge die Wahrheit zu erfinden.«1 Nur jene beiden Möglichkeiten lässt der Hörspielautor gelten, wobei seine Präferenz des Unplausiblen unschwer zu erahnen ist. Diese ›Wahrheitserfindung‹ – und hierin liegt die Emphase seiner Rede – wird in radikaler Ausschließlichkeit vertreten, die vordergründig darum bemüht ist, jene »traurige Skala lauwarmer Zwischenlösungen«2, wie sie insbesondere im Film erkannt wird, zu überwinden. Fünf Jahre später lässt sich eine deutlich geschärfte und stärker reflektierte Sichtweise auf die Literatur und der damit verbundenen Verfahrensweise des Schriftstellers beobachten. In seiner Rede Über das absurde Theater verteidigt ein mittlerweile auch durch seine Bühnendichtungen prominent gewordener Dramatiker nicht nur eine Literatur des Absurden, sondern bekennt auf grundsätzliche Art und Weise ein Weltund Seinsverständnis des Absurden: »Das absurde Theater dient der Konfrontation des Publikums mit dem Absurden, indem es ihm seine eigene Absurdität vor Augen führt.«3 Als absurd müsse die Literatur deshalb begriffen und gezeichnet werden, da der Künstler schließlich von einer absurden Welt ausgehe. Erneut wird sich hier auf einen Gewährsmann berufen, der in Albert Camus mit dessen ontologischen Begriff des Absurden erkannt wird. Vor diesem Hintergrund kann das absurde Theater auch als ein ›philosophisches Theater‹ verstanden werden, da es ›symbolisch‹ »durch das absichtliche Fehlen jeglicher Aussage zu einer Parabel des Lebens wird.«4 Indem Hildesheimer hier den Begriff des Symbolischen für das absurde Theaterstück bemüht, fordert dies zu einer genaueren Betrachtung heraus, erweist sich diese Inanspruchnahme doch als nicht unproblematisch. Kritisch sei nämlich angemerkt, wie die von Hildesheimer selbst eingestandene ›unakademische‹ und ›einseitig ausfallende Darstellung‹ unscharf mit dem Symbol-Begriff arbeitet. Dies resultiert in erster Linie aus einer der absurden Kunst innewohnenden Paradoxie, will sie doch etwas darstellen, das hinter den Dingen existiert, 1

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Hildesheimer, Wolfgang: »Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit. Zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden«, in: Ders.: Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. 7.: Vermischte Schriften, hg. von Christiaan Lucas Hart Nibbrig/Volker Jehle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 9-12, hier S. 11. Ebd. Hildesheimer, Wolfgang: »Über das absurde Theater«, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 7, S. 13-26, hier S. 13. Einen grundsätzlichen Überblick hierzu bietet Esslin, Martin: Das Theater des Absurden, Frankfurt a.M., Bonn: Athenäum 1964. W. Hildesheimer: Über das absurde Theater, S. 15.

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will sie doch überzeugend, also ›sinnvoll‹, darlegen, was nicht ist, nämlich Sinn.5 So konstatiert der Autor des Absurden, dem »nicht-absurdes Theater mitunter absurd erscheint«6, dass das Fehlen von Sinn nur auf ›symbolischer Ebene‹ gezeigt werden könne. Dennoch: »Symbolik jedoch kennt das absurde Theater nicht, oder es verachtet sie; das absurde Theater stellt nichts dar, was sich im logischen Ablauf einer Handlung offenbaren könnte«.7 Welch Potential der Symbolik gleichwohl inne wohnt, bekräftigt Hildesheimer später: »So wird das Theater des Absurden quasi zur Stätte eines symbolischen Zeremoniells, bei dem der Zuschauer die Rolle des Menschen übernimmt, der fragt, und das Stück die Welt darstellt, die vernunftwidrig schweigt, das heißt […]: absurde Ersatzantworten gibt, die nichts anderes zu besagen haben als die schmerzliche Tatsache, daß es keine wirkliche verbindliche Antwort gibt.«8

Auf diese Weise werde das absurde Theaterstück zugleich zu einem ›Zeitstück‹, das sich des Symbols bedient. Wenn im Folgenden davon ausgehend über Hildesheimers Dramatik nachgedacht werden soll, die innerhalb seines knapp 30jährigen Schaffens – rechnet man die Hörspiele dazu – ein immerhin 27 Stücke umfassendes Korpus darstellt, soll der symbolische Gehalt der ›Zeitstücke‹ innerhalb der spezifischen Handlungsdramatik geltend gemacht werden. Gleichwohl muss der indifferente Umgang des Autors mit dem Symbol-Begriff9 dazu in Beziehung ge5

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Auf solche Paradoxien des Absurden in der Kunst, insbesondere in der Literatur und ihren (Selbst)Erklärungsversuchen hat ausführlich hingewiesen Görner, Rüdiger: Die Kunst des Absurden. Über ein literarisches Phänomen, Darmstadt: WBG 1996. W. Hildesheimer: Über das absurde Theater, S. 13. Ebd., S. 16. Auf diese Ablehnung des Symbols im Theater des Absurden wies auch Rüdiger Görner hin, ohne jedoch auf die Uneindeutigkeit in Hildesheimers Ausführungen hinzuweisen. Vgl. Ders.: Die Kunst des Absurden, S. 103. W. Hildesheimer: Über das absurde Theater, S. 17f. Somit verwirft und verteidigt Hildesheimer innerhalb einer Rede das Symbolische für das absurde Theater. Die gestalt- und bedeutungswechselnden Begriffe des ›Symbols‹, des ›Symbolischen‹ oder der ›Symbolik‹ werden bei Hildesheimer nicht nur indifferent, sondern auch in ihren Konnotationen unterschiedlich behandelt, ohne dabei auf eine konkrete historische oder systematische Symbolkonzeption zu verweisen. Wird im Folgenden von ›Symbolen‹ die Rede sein, erfolgt dies als ein ästhetisches Konstrukt, wie es sich – trotz all der aufgewiesenen Probleme – aus Hildesheimers poetischen Positionierungen

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setzt werden. Indem nämlich deutlich wird, dass die Hörspiele und Theaterstücke, die auffällige stilistische wie formal-strukturelle Parallelen aufzeigen,10 von grundlegenden Tendenzen des Verfalls, des Zusammenbruchs und des Verlöschens gekennzeichnet sind, müssen ihre symbolischen Darstellungsmerkmale über die Theorie des Absurden hinausgehend geprüft werden. Denn Verdunkelungsstrategien, die auf verschiedenen Ebenen ausgespielt werden, kennzeichnen die Dramatik Wolfgang Hildesheimers; eine Programmatik, die er mit der Ende der 1950er Jahre entstandenen Sammlung Spiele, in denen es dunkel wird im Titel selbst prononcierend vorgibt. Dass es sich bei den Verdunkelungstendenzen um ein grundsätzliches Charakteristikum handelt, soll exemplarisch an den dramatischen Texten Die Uhren (1958) und Die Verspätung (1961) anschaulich werden. Symbolische Verdunkelungen, die in Regieanweisungen offenbar werden, in den Bühnenbildern zum Ausdruck kommen, in den Figuren existentiell wie ideell anschaulich sind und damit melancholisch-pessimistische Inhaltsebenen freilegen, verleihen dem dramatischen Werk Hildesheimers eine ganz spezifische Kontur innerhalb des Genres und Darlegungen rekonstruieren lässt. So muss das ›Symbolische‹ als spezifisches Darstellungs- und gewissermaßen Erkenntnismittel verstanden werden im Sinne einer literarischen Bild- bzw. Zeichenhaftigkeit, die hinter einer unmittelbaren Bedeutung einen tieferen Sinn transportiert. Als Überblick zum Symbolbegriff siehe Meier-Oeser, Stephan/Scholtz, Gunter/ Seils, Martin: [Art.] »Symbol«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, hg. von Klaus Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Basel: Schwabe 1971ff., S. 710-739. 10 Solche Parallelen ergeben sich durch verhältnismäßig dezent eingesetzte Regieanweisungen, durch sparsame Handlungsaktionen der Figuren und durch ein Bühnenbild samt seiner Figuren, die zwar als ›Requisiten‹ (sic!) von großer Bedeutung sind, aber grundsätzlich innerhalb eines schlichten ›Guckkastens‹ funktionieren sollen. Auf dieser Grundlage ist die von Hildesheimer angestrebte Auflösung der strengen Gattungsgrenzen möglich, der er sich während seines gesamten Schaffens widmete. Nicht zuletzt formte er zahlreiche Prosastücke zu Hörspielen um, wandelte Theaterstücke zu Hördokumenten oder entwarf Kunstformen wie die Funk-Opern und Fernsehspiele, um zugleich mit optischen, akustischen und textuellen Elementen zu arbeiten. Hildesheimer resümiert ein solches Verfahren folgendermaßen: »Und sonst muß ich mich, wohl oder übel, als Formalisten bezeichnen, denn mir geht es um die Form. Um das visuelle Bild und seine Choreographie, um das sprachliche Bild in Optisches umgewandelt, um die Auflösung des ganzen Lebens in Metapher und Metonymie«, in: Hildesheimer, Wolfgang: »Empirische Betrachtungen zu meinem Theater«, in: Ders: Gesammelte Werke, Bd. 6.: Theaterstücke, S. 820-823, hier S. 822.

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des absurden Theaters. Vor dem Hintergrund einer ›Ästhetik des Scheiterns‹11 können dabei die Stücke als symptomatische Sprache einer poetisierten und vom Autor wahrgenommenen Ohnmacht verstanden werden.12

V o m V e r l u s t d e r S i c h tb ar k e i t : D i e Uh r e n ( 1 9 58 ) Ähnlich wie im späteren Hörspiel Unter der Erde wird der Zuschauer in dem Stück Die Uhren. Ein Spiel in einem Akt mit einem Ehepaar konfrontiert, das im dialogischen Staccato-Stil ihre völlige Sinn- und Gefühlsleere offenbart. In wechselnden Rhythmen changiert dieses Rededuell zwischen feindseliger Dynamik und träger Langeweile; Vor- wie Nachgeschichte dieses Mannes und dieser Frau bleiben dabei gänzlich im

11 Als eine ›Theorie des Nicht-Schönen‹ stellt Udo Marquard jene Ästhetik des Scheiterns der ›Ästhetik der (poetisch-phantastischen) Übereinstimmung mit der Welt‹ gegenüber, womit eine Ästhetik der Diskrepanz mit einer Ästhetik der Harmonie konfrontiert wird. Marquard kennzeichnet diese Ästhetik des Scheiterns durch ihre ausgehaltenen Widersprüche, durch groteske, komische und lächerliche Elemente, die auf Negation, Unwirklichkeit und Versöhnungsverweigerung zielen. In dieser ›Rückzugsästhetik‹ werde ein ›Rausch des Untergangs‹ erzeugt, der den Menschen »durch die Lust seiner Verzweiflungen, Schmerzen, Wunden, Niederlagen, Zerrissenheiten […], durch den Enthusiasmus des Mißlingens« auszeichnet. Marquard, Udo: Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse, Köln: Dinter 1987, S. 185-191, hier S. 188. 12 »Absurdes Theater aber bedeutet: Eingeständnis der Ohnmacht des Theaters, den Menschen läutern zu können und sich dieser Ohnmacht als Vorwand des Theaterspiels zu bedienen. Ohnmacht und Zweifel, die Fremdheit der Welt, sind Sinn und Tendenz jedes absurden Stückes, das somit ein Beitrag zur Klarstellung der Situation des Menschen wird.« W. Hildesheimer: Über das absurde Theater, S. 22. Dieses Ohnmachtseingeständnis fand zuweilen im politisierten Kulturbetrieb manche Kritik: Der Erlangener Rede bescheinigt etwa Marianne Kesting mit polemischer Abneigung etwas ›Positionsloses‹, das auch den Dramen als ›eigentümliche Gesichtsund Geschichtslosigkeit‹ eingeschrieben sei. Vgl. Dies.: Panorama des zeitgenössischen Theaters. 50 literarische Portraits, München: Piper 1962, S. 256-261. Wie elementar wiederum die ethische Funktion in dieser Rede über das Theaters sei, zeigt Franzen, Erich: Formen des modernen Dramas. Von der Illusionsbühne zum Antitheater, München: Beck 1961, S. 166f.

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Dunklen.13 Sie wohnen in leeren Räumen und »hausen zwischen Ecken und Winkeln.«14 Ihre wesentliche Beschäftigung ist es, aus dem Fenster zu schauen und sich in die vermeintlichen Biographien der beobachteten Menschen wechselnd zu imaginieren, um letztlich dennoch in der Vergeblichkeit sinnentleerter Langeweile, im Zeitverstreichen zu verharren. Der Mann konstatiert voller Vergeblichkeit dementsprechend zum Regen hinter dem Fenster: »Flüssige Zeit tropft vom Himmel« und ›leicht gequält‹ äußert er: »Wässrige Zeit.« (U: 241) In diesem Stadium exemplifiziert Hildesheimer programmatisch, was er neben den Figuren, den Bühnengegenständen und bemerkenswerterweise dem Licht als den eigentlichen ›Hauptakteur‹ seines Theaters begreift: »die Zeit: aber nicht die Nachkriegszeit oder die Gegenwart oder ein Herbstabend im Jahre 1938, sondern die Zeit an sich und ihr Vergehen.«15 Diese Entzeitlichung der Handlung und gleichzeitige Zurschaustellung der Zeitlichkeit, die im Stück zunehmend radikalisiert werden, legt die Tendenz hin zur Symbolisierung frei, indem die aristotelischen Kategorien von Ort, Zeit und Handlung radikal aufgelöst und durch symbolischen Ersatz neu ausgestaltet werden. Die erste Wendung erfolgt durch den Auftritt des Glasers, der unhinterfragt und mit beschränkter Teilnahme beginnt, die Fenster, die schließlich letztes animierendes Lebenszentrum des Paares sind, mit ›schwarzen Glasscheiben‹ abzudecken: »FRAU beharrlich: Was ist das für Glas? GLASER wendet sich ihr zu, hält das Glas hoch und klopft daran, sachlich stolz: Unzerbrechlich! MANN Schwarz! FRAU Und undurchsichtig. GLASER tritt zu ihnen, zeigt beiden abwechselnd die Glasscheibe, gesprächig: Man hat Proben damit gemacht! Elf Bankräuber haben aus einer Entfernung

13 »Die absurde Figur ›funktioniert‹, sie bedient sich der Gestik, des Mimus […]. Jede auftretende Figur ist gewissermaßen ein Deus ex machina, der gebraucht wird, aber nicht erwartet wurde. Daher setzt das Stück auch kein Wissen voraus. […] Die Anfangssituation wird sofort erfaßt, da vor Aufgang des Vorhangs noch keine anderen Beziehungen zwischen den Figuren bestanden haben, als die, welche sich sofort offenbaren.« W. Hildesheimer: Über das absurde Theater, S. 24f. 14 Hildesheimer, Wolfgang: »Die Uhren. Ein Spiel in einem Akt«, in: in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6, S. 239-273, hier S. 249 (= im Folgenden: U). 15 W. Hildesheimer: Empirische Betrachtungen, S. 821.

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von zwölf Zentimetern mit dreizehn Großkaliberkarabinern darauf geschossen. Meinen Sie, das Glas sei zerbrochen? FRAU ratend: Ja. GLASER triumphierend: Falsch! FRAU gibt auf: Dann weiß ich es nicht. MANN rät: Nein! GLASER Richtig!« (U: 250)

Mit zunehmender Dunkelheit, die durch permanente spielerische Widersprüchlichkeiten unabhängig sowohl von der Tageszeit als auch der Jahreszeit betont wird, nimmt die konstatierte und inszenierte Tendenz des Verfalls stetig zu: »GLASER Es geht schneller vorbei, als man denkt! Wendet sich den Fenstern zu, betrachtet sie: Dies also sind Ihre Fenster! Holt Handwerkszeug hervor. Nun, das haben wir bald.« (U: 249) Während die Außenwelt zu Beginn Regen verhangen ist und zunehmend aufklart, wird der Bühneninnenraum grotesker Weise bis zur gänzlichen Dunkelheit ohne Widerstand verdüstert. Und je dunkler es wird, so bestätigt der Glaser, desto ›immer früher‹ werde es. Während der Glaser nur peripher Aufmerksamkeit erfährt, wird dem später auftauchenden Vertreter alle (Be)Achtung geschenkt. Durch einfältige Verkaufsphrasen fällt ihm das Ehepaar zunehmend anheim, kauft eine Uhr nach der anderen – die alle unterschiedlich gehen! –, sodass der Bühnenraum grotesk mit Uhren aller Art überwuchert wird.16 Die Wendung des Stückes bildet der Moment, als der Glaser und der Vertreter ihre Komplizenschaft offenbar werden lassen, das Ehepaar ist zu diesem Zeitpunkt bereits verloren: Der Mann fokussiert nur noch den Verlauf seiner neuen Armbanduhr und die Frau ist infolge trivialer Komplimente dem Vertreter verfallen, der leitmotivisch stets ermahnt: »Gefühl ist alles! Reichen Sie mir das Ärmchen, schöne Frau! […] Vor allem im Dunkel! […] Man hat ein Gefühl für sein Gegenüber.« (U: 267) Die Sinne sind getrübt, für Lampen ist es ›jetzt zu spät‹, die Finsternis hat Einzug gehalten, denn die Regieanweisung vermerkt: »Es ist völlig dunkel.« (U: 271) und nur der Vertreter sowie der Glaser, die nicht rauben, sondern lediglich eine Rechnung ausstellen, vermögen den Ausweg zu finden. Das ohnehin entfremdete und absurd abwesend-anwesende Ehepaar ist in

16 Burckhard Dücker versteht den Uhrenkauf als ›symbolischen Schritt zur Integration in die Gesellschaft‹, wofür es im Text aber an Hinweisen fehlt. Indem die Unveränderlichkeit der Existenz als Aussage bleiben wird, zeigt sich auch das nicht verhandelte Gesellschaftsbild als unbeeinflussbar. Vgl. Ders.: Wolfgang Hildesheimer und die deutsche Literatur des Absurden, Bensberg: Schäuble 1976, S. 61ff.

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gänzlicher Orientierungslosigkeit zurückgelassen, die Uhrzeiten gehen durcheinander und Mann und Frau imitieren primitiv-dadaistisch17 die Uhrengeräusche bis sie schließlich gänzlich verstummen in der Dunkelheit. Die Uhren, so kann man resümieren, erzeugen dramatische Gegenbewegungen in doppelter Hinsicht: während sich der Außenraum zunehmend erhellt, verdüstert sich der Innenraum und während zu Beginn die beschränkte Handlung durch permanente Teichoskopie18 getragen wird, verschließt sich der Guckkasten in sich selbst durch die gänzliche Dunkelheit.19 Sinn und Lehren lassen sich daraus mitnichten ziehen,

17 Hildesheimers Vorliebe, Redewendungen und Wortphrasen zu verfremden und in ihnen Abgründigkeiten offenbar werden zu lassen – hingewiesen sei hier insbesondere auf seinen letzten Prosatext Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes (1983) –, findet auch in den Uhren ihren Niederschlag, wobei die sinnentleerten Lautgeräusche des Ehepaares den fröhlich singenden Reimen vom Glaser und Vertreter gegenübergestellt werden, die entweder von romantischer Trivialität zeugen: »Feinsliebchen hat einen Burschen gesehn,/Der war so huldreich und morgenschön,/Und als sie kamen zum Grabesrand,/Da ließen sie sich nieder, ja nieder …« oder von nationalistisch-militärischer Abgründigkeit: »Sag an, Kamerad, mit Stolz und Brust,/Ob für Ehre und Vaterland du sterben musst!/Das Herz voller Heimat, die Lunge voll Schrot,/Die Liebste im Arm und morgen schon …« (U: 271f.). 18 Die in Hildesheimers Dramatik auffällige Verwendung des Fensters und der damit verbundenen Teichoskopie muss auch als ein Motiv literarischer Melancholie verstanden werden, dass ganz ähnlich – trotz Gattungsunterschieds – wie E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster funktioniert. (Vgl. Loquai, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1984, S. 133f.) Hildesheimer selbst variiert dieses Motiv an anderer Stelle: »Ich arbeite mich zu einem Fenster empor, um hinauszusehen – und plötzlich ist die Sicht draußen verändert: gesehen durch ein Fenster – Fenster, die unentbehrlichen Requisiten der Melancholie – rücken sich die Dinge ihrer Gegenwart zurecht; wie in einem Rahmen entsteht nun ein Bild […].« Hildesheimer, Wolfgang: Zeiten in Cornwall. Mit 6 Zeichnungen des Autors. Bd. 1. Erzählende Prosa, S. 339-406, hier S. 383. Auf den Melancholiecharakter des Absurden bei Hildesheimer wies hin Blamberger, Günter: »Der Rest ist Schweigen. Hildesheimers Literatur des Absurden«, in: Text+Kritik, Heft 89/90 (Wolfgang Hildesheimer), 1986, S. 33-44. 19 Den Zusammenhang der Kunst des Absurden mit der Dunkelheit betont Theodor W. Adorno in seiner Ästhetischen Theorie, der in der Verdunkelung die »Funktion des veränderten Gehalts« erkennt, der die ›Allherrschaft von Vernunft‹ kritisiert und zugleich ausstellt, »nicht länger ver-

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werden gar negierend parodiert, und die Figuren verweigern in ihrer grotesken Zurschaustellung wertende Anteilnahme. Das gesamte sich verdüsternde Geschehen, das eine gewisse Zirkelstruktur andeutet,20 möchte vielmehr symbolischer Selbstzweck einer illusionslosen Zustandsbeschreibung sein.

E i n B i l d c hr o n i s c h e n A b b r u c h s : Die Verspätung (1961) Wurde bereits in dem Stück Der schiefe Turm von Pisa (1959) auf hochsymbolische Weise und in einem stärker satirischen Modus der Zusammenbruch der Architektur – und hier gar des Weltkulturerbes – zelebriert, womit das Bühnengeschehen nicht nur stetig mit Lärm anwächst, sondern auch das Bild zunehmend am helllichten Tag dunkler wird, gewinnt die Verfallsästhetik in dem Zweiakter Die Verspätung eine bedrückend-groteske Düsternis. Nicht nur die Zivilisation ist hier dem Scheitern preisgegeben, auch die Natur und mit ihr die einzelnen Figuren lösen sich regelrecht in bedrückendem Nonsens auf, der weniger amüsant als apokalyptisch anmutet. Als Ort des Geschehens erweist sich die Schankstube des im Bergigen gelegenen Dohlenmoos. Das Figurenensemble ist übersichtlich: die Wirtin, der Bürgermeister, die Lehrerin, die zentrale Figur des Professors, der später erneut erscheinende Vertreter sowie die symbolisch am stärksten aufgeladene, jedoch nur peripher am Geschehen teilhabende Figur des Sargtischlers. Da dieser die meiste Zeit schläft, nur jeweils am Ende der beiden Akte zu monologisieren beginnt, mutet speziell er als symbolische Figur des Absurden an, der in der Tätigkeit des Schlafens und im erhöhten Bewusstsein des Todes die Unabwendbarkeit nünftig nach den Normen diskursiven Denkens« ausgerichtet sein zu können. »Die Dunkelheit des Absurden ist das alte Dunkle am Neuen. Sie selber ist zu interpretieren, nicht durch Helligkeit des Sinnes zu substituieren.« Ders.: Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, S. 47. 20 Die Zirkelstruktur des ewig Gleichen, der permanenten Wiederholung ist ein dem Theater des Absurden vertrautes Strukturprinzip und wird hier etwa angedeutet im Wissen um die Namen und Lebensverhältnisse des ankommenden Glasers und Vertreters. Im Gespräch des Paares zu Beginn deutet es sich sogar an, dass jene Verdunkelung sich täglich wiederholt, also als Verdüsterungsritual existiert. Auf diese Zirkelstruktur weist Hildesheimer selbst hin, wenn es heißt: »Und am Ende steckt auch wieder der Anfang.« Ders.: Rede über das absurde Theater, S. 25.

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des Verfalls durchschaut und die Melancholie des Daseins als einziger metaphorisch reflektiert.21 Ein Bild des chronischen Verfalls wohnt der gesamten Szene von Beginn an inne und steigert sich in unerbittlicher Drastik: Die Post ist bereits geschlossen, der Bahnhof unbesetzt, der Schneeflug fährt nicht mehr, die Straßen sind kaputt, die Telefonzellen abgetragen; am Ende zeigt sich ironischerweise nur noch die Bedürfnisanstalt als Silhouette des Ortes. Auch die Tannen sind abgeholzt und die Wege mit Gestrüpp überwuchert. Die einstige Dorfuhr, so wird berichtet, geht nicht einmal mehr nach, sondern sie geht überhaupt nicht. Aufgrund des Verfalls der öffentlichen Ordnung scheint das Dorf gänzlich aus der Zeit gefallen zu sein. Der Bürgermeister konstatiert: »Gewiß, es entvölkert sich, es wird still in den Straßen und Häusern. Ich gebe zu: die Straßen sind aufgerissen, die Häuser zum Teil eingestürzt, der Huflattich breitet sich aus, die Schmeißfliege brütet, Abfall und Unrat fließen die Gosse hinab! […] Das Dorf leert sich. Säcke und Kisten und Körbe stehen vor den Türen. Der Küster löscht die Kerzen am Altar.«22

Erneut wird der gänzliche Zusammenbruch wie selbstverständlich durch das Fenster beobachtet;23 zuletzt stürzt der Bahnhof vor den Augen der Zurückgebliebenen ein, womit sich die letzte Möglichkeit zur Flucht im Verfall auflöst. Während es zunehmend kälter wird und das Licht merklich nachlässt (vgl. V: 521), sind die Akteure im Gastraum die »letzten 21 Hildesheimer akzentuierte eine solch exemplarische Figur des Absurden in einer kurzen, aber programmatischen Prosaminiatur: »Ein Mann sitzt auf der Bühne, beinahe zwei Akte lang. Alle sprechen ihn an, aber er antwortet nicht, erscheint sehr schweigsam. Erst am Ende des Stückes stellt sich heraus, daß er tot ist. – Oder einer sitzt auf der Bühne und beobachtet das Geschehen. Keiner weiß, welche Rolle er eigentlich spielt. Gegen Ende des Stückes steht er gähnend auf, reckt sich und geht ab, unkommentiert.« Hildesheimer, Wolfgang: »Nachlese«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 457-488, hier S. 464f. 22 Hildesheimer, Wolfgang: »Die Verspätung. Ein Stück in zwei Teilen«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 491-560, hier S. 511 und 520 (= im Folgenden: V). 23 Der Zusammenbruch wird dabei als unsichtbare, aber allgegenwärtige Drohkulisse inszeniert, denn die Aussicht des großen Fensters, das für die Figuren einen elementaren Spielgegenstand bedeutet, ist, so betont es die Regieanweisung, »für den Zuschauer unsichtbar.« (V: 493) Das absurde Geschehen konzentriert sich auf den Innenraum, der als letzter Zufluchtsort gleichwohl zunehmend an Fragilität gewinnt.

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im Ort« (V: 535). Nur auf dem Friedhof »kann man die guten stillen Zeiten noch zurückverfolgen« (V: 512) und die letzten Anwohner erklären dem in Dohlenmoos gestrandeten Professor Scholz-Babelhaus die lokale Berühmtheit und Besonderheit: »BÜRGERMEISTER Karl Anton Gelbert. Jedes Kind kennt ihn. […] Mein Vater hat ihn noch gekannt. LEHRERIN Einer der größten Söhne der Gegend. BÜRGERMEISTER zitiert: ›Der sauberste Mann des neunzehnten Jahrhunderts‹! So hat man ihn genannt. LEHRERIN Er hat das Wort ›Tugend‹ erfunden … PROFESSOR Tugend!? LEHRERIN … und es durch mutigen Gebrauch gefestigt. BÜRGERMEISTER nickt: Im Jahre achtzehnhundertneunundsechzig. LEHRERIN Er ist bald darauf gestorben. BÜRGERMEISTER Unverstanden! WIRTIN gerührt zitierend: In völliger Vereinsamung.« (V: 510)

Ironie dieser Episode ist, dass weder die Tugend Verhandlungsgegenstand des Stückes ist, noch ihr gänzliches Ausbleiben überhaupt beklagt, geschweige denn registriert wird. Scheinbar tugendhaftes Verhalten kippt am Ende gar in wölfische Gruppendynamik; zur Kenntnis genommen wird dies freilich nicht mehr. Verhandelt werden vielmehr dialogische Auseinadersetzungen von Figuren, die ständig einen neuen Mantel anlegen, die permanent ihr Wesen, ihre Biographie, ihr Ansinnen verändern. Hildesheimer komponiert hier ohne größere Erläuterung ein Ensemble zu einem Bild zusammen, das in seiner Motivation nur punktuell aufgeht, als Zusammenhang jedoch unverständlich bleibt, – genauso wie die Sprachen, die die Figuren füreinander aufwenden. Die profan-austauschbare wie biblische Zusammenstellung des Namens Scholz-Babelhaus scheint damit nicht zufällig gewählt zu sein. In dieser Figur, von der der Bürgermeister behauptet, sie wäre ein »Wanderer zur falschen Zeit« bzw. ein »Männlein auf absterbendem Ast« (V: 498), wird die charakterliche Ambiguität des Absurden besonders anschaulich.24 Der Auftritt des Professors, der von sich selbst unbescheiden und voller Hochmut beansprucht, »im Diesseitigen nicht minder zuhause« zu sein »als in der Welt der Spekulation« (V: 502), suggeriert zunächst das Bild eines berühmten, aber mit der Dorfgesellschaft nicht übereinkommenden Universalgelehr-

24 Hieraus sprechen zweifelsohne spezifische Strategien der Entfremdung. Siehe hierzu ausführlich Andersson, Björn: Zur Gestaltung der Entfremdung bei Wolfgang Hildesheimer. Univ. Diss., Uppsala 1979.

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ten auf Exkursionsreise, dessen Missgunst und leere Selbstvergötterung ihn gleichwohl entlarven. Dieser hat sich jedoch ›verspätet‹ und gelangt im Laufe des Stückes nicht mehr mit dem letzten Zug in die Zivilisation, in der weltliche Achtung und wissenschaftlicher Respekt auf ihnen warten: »Bedeutet das …? Sieht die Wirtin an. Sie strickt. … daß ich auch diesen – letzten – Zug versäumt habe? Pause. Versäumt. Alles hinfällig! Geht ziellos in der Stube umher. Mein Vortrag heute abend vor dem kalten Buffet der Ehrengesellschaft zur Wahrung der Wissenschaft – der Empfang beim Gremium in Gegenwart des diplomatischen Corps – hinfällig! Alles hinfällig! Und morgen vormittag die Antrittsvorlesung vor dem Forschungszentrum für Erdoberflächenvermittlung unter Beisein des Weltsicherheitsrates … alles hinfällig. Gestrandet! Ich, Professor Karl Wilhelm Alexander von Scholz-Babelhaus, bin – schluchzend: – in diesem elenden Nest gestrandet!« (V: 526f.)

Dieses Dilemma wird aufgrund von Figurenwandlungen mehrfach verändert und aufgelöst.25 So gesteht der Professor am Ende des ersten Aktes, dass seine gesamte ruhmreiche Biographie erfunden sei, womit er sich selbst ad absurdum führt. Einen durchaus dem Autor Hildesheimer sympathischen Zug26 wird ihm daraufhin verliehen, indem er eingesteht, dass alle seine Entdeckungen von ihm erdacht seien, da alles bereits »erforscht, entdeckt [war], vom Größten bis zum Kleinsten« (V: 529): »PROFESSOR […] habe Akademien bestürmt, in dröhnenden Aufsätzen, habe gegen Widersacher gewettert, widerlegt, was ich las, habe Thesen an die Türen der Hochschulen und Institute angeschlagen. Und wissen Sie, was geschah? WIRTIN Man hat Sie ausgelacht und eingesperrt! PROFESSOR Schlimmer! Alles, was ich in der Qual schlafloser Nächte ersonnen hatte, gab es schon, sowohl das Erdachte als auch das Widerlegte! Nur war es von anderen entdeckt worden.« (V: 529)

War die Figur des Professors im ersten Akt von karikierender Art, ja mit verlachender Überzeichnung versehen, wird sie im zweiten Akt zum

25 Dücker spricht bei dieser Stilfigur von einer ›allmählichen Restriktion‹. Vgl. Ders.: Wolfgang Hildesheimer, S. 66. 26 Verwiesen sei nicht nur auf die bereits erörterte Rede Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit, sondern insbesondere auf Hildesheimers fingierten Lebensbericht Marbot. Eine Biographie, der zwar frei erfunden ist, dennoch über dokumentarische Authentisierungsstrategien die Form einer ›echten‹ Lebensgeschichte wahrt.

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Sinnbild des melancholischen Wanderers,27 der sich zuletzt auf das (Ab) Warten besinnt. Hierzu ist er an diesen Ort gelangt, um »das Schweigen zu kaufen, den Winter heraufzubeschwören und zu halten, Stille auszubreiten und zu warten.« (V: 552) Das letzte Ziel seiner Wanderung, in der er das ›Warten gelernt‹ habe, ist es, diesem finalen Zusammenbruch und dem letzten Einsturz beizuwohnen. »Ich betrete dieses Gasthaus. Es ist unwirtlich und verkommen. Es enthält einen schalen Restbestand an Leben. Aber jetzt habe ich Geduld. Ich spähe durch die Nacht, ich horche in sie hinein. […] Aber noch ist es nicht soweit, noch sind ein paar Fremdkörper hier, die sich die stürzende Zeit mit Scherzen vertreiben, aber sie können es nicht mehr lang schaffen, nein, der Faden reißt schon ab. […] Hier können Sie nichts ausrichten, hier ist eine Wüste geplant!« (V: 552)

Es ist jene Metaphorik des Zusammenbruchs und der Disharmonie, die in der Verspätung in Wort und Bühnenbild zur Ausgestaltung gebracht wird und jegliche Versöhnung dementiert. Die fragmentierten und sich widersprechenden Handlungsmotivationen bedeuten nicht mehr nur Scheitern durch die Tat, sondern die Tat selbst ist das Scheitern. Im Sinne Udo Marquards wird somit das Scheitern zum Zweck an sich, denn Handlungsoptionen ergeben sich für die Figuren nicht wirklich. Das Zunichtewerden als solches werde demnach zur Definition des Menschlichen.28 Die dramatische Zuspitzung erfährt das Stück mit der ›letzten Erfindung‹ des Professors, mit seinem ›Schwanengesang eines Gescheiterten‹: Seine These lautet, dass der Mensch vom Vogel, vom König des Vogelreiches, dem ›Guricht‹, abstamme und dabei eine ›verkümmerte, niedere Abart‹ dessen sei. So absurd dies anmutet, als so grotesk erweist sich die Sze-

27 »Ich kenne niemanden und will auch niemanden kennen. Seit Jahren habe ich versucht, alle Bekanntschaft zu verlieren und zu verleugnen, und jetzt muß es mir gelingen. Ich bin, in Nacht und Nebel gehüllt, über die elf Kontinente gehuscht, aber man hat mich angerufen, mir Losungsworte zugerufen, man hat mir ins Gesicht geleuchtet, um in mir einen anderen zu erkennen, der hinter mir huschte oder schon längst vorbei war. […] Ich habe um die Landkarten gezirkelt, das Leere vermessen, aber unter den weißen Flächen wurden schon die Kabel gelegt […].« (V: 551) Dücker versteht dagegen in der Figur des Professors den ›prototypischen Intellektuellen‹, der sich sowohl durch Identitätsunsicherheit als auch Sendungsbewusstsein auszeichnet und letztlich an der Gesellschaft scheitert. Vgl. Ders.: Wolfgang Hildesheimer, S. 65f. 28 Vgl. O. Marquard: Transzendentaler Idealismus, S. 189.

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ne,29 wenn der Guricht tatsächlich durch den Feldstecher des Professors erspäht wird. Die allumspannende dramatische Verdüsterung der Welt erfährt dabei ihren zentralen Höhepunkt durch eine Hyperbel des Symbolischen: »Sie sind es! Späht: Es sind mehrere! Viele! Sich steigernd: Der Guricht! Beobachtet: er schwebt, kreist! Mildes Licht. Macht die Dunkelheit noch dunkler. Sie kommen!« (V: 557) Während die Wände des Gasthauses zu bröckeln beginnen, der Vertreter die anwesenden Dorfbewohner in der Art eines Menschenfängers völlig vereinnahmt, bleiben zuletzt der Professor und der Sargtischler zurück. Letzterer räsoniert ohne rechte Teilhabe am Geschehen über ein Lied, das ihm entfallen ist (»Mein Gedächtnis ist den Weg aller Gedächtnisse gegangen«, V: 558). Erinnern kann er sich lediglich an seine einstige ›hölzerne Wiege‹, die er fachmännisch und schwärmerisch beschreibt. Während im ersten Akt seine monologisierende Passage von seinem handwerklichen Meisterstück handelt, ›seinem‹ eigenen Sarg (vgl. V: 531f.), wird am Schluss des Dramas die Symbolik des Lebens umgekehrt. Hier spricht die dem Geschehen passiv gegenüberstehende Figur, während alles im Zusammenbruch begriffen ist, vom Beginn des Lebens, das in der Dramatik des Stückes mit der Wiege endet. ScholzBabelhaus hingegen erlebt seine völlige Vernichtung, obwohl paradoxerweise seine ›Erfindung‹ erfüllt zu sein scheint. Nicht die Tatsache, dass der Guricht erschienen ist, lässt ihn bei seinem letzten panischfantastischen Monolog – wie es die Regieanweisung angibt – ›ersterben‹, sondern dessen plötzliche Erkenntnis, dieser Vogel Guricht heiße trotz aller ›erfundener‹ Ähnlichkeit gar nicht ›Guricht‹.30 Seine Erfindung ging lediglich im Namen nicht auf:

29 Zur klaren Unterscheidung der Begrifflichkeiten des Absurden und Grotesken siehe Taëni, Rainer: Drama nach Brecht. Möglichkeiten heutiger Dramatik, Basel: Basilius 1968. S. 17ff. Sowie Heidsieck, Arnold: Das Groteske und das Absurde im modernen Drama, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1969. Heidsieck stellt die handhabbare Differenz auf, dass das Groteske keine Frage nach Sinn stelle, das Absurde jedoch eine Frage nach Sinn stellt, diese jedoch verneint werde. Gleichwohl erweist sich eine klare Unterscheidung bzw. Zuweisung bei einer Vielzahl an dramatischen wie sprachlichen Stilelementen als problematisch. Darauf wies auch hin Dietrich, Margret: Das moderne Drama. Strömungen – Gestalten – Motive, Stuttgart: Kröner 1961. 30 Dieser ›Guricht‹ zeugt von einer besonderen Affinität, die Hildesheimer für ihn hegte, denn in verschiedenen Texten findet er seine Erwähnung. Die Beschreibungen des grotesken Erscheinungsbildes dieses Riesenvogels von »ein[en] Meter fünfundsiebzig« (V: 558) ähneln zwar der Erfindung, es ist

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»Nun finde ich keinen Namen mehr. Die Namen sind besetzt, die Eigenschaften sind vergeben. Verschenkt! Es ist zu spät! Pause. Ich wußte mehr als andere – aber die anderen haben recht behalten. Es gab Möglichkeiten, aber mir haben sie sich entzogen. Pause, dann schwächer: Ich bin verlassen. Ich bin der Punkt, von dem sich alles wegbewegt. […] Nein – Pause – nein – er schüttelt den Kopf – ich habe mich nicht überzeugt! Er sinkt tot auf den Stuhl zusammen.« (V: 560)

Das existentielle wie metaphorische Scheitern des Professors kristallisiert sich also in einer Namensfehlbesetzung zusammen, die, da es sich lediglich um seine Erfindung bzw. sogar um seine Entdeckung handelt, nur in ihrer Absurdität aufgeht. Das Stück ist dabei mit einer dramatischen Symbolik durchsetzt, die im äußerlichen Verfall allumfassend anschaulich wird und im grotesken, wenn auch nicht sichtbaren Auftritt des Gurichts ihren symbolischen Schlusspunkt erfährt. Dieser Riesenvogel ist zugleich Er- und Auflösung des Geschehens und vollendet in der Verspätung die dramatische Verfallsästhetik Hildesheimers.

D i e D u n k e l he i t d e r S p r a c he Nicht zufällig wird der Schlussakzent des Dramas Die Verspätung auf eine scheinbar falsche Namensgebung gesetzt. Wie dargelegt, erweist sich dies dahingehend als absurd, handelt es sich doch um eine ›tatsächliche‹ Erfindung innerhalb des inszenierten Geschehens. Zweierlei lässt sich daraus gewinnen: Zum einen scheint in der Verspätung eine philosophische und literarisch ausgestaltete Erkenntniskritik verwoben zu sein, denn ganz charakteristisch handelt es sich bei der tragisch-grotesken Figur des Professors auch um einen mit Messinstrumenten versehenen Wissenschaftler, der an der Vergeblichkeit seiner Bemühungen scheitert und nahe dem Wahnsinn zu sein scheint. Die philosophische Paradoxie, die Hildesheimer hierbei entwickelt, besteht in der Tatsache,

jedoch der scheinbar falsche Name, der für den Untergang sorgt. Klaus Reichert erkennt nicht zu Unrecht im Guricht eine Allegorie zum ›Genuß der Erkenntnis‹, eine ›Fremd-Sprache‹, die Hildesheimer den Texten als Schlüssel beigegeben hat. Vgl. Ders.: »Aus der Fremde und zurück. Wolfgang Hildesheimer zum Siebzigsten«, in: Neue Rundschau 98 (1987), H. 2, S. 67-81. In der Zeitgenossenschaft fiel der Befund der Allegorisierung aufgrund des mangelnden politischen Bekenntnisses gleichwohl negativer aus. Vgl. Rischbieter, Henning/Wendt, Ernst: Deutsche Dramatik in West und Ost, Velber bei Hannover: Friedrich 1965. S. 47ff.

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dass der Professor weniger daran scheitert, nicht an ein Ende, zur letzten Erkenntnis zu gelangen, sondern vielmehr im Bewusstsein, alles wäre schon erfunden und entdeckt. Epistemologisch ist somit die ›Tradition‹ wissenschaftlichen Scheiterns anhand des Professors in einer Absurdität umgekehrt.31 Zum anderen weist die zentrale Kristallisation des Scheiterns in der missglückten Namensgebung auf die das gesamte schriftstellerische Werk prägende Sprachskepsis, womit der gescheiterte Sprechakt durch spezifische Darstellungsverfahren, die sich der Symbolik und des Parabelhaften bedienen, zur Geltung gelangt. Wolfgang Hildesheimer transferiert über eine Kunst des Absurden und über ihre mehrschichtige Symbolbildung eine Sprachskepsis, die in der Dramatik der Theater- und Hörspiele bereits angelegt und ausgestaltet ist und schließlich in einer grundsätzlichen Sprachkapitulation kulminiert. Erkennt der Autor bereits zu Beginn seiner Entwicklung, nämlich in seiner Preisrede von 1955, dass die Sprache sich abnutze,32 wird dieses Bewusstsein einer Sprachkrisis in den folgenden drei Jahrzehnten poetisch immer komplexer verarbeitet. Sinnreichster Ausdruck dieses künstlerischen Dilemmas findet sich in den Vergeblichen Aufzeichnungen, die 1962 nur ein Jahr nach der Verspätung erscheinen und gleich zu Beginn konstatieren: »Mir fällt nichts mehr ein. Kein Stoff mehr, keine Fabel, keine Form, noch nicht einmal die vordergründigste Metapher. Alles ist schon geschrieben oder geschehen, wenn nicht beides, ja, meist sogar beides. Daher ist alles alt. Und wenn es noch nicht geschehen ist, so wird das Geschehen wahrscheinlich gerade vorbereitet, oder es geschieht, während ich dies schreibe«.33 31 Verstärkt wird diese Lesart durch eine Vorarbeit zur Verspätung, in der Hildesheimer den Professor in der Mühsal zeigt, dass entweder alles entdeckt wäre bzw. alle Erfindungen (teils von ihm selbst) bereits geschehen sind: »Ich wiederhole mich also«, konstatiert der Professor. (Vgl. Hildesheimer, Wolfgang: »Vorarbeit zu ›Die Verspätung‹«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 824f.) Hiermit ruft Hildesheimer, wenn auch gedreht, ein ikonisches Motiv des Gelehrten als Melancholiker ab. Bereits Robert Burton wies auf den ›ruinösen Wissensdurst‹ als Ursache der Melancholie hin, der die ›Geißel der Gelehrten‹ sei. Vgl. Burton, Robert: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten, übers. von Ulrich Horstmann, 3. Aufl., Zürich: Artemis 1990, S. 248ff. 32 W. Hildesheimer: Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit, S. 11. 33 Hildesheimer, Wolfgang: »Vergebliche Aufzeichnungen. Mit acht Rastercollagen (›Textscherben‹) des Autors«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 273-302, hier S. 275.

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Dieses Bewusstsein einer Sprach- und damit einer poetischen Ausdruckskrise wird über eine spezifische Verfallsästhetik verhandelt, die in umfassenden und mehrschichtigen Verdunkelungstendenzen dramatisiert ist und ohne Sinnauflösung im Absurden verhaart.34 Wenn das gesamte Bühnengeschehen zusammenbricht und ›zivilisatorische‹ Interaktion und Kommunikation in Absurdität aufgelöst werden, kann zuletzt eine Verdunkelung der Sprache auf einer dem Stück innewohnenden, damit symbolischen Sinnebene zur Anschauung gebracht werden.35 Verfall durch Verdunkelung zielt vor einem symbolischen Hintergrund auf das menschliche Erkenntnisinstrument schlechthin, nämlich auf die Sprache selbst, die nur noch in der Absurdität verhandelt werden kann.36 Dass Hildesheimer diese Sichtweise nicht nur poetisch begreift, sondern auf grundsätzliche Weise, erklärt er in einer Replik auf Henning Rischbieter. Demnach seien, so erläutert Hildesheimer, seine Texte nicht nur seiner ›tiefsten Überzeugung‹ entsprungen, sondern sie seien die einzigen Möglichkeiten des Ausdrucks: »Es ist für mich nichts Geringeres als krasser Realismus.«37 Hildesheimer verstärkt diese Position in klarer Abgren-

34 Walter Hinck spricht hier von einer ›Parabel ohne Schlüssel‹, in der das Lehrhafte wie das Konkrete aufgegeben wird, um die Rätselhaftigkeit der Welt zur Symbolisierung zu bringen. Mehrschichtigkeit bei Hildesheimer ergebe sich dadurch, so Hinck, dass die Absurdität selbst mit reflektiert werde. Vgl. Ders.: Das moderne Drama in Deutschland. Vom expressionistischen zum dokumentarischen Theater, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, S. 166ff. Wie sehr solche Verdunkelungstendenzen auf Abneigung stoßen, wird erfahrbar bei Steiner, George: Der Tod der Tragödie. Ein kritischer Essay, München, Wien: Langen & Müller 1962, bes. S. 287f. 35 Rainer Taëni weist darauf hin, dass Hildesheimer in den Stücken infolge der Verspätung die ›ganze Skala surrealistischer Metaphorik‹ dezenter – und damit auch erfolgreicher – bediene. Vgl. Ders.: »Wolfgang Hildesheimer. Nachstück«, in: Manfred Brauneck (Hg.), Das deutsche Drama vom Expressionismus bis zur Gegenwart, 4. Aufl., Bamberg: Buchner 1976, S. 264-270, hier S. 270. 36 Dunkelheit und symbolische Bilder benennt auch Albert Camus, auf den sich Hildesheimer mehrfach beruft, als Charakteristika der Kunst des Absurden: ›Negative‹, und das meint ›hellsichtige Denker‹ gelangen in der Kunst an »einen bestimmten Punkt, an dem das Denken auf sich selber zurückkehrt, richten […] die Bilder ihrer Werke auf als evidente Symbole eines begrenzten, sterblichen und aufrührerischen Denkens.« Ders.: Der Mythos des Sisyphos. Übers. von Vincent von Wroblewsky, 10. Aufl., Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2008, S. 149f. 37 Hildesheimer, Wolfgang: »Die Realität selbst ist absurd«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, S. 826ff.

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zung nicht nur zu anderen Dichtern des Absurden, sondern in erster Linie zum klassischen und epischen Theater: »Die Absurdität der anderen ist meine Wirklichkeit, daher ist das, was der andere als absurd bezeichnet, für mich wirklich.«38 Indem sich die absurde Dramatik Hildesheimers einer rationalen Erklärung der Welt verweigert, abgesehen davon, dass diese nicht mehr an die Läuterung der Welt glaubt, wird die pessimistische Weltsicht, die eine erkenntniskritische wie anthropologische Sichtweise ist, über Darstellungsweisen des Unvergleichbaren und damit symbolisch Parabelhaften ausgestaltet. Die Antwort des absurden Theaters auf die Welt ist die Nicht-Beantwortbarkeit der Welt. Ein absurder Zustand erlebt seine dramatische Verbildlichung.39 Im Drama steht dem Autor für diese Strategie noch das Bühnenbild, die in ihm enthaltenen Requisiten sowie die meist mechanisierten Figuren zur Verfügung. Hildesheimer betont zudem die Inszenierungspraxis von Licht und Zeit, womit aufgrund der wahrgenommenen Sprachskepsis gewissermaßen die Sprachlichkeit von Kunst hintergangen werden kann. Diese äußerliche Verdunkelung wird gleichwohl in den Theaterstücken und Hörspielen auch mit der inneren Verdunkelung der Sprache kombiniert. Hiermit artikuliert sich eine für die deutschsprachige Nachkriegsliteratur außerordentliche Sprachskepsis, die in den Texten Hildesheimers immer auch poetologisch verhandelt wird. Der Zwiespalt, dass die (Sprach)Kunst der Erfindung der Wahrheit diene und zugleich die Sprache defizitär zu sein scheint und sich abnutze, ist dem gesamten schriftstellerischen Werk eingeschrieben und kann letztlich nur durch Symbolisierungsstrategien verhandelt werden. Symbolisierung wird dabei über Verbildlichung des Zusammenbruchs und durch die Tendenz hin zum Verstummen transportiert. Um die Welt als Parabel des Absurden auf der Bühne präsentieren zu können, greift der Autor trotz allen Misstrauens auf Symbole zurück, womit sich gleichwohl in den poetologischen Be-

38 Ebd. 39 So die grundsätzliche Definition vom Theater des Absurden, wie sie Axel Schalk setzt, um zugleich auch das potentiell Politische darin zu denken, das dem absurden Theater oft abgesprochen wurde. Vgl. Ders.: Das moderne Drama, Stuttgart: Reclam 2004, S. 127. Auch Theodor W. Adorno bestimmt im Absurden eine – vorsichtig formuliert – minimale therapeutische Funktion, wenn es heißt: »Vernunft kann es nur in Verzweiflung und Überschwang aushalten; es bedarf des Absurden, um dem objektiven Wahnsinn nicht zu erliegen.« Ders.: »Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 228.

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zugnahmen Diskrepanzen ergeben.40 Vor dem Hintergrund, dass die Prosa im Gegensatz zum Drama ausschließlich von der Sprache abhängig ist, zieht Hildesheimer, nachdem er diesen Konflikt drei Jahrzehnte poetisch bearbeitet hat, am Ende die Konsequenz aus diesem Bewusstsein und legt die Feder nieder. Und er vergewissert sich dabei: »Freudlos, lustlos, gedankenlos sein – Schmerzlos ist ein hartes Los, Gedankenlos ein subjektiv privilegiertes Los, Sprachlos ist das Schicksal der Dichter.«41

40 Dies scheint Hildesheimer auch in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung bewusst zu sein: Das absurde Ich »bedient sich keiner Parabel, da es selbst Parabel ist. Symbolik kennt es nicht, es sieht sich geschichtslos und unmythisch. Wer selbst schreibt, der weiß, wie schwer es mitunter ist, das Symbol zu umgehen, es drängt sich unversehens auf – wie Blasen wird es aus dem Unbewussten hochgetragen.« Hildesheimer, Wolfgang: »Frankfurter Poetik-Vorlesungen«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 43-99, hier S. 99. 41 W. Hildesheimer: Nachlese, S. 479.

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ALS EIN UNTYPISCHER

»INNEREN EMIGRATION« – W E R D E G A N G N A C H 1945 DER

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Rolf Bongs Werke nehmen in der deutschen Literatur der Weimarer Zeit, der Zeit des Nationalsozialismus’ und auch der Zeit der Bundesrepublik Deutschland allenfalls einen mittleren Rang ein. In der Deutschen Demokratischen Republik wurden sie gar nicht wahrgenommen. Bongs Einfluss konzentrierte sich im Wesentlichen auf den regionalen Bereich Düsseldorfs. Seine größte Wirksamkeit erreichte er in den 50er und 60er Jahren. In dieser Zeit wurden Werke von ihm ins Französische und Niederländische übersetzt. Die Veröffentlichung einiger seiner Werke in großen westdeutschen Verlagen wie Reclam oder Fischer bot ihm für einige Zeit die Möglichkeit, seine epischen Werke über den regionalen Raum hinaus zu verbreiten. Mit seinen lyrischen Werken gelang ihm dies nicht, mochten auch einzelne Gedichte in überregionalen Zeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom damaligen Feuilletonchef Marcel Reich-Ranicki publiziert worden sein. Somit war er in diesen Jahren immer auf dem Sprung, zu bekannten Schriftstellern mit Herkunft aus den Rheinlanden wie z.B. Hans-Peter Keller, Ernst Meister, Dieter Forte, Marie-Luise Kaschnitz, Günter Wallraff, Dieter Wellershoff u.a. aufzuschließen. Die Zahl seiner Veröffentlichungen in den gut 12 Jahren des ›Dritten Reiches‹ ist zwar begrenzt gewesen, dennoch nicht unerheblich. Dazu zählen neben seiner Dissertation und einem Schauspiel über Heinrich von Kleist eine Vielzahl von Gedichtbänden und das Tagebuch Harte Herrliche Strasse Nach Westen. Ohne seine Mitgliedschaft in verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen wäre das nicht möglich gewesen. Aber von seiner Mitgliedschaft in der NSDAP, der SA, der SS und einiger anderer nationalsozialistischer Organisationen erwähnt er nichts, sodass von diesem Wissen aus Bongs Zuordnung zu den von ihm genannten Mustern des Verhaltens anders erfolgen müsste: Nicht den ›Schlängelpfad‹ wählte er, sondern er gehörte zu jenen, die sich ›dem

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Neuen hingaben‹. Aber wird man ihm mit dieser Schlussfolgerung gerecht? Nach dem Ende des NS-Regimes setzte Rolf Bongs seine Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft in literarischen Texten um – Romane, Dramen, Erzählungen – Gedichte – die gleichsam in einer Art von Obsession durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheitsthematik bestimmt waren. Und das galt nicht für einzelne Werke. Es betrifft Bongs gesamtes Schaffen bis an sein Lebensende, sieht man einmal von vielen seiner Gedichte ab, die der Naturlyrik verbunden sind, aber die man unter dem Aspekt der ›Psychohygiene‹ des Autors auch als Fluchtraum vor den Belastungen der Vergangenheit deuten könnte. Anders als Wolfgang Weyrauch, dessen Biographie sich in so vielen Bereichen mit der von Rolf Bongs deckt,1 hat er jedoch im literaturtheoretischen Bereich keinen Einfluss auf die Literatur der Bundesrepublik genommen. Nicht dass dieser Bereich ganz fehlen würde. Aber Rolf Bongs war in seiner Reflexion literaturtheoretischer Aspekte ästhetischer Produktion weitgehend klassizistischen Definitionen verbunden.2 Das sollte sich als hemmender Faktor auch auf seine literarische Produktion auswirken, indem er beispielsweise bei den Romanen der aktuellen Diskussion immer hinterher lief. Einen eigenen Stil konnte er so kaum entwickeln. In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass Rolf Bongs persönliche wie schriftstellerische Situation selbstverständlich nicht singulär war. Unter dem Generationenaspekt könnte man eine Vielzahl von Schriftstellern seiner Alterskohorte3 nennen, die – wenn sie es nicht wie Bongs Freund Wolfgang Paulsen vorzogen, ins Exil zu gehen – in einer ähnlichen Situation waren wie er: Geboren am Anfang des Jahrhunderts noch vor dem Ersten Weltkrieg, begannen sie meist am Ende der Weimarer Republik mit ersten Veröffentlichungen ihrer Werke, waren mit dem 1

2

3

Vgl. Landzettel, Ulrike: Identifikationen eines Eckenstehers. Der Schriftsteller Wolfgang Weyrauch (1904-1980). Unveröffentlichte Dissertation, Marburg 2003, S. 2ff. Vgl. Bongs, Rolf: Über Dichter und Schriftsteller, 1950 (Nachlass; veröffentlicht eventl. in »Merkur«, Januar 1950); Über den Dichter und sein Werk; Unmassgebliche Bemerkungen; Entwurf zu einer Akademie der Dichtkunst, Nachlass von Rolf Bongs, H.-Heine-Institut in Düsseldorf, Rheinisches Literaturarchiv, HHI.90.5023TG.2856, HHI90.5023TG.2640. Beispielhaft seien hier genannt: Alfred Andersch, Stefan Andres, Günter Birkenfeld, Günter Eich, Max Frisch, Gustav René Hocke, Peter Huchel, Marie Luise Kaschnitz, Wolfgang Koeppen, Ernst Kreuder, Karl Krolow, Horst Lange, Hans Erich Nossack, Luise Rinser, August Scholtis.

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Faktum des ›Dritten Reiches‹ konfrontiert und strebten danach, weiterhin zu schreiben und zu publizieren – allein um des Überlebens willen – wollte man nicht einen völligen Bruch in der eigenen Lebensplanung hinnehmen. Wie Rolf Bongs verschwiegen sie in der Regel den Umfang ihrer schriftstellerischen Wirksamkeit in der Zeit des Nationalsozialismus und das Maß ihrer jeweiligen Kollaboration mit dem System, als sie nach 1945 zu Repräsentanten der bundesrepublikanischen Nachkriegsliteratur avancierten.4 Auf dem Hintergrund dieses für seine Generation weitgehend typischen Bewusstseinsgrundmusters soll sein eigenes Verhalten in der Zeit der 30er bis 70er Jahre untersucht werden. Der Schriftsteller Rolf Bongs kann aufgrund seiner Veröffentlichungen in der Zeit des Faschismus’ nicht als Vertreter der ›Inneren Emigration‹, wenn man diesen Begriff denn aufrechterhalten will,5 gesehen werden. Ganz sicher kann er auch nicht in die Gruppe der nationalsozialistischen Schriftsteller eingeordnet werden, die auf der Grundlage einer Blut- und Boden-Mystik publizierten. Und genau so sicher kann er auch nicht als ein Schriftsteller im Widerstand, so wie er dies selbst sah, beschrieben werden, wobei zu klären wäre, wie diese Haltung sich denn von derjenigen der ›Inneren Emigration‹ unterscheiden würde. Formen der verdeckten Schreibweise hat es bei ihm nicht gegeben, mögen auch manche seiner Aussagen mehrdeutig gewesen sein und demnach in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine andere Interpretation zugelassen haben. Da Rolf Bongs als ein Kritiker des Nationalsozialismus und zugleich als ein Mitläufer wahrgenommen wurde, passen die üblichen Schemata zur Einordnung nicht. Wenn es demnach um eine ›gerechte‹ Würdigung des Schriftstellers Rolf Bongs geht, dann bleibt nur der Weg über eine möglichst genaue Analyse seines Werkes, seiner Äußerungen und seines Handelns. Darum will sich der vorliegende Beitrag bemühen,

4 5

Vgl. Schäfer, Hans Dieter: Das gespaltene Bewusstsein, München: Carl Hanser Verlag 1983, S. 114 ff. So wie auch Ralf Schnell: »Der Terminus Innere Emigration ist demnach, um es mit Ludwig Witgenstein zu sagen, ein ›Begriff mit unscharfen Rändern‹. Ich halte das, zumindest in diesem Fall, für einen Vorzug. Der Vorzug der Unschärfe besteht darin, Prozessualität und Variabilität von Entwicklungen und Positionierungen in der gleitenden Skala von Qualitätsveränderungen und Bedeutungsnuancen berücksichtigen zu können…«, in: Ders: Literarische innere Emigration 1933-1945, Stuttgart: Metzler 1976, S. 38. Siehe dazu auch Schoeps, Karl-Heinz Joachim: Literatur im Dritten Reich. Berlin: Weidler Buchverlag 2000, S. 10.

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ohne Moralismus, dafür mit dem Bestreben, einer »scholastische[n] Unfruchtbarkeit«6 zu entgehen.

D i e D r am e n 1. Absturz 1958 erschien im Lechte-Verlag das Drama Absturz und im gleichen Jahr auch im Fischer-Verlag in Frankfurt in einer leicht veränderten Version. Rolf Bongs hatte dieses Drama mehrfach, zuletzt im Januar und Februar 1958 überarbeitet, an dem er vor allem zu Beginn des Jahres 1956 geschrieben hatte, in einer Zeit, in der ihn seine Krankheit besonders belastete. Absturz ist ein Theaterstück in drei Akten. Es spielt auf irgendeinem Flugplatz in Deutschland, wo man auf die Ankunft eines Flugzeugs wartet, das sich stark verspätet hat. Einige der Wartenden befürchten deswegen, es könne abgestürzt sein. Drei Gruppen von Wartenden werden dargestellt. Schon der Handlungsverlauf dieses Dramas macht deutlich, dass Rolf Bongs das Thema der Schale – einem früheren Drama aus dem Jahre 1951 – hier wieder aufgreift und nun in eine politisch-kriminalistische Rahmenhandlung einbindet. Dadurch versucht er der zentralen Handlung, die der Beziehung zwischen den befreundeten Paaren, eine größere Attraktivität zu verschaffen. Diese Rahmenhandlung ist – wenn auch etwas künstlich – mehrfach mit der Haupthandlung verbunden; sie steht jedoch in keinem inneren Zusammenhang mit ihr. Eine Verknüpfung ergibt sich durch das Atmosphärische des Werkes, das fast durchgängig durch Düsterkeit und Pessimismus, Zerstörung von Vertrauen, Treue und Zuneigung in den menschlichen Beziehungen, durch das Unbehauste in der menschlichen Existenz gekennzeichnet ist. Dies wird verstärkt durch äußere Umstände: der Sturm, der drohende Absturz der Maschine, die Vorbereitung der Notlandung auf dem Flugplatz, alles dies Momente des Handlungsablaufs und zugleich symbolische Hinweise für die Situation des Menschen in dieser Welt. Die Haupthandlung – d.h. die Darstellung der Beziehungsprobleme zwischen zwei Ehepaaren – wird in diesem Dreiakter gegenüber der Schale verschärft. Das zeigt sich an der Tatsache, dass beide Paare am Schluss ihre Ehe aufgelöst haben, nicht wegen einer ›Schuld‹, sondern weil die Partner in beiden Ehen aneinander vorbei lebten. 6

Scholdt, Günter: Literaturgeschichte und Drittes Reich, in: Kritische Ausgabe, Heft 2, Bonn 2004, S. 15f.

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Betrachtet man das Werk unter dem Aspekt der oben angeführten Leitfrage, so wird aus dieser knappen Inhaltswiedergabe und Charakterisierung bereits deutlich, dass sich Rolf Bongs in diesem Werk nicht mehr mit der jüngsten Vergangenheit beschäftigt. Er ist mit seiner Kritik an den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen gleichsam in der bundesrepublikanischen Gegenwart angekommen. Die Probleme der Menschen sind Probleme, die sich aus der unterschiedlichen Werteorientierung ergeben. Von ›Schuld‹ wird nicht gesprochen, sondern von ›Fehlern‹, von ›Irrtümern‹, von ›falschen Entscheidungen‹. Die Analyse des Geschehens und des eigenen Handelns durch die Figuren selbst verbleibt auf der Ebene der gespiegelten Realität, wird nicht durchscheinend für eine andere Wahrheit und Erfahrung. Wie überhaupt die Figuren eindimensionaler in ihrer Gestaltung wirken. Ihre Sprache ist gröber. Sie bleiben diejenigen, die sie waren, trotz der Katastrophe, die gleichsam den Katalysator für neue Verbindungen bildet, wie in einem chemischen Prozess. Nur bei Eva und Gerhard bleibt das Ergebnis des Prozesses offen und gewährt so eine kleine Hoffnung, dass Leben auch anders sein könnte. Und doch: Auch sie leben in einer Welt, deren Vergangenheit oder Vorgeschichte ausgeblendet ist. Vergangenheit wird nicht einmal mehr verdrängt, bietet somit nicht einmal mehr in dem Leiden an dem, was nicht wahrgenommen werden will, zumindest die Chance der Katharsis. Gesellschaftliche Vergangenheit ist abgetrennt vom Leben, erreicht das Bewusstsein nicht. Und so bildet sich in diesem Drama die westdeutsche bundesrepublikanische Wirklichkeit ab: die Fixierung auf eine skrupellose Wohlstandsvermehrung, damit verbunden die Verdrängung der verbrecherischen Vergangenheit und zugleich mit dem wachsenden materiellen Wohlstand die Tendenz, diesen Wohlstand als Narkotikum gegen die inneren Zerstörungen und Verluste zu nutzen.

2. Einmann Das Schauspiel Einmann ist ein Werk, an dem Rolf Bongs über einen längeren Zeitraum, wenn auch immer wieder unterbrochen, gearbeitet hat. Die Anfänge reichen in das Jahr 1944 zurück. Das Manuskript ging – wie er über die Entstehungsgeschichte schreibt7 – während des Krieges 7

Bongs, Rolf: Improvisationen zum ›Einmann‹, September 1947. Und: »Über den ›Einmann‹«, Oktober 1950 (Beide Manuskripte befinden sich in Rolf Bongs Nachlass im Heinrich-Heine-Institut); dazu: Rolf Bongs: Veränderung eines theatralischen Ereignisses zu Flensburg (Nachlass von Rolf Bongs im Heinrich-Heine-Institut, Rheinisches Literaturarchiv, HHI90. 5023TG.2598).

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verloren; in der Kriegsgefangenschaft und während seines Aufenthalts im Lazarett griff er das Thema wieder auf und vollendete das Schauspiel schließlich zu Beginn des Jahres 1946. Das Drama besteht aus acht Bildern, in deren Mittelpunkt der Soldat und spätere Fabrikbesitzer Einmann steht. Die Handlung spielt, so schreibt Bongs, ›An jedem Ort, zu jeder Zeit.‹ Das deutet schon darauf hin, dass der Plot des dramatischen Geschehens keine Spiegelung eines realen, auf konkrete historische oder soziale Verhältnisse bezogenen Handlungsablaufs darstellt.8 Vielmehr handelt es sich um ein fast traumhaftes Geschehen, um die Darstellung seelischer Vorgänge, zwischenmenschlicher Beziehungen und um einen Klärungsversuch existenzieller Fragen des Menschen. Die Figur des Einmann stellt eine Variation der Figur des ›Jedermann‹ dar. Damit knüpfte Rolf Bongs bei diesem Drama an das Vorbild des mittelalterlichen Mysterienspiels an, das hier jedoch ganz als innerweltliches Geschehen verstanden wird. Daran ändert auch nichts das jeweilige Auftreten des Engels am Ende des vierten und achten Bildes. Denn der Engel, »mit Einmanns Gesicht, in irdischer Gestalt«, so das Personenverzeichnis, ist das Alter Ego von Einmann, eine der Bewusstseinsebenen dieser Figur. Gleichzeitig stellt Einmann auch eine modere Adaption des Hiob-Themas dar. Denn Einmann ist der Mensch, dem eine Reihe von Prüfungen auferlegt werden: Erst der Befehl zum Angriff, der ihm die Macht über Menschenleben gibt und seinen Heldentod bedeuten würde, dann die Verurteilung und Verbannung auf eine Insel, dann der Verlust seines Lebenswerkes, der Verrat seines Freundes und schließlich die Untreue der geliebten Frau. Am Ende steht er vor der Katastrophe seines bisherigen Lebens. Der Ausweg, dieses Leben abzustreifen, um in einem anderen Leben neu zu beginnen, erweist sich als illusionär und als bloße Flucht. Am Ende stellt er sich der eigenen Schuld, bekennt sich zu seinem Leben mit allen Irrungen und Wirrungen, bekennt sich zu sich selbst. Wer diese Grundstruktur des Schauspiels nicht wahrnimmt, wie das Franz Götke als Kritiker der Uraufführung in Flensburg passierte,9 der muss zwangsläufig zu falschen Schlussfolgerungen angesichts dieser ›wirren Szenen‹ kommen: 8

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»Das Theater hat, nach meiner Auffassung, vergessen, dass ihm nur die ›hohe Form‹ dient. Jede Form von Naturalismus ist unsinnig.« Bongs, Rolf: Improvisationen zum ›Einmann‹, September 1947 (Nachlass, HHI90.5023 TG.2598). Götke, Franz: »Einmann, Bongs und Stampe. Eine Uraufführung der Städtischen Bühnen Flensburg«, in: Flensburger Tageblatt vom 30.11.1950, S. 2.

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»Der Rezensent steht hilflos vor dem dramatischen und dichterischen Unvermögen, das sich in diesem Stück (das eigentlich kein Stück ist) offenbart und erschrocken vor der befremdenden Tatsache, daß dieser ›Einmann‹ den Weg auf eine städtische Bühne finden konnte. Zu einer ernsten kritischen Auseinandersetzung mit diesem pseudodichterischen Sammelsurium, das ›interessante‹ Tiefe vortäuscht, wo keine ist, besteht leider weder ein Anlaß noch eine Möglichkeit.«10

Dabei ist es durchaus berechtigt, Zweifel an der Bühnentauglichkeit eines derart auf innerseelische Vorgänge konzentrierten Dramas zu haben, wie dies auch der Dramaturg des Württembergischen Staatstheaters, H.A. Bopp, formulierte: »Von der Szene des Gefangenenlagers ab leidet das Stück daran, dass die Hauptfigur zu viel Betrachtungen über ihr Schicksal anstellt, zu viel meditiert, in den Kreis von ichbezogenen Gefühlen, Erinnerungen, Überlegungen, befangen bleibt und dadurch der dramatische Handlungsvorgang lahmgelegt wird.«11

Aber dem Stück eine fehlende Struktur vorzuwerfen und thematische Bedeutsamkeit abzusprechen deutet auf Flüchtigkeit der Lektüre und einen Mangel an Durchdringung des Stückes hin. Wie bereits im Bild der Venus – einem Drama entstanden während des Krieges in den Jahren 1940-1941 – ist auch hier ansatzweise eine kritische Haltung des Autors erkennbar. Aber wieder ist sie versteckt vorgetragen, liegt zwischen den Zeilen verborgen oder ergibt sich aus der Figurenzeichnung, deren Decodierung nur selten eindeutig ist. Dabei sollte bedacht werden, dass dieses Drama am Ende des Krieges, bereits in amerikanisch-britischer Kriegsgefangenschaft geschrieben und nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft fertig gestellt und überarbeitet worden ist. Rolf Bongs musste also nicht mehr mögliche Repressionen durch die Reichsschrifttumskammer befürchten. Er war frei, seine Kritik an der militärischen Führung, an den militärpolitischen Zielen und am Nationalsozialismus scharf und in aller Deutlichkeit zu formulieren. Die Frage, warum er dieses Werk nicht nutzte, um eine erste Abrechnung mit

10 Ebd.: Spalte 5f. 11 Siehe Schreiben von H.A. Bopp, Dramaturg des Württembergischen Staatstheaters vom 29.10.1947 an Rolf Bongs (siehe: Nachlass, HHI90.50 23TG).

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dem von ihm verachteten politischen System vorzunehmen,12 stellt sich auch beim dritten Bild, in dem es um die Verhandlung vor einem Kriegsgericht über Einmanns Befehlsverweigerung geht. Einmann verteidigt sich vor dem Kriegsgericht wegen seiner Befehlsverweigerung: »Als ob sich etwas Schreckliches gegen uns heranschöbe, unaufhaltsam, ein Ungeheuer, dessen Füße im Schnee schleiften. Mit diesem Geräusch näherte sich der Tod. Wir konnten nichts tun, nur lauschen, spähen, warten. Der Schnee blieb weiß. Kein Rücken hob sich auf, kein Helm. Kein Schuß fiel. Nur dieses Schlurfen drohte auf uns zu.«13

Und die Anführerin der Aufständischen gibt die Anweisung: »Ihr werdet den Ruck spüren und ihn verschärfen, wenn die Maschen zusammengezogen werden. Das ist alles. Anweisungen gehen euch direkt zu. Wir gehen jetzt ins Feuer. Das andere war nur ein Spiel. Haltet Euch untadelig. Später – das ist eure Sache. Macht keine Fehler. Man wird versuchen, Euch zu kaufen. Widersteht. Noch eine kurze Zeit werden wir zwischen Nacht und Nebel leben.«14

Und schließlich und endlich wird die Stilisierung des Wirklichen an der Darstellung des Krieges nachweisbar. Zwar deuten einige Aussagen darauf hin, dass Rolf Bongs in diesem Drama seine Erfahrungen mit dem Krieg an der Ostfront im Winter 1942 und 1943 verarbeitet hat. Und dennoch vermeidet der Autor jeden Hinweis auf eine konkrete geographische, zeitgeschichtliche oder militärgeschichtliche Situation. Denn »Krieg war immer, also wird er immer sein«15, wie Einmann feststellt. Wenn demnach keine kritische Reflexion über die Zeit des Nationalsozialismus in diesem Schauspiel erfolgt, bedeutet dies noch nicht, dass Rolf Bongs jene Zeit und sein eigenes Verhalten überhaupt nicht thematisieren würde. Vielmehr geschieht die Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem zentralen Ereignis: der Befehlsverweigerung. Einmanns militärische Entscheidung ist dabei in der geschilderten Situation

12 Rolf Bongs: Tagebuchnotiz vom 4.02.1946: »Der Roman [gemeint ist die ›Feurige Säule‹] wird die erste große ›Abrechnung‹, das Bild der Welt.« (Nachlass, HHI90.5023TG). 13 Rolf Bongs: Tagebuchnotiz vom 4.02.1946, S. 14 (Nachlass, HHI90.5023 TG). 14 Ebd., S. 34. 15 Ebd., S. 1.

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nachvollziehbar, sinnvoller jedenfalls als die des ›Träumers‹ Prinz Friedrich von Homburg, dessen Drama Rolf Bongs in diesem Werk beeinflusst hat. Aber Bongs geht es gar nicht um den militärischen Kontext, vielmehr um die psychologische und wenn man so will – lebensphilosophische Bedeutung der Entscheidung. Einmann analysiert seine Situation als die der Heteronomie. Das eigene Verhalten, die eigenen Denkmuster werden als fremdbestimmt erfahren, ihm eingegeben von der Gesellschaft zum Zwecke der Unterwerfung des Einzelnen. Im Leiden an dieser entfremdeten, naturfernen Situation kommt er zu der Erkenntnis, dass er nur mehr das Echo derer ist, die ihre Macht festigen wollen und denen es gelungen ist, das Einverständnis der sich selbst Entfremdeten zu ihrer eigenen Unterwerfung erlangt zu haben. Es wäre viel zu eng, diesen Widerstand demnach als Widerstand gegen einen militärischen Befehl zu betrachten, sondern Rolf Bongs versteht ihn als Widerstand gegen jede Form von Fremdbestimmung und der Entscheidung »einzig zu mir selbst.«16 An anderer Stelle formuliert Einmann den Erkenntnisprozess mit einem bildhaften Vergleich: »Das Frühere ist abgefallen wie faules Fleisch. Mir war, als würde ich von solcher Erkrankung nie mehr genesen.«17 Nachdem Einmann anfangs in der Flucht den Weg in die ›Freiheit‹ mit einem Neubeginn gesehen hat, verzichtet er am Schluss auf die Illusion. Sein Erkenntnisprozess ist abgeschlossen: »Ich begegnete mir, um mich nie wieder zu verlassen.«18 Und dieser Satz formuliert die Botschaft des Dramas. Ernst Bloch hat das in seinem Werk Das Prinzip Hoffnung so formuliert: »Gewünscht wird, das Unsere, das man dunkel ist und meint, auch herauszubringen und zu haben. Dies Geschäft wird einsam versucht oder zu zweit oder in der Gruppe, gewollt ist jederzeit ein Leben, das von unseren Neigungen und Kräften nicht abgetrieben wird. Dergleichen ist vag, weil den meisten nicht einmal ihre Neigungen vertraut sind, und dann vor allem, weil keiner mit sich ins reine kommen kann, wenn alle Verhältnisse unter Menschen unreinlich sind.«19

Einmann ist am Ende zu sich selbst gekommen, indem er die ›unreinlichen Verhältnisse‹ bei sich selbst, das Macht- und Herrschaftsstreben als Fabrikbesitzer, überwunden und die ihm aufgezwungenen Formen ent16 17 18 19

Ebd., S. 51. Ebd., S. 50. Ebd., S. 54. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1959, S. 1089.

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fremdeten Lebens durch Widerstand ablegen konnte. Manches, von dem, was Max Horkheimer zur gleichen Zeit in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft theoretisch formulierte, findet sich hier in der programmatischen Aussage des Dramas. Mag Bongs Sichtweise auch weniger stark auf die gesellschaftlichen Verhältnisse Bezug nehmen, vielmehr – ganz entsprechend seinen narzisstischen Neigungen – das individuelle Streben nach Selbstverwirklichung in den Vordergrund stellen. Rolf Bongs setzt sich in dem Schauspiel Einmann nicht mit dem Nationalsozialismus auseinander. Aber er thematisiert sein eigenes Fehlverhalten in dieser Zeit. Indem er in die Figur Einmanns seine eigenen Erwartungen projiziert, er hätte Widerstand leisten müssen, um wie Einmann zu sich selbst zu kommen, ist dies zugleich das Eingeständnis seiner ›Schuld‹. Diesen Begriff hat Bongs immer sehr kritisch verwendet: In diesem Schauspiel verwendet ihn Einmann einmal in der Vielzahl seiner Selbstbeschuldigungen: »Das Unternommene war falsch« (S. 22); »Ich habe mich geirrt« (S. 22): »Ich habe etwas falsch gemacht…« (S. 23); »Überlistet durch meine eigene Schuld. Ich lieh meine Hände, den Betrug zu bereiten. Blind, blind vertrauensvoll.« (S. 26) Interessant ist auch eine Textstelle, an der Zwiemann seinen Freund Einmann wegen dessen patriotischer Kriegsbegeisterung (»Wir stürmen hinaus. Die Brücken stürzen hinter uns zusammen«20) kritisiert. Einmann bestätigt die Berechtigung dieser Kritik und leitet daraus das Recht zum Widerstand ab: »Schlimm genug, daß ich sie gesprochen habe. Ich stehe hier. Ich bleibe. In dieser Minute, in diesem einzigen ersten Augenblick, der vielleicht der letzte sein wird, handle ich nach meinem Willen und meiner Einsicht.«21 So stellt ›Einmann‹ eine Figur dar, in die Rolf Bongs seine eigene sehr selbstkritische, eher düstere und pessimistische Auseinandersetzung mit seinem Fehlverhalten in der Zeit des Nationalsozialismus projiziert.

3. Die Schale Nach den für Rolf Bongs deprimierenden Erfahrungen mit der Uraufführung seines Theaterstücks Einmann an den Landesbühnen in Flensburg am 28. November 195022 schrieb er den Einakter Die Schale, den er am 16. Juli 1951 beendete.23 20 Ebd., S. 4. 21 Ebd., S. 4. 22 Rolf Bongs hat diese Erfahrungen später auf Empfehlung von Wolfgang Paulsen in einer Erzählung verarbeitet, (siehe: Rolf Bongs: Veränderungen eines theatralischen Ereignisses.) Die politischen Hintergründe des ›Misserfolgs‹ konnten nicht geklärt werden. Faktum ist, dass das Stück auf Ver-

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Es handelt sich um ein Vier-Personen-Stück mit dem Thema der ehelichen Treue, des Treuebruchs, der sich einstellenden Gewissensbisse und der Frage, ob die Untreue vor dem Partner verheimlicht oder ihm gestanden werden sollte. Die Schale, Titel des Stückes, ist ein Dingsymbol. Sie ist – ein wohlgeformtes und kostbares Gefäß – bereits bei Beginn der Handlung zerbrochen wie auch die eheliche Untreue in der Vergangenheit zurückliegt. Die Analyse dieses ›Unglücks‹ sowohl auf der konkreten Ebene des zerstörten Gefäßes als auch auf der durch das Gefäß symbolisierten Ebene der ehelichen Beziehung beider Paare, ist Gegenstand der zwischenmenschlichen Kommunikation. Hauptfigur dieser sehr feinsinnigen Auseinandersetzungen ist Christiane, die an einer Augenkrankheit leidet und der eine Erblindung droht. Auch dies hat eine symbolische Bedeutung, da sie blind ist für die Zuneigung, die sich zwischen ihrem Mann Ernst und ihrer Freundin Anna entwickelt hat. Von der Form her kehrt Rolf Bongs mit diesem Stück zu einer klassizistischen Gestaltung zurück, wozu auch die gehobene, stark rhythmisierte Sprache beiträgt. Analysiert man diesen Einakter ausgehend von der vorangestellten Leitfrage, so wird man feststellen, dass auch in diesem Werk keine Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem nationalsozialistischen Terror stattfindet. Ein – wie mir allerdings scheint – vordergründiges Urteil könnte sogar zu dem Ergebnis kommen, dass sich Rolf Bongs in einer eher biedermeierlichen Haltung verliert, sich zurückzieht in den Elfenbeinturm einer feingeistigen Erörterung, die mit der Realität seiner Zeit nichts zu tun hat. Bei einer genauen Lektüre des Schauspiels zeigt sich, dass zwischen dem Inhalt des Geschehens und der sprachlichen Darstellung eine überraschende Diskrepanz vorliegt. Wenn einerseits die Protagonisten von ihrer ›Schuld‹ sprechen und von dem ›eigenen Gericht‹, vor dem sie deswegen stünden, dann bezieht sich das in der Realität ihres Handelns auf etwas Vergangenes und zudem auf etwas, »was so vage ist, daß du vergeblich nach Worten suchen wirst, um ihr unsere Begegnung zu erklären.«24 Ein ›Ehebruch‹ im juristischen Sinne hat nicht stattgefunden. Die anlassung des Flensburger Stadtpräsidenten Jakob Clausen Möller, Vertreter der dänischen Mehrheit im Rat der Stadt Flensburgs, vom Spielplan genommen werden musste und dass dessen Absicht war, den Intendanten der Städtischen Bühnen Flensburg, Dr. Rolf Prasch, aus seinem Amt zu entfernen, was auch geschah (siehe dazu den Brief der Witwe Evelyn Prasch an Dr. Witt aus Flensburg vom 4.9.60, Stadtarchiv Flensburg, Akte Dr. Prasch). 23 Siehe Tagebuch des Jahres 1951 (Nachlass HHI90.5023TG). 24 Ebd., S. 16 (Nachlass, HHI90.5023TG).

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Diskussion über ›Schuld‹ erfolgt demnach auf einer Stufe der moralischen Rigidität, wie sie in der Bergpredigt (Matthäus 5, 28) formuliert wird. Innerhalb einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft des 20. Jahrhunderts dürfte die Diskussion einer solchen doch eher theologischen Fragestellung auf Unverständnis stoßen, zumal wenn diese Diskussion im Rahmen eines Schauspiels erfolgt und von einem Autor vertreten wird, der dem Christentum gänzlich fern steht. Hier liegt somit für den Leser bzw. Zuschauer ein Widerspruch, eine ›Lücke‹ vor, die der Interpretation bedarf, um zum Verständnis des Werks zu gelangen. Wer sich angesichts dieser Irritation auf die Suche nach einer weiteren Metaebene macht, begibt sich jedoch auf sehr ›dünnes Eis‹. Denn es lassen sich für eine weitergehende Deutung keine eindeutigen Belege finden, allenfalls Ansätze, die diese Deutung plausibel machen. Am Ende des Stückes bekennt Christiane ihrem Mann, dass auch sie ›schuldig‹ geworden sei. Die hier verwendeten mythologischen und metaphorischen Wendungen (böser Alb, erdrosseln, Mauer, Kerker, Trümmer, Weg durch Stein und Schutt), die für die Beschreibung des zugrundeliegenden Sachverhalts ganz unangemessen sind, deuten an, dass Bongs unausgesprochen eine andere ›Schuld‹ meint, die sehr viel enger mit den Vorstellungen von Trümmerwüste und Zerstörung verknüpft ist. Auch das im Plural stehende Personalpronomen ›unsere‹ in der Wendung »Wohl suchen unsere Füsse mühsam ihren Weg durch Stein und Schutt…« belegt, dass es sich im eigentlichen Sinne nicht um eine individuelle ›Schuld‹ handelt, die doch vorläge, würde es um »Ehebruch« in dem rigiden Verständnis der Bergpredigt gehen. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine kollektive Schulderfahrung: »Wir sind hier zwei, und einzeln,/aber wir sind ohne Zahl/im Heerzug derer, die jetzt mit uns leben,/und gleiches tun und leiden oder unterlassen.«25 Aber eine menschliche Schwäche in dieser massiven und gehäuften Form mit Begriffen der moralischen Verurteilung zu verknüpfen ist überzogen und verstärkt den Verdacht, dass Bongs zwar auf der vordergründigen Ebene von ehelichen Verfehlungen, tatsächlich jedoch über seine ›Schuld‹ in der Zeit des Nationalsozialismus spricht sowie über die Frage reflektiert, ob man diese ›Wahrheit‹ einsam tragen müsse bzw. sich zu ihr zu bekennen habe. Psychologisch gesehen läge, wenn diese Vermutung zutrifft, ein Beispiel von Verdrängung vor. Rolf Bongs schreibt ein Drama über ›Verfehlungen‹ in der ehelichen Beziehung, meint jedoch in Wahrheit seine eigenen ›Verfehlungen‹ während der Zeit des Nationalsozioalismus’. Geht man von dieser Hypothese aus, dann ist es auch interessant

25 Ebd., S. 29.

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zu sehen, wie denn die Frage nach Offenlegung der Wahrheit beantwortet wird. Und da ist es bezeichnend, dass Rolf Bongs keine eindeutig klare Antwort findet. In einer Zeit kurz nach der weltweiten Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, in einer Zeit des beginnenden Kalten Krieges und in der des Koreakrieges mit seinem atomaren Bedrohungsszenario, schrieb Rolf Bongs ein Drama, so esoterisch, so überaus feinsinnig und sensibel, so weltfern, dass dieser Widerspruch den Verdacht weckt, Bongs habe etwas anderes gemeint, als er in seinem Einakter dargestellt hat. Die Schale ist eine verschlüsselte Darstellung in der Auseinandersetzung mit der eigenen schuldhaften Verstrickung in den Nationalsozialismus. Die offene, selbstkritische Klärung wird verdrängt zugunsten einer Fokussierung des Problems auf den zwischenmenschlichen, den ehelichen Bereich. Die psychologischen, philosophisch-theologischen sowie biographischen Hintergründe für diese Verdrängung sind ihm dabei selbst bewusst, was die dialogische Auseinandersetzung der Figuren seines Schauspiels belegen.

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G RENZGÄNGER UND R AUMVERMESSER . H ACKS – M ÜLLER – S CHLEEF

»K U N S T I S T V O R G E S T E L L T E P R AX I S .« P E T E R H A C K S ’ P A N D O R A V O R DE M H I N T E R G R U N D D E S ›T R A D I T I O N S D I S P U T S ‹ D E R 1970 E R J A H R E I N D E R DDR BERNADETTE GRUBNER 1984 wurden in Heft 2 der Zeitschrift für Germanistik zwei Briefe veröffentlicht, die zwischen dem Germanisten Claus Träger und dem Dramatiker Peter Hacks gewechselt worden waren. Träger reagiert darin auf Hacks’ 1982 gehaltene Rede Über eine Goethesche Auskunft zu Fragen der Theaterarchitektur und beanstandet u.a. die dort formulierte Charakterisierung der deutschen Romantik als »gegenbonapartistische Fronde«.1 Hacks antwortet mit einer Darlegung seiner »Methode«, ästhetische Gruppen und Positionen der Vergangenheit mit Politik kurzuschließen, und schreibt in diesem Zusammenhang: »Kunst ist vorgestellte Praxis. Falls ich die Welt kenne, heißt das nicht viel seltener als immer: vorgestellte politische Praxis.«2 Dass Hacks’ eigene Dramen etwas mit politischer Praxis zu tun haben könnten, wurde zu dieser Zeit – insbesondere in der kritischen Literatur der BRD – allerdings vielfach in Zweifel gezogen: Nachdem er in den 60er-Jahren das Projekt der »sozialistischen Klassik« ins Werk gesetzt hatte und sich auch in den 70ern in seinen Stücken auf historische, insbesondere antike Stoffe konzentrierte, wurde häufig der Vorwurf laut, Hacks habe sich dem zeitlos Schönen verschrieben und würde in seiner eigenen Dramenproduktion die Politik elegant umschiffen; er sei vom

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Hacks, Peter: »Über eine Goethesche Auskunft zu Fragen der Theaterarchitektur«, in: Ders.: Werke, Bd. 13, Berlin: Eulenspiegel 2003, S. 308-333, hier S. 318. Träger, Claus/Hacks, Peter: »Ein Briefwechsel«, in: Zeitschrift für Germanistik 2 (1984), S. 168-182, hier S. 177. Hacks’ Brief wurde neu abgedruckt in P. Hacks: Werke 13, S. 334-347.

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jungen Querkopf zum unpolitischen Ästheten geworden.3 In der Dramatik galten zu dieser Zeit Heiner Müller oder Volker Braun als kritische Köpfe, die gesellschaftliche Widersprüche des realen Sozialismus thematisierten, also die DDR-Gesellschaft an ihrem Anspruch maßen, als sozialistisches Projekt den Weg zur emanzipierten Menschheit zu weisen;4 im Unterschied dazu wurde vielfach geäußert, dass sich Hacks in ideale Gefilde rein kunsttheoretisch relevanter Überlegungen zurückgezogen habe, in denen die politische Realität ins Abstrakte ausgedünnt werde. Betrachtet man die Debatten, die in der DDR selbst geführt wurden, so fällt auf, dass diese sich nicht um ›politische‹ versus ›unpolitische‹ Kunst drehten, sondern dass über die DDR-Gesellschaft und die gesellschaftliche Funktion der Kunst diskutiert wurde. Im Grunde genommen handelte es sich um politisch-ästhetische Auseinandersetzungen, die seit den 50er Jahren in verschiedenen Gewandungen geführt wurden, und zwar über das Vorhandensein, die Qualität und die Darstellung gesellschaftlicher Widersprüche im Sozialismus.5 Als zentraler Streitpunkt lässt sich Folgendes ausmachen: Einerseits gab es die Einschätzung, dass die sozialistische Gesellschaft nicht mehr wesentlich antagonistisch sei 3

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Heinz Klunker schreibt z.B., Hacks habe sich wie seine Figur Moritz Tassow verhalten und sich »in einen Elfenbeinturm der Utopie und Poesie« zurückgezogen (Ders.: Zeitstücke und Zeitgenossen. Gegenwartstheater in der DDR, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1975, hier S. 55). Vgl. auch Brettschneider, Werner: Zwischen literarischer Autonomie und Staatsdienst. Die Literatur in der DDR, Berlin: Erich Schmidt 1972, hier S. 169); Allemann, Urs: »Die poetischen Rückzugsgefechte des Peter Hacks – Vom ›Tassow‹ zu ›Prexaspes‹«, in: Judith R. Scheid (Hg.), Zum Drama in der DDR: Heiner Müller und Peter Hacks, Stuttgart: Klett 1981, S. 177192, hier insbes. S. 180; Mennemeier, Franz Norbert: Modernes Deutsches Drama. Kritiken und Charakteristiken, Bd. 2, München: Wilhelm Fink 1975, S. 370. Man findet diese Einschätzung auch in jüngerer Literatur, z.B. Werner, Klaus: »Heitere Renitenz. Peter Hacks, Goethe und das ›Dörfchen‹ DDR«, in: Helmut Fuhrmann (Hg.), Goethe-Rezeption in Deutschland, Kassel: Georg Wenderoth 2004, S. 75-103, hier S. 83f. Vgl. Profitlich, Ulrich: »Das Drama der DDR in den siebziger Jahren«, in: Peter Uwe Hohendahl/Patricia Herminghouse (Hg.), Literatur der DDR in den siebziger Jahren, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 114-152, hier bes. S. 118f. u. S. 125-130. So z.B. in der in den 50ern geführten Debatte um das »dialektische« (oder »didaktische«) Theater, die Autoren und Regisseure, die sich der brechtschen Theatertradition verpflichtet fühlten, mit Brecht-Gegnern führten. Vgl. hierzu Stuber, Petra: Spielräume und Grenzen. Studien zum DDRTheater, Berlin: Ch. Links 1998, hier S. 173-190.

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(da sie nicht auf Klassengegensätzen beruhe) und dass daraus für die künstlerische Verarbeitung von Gesellschaftlichem bestimmte Schlüsse gezogen werden müssten. Die Funktion der Kunst sei nun nicht mehr primär kritisch, sondern bestehe vor allem darin, sich am Aufbauprozess der sozialistischen Gegenwart konstruktiv zu beteiligen.6 Auf der anderen Seite wurde dies als verfrühte Harmonisierung kritisiert: Die sozialistische Übergangsgesellschaft sei sehr wohl noch mit den »Muttermalen der alten Gesellschaft«7 behaftet und die Revolution dementsprechend noch gar nicht abgeschlossen – dies zu kritisieren bzw. einzufordern sei nach wie vor Aufgabe der Kunst. Während in den 50er Jahren – nicht zuletzt durch kulturpolitische Gängelungen – die letztgenannte Position gegenüber der Polarisierung von Sozialismus und Imperialismus im sich verschärfenden Kalten Krieg zurücktreten musste, erfuhr die Neuauflage dieser Diskussion in den 70er Jahren keine maßregelnden Interventionen; sie wurde vielmehr von einem Paradigmenwechsel in den Gesellschaftswissenschaften begleitet, der die »These vom Sozialismus als relativ selbständige Gesellschaftsformation« zugunsten der Auffassung eines langfristigen, aber fließenden Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus in Frage stellte.8 6

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Peter Hacks leitete aus dieser gesellschaftlichen Diagnose seine »postrevolutionäre Dramaturgie« sowie die Auffassung ab, dass das gesellschaftliche Substrat für das Tragische (den notwendig letalen Ausgang in der klassischen Tragödie) im Sozialismus nicht mehr vorhanden sei. »Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie« lautete der Untertitel des ersten Essaybands Das Poetische, der 1972 verschiedene zuvor erschienene theoretische Schriften versammelte (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972); zur Diskussion von Tragik im Sozialismus vgl. die Diskussion zur hegelschen Dramentheorie in: Keck, Thomas/Mehrle, Jens (Hg.): Berlinische Dramaturgie. Gesprächsprotokolle der von Peter Hacks geleiteten Akademiearbeitsgruppen. Dramatik I, Berlin: Aurora 2010, S. 7-51, hier bes. S. 19. Marx, Karl: »Kritik des Gothaer Programms«, in: Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke, Bd. 19, Berlin: Dietz 1978, S. 11-32, hier S. 20. Hager, Kurt: Die entwickelte sozialistische Gesellschaft. Aufgaben der Gesellschaftswissenschaften nach dem VIII. Parteitag der SED. Referat auf der Tagung der Gesellschaftswissenschaftler am 14. Oktober 1971 in Berlin, Berlin: Dietz 1972, S. 31. Hager war damals Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED. Die Auffassung, der Sozialismus sei eine »relativ selbständige sozialökonomische Formation in der historischen Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommunismus im Weltmaßstab« war Ende der 1960er-Jahre von Walter Ulbricht fixiert worden (Ulbricht, Walter: Die Bedeutung des Werkes »Das Kapital« von Karl Marx für die Schaffung des entwickelten gesellschaftlichen Systems des

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Auf ästhetischer Seite steht diese Auseinandersetzung mit dem ebenfalls in den 70ern geführten »Traditionsdisput« in Verbindung; es handelte sich dabei um eine lebhafte Debatte über die (produktive) Rezeption von Klassik und Romantik, die in den einschlägigen Zeitschriften9, der Literatur10 und auch auf dem Theater11 geführt wurde. Hier lassen sich ebenfalls grob zwei ›Fraktionen‹ unterscheiden – zum einen die Gruppe der Modernisierer, die sich kritisch gegen das Konzept einer sich aus dem klassischen Erbe speisenden Nationalliteratur wandte, sich verstärkt der Rezeption der Romantik und nicht-kanonischer Außenseiterfiguren widmete und sich vielfach mit den Formexperimenten der zuvor geächteten Avantgarden auseinandersetzte.12 Zum anderen die ›traditionalistische‹ Fraktion der Kunstschaffenden, die sich für die Bewahrung und Fortentwicklung des klassisch-humanistischen Formrepertoires aus-

Sozialismus der DDR und den Kampf gegen das staatsmonopolistische Herrschaftssystem in Westdeutschland, Berlin: Dietz 1967, S. 38). Vgl. auch U. Profitlich: Das Drama der DDR, S. 124 und Hohendahl, Peter Uwe: »Theorie und Praxis des Erbens: Untersuchungen zum Problem der literarischen Tradition in der DDR«, in: P.U. Hohendahl/P. Herminghouse (Hg.), Literatur der DDR in den siebziger Jahren, S. 13-52, hier S. 15f. 9 Sowohl in Sinn und Form als auch in den Weimarer Beiträgen wurde in der ersten Hälfte der 70er Jahren über die Rezeption von Klassik und Romantik und theoretische und politische Fragen literarischen ›Erbens‹ debattiert; vgl. Ehrlich, Lothar: »Die Klassik-Debatte in ›Sinn und Form‹ 1973/74«, in: Ders./Gunter Mai (Hg.), Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001, S. 109-126; P.U. Hohendahl: Theorie und Praxis des Erbens, S. 13 u. S. 19-27. 10 Vgl. Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 2005, S. 334-347. 11 Dies erfolgte durch Klassikerbearbeitungen wie Heiner Müllers Macbeth (uraufgeführt 1972) oder Hamletmaschine (erschienen 1977), Stefan Schütz’ Kohlhaas (veröffentlicht 1976, uraufgeführt 1978) sowie Hacks’ Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern (veröffentlicht und uraufgeführt 1975) und Pandora (veröffentlicht 1979, uraufgeführt 1982) – und -inszenierungen wie die Faust-Inszenierung von Adolf Dresen und Wolfgang Heinz von 1968 am DT, die Räuber (in Regie von Manfred Karge und Matthias Langhoff 1971 an der Volksbühne), Goethes Bürgergeneral (Karge und Langhoff 1976, Volksbühne) etc. (Zu den Inszenierungen s. P. Stuber: Spielräume und Grenzen, S. 230-233.). 12 Zu dieser Gruppe können u.a. Ulrich Plenzdorf, Christa und Gerhard Wolf, Günter Kunert, Franz Fühmann und Günter de Bruyn gezählt werden.

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sprach und sich für eine Neusichtung der romantischen Literatur nicht erwärmen konnte.13 Die hier skizzierten politischen und ästhetischen Dispute verliefen freilich weder streng parallel zueinander (in der Weise, dass die ›Kritiker‹ stets im literarischen Fundus der Romantik kramten und die ›Affirmativen‹ stets einer klassischen Ästhetik verpflichtet waren) noch dürfte es sich um jeweils klar herauspräparierte Parteien oder Gruppen handeln. Eine genaue Sichtung und Auswertung der ästhetischen Grabenkämpfe in der DDR würde fraglos ein vielfältiges und komplexes Bild liefern, das ich hier nicht umreißen kann – leider liegt dazu bis heute meines Wissens auch kaum brauchbare Forschungsliteratur vor.14 Der Impuls der verstärkten Romantikrezeption und die Hinterfragung der Vorbildfunktion der Klassik insbesondere in den 70er Jahren ist aber fraglos ein kritischer, der auf eine Infragestellung der sozialistischen Gegenwart abzielt und also der skeptischen Position in Hinblick auf die gesellschaftlichen Widersprüche im Sozialismus gut entspricht.15 Für zahlreiche AutorInnen und Intellektuelle fungierte die Zeit um 1800 als »Projektionsraum« (Christa Wolf),16 d.h. sie wurde als strukturanaloger Zeitraum zur Gegenwart begriffen.17 Die Literatur der deutschen Romantiker und Außen13 Hier ist in erster Linie Peter Hacks zu nennen; ferner die Dramatiker Rudi Strahl, Helmut Baierl und Benito Wogatzki, sowie Wolfgang Kohlhaase und Karl Mickel. 14 Derzeit bereitet Ronald Weber eine Dissertation vor, die diese Forschungslücke für den Zeitraum 1955 bis 1976 zu füllen beginnt; ihm verdanke ich hilfreiche Hinweise und Fingerzeige. 15 Dies wird beispielsweise deutlich, wenn Plenzdorf in den Neuen Leiden des jungen W. (1973) den jungen Goethe des Sturm und Drang gegen den bevorzugt rezipierten Goethe der Weimarer Klassik ins Feld führt; im Werther findet sein Protagonist Edgar Wibeau ein Spiegelbild der eigenen Sehnsüchte und Enttäuschungen. Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends (1979) enthält im Hinblick auf die Rolle einer handlungsohnmächtigen intellektuellen Avantgarde eine kritische Breitseite gegen ihre Gegenwart. Für weitere Beispiele s. z.B. W. Emmerich, Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 338-341. 16 Wolf, Christa: »Projektionsraum Romantik. Ein Gespräch«, in: Dies./ Gerhard Wolf: Ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht. Gesprächsraum Romantik, Berlin/Weimar: Aufbau, 1986, S. 376-393. 17 Bernd Leistner benennt als analogiebildendes Moment die jeweils »postaufklärerische Situation« (Leistner, Bernd: »Goethe, Hoffmann, Kleist et cetera. Zu einem Kapitel DDR-Literatur der siebziger, achtziger Jahre«, in: L. Ehrlich/G. Mai (Hg.), Weimarer Klassik in der Ära Honecker, S. 127135 hier S. 131), Hohendahl hingegen das »Leiden am zweckrationalen

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seiterfiguren jener Zeit wurde als Ausdruck von Konflikten aufgefasst, die denen der Gegenwart ähnelten. Kennzeichnend ist hier ein betont subjektiver Blickwinkel: die Kritik legitimiert sich aus den Bedürfnissen des Individuums gegenüber einer Gesellschaft, die seine Entfaltung einschränkt.18 Der kritischen Kanonrevision stand übrigens keine besonders repressive Kulturpolitik gegenüber; mit dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 hatte vielmehr eine Lockerung der kulturpolitischen Steuerung eingesetzt, basierend auf der Annahme, dass die »entwickelte sozialistische Gesellschaft«19 so gefestigt sei, dass sie auch auf dem Gebiet der Kultur keine »Tabus« mehr nötig habe.20 Vor dem Hintergrund der oben erwähnten Umorientierung der Gesellschaftswissenschaften begrüßten manche Kulturfunktionäre die Forderung nach Vorantreibung des revolutionären Prozesses sogar.21 Zugleich arbeiteten die GermanistInnen in der DDR an einer Revision der bis dahin von Georg Lukács geprägten Beurteilung des literarischen Erbes; die neue »Erbetheorie« sollte nun auch die bislang vernachlässigte romantische Tradition einbeziehen.22 Es wäre also verkürzt, davon auszugehen, dass der zunehmend kritischen künstlerischen Elite, die auf Einlösung emanzipatorischer Versprechen drängte

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Denken, Leiden an einem sozialen System, in dem der Erfolg mit der Auslöschung des Besonderen erkauft wird.« (P.U. Hohendahl: Theorie und Praxis des Erbens, S. 31). Vgl. W. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 293-317, sowie – speziell zum Drama – U. Profitlich: Das Drama der DDR, S. 114132. S.K. Hager: Die entwickelte sozialistische Gesellschaft, S. 24-28. Darauf wies Honecker auf der 4. Tagung des ZK der SED im Dezember 1971 unter Bezugnahme auf den VIII. Parteitag und die sich daran anschließenden Debatten noch einmal explizit hin (Auszüge der Rede finden sich in: Rüß, Gisela: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1971-1974, Stuttgart: Seewald Verlag 1976, S. 287f., Zitat S. 287). Mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976, die als Zäsur in der Literatur- und Kulturgeschichte der DDR betrachtet werden kann, wird die veränderte Konzeption der literarischen Traditionsbildung in der DDRLiteraturwissenschaft zwar fortgesetzt und konsolidiert, die Einflussmöglichkeiten der AutorInnen werden allerdings stärker eingeschränkt. Vgl. P.U. Hohendahl: Theorie und Praxis des Erbens, S. 45. Vgl. ebd., S. 32-34. An dieser Neusichtung und -bewertung der romantischen Literatur in den 70er-Jahren beteiligte sich auch Claus Träger; sein eingangs erwähnter Briefwechsel mit Hacks ist also auch in diesen Kontext eingeschrieben.

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und in den subjektiven und gebrochenen ästhetischen Experimenten der Romantik einen ihrer eigenen Enttäuschung über die nüchterne Realität des sozialistischen Alltags adäquaten Ausdruck fand, ein klassizistischer Parteiblock gegenüberstand. Dementsprechend kann auch Peter Hacks keinesfalls einfach als ›Parteiautor‹ betrachtet werden; für diesen zweifellos prominentesten (wenn nicht einzigen) Vertreter der »sozialistischen Klassik« stand eine positive Haltung zum real existierenden Sozialismus mit einer positiven und produktiven Klassikerrezeption nämlich sehr wohl in einem notwendigen Zusammenhang.23 Hacks’ poetologische Essays jener Zeit enthalten zahlreiche Bezugnahmen auf und Stellungnahmen zu diesem ästhetisch-politischen Streit um die Rezeption der literarischen Tradition und der adäquaten künstlerischen Gestaltung gesellschaftlicher Widersprüche und Perspektiven. Dasselbe gilt fraglos auch für seine dramatischen Bearbeitungen antiker, biblischer und mythologischer Stoffe, mit denen er sich beispielsweise von den Klassikadaptionen Heiner Müllers scharf absetzt.24 Diese Einbettung und Positionierung in den umrissenen Debatten soll im Folgenden anhand einer Untersuchung von Hacks’ Pandora aufgezeigt werden. In einem zweiten Schritt soll anschließend herausgestellt werden, in welcher Weise im Stück gesellschaftliche Problemstellungen dargeboten werden, also wie darin der Funktionszusammenhang von Gesellschaft und (tradierter) Kunst – der so etwas wie den theoretischen Bodensatz der Debatte darstellt – reflektiert wird. Hacks’ Pandora entstand im Jahr 1979, als die Revision der Klassikrezeption (bzw. der Erbetheorie) in der DDR bereits vollzogen25 und der Autor aufgrund seiner öffentlichen Positionierung in der Biermann-

23 Diese Auffassung resultierte bei Hacks ebenfalls aus einer Analogisierung der Zeit um 1800 mit der Gegenwart. Da ihm die gesellschaftliche Lage in der DDR Parallelen zum historischen Absolutismus aufzuweisen schien, analogisierte er auch die möglichen politischen und ästhetischen Haltungen und bezog, anstatt sich mit der romantischen Subjektivität zu identifizieren, aufseiten der Klassik Position. Vgl. hierzu Hacks, Peter: »Das Poetische. Vorwort«, in: Ders.: Werke 13, S. 7-11, hier S. 9f.; Ders.: »Versuch über das Theaterstück von morgen«, in: ebd., S. 20-37; Ders.: »Der Meineiddichter«, in: ebd., S: 258-272 (der Text ist auch eine nur leicht chiffrierte Invektive gegen Heiner Müller); Ders.: »Über eine Goethesche Auskunft zu Fragen der Theaterarchitektur«, in: ebd., S. 308-333; Ders.: »Ein Motto von Shakespeare über einem Lustspiel von Büchner«, in: ebd., S. 375-388 und natürlich Ders.: Zur Romantik. 24 Vgl. U. Profitlich: Das Drama der DDR, bes. S. 139-141. 25 Vgl. P.U. Hohendahl: Theorie und Praxis des Erbens, S. 37.

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Affäre in Ungnade gefallen war.26 Es handelt sich dabei gleich in zweifacher Hinsicht um ein Kind der Klassik – der aufgegriffene Stoff entstammt der griechischen Mythologie und Hacks’ Stück stellt zudem eine Bearbeitung des gleichnamigen goetheschen Festspiels von 1807 dar. Es war bereits die zweite Goethe-Bearbeitung aus Hacks’ Feder (nach Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern, das 1975 veröffentlicht und uraufgeführt wurde) und – unter Berücksichtigung des weltweit erfolgreichen Monodramas Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe (veröffentlicht und uraufgeführt 1976) – sogar das dritte Stück mit explizitem Goethe-Bezug, das Hacks innerhalb weniger Jahre vorlegte.27 Wie sich Hacks mit seiner Pandora in die Debatte um die Klassikfortführung bzw. -revision einschreibt, lässt sich zunächst daran ermessen, dass Hacks hier streng das von ihm selbst aufgestellte Kriterium befolgt, das er gegen die Tendenz zur kritischen Neusichtung und bearbeitung als allein gültige Lizenz zur Adaption eines klassischen Stücks aufstellt: seine Vervollständigung, sofern es fragmentarisch geblieben sei.28 Tatsächlich bearbeitet Hacks das Festspiel von Goethe nicht nur, sondern schreibt es weiter und verpasst ihm einen Schluss. Von Goethes Pandora gibt es bekanntlich nur einen »ersten Aufzug«. Für den zweiten existiert bloß ein nie ausgeführtes Schema von 1808, das den Titel Pandorens Wiederkunft zweiter Teil trägt.29 Von diesem Schema schreibt Hacks in einem 1980 veröffentlichten Essay zum Stück, dass Goethe es aus gutem Grund nie ausgearbeitet habe: Es sei gemäß der damaligen historischen Situation nicht zu machen gewesen – erst jetzt,

26 Hacks hatte den offenen Brief, in dem sich zahlreiche Intellektuelle und KünstlerInnen mit Biermann solidarisierten, nicht nur nicht unterschrieben, sondern auch einen Artikel veröffentlicht, in dem er die Ausbürgerung befürwortete. Vgl. Hacks, Peter: »Neues von Biermann«, in: Ders.: Werke 13, S. 273-277. 27 Zur speziellen Bedeutung Goethes als negativem Bezugspunkt einer klassikkritischen Neubewertung des Kanons vgl. B. Leistner: Goethe, Hoffmann, Kleist et cetera, S. 129. 28 Hacks, Peter: »Über das Revidieren von Klassikern«, in: Ders.: Werke 13, S. 166-182, hier S. 180. Der Text stammt von 1975, als (wie oben angemerkt) zahlreiche kritische, ›revidierende‹ Klassikadaptionen erschienen. Nicht zuletzt gilt Heiner Müllers Macbeth-Bearbeitung als letztes Siegel auf dem Bruch zwischen Hacks und Müller. 29 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 9, München: Carl Hanser 1987, S. 1146-1148.

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»vom Standpunkt des reifen Sozialismus her«, lasse es sich wieder schreiben.30 Man kann Hacks` Pandora also als positive Fortschreibung einer Perspektive lesen, die für Hacks in Goethes Festspiel bereits angelegt ist, aber erst unter den gesellschaftlichen Bedingungen der sozialistischen Gegenwart ausgearbeitet werden kann. Hier klingt ein Aspekt marxistischer Erberezeption im realen Sozialismus an, der als ›Vollstreckerthese‹ bekannt ist: Gemeint ist die Annahme, dass die Humanitätsversprechen der frühen bürgerlichen Gesellschaft erst im Kommunismus eingeholt werden könnten, die Sozialisten also die ›Vollstrecker‹ des bürgerlichen Humanismus seien;31 die ›Vollstreckerthese‹ wurde in den 70er Jahren im Rahmen der theoretischen Debatten um die Funktion des literarischen Erbes im Sozialismus verstärkt in Frage gestellt. Ob sie von Hacks hingegen bruchlos umgesetzt wird, lässt sich nur beurteilen, wenn man einerseits das Festspiel Goethes und andererseits seine Bearbeitung und Fortführung durch Hacks genauer in den Blick nimmt. Goethes Pandora behandelt den Widerspruch zwischen Tatleben und Kontemplation, Aktivität und Passivität, Arbeit und Kunst, Realität und Utopie. Die beiden Seiten dieser Opposition werden durch das Brüderpaar Prometheus und Epimetheus verkörpert. Prometheus, der die Menschen erschaffen hat, ist durchweg aufs Nützliche orientiert und steht, indem er die Menschen in der kollektiven Naturbeherrschung anleitet, für die gesellschaftliche Produktion und ihren Fortschritt. Epimetheus ist hingegen der Grübler, der rückwärts gewandte Melancholiker, der nach wie vor in der Erinnerung an das vergangene Glück eines Lebens mit Pandora schwelgt, der Dichter und Denker. Pandora und ihre erhoffte Wiederkehr stehen für die Versöhnung dieser Gegensätze. In Goethes »erstem Aufzug« findet diese Wiederkehr selbst nicht statt – sie war für den zweiten Teil vorgesehen –,32 sondern wird durch Läuterung und liebende Vereinigung der Kindergeneration als Möglichkeit vorgeführt und vollzogen: Phileros (Sohn des Prometheus) und Epimeleia (Tochter des Epimetheus und der Pandora), die durch Missverständnisse und Eifersucht zunächst entzweit werden, finden, nachdem sie durch Wasser und Feuer gegangen sind, schließlich zusammen. 30 Hacks, Peter: »Saure Feste. Zu ›Pandora‹«, in: Ders.: Werke 15, S. 238268, hier S. 267. 31 Vgl. hierzu bspw. Johannes R. Bechers Festrede zur Feier von Goethes 200. Geburtstag im August 1949, »Der Befreier«, in: Neues Deutschland vom 30.08.1949; abgedruckt in: Becher, Johannes R.: Verteidigung der Poesie. Gesammelte Werke, Bd. 13: Bemühungen I, Berlin/Weimar: Aufbau 1972, S. 263-302. 32 Vgl. J.W. Goethe: Sämtliche Werke 9, S. S. 1141.

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In Hacks’ Bearbeitung ist der Widerspruch zwischen den beiden Titanen durch verschiedene dramaturgische Eingriffe zusätzlich vertieft; bestimmte Aspekte ihrer Entgegensetzung (z.B. Prometheus’ Misogynie, Epimetheus’ Realitätsferne) sind stärker herausgearbeitet.33 Die »erste Handlung« spielt in der »Urzeit« und folgt weitgehend der goetheschen Vorlage. Die erste signifikante Abweichung ist an dem Punkt festzustellen, an dem sich bei Goethe Phileros und Epimeleia liebend vereinigen. In Hacks’ Stück wird Epimeleia am Ende der »ersten Handlung« von Phileros vergewaltigt; die Menschen lösen sich von der Vaterfigur des Prometheus und eignen sich die Güter der Erde, mithin die Produktion an – Phileros bietet sich ihnen als neuer Herrscher an. Die »zweite Handlung«, die sich auf keine ausgearbeitete klassische Vorlage (sondern auf eine Interpretation des oben erwähnten »Schemas«34) stützt, spielt, wie es im Text lapidar heißt: »später«. Zahlreiche Momente in Bühnenbild und Handlung weisen auf eine mythisch überformte Jetztzeit hin.35 Epimet33 Für eine detaillierte Untersuchung der Textkongruenz bzw. -abweichung zwischen beiden Fassungen vgl. Riedel, Volker: »Vom Festspiel zum Ideendrama. Peter Hacks’ Bearbeitung der Goetheschen ›Pandora‹«, in: Weimarer Beiträge 7 (1984), S. 1162-1186; hinsichtlich der Kontrastierung von Prometheus und Epimetheus s. ebd., S. 1166-1169. Vgl. auch Trilse, Christoph: »›Arbeit und Macht, Geist und Poesie – des Lebens Kräfte, meistre sie‹. Betrachtung zu Peter Hacks’ ›Pandora‹ nach Goethe nebst Essay ›Saure Feste‹«, in: Goethe-Jahrbuch 1984, S. 42-55, hier S. 48f. 34 Riedel meint, dass dem Schema eigentlich nur die Bevorzugung des Epimetheus entnommen ist (s. V. Riedel: Vom Festspiel zum Ideendrama, S. 1173). 35 So beschwert sich Epimetheus über das Kraftwerk, das sein Reich verunziert. Vgl. Hacks, Peter: »Pandora«, in: Ders.: Werke 6, S. 61-133, hier S. 101 (= im Folgenden: P). Epimeleia hat die Liebschaft ihres Ehemanns mit Elpore am Telefon belauscht (P: 109), die drei Titanenkinder kommen offenbar durch einen Autounfall ums Leben (P: 124) etc. Es ist übrigens nicht zweifelsfrei entscheidbar, ob die Handlung in einer kapitalistischen oder einer sozialistischen Gegenwart spielt: Zwar wäre es kurios, wenn Hacks die Menschheitsgeschichte vor dem Hintergrund einer Produktionsweise verhandeln würde, die sich in seinen Augen bereits überlebt hatte; auch deuten verschiedene Anspielungen auf die Honecker-Ära hin (s.u.). Andererseits fehlen gerade in den Verweisen auf die gesellschaftliche Produktion deutliche Markierungen spezifisch sozialistischer Prägung. Vgl. die sich u.a. auf diese Frage stützende Debatte zwischen Michael Mandelartz und Jens Mehrle: Mandelartz, Michael: »Jenseits und diesseits der Polarität. ›Pandora‹ von Goethe und Peter Hacks«, in: ARGOS 2 (2008), S. 31-57; Mehrle, Jens: »Der insgeheime Hacks. Zu Aufsätzen von Michael Mande-

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heus wurde von der Industrialisierungswut des Prometheus in den unwirtlichen Norden abgedrängt, die Kluft zwischen industrieller Realität (dem Reich des Prometheus) und utopischer Kunst (bzw. dem, was von Epimetheus’ Territorium noch übrig ist) ist nun noch größer. Phileros ist zu einem opportunistischen Herrscher geworden, der dem Volk nach dem Mund redet und über keinerlei gesellschaftlichen Weitblick verfügt. Seine Verbindung mit Epimeleia präfiguriert keine Liebesutopie, sondern ist zu einer spießig-verklemmten, im Grunde sexualitätsfeindlichen bürgerlichen Ehe herabgekommen. Für das utopische Versprechen, das in Goethes Festspiel angelegt ist, sind sie in Hacks’ Lesart völlig unbrauchbar, weshalb er die gesamte Kindergeneration kurzerhand durch einen Unfall ums Leben kommen lässt. Der Umschlagpunkt dieses, wie Hacks selbst schreibt, »Ideendramas«36 besteht in der Erkenntnis des Epimetheus’ vom dialektischen Gang der Geschichte: Epimetheus realisiert, dass die Zeit für Pandora noch nicht reif gewesen war und sie die Welt deshalb verlassen hat. Doch die Entfernung vom Ideal durch die unpoetische, in vielerlei Hinsicht auch destruktive Entwicklung der Produktivkräfte ist zugleich die Vorbedingung für die Wiederkehr der Utopie, die Realisierung wahrer Menschlichkeit auf höherer Stufe. Ansatzpunkt dieser Erkenntnis des Epimetheus ist das Versprechen, das Pandora vor ihrem Verschwinden gab: »Wenn sich der Inhalt wiederfindet einst zur Form,/Bin ich auch dir zurückgegeben und der Welt« (P: 126). Die »Form«, das sind die »Luftgeburten«, die sich im Gefäß der Pandora befunden hatten. Neben Symbolen der geschlechtlichen Lust (Bett), der konsolidierten Macht (Zepter) und der Kunst (Schildpattleier des Sängers) sind dies in Hacks’ Stück auch solche der Produktion und des materiellen Reichtums (des Schäfers Rocken, der Erntekorb der Schnitterin) (vgl. P: 67). Während diese in der »Vorzeit« nur als flüchtige Rauchgebilde aufstiegen (P: 68), hat sie der stets fortschreitende Schaffensdrang des Prometheus, soll heißen: die menschliche Arbeit, mit Inhalt gefüllt. Die von Prometheus vorangetriebene Steigerung der Produktivkräfte lartz und Ingo Way«, in: ARGOS 3 (2008), S. 241-262; Mandelartz, Michael: »Postscriptum vom Ende der Geschichte. Jens Mehrles Pandora und ihr Gegensatz«, in: ARGOS 4 (2009), S. 85-93. Meiner Auffassung nach sind je nach Referenzebene verschiedene Deutungen möglich und zulässig: In Hinblick auf die Stellungnahme im Traditionsdisput und anderen aktuellen Debatten scheint mir ganz klar die DDR Honeckers gemeint zu sein; was die menschheitsgeschichtliche Perspektive angeht, wird im Stück die ›Systemkonkurrenz‹ bzw. der Unterschied zwischen Sozialismus und Kapitalismus nicht maßgeblich reflektiert. 36 P. Hacks: Saure Feste, S. 266.

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steht der Wiederkehr des Ideals, der Realisierung der Utopie, also nicht im Weg, sondern ermöglicht sie erst. Epimetheus schließt daraus: Pandoras neuer Tempel ist die Fabrik. Ein allüberstrahlendes Licht verkündet am Schluss des Dramas ihre Wiederkehr (P: 123-133). Wenn Hacks im textbegleitenden Essay schreibt, Goethes utopischer Entwurf sei erst im Sozialismus ästhetisch zu bewältigen, so befindet er sich auch mit der Herausstellung des Produktivkraftfortschritts als (unschöner) Vorbedingung des dialektischen Umschlags in die befreite Gesellschaft37 auf dem geschichtsteleologischen Boden des MarxismusLeninismus. Allerdings kann das Stück nicht einsinnig als Eloge auf den Sozialismus gelesen werden. Denn obwohl es in einem Hymnus auf die Arbeit kulminiert und Prometheus’ notwendige geschichtliche Leistung auf dem Weg zu einer Realisierung der Utopie gewürdigt wird, ist nicht er es, dem die neue Zeit gehört. Als sich die Wiederkehr der Pandora durch das Licht ankündigt, will Epimetheus seinem Bruder, dem »Tätigen«, zuerkennen, was ihm gebühre. Er habe Pandora verdient. Prometheus antwortet jedoch: »Dein Anspruch wiegt millionenfach, du liebest sie.« – Worauf Epimetheus abschließend zustimmt (»So ist es, Bruder, und du weißt es, sagst es nun.«; P: 132) und sich bei fallendem Vorhang der Pandora entgegen wendet. Nicht der Vater der Arbeit ist es, der die durch ihn selbst bewerkstelligte Befreiung schlussendlich genießt; die Zukunft gehört der schönen Kunst, der Liebe und der Muße. Hacks bezeichnet diesen Triumph des Epimetheus, den er bei Goethe schon angedeutet findet, als eigentliches Skandalon seiner eigenen Bearbeitung: »Epimetheus’ Sieg indessen zeigt, daß die klassische Kapitalismuskritik bis noch jetzt [sic] die weiterreichende geblieben ist und über die des Sozialismus hinausgeht; die Verklärung des Epimetheus ist die unverfrorenste und aufregendste aller Vorwegnahmen.«38

37 So wird das zumindest von den meisten KritikerInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen beurteilt. Es gibt aber auch andere Stimmen – so hat Mandelartz in jüngerer Vergangenheit seine Lesart der Pandora als »Drama der Abschaffung des Menschen« dargelegt; in der Pandorafigur ist seiner Auffassung nach nicht die emanzipierte Menschheit verkörpert, sondern eine »allumfassende, selbstbezügliche Herrschaft des Kapitalismus«. Ders.: Jenseits und diesseits der Polarität, S. 55 und 52). 38 P. Hacks: Saure Feste, S. 267.

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Anders als die klassikkritischen Zweifler an der Genialität Goethes,39 aber auch im Unterschied zu einer Rezeptionstradition, die im Sozialismus bereits die Erfüllung klassischer Utopien sieht, wertet Hacks das Ideal des allseitig ausgebildeten Menschen so stark auf, dass es weit über den Sozialismus hinausweist. Seine positive Bezugnahme auf die Weimarer Klassik ist also kein negatives Spiegelbild der Romantik-affinen Gesellschaftkritiker, sondern zeichnet eine ästhetische Überschreitung der Gegenwart ins Utopische nach.40 Wie schlecht der reale Sozialismus der 70er-Jahre in Hacks’ Pandora wegkommt, zeigt ein Blick auf die Behandlung der Kindergeneration, mit der Hacks seine Gegenwart abfertigt, indem er sie kurzerhand auf der Müllhalde der Geschichte landen lässt. Auf Phileros, Epimeleia und Elpore (die zweite Tochter Pandoras) werden in der »zweiten Handlung« alle Abscheulichkeiten »grauenvollster Zwischenzeit« konzentriert: Die »Dreifache Aufzucht«, die Pandora hinterlassen hat, stelle einen »Tausch zum Schlechtern dar«, meint Epimetheus nach dem Tod der drei. Als Verkörperungen »halbe[n] Fühlen[s], halbe[n] Hoffen[s], halbe[n] Tun[s]« (P: 125) seien sie einzig als vorübergehende Platzhalter geeignet gewesen. Nun lassen sich die drei Titanenkinder allerdings in verschiedener Hinsicht als politische und künstlerische Elite der DDR interpretieren. So ist in Phileros durch zahlreiche Anspielungen eine Karikatur Erich Honeckers angelegt: Als der Titanensohn angesichts der Emanzipation der Menschen von Prometheus diesen auffordert, die »edle Wut der Menge« nicht aufzuhalten, kontert sein Vater mit dem Kalauer, es handle sich hier wohl um »Hohneckerei« (P: 97).41 Und Phileros fordert

39 Günter Kunert bezeichnet Goethe in seinem Pamphlet für K. 1975 als »Vielzuvielschreiber« und ortet in dessen Diffamierung der Romantik als ›krank‹ faschistoide Momente; er setzt diese Auffassung in Notwendiges Nachwort zum »Pamphlet« explizit von einer bisher verbindlichen, seiner Meinung nach idealisierend-projektiven Klassikerrezeption ab. Vgl. Kunert, Günter: »Pamphlet für K.«, in: Sinn und Form 5 (1975), S. 10911094, (Zitat auf S. 1092) sowie Ders.: »Notwendiges Nachwort zum ›Pamphlet‹«, in: ebd., S. 1094-1097). 40 Vgl. den Kommentar Gunnar Müller-Waldecks anlässlich der Publikation von Pandora in: Ders.: »›Pandora‹ von Peter Hacks. Für und Wider«, in: Weimarer Beiträge 12 (1981), S. 59-62, bes. S. 60. 41 In der Erstveröffentlichung des Stücks taucht diese explizite Erwähnung Honeckers nicht auf; stattdessen heißt es hier: »Du baffst und belferst« (Hacks, Peter: Pandora. Drama nach J.W. Goethe. Mit einem Essay, Berlin/Weimar: Aufbau 1981, hier S. 50). In einer anderen Ausgabe von 1985 ist die erwähnte Anspielung auf Honecker hingegen zu finden (Hacks, Pe-

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die entmachtete Vätergeneration auf, sich in Schlafrock und Zipfelmütze zu kleiden (P 98) – eine Anspielung auf die Demütigung Walter Ulbrichts, von dem anlässlich seines 78. Geburtstags auf Seite 3 des Neuen Deutschland ein Foto im Schlafrock veröffentlicht wurde, auf dem Honecker per Handschlag gratuliert.42 Zugleich werden in Phileros’ autoritätsfreier, aber auch planloser Politik die politischen Forderungen der jungen, aufbegehrenden DDR-Intellektuellen persifliert. Und ganz richtig haben zeitgenössische Kritiker erkannt, dass in der Abkanzelung der Jungen auch eine barsche Zurückweisung der jungen DichterkollegInnen steckt.43 Während diese in Hacks’ Stück in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, erweist sich das nach vorne projizierte Ideal des Epimetheus, des klassischen Dichters, als zukunftsweisend. Die humanistischen Ideale sind in Hacks’ Pandora im Sozialismus seiner Gegenwart also nicht bereits ›vollstreckt‹, sondern als Potenz angelegt. Peter Uwe Hohendahl fasst in einem 1983 veröffentlichten Band zur Literatur der DDR in den 70er Jahren das veränderte Theorieverständnis, das sich im Verlauf der Erbedebatte in der Kunst und Literaturwissenschaft herauskristallisierte, als »Tendenz« zusammen, »den Wert [der tradierten Kunstwerke] in den Akt der Aneignung zu verlegen. Anders gesprochen: die Funktion, nicht der Gehalt entscheidet über die Signifikanz eines vergangenen Werkes oder einer früheren Epoche.«44 In dieter: Stücke nach Stücken 2, Berlin/Weimar: Aufbau 1985, S. 200), während sie in dem 1989 bei Reclam Leipzig erschienenen Neudruck wieder fehlt. Vgl. Hacks, Peter: »Pandora«, in: Peter Reichel (Hg.), Die Übergangsgesellschaft. Stücke der achtziger Jahre aus der DDR, Leipzig: Reclam 1989, S. 5-62, hier S. 33. 42 Siehe Neues Deutschland vom 01.07.1971, S. 3. Hacks beschrieb die Demütigung Ulbrichts in der 1983 entstandenen Ballade Der Fluch noch einmal (in: P. Hacks: Werke 1, S. 201-203). Hier heißt es »Eine Zipfelmütze/ Ward ihm angetan, ein maßgerechter/Schlafrock, der die Taperglieder schütze« und »Doch der Oberste der Dilettanten/Machte sich zum Festtagsgratulanten« (gemeint ist Honecker); ebd., S. 201. 43 Vgl. G. Müller-Waldeck: »Pandora« von Peter Hacks, S. 61; Stellmacher, Wolfgang: »›Pandora‹ von Peter Hacks. Für und Wider«, in: Weimarer Beiträge 12 (1981), S. 69-71, hier S. 71; V. Riedel: Vom Festspiel zum Ideendrama, S. 1183. Trilse fragt vorsichtig: »Ob das eine verkappte Literaturdebatte sein soll? Spielt Hacks hier auf eine ihm unwesentlich erscheinende Zwischenzeitgeneration an?« (Ders.: Arbeit und Macht, S. 51f.) 44 P.U. Hohendahl: Theorie und Praxis des Erbens, S. 39. Sinnfällig wird die Umorientierung der Debatte auf einen differenzierten Funktionszusammenhang zwischen tradierter Kunst und gegenwärtiger Rezeption und Weiterverarbeitung z.B. in Kaufmann, Hans: »Zehn Anmerkungen über das

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sem Sinne benutzt Heiner Müller z.B. Shakespeares Macbeth als Grundlage, um äußerste Grausamkeit mit rücksichtsloser Machtpolitik epochenumspannend zu verknüpfen. Hacks arbeitet im Gegensatz dazu nicht die Schattenseiten des Erbes heraus; vielmehr aktualisiert er in Pandora den utopischen Impetus der deutschen Klassik, den er für seine Gegenwart produktiv zu machen sucht. Die Funktion der Bezugnahme liegt in der Aufnahme und Weiterführung der ästhetisch gestalteten Utopie; die Blickrichtung geht demnach nicht zurück, sondern nach vorne, in die Zukunft. Dass damit eine durchaus harsche Kritik an der sozialistischen Gegenwart verbunden ist, wurde in Artikeln, die aus Anlass der Erstveröffentlichung (1981) erschienen, bemerkt und benannt.45 Doch anders als bei den AutorInnen, die ihre Kritik an die Tradition der deutschen Romantik zurückbanden, speist sich die Infragestellung der Gegenwart bei Hacks nicht aus der Subjektivität des Individuums, dem die sozialistische Gesellschaft die freie Entfaltung verwehrt, sondern aus dem menschheitsüberspannenden Geschichtsverlauf – womit die zweite der oben gestellten Frage berührt wird, nämlich die nach dem Modus gesellschaftlicher Verständigung und politischer Problembewältigung im Kunstwerk. Denn Pandora ist mehr als ein Anti-Honecker-Stück oder eine Kampfschrift gegen die Romantikrenaissance. Dies kann abermals an der Figur des Phileros verdeutlicht werden, dessen negative Schlagseite bereits beleuchtet wurde. Zwar wird er als Herrscher im Zwiegespräch mit dem Chor der Arbeiter als unfähig und opportunistisch desavouiert und seine anfängliche Liebesutopie degeneriert zu misslaunigem Frauenhass, doch kennzeichnen ihn im Handlungsverlauf auch zwei deutlich positive Momente, ein geschichtsphilosophisches und ein dramaturgisches.46 Geschichtsphilosophisch kann die Emanzipation der Menschheit von Prometheus im Stück als die ursprüngliche Inbesitznahme der Erde durch den Menschen, den Beginn der Zeit überhaupt interpretiert werden (man erinnere sich: der Umschlagpunkt von der »Urzeit« der ersten Handlung zum »Später« der zweiten Handlung). Dies kennzeichnet zugleich den Erbe, die Kunst und die Kunst des Erbens«, in: Ders. (Hg.): Positionen der DDR-Literaturwissenschaft. Auswahl aus den Weimarer Beiträgen (19711973), Bd. 2, Kronberg/Taunus: Scriptor 1974, S. 251-270. 45 Vgl. z.B. G. Müller-Waldeck: »Pandora« von Peter Hacks, S. 60; V. Riedel: Vom Festspiel zum Ideendrama, S. 1179f. 46 Auf diesen Aspekt hat mich Jens Mehrle in einer Diskussion über das Stück aufmerksam gemacht. Vgl. auch J. Mehrle: Der insgeheime Hacks, S. 247f.

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Beginn von Phileros’ Herrschaft. Man kann auch sagen, er steht für die Ablösung der patriarchalischen Autorität des Vaters durch eine selbstgewählte Form des gesellschaftlichen Miteinanders, funktioniert also als abstrakte Chiffre für den Staat. In derselben Bewegung findet übrigens die gewaltsame Unterwerfung der Frau statt (die Vergewaltigung Epimeleias), die an der Inbesitznahme der Erde nicht partizipiert.47 Dramaturgisch betrachtet schwingt sich Phileros an diesem Punkt der Handlung über die Titanen auf. Der Großteil seiner Herrschaft wird durch den Bruch zwischen erster und zweiter Handlung zwar übersprungen – wir treffen ihn erst im Stadium seines Machtverfalls wieder – doch dürfte er sich in der Zwischenzeit souverän behauptet haben. In der menschheitsgeschichtlichen Perspektive, die das Drama aufmacht, werden Honecker und die DDR-Elite als Verfalls- und Schwundstufen eines notwendigen Prinzips gekennzeichnet, nämlich der Loslösung aus der Gentilgesellschaft, der Herausbildung unabhängiger gesellschaftlicher Verkehrsformen und der dialektischen Bewegung der Geschichte in Widersprüchen. Anders ausgedrückt: Das DDR-Publikum, für das das Drama intendiert war, wird eingeladen, sich bzw. den eigenen Staat in der Menschheitsgeschichte zu verorten. Es handelt sich um eine hochverdichtete Kulturgeschichte aus dem Blickwinkel der DDR – und umgekehrt: um ein Bild der DDR aus dem Blickwinkel der Kulturgeschichte. Indem die DDR-Gegenwart mythologisiert wird, erhält sie natürlich auch mythologische Weihen – ein Unterfangen mit ein wenig megalomanischen Anklängen. Von diesem Standpunkt aus wird im Handlungsverlauf des Stückes angeboten, den dialektischen Umschlag der Geschichte in die Utopie zu denken, und zwar just in der Phase ihres Niedergangs. Der Kunst kommt dabei eine zweifache Rolle zu – sie ist vornehmlicher Inhalt und Vollzugsorgan der Utopie: Auf der Handlungsebene triumphiert in der Versöhnung von Arbeit und Muße, Disziplin und Freiheit, Tat und Gedanke letztendlich der Dichter, Epimetheus. Auf der metatextuellen Ebene wird genau dieser Vorschlag in Form eines dramatischen Kunstwerks formuliert, das sich eines komplexen Versmaßes (zumeist des jambischen Trimeters) und einer hoch artifiziellen Sprache bedient. Es ist dabei nicht so sehr Instrument einer konkreten Kritik an politischen Verhältnissen,48 47 Vgl. den Zusammenhang von ökonomischer und politischer Organisation der Gesellschaft, Familie und Geschlechterverhältnis in Engels, Friedrich: »Über den Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«, in: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Bd. 21, Berlin: Dietz 1979, S. 25-173. 48 Hacks bestreitet in seinen essayistischen Äußerungen im Lauf der Zeit immer vehementer, dass Utopien überhaupt geeignet seien, für politische For-

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sondern Medium eines ästhetischen Verständigungsprozesses; es ermöglicht das sinnliche ›Durchspielen‹ gesellschaftlicher und historischer Verläufe und Entwicklungen in Anlehnung an den Spielbegriff Schillers.49 In der Perspektivierung auf den bisherigen und vorausprojizierten Verlauf der Menschheitsgeschichte ausgehend vom Arbeiter- und Bauernstaat schließt Hacks den antiken Mythos, die Weimarer Klassik und ihre sozialistische Aktualisierung in seinem »Ideendrama« zusammen. Anstatt anhand von Goethe diejenigen Misslichkeiten der bürgerlichen Klassengesellschaft aufzuzeigen, die auch im realen Sozialismus noch spürbar sind, fokussiert seine Pandora-Bearbeitung auf den utopischen Gehalt des goetheschen Festspiels. Dem Kunstwerk ist so die Funktion zugewiesen, das Fortschreiten der Geschichte in Richtung auf die Utopie zur Debatte zu stellen und gegenwärtige Zustände in diesem Lichte zu befragen. Zugleich wird die Utopie aber auch auf den Boden der Kunst zurückgeholt: Dass unfähige Herrscher einfach vom Spielbrett der Geschichte verschwinden und die Befreiung und Versöhnung gesellschaftlicher Widersprüche ganz ohne menschliches Handeln vom Olymp herabsteigt, ist nur »vorgestellte Praxis«, also nur in der Kunst möglich.

derungen Pate zu stehen; vielmehr handle es sich eben um Nicht-Orte, die ihren Platz in der Literatur, nicht aber im Tagesgeschäft hätten. Da er die Benutzung des Utopiebegriffs für diese Zwecke für missbräuchlich (und schließlich konterrevolutionär) hielt, verwandte er zunehmend den Begriff des »Ideals«, um sich davon abzusetzen. Siehe den 1976 veröffentlichten Text »Glossen zur Untersuchung«, in: P. Hacks: Werke 13, S. 235-238 bzw. »Die Schwärze der Welt am Eingang des Tunnels«, in: Ders.: Werke 13, S. 477-501, wo es heißt: »Utopie ist derzeit einfach das Wort für Gegenrevolution.« Ebd., S. 490. 49 Vgl. »Gespräch mit Peter Hacks«, in: P. Hacks: Werke 13, S. 160-165. Auf die Frage nach der möglicherweise veränderten, neuen Funktion des Theaters (das Gespräch wurde Mitte der 70er-Jahre geführt) antwortet Hacks: »Was ist neu? Ich müßte mich sehr irren, oder Kunst hat nie einen anderen Sinn gehabt als: leben üben. Wieso aus dieser alt (sic) und richtigen Feststellung folgen soll, daß auf der Bühne keine Stücke mehr gespielt werden, sondern mäßig geschickte Akrobaten Leibesübungen durchführen, leuchtet mir nicht recht ein. Es ist doch ein Unterschied zwischen, sagen wir, dem ästhetischen Spiel im Schillerschen Sinne und dem Kinderspiel im Sandkasten. Das ganz Neue an der neuesten Theorie ist, daß der Spielbegriff von Schiller auf den der Dreijährigen gebracht ist. Das Publikum übt jetzt laufen statt, wie früher, sich in der Welt verhalten. Aber das scheint mir ziemlich überflüssig; die meisten Leute, die im Theater sind, können schon laufen; wie wären sie denn sonst hereingekommen?« Ebd., S. 161f.

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HEINER MÜLLER: A M E R I K A N I S C H E H E T E R O T O PI E JEAN JOURDHEUIL

Die Ostberliner Theaterlandschaft der 70er Jahre sah sich ständigen seismischen Erschütterungen ausgesetzt, in einer chronischen Krisensituation fügte sie sich immer wieder neu zusammen. Ruth Berghaus, 1971 an die Spitze des Berliner Ensemble berufen, hatte Müller und Tragelehn wieder in die Berliner Theaterwelt integriert, und Einar Schleef in den Brechtkreis eingeführt. 1977 wurde Berghaus verabschiedet. Benno Besson, seit 1969 Chefdramaturg an der Volksbühne, wurde 1974 deren neuer Direktor. Karge und Langhoff, die in den 60er Jahren unter der Protektion von Helene Weigel standen, während Heiner Müller aus der Theater- und Literaturgemeinschaft ausgeschlossen war – jene ›Burschen‹, die sich darin übertrafen, den Brecht der 20er und 30er Jahre zur Ikone zu erheben – gingen an die Volksbühne zu Benno Besson, jenem brechtschen »Renegaten« der 50er Jahre, der sein Ensemble vervollständigte, indem er Fritz Marquardt als dritten Regisseur engagierte.1 Begünstigt durch das Ereignis eines Mikro-Festivals unter dem Namen »Spektakel«, das nicht der Vorzensur unterlag, gelang es ihnen, an der Volksbühne zunächst eine Einzelszene aus dem kurz darauf fertig gestellten Stück Die Schlacht zur Aufführung zu bringen; es folgten dann 1975 Traktor und Die Schlacht. Die Biographien von Müller, Karge, Langhoff, Besson, Berghaus laufen auseinander; Missverständnisse, Ambivalenzen, widrige Zwischenfälle, Meinungsdivergenzen häuften sich dort, wo die Geschichte aus der Distanz rückblickend ein homogenes Ensemble sieht. Als Ruth Berghaus 1977 das Berliner Ensemble verließ, fand sich Heiner Müller keineswegs arbeitslos auf der Strasse wieder. Benno Besson schlug ihm vor, an die Volksbühne zu kommen, um dort eine Funktion einzunehmen, die derjenigen entsprach, die er selber an der Seite von Ruth Berghaus am Berliner Ensemble innehatte, das

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Fritz Marquardt inszenierte 1975 Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande unter dem Titel Die Bauern an der Volksbühne.

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heißt als ›Dramaturg‹. Aber in diesem wie auch in dem anderen Fall entsprach seine Rolle keineswegs der gewöhnlichen Funktion eines ›Dramaturgen‹ und überschritt diese weitgehend.2

D i e e r st e A m e r i ka r e i s e ( 1 9 7 5 - 7 6 ) Zwei Jahre zuvor hatte Heiner Müller eine Einladung von Betty Nance Weber akzeptiert, als Gastprofessor an die Universität von Austin (Texas) zu kommen, und wie durch ein Wunder wurde ihm ein Visum ausgestellt. Von 1975 bis 1976, das heißt insgesamt neun Monate, hielt sich Müller in den Vereinigten Staaten auf. Diese Unterbrechung seiner Berliner Existenz ist entscheidend für die spätere Rezeption seines Werks und speziell für die Form, die dieses nach seiner Rückkehr annehmen wird. Nach diesem USA-Aufenthalt fallen Müllers Texte wesentlich radikaler, das heißt gewagter sowie innovativer aus, sie werden die in Ostberlin herrschenden Normen und Toleranzschwellen deutlich überschreiten. Dabei werden die in mehreren seiner früheren Werke auf diskrete Weise bereits angelegten Potentialitäten zutage gefördert. Dieser Aufenthalt bedeutete eine Wende: Der ostdeutsche Autor verlässt Deutschland, macht sich aus dem Staub, entkommt dem Berliner Kessel des ›germanischen‹ Vorstellungs- und Bildkomplexes sowie dem der Beziehungen zwischen den beiden Deutschland, die sich zurückgezogen hatten auf das, was sie verbindet und was sie trennt: Kesselschlacht im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser so wichtige biographische Moment findet in

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Wenn man die Inszenierung von Zement am Berliner Ensemble in Betracht zieht, sowie das gescheiterte Projekt einer Macbeth-Inszenierung am Berliner Ensemble, ferner die Inszenierungen von Die Bauern und Die Schlacht an der Volksbühne, so wird deutlich, dass Heiner Müller, wenn auch immer noch marginalisiert, eine zentrale Figur des Ostberliner Theaterlebens geworden war. Eine für die Regierung höchst lästige Frage zeichnet sich ab: Wäre es in Anbetracht der Bedeutung des Werks dieses Autors für das Theaterleben Ostberlins nicht wünschenswert, dass Müller über ein eigenes Theater verfügt, ein Theater, dessen Stützpfeiler er wäre, wie Brecht es für das Berliner Ensemble war? Natürlich war die Regierung der DDR hinsichtlich einer solchen Eventualität radikal feindlich eingestellt, genauso wie nach der Wiedervereinigung der Berliner Senat, im Kontext der 90er Jahre, einer solchen Hypothese radikal ablehnend gegenüber stand. Dies ist auch der Grund dafür, dass Heiner Müllers Einfluss am Berliner Ensemble in Form einer bloßen Teilnahme an der Intendanz (Langhoff, Marquard, Palitzsch, Zadek) eingeschränkt wurde.

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Jan-Christoph Hauschilds Biographie Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel wenig Beachtung.3 Von den beiden ostdeutschen Verfasserinnen der Autobiographie Krieg ohne Schlacht, Renate Ziemer und Katja Lange-Müller,4 wird dieser Aspekt auf drei bis vier Seiten abgehandelt und lediglich aufs Anekdotische reduziert. Der Amerika- Aufenthalt ist aber von grundlegender Bedeutung insofern, als der Autor zum ersten Mal und auf längere Zeit in physischer, geistiger und literarischer Hinsicht dem Geflecht der deutsch-deutschen Beziehungen entkommt.

Die Diskussion an der Madison University Die Diskussion an der Universität von Madison im November 1975 zwischen Heiner Müller und einer Gruppe amerikanischer Germanisten über die Darstellung der Geschichte im zeitgenössischen Drama5 vermittelt einen Eindruck von der intellektuellen Bedeutung dieses Aufenthalts in den USA. Obwohl zahlreiche dieser Germanisten Marxisten oder Lukacs-Anhänger waren, bewegte sich Heiner Müller in intellektuellen Räumen, den öffentlichen Räumen von Theater und Universität, die sich von denen unterschieden, die er in der DDR bzw. im geteilten Deutschland gekannt hatte. Auf eine Weise wie nie zuvor sprach Müller von seinen eigenen Texten, von Bertolt Brechts Werk, sowie von verschiedenen anderen Autoren. So verwies er insbesondere, und dies mit ausdrücklichem Vergnügen, auf Samuel Beckett und Antonin Artaud. Da er sich in

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Das Bildmaterial präsentiert allerdings zwei Photos mit Ginka Tscholakova in Austin (Texas); auf einem dieser Photos, vermutlich von Francis Ford Coppola aufgenommen, kann man Jean-Luc Godard erkennen. Renate Ziemer und Katja Lange-Müller haben das Buch auf der Grundlage von Tonbandaufnahmen mit Müller verfasst. Müller hat die ersten Kapitel aufmerksam korrigiert und teilweise neugeschrieben, und zwar bis zu der Affäre mit dem Stück Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande, das heißt bis zum Jahr 1961 inklusive. Die folgenden Kapitel enthalten eine Menge von interessanten Bemerkungen und Formulierungen, aber er hat nicht die Zeit gehabt, sie neu zu schreiben, weshalb ihre Struktur anekdotisch, oberflächlich und journalistisch geblieben ist. »Geschichte und Drama«, Gespräch aufgezeichnet von Reinhold Grimm, zuerst erschienen in: Basis. Jahrbuch für deutsche Gegenwartsliteratur, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1976, hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand. Nunmehr unter dem Titel: »Einen historischen Stoff sauber abschildern, das kann ich nicht«, in: Müller, Heiner: Gespräche 1 (= Werke, Bd. 10), hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 74-98.

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den USA befand, dachte er notgedrungen an die Tatsache, dass der exilierte Brecht sich dreißig Jahre vorher, in den 40er Jahren, dort aufgehalten hatte: »Der Kreidekreis ist in Hollywood geschrieben und davon nicht unbeeinflusst […]. In Hollywood war er ganz einfach auf die Fabel verwiesen. Das ist derselbe Weg, den Schiller in Jena gegangen ist.«6 So wird Hollywood, nach Müller, zum »Weimar der deutschen Emigration«, eine natürlich ketzerische These in den Augen der brechtschen Orthodoxie. Für die Veröffentlichung wird er übrigens einige seiner Aussagen entschärfen sowie Streichungen vornehmen mit der Begründung: »nicht alles, was man in Amerika sagen kann, kann man in der BRD drucken.« (sic)7

D i e V e r e i n i g t e n S t a a t e n i m We r k v o n Heiner Müller und die Welturaufführung von Mauser Was entdeckt Heiner Müller in den Vereinigten Staaten? Den amerikanischen Universitäts-Campus, die Autofriedhöfe, die Konsumgesellschaft, eine multikulturelle Gesellschaft. Aber vielleicht auch die Romane, die einige Jahre zuvor erschienen waren: Gravity’s Rainbow von Thomas Pynchon und Crash von J.G. Ballard, ein englischer Autor mit einer besonderen Neugier für die amerikanische Bilder- und Vorstellungswelt. Und dann eine bestimmte Vorstellung des Raums, mit der ihn Europa nicht vertraut gemacht hatte, sowie die Tatsache, dass der Begriff der Landschaft auf die Literatur und die Dramaturgie (die »landscape plays« von Gertrude Stein) übertragen werden kann. Ich kann mir auch vorstellen, dass er die Gedichte von Ezra Pound wieder gelesen hat, der ihm nicht ganz unbekannt war. Er zitiert ihn in Hamletmaschine (1977): »Die erniedrigten Leiber der Frauen/Hoffnung der Generationen/In Blut Feigheit Dummheit erstickt/Gelächter aus toten Bäuchen«. Zu diesem Zeitpunkt hat er vermutlich auch The Hamlet von Archibald MacLeish gelesen, der in den 20er Jahren von T.S. Eliot und Ezra Pound beeinflusst worden war, bevor er während des Zweiten Weltkriegs Berater von Roosevelt und nach dem Krieg Professor für Rhetorik in Harvard wurde. Archbald MacLeish war es, der Ezra Pound 1958 aus dem Saint Elisabeth Hospital herausholte.

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Ebd., S. 74 u. 77. Ebd., S. 819. Heiner Müller war seit Mitte der 70er Jahre in Kreisen der amerikanischen Hochschul-Germanistik bekannt.

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In Begleitung eines Journalisten, der Charles Manson gekannt hatte, jenen Inspirator und Mittäter des Massakers, bei dem Sharon Tate umgekommen war, besuchte Heiner Müller die Orte, an denen sich Manson aufgehalten hatte und wohnte eine Zeitlang in einem Haus vis-à-vis der Villa, wo der Mord stattgefunden hatte.8 Charles Manson, der Mörder, sollte für ihn zu einer emblematischen Figur der USA werden. Ich kann ihn mir während dieses Aufenthaltes auf den Spuren von Foucault vorstellen; in einer Gesellschaft, in der sich die Phantasiewelt der Übertretungen anders zusammensetzte: Sex, Wahnsinn, Mord, Terrorismus. Heiner Müller hatte einen Sinn dafür, stets das Passende zum rechten Anlass zu tun: An der Universität von Austin (Texas) inszenierte er mit einer ausschließlich von Studentinnen zusammengesetzten Truppe endlich Mauser, es war die Welturaufführung des Stücks. Der Ort der Proben und der Aufführung befand sich im schwarzen Viertel von Austin.9 Man würde gerne mehr über diesen Aufenthalt wissen, sich ihn, wenn auch nur bruchstückhaft, vorstellen können. Zwei spätere Stücke: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei (1976) und Hamletmaschine (1977) beziehen sich auf diesen Aufenthalt. Es ist, als tauche der Autor in seinem Werk auf, um in beide Stücke ein biographisches Bruchstück einzufügen, eine Allegorie seines Amerikaaufenthaltes: das Triptychon Lessings Schlaf Traum Schrei, in dem er hinter der Maske Lessings – und Lessing selbst hinter der ›seines‹’ Spartacus – erscheint; die Sequenz »Schlacht um Grönland« in Hamletmaschine. Die in das Stück Zement von 1972 eingefügten Texte Hérakles 2 und Hydra waren noch in der dritten Person geschrieben, die späteren Texte, manchmal auch Traumberichte wie die Sequenz »Der Mann im Fahrstuhl«10 in Der Auftrag von 1979, schreibt Müller dagegen in der ersten Person. Dieser biographische Moment prägt gewisse Aspekte des späteren Werks von Heiner Müller. Die Aufenthalte in den USA von 1975-76 und von 1977 sind als Unterbrechungen zu verstehen. In ihnen fügen sich zwei Erfahrungen, zwei imaginäre Komplexe ineinander: der des sozia8

Müller, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992, S. 283. 9 Ebd., S. 285. 10 Dieser Text ist eine Anspielung auf einen Aufenthalt in Mexiko (und nicht in Peru), einen Ausflug während des Amerikaaufenthaltes 1975/76 oder auf eine spätere Reise. Mexiko war in den 40er Jahren der Exil-Ort von Anna Seghers, von der Müller mehrere Motive in seinen Stücken übernommen hat, insbesondere in Der Auftrag (1979). Die entsprechende Erzählung von Seghers trägt den Titel Das Licht auf dem Galgen.

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listischen Nachkriegsdeutschlands zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, welcher sich in die Dauer einschreibt, und dann der überraschende und zeitlich begrenzte seiner Entdeckung einer anderen Gesellschaft, derjenigen der USA mit ihren verschiedenen Facetten. Die beiden Aufenthalte bewirkten das Auftauchen eines ›anderen Raums‹ im Leben und im Schreiben Heiner Müllers, der sich in den Theatern der DDR, zwischen Kantine und Probenraum dank der freundschaftlichen und professionellen Beziehung zu Bob Wilson, verwirklichen wird, angefangen mit CivilWar’s: a tree is best measured when it is down von 198411 bis hin zu The Forest von 1988. Die Theater der BRD wurden von nun an zu möglichen Wirkungsstätten Heiner Müllers. Die Lesung des Textes von Louis Aragons Lettre ouverte à André Breton in der englischen Übersetzung von Stefan Brecht Ende der 70er Jahre – ein Text, der 1970 nach einer Aufführung von Deafman glance (Regard du sourd) in Paris geschrieben wurde – hat ohne Zweifel bei Müller das Interesse bestärkt, das er schon seit einigen Jahren sowohl für das Theater von Bob Wilson als auch für den Surrealismus12 hegte. Aragons Text war ein intellektueller coup de théâtre, gleichzeitig pathetisch, schamlos und ein wenig kitschig, mit dem der alte kommunistische Dichter mit Autorität und nicht ohne Bravour eine Brücke schlägt zwischen seinen Jugendfreundschaften, das heißt seinem literarischen Surrealismus der 30er Jahre, und der Ästhetik von Bob Wilson.13 Nach seiner Mitarbeit an dem deutschen Teil von Civil War’s: a tree is best measured when it is down, unterschied sich Heiner Müllers Urteil über die Ästhetik und das Vorgehen von Wilson beträchtlich von dem ›surrealistischen‹ Urteil eines Louis Aragon:

11 Auf Anraten von Ivan Nagel wird Bob Wilson Heiner Müller vorschlagen, die Texte auszusuchen, die in diese Aufführung eingefügt werden könnten, und zwar was den ›deutschen Teil‹ von Civil War’s betrifft. 12 In der Diskussion von Madison spielte er darauf an, und zwar im Zusammenhang mit den Bacchanten in der Inszenierung von Grüber und der Szenographie von Gilles Aillaud und Eduard Arroyo: »Es sind nämlich sehr viele Errungenschaften der Bildenden Kunst in diesem Jahrhundert überhaupt noch nicht vom Theater integriert worden. Der ganze Surrealismus ist rausgeblieben aus dem Theater. […] Gerade in diesen Backchen – den ersten Teil habe ich nicht gesehen – gerade in der Backchen-Inszenierung ist sehr viel surrealistisches Material eingebracht worden.« H. Müller: Einen historischen Stoff sauber abschildern, S. 96. 13 Zu Beginn der 70er Jahre waren die ›orthodoxen Brechtianer‹ der Ansicht, dass das Theater von Bob Wilson wie eine Messe sei.

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»Robert Wilson kommt aus dem Raum, in dem Ambrose Bierce verschwunden ist, nachdem er die Schrecken des Bürgerkrieges gesehen hatte. Der Wiedergänger hat den Schrecken unter der Haut, sein Theater ist die Auferstehung. DIE BEFREIUNG DER TOTEN FINDET IN DER ZEITLUPPE STATT. Auf dieser Bühne hat Kleists Marionettentheater einen Spielraum.«14

H a m le t m as c h i n e u n d d i e U S A Was mag Müller von seinen befreundeten Ostberliner Theaterregisseuren – Marquardt, Besson, Tragelehn, Karge/Langhoff, Berghaus – entfernt haben? Waren es die Aufenthalte in den Vereinigten Staaten, oder war es die Tatsache, dass er begonnen hatte, Stücke in der ersten Person zu schreiben und von nun an nicht mehr abgeneigt war, in seinen Stücken – mit oder ohne Maske – zu erscheinen? Oder war es seine Beschäftigung mit dem Begriff »Autodrama«? Haben die hyper-moderne, westlich postmoderne Formgebung, die extreme Modernität seiner damaligen Texte diese Regisseure, die in der Tradition der brechtschen und ostdeutschen Ästhetik groß geworden waren, überrascht, ja sogar abgestoßen und irritiert? Ich habe das Gefühl, dass sich Müller zu diesem Zeitpunkt, in gewisser Hinsicht, von seinem Berliner Freundes- und Mitarbeiterkreis emanzipiert hat; es war kein Bruch sondern eine bewusste Emanzipation. Er hat sich gehäutet wie eine Schlange, seine Haut als ‚Dramaturg’ abgelegt und sich gleichzeitig auch vom Brechtkult und der Vorherrschaft der ›brechtschen Orthodoxie‹ befreit.15 Nach seiner Rückkehr bat ihn Benno Besson äußerst kurzfristig um eine Übersetzung von Hamlet, denn die, welche er schon seit einigen Monaten benutzte, sagte ihm nicht mehr zu; die Proben hatten bereits begonnen. Diese Übersetzung wurde von Heiner Müller unter Zeitdruck und in einem Rekordtempo unter Mitarbeit von Matthias Langhoff (Benno Bessons Assistent bei dieser Inszenierung, in der Manfred Karge die Rolle des Hamlet spielte) fertiggestellt. In dieser Situation wird dann Heiner Müller, sozusagen mit der linken Hand, einen Text von neun Seiten verfassen: Hamletmaschine, ein Projekt, das er unter dem Zeichen 14 »Taube und Samurai«, hier zit. nach Müller, Heiner: Heiner Müller Material, hg. von Frank Hörnigk, Leipzig: Reclam1989, S. 50; ebenfalls in: Ders.: Schriften (= Werke 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 290. 15 Einige Jahre vorher, Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre, hatte er sich schon mit Philoktet, Der Horatier und Mauser von dem sogenannten ›späten‹ Brecht abgewandt, um die Problematik des Lehrstücks neu aufzugreifen.

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HiB (Hamlet in Budapest) seit den 60er Jahren mit sich herumgetragen hat.16 Einen Augenblick lang hoffte er, dass Benno Besson diesen Text in Form eines ›Kommentars‹ in seine Inszenierung des Hamlet von Shakespeare integrieren würde, vergebens.17 Seine Ostberliner Freunde waren der Ansicht, dass es sich bei diesem Text nicht um einen Theatertext im herkömmlichen Sinn handelte. Als Bob Wilson zehn Jahre später diesen Text mit Studenten der Theaterwissenschaft an der Columbia-Universität inszenierte, schrieb Heiner Müller folgende Zeilen: »Der deutsche Schriftsteller Freiligrath, enger Freund von Karl Marx, hat gesagt: ›Deutschland ist Hamlet, es weiß nie, welche Entscheidungen zu treffen sind, und aus diesem Grund trifft es immer die falschen.‹ Als ich ›Hamletmaschine‹ geschrieben habe, nachdem ich Shakespeares Hamlet für ein Ostberliner Theater übersetzt hatte, wurde deutlich, dass es mein amerikanischstes Stück ist, mit Zitaten von T. S. Elliot, Andy Warhol, Coca Cola, Ezra Pound und Susan Atkins. Es kann gelesen werden als Pamphlet gegen die Illusion, dass man in dieser unserer Welt unschuldig bleiben könnte. Es freut mich, dass Bob Wilson mein Stück aufführt, sein Theater ist eine Welt für sich.«18

16 Vgl. das Kapitel »Hamletmaschine« in: H. Müller: Krieg ohne Schlacht; sowie Ders.: Manuscrits de »Hamlet-machine«, übers. von Jean Jourdheuil und Heinz Schwarzinger, Paris: Éditions de Minuit 2003. 17 Was Müller dann in seiner eigenen Inszenierung von Hamletmaschine am Deutschen Theater 1989/90 nachholt und darin übrigens hier und da auf Bessons Inszenierung anspielt. 18 Heiner Müller im Programmheft der amerikanischen Inszenierung von Bob Wilson, 30.04.1986: »The German writer Freiligrath, a close friend of Karl Marx, said: ›Germany is Hamlet, never quite knowing how to decide and because of that always making wrong decisions.‹ When I wrote HAMLETMACHINE, after translating Shakespeare’s HAMLET for a theatre in East Berlin, it turned out to be my most American play, quoting T.S. Eliot, Andy Warhol, Coca Cola, Ezra Pound and Susan Atkins. It may be read as a pamphlet against the illusion that one can stay innocent in this our world. I am glad that Robert Wilson does my play, this theatre being a world of its own.« Dank dieser Inszenierung von Bob Wilson fanden die von Carl Weber besorgten und 1984 in den Performing Arts Journal Publications veröffentlichten amerikanischen Übersetzungen von Heiner Müller eine entschieden größere Beachtung. Carl Weber, damals Professor für Theaterwissenschaften in New York, war von Beginn der 50er Jahre bis zum Bau der Berliner Mauer (1961) Schauspieler, Dramaturg und Regisseur am Berliner Ensemble.

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E i n u n g e w ö h n l i c h e r O st - D e u t s c h e r : Bleiben oder Weggehen. Biermann-Affäre u n d › Re p u b l i k f l u c h t‹ Zu diesen sich abzeichnenden Abweichungen und künstlerischen Uneinigkeiten mit mehreren seiner Berliner Freunde kommen die Folgen der Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR im Jahr 1976. Müller unterschrieb mit anderen eine Protest-Petition. Die Protestler wurden unter Bewachung gestellt, bekamen Arbeitsverbot, mehrere wurden dazu gedrängt, das Land zu verlassen. Die Beziehungen zwischen den Bürgern und den Machthabern der DDR verschlechterten sich und wurden immer konfliktgeladener. Es scheint so, als hätten die aus der Emigration und dem Kampf gegen das Naziregime hervorgegangenen politischen Utopien ihre Bedeutung eingebüsst. Es ist die Zeit der ›Republikflucht‹. In der Gesellschaft selbst ereignete sich ein Umschwung. Die teils endgültigen, teils provisorischen Ausreisen häuften sich während der zwei oder drei folgenden Jahre: Besson, Karge und Langhoff, Schleef, Tragelehn, Gosch, Dresen, Brasch, Sarah Kirsch, Kunze, Kunert u.a. – um nur einige Theaterregisseure und Autoren zu nennen. Besson, Karge und Langhoff gingen in den Westen: in die Bundesrepublik, die Schweiz, nach Frankreich. Heiner Müller blieb nach seiner Rückkehr aus den USA in Ost-Berlin.19 1982 inszenierte er mit Ginka Tscholakova ›seinen‹ Macbeth an der Volksbühne: Ulrich Mühe und Corinna Harfouch hatten ihren ersten Berliner Auftritt in dieser Vorstellung. Ich erinnere mich an die Aufführung. Am Ende klatschten vorne im Orchester nur fünf oder sechs Zuschauer Beifall. Es waren die ausländischen Besucher des Autors. Die anderen Zuschauer im Orchester waren als Mitglieder der FDJ oder Angestellte der Berliner Stadtverwaltung ›im Auftrag‹ da. Sie waren gekommen, um nicht zu applaudieren, damit das Stück schnell wieder abgesetzt würde. Die Zuschauer in den oberen Rängen dagegen waren begeistert. Will man die Besonderheit von Heiner Müllers Laufbahn exakter bestimmen, sollte unbedingt auf verallgemeinernde und einseitige Betrachtungen über Utopie und andere pauschale Chimären verzichtet werden. 19 Um seinen Posten sowie sein Gehalt am Berliner Ensemble zu bewahren, drängte Ruth Berghaus ihn dazu, einen Brief zu schreiben, in dem er die Art und Weise bedauerte, wie diese Petition durch die westlichen Medien instrumentalisiert wurde. Er verlor dennoch kurz darauf seine Stelle, als Ruth Berghaus ihren Posten als Intendantin verlor. Dafür wurde Müller von Benno Besson an die Volksbühne engagiert. Gleich danach verließen Besson, Karge und Langhoff die DDR. Müller blieb, wie auch Fritz Marquardt.

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Es empfiehlt sich genau zu umreißen, inwiefern sich die künstlerischen, politischen und karrierebedingten Entscheidungen Heiner Müllers von denen seiner Freunde und Kollegen unterscheiden. Der ›Fall Müller‹ lässt sich nicht in die allgemeine Künstler-Soziologie der DDR einordnen. Die Einzigartigkeit seiner Laufbahn erklärt sich durch drei bemerkenswerte Phänomene: Erstens befand er sich in einer Situation des Ausschlusses und der Erniedrigung in den 60er Jahren, als andere – im Schutz der Mauer – aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur künstlerischen und kulturellen Nomenklatur in den Genuss von Privilegien und diversen Sondermaßnahmen kamen. Zweitens war es ihm gelungen, seinen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten zu einem ›künstlerischen und literarischen Moment‹ zu gestalten. Schließlich kehrte Müller nach Berlin zurück, als andere Kollegen weggingen. Er blieb vielleicht gerade deshalb, da er über so etwas wie einen eigenen Bereich verfügte, das heißt einen ›literarischen‹ und materiellen Raum, in den er sich zurückziehen konnte.

Wir danken Ingrid Haag, Professor Emeritus für neuere deutsche Literatur an der Universität Aix-Marseille 1., herzlich für Ihre Übersetzung des vorliegenden Textes, der im Rahmen der dem Werk von Heiner Müller gewidmeten Veranstaltungsreihe ›plateforme Müller‹ des Grütli Theaters im Dezember 2008 in Genf unter dem Titel ›Heiner Müller: lʼhétérotopie américaine‹ vorgetragen wurde, mit weiteren Beiträgen als Fanzine 2009 einer Ausgabe von Theater der Zeit beilag, von Jean Jourdheuil für diesen Band leicht überarbeitet wurde und nun erstmals auf Deutsch vorliegt.

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»N A Z I -T H E A T E R «? EINAR SCHLEEFS RELEKTÜRE DES URGÖTZ IM GESCHICHTSPOLITISCHEN KONTEXT D E R 1980 E R J AH R E EMMANUEL BÉHAGUE

Bekanntermaßen wurde die Theaterarbeit von Einar Schleef in Frankfurt polemisch rezipiert, stieß sogar bei manchen Kritikern aus der 68erGeneration auf schroffe Ablehnung. Diese Kritik, die im Hinblick auf ästhetische Konstanten – unter anderem den Einsatz von Chören – des Theaters Einar Schleefs im Pauschalurteil »Nazitheater« kulminierte, steht im Zusammenhang eines Erwartungshorizonts dessen, was Theater sein oder nicht sein darf, und scheint folgende vom Regisseur selbst formulierte These zu bestätigen: »Rückgriffe auf den Chor als in sich geschlossen handelnde und sprechende ›Masse‹ sind inzwischen durchweg politisch besetzt und stehen für gesellschaftsverändernde Auffassungen, sie sind somit vom bürgerlichen Theater, das im verkappten absolutistischen Ambiente lebt, geächtet.«1

Solche Rückgriffe, sowie andere Grundelemente des Schleefschen Theaters bilden den Kern nicht nur der theaterästhetischen Auffassung Schleefs, sondern auch seiner Auseinandersetzung mit kollektiver Geschichte. In dieser Hinsicht muss daran erinnert werden, dass Schleefs Frankfurter Zeit (1985 bis 1990) – geht man davon aus, sein Werk ließe sich, ohne dabei die Kontinuitäten aus den Augen zu verlieren, in drei Phasen untergliedern: DDR, BRD und vereinigtes Deutschland – in einem spezifischen Klima verankert ist, was das kollektive Selbstverständnis in der Bundesrepublik betrifft. Erinnerungs- und geschichtspolitisch vollzieht sich in dieser Phase tatsächlich ein Paradigmenwechsel, insofern eine politische, historiographische und feuilletonistische Debatte die 1

Schleef, Einar: Droge Faust Parsifal, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 212 (= im Folgenden: D).

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neue Haltung artikuliert, das kritische Verhältnis zum Nationalsozialismus, so wie es die 60er und 70er Jahre dominierte, verhindere auch das Aufkommen eines neuen nationalen Selbstbewusstseins.2 Politische Ereignisse wie Helmut Kohls Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg gemeinsam mit dem damaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan am 8. Mai 1985 oder das Projekt eines »Haus der Geschichte« in Bonn nährten die ständige Debatte über die deutsche Identität, bis der so genannte Historikerstreit »alle Kontroversen der vergangenen Jahre bündelte und ihnen zu einem explosionsartigen Ausbruch verhalf«.3 An dieser Stelle soll keineswegs eine Darstellung dieser Debatte stattfinden. Fest zu halten ist hier vielmehr die Tatsache einer Verdichtung der durch Politiker und Intellektuelle streitbar geführten Diskussion über die kollektive Identität der Deutschen. Diesem diskursiven Kontext, in dem die Theaterarbeit Schleefs jener Zeit verankert ist, treten die DDR-Erfahrungen des im Jahre 1976 in den Westen übergesiedelten Regisseurs hinzu, die er vor allem in seinem Großessay Droge Faust Parsifal auch schriftlich ausführt. Dazu gehören die für die DDR charakteristischen Umgangsformen mit dem Kollektiv, die politische Theatralisierung von Masse und Volk oder Schleefs persönliche Erfahrung der Konfrontation zwischen Individuum und Gruppe. Schleef selbst zieht hier Verbindungslinien zwischen solchen Erfahrungen bzw. Ereignissen und seinen theaterästhetischen Reflexionen. Obgleich Schleef selbst sich einer direkten Gleichsetzung des Chors mit der in der DDR üblichen Inszenierung einer ideologisch kohärenten Masse widersetzt (siehe Zitat unten), prägt diese doppelte Auseinandersetzung mit kollektiver Identität seine Arbeit zutiefst. Gegenstand dieser Untersuchung ist demnach, inwiefern die für Schleef fundamentalen ästhetischen Optionen, die seine szenischen Aufführungen bestimmen, zur Problematisierung des kollektiven Selbstverständnisses in der BRD beitragen. Ausgangspunkt ist hierfür exemplarisch seine Frankfurter Inszenierung der Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der Eisernen Hand dramatisirt (Premiere im April 1989), das heißt der erst 1832 veröffentlichten Urfassung des Götz von Berlichingen von Johann Wolfgang von Goethe, eines Textes, dem Her-

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Siehe zum Beispiel Hermann Lübbes Rede von Januar 1983 »Es ist nichts vergessen, aber einiges ausgeheilt. Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart«. Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2007, S. 199.

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der 1772 »ungemein viel Deutsche Stärke, Tiefe und Wahrheit« attestierte.4 Die in der Forschung diskutierten Charakteristika des Schleefschen Theaters stehen hier nicht zur Debatte, wie zum Beispiel die für sein gesamtes Werk geltende prinzipielle Ablehnung herkömmlicher Darstellungsweisen oder der Einsatz des Chors als eine physische, rhythmische oder klangliche Einheit. Abstand nehmend von oben genannter Pauschalkritik soll hier mit Rückgriffen auf Schleefs ästhetisch-politische Betrachtungen in Droge Faust Parsifal folgende These überprüft werden: Bühnenästhetische Merkmale der Theaterarbeit Schleefs sind auch als Mittel einer Unterminierung eines kollektiven, bzw. nationalen Selbstbewusstseins zu deuten. Drei Konstituenten der Inszenierung sollen hierbei besonders Beachtung finden: das Bühnenbild, der Einsatz des Chors und schließlich das in der Inszenierung verhandelte Verhältnis des ›Helden‹ zum Kollektiv.5 Das zentrale Element des von Schleef geschaffenen Bühnenbildes für die Inszenierung ist ein langer Steg, zu dessen beiden Seiten das Publikum sich frontal gegenüber sitzt. Durch diese spezifische Raumordnung teilt Schleef das Publikum in zwei Positionen. In diesem Sinne kann nicht von einer einheitlichen Wahrnehmungssituation gesprochen werden, so dass die Zuschauerschaft als das eine Kollektiv im Theater seine Einheit von vornherein in Frage gestellt sieht. Dieses Verhältnis zwischen Steg und Publikum hat in Schleefs und Tragelehns Inszenierung von Fräulein Julie (Berliner Ensemble, 1975) insofern eine Vorgeschichte, als die Schauspielerin Jutta Hoffmann damals das Publikum durchquerte, indem sie über die Sitzreihen hinwegsteigend die Bühne verließ. Diese Bewegung nahm zwar, wie von Schleef selbst bestätigt, seine eigene Republikflucht voraus. Darüber hinaus aber zeugte sie bereits hier von einer zweiten Dimension: Jutta Hoffmann ›entzweite‹ dabei auch das Publikum als die physische Konkretisierung eines mythischen Kollektivs, nämlich jenes ideologisch zusammengeschweißten Volks der DDR.

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Zit. nach Neuhaus, Volker: »Götz von Berlichingen«, in: Bernd Witte et al. (Hg.): Goethe-Handbuch, Bd. 2: Dramen, Stuttgart/Weimar: Metzler 1996, S. 78-99, hier S. 82. Grundlage dieses Beitrags ist die Sichtung der Videoaufzeichnung der Premiere am 19.04.1989. Berücksichtigt werden hier ausschließlich Elemente, die bei einer solchen, im Verhältnis zu einem ›realen‹ Beiwohnen der Aufführung immer nur partiellen Informationsquelle, klar erkennbar und dadurch interpretierbar sind.

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Angesichts des unterschiedlichen historischen Kontextes wird man das Frankfurter Publikum nicht in gleichem Maße einem ideologischen Kollektiv einordnen können. Nichtsdestotrotz durchbricht Schleef durch seinen Bühnenraum noch vor Beginn der eigentlichen Aufführung eine angebliche ›Einheit‹ der Zuschauergemeinschaft als Kollektiv. Auf der Ebene der Rezeption schafft Schleef mit der Stegbühne das Prinzip der Zentralperspektive ab. Der Zuschauerblick pendelt zwischen den verschiedenen Punkten des Stegs hin und her, wendet sich einem Schauspieler oder einer Aktion zu und verliert dabei anderes notgedrungen aus den Augen. Ausschlaggebend ist hierbei, dass Schleef selber die Setzung einer Zentralperspektive explizit mit dem Phänomen einer Ideologisierung oder bereits dominanten Ideologie assoziiert: »Vielfach werden Faschismus und Stalinismus als Einsetzung der Zentralperspektive in die Moderne interpretiert. Je nach politischem Standpunkt gibt man dem einen oder dem anderen den Vorrang, sieht darin den Überlegenen. Die Einführung der Zentralperspektive kann aber in Deutschland nicht vom Faschismus beansprucht oder auf ihn abgewälzt werden, sondern ist ab 1870/71 präsent.« (D: 268)6

Dieser Konnex zwischen spezifischer Organisation von Wahrnehmung und Ideologie bringt Schleef soweit, auch das Theater Bertolt Brechts infrage zu stellen: »Trotz einschneidender politischer Veränderungen hat sich die Zentralperspektive immer wieder auf der Bühne behauptet, war stets im Dienst der herrschenden politischen Anschauung. Man kann die betonte Zentralperspektive des absolutistischen Theaters mit dem betonten Ausstellen von Figuren und Vorgängen in Brechts Inszenierungen im Theater am Schiffbauerdamm vergleichen, seiner völligen Einordnung und Überwindung des Dargestellten, der Themen und seiner Figuren. Brechts ›Ausstellen‹ meint tatsächlich ausstellen, das Ausstellen von ikonenhaftem Museumsgut zur Herleitung eigenen Machtanspruchs, in der Habhaftwerdung von materiellem und ideologischem Besitz und dessen repräsentativ würdigender Vorführung.« (D: 78)

Schleef behauptet dabei nicht, jede Einsetzung einer Zentralperspektive stünde systematisch im Dienst einer radikalen Ideologie, so wie er auch Brecht keineswegs mit dem Stalinismus in eine Linie stellt. Signifikant scheint ihm vielmehr die »Einordnung und Überwindung des Dargestell6

Siehe in den nachfolgenden Seiten die Passagen über Hitlers photographische Abbildungen und die Verbindung zur Abwälzung der kollektiven Schuld.

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ten«, das eine Zentralperspektive ermögliche und bewirke. Indem er für die Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand dramatisirt das Publikum anders zur Bühne positioniert, versucht Schleef es als Kollektiv aus einer gelenkten Wahrnehmung des Dargestellten herauszulösen und dadurch eine unmittelbare Sinngebung zu verhindern. Schließlich ist von Belang, dass Schleefs Wahl, auf einem Steg spielen zu lassen, an antike Theaterformen anknüpft. Mit der Geburt des Protagonisten veränderte sich die szenische Disposition des Theaters in dieser Epoche: Hinter der Orchestra als definiertem Chorbereich schloss sich von nun an ein rechteckiger Raum an, der zwar über Breite verfügte, aber dem es zu Anfang an Tiefe fehlte.7 Schleefs szenographische Option zieht nun just zu jenem theaterhistorischen Knackpunkt eine Verbindung, an dem sich die Bruchstelle zwischen Individuum und Chor vollzieht. Indem Schleef die Spannung zwischen Chor und Protagonisten aufrecht erhält, knüpft er an jene Konstituente an, die – so Jean-Christophe Bailly – die »Einzigartigkeit des tragischen Theaters der Griechen ausmacht«.8 Die Besonderheit von Schleefs Herangehensweise jedoch liegt darin, dass er sowohl den Chor/die Chöre als auch das Individuum auf derselben schmalen, langgezogenen Spielfläche zusammenführt. Auch wenn der Chor sich in vielen tänzerisch und rhythmisch choreographierten Szenen der Figuration entzieht, so stellt er doch im Laufe der Aufführung mehrmals identifizierbare Kollektive dar – angefangen von den Anhängern Götzens, über die Gemeinschaft einer langsamen liturgischen Prozession in Bamberg bis hin zur Gruppe der Bauern –, ohne dabei je aufzuhören, »einem antiheroischen Basso Continuum Konsistenz zu verleihen«.9 Neben dem lateralen Grundcharakter des Stegs tritt eine weitere signifikante Dimension des Bühnenbildes zutage: Die Vertikalität. Denn der Steg wird auf einer Seite von einer Stahlwand abgeschlossen, über die eine Plattform ragt. Sie stellt den Bereich der Machthaber dar, das heißt denjenigen des Kaisers und des Lagers des Bischoffs zu Bamberg. Oberhalb dieser Plattform richtet sich ein überdimensionales Holzkreuz auf. Die Macht tritt hier entsprechend massiv auf und verlangt vom Subjekt eine – so nennt Schleef es in Droge Faust Parsifal – ›Verkrümmung‹. Eine Analyse der Bewegungen und Körperhaltungen der Figur des Weislingen kristallisiert ihn als exemplarischen Fall dieser ›Verkrümmung‹ heraus. Zunächst einmal findet sein erster »Auftritt« statt, indem er von Götz, als hätte der ihn sich über die Schulter geworfen, hereinge7 8 9

Bailly, Jean-Christophe: Le Champ mimétique, Paris: Seuil 2005, S. 188. Ebd., S. 190. Ebd.

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tragen wird. Sein Körper ist bereits hier geknickt, in einen Sack gehüllt zudem verdinglicht. Auf gleiche Weise wird Adelhaid ihn später in der langsamen religiösen Prozession der Anhänger des Bischoffs in Bamberg mitschleppen. Zuvor wird diese ›Verkrümmung‹ während eines Dialogs zwischen ihm und Adelhaid auch situativ demonstriert (»Bamberg«, zweiter Aufzug): Hier liegt Weislingen ausgestreckt auf dem Boden und nimmt dabei eine leidende Haltung ein. Erst oben auf der Plattform stehend wird er sich wieder aufrecht halten, und dieses neue Erscheinungsbild im kaiserlichen Machtbereich besiegelt seinen Wechsel ins andere Lager. Diese neue »Autorität« muss jedoch als eine Form jener ›Verkrümmung‹ verstanden werden, der zwar eine politische Dimension innewohnt, die aber von Schleef – der selber »heute noch nicht zwischen dem Gruß der Jungen Pioniere und dem Gruß der Hitler-Jugend unterscheiden« (D: 82) kann – weder an die eine noch die andere dominante Ideologie geknüpft wird. Die Inszenierung von Weislingens Tod schließlich wird zum Anlass, einen verkrümmten Körper auszustellen: Ermordet hängt er mit dem Kopf nach unten die Stahlwand herab, die Steg und Plattform voneinander trennt, eine von ihrem ideologischen Inhalt ausgezehrte und entleerte körperliche Hülle. Die Verbindung zwischen dem lateralen Grundcharakter und der Vertikalen als die beiden Modi der Raumaufteilung, die die Proxemik strukturieren, verdichtet sich am Schluss in einem wesentlichen Element, der Deutschlandfahne. Diese wird von Adelhaid entlang der Stahlwand heruntergezogen, bis sie die Bühne bedeckt. Heiner Müller deutete dieses Bild im Sinne einer Kontinuität der Deutschen Misere: »Klar ist doch, dass mit dieser Fahne alles zugedeckt wird, was an sozialen und Klassenproblemen vorhanden ist. Es ist in Deutschland alles immer zugedeckt worden, es hat weder eine wirkliche Revolution, noch ein wirkliches Austragen von Gegensätzen und Widersprüchen gegeben.«10

Aber Schleef geht in diesem Bild darüber hinaus. Es sei daran erinnert, dass dieser Vorgang im Drama jener Mord-Szene entspricht, in der Adelhaid mit einer allerletzten Geste ihren eigenen Mörder ersticht. (»Adelhaidens Schlafzimmer«, fünfter Aufzug). Bei Schleef steht der Mörder – oder besser gesagt, die Figur, die den Text des Mörders spricht – in die Deutschlandfahne gehüllt auf der Plattform, während Adelhaid das andere Ende der Fahne ergreift und von der Stahlwand weg den Steg entlang läuft. 10 Einar Schleef: Tagebuch 1981-1998, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 172.

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Beide jeweils in die Fahne gehüllt, bilden Adelhaid und ihr Mörder ein Ganzes. Die Fahne verbindet die beiden Seiten der Bühne miteinander, sie »fließt« geradezu vom Ort der Macht in einer langsamen Bewegung der Inbesitznahme des Spielortes und hebt damit die Unterscheidung zwischen der Vertikalen und Horizontalen auf. Die Fahne verbindet von da an die statuenhaft entpersonalisierte Symbolfigur der Macht mit einem Kollektiv, das sich am anderen Ende des Stegs gebildet hat – ein Kollektiv von ausschließlich in Anzügen gekleideten Personen. In der quasi »gesichtslosen« Konformität der Anzüge sind alle Zeichen einer Zughörigkeit zu diesem oder jenem Lager abgeschafft. Schleef selbst zieht die Verbindung zwischen Demokratie und Kleidungsnorm (Vgl. D: 398). Das Bild hier zeugt eindrücklich von einem Demokratieverständnis, das Demokratie nicht per se als eine ideale, stabile Gesellschaftsordnung definiert: Vielmehr setzt Schleef das demokratische Kollektiv in ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen Autoritätsglauben und politisch-historischer Verantwortung, deren Gefährdung durch die Überhöhung nationaler Symbolik deutlich wird. Die Zuschreibung »Nazi-Theater«, mit der das Schleefsche Theater gerne bezeichnet wurde, oder die Deutung der Inszenierungen als Konfrontation des Regisseurs mit seiner DDR-Vergangenheit11 verweisen auf die – angesichts der deutschen Geschichte nachvollziehbare – Versuchung, den Chor mit einem klar definierten historischen Kollektiv zu identifizieren. Um mit einer solchen Deutung nicht vorschnell zu kurz zu greifen, müssen jedoch die von Schleef eingesetzten Chöre vielmehr als Verweise auf verschiedene historische Abwandlungen des Kollektivs verstanden werden. Bei Schleef nehmen Kollektive nicht nur als sprechende oder singende Chöre Gestalt an. Denn auch durch den bedeutsamen Einsatz von Kostümen oder Kostümelementen, wie zum Beispiel Militäruniformen und Herrenanzügen, werden bisweilen identifizierbare Kollektive markiert. Schleef selbst liefert uns einen Schlüssel, um die enge Verbindung zwischen Chor und Kollektiv zu verstehen: »Meine ausgeprägte Chor-Form ist keine Abreaktion einer DDR- Vergangenheit, keine Imitation von Marschkolonnen, Kriegsspielen und Appellen, sondern eine Formulierung der Vorgänge im Westen, meine Antwort auf Polizeiaktionen, Überfälle, Plünderungen, Demonstrationen, Menschenansammlungen, denen ich ausgesetzt bin. Sicher begegne ich diesen Vorgängen nach mei11 Siehe Michaelis, Rolf: »Aha! Nachgeholte Pubertät: der Polizeistaat DDR und die Folgen auf unseren Bühnen«, in: Die Zeit vom 28. April 1989, S. 58.

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ner Flucht, mit noch unsicherem Stand im Westen, wesentlich empfindlicher als andere.« (D: 99f.)

Der Chor bei Schleef repräsentiert also weder eine nationale Gemeinschaft noch eine Gesellschaft, sondern nur eine Gruppe. In der Inszenierung wiederum wird der Prozess demonstriert, in dem sich die Gruppe zu einer politischen Gemeinschaft wandelt. Der fünfte Akt (der dem dritten Teil der Inszenierung entspricht) setzt mit einem Zigeunerlied ein, das Schleef in einer Form wilder Litanei beibehält: »Er zieht grad über uns hin. Das Hundegebell, wau! wau!, das Peitschengeknall! Das Jagdgeheul, holla ho! holla ho!«. Der stark rhythmisierte Singsang wiederholt sich lange und wird bei fortwährender Dunkelheit zunehmend lauter. Danach wird der Text auf verschiedene Personen verteilt, deren Gesichter nur schwach beleuchtet werden. Klanglich variiert das Gesprochene zwischen Flüstern und Schreien, während sich andere Geräusche und fragmentarische Tierimitationen darüber legen. In seinem Aufsatz Theater des Konflikts zieht Hans-Thies Lehmann eine Verbindung zwischen dem Schleefschen Chor und den »dämonischen Tieren«, die Deleuze und Guattari von den »ödipalen Tieren« und den »Staatstieren« unterscheiden. Er weist zurecht darauf hin, dass Schleef selber in Droge Faust Parsifal den Chor mit dem »Tierreich« assoziiert, so wie er auch von einer »vertierten Frau« als Verweis auf die »Drohgebärde eines Frauenbildes, das von der Antike her aufscheint«, spricht.12 Die Figur der Zigeunerin, in dieser Aufführung ebenso wie im Drama, entspricht dieser »vertierten Frau«. Lehmann jedoch stellt die Chöre bei Schleef generell in Zusammenhang mit der Meute der »dämonischen Tiere«, wie sie die französischen Philosophen in Mille plateaux nennen. Es scheint mir aber eher der Fall zu sein, dass die unterschiedlichen chorischen Formationen, die in der Inszenierung auf Kollektive verweisen, nicht auf eine einzige Ebene gestellt werden können. Denn Schleef setzt dieser quasi wilden, anti-zivilisatorischen Gruppe, die in der Zigeunerszene Gestalt annimmt, weitere Chöre entgegen, die in Ideologien eingebundenen, konstituierten, mit bestimmten Gruppierungen assoziierten (Räte, Bauern) Kollektiven entsprechen. Anhand einheitlicher Kostüme oder der punktgenauen Organisation der Prozession manifestieren sich diese auf unterschiedliche Weisen. Der Prozess der politischen Konstitution des Kollektivs zwischen diesen unterschiedlichen Zuständen spielt sich in der Aufführung ab, so 12 Lehmann, Hans-Thies: »Theater des Konflikts«, in: Ders.: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten, Berlin: Theater der Zeit 2002 (= Recherchen 12), S. 203.

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dass diese zum Ort einer ›Archäologie‹ des Kollektivs wird. Zu Anfang bilden Götz und seine Männer eine eher ungezügelte Gruppe, die sich also noch in einem vor-ideologisierten Zustand befindet. Die Veränderung wird durch das Stadium der Armee (durch den Kampf und die Verwendung der Uniform) eingeläutet, um schließlich im Stadium der Demokratie (gleicher Anzug für alle) zu gipfeln. Das bewaffnete Kollektiv nimmt eine zentrale Rolle in der Inszenierung ein und besteht aus zwei Lagern: einerseits die Anhänger Götzens, andererseits die Armee der klerikalen (Bischoff von Bamberg) und kaiserlichen Machtträger. Schleef aber setzt sehr bewusst Ähnlichkeiten in Szene, vor allem dadurch, dass die Mitglieder beider Lager – als ein gemeinsames Kollektiv – den gleichen Helm tragen – dessen Form ganz offensichtlich dem Helm der Wehrmacht entspricht. Dieses gemeinsame Attribut macht wiederum eine eindeutige Identifizierung der einzelnen Lager unmöglich: Das Kollektiv der Anhänger Götzens ist damit ebenso politisch »geworden« wie das des Kaisers. Dadurch unterläuft die Inszenierung von vornherein eine ausschließlich dichotomische Interpretation, die von einer Opposition zwischen anarchischem Freiheitsstreben und politischer Unterdrückung ausginge. Die Abschaffung einer Dichotomie setzt sich später auch in der Art und Weise fort, wie Kampfszenen zwischen den beiden Lagern inszeniert werden. Das Gefecht wird auf dem Steg in einer Art ›Durchkreuzen‹ der beiden Gruppen dargestellt, bzw. Götz und die Seinen ›durchqueren‹ rennend die Bamberger Armee. Die frontale Konfrontation scheint so ausgehebelt zu werden, stattdessen ereignet sich sogar eine Art (Kon)Fusion der beiden Gruppen. Schleefs Option, hier zitathaft die Wehrmacht ins Spiel zu bringen, kann als Verweis auf einen extremen Fall von Untertanengehorsam – egal welcher Autorität gegenüber – verstanden werden. Mit einer solchen Option aber sucht die Inszenierung demonstrativ auch die Auseinandersetzung mit der kollektiven Geschichte. Die Bühne, die infolgedessen als Erinnerungsraum fungiert, wird von Schleef mit Geschichte besetzt, um diese zum Gegenstand einer Neuinterpretation zu machen. Angesichts der politischen Aktualität des Inszenierungskontextes widersetzt er sich damit einer Geste der impliziten Rehabilitierung, wie sie Helmut Kohls Besuch in Bitburg mutmaßen ließ. Die Vorgehensweise in der ersten Szene des 3. Aktes – Schleef bewahrt hier einen Großteil des Goetheschen Textes – bestätigt diese Lesart. Die von Maynz gehaltene Rede ist eine Loyalitätserklärung an den Kaiser und ein Aufruf zum Krieg gegen die Türken. Der Schluss der Rede ist insofern wesentlich, als hier die Notwendigkeit individueller Opferbereitschaft und die Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber beschworen werden. Auffällig ist, dass Schleef den Text von Goethe umor-

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ganisiert: Während im Drama die Szene mit einer letzten Replik des Kaisers endet (»ich gehe, euch euern Entschließungen zu überlassen. Und wenn ihr dann sagt: ich habe euch gezwungen, so lügt ihr«), stellt Schleef sie an den Anfang der Szene, so dass diese in einem langen Crescendo mit der Forderung nach Unterordnung unter das Kollektiv endet: »Ihr habet der allgemeinen Ruh und Glückseligkeit die eurige aufgeopfert, die Ruinen eurer Schlösser werden zukünftigen Zeiten herrliche Denkmale sein, und laut ausrufen: so gehorchen sie ihrer Pflicht, und so geschah ihres Kaisers Wille«.13

Der Kostümwechsel in der Inszenierung übersetzt klar den Übergang von einem Lager ins andere, als ein rekurrierendes Moment – auch hier steht Weislingen wieder paradigmatisch für das Phänomen. In diesem Punkt entfernt sich Schleef von der Dramenvorlage, in der diese Figur von Anfang an ein Anhänger der zentralen Macht ist. Seine sackartige Kleidung, in der er von Götz hereingetragen wird, ist hier gerade kein Kostüm, was verhindert, dass die Figur einem Lager fest zugerechnet werden kann. Später dann wird Weislingen ganz in Rot gekleidet auftreten, womit er sich dem kaiserlichen Lager zugehörig macht, zugleich aber auch die Farben Adelhaids anlegt. Auch Sickingen wird diese Farbe annehmen. Jenseits dieser unmittelbaren Art, den Übergang einer Person von einem Lager ins andere sichtbar zu machen, bezeugt der Kostümwechsel auch den Übergang eines Stadiums des Kollektivs in ein anderes. So übernehmen zum Beispiel Götzens Männer die gleichen Militärmäntel wie ihre Gegner und konstituieren sich damit selbst als politisches Kollektiv qua Disziplinierung des Körpers und den freiwilligen Verzicht auf Individualität. Besonders interessant im Rahmen einer Studie, die den historischen und politischen Kontext der Inszenierung der Geschichte Götzens hinterfragt, ist die Tatsache, dass Schleef selbst das freiwillige Eingliedern ins Kollektiv mit einer Verweigerung von Schuld assoziiert: »Diese Aufgabe der Individualität ist für mich mit dem Tragen jeder Uniform, jedes Parteiabzeichens verbunden, selbst wenn diese Partei nicht existiert. Das Leugnen eigener Mitschuld und Verantwortung, das sich davon Freikaufen durch Eintritt, durch Einkleidung, ist ein modernes Verbrechen.« (D: 436)

13 Goethe, Johann Wolfgang v.: Werke. Jubiläumsausgabe, Bd. 2: Dramen und Novellen, hg. v. Friedmar Apel et al., Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 56.

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Von diesem Standpunkt aus spricht die Annahme der Uniform für ein Klima der »Normalisierung« im Verhältnis zur Vergangenheit. Ein Klima, das die Gegenwart der Inszenierung umso klarer charakterisiert, als Helme und Mäntel eindeutig auf die Periode 1933-1945 verweisen. Schleefs Inszenierung endet mit dem Bild eines letzten Kollektivs, das dem Endstadium dieses Transformationsprozesses der Gruppe entspricht. Während sich die Deutschlandfahne über den ganzen Steg ausbreitet, versammelt sich das Stückpersonal an einem Ende des Stegs, alle im gleichen Anzug gekleidet. In diesem letzten Kollektiv scheint nun die Zughörigkeit zu verschiedenen Lagern definitiv aufgehoben zu sein. Aber auch angesichts dieses Finales greift man zu kurz, wollte man im Sinne eines dichotomischen Lektürezugriffs dies als eine ›Niederlage‹ des Lagers der Aufständischen gegenüber dem der herrschenden Ordnung verstehen. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Form der Fusion in ein Kollektiv, das man, im Sinne Schleefs, als Erscheinungsbild der Demokratie verstehen kann: »Anzug oder Uniform? Die Demokratie ist eindeutig dem Anzug verbunden. Nach der französischen Revolution erfolgt der stufenweise Abbau der aristokratischen zur bürgerlichen Kleidung, deren ständige Bedrohung die Uniform ist […]. [Der Anzug] zeigt den Mann in einem Friedenszustand, der ihm erlaubt, die Uniform an den Nagel zu hängen.« (D: 398)

Uniform und Anzug sind jedoch miteinander gekoppelt, fordern sie doch beide die Disziplinierung des Körpers sowie des Geistes ein. Der Wunsch, dem Kollektiv anzugehören, macht es möglich, sich der individuellen Schuldfrage zu entziehen. Und auch wenn die Uniform einmal »am Nagel hängt«, bleibt die Versuchung, darauf immer wieder zurückzugreifen, bestehen – das konstatiert Schleef im Blick auf Jugendliche in seiner Geburtsstadt.14 Im 80er-Jahre-Kontext einer Aufwertung des deutschen Selbstbewusstseins, die sich auf die Überzeugung stützt, das Modell liberaler Demokratie in Deutschland (oder zumindest in einem Teil Deutschlands) habe sich bewährt, kann Schleefs Aussage als eine Kritik an der »Unberührbarkeit eines symbolischen Systems« verstanden wer-

14 »Älterwerdend, stehe ich neben Jugendlichen, deren Outfit auf faschistisches Erbe zurückgreift, das als überwunden dargestellt wird, das man auf jeden Fall im Griff habe« (D: 397).

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den, zu dem Demokratie heute für Philosophen wie Alain Badiou geworden ist.15 Schleef liegt daran, die Instabilität der politischen Beschaffenheit eines Kollektivs zu betonen. Dabei erinnert sein Schlusstableau an die Analyse Jean-Luc Nancys, der sagt, man könne »Machtphänomene nicht auf eine Mechanik der Kräfte reduzieren, die sich der Moral oder dem Gemeinschaftsideal von Gerechtigkeit und Brüderlichkeit widersetze« Der Philosoph betont dagegen: »Es verbietet sich keineswegs, in dem Streben nach Beherrschung, Einfluss oder Macht, Befehlsgewalt und Regieren, sowohl den Aspekt des ungebremsten Willen zur Unterwerfung, der Erniedrigung und Zerstörung zu sehen, als darin auch den Gestaltungswillen wahrzunehmen, die Kraft, etwas zu halten, erhalten und gestalten im Hinblick auf eine Form und dessen, was eine Form zutage fördern kann«.16

Das Spannungsverhältnis, in das Schleef sein demokratisches Kollektiv setzt, entspricht durchaus diesem ontologischen Zwiespalt, in dem sich »Barbarei und Zivilisation gefährlich nahekommen«, eine Gefahr, die »ein Indiz für die Unbestimmtheit und den offenen Charakter des Impulses zur Macht- und Besitzergreifung ist«.17 Indem Schleef den Chor auf die Bühne des Sprechtheaters zurückbringt, stellt er keinesfalls ein Ideal des Kollektivs aus – wie auch Lehmann treffend anmerkt18 –, genausowenig aber ergeht er sich in der Behauptung, innerhalb des deutschen Kontextes sei Demokratie dauerhaft unmöglich. Er regt zu einer notwendigen Hinterfragung politischer Funktionsweisen an, die nur lebendig bleiben, solange sie ihre eigene Definition permanent infrage stellen. Zahlreiche Inszenierungselemente, wie zum Beispiel die überdimensionale Deutschlandfahne, die das Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und nationaler Machtsymbolik bildstark zum Ausdruck bringt, bewahren den Charakter einer permanenten Ambiguität. Die Inszenierung wird so zum Ort der Unterminierung eines neuen nationalen Selbstbewusstseins in Zeiten des Neokonservatismus der Ära Kohl.

15 Badiou, Alain: »L’emblème démocratique«, in: Giorgio Agamben et al.: Démocratie, dans quel état ?, Paris: La Fabrique 2009, S. 10-17, hier S. 15. (Übersetzung aus dem Französischen: E. Béhague). 16 Jean-Luc Nancy: »Démocratie finie et infinie«, in: ebd., S. 89. 17 Ebd. 18 H.-T. Lehmann: Theater des Konflikts, S. 202.

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Im Zentrum von Goethes Drama steht die Figur des ›Helden‹, der sich der herrschenden Ordnung widersetzt, ein Held, dessen national-politische Dimension bereits ausgiebig thematisiert wurde.19 Die Auseinandersetzung mit diesem Stück heißt bei Schleef also auch eine Auseinandersetzung mit dem Stoff einer Mythoskonstruktion, vergleichbar mit seiner Herangehensweise ein Jahr später an Faust.20 Sein Ausgangspunkt ist offensichtlich die Feststellung einer permanenten Sehnsucht nach »Helden« in der deutschen Geschichte. Auch die 1991 stattfindenden Zeremonien, mit denen die sterblichen Überreste Friedrich II. nach Sanssouci überführt wurden, sind für Schleef ein Beleg dieser Sehnsucht. Auch hier wieder geht die Versöhnung mit Geschichte mit dem Bedürfnis einher, sich einer Schuld zu entledigen: »Das alles zu einem Punkt, wo der Wunsch Schuld abzuladen, unschuldig, nicht haftbar zu sein, sich immer mehr in den Köpfen festsetzt, um das jetzt ins Bewußtsein dringende, in beiden deutschen Staaten entstandene Vakuum vergessen zu lassen, das auch keine Partei mehr füllen kann, nur füllen konnte, solange der BRD-Aufstieg anhielt.« (D: 380)

Dieser Konnex zwischen Aufwertung des Helden und Abwälzen von Schuld ist ausschlaggebend für den Umgang mit dem Helden in Schleefs Inszenierung der Geschichte Götzens und verstärkt seine Lesart als eine Reaktion auf das dominierende geschichtspolitische Klima in der »alten« Bundesrepublik. Die Sehnsucht nach Helden kristallisiert sich im Goethes Text im Motiv der Bauern heraus, die Götz unbedingt als Anführer ihres Aufstands sehen wollen. Schleef allerdings vertieft die Komplexität dieses Konnex’ nicht nur anhand dieses einen Motivs. Vielmehr stellt er den Prozess der Heroisierung auf den Kopf, indem er die Einverleibung der

19 Siehe zum Beispiel Albert Leitzmann, Herausgeber der Autobiographie Götzens Lebensbeschreibung Herrn Götzens von Berlichingen (Halle: Max Niemeyer 1916), dessen Einleitung mit folgenden Worten endet: »Dieser [neue Abdruck] ist vor dem Ausbruch unsres großen Krieges im Juli 1914 begonnen und nach längerer Unterbrechung nunmehr in den Tagen des serbischen Feldzugs zu Ende geführt worden. Möchte der Schlusswunsch des alten Pistorius (S. 218) auch unserm siegreichen deutschen Vaterlande sich bald aufs neue erfüllen!« (S. LII). 20 Siehe dazu Wiens, Birgit: »›Mein lieber Sohn … du mußt sterben!‹ Einar Schleefs Faust-Inszenierung als De-Konstruktion eines deutschen Mythos«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), »Im Aufwind?«. Faust Inszenierungen der neunziger Jahre, Tübingen: Niemeyer 2002, S. 63-88.

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Figur in ein Kollektiv offenlegt, egal ob es sich bei diesem Kollektiv um eine Armee oder Demokratie handelt: »Das Problem des Rückzugs des Offiziers in den Stab und später in die Verwaltung, seine Umformung zum Beamten, diesen Konflikt beschreibt schon Goethe in GESCHICHTE GOTTFRIEDENS VON BERLICHINGEN MIT DER EISERNEN HAND DRAMATISIRT in dem sich entzweienden ›Bruderpaar‹ Götz und Weislingen.« (D: 383)

Aber Weislingen ist, wie oben bereits gezeigt wurde, keinesfalls der einzige, der diese Umformung vollzieht. Der emblematische Held ist Götz, und die szenischen Mittel, die die Entwicklung seines Bezugs zur Gruppe kennzeichnen, müssen an dieser Stelle hervorgehoben werden. Zu Anfang sträubt sich Götz gegen seine eigene Integration in die Welt der Politik. In der von Schleef verfassten Synopsis des Stücks unterstreicht er das Außenseitertum der Figur und unternimmt dabei eine unmissverständliche Entmythisierung: »Der Ritter Berlichingen ist zum Raubritter verkommen, hoffentlich gelingt ihm jetzt der letzte Coup, er hofft seine Schwester an seinen Jugendfreund Weislingen zu verschachern, der inzwischen Staatsdiener geworden ist und mit Berlichingens Feinden Hand in Hand arbeitet«.21

Ein solches Figurenkonzept lässt nun jene Szene in einem anderen Licht erscheinen, in der die Figur dem Kaiser gegenüberstehend sich dem erhobenen Ort der Macht zuwendet und sich gerade gegen jenen Vorwurf verteidigt, ein Räuber zu sein. Denn hier geht es nicht mehr um eine Figur, die sich gegen die Anschuldigung verteidigt, sich bewusst außerhalb der sozialen Ordnung gestellt zu haben. Sondern es geht um die implizite Anerkennung Götzens, seiner Reintegration ins politische Kollektiv. Schleef diagnostiziert diese Integration: »Berlichingen stellt sich wieder dumm. Er will aufgeben. Er hat schon aufgegeben«.22 Vor diesem Hintergrund ist der Kontrast zwischen dem Anzug Götzens, den er seit seinem Auftritt vor dem Rat trägt, und dem Barbarenkostüm des brüllenden Sickingen umso größer. Durch diese radikale Opposition markiert Schleef den Unterschied zwischen den beiden Figuren weit deutlicher als im Drama selbst. Aber die ironische Übertreibung von Sickingens Kostümierung hebelt auch jede Interpretation aus, die diese Figur einem Götz gegenüber aufwerten wollte, weil letzterer sich nun 21 E. Schleef: Tagebuch 1981-1998, S. 166. 22 Ebd., S.170.

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vom Aufstand distanziere und seine Reintegration ins Lager der Machthaber akzeptiere. Das Zeichen, das dieser Integration nun folgt, ist der Übergang vom Kampf zum Schreiben. Goethe hatte sich für das Drama einer historischen Tatsache bedient, insofern der ›historische‹ Götz von 1560 an auf der Burg Hornberg seine Biographie aufschrieb. Auf der Bühne bringt Schleef jenes Prinzip der Simultaneität, das er für den Stoff für charakteristisch hält, zur Geltung, indem er in der Frankfurter Spielstätte Bockenheimer Depot das Schreibmaschinenklappern an einem Ende des Stegs tönen lässt, während gleichzeitig andere Handlungen stattfinden. Der Regisseur kommentiert diesen Übergang zum Schreiben als eine unfreiwillige Maßnahme: »Berlichingen vertauscht gezwungenermaßen das Schwert mit dem Gänsekiel. Er schreibt seine Autobiographie zu seiner Rechtfertigung […] Er soll schreiben, er muss schreiben, so ist er in einem doppelten Gefängnis. Berlichingen knurrt, er will kämpfen, doch er tippt weiter. Buchstabe für Buchstabe schlägt seine eiserne Hand.«23

Der Schluss der Aufführung zeugt außerdem von einer Zuspitzung dieser Entwicklung. Aus seiner Rolle heraustretend, spielt der Schauspieler Martin Wuttke nicht mehr, sondern ›liest‹ den Text der Figur, der zuvor auf der Maschine getippt wurde. Durch diese Verfremdung vollendet er die Assimilierung, so als ob die Figur von jetzt an nurmehr ein literarisches Objekt wäre, das – darin Sinn und Zweck der Deutschlandfahne wie oben ausgeführt entsprechend – sich als Projektionsfläche von Ideologien aller Art anbietet. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik deutet Hegel Götz von Berlichingen folgendermaßen: »Die Zeit des Götz und Franz von Sickingen ist die interessante Epoche, in welcher das Rittertum mit der adeligen Selbständigkeit seiner Individuen durch eine neu entstehende objektive Ordnung und Gesetzlichkeit ihren Untergang findet. Diese Berührung und Kollision der mittelaltrigen Heroenzeit und des gesetzlichen modernen Lebens zum ersten Thema gewählt zu haben, bekundet Goethes großen Sinn.«24

23 Ebd. 24 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik. Erster und zweiter Teil, Stuttgart: Reclam 1971, S. 285.

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Mit der Inszenierung dieses Stoffs im Kontext der 80er Jahre unternimmt Schleef eine Relektüre dessen, was man als Geschichtsdrama definieren kann, im Sinne einer möglichen Matrix, um nicht-historische Mechanismen der Kollektivbildung aufzuzeigen – so wie er es übrigens auch in seinen anderen Projekten dieser Frankfurter Zeit tut. Zahlreiche Elemente legen aber nahe, diese Auseinandersetzung mit dem Drama auch als eine implizite Kritik am politischen Klima zu verstehen, das insbesondere von der Reaffirmation eines kollektiven Selbstverständnisses in der BRD geprägt war. Im Widerspruch zur ideologischen Indienstnahme dieses Stoffs, die einen affirmativen Diskurs über die kollektive, bzw. nationale Identität produziert, widersetzt sich das Theater hier der politischen Haltung, im Erfolg der (westdeutschen) Demokratie eine Überwindung der Geschichte zu sehen. Bereits hier kommt eine grundsätzliche Skepsis bei Schleef zum Ausdruck, die sich später in den Nach-Wende-Jahren hinsichtlich des neuen gesamtdeutschen Kontextes in Inszenierungen wie Wessis in Weimar (1993) weiter zuspitzen wird.

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UND DIE F OLGEN : G ESCHICHTE ( AUF -) SCHREIBEN

ZWISCHEN MEDIEN UND REVOLUTION. EIN STREIFZUG DURCH DIE THEATERTEXTE DER WENDE JUTTA WOLFERT

Der Mauerfall und die nachfolgenden politischen wie gesellschaftlichen Veränderungen haben eine Fülle von deutschen Theatertexten hervorgebracht. Plötzlich gab es, was die westdeutsche Kritik in den Jahren zuvor lauthals vermisst hatte: deutsche Zeitstücke. Gegenwart in Theatertexten, Wirklichkeit. Autoren, die sich einmischen wollten, auch unter der Gefahr, von den Ereignissen überrollt zu werden. Streitbare Stücke, mit erhitzter Feder geschrieben. Zeitnahe, nicht zeitlose Theatertexte.1 In diesen Theatertexten der Wende und Nachwendezeit fällt eine neue Intermedialität ins Auge, die den Autor als Nutzer technischer Medien ausweist und das Publikum als eben solchen anspricht. Ähnlich der tragenden Rolle, die das westdeutsche Fernsehen im Revolutionsverlauf spielte, werden viele der neuen Theatertexte von TV, Video und Monitoren geprägt. Theaterautoren schreiben Fernsehen, Videokameras, Monitore in ihre Texte ein, was vorher die Theaterregisseure im Sinne der Bebilderung für sich beanspruchten. Autoren sind nicht mehr allein für das literarische Wort zuständig, die Bibliothek ist dem Theaterautor nicht mehr alleinige Heimat. Gleichermaßen nimmt er das audiovisuelle Angebot wahr. So entstehen hybride Bühnentexte, die die Bühne frei machen für Interaktionen mit Bild und Ton, für mediale Wahrnehmungsformen, Medienthemen. 1989 machte deutlich: Zeitgeschichte ist von ihrer audiovisuellen Vermittlung nur noch schwer trennbar. Medieninhalte und -formen sind Material, mit dem Theaterautoren umzugehen haben, wollen sie sich nicht aus der Gegenwart heraushalten. Geschichtsbewusstes szenisches Schreiben bzw. szenisches Schreiben am Puls der Zeit ist

1

Eine vollständige Auflistung findet sich in: Wolfert, Jutta: Theatertexte zwischen Medien und Revolution 1989-1996, Berlin: Alexander Verlag 2004. Alle folgenden Zitate aus Theatertexten können dort nachgeschlagen werden.

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heutzutage intermedial. Dramengeschichtlich darf von einem Paradigmenwechsel gesprochen werden. Die neuen intermedialen Zeitstücke lösten zum einen den sprach- wie bildbezogenen Ästhetizismus ab, den das hoch subventionierte westdeutsche Theater der 80er Jahre prägte, zum anderen das DDR-Drama, das durch die »geschichtliche Dimensionierung des Gegenwartsprozesses im Zugriff auf Welt- und Menschheitsfragen«2 glänzte und »nationalliterarische Qualität«3 errang. Sind Theatertexte der 80er Jahre von (poststrukturalistischer oder postmoderner) Entdramatisierung gekennzeichnet (Dekonstruktion, Intertextualität, Autoreflexivität, Polyphonie), wurden ihnen Figuren und Handlung genommen, so geht es dem Drama in den 90er Jahren an die (hohe) Sprache. War das Theater der 80er Jahre weitestgehend ein Raum der ›hohen‹ Kunst, so wird es nach 1989 nach und nach zur Verlängerung eines mediatisierten Alltags. War es in beiden deutschen Staaten eine Institution des traditionell medienfeindlichen, buchorientierten Bürgertums,4 so öffnet es sich in den 90er Jahren einer Entwicklung, für die der Fall des Eisernen Vorhangs einem Dammbruch geichkam: hin zur Medien-Massengesellschaft. Diese Entwicklung lässt sich auch als Entliterarisierung beschreiben. »Claudia, ich meine es ernst, in unsere gemeinsame Wohnung, falls es je eine geben sollte, kommt mir kein Telefon, und erst recht keines mit einem scheißintegrierten Anrufbeantworter; als wir noch nicht erreichbar waren, waren wir glücklich!«, schreit Ulrich, Hauptfigur in John von Düffels Wende-Komödie Gelobtes Land, die 1992 am Theater der Alt-

2 3 4

Reichel, Peter: Auskünfte. Beiträge zur neuen DDR-Dramatik, Berlin (DDR): Henschel 1989, S.275. Ebd. Irmer, Thomas/Schmidt, Matthias/Bergmann, Wolfgang (Hg.): Die Bühnenrepublik. Theater in der DDR, Berlin: Alexander Verlag 2003, S.132: »Von seinem Wesen her eine bürgerliche Kunst, was sich auch in der hierarchischen Organisation und der traditionellen Architektur niederschlägt, war es als solche in die DDR übernommen worden – und ungeachtet aller ideologischer Überformungen geblieben.« Ebd., S.162: »Sämtliche Bemühungen, bei der Bevölkerung ein Interesse am Theater zu wecken, ob mit Volkstheater oder anspruchsvollen Brecht-Erkundungen, zeigen immer deutlicher, dass in den siebziger Jahren Theater eine Angelegenheit der gut ausgebildeten DDR-Mittelschichten geworden ist. Die Werktätigen im Arbeiter-und-Bauern-Staat, denen die preisgünstigsten Kollektiv-Abos fast schon als Geschenk auf die Werkbank gelegt werden, gehen kaum ins Theater und ziehen, sofern möglich, das West-Fernsehen nicht nur zur Entspannung, sondern auch zu ihrer Information vor.«

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mark Stendal uraufgeführt wurde. Ulrich ist ein Westler, extra in den Osten gezogen, um authentischer, anders zu leben, und dazu gehörte eben die telefonfreie Zone! Nach 1989 endete zwischen beiden deutschen Staaten eine Ungleichzeitigkeit, die allgemein die Technik und also auch die Medientechnik betraf.5 Die Bürger der ehemaligen DDR fanden sich bald in neuen Kommunikationsverhältnissen wieder: ohne Zensur, mit Telefonen, Video, Computern für alle, neuen Rundfunkanstalten zum 31.12.1991, einer neuen Presselandschaft. Endlich gab es eine Öffentlichkeit statt lauter Ersatzöffentlichkeiten, wie es etwa die inoffizielle Literaturszene des Prenzlauer Bergs gewesen war oder ausgewählte Theater. Ein ganzes Land stellte von grau6 auf farbig und drehte auf, von leise auf laut. Das Mikrophon ersetzte plötzlich die vorgehaltene Hand,7 die Kamera und das Fernsehstudio den Schreibtisch.8 Das »künstlich erzeugte ›Leseland‹«9 DDR brach zusammen, indem der Mauerfall die Literatur von ihrer staatstragenden wie kritischen Funktion befreite, um mit Christoph Hein zu sprechen, davon erlöste, den »Gral«10 eines richtigen Sozialismus im falschen finden zu müssen, und sie unter marktwirtschaftliche Gesetze stellte. Lutz Rathenow, Autor der ›Prenzlauer Berg Connection‹, schrieb nicht nur ein Stück über das unrühmliche Ende dieser Literaturszene, Autorenschlachten, sondern schlug auch eine Intermedia Performance vor, um endlich mit den Papiermengen der Akten fertig zu werden, die über die Szene verfasst wurden: »Warum nicht Publikum und die Schauspieler durch Aktenkopien waten lassen. Die Sätze zerreißen und neu formen.

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Die DDR baute ihren ersten Videorekorder, den Egon Krenz für 7300 Ostmark unters Volk bringen wollte, im Oktober 1989! 6 Vgl. Grünbein, Durs: Grauzone morgens. Gedichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 sowie »das tägliche DDR-Grau« in: Krätzer, Jürgen: »Von Lust und Frust im Dreibuchstabenland«, in: Heinz-Ludwig Arnold (Hg.), DDRLiteratur der neunziger Jahre (= Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband), München: Richard Boorberg 2000, S.32. 7 Siehe die Montagsdemonstrationen, die bald im Schutz und Schein westlicher Kameras stattfanden. 8 Siehe Heiner Müller, der sich nach der Wende auf das Geben von Interviews verlegte. 9 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Berlin: Aufbau 2007, S.447. 10 Hein, Christoph: Die Ritter der Tafelrunde. Schauspiel in drei Akten, in: Theater heute 7 (1989).

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Einen Abend lang Papier zerknüllen und die Aktensätze mit den Erinnerungen an die Gesprächssituationen konfrontieren.« War die DDR, nach außen mit Beton befestigt, im Innern doch ein Gebilde aus Papier? »Papier schlägt Stein/Kein Mensch wiegt mehr als seine Akte, Tinte/Säuft Blut. Die Remington ersetzt die Mauser/Und jede Akte ist die Heilige Schrift«, schreibt Heiner Müller in Germania 3 Gespenster am toten Mann, seinem dramatischen Nachruf auf das zwanzigste Jahrhundert, 1996 am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt. Die Zeit nach 1989 führte vor Augen: eine dritte Macht hatte sich zwischen Individuum und Gesellschaft, Individuum und Geschichte gedrängt. »Aufschreibesysteme«11, Verbreitungstechnik. Kommunikationsmittel, technische Welten. Folglich hat sich dieses Dritte auch zwischen Bühne und Zuschauer geschoben. Praktisch bedeutet das, dass in den Theatertexten der Wende technische Medien thematisiert, imitiert, eingesetzt oder vorausgesetzt werden. Die Theatertexte widmen sich Inhalten und Formaten, Präsentations- und Rezeptionsformen, wie sie sich an den Schnittstellen von Medien und Gesellschaft, Mensch und Technik, Bühne und Bildschirm entwickeln. Sind Medien Teil der Fiktion, folglich als Objekte auf der Bühne oder als Thema bedeutsamer Teil der dargestellten Geschichte, lässt sich von dramatischer Intermedialität sprechen. Die Medien sind Figuren und Dialog untergeordnet, die dramatische Form bleibt erhalten. Solche Texte formulieren ihr medienbezogenes Anliegen, indem sie es dramatisieren. So erinnert Jochen Berg in seiner Szenenfolge Fremde in der Nacht, die 1992 an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin uraufgeführt wurde, an die strategische Rolle des Fernsehens im Kalten Krieg.12 In einem Bunker abgeschirmt von der Außenwelt, verfolgt ein Parteigenosse im Fernsehen, wie die Mauer fällt. Filmischer Diversionsversuch des Klassenfeindes, lautet seine Erklärung; als die Bilder der Öffnung 11 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Fink 1985. 12 Der Auftrag der SED an die Massenmedien lautete Agitation, Propaganda sowie Produktion und Verbreitung sozialistischer Ideologie. Die Medien der BRD standen offiziell unter Manipulations- und Diversionsverdacht. Vgl. Bisky, Lothar/Friedrich, Walter: Massenkommunikation und Jugend. Zur Theorie und Praxis der Massenkommunikation und ihren Einflüssen auf die sozialistische Persönlichkeitsbildung und Bewusstseinsentwicklung Jugendlicher, Berlin (DDR): Dt. Verlag der Wissenschaften 1971; Blaum, Verena: Marxismus-Leninismus, Massenkommunikation und Journalismus. Zum Gegenstand der Journalistikwissenschaft in der DDR, München: Minerva 1980.

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nicht enden wollen, wähnt er die Staatssicherheit in seinen Kanälen, die versucht, ihn verrückt zu machen. Der unlösbare Widerspruch zwischen den Fernsehbildern und seinem Feindbild entlädt sich am Ende in einem Amoklauf. Thorsten Enders beklagt in seinem Stationendrama Kowatz, das 1991 an den Städtischen Bühnen Augsburg uraufgeführt wurde, den Bedeutungsverlust der Reformer noch während der Revolution: sie, eine »lesende, denkende und sprechende Minderheit«13, hatten in den Demonstrationen die »hörenden, sehenden und schweigenden Mehrheiten«14 gesucht und wurden von ihnen erst mit den Füßen, dann mit dem Wahlzettel überstimmt. Schuldig sei die westliche Unterhaltungselektronik. Statt nach Selbstermächtigung giert das Volk nach audiovisueller Betäubung. Leben sei Video, behauptet der Präsident des Revolutionstribunals, der statt zu Gericht vor dem Fernseher sitzt. Das Wort hat gegen das Bild verloren, die Idee gegen die Befriedigung der Instinkte, Politik gegen (die nun leicht verfügbare) Pornographie.15 Auch Holger Teschkes Held, der spätere »Feuerreiter«, sucht im gleichnamigen Monodrama, das 1994 am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt wurde, nach Schuldigen für eine veruntreute Revolution, die ihn, den kleinen Mann, in die Verelendung entlassen hat: Da die so genannten Bonzen nicht greifbar sind, bleiben nur die Bücher. Gebildet und trotzdem verarmt? Am Ende legt der Verzweifelte, der sein Leben den Büchern gewidmet hat, Feuer an sein scheinbar nutzloses Kapital, Wände füllende Bücherregale; die Lunte für den Weltenbrand. Der Aufstand der Verlierer möge beginnen. Ein ähnliches Anliegen formuliert Harald Mueller in seinem Stück mit Gesang Doppeldeutsch, das 1992 am Volkstheater Rostock zur Uraufführung kam: Ostdeutschland den Ostdeutschen zurückzugeben. Im Hintergrund der Szene dräut eine gewaltsame zweite Revolution, während im Vordergrund, wie die sprichwörtliche Heuschreckenplage mit Hubschraubern vom Himmel geflogen, westdeutsche Industrie und Medien die Ostdeutschen vor laufender Kamera in ihre Rollen verweisen: der demütig dankbar Befreiten.

13 Hanke, Helmut: »Das ›deutsche Fernsehen‹ – doch kein Nullmedium? Fernsehgesellschaft und kulturelle Chance«, in: Peter Hoff/Dieter Wiedemann (Hg.), Medien der Ex-DDR in der Wende, Berlin: Vistas 1991, S.723. 14 Ebd. 15 Vgl. das Verbot der Verbreitung pornographischer Schriften im Strafgesetzbuch der DDR.

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Auch in Claus Chattens Stück Sugar Dollies, das 1996 in London die Uraufführung erlebte, geht es um die psychophysische Anpassung der Ostdeutschen an Westniveau. Die Videokamera führt live den Beweis, dass dies in weiter Ferne liegt. Die ostdeutsche Kandidatin, die zum Casting kommt, darf sich selbst am Monitor von ihrer Unzulänglichkeit überzeugen. Hatte das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu Mauerzeiten den Auftrag, gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes grenzüberschreitend für das gesamte deutsche Volk zu senden, so hat es sich jetzt staatstragend zur Aufgabe gemacht, die neue Nation zusammenzuhalten. Die Schönheit des 9. November 1989, mittlerweile verblasst, soll aufpoliert werden, mit schönen Zeitzeugen, die schöne Gefühle erzeugen. Andreas Marber führt in seinem Stück Das sind sie schon gewesen die besseren Tage, 1994 am Staatstheater Stuttgart uraufgeführt, solche deutsch-deutschen Unterschiede ad absurdum. Marbers Figur Chris Doerk, der gleichnamigen Schlagersängerin der ehemaligen DDR abgeguckt, lebt sei Jahren als Kneipenwirt Christian in Stuttgart. Christian verkörpert beispielhaft postmoderne Gender-Theorie, dahin gehend, dass es keine gewachsenen, sondern nur gewählte Unterschiede gebe. Der postmoderne Mensch realisiert sich (und seine Geschlechterrolle) auf den Bühnen, die das Leben ihm bietet. Geschichte wird so verfügbar in Form von abrufbaren Geschichten. Eine zweite Gruppe von intermedialen Theatertexten nimmt keinen primär interpretierenden Bezug auf technische Medien, sondern macht diese erfahrbar. Der Autor begibt sich in ästhetische Auseinandersetzung mit den Medien. Er schreibt multimedial. Die Grenzen dramatischer Darstellung werden technisch erweitert. Solche Theatertexte binden den Zuschauer vermehrt als sinnlich Wahrnehmenden ein. Er ist tendenziell Teilnehmer eines Experiments. Zwischen Drama und Medien-Performance angesiedelt, sind solche Texte auf eine sinnliche Wirkung ausgerichtet, kommen manchmal einer Schule der Wahrnehmung gleich. Eine an Performance-Ästhetik ausgerichtete multimediale Anordnung verwirklicht Kerstin Specht in ihrer »Begehrensgeschichte« (so der Untertitel) Mond auf dem Rücken, die 1994 am Pfalztheater Kaiserslautern uraufgeführt wurde. Sie operiert gleichzeitig mit einem Diaprojektor, der Fotos der Grenzöffnung an die Wand einer postindustriellen Höhle, eines aufgelassenen Stollens an der innerdeutschen Grenze, wirft: Bilder von »stürzenden Wachtürmen, Panzerstraßen, umgepflügten Todesstreifen«, aber auch »Lichtmalereien«, sowie mit einer Videokamera, die jeden, der sich der Höhle nähert, auf einen Fernseher überträgt. Specht nutzt das Rahmenmedium Theater, um die Medialität der Kommunikation vorzuführen. Projektionen, Videobilder sowie die Narrationen beider auftretenden Figuren, eines alten, erinnerungsseligen Höhlen-

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sitzers und einer jungen, zukunftssüchtigen Höhlenflüchterin, wirken für sich. Sie ergeben kein Gesamtbild der Wende, sondern treten in ihrer Materialität hervor. Allein der Anklang an das platonische Höhlengleichnis verleiht dem Präsens aus Bilderfluss und Redefluss, der mit der Einlösung des Begehrens abbricht, mythische Tiefe. Gerlind Reinshagen stellt in ihrem Einakter Drei Wünsche frei die Erfahrung der Mittelbarkeit ins Zentrum, indem sie eine Toncollage zum Handlungsträger macht. Die Toncollage vertritt, als Chor bezeichnet, akustisch das Kollektiv. Doch technisches Medium und dramatische Form sind gegeneinander gerichtet. Indem das Tonband jegliche Interaktion verhindert, wird das Drama in seinem dialogischen und handelnden Kern zerstört. Die Protagonistin ist zum Reagieren und Monologisieren verdammt. Ihre Ohmnacht ist technisch bedingt. Stand in der griechischen Tragödie aus Protagonist, Antagonist und Choreuten der Mensch im Mittelpunkt, so ist es jetzt eine anonyme und unsichtbare technische Macht. Die revolutionäre Nacht des 9. November endet in Drei Wünsche frei nach einem Moment der Freiheit in der Wiederkehr des Alten, in (akustischer) Gewalt. Simone Schneider inszeniert in ihrem Stück Die Nationalgaleristen, das 1994 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde, eine Gesellschaft der Kunst und Künstlichkeit. Das Abbild oder Zerrbild (damaliger) westlicher Lebenskultur?16 Durch penetrante Blackouts entsteht ein fotografisches Wahrnehmungsmuster: vordergründig, oberflächlich und schnell. Figuren und ihre Grüppchen tauchen auf und wieder ab, ohne dass es Verknüpfungen oder Geschichten gäbe. Mit einfachen Theatermitteln imitiert Schneider eine Bildschirmästhetik, »deren Bestandteile, Erscheinungsformen, Gestalten immer schneller rotieren, auftauchen und verfließen, in der anscheinend das einzig Fassbare oder Bleibende das Sich-selbst-immer-wieder-Verflüchtigen ist.«17 Die Institution der Nationalgalerie, in der sich die Figuren tummeln, steht für eine neue Nation, in der nichts existiert, von dem es nicht ein Bild gäbe. Weltanschauung ist Bildanschauung. Selbsterkenntnis ist Selbstbespiegelung. Entweder malt man ein Bild von sich oder fotografiert sich. Um Kontakt aufzunehmen, drückt man dem andern sein Bild in die Hand oder projiziert es gleich lebensgroß auf die Leinwand. Treff-

16 »Kommunikation vor Arbeit, entspannte, hedonistische Gegenwartsbetontheit, Selbstinszenierung, Ästhetisierung«. W. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte, S. 524. 17 Fiebach, Joachim: Inseln der Unordnung. Fünf Versuche zu Heiner Müllers Theatertexten, Berlin: Henschel 1990, S. 11.

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punkt ist sinnfällig der Europasaal; Europa, das sich gerade vergrößert hat. Doch keiner der Besucher oder Bewohner der Nationalgalerie ist mit Geschichtlichem beschäftigt. Bilder, auch die der ehemaligen DDR, werden rein ästhetisch wahrgenommen. Die Zeitachse fehlt. Etwas wie Posthistorie, Nachgeschichte, ewige Gegenwart, ist erreicht. Die simultane filmische Verdoppelung des Bühnengeschehens, die Oliver Bukowski seiner »zeitgenössischen Hanswurstiade« (so der Untertitel) Intercity einschreibt, ist eine intermediale Praxis, mit der seit den 70er Jahren experimentiert wird. Der Autor drückt einer seiner Figuren, einem Rollstuhlfahrer, eine Videokamera in die Hand. Dessen Bilder werden live auf mehreren Monitoren gen Parkett übertragen. Totale und Bildsplitter konkurrieren miteinander, Nähe und Distanz. Ein Arrangement, das den Zuschauer in ein Hin und Her der Wahrnehmung stürzt, inter media, zwischen Bühne und Bildschirmen, das zudem den entscheidenden Schritt der Kamera wiederholt, mit dem der Film filmisch wurde, nämlich über die Rampe hinein ins gespielte Geschehen, in die Bewegung. Intercity erzählt vom Freizeitverhalten unterprivilegierter Schichten, die sich technisch ermächtigen, die längst nicht mehr naiv und unbedarft agieren: Bukowskis ostdeutsche Dorfgemeinschaft weiß, dass Bilder blutig sein müssen, damit sie um die Welt gehen. Deshalb wollen sie bei laufender Kamera den Intercity entgleisen lassen, der täglich durch ihr Dorf rast und sie mit Unbedeutsamkeit straft. Bildet die erste Gruppe medienbezogener Texte die Gesellschaft in ihrem Verhältnis zu den Medien ab, experimentiert die zweite, mit Medien operierende, Gruppe von Texten mit den Sinnen des Zuschauers, so knüpft eine dritte Gruppe an Medieninhalte an. Ihr Bezug zu den Medien vollzieht sich auf der Ebene des Diskurses. Besondere Aufmerksamkeit gebührt bei solchen Texten der Autorfunktion, dem Werkbegriff und der dramatischen Figur. Der Autor von Texten, die solchermaßen diskursiv intermedial operieren, präsentieren sich als Medium der Medienwelt. Demzufolge kann von einem abgeschlossenen oder zeitlosen Werk nicht mehr gesprochen werden. Figuren solcher diskursiv strukturierter Texte stehen weniger im Dialog untereinander als im Dialog mit dem medialen Diskurs. Oft richten sie sich direkt an den Zuschauer, dem oft ein gewisses, aus den Medien bezogenes Vorwissen abverlangt wird. In Rainald Goetz’ Theatertext Festung, der 1992 am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wurde, ist das Fernsehen gesamtgesellschaftliches Dispositiv. Das Fernsehen bestimmt, was und wie wir reden: über alles und nichts. Außerdem reden wir alle gleich, möglichst belanglos. Von »Kommunikationskommunismus« ist die Rede. Wir reden viel zu viel

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und aneinander vorbei. Nur der Autor, der vor dem Fernseher sitzt, hört hin und schreibt das Unerhörte mit: Entgleisungen, Banalisierungen, die den Holocaust betreffen.18 Den Rahmen des Textes gestaltet eine Spiel-Show, in der Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Unterhaltung gegen verschiedene, abstrakte Themenbereiche antreten. Festung ist eben kein Abbild der mediopolitischen Fernsehkaste, sondern bleibt ein abstrakter Text. Es gibt keine Handlung, keine Figuren, nur Sprecher und Sprache. Gegen letztere führt Goetz einen Prozess. Die Bühne fungiert als Gericht, vor dem sich das Reden über den Holocaust verantworten muss, weil es das Eingedenken deutscher Schuld verhindere, einer gesamtdeutschen Schuld. Dieses Gerede nimmt am 9. November 1989 im Berliner Literarischen Colloquium am Wannsee seinen Ausgang und endet am gegenüber liegenden Ufer im Haus der Wannseekonferenz, in dem am 20. Januar 1942 die ›Endlösung der Judenfrage‹ geregelt wurde. Festung erinnert: Wenn man den 9.11.1989 feiert, feiert man auch die anderen 9. November der deutschen Geschichte, die Reichskristallnacht, den Hitlerputsch. Herbert Achternbuschs »Revolutionsfarce« (so der Untertitel) Auf verlorenem Posten, 1990 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt, ist die bühnengemäße Fortschreibung dessen, was über Weihnachten 1989 von den Revolutionen in Rumänien und in der DDR zu sehen und zu hören war. Sie mündet in Resignation über die Restauration. Auch Auf verlorenem Posten lässt Handlung, Ort und Charaktere vermissen. Die Erzählerfigur, der fast schon sprichwörtliche ›graue Mann‹ aus der DDR, ist Kreuzungspunkt sekundärer Erfahrungen, die vor dem Bildschirm gemacht werden (oder der Zeitung entstammen), und einer fiktiven Geschichte über eine verlorene Liebe. In Auf verlorenem Posten spricht das mediale Material, manchmal als Botenbericht vorgetragen, manchmal gegenständlich wie die bekanntesten Realmetaphern der Wende, Banane und Trabant, die auf der Bühne zum Einsatz kommen. Achternbuschs Text ist größtenteils Reproduktion der Reproduktion. Durch eine naive Anschauungsweise, die auf Hintergründe und Logik verzichtet, bringt der Autor gelegentlich Unordnung in die mediale Ordnung. Zusammenfassend lässt sich sagen: einmal mehr haben Autoren, diesmal Theaterautoren, Gespür bewiesen für Veränderungen in der Ge18 Natürlich sind die Rollen des »Schreibers« und »Schriftführers«, die sich Goetz verleiht, Stilisierungen. Goetz dichtet in Kunstsprache. Außerdem strukturiert er sein Fernsehmaterial durch ein komplexes System von Autorenpraktiken. Vgl. J. Wolfert: Theatertexte zwischen Medien und Revolution, S. 179ff.

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sellschaft.19 In vielen Texten übernimmt das Massenmedium Fernsehen die Rolle des klassischen Protagonisten: als Verführer der Massen, Verräter an der Idee, Usurpator eines fremden Landes. Außerdem ist es Dramaturg und Regisseur der Geschichte und Vertreter der Öffentlichkeit. Eine lesende Elite geht in einer unterhaltungssüchtigen Masse unter, ein Volk holt technisch auf. Aus Zuschauern werden (Selbst-)Darsteller. Casting wird Metapher für den deutschen Alltag. Die Welt zerfällt nicht mehr in wahr oder falsch, sondern in schön oder hässlich; die Gesellschaft nicht mehr in links oder rechts, sondern in sichtbar oder unsichtbar. Fürs Theater bedeutet das leider auch: Es hat Konkurrenz bekommen. Wo immer eine Kamera ist, entsteht eine Bühne, werden Menschen zu Spielern. Die Welt zerfällt in Simultanbühnen und wird am Monitor neu zusammengesetzt. Theater hat seinen (brechtschen) Anspruch auf Erkenntnis verloren. Es ist Plattform oder Spielfeld unter anderen.

19 Mehr als die Wissenschaft beispielsweise. »Die Bedeutung der Medien beim Zusammenbruch des Kommunismus 1989-91 gehört zu den wissenschaftlich eher wenig untersuchten Aspekten des Umbruchs. Dies gilt paradoxerweise, obwohl sich zeitgenössische Beobachter und Medientheoretiker darüber einig sind, dass die Dynamik der Ereignisse ohne die transnationale Bedeutung der elektronischen Medien, namentlich des Fernsehens, kaum hätte entstehen können.« Hans Hermann Hertle, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, www.geschichtsforum09.de/nc/programm /wortveranstaltungen/das-epochenjahr-1989/veranstaltung/1989-alsmedienrevolution-die-rolle-des-fernsehen.html

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BOTHO STRAUSS’ SCHLUSSCHOR. DRAMA DER VERPASSTEN VEREINIGUNGEN BERND STEGEMANN I.

In Schlußchor1 sind die Bezüge zu fremden Wissensbeständen zahlreich wie in allen Botho Strauß Texten. Die Gleichzeitigkeit der Diskurse wird auf der Ebene der Darstellung behauptet, um die dargestellte Handlung mit einem kulturellen Wissen anzureichern, das helfen soll, eine Gemeinschaft bilden zu können. Die Besonderheit der verwendeten Diskurse besteht darin, dass über antike Techniken der Gedächtnisbildung die Neukonstituierung von Gemeinschaft aus einer individualisierten Gesellschaft ermöglicht werden soll. Die Sättigung der dramatischen Kommunikation mit Traditionen, aus deren gemeinsamem Fundus eine solche Bindung entstehen soll, wird hier explizit. Gedächtnisbildung und Mnemotechniken werden in Schlußchor selbst zur Handlung. Anhand dieser Vorbilder kann das Scheitern der Versuche, doch noch eine gemeinsame Geschichte herstellen zu können, demonstriert werden. Die Handlung der drei Akte entwickelt sich aus dem »Geschichtlichen Augenblick«. Dieser ereignet sich in drei unterschiedlichen Varianten. Doch in keinem Fall gelingt es, diesen Moment als einheitsstiftendes Ereignis in Handlung umzusetzen und damit dem kollektiven Gedächtnis2 in Form einer Geschichte einzuverleiben. In seinem Essay Aufstand gegen die sekundäre Welt3 formulierte Botho Strauß zum ersten Mal seine Deutung der Ereignisse vom Oktober 1989 in Deutschland:

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Strauß, Botho: Schlußchor, München/Wien: Carl Hanser 1991 (= im Folgenden: S). UA: Münchner Kammerspiele, 01.02.1991, Regie: Dieter Dorn, Aufführungsrechte: Rowohlt Theaterverlag. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M.: FischerTaschenbuchverlag 1985. Als Nachwort erschienen zu Steiner, George: Von realer Gegenwart, München/Wien: Carl Hanser 1990.

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»Wir haben Reiche stürzen sehen binnen weniger Wochen. Menschen, Orte, Gesinnungen und Doktrinen, von einem Tag auf den anderen aufgegeben, gewandelt, widerrufen. […] Was geschah, besaß etwas von jener Ereigniskraft, die man in den biologischen Wissenschaften mit dem Ausdruck ›Emergenz‹ bezeichnet: etwas Neues, etwas, das sich aus bisheriger Erfahrung nicht ableiten ließ, trat plötzlich in Erscheinung und veränderte das ›Systemganze‹, in diesem Fall: die Welt.«4

Die spezifische Qualität eines emergenten5 Augenblicks wird in den drei Akten von Schlußchor in theatralische Handlung überführt, indem drei verschiedenartige Überraschungen zum Zentrum des Geschehens werden. Das Verhalten zu einer plötzlich emergent veränderten Situation missrät aber dreimal. Im ersten Akt wird das Foto, das von einem Chor im richtigen Augenblick gemacht werden soll, verpasst. Im zweiten Akt verhindert der Blick eines Mannes auf eine nackte Frau die Erzählung ihrer Liebesgeschichte, die aus diesem Moment ein Paar hätte hervorgehen lassen können. Im dritten Akt wird die Vereinigung verschiedener Erinnerungen an deutsche Geschichte ebenso verhindert wie alle übrigen Paarungsversuche in einem Berliner Bistro am Tag der Maueröffnung. Ein verirrter Deutschland-Ruf durchhallt die verschiedenen Szenen der Akte und bildet den desorientierten Rahmen: die fragwürdige Identität der Nation6 und ihre problematische Bildung.

II. Am Tag der Maueröffnung im Oktober 1989 treffen im dritten Akt »Von nun an« in einem Restaurant im Berliner Westen eine Anzahl Personen aufeinander, deren gemeinsames Merkmal ist, Teil eines oder mehrerer Paare zu sein. Nicht nur im Sinne des intimen Paars gehören alle zu ir-

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Ebd., S. 39. »Im ›klassischen‹ Sinne bedeutet Emergenz die Entstehung neuer Seinsschichten, die in keiner Weise aus den Eigenschaften einer darunter liegenden Ebene ableitbar, erklärbar oder voraussagbar sind. Daher werden sie als ›unerwartet‹, ›überraschend‹ usw. empfunden.« Krohn, Wolfgang/Küppers, Günther (Hg.): Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 389. Vgl. Neumann, Gerhard: »Gedächtnis-Sturz«, in: Akzente 40 (1993), H. 2, S. 110-114, hier S. 113. Ansonsten untersucht Neumann die Anwendung der Chaos-Theorie bei B. Strauß auf das Gedächtnis; mit den Mnemotechniken beschäftigt er sich nicht.

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gendwem, sondern auch in einer Vielzahl weiterer Paarungen als Teil einer semantischen Opposition wie: Öffentlich/Privat, BRD-Bürger/ DDR-Bürger, literales Gedächtnis/erlebte Erinnerung. Ursula will mit der Erzählung ihrer jüngsten Reiseerlebnisse Patrick, einen Historiker, in ein intimes Gespräch verwickeln. Anita von Schastorf hindert sie daran, indem sie sie um ein Gespräch über dasselbe Thema bittet. Ihr Wissen hat sie jedoch aus Büchern, was Ursula das Gespräch beenden lässt. Daraufhin beginnt Anita ihrer Mutter schwere Vorwürfe zu machen. Sie hat in den Tagebüchern ihres Vaters gelesen, dass er von seiner Frau, während seiner Haft 1944 in der Folge des Attentats auf Hitler, betrogen worden ist. In diesen öffentlichen Prozess, den die Tochter der Mutter vor den Gästen des Bistros macht, drängt die Nachricht von der Maueröffnung in Gestalt von zwei verängstigten DDR-Bürgern. Die zuvor peinlich berührt schweigenden Bistrogäste stürzen sich, jede private Schamgrenze ignorierend, auf diese Besucher und verlangen spontane Gefühlsausbrüche. Als diese ihre Erlebnisse jedoch nicht mit Worten fassen können, verlassen alle den Schwellenraum,7 um am echten Ort des geschichtlichen Augenblicks dabei zu sein. Nur Anita und Patrick bleiben zurück. Sie beginnt in scharfen Bildern, die sie aus Texten imaginiert hat, vom Elend der Flüchtlingszüge aus dem Osten im Winter 1945 zu erzählen. Patrick relativiert ihr Erinnern mit der Feststellung, sie sei damals noch ein Kind gewesen und außerdem würden in dem momentanen Feuerwerk des Beginns »die letzten Dämonen der Nachkriegszeit aus dem Land getrieben« (S: 90). Dass »Alle« jetzt dabei sind, wendet Anita zu der verblüffenden Aussage, man müsse erst eine Menge Leute aus dem Weg schaufeln, »bis der eine übrig bleibt, auf den alles ankommt« (S. 90). Doch Patrick fragt mit der kühlen Genauigkeit des Historikers nach den unterdrückten Stellen im neu herausgegebenen Tagebuch ihres Vaters. Diese Objektivierung ihrer Erinnerungen und deren Tabus provoziert sie zu einer wüsten Attacke auf sein wissenschaftliches Erinnern und treibt ihn zu Beethovens Schlußchor hinaus.8

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Siehe Bayerdörfer, Hans-Peter: »Raumproportionen«, in: Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik, Bd. 16, hg. von Gerhard Kluge, Amsterdam: Rodopi 1983. Beethovens Vertonung der Schillerschen Ode an die Freude am Ende der neunten Symphonie.

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III. Im ersten Akt Sehen und Gesehenwerden hat sich eine Gruppe von fünfzehn Frauen und Männern zum Gruppenfoto aufgestellt.9 Ihnen gegenüber bewegt sich der Fotograf zwischen seinen drei Kameras und verrichtet schweigend seine Aufgabe. Die Mitglieder des Chors sind still gestellt aber nicht ruhig. Sie werfen, den Blick auf die Kameras gerichtet, einzelne Sätze in die Gruppe, aus denen ein Geflecht unterschiedlicher Beziehungen zwischen den Mitgliedern kombiniert werden kann. Sie sind seit längerem miteinander bekannt und führen die jeweiligen Beziehungen in der Gruppe weiter.10 Das lebende Bild, das sie zu sein versuchen, »F1: Je pose…« (S. 9). gerinnt nicht zur still gestellten Zeit, da ihre intimen Geschichten sie in Unruhe versetzen. Das mythische Grundmuster hierfür,11 das schlafende Dornröschen, wird verhindert, wo es sich zeigt »M9: Ich möchte nicht, daß du da oben einschläfst, Annemarie Köhler«! (S: 17). Das Rumoren12 9

Das Foto und seine vielfältigen Bedeutungen ist bei Botho Strauß häufiges Thema z.B. in: Trilogie des Wiedersehens (1976) knipst Kläuschen mit einer Sofortbildkamera Schnappschüsse von den Ausstellungsbesuchern und will diese gegen Geld verkaufen. In Niemand anderes (München/Wien: Carl Hanser 1987) versucht in der Geschichte Die Eine und die Andere eine Fotografin, von einer alten Schriftstellerin ein Portrait für eine Illustrierte zu machen, das trotz aufreibender Anstrengungen nicht gelingen will: »Ich wollte Ihnen unsere Fotos zeigen. Aber es geht nicht. Es ist kein Mensch darauf, sondern – ich weiß nicht – eine Wolke oder sowas« (S: 160). In der Dialogskizze Jaennine in Text und Kritik (München 1984, S. 1-5), geraten zwei Verhandlungspartner in einer Pause über das zu erkennende Motiv auf einem Familienfoto so aneinander, dass die weitere Verhandlung gefährdet ist. 10 Ein »zufälliger Allerweltsausschnitt« (S: 26) von Individuen. Daher haben sie keine Namen, sondern sind als F und M von eins bis fünfzehn durchnummeriert. In einer Skizze schlägt B. Strauß ihre Aufstellung in vier Reihen vor. Damit entsprechen sie der antiken Chorgröße und -formation, wie sie von Sophokles eingeführt wurde. Vgl. Melchinger, Siegfried: Das Theater der Tragödie, München: dtv 1990, S. 69. Dass sowohl in der Uraufführung der Münchner Kammerspiele als auch am Akademietheater in Wien der Chor beträchtlich größer war, zeigt die Probleme bei der Einordnung kontemporärer Ereignisse. 11 Siehe Barthes, Roland: Die helle Kammer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 101. 12 Erinnert sei hier nur an den Roman Rumor (München/Wien: Carl Hanser 1980) von Botho Strauß und »Das Gerede« als Zustand der modernen Ge-

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steigert sich, bis »das Gerücht« an zwei Enden beginnt und durch die Reihen geht. Bei M8 trifft es sich und bricht in seinem Ruf »Deutschland!« hervor. Der Chor erstarrt, der Fotograf unterbricht seine Arbeit. »Die Kunst der Fotografie besteht darin, mit Genauigkeit den ebenso ungeahnten wie selber ahnungslosen Moment zur Erscheinung zu bringen«.13 Genau diesen Moment hat der Fotograf verpasst, denn: »Damit hatte ich nicht gerechnet./M5: Damit hatte niemand von uns gerechnet! Aber gerade in der Sekunde hätte man sich später gerne gesehen« (S: 15). Der Moment des überraschten, gemeinsamen Innehaltens unter dem Ruf »Deutschland!« wäre der Augenblick gewesen, an dem das Bild der Gemeinschaft hätte entstehen können. Von der Menge, die im Gerede sich spiegelt, konnte nicht das eine Gesellschaftsbild gemacht werden. Erst der Nationen-Ruf vereinte den Chor im Augenblick, dessen Überraschung jedoch so groß war, dass sie den Fotografen mitgenommen hat in den einen Ruck und die nachfolgende Stille. Nun gibt es kein Erinnerungsbild an diesen Augenblick, niemand wird ein Foto haben und dann sagen können: »Es ist so gewesen«.14 Diese Erfahrung beschreibt Roland Barthes als wesentlich für die Fotografie. Ausgehend von der Frage, was die Fotografie bedeutet, unterscheidet er zwei Arten, ein Foto zu betrachten: das »studium« und das »punctum«. In einer ersten Annäherung an das Wesen des Fotos stellt sich das »studium« als ein Lesen des Inhalts, als das historische Einordnen heraus. Das »punctum« hingegen eröffnet, meistens durch ein überraschendes Detail, ein unerwartetes Feld, das die gesamte Aufmerksamkeit bannt. Dann hat der Fotograf »den richtigen Augenblick« erfasst. In einer weiteren Annäherung bekommt das »punctum« seinen entscheidenden Sinn. »Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die ZEIT, ist die erschütternde Emphase des Noemas ›Es ist so gewesen‹«.15 Dieses Erinnerungsgefühl macht für Roland Barthes das Wesen der Fotografie aus: die Beglaubigung, nicht die Beschwörung von etwas Vergangenem. Durch dieses Zeit-punctum ist für ihn die Pose dasjenige, was die Natur des Fotos begründet. Denn bei der Betrachtung eines Fotos ist der Moment des Innehaltens durch die Unbewegtheit des Fotos gegenwärtig, die dieses Innehalten, die Pose als das »Es ist so gewesen« ersellschaft, wie es seit Heideggers Sein und Zeit (Tübingen: Niemeyer 1983, 17.Aufl., § 35) immer wieder bemängelt wird. 13 Sternberger, Dolf: Über die Kunst der Fotografie (1934), zit. nach Busch, Bernd: Belichtete Welt, Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1995, S. 365. 14 R. Barthes: Die helle Kammer, S. 105. 15 Ebd., S. 105.

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fahren lässt. Der Satz am Anfang von Schlußchor »Je pose …« ist Hinweis auf diese Erfahrung der Fotografie und zugleich ihre Verhinderung, denn das Sprechen von »je pose« zerstört den Moment der Pose. Das Verlangen des Chors nach Bildern, die die Gegenwart zur Erinnerung aufheben, ist hier auf den Punkt gebracht als eine paradoxe Erwartung. Den einen Moment des Staunens unter dem Ruf »Deutschland«, in dem diese Erwartung hätte erfüllt werden können, hat hingegen der Fotograf nicht abgelichtet.16 Er hatte nicht damit gerechnet, genauso wie »niemand damit gerechnet« hat. Nun ist alles »Vorbei. Verpaßt. Umsonst.« (S: 16) Nach dieser mnemonischen Katastrophe wird von M15 die neue Devise ausgegeben: »Wir alle blicken jetzt auf uns zurück« (S: 16). Erinnerungen werden ausgetauscht: »Weißt du noch: dein erstes Foto hier im Westen, die Kaffeekanne in der Sekunde, wo sie kippte« (S: 16). Dass zugleich Foto, der Westen und ein Moment, in dem alles kippt, Inhalt der ersten Erinnerung sind, verdichtet die Bezüge zwischen den Themen Erinnerung als Foto und als Erzählung, dem Gerücht und seinem Realwerden als geschichtliches Ereignis noch einmal auf der Aussageebene der Figuren. Dieses interpretierende Verstehen der Bezüge wird jedoch in keinem Fall von den Figuren bewusst vollzogen. Dieses Verstehen bleibt allein der Beobachtung der dargestellten Kommunikation vorbehalten. Auf diese erste Erinnerungserzählung folgen sechs weitere, deren Inhalte um gemeinsame Erlebnisse, körperliche und seelische Blessuren, Trennungen und Wiederfinden kreisen, um schließlich nach einer Warnung vor einem Wohltätigkeitsball, auf dem durch abnorme Preise die Gäste geschröpft werden, in der zweiten mnemotechnischen Katastrophe zu münden. Von dem Fotografen als »kleiner Schönheitsfehler« (S: 24) heruntergespielt, eröffnet er M8, dem Deutschland-Rufer, dass er auf den Bildern der »mittleren« Kamera von F12 verdeckt worden ist. In Frances A. Yates Gedächtnis und Erinnern ist im Kapitel über das Gedächtnistheater des Robert Fludd eine Illustration abgebildet, die in Fludds Buch den Abschnitt über die Wissenschaft vom geistigen Memo16 Bernhard Greiner sieht in diesem Versehen eine Absicht des Fotografen, der Gemeinschaft, die »vom Ereignishaften« nur redet, das Foto zu verweigern. »Für diese Gesellschaft ist Emergenz, Erfahrung des NichtAbleitbaren nicht festzuhalten, denn sie will die ›Botschaft‹, das Ganze, Unstrukturierte des Ereignisses, transponiert in den ›Code‹, in ihren Code des Selbst-Genusses, des Nicht-leiden-Wollens.« Ders.: »Beginnlosigkeit – Schlußchor – Gleichgewicht: der ›Sprung‹ in der deutschen Nachkriegsgeschichte und Botho Strauß’ Jakobinische Dramaturgie«, in: Weimarer Beiträge 40 (1994), S. 245-265, hier S. 252.

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rieren einleitet.17 Auf dieser Illustration ist der Kopf eines Mannes zu sehen, der über das dritte Auge, das »oculus imaginationis« verfügt.18 Mit Hilfe dieses Organs, das über Jahrhunderte in der Zwirbeldrüse des Gehirns als eingesunkenes, drittes Auge vermutet wurde, sollen die Gedächtnisbilder gesehen werden. Dass nun die mittlere Kamera gerade den Deutschland-Rufer nicht sehen konnte, weckt eine den Chor einigende Aggression. Dieser versucht dem Fotografen durch den Vorschlag, jemand anderes könne fotografieren, trotzig zu begegnen. Mit diesem, wie mit seinen tatendurstigen Vorstößen den Chor umgruppieren zu wollen, bringt er ihn jedoch weiter gegen sich auf. Mit beiden Vorschlägen leugnet er seine Aufgabe, als lebendiger Teil der mnemonischen Apparatur der Fotografie zu funktionieren: Er soll mit der richtigen Kamera (oculus imaginationis) den richtigen Zeitpunkt (das punctum) der richtigen Anordnung (die richtige Platzierung der Gegenstände im Raum) zu dem einen Gedächtnisbild zusammenfassen. Gerade sein letzter Versuch, mit kühlen technischen Anweisungen eine neue Ordnung des Chors aufzustellen, lässt diesen deutlich drohen: »Ein Wort noch, ein letztes, von Meute zu Mann: Geraten sie nicht außer Kontrolle!« (S: 27). Niemand im Chor verändert seinen Ort, denn das widerspräche dem ältesten Prinzip der Mnemotechnik, das auf die Urszene der Mnemonik, den Mythos des Simonides von Keos, zurückgeht. Dieser war zu einem Preislied auf Kastor und Pollux vor eine Tischgesellschaft geladen. Als er nach seinem Gesang seinen Lohn fordert, wird ihm dieser verweigert. In dem Moment bitten ihn zwei Unbekannte (Kastor und Pollux) vor die Tür. Der Saal stürzt ein und begräbt alle Gäste unter sich. Die Leichen sind so entstellt, dass ihre Angehörigen sie nicht identifizieren und beerdigen können. Allein Simonides erinnert sich an die Reihenfolge ihrer Plätze und kann so, nach dem Ort ihres Todes, ihre Namen nennen. Damit sind die beiden Konstruktionen des künstlichen Gedächtnisses gefunden: die Reihenfolge der Orte (topoi, loci, sedes) und die dort abgelegten Bilder (imagines) der zu erinnernden Gegenstände.19 Die leichtfertige Anweisung, sich umzugruppieren, offenbart in der Folge der beiden ersten Fehler die vollständige Unwissenheit des Foto17 Yates, Frances A.: Gedächtnis und Erinnern, Berlin: Akademie-Verlag 1994, S. 298 und Tafel 15. 18 Dieses geistige Auge ist von Botho Strauß u.a. in Der junge Mann, (München/Wien: Carl Hanser 1984) und im Zitat von George Bataille, das der Trilogie des Wiedersehens vorangestellt ist, schon zitiert worden. 19 Dazu ausführlich F.A. Yates: Gedächtnis und Erinnern; sowie Goldmann/Stefan: »Statt Totenklage Gedächtnis«, in: Poetica 21 (1989), S. 43ff.

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grafen um die mnemotechnischen Erwartungen des Chors. Sein Handeln wird jetzt als Pose bezeichnet, und seinen Anstrengungen, die Gewalt über die Menge zu bekommen, wird mit unverhohlener Aggressivität begegnet. Schließlich greift er zum letzten Mittel, er beschwört die seinsstiftende Kraft des Auges. »Bedenken Sie aber: Sein ist Gesehenwerden« (S.28). Damit trifft er eine Aussage, die zur konstruktivistischen20 Theorie gehören könnte und zugleich auf den Titel des Aktes »Sehen und Gesehenwerden« verweist.21 Doch auch dieser Versuch, sich mit Hilfe avancierter Theorie unentbehrlich zu machen, scheitert. Er ist als Mnemoniker für den Chor unbrauchbar. Er wird mit einer Kanonade von Befehlen überschüttet, die er nun willenlos befolgt. Es wird dunkel, ein Chorgesang beginnt und wenn es wieder hell wird, liegen die leeren Kleider des Fotografen auf dem Boden. Diese Auflösung, Enthäutung des Fotografen erinnert an den Mythos von Dionysos.22 Unter aller Erwartung des richtigen Fotos liegt der Wunsch, den Fotografen zu vernichten. Vielleicht wird kein lebendiger Mnemoniker gewünscht, der sich, wie Simonides, an die Plätze der Toten erinnert, vielleicht ist seine Funktion völlig auf das Foto übergegangen. Das technische Medium macht den Gedächtniskünstler und damit den Dichter zu ersetzbaren Figuren und das besonders, wenn sich der Einzelne nicht von ihm erkannt fühlt. Dass gerade nur einzelne und kein Chor dem Fotografen gegenüber stehen, macht sein Problem aus. Diese Form von Chor bildet weder für ihn noch für den Zuschauer eine Einheit, die in einem Bild zu fassen wäre. Durch die Kommunikation innerhalb des »Chores« wird die Bildung eines Chores verhindert, der als bestimmte Form den einzelnen Zuschauer auf seine Position innerhalb des Publikums aufmerksam machen könn-

20 Siehe dazu Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987; Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 und Luhmann, Niklas: Erkenntnis als Konstruktion, Bern: Benteli 1988. 21 Norbert Bolz verwendet diesen Titel passend, aber mit spitzen Fingern bei der Entwicklung des Luhmannschen Kommunikations-Begriffs: »Diese instinktive wechselseitige Blickkontrolle hat den anthropologischen Effekt, daß menschliches Sein zunächst und zumeist Gesehenwerden ist – die Boulevard-Formel trifft also einen kommunikationstheoretischen Kernbestand. ›Sehen und gesehen werden [sic]‹« Ders.: Am Ende der GutenbergGalaxis, München: Fink 1993, S. 32. 22 Der geopferte Gott Dionysos ist in Texten von Botho Strauß schon häufiger aufgetaucht, z.B. »Der Sohn« in Der Park (München/Wien: Carl Hanser 1983) und »Der Mann« in Kalldewey Farce (München/Wien: Carl Hanser 1981).

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te. Der Chor bildet keine Stellvertretung des Zuschauers als Teil einer Gemeinschaft mehr. Er ist genauso individualisiert wie der moderne Betrachter im Theater.

IV. Der zweite Akt trägt den Titel »Lorenz vor dem Spiegel (Aus der Welt des Versehens)«. Er beginnt auf dunkler Bühne, es sind die Schritte eines Mannes zu hören, er öffnet Türen, er fragt: »Kein Licht?«, dann reißt er eine Tür auf und »in der Mitte der Bühne fällt das Licht auf die nackte Delia« (S: 35). Damit ist der Augenblick passiert, um dessen Verarbeitung sich die Handlung des folgenden Aktes gruppiert. Das mythische Zitat – Aktaion, der Artemis beim Baden überrascht und daraufhin von ihr in einen Hirsch verwandelt wird, den dann seine eigenen Hunde zerfleischen23 – ist offensichtlich und wird von Delia auch direkt angesprochen werden: »Und außerdem sind keine Hunde hier. Nichts könnte ich pfeilschnell umgestalten. Keinen Hirschbalg mit dem Jäger stopfen. Ihr Untergang muß neu erfunden werden« (S: 41). Ein vergleichbares Versehen mit umgedrehtem Geschlechterverhältnis ist bereits in Beginnlosigkeit beschrieben worden: »wenn im Hotel das Zimmermädchen plötzlich, d.i. aus VERSEHEN, die Tür aufreißt, uns in unserer Stille, Abgewandtheit erblickt (was in jedem Fall eine Form der Nacktheit ist), sich entschuldigt und wieder umkehrt. Jede Begierde ist derart auf ein schnelles und gewaltiges Versehen zurückzuführen. Jede aufgenommene Liebesbeziehung ist dann aber auch der Beginn einer Entgegenwärtigung. Das Versehen kämpft mit allen Mitteln blinder Leidenschaft um seine Selbsterhaltung, kämpft gegen die aufklärenden Tendenzen, die sich in der Liebes-Geschichte zwangsläufig entfalten.«24

In Schlußchor reiht sich dieses Versehen in das Thema der missglückten Wiedervereinigung ein. Nach dem mythischen Augenblick verwandelt sich die Bühne durch drei Stellwände in einen angedeuteten Innenraum. Lorenz breitet Pläne aus, Delia erscheint, und der Dialog zwischen ihnen beginnt mit dem Grund seines Besuchs. Er ist ein Architekt, der für ihren Dachgeschoss23 Siehe Kerényi, Karl: Die Mythologie der Griechen, Bd. I, München: dtv 1966, S. 116. 24 Strauß, Botho: Beginnlosigkeit, München/Wien: Carl Hanser 1992, S. 104 (Hervorhebungen von ihm).

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ausbau Entwürfe gemacht hat. Dieses Gespräch über ihren zukünftigen Lebensraum durchbricht Delia mit Einwänden zu seinem Versehen, das ihrer Meinung nach nicht hätte passieren dürfen. Durch die Zweigleisigkeit des Gesprächs und die Unbedingtheit ihres Beharrens wird der Architekt unsicher in seiner Routine. Außerdem sind ihr seine eigenen Entwürfe »zu rund« und werden kategorisch abgelehnt. Sie will »Klarheit überall. […] Sie müssen auf die rechten Winkel achten« (S: 38).25 Schließlich bricht Lorenz den Dachausbau ab und will den Vorfall »kaltblütig« erörtern. Sie warnt, dass ihn die Auslegung töten werde. »Es ist die jungfräuliche Frische, Reinheit, Süßigkeit und Herbheit«, die Artemis Weiblichkeit deutlich unterscheidet von der Aphrodites, so schreibt Walter F. Otto.26 Auf Delia scheint diese Charakterisierung zuzutreffen. Die verletzte Reinheit der Artemis ist das mythische Vorbild ihrer Emotionalität, die sich einer Entfaltung zur Liebesgeschichte entgegenstellt. Sie ist die psychische Analogie zu dem Problem des Anfangens aus dem Versehen und seiner Verweigerung sich zur Geschichte entwickeln zu lassen. Lorenz hofft indessen, seine Sicht des Vorfalls etablieren zu können, indem er eine Parallele mit dem Künstler sucht, der sich lange aktiv mühen muss, um einen solchen Augenblick auf die Leinwand bannen zu können. Er hat zwar im »Versehen schon alles gesehen« (S: 37), war aber zugleich durch die Plötzlichkeit des Moments wie geblendet und ist von daher zu keiner Bewahrung des Bildes fähig. Ursprünglichkeit, Blöße, Nacktheit müssen also »in die Welt hineingeschaffen werden«. Es müsse schließlich alles »vom Auge schöpferisch« aus der »wirren schwarzen Strahlung« (S: 40) konstruiert werden. Genauso wie der Fotograf in höchster Bedrängnis zum Konstruktivismus als Rettungserklärung greift, versucht Lorenz damit, sich aus der Not zu befreien. Wenn allein das Auge die Welt aus wirrer schwarzer Strahlung schöpft, ist sein Blick auf die nackte Delia ein Betriebsunfall der Schöpfung, den er blickend zwar verursacht hat, dem aber über seinen Augen-Blick hinaus keine Realität zukommt, da sein Gedächtnis nichts erinnern kann. So entwirft Lo25 In Robert Fludds Gedächtnistheater (siehe F.A. Yates: Gedächtnis und Erinnern, S. 300f.) werden die runde und die quadratische Kunst unterschieden. Die runde Kunst ist den himmlischen Inhalten vorbehalten, während die quadratische für die realen Orte und Bilder zuständig ist. Dieser Hinweis mag übertrieben erscheinen, da »rund« und »rechtwinklig« in der Szene auch analog mit »sinnlich« und »keusch« verwendet werden. Ich glaube die zweite Leseweise ist die offensichtliche und die erste ist eine der vielen verborgenen Hinweise auf die Mnemonik. 26 Otto, Walter F.: Theophania, Hamburg: Rowohlt 1956, S. 93.

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renz ein Bild von ihr, wie er es rückblickend gesehen haben will: »Vor meinem plötzlichen Gesicht standen Sie ganz unverletzt, in Bann und Rüstung da« (S: 38). Erst jetzt, im Nachhinein konstruiert sich ihm das Abbild ihrer Nacktheit, woraus er schließt, dass kein Blick ihrer Unberührtheit etwas anhaben könne: »Sie bleiben, Delia, auch ohne Keuschheit, unberührt« (S: 41). Lorenz nimmt das »Versehen des Anfangs« zum Motiv für seine Bilder von Frauen, von Geschichten zwischen Mann und Frau, zwischen Maler und Modell und schließlich zwischen dem konstruierenden Auge und der Welt. Er bemüht sich, den Moment des Versehens in einer Geschichte zu entfalten, um ihm den Schrecken und das nicht mehr Rückgängig-zu-machende zu nehmen. Dazu produziert er neue Bilder, für die der Vorgang ihrer Entstehung als aktives Konstruieren entscheidend ist, um sein Versehen in diese Eigenschaften einreihen und entschuldigen zu können. Den mythischen Augenblick will er relativieren durch den immer gleichen Prozess der Konstruktion von Wahrnehmung.27 Auf eine sprachliche Ebene übertragen, bemüht er sich um eine Narrativierung des einmaligen Ereignisses, die nach Julian Jaynes28, der von Botho Strauß in Beginnlosigkeit mehrfach zitiert wird,29 immer durch die Bildung von Metaphern erfolgt. Mit der Narrativierung schafft das entstehende menschliche Bewusstsein die notwendige Voraussetzung zu einer subjektiven Orientierung in der Welt. In der Not des Versehens greift Lorenz zur Technik der Entgegenwärtigung durch Metaphernbildung, die in diesem Kontext nicht nur sprachliches Phänomen, sondern Technik des Bewusstseins und Bilderfindungen des Gedächtnisses sind. Die Narrativierung verwendet Bilder, um eine Geschichte erzeugen zu können,

27 Greiner interpretiert dieses Handeln, als »lächerliche Versuche, das Emergente zu entgegenwärtigen, Abenteuer, Geschichten daraus zu machen« Ders.: Beginnlosigkeit – Schlußchor – Gleichgewicht, S. 254. Die Emergenzerfahrung des Politischen soll hierdurch eine Umsetzung ins Drama erfahren. Greiner geht sogar soweit, dass er den Stücken von Botho Strauß allgemein die Tendenz attestiert, dass sie das verhandelte Geschehen selbst zum Ereignis werden lassen. »Dann praktizieren die Stücke, wovon sie handeln, und machen in diesem Sinne das Vorgestellte zum Ereignis« Ebd., S. 251. »Der Emergenz im Politischen soll das Kunstwerk als unableitbares entsprechen, was das Drama mit seiner Öffnung zur mythischen Wirklichkeit und damit zugleich zu einem Theater der Präsenz zu verwirklichen sucht« Ebd., S. 257. 28 Jaynes, Julian: Der Ursprung des Bewußtseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1988. 29 Vgl. B. Strauß: Beginnlosigkeit, S. 12 und 58.

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mit deren Hilfe dann Gedächtnis als Erinnerung an und durch Geschichten entsteht. Die Metapher rückt auf den Platz der Bilder in der Reihenfolge (Metonymie) des künstlichen Gedächtnisses. Damit schließt sich die Narrativierung an die Mnemotechnik der Rhetorik an. Dass Lorenz Architekt ist und für einen Dachausbau Pläne vorstellen soll, bekommt damit eine weitere Bedeutung. Der Architekt übt einen Beruf aus, in dem sich am deutlichsten die Verbindung von Raum und Bild verkörpert. Auf der Grundlage gelesen, dass Raum und Bild die Elemente des künstlichen Gedächtnisses sind, die als Metapher und Metonymie ihren Eingang in die Sprache gefunden haben, ist Lorenz ein Mnemotechniker, der in doppelter Hinsicht an einem mythischen Zeitpunkt scheitert. Einmal als Architekt, dessen Pläne nicht gefallen und der in der nächsten Szene in die zweite Reihe, hinter den »Schwedenstrolch« (S: 65) gesetzt wird, und als Bilder-Erzähler, der durch die Erfindung von Geschichten im Gespräch bleiben will,30 dessen Bilder aber bei Delia kein Interesse finden. Sie steht fest gebannt vor dem Moment des Versehens und »kämpft mit allen Mitteln blinder Leidenschaft […], kämpft gegen die aufklärenden Tendenzen, die sich in der Liebes-Geschichte zwangsläufig entfalten«.31 Sie beharrt auf dem »Kann. Darf aber nicht« (S: 37) des Versehens, in dem schon »alles« gesehen worden ist. Es ist für sie weder rückgängig zu machen, noch in einer anschließenden Geschichte aufzulösen. Mythische Resonanz bekommt diese Haltung durch den ArtemisCharakter der Keuschheit, der, ist sie einmal nackt angeblickt, unwiderruflich verletzt ist. Somit wehrt sie neben allen Versuchen der Narrativierung auch die Bildinhalte ab, in denen die Nacktheit als etwas Begehrenswertes erscheint, das nur künstlerisch vollendet zu schaffen ist. Die Möglichkeit eines Gedächtnisbildes ihrer Nacktheit ist mit ihrer Keuschheit und mit dem versehenen geschichtlichen Augenblick nicht zu vereinbaren. So treten die mythischen Anspielungen zurück in die Funktion, ein Handlungsvorbild zu sein, das sich in der folgenden Szene erfüllen wird.32 30 Das Motiv der Erzählung, die den Tod aufschieben soll, ist aus den Märchen von 1001 Nacht bekannt. 31 B. Strauß: Beginnlosigkeit, S. 104. 32 Auch Greiner sieht in Lorenz einen Aktäon »in dem Körper und Habitus einer Gestalt der Jetztzeit«. Ders.: Beginnlosigkeit – Schlußchor – Gleichgewicht, S. 245. Im Gegensatz zu Hans-Thies Lehmann sieht Greiner in der Verwendung der Mythen bei Botho Strauß ein doppeltes Anliegen: »In der vorgestellten Welt Mythen zu zitieren, um dies durchschlagen zu lassen zu einer Wiederholung, einer neuen Gegenwart des Mythos im dramati-

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Im Vorraum zu einem Fest hängt ein großer Spiegel vor dem alle Gäste ihre Sorgen mit sich besprechen. Lorenz ist lähmend Delia verfallen und benötigt diese Spiegelgespräche, um sein Selbstbewusstsein für die jeweils nächste Begegnung zu stärken. Er fordert sich dringend auf, sich Delia gegenüber richtig zu verhalten. Der fatale Verlauf der Begegnungen ist bei jedem nächsten Auftritt zu sehen. Zwischen Spiegel und Delia im Saal wird sich die ganze Handlung abspielen. Die Bühne ist, wie im dritten Akt, der Schwellenraum zwischen der Außenwelt und dem Fest, durch den alle Gäste kommen und in den alle wieder flüchten, wenn sie drinnen nicht mehr sein können. Der Zuschauer sieht nur die Selbstgespräche und Szenen vor dem Spiegel, und nur darüber erfährt er die tatsächlichen Gespräche im Saal und das Geschehen zwischen Lorenz und Delia. In Lorenz vereinen sich so drei klassische Figuren des Dramas: der Bote, der Mauerschauer und der tragische Held. Außerdem wird der Monolog durch den Dialog mit Spiegelbild in eine andere Form gebracht. Umberto Eco stellt in seinem Essay Über Spiegel33 die Frage nach der Ähnlichkeit zwischen der Fotografie und einem Spiegelbild. Die Fotoplatte stellt einen Abdruck oder eine Spur dar, sie übersetzt die vom Objekt reflektierten Lichtstrahlen in ein anderes Material. Aufgrund dieser Heteromaterialität ist die Fotografie für ein Kind schwieriger zu lesen als ein Spiegelbild, denn sie ist ein semiosisches Phänomen. Das Spiegelbild ermöglicht dem Kleinkind nach Jacques Lacan,34 die noch reale Trennung seiner körperlichen Sensationen von den Sinneseindrücken zu einer imaginären Einheit zu verknüpfen. Der zuvor zerstückelte Leib wird im Spiegelbild als Ganzheit und zum sich sehenden Subjekt gehörig erkannt, was zu einer jubilatorischen Aufnahme des Spiegelbildes und der Etablierung der imaginären Ordnung führt. Dennoch ist für Eco der

schen Akt selbst, als Öffnung für ein Theater der Präsenz, des Ereignisses«, ebd., S. 251. H.-Th. Lehmann interpretiert die Mythen-Verwendung als postmoderne Stimmung und »Sehnsucht nach neuer Elite und höherem Menschentum«, ders.: »Mythos und Postmoderne – Botho Strauß, Heiner Müller«, in: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985, hg. von Albrecht Schöne, Tübingen: Niemeyer 1986, S. 249-255, hier S. 255. Ausführlich dazu Berka, Sigrid: Mythos-Theorie und Allegorik bei Botho Strauß, Wien: PassagenVerlag 1991. 33 Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene, München: dtv 1990. 34 Vgl. Lacan, Jacques: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in Ders.: Schriften I, Weinheim/Berlin: Quadriga 1991, S. 61-70.

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Spiegel kein Zeichen und kann daher auch nicht lügen.35 Niklas Luhmann schließlich verwendet die Spiegel-Metapher in seiner Theorie des rekursiven Beobachters. Der Beobachter, der sich selbst beobachtet, ist für die systemtheoretische Beschreibung von Gesellschaft eine ihrer zentralen Fähigkeiten, durch die Systeme selbstreferent werden. Jede Handlung wird durch ihre Beobachtung beschreibbar, jede Beschreibung durch eine weitere und schließlich jede Wissenschaft durch ihre Theorie. So entstehen selbstreferente Systeme, die ihre Umwelt komplex konstruieren und diese Komplexität intern verarbeiten können. Der Spiegel hat nun die Eigenschaft, »etwas zu zeigen, daß man ohne ihn nicht sehen kann, nämlich den Beobachter selbst. […] Er führt dazu, daß man im Spiegel sich selbst und anderes, sich selbst im Kontext sieht«.36 Der Spiegel ist ein Übertragungsmedium und kein Speichermedium der Natur. In seiner rekursiven Funktion, die er in Schlußchor hat, wiederholt er den versehenen Blick und prägt ein Bild, das Lorenz Erinnerung tödlich dramatisiert.37 Lorenz erschießt sich vor dem Spiegel, nachdem er in einem fremden, aber gleichen Mantel einen Revolver gefunden und entwendet hat, mit dem ein anderes Paar Selbstmord begehen wollte. Bei seinem letzten Saalauftritt war er in Ohnmacht gefallen, nachdem er sich lange eine »spontane« Erwiderung auf seinen Nebenbuhler überlegt hatte. Nach diesem Vorfall blickt er noch einmal in den Spiegel und stellt fest: »Das hätte nicht passieren dürfen« (S: 67). Während er so schaut, erscheint ihm Delia nackt im Spiegel und holt sich den versehenen Blick von ihm zurück. »Siehst du …« (S: 67). Im Gegenüber des Sehens wird ihm sein in Delia verwandeltes Spiegelbild zum Zeichen seiner Schuld, die unlösbar mit seinem eigenen Bild verknüpft erscheint. Sein Spiegelbild, das ja nicht lügen kann, hält das eine Versehen seines Gesichts fest gebannt. Dieser Augenblick, den er vergeblich zur Liebesgeschichte entspannen wollte, ist als Erinnerungsbild seines Versehens in sein Spiegelbild ein35 Der semiotische Ansatz von U. Eco ist auf dieser Ebene nicht mit dem psychologischen von Lacan zu vereinbaren. Das stellt Eco in dem erwähnten Essay selber fest. 36 Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 96f. (Hervorhebungen von ihm). Das Zitat setzt sich noch einen Satz fort: »Immer vorausgesetzt natürlich, daß man weiß (konstruiert!), daß es ein Spiegel ist, gewinnt man eine Position, in der man sich selbst als System in einer Umwelt beobachten kann und dadurch nicht mehr so direkt an der Umwelt klebt, die man unmittelbar sieht«. 37 »Delia: Ich will ihn wiederholen, diesen Blick, von Ihnen, mir, bei einer anderen Gelegenheit« (S: 39).

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gegangen. Im Gewahrwerden dieses dauerhaften Gedächtnisses – dem eigenen Spiegelbild entkommt man nicht – zieht er einen Hut über die Augen und erschießt sich mit so verdecktem Gesicht. Die kleinste Gemeinschaft von Ich und Selbst im Spiegel zerstört sich selbst, weil die nächst größere Gemeinschaft von Ich und Du nicht entstehen konnte. Die Wiedervereinigung nach einmal gesehener Nacktheit misslingt. Durch die falsche Handhabung des Augenblicks wurde dieser in seiner Möglichkeit, ein emergentes Ereignis, i.d. Fall die Liebe, zu werden, zerstört. Der Zufall kann die Subjekte der VielleichtHandlungen38 nicht erlösen.

38 Zum Begriff der »Vielleicht-Handlungen« siehe Stegemann, Bernd: Die Gemeinschaft als Drama. Eine systemtheoretische Dramaturgie, Wiesbaden: Dt.-Universitätsverlag 2001, S. 205ff. von der dieser Text über Schlußchor ebenfalls ein Teil ist.

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W E N D E T H E A T E R – ›H I N W E N D U N G S D R A M A T I K ‹. ZU DIRK LAUCKES FÜR ALLE REICHT ES NICHT ARTUR PEŁKA

»Da bin ich noch: Mein Land geht in den Westen./KRIEG DEN HÜTTEN, FRIEDE DEN PALÄSTEN.«1 – Das verdrehte Büchner-Zitat in Volker Brauns Wende-Gedicht Das Eigentum2 versinnbildlicht eindringlich die als verkehrt empfundene Ordnung nach der Wiedervereinigung und die daraus resultierende existentielle Verzweiflung eines DDRIntellektuellen. Die Umkehrung der französischen Revolutionsparole kann aber auch als eine Art Theater-Omen gelesen werden: Revolutionär und Dramatiker zugleich zu sein, eine Position, die der junge Georg Büchner paradigmatisch verkörpert, wurde mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Utopie ein für allemal – zumindest für Braun – obsolet. Der überzeugte Sozialist Braun ist selbst Autor von zwei WendeDramen, die beispielhaft für die Reaktion vieler ostdeutscher SchriftstellerInnen auf den politschen Umbruch von 1989 stehen können. Das kurz nach der Wende umgeschriebene und 1992 an den Frankfurter Kammerspielen uraufgeführte Stück Iphigenie in Freiheit3 radikalisiert im Grunde die Kondition des lyrischen Ichs in dem Eigentum-Gedicht. Genauso wie das poetische Subjekt wird die Titelheldin von einer Art Heimweh geplagt, auch wenn sie über die alte zusammengebrochene Ordnung nicht unkritisch reflektiert. Schließlich fällt sie dem Kapitalismus zum Opfer, zu einer Prostituierten degradiert wird sie ausgebeutet und avanciert damit zur Symbolfigur für die Ex-DDR. Im ebenso 1992 uraufgeführten zum Absurden Theater tendierenden Stück Böhmen am Meer4 schlägt Braun einen noch pessimistischeren Ton an und zeichnet die Apokalypse 1 2 3 4

Braun, Volker: »Das Eigentum«, in: Die Zickzackbrücke. Ein Abrisskalender, Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 1992, S. 84. Erstmalig erschien das Gedicht unter dem Titel Nachruf im August 1990 in Neues Deutschland. Braun, Volker: Iphigenie in Freiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992. Braun, Volker: Böhmen am Meer. Ein Stück, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992.

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einer Insel, die von »dunklen Gestalten«5 erobert wird, welche sich als Kannibalen erweisen und als solche den Kapitalismus symbolisieren. Solch eine Art Geschichtspessimismus mit zahlreichen Anthropophagiemotiven beherrscht auch das einzige Nachwendedrama Heiner Müllers Germania 3: Gespenster am Toten Mann.6 Diese postmoderne Collage bringt allerdings das Leiden am Verlust der sozialistischen Utopie viel dezenter zum Ausdruck als die Texte Brauns und bleibt vor allem eine verschärfte Anklage gegen den als Kapitalismus getarnten Faschismus im vereinten Deutschland. Keinesfalls sind aber alle Wende-Dramen aus ostdeutscher Feder Ausdruck einer Verbitterung über die neuen Verhältnisse. Jüngere Autoren wie Oliver Bukowski mit Londn – L.Ä. – Lübbenau (1993) und Gäste (1999) oder Lutz Rathenow mit Autorenschlachten (1993) präsentieren dramatisch durchaus kritisch-ironische Diagnosen der postsozialistischen Gesellschaft. Gleichzeitig schreiben sich viele im ersten Jahrzehnt nach der Wende sowohl in den alten als auch in den neuen Bundesländern entstandene Dramen in die Tradition eines engagierten, politisch wirksamen und konstruktiven Theaters ein. Als Beispiele wären Rolf Hochhuts Wessis in Weimar (1993), Franz Xaver Kroetz’ Ich bin das Volk (1993) oder Christoph Heins Randow (1994) zu nennen. Themenkomplexe, die direkt mit der Wende zusammenhängen, wie Birgit Haas sie in ihrer Studie zum Wendedrama aufzählt – also »Stasi, Wendehals, Kolonialisierung, ›Mauer im Kopf‹ und erzwungene ›Hochzeit‹ der beiden deutschen Staaten«7 – verschwinden gegen Ende des 20. Jahrhunderts allmählich aus den dramatischen Produktionen. Als wohl letztes explizites Wendedrama ist Christoph Heins Komödie In Acht und Bann von 1999 zu verzeichnen, in der der Autor ehemalige DDRParteifunktionäre symbolisch in einer Nervenheilanstalt situiert. Als einschneidendes Epochenereignis ist die Wende auch in später entstandenen Texten noch präsent, doch die dargestellten Folgen der Wiedervereinigung bekommen immer mehr einen universellen Charakter; das West-Ost-Gefälle und der Ossi-Komplex werden motivisch verwischt oder zumindest nicht exzessiv inszeniert. Eine der wenigen Ausnahmen bilden in dieser Hinsicht die Theatertexte von Dirk Laucke, die sehr spürbar in der ostdeutschen Wirklichkeit verankert sind und eine entsprechende politische Dimension besitzen. 5 6 7

Ebd., S. 55. Müller, Heiner: Germania 3: Gespenster am Toten Mann, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1996. Haas, Birgit: Theater der Wende – Wendetheater, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 143.

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WENDETHEATER – ›HINWENDUNGSDRAMATIK‹

In ihrer Bilanz der deutschsprachigen Dramatik der 90er Jahre weist Franziska Schößler zurecht darauf hin, dass neben den Sujets ›Mythos‹ und ›Erinnerung‹ besonders in der zweiten Jahrzehntshälfte in den neuen Theatertexten soziale Geschichten zu dominieren beginnen.8 In der Tat zeichnet sich ab Mitte der 90er Jahre, beeinflusst vom neuen britischen Drama, eine deutliche Tendenz der Wiederbelebung des sozialen Dramas ab, das thematisch vor allem um »Familiendesaster« und »Arbeitslosigkeit« kreist.9 Soziale Themen gehen dabei formal mit einem ›neuen Realismus‹ einher, den Thomas Ostermeier, Intendant der Berliner Schaubühne, in seinem vielerorts zitierten Manifest Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung (1999) proklamiert. Ostermeier beklagt die »Krise der zeitgenössischen deutschen Dramatik« als »eine Krise der Inhalte, der Form und des Auftrags«10 und führt aus: »Diese Krise spiegelt die Krise unserer Gesellschaft: Die Wohlstandsgemeinschaft der westlichen Sieger über den Kommunismus hat nicht mehr den Anspruch, das Unglück und die Unfreiheit, in der viele in ihr leben, zu erkennen und zu analysieren, um diesen Zustand zu ändern und zu überwinden.«11

Angesichts dieses Befundes plädiert der Theatermann für einen »engagierten Realismus«, für Geschichten, »die von der Grausamkeit dieser Welt und ihrer Opfer erzählen«12. Die Erneuerung des Theaters ist laut Ostermeier durch den »unkorrumpierten, realitätsnahen Blick der Autoren«13 zu bewerkstelligen, mit formalen Mitteln beschleunigter Erzählund Wahrnehmungsweisen der neuen Medien sowie des Films und Fernsehens. Ostermeiers Plädoyer für »einen neuen Realismus«14 drückt zugleich seinen Wunsch nach Rückkehr des Autors an die Theaterhäuser aus, einer Wende also, die ohnehin seit Mitte der 90er Jahre bereits zu verzeichnen ist, da »das Theater […] gerade in Momenten kultureller Identitätskrisen nach dem Autor und seiner Sicht auf die Welt zu rufen

8 9 10 11 12 13 14

Vgl. Schößler, Franziska: Augen-Blicke: Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004. Vgl. ebd, Kapitel 3.1 und 3.2, S. 243-309. Ostermeier, Thomas: »Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung«, in: Theater der Zeit 7 (1999), S. 10-15, hier S. 11. Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 10. Ebd., S. 13.

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scheint«15 – so die AutorInnen der Studie über den ›europäischen Autorenboom‹ in den 1990er Jahren. Ostermeiers Postulate lösten jedenfalls heftige Diskussionen aus, die in eine große Kontroverse um das Autoren- bzw. Regietheater umkippten, d.h. um das Was und Wie gegenwärtiger Theateraufführungen. Die Streitigkeiten, die parallel zu der eher akademischen Debatte um die Stichhaltigkeit des von Lehmann gefeierten ›postdramatischen Theaters‹ geführt wurden, dauern bis heute – vorwiegend als Kritikerschlachten – fort und nehmen bisweilen skandalträchtige Formen an. So diagnostizierte etwa Christopher Schmidt, Theaterkritiker der Süddeutschen Zeitung, 2006 sogar eine faschistoide Ästhetik der gegenwärtigen Aufführungspraxis in Deutschland, die das bürgerliche Einfühlungstheater diskreditiere. Seine bissige Kritik schließt Schmidt mit dem Postulat eines »moderaten Realismus«16 in Anlehnung an den Literaturnobelpreisträger J.M.. Coetzee: »Wenn [das Theater] wieder auf konkrete Details und Menschen achtete und weniger auf abstrakte Ideen und Konzepte, hätte [es] nicht unbedingt mehr zu sagen. Aber wenigstens mehr zu erzählen.«17 Gerade der von Schmidt artikulierte Wunsch nach einem Theater der Geschichten und Gefühle taucht in der Laudatio von Igor Bauersima anläßlich der Verleihung des Kleist-Fördererpreises für junge Dramatiker 2006 an Dirk Laucke auf. Der Autor von norway. today unterzieht in seiner Preisrede »die Absenz von Welt und Inhalt im deutschen Theater«18 einer scharfen Kritik und führt den Mangel auf die Tradition des metaphysischen Irrationalismus’ mit Kant an der Spitze zurück. Vor dem Hintergrund der »antirationalen Weltsicht«19 lobt Bauersima das ausgezeich-

15 Kreuder, Friedemann/Sörgel, Sabine: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Theater seit den 1990er Jahren. Der europäische Autorenboom im kulturpolitischen Kontext (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater, Band 39), Tübingen: Francke 2008, S. 7-17, hier S. 7. 16 Schmidt, Christopher: »Im Verführerbunker. Das deutsche Theater hat Gefühle verboten und ist dabei total auf den Hund gekommen. Ein Manifest«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11./12.11.2006 (= SZ am Wochenende), S. I. 17 Ebd. 18 Bauersima, Igor: Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker 2006. Laudatio. Unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag, S. 2. 19 Ebd., S. 3.

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nete Stück alter ford escort dunkelblau20 als »eine Hinwendung zum Menschen, hin zur Welt.«21 alter ford escort dunkelblau erzählt von dem Fluchtversuch dreier Männer aus dem Mansfelder Land – einer armen Gegend in Sachsen-Anhalt – ins erträumte Legoland. Durch eine Autopanne werden sie aber von der Realität eingeholt. Das Stück markiert den Durchbruch in Lauckes Schaffen, denn es wurde auch für den Mülheimer Dramatikerpreis 2007 nominiert und verhalf dem Dramatiker, im selben Jahr zum Nachwuchsautor des Jahres durch die Zeitschrift ›Theater heute‹ gewählt zu werden. Als Theaterautor debütierte Laucke 2004, im Alter von 22 Jahren, mit einer Lesung bei den Salzburger Festspielen. Seit 2005, dem Uraufführungsjahr des erfolgreichen Stücks Hier geblieben!, das er als CoAutor22 im Rahmen einer Aktion für das Bleiberecht minderjähriger Flüchtlinge schrieb, wurden Lauckes Theatertexte unter anderem in Osnabrück, Essen, Heidelberg, an der Schaubühne sowie am Deutschen Theater in Berlin inszeniert. Doch seine Stammbühne scheint das ThaliaTheater in Halle an der Saale zu sein, der Stadt seiner Jugend, die ihn immer wieder künstlerisch inspiriert und zum Schauplatz seiner Texte wird. In Halle realisierte Laucke bereits drei Theaterprojekte, darunter 2009 die viel diskutierte und umstrittene Aufführung ULTRAS mit Laiendarstellern aus der rechten Szene des Hallensischen FC. Dirk Laucke ist zudem Mitautor des 2007 verfilmten Drehbuchs Zeit der Fische, dessen Handlung – genauso wie sein Stück Silberhöhe gibts nich mehr – vor der Kulisse eines postsozialistischen Plattenbauviertels in Halle spielt. Lauckes Dramenpoetik schreibt sich, auch wenn der Autor sich ausdrücklich dagegen wehrt, in die Tradition des sozialen Dramas und des Volksstücks ein, wobei die Genres auf eine eigenwillige Art und Weise modifiziert werden. Seine Figuren stammen fast ausnahmslos aus der Unterschicht bzw. dem so genannten Prekariat, sind oft Außenseiter, Einkommensschwache oder Arbeitslose, Kleinkriminelle und gar Neonazis, die allesamt nach ihrer Identität – auch als Deutsche – suchen. Anstelle von postmodernen Collagen mit einem chorischen Stimmengewirr, gespickt mit intertextuellen Versatzstücken und Querverweisen, greift Laucke auf eine stabile dramatische Form zurück, indem er den Dialog (auch den Dialog mit sich selbst als Selbstgespräch) und eine lineare, 20 Lauke, Dirk: »alter ford escort dunkelblau«, in: Theater heute 5 (2007), S. 52-58. 21 I. Bauersima: Laudatio, S. 4 (Hervorhebung von mir). 22 Das Stück wurde zusammen mit Reyna Bruns und Magdalena Grazewicz für das Berliner Grips-Theater geschrieben.

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kausal-konsekutive Handlung wieder belebt. Laucke entwirft strikt realistische Lebensszenarien und schafft glaubwürdige Alltagsgeschichten, die allesamt im Hier und Jetzt spielen und – wie bereits erwähnt – oft die existentielle Tristesse der im neuen System Benachteiligten widerspiegeln. Die einzelnen Szenen seiner Stücke, die meist durchnummeriert und mit Überschriften versehen werden, strotzen dabei vor allem dank der Sprache vor Authentizität. Der Autor bedient sich durchgängig einer Alltags- bzw. Umgangssprache mit einer sehr starken dialektalen Färbung (einer Art Kunstdialekt, in dem aber immer wieder das AnhaltSächsische mitklingt). Diese saloppe Sprache kippt oft in einen Jugendjargon bzw. Subkulturenslang um und ist mit Vulgarismen und Anglizismen übersät. Sie verstößt häufig gegen grammatische Regeln, bisweilen wirkt sie auch verstümmelt, denn die Sätze oder einzelnen Worte werden immer wieder abgeschnitten. Durch die einfache Syntax und die dominierende Parataxe wirkt diese ›nuschelige‹ Ausdrucksweise jedoch sehr dynamisch. Nicht zuletzt wird die sprachliche Schnelligkeit durch sparsame Interpunktion bzw. kurze Phrasen erzeugt. Es gibt aber in Lauckes Texten durchaus auch poetische Pointen, die das Tempo quasi verlangsamen und gewissermaßen Denkpausen erzwingen. Im Großen und Ganzen bleibt der Rhythmus der Szenen jedoch schnell, auch weil die Figuren sich ständig ins Wort fallen. Es ist mittlerweile zum Kennzeichen von Lauckes Poetik geworden, dass sich die Sprechsequenzen seiner Figuren überlappen. So spiegeln die Sprechakte die allgemeine Beschleunigung des heutigen Lebens wider, weisen aber zugleich auf die Nervosität der modernen Kommunikation hin. Zu weiteren spezifischen Merkmalen von Lauckes Texten gehören die Musik und der Film. Bandnamen und Songzitate (vertreten sind alle modernen Musikrichtungen vom Punk-, Hard- und Poprock bis zur Neonazimusik) als Motti oder Überschriften kommentieren ständig Lauckes Stücke und fungieren sogar oft als eigenständige Mitspieler. Auf diese Weise führt der Autor nicht nur unterschiedliche Pop- und Subkulturen ein, sondern betont ununterbrochen die fast existentielle Relevanz der Musik für (nicht nur junge) Menschen, ähnlich wie dies paradigmatisch im Leander Haußmanns Film Sonnenallee der Fall ist. Auch Filme – und besonders das Genre roadmovie – werden von Laucke mit Vorliebe zitiert. Gewissermaßen ist auch die Ästhetik seiner Theatertexte filmisch, wobei einerseits die Keuschheit des Bühnenbildes, andererseits die zeitliche und lokale Authentizität den Stücken eine gewisse Dogma-Atmosphäre verleihen. Nicht selten werden Handkameras oder Videoaufnahmen zu wichtigen Requisiten. Scheinbar distanziert von der so genannten Hochkultur bedienen sich Lauckes Texte – zwar sehr sparsam und dezent – ihrer Ressourcen. Augenfällig sind

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vor allem Mikro-Zitate aus dem Werk Heiner Müllers23 sowie die beim Autor von der Hamletmaschine beliebte Schreibweise in Majuskeln. Wahrscheinlich war gerade der auf vielen deutschen Bühnen bereits erprobte ›neue Realismus‹ von Laucke eines der Hauptargumente für die Einladung des Autors zum »After the Fall«-Projekt, welches das eher traditionell agierende Goethe-Institut zum 20. Jahrestag des Mauerfalls initiierte. Im Rahmen dieses gesamteuropäischen Theaterprojekts wurden 17 DramatikerInnen aus 15 Ländern beauftragt, Theaterstücke zu schreiben, die gesellschaftspolitische Verwandlungen nach dem Ende des Eisernen Vorhangs in ihren Ländern thematisieren. Als Höhepunkt des Projekts fand im Herbst 2009 ein Doppelfestival – im Staatstheater Dresden und im Theater Mülheim – statt, bei dem ausgewählte Inszenierungen der Projekt-Stücke aus dem Ausland sowie Laukes Beitrag Für alle reicht es nicht24 präsentiert wurden.25 Ähnlich wie in dem polnischen »After-the-Fall«-Beitrag, in Andrzej Stasiuks Warten auf den Türken26 situiert Laucke die Handlung seines Stücks im Grenzgebiet: »Irgendwo nahe der Deutsch-Tschechischen Grenze« (F: 5). Die Figurenkonstellation besteht aus Vertreterinnen verschiedener Generationen und fungiert so quasi als Querschnitt der deutschen Gesellschaft: Der Westdeutsche Jo bzw. Johannes (»über 40«; »im heim groß geworden, in einem katholischen«; F: 23), seine ostdeutsche Freundin Anna (»so 35 die Drehe«; F: 5), die Jo »auf der inventur in bie23 Etwa »landschaft mit argonauten« als Überschrift der 9. Szene in ford escort dunkelblau (S. 57) oder »Eiszeit« an mehreren Stellen im Stück zu jung zu alt zu deutsch (2009) als Anspielung auf das letzte Wort im 4. Abschnitt von Müllers Hamlet-Text (Vgl. Müller, Heiner: »Die Hamletmaschine«, in: Ders.: Stücke 2 (= Werke, Bd. 4), hg. v. Frank Hörnigk, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 543–554, hier S. 553. 24 Laucke, Dirk: Für alle reicht es nicht. Unveröffentlichtes Manuskript (Arbeitsfassung vom 2.10.2009), Berlin: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb 2009 (= im Folgenden: F). 25 Die Uraufführung in der Regie von Sandra Strunz fand am 31. Oktober 2009 im Staatsschauspiel Dresden statt und wurde von dem Publikum und der Kritik enthusiastisch aufgenommen. Die Inszenierung wurde nominiert für die Mülheimer Theatertage 2010. Vgl. Pressestimmenin: http://www.staatsschauspiel-dresden.de/home/fuer_alle_reicht_es_nicht/ pressestimmen/ Eine positive Aufnahme fand auch die Inszenierung von Sabine Auf der Heyde am Deutschen Theater Berlin (P: 24.04.2010). Vgl. http://www.deutschestheater.de/ensemble/autoren/dirk_laucke/fuer_alle_ reicht_es_nicht/pressestimmen/ 26 Stasiuk, Andrzej: »Warten auf den Türken«, in: Theater heute (= Stückeabdruck) 8 (2009).

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lefeld« (F: 37) kennenlernte und in den Osten mitnahm; Heiner, ein ehemaliger NVA-Offizier (»irgendwas über 50«; F: 5), seine (inzwischen verstorbene) Frau Martina, die mit »30« Heiner verließ (vgl. F: 5) und mit der Tochter Ela bzw. Manuela in den Westen ausreiste, die nun als 30-jährige zusammen mit ihrer Tochter Chayenne (»12«; F: 5) auftaucht. Die Zeit der Handlung wird als »From Dusk Till Dawn … oder Auf der Flucht vor den Untoten« (F: 5) festgelegt. Die Anspielung auf den gleichnamigen Roadmovie- und Splatter-Film von Robert Rodriguez (1996), der über eine Vampirhorde, die LKWs ausraubt, erzählt, suggeriert eine entsprechende Horroratmosphäre. Im Drama wird eine unerhört-gruselige Begebenheit erzählt, die wie folgt zusammenzufassen wäre: Das Pärchen Jo und Anna finden auf ihrer gewöhnlichen Schmuggeltour aus Tschechen in die BRD einen im Wald abgestellten Transporter und entdecken in seinem Inneren nicht nur Schmuggelzigaretten der Marke »jin ling« (F: 14), sondern einige halbtote Flüchtlinge aus Asien. Mit dem Fund kommen sie an einem Panzerfeld an, wo Jos Bekannter Heiner eine Panzerfahrschule betreibt.27 Die Dialoge der drei Figuren, die zu ihren Selbstprojektionen werden, kreisen um die Zukunft der Flüchtlinge. Während die ununterbrochen mit rassistischen Parolen changierende Anna und der um sein Geschäft besorgte Heiner den Transporter ohne Rücksicht auf seine Insassen loswerden wollen, schwankt Jo zwischen Hilfe und Profit. Den Diskussionen schließt sich auch Heiners Tochter Ela an, die mit ihrer Tochter Chayenne zu Besuch kommt. Ela will den Flüchtlingen helfen. Als sie sie zu befreien versucht, wird sie von Anna in dem Laster eingesperrt, den Heiner schließlich wegfährt und mit den eingeschlossenen Asiaten sowie Ela »in der Pampa« (F: 53) stehen läßt. In der Schlussszene begießt Jo einen halblebendigen Wolf, den Heiner vorher »aus notwehr« (F: 21) zu erschießen versucht, mit Benzin und zündet ihn an. Den Hauptplot der gegenwärtigen Ereignisse ergänzen einige Analepsen und Prolepsen. Retrospektiv wird der desolate Zustand der Ehe von Heiner und Martina noch vor der Wende gezeigt, mit einer starken Fokussierung auf Heiners Antipathie für vietnamesische Gast- bzw. Vertragsarbeiterinnen. Zwei Vorausdeutungen in der Konvention eines Kopfkinos zeigen eine Alternative für Jos Zukunft: einmal wird er bei einem brutalen Verhör in Untersuchungshaft

27 Solche Schulen existieren tatsächlich. So begrüßt eine ›Panzer Fun Fahrschule‹ in Steinhöfel (Brandenburg) die Besucher ihrer homepage mit »Willkommen auf Deutschlands größtem Männerspielplatz!« Vgl. http:// www.panzerkutscher.de/

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wegen Mißbrauchs der Flüchtlinge gezeigt, das andere Mal bei der Verleihung des Verdienstkreuzes für die Rettung der Asiaten. Auf der realistischen Ebene erweist sich Für alle reicht es nicht als eine Diagnose der deutschen Nachwende-Gesellschaft nach der Erweiterung der EU und des Schengen-Abkommens. Laucke spielt hier mit dem Stereotyp des rückständigen, ausländerfeindlichen Ossis und des aufgeklärten, agilen Wessis sowie der gegenseitigen Mißachtung beider, um diese Differenzen schließlich auf den Kopf zu stellen. Besonders Anna brilliert mit ausländerfeindlichen Parolen wie »polacken« oder »fidschis« und wird von Jo unterrichtet: »Jo: Heiner: Jo: Anna:

das ist ein rassistisches schimpfwort. hauptsache die verschwinden schnell wieder. habt ihr im osten nichts gelernt. ich hab gelernt, das sind fidschis. die heißen so.« (F: 18)

Anna entwickelt zudem eine rassistische Evolutionstheorie (»erst nehmen die polen den deutschen die arbeit weg. dann nehmen die ukrainer den polen die arbeit weg. und die fidschis den ukrainern. die ganze evolutionsleiter runter«; F: 39) und greift Ela im Namen ihrer xenophoben ›Vaterlandsliebe‹ an: »Anna:

Ela: Anna:

[…] willste noch eins in die fresse und noch eins. noch ein ausländer mehr und noch einer. reichts nich dass wir deutschen uns ankacken. haste immer noch nich genug. nee. wer deutschland nicht liebt, soll deutschland verlassen.« (F: 51)

Davon dass diese ›neue LTI‹ kein Fantasiegeschöpf ist, zeugen Anspielungen auf zeitnahe Ereignisse wie die NPD-Plakate zur Bundestagswahl 2009:28 »Jo: Anna:

sagst du doch immer. ausländer/raus. ich sag kriminelle ausländer.« (F: 39)

Mit der Zeit übernimmt aber Jo Annas menschenfeindliches Vokabular und macht sich Gedanken über den Menschenhandel, selbst die immig-

28 Im Spätsommer 2009 hingen in den neuen Bundesländern aggressive NPDWahlplakate mit der rassistischen Parole »Ausländer raus!«, die durch das darüber platzierte, klein gedruckte, kaum sichtbare Adjektiv »kriminelle« raffiniert ›abgemildert‹ wurde.

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rantenfreundliche Ela29 protestiert am Ende eingeschlossen in dem Transporter »ICH GEHÖR HIER NICHT REIN, ICH BIN NICHT WIE DIE--« (F: 53) Die Botschaft des Stücks liegt auf der Hand und wird bereits mit dessen Motto – den Schlußzeilen des Songs The Great Wall von der USPunkband Dead Kennedys signalisiert: »Give us your poor,/Your tired and your weak/We’ll send’em right back/To their certain death« (F: 3). Zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs diagnostiziert Lauckes Stück eine neue Mauer, die nicht nur mental emporragt und den reichen (weißen)30 Norden von dem armen Süden mit brutalen Folgen trennt. Zudem entdeckt Für alle reicht es nicht aber auch die diesseits der Mauer Lebenden als verlorene Flüchtlinge.31 In einem der ersten Wendedramen, d.h. in MauerStücke von Manfred Karge finden sich folgende Verse: »Es war an nem Novembertag/ Beginnen so nicht Märchen, sag?«32 Die Wende bzw. die Wiedervereinigung wird nicht nur in Karges Stück ironisch als ›Märchen‹ heraufbeschworen. Auch Laucke greift indirekt diese Verortung auf. Jo ist von den winterlichen Wäldern vor der deutsch-tschechischen Grenze begeistert, voller Sehnsucht – filmzitatartig – nach einem »ostblockmärchen«, das es »wahrscheinlich die ganze zeit vorher, auf der deutschen seite auch schon« (F: 8) gab. Das Märchen existiert nicht mehr, stattdessen gibt es »holland für arme« (F: 8), ein »grenzenlose[s] paradies. diesen markt aus wellblechbuden« (F: 9) mit »mädels dahinter« (F: 8), ein »paradies« aus dem man mit »voll[em] auto« und sexueller Befriedigung »in die festgefahrene [bundesrepublikanische – A.P.] ordnung« (F: 10) zurückfährt. Jos Verklärung resultiert zum einen aus seiner (zumindest imaginierten) Überlegenheit als Mann und (West-)Deutscher und erweist sich schließlich nur als Kompensation und Selbstlüge. Jo samt Anna suchen verzweifelt nach ihrem Paradies und machen sich vor, es in der eigenen Beziehung gefunden zu haben, die aber permanent scheitert, und

29 In der 3. Arbeitsfassung des Textes vom 20.09.2009 (= im Folgenden: Fa) protestiert die Figur gegen den deutschen »einheitssud« (Fa: 50). Ich danke Dirk Laucke für die Bereitstellung des Manuskripts. 30 Dies pointiert ironisch die Parole »WHITE PRIDE/GOOD NIGHT« (F: 54) am Textende. 31 Insbesondere Heiner, der sich vor der Außenwelt in seinem Panzer wie ›in der ddr verschanzt‹. Vgl. Fa: 24. 32 Manfred Karge: »MauerStücke«, in: Programmbuch 52, Schauspielhaus Bochum (Spielzeit 1990/91), S. 31f.

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zwar nicht nur an dem machohaften Habitus von Jo.33 In dieser Hinsicht erscheint das Paar symbolisch – zwar nicht als ›erzwungene‹, jedoch zumindest als unglückliche – Liason beider deutscher Staaten. Dieses ›paradies lost‹ wird eindringlich durch das Bild der »Strawberry fields« (F: 45) symbolisiert, der Erdbeerfelder, die es nicht mehr gibt, seitdem »sich die polacken zu schade geworden sind« (F: 38). Bilder des Mangels dominieren übrigens das ganze Stück und entmythologisieren immer wieder aufs Neue das Wohlstandsparadies BRD wie in folgender WendeReminiszenz: »Heiner

GELD GELD GELD. habt ihr doch alle gedacht. HELMUT HELMUT HELMUT – – und jetzt jammern. wenn ihr mich fragt, die fidschis werden genau so eine fresse ziehen. am besten ist, die sehn das gar nicht hier.« (F: 28)

In dem durchaus realitätsnahen Szenario von Lauckes Stück – selbst eine Panzerfahrschule gehört längst zur Wirklichkeit – wirkt auch der Wolf als Figur nicht verblüffend, zumal (Tierschützer werden es wissen) die bedrohte, auf dem Gebiet Deutschlands fast ausgerottete Tierart wieder in Brandenburg und Sachsen vertreten ist, seitdem Wölfe in den 90er Jahren aus Polen eingewandert sind. Darüber hinaus besitzt der Wolf – »[f]remd und verlaust« (F: 7), wie die Bühnenanweisungen lauten, ein weiteres symbolisches, bedeutungsschweres Potential. In Heiner Müllers Büchnerpreisrede Die Wunde Woyzeck, die er 1985 hielt, avanciert Büchners Held – diesseits geographischer und ethnischer Differenzen – zur Metapher für alle Unterdrückten. Das revolutionäre Potential, das sich für Müller mit dem erniedrigten Woyzeck verknüpft, verschiebt sich in dieser Rede auf den »Süden« und damit auf die Länder der so genannten ›Dritten Welt‹. Mit einem derart begriffenen Woyzeck der Gegenwart verbindet Müller revolutionäre Hoffnungen sowie Ängste: »Auf [Woyzecks] Auferstehung warten wir mit Furcht und/oder Hoffnung, daß der Hund als Wolf wiederkehrt.« Erst wenn der Hund als Wolf aufersteht und »aus dem Süden« zurückkommt, »beginnt, in der Stunde der Weißglut, Geschichte«.34 Solch eine metaphorische Besetzung des Wolfmotivs ist natürlich nicht neu; bereits in Heines Wintermärchen (Caput XII.) fungieren Wölfe als Revolutionäre und selbst das lyrische Ich bezeichnet sich als 33 »das mit uns war mal. das grenzenlose paradies« – lauten Annas Schlussworte in Fa: 52. 34 Müller, Heiner: »Die Wunde Woycek«, in: Ders.: Shakespeare Factory 2, Berlin 1989, S. 261-263, hier S. 263.

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»Wolf«.35 Heine findet allerdings auch ein anderes originelles Bild für Unterdrückte, die zu Revolutionären werden: »Es giebt zwei Sorten Ratten/Die hungrigen und satten./Die satten bleiben vergnügt zu Haus,/Die Hungrigen aber wandern aus«36 – heißt es in dem bekannten Parabelgedicht Die Wanderratten. Auch in Lauckes Stück werden Wölfe mit Ratten verglichen: »hast du einen wolf, hast du sie alle. das ist wie mit den ratten. einen wolf alleine gibts nicht« (F: 23) sinniert Jo und erzählt mit Stolz, wie sein Kollege im Heim eine Ratte gefangen und »benzin drüber geschüttet und angezündet« hat, so dass »wir [sie] mit einem schlag […] alle los [waren]. die ganze verdammte rattenbande. die leiche hat der kollege noch da liegen lassen, damit das nächste rudel, oder wie sich das bei denen nennt, wenns vorbei kommt, bescheid weiß.« (F: 24)

Das Vokabular ruft Assoziationen mit dem wohl perfidesten NSPropagandafilm wach, in dem Ratten mit folgendem Kommentar eingeblendet werden: »Wo Ratten auch auftauchen, tragen sie Vernichtung ins Land, zerstören sie menschliche Güter und Nahrungsmittel. […] Sie sind hinterlistig, feige und grausam und treten meist in großen Scharen auf. Sie stellen unter den Tieren das Element der heimtückischen, unterirdischen Zerstörung dar – nicht anders als die Juden unter den Menschen.«37

Dass Ratten bzw. Wölfe feige sind, artikuliert auch Heiner, bevor er auf den Wolf schießt: »den schiss habt ihr wölfe doch vor uns. trotzdem kommt ihr. und wir knallen euch ab.« (F: 10) Später verteidigt er seine Tat »es war notwehr« (F: 21). Ein Angriff auf den Schwächeren unter dem Vorwand von Abwehr, Ausrottung von rattenähnlichen Bande/n, Transporter voller Leichen und schließlich Verbrennung beim lebendigen Leibe – all dies ruft allzu bekannte Greuelbilder in Erinnerung.

35 »Ich bin ein Wolf geblieben, mein Herz/Und meine Zähne sind wölfisch.« Heine, Heinrich: »Deutschland. Ein Wintermärchen«, in: Ders.: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 4, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg: Hoffmann & Campe, S. 89-157, S. 117. 36 Heine, Heinrich: »Die Wanderratten«, in: ebd., Bd. 3/1, S. 334-336, hier S. 334. 37 Vgl. »Der Ewige Jude« (D: 1940), Regie: Fritz Kippler.

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Mit seinem Für alle reicht es nicht greift Laucke bereits durch die Titelgebung deutlich auf Heiner Müllers Einsicht über das omnipotente Prinzip Selektion (Auschwitz) in der kapitalistischen Demokratie zurück.38 Als weiterer – zumindest indirekter – Müller-Verweis werden in Lauckes Stück an zwei Stellen Indianer genannt. Einmal urteilt Heiner über die Mayflower-Siedler: »die ersten in amerika haben die indianer kalt gemacht«, und das andere Mal wird der ungewöhnliche Vorname Chayenne ausgelegt: »die heißt wien pfeffer« sagt Anna und Jo ergänzt »oder die indianer« (F: 32). Angespielt wird hier auf die besondere Affinität der Deutschen zu den Indianern, die Heiner Müller selbst teilte und als »Sehnsucht nach Wildheit«39 bezeichnete. In dem kurz vor seinem Tode verfaßten Gedicht Vampir legte Heiner Müller folgendes Bekenntnis ab: »Die Masken sind verbraucht fin de partie […] Statt Mauern stehen Spiegel um mich her Mein Blick sucht mein Gesicht Das Glas bleibt leer«40

So die Lebens- und Schaffensbilanz des »bedeutendste[n] Autor[s] postdramatischer Texte«41 und »Weltautor[s]«42 Müller, der nach dem »Ver-

38 In der der 3. Arbeitsfassung wird explizit an Müllers dramatisches Werk angeknüpft. So variiert Ela die bekannte Eingangssequenz von Die Hamletmaschine mit folgenden Worten: »ich steh die ganze zeit an der brandung und spuck auf die festung europa. blabla.« (Fa: 47) Die Krise und Ohnmacht des Künstlers wird somit umgewandelt in ein sarkastisches Statement, welches letztlich Müllers geschichtspessimistische Position kritisch in Frage stellt. Die Transformation der ursprünglichen »Ruinen« in die »Festung« impliziert eine neue Mauer, eine Mauer der Wohlstandsgesellschaft, die zugleich eine Festung – wie im gleichnamigen Stück von Rainald Goetz – des vereinigten Deutschland ist, das sich hinter hohlen Phrasen gegen die Geschichtserinnerung und -verantwortung verschanzt. 39 »Ich war zwar antifaschistisch erzogen, aber Deutscher sein, hieß auch Indianer sein. Diese Indianerromantik war antiplutokratische Propaganda, gegen die amerikanische Demokratie. Ja, die Nazis haben das genial benutzt; das antizivilisatorische Moment, die Sehnsucht nach Wildheit in diesen Geschichten.« – so Müller in: Friedrich von Gagern: Der Marterphal. Plus 3 Gespräche mit Heiner Müller, Berlin: Alexander-Verlag 2005, S. 48. Vgl. auch Kramer, Thomas: Heiner Müller am Marterphal, Bielefeld: Aisthesis 2006, bes. S. 7f. 40 Müller, Heiner: »Vampir«, in: Ders.: Werke 1, Die Gedichte, hg. v. Frank Hörnigk, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 317.

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lust der Geschichte« das Drama als Ort der Historie endgültig verließ und sich dem Gedicht als dem »Ort des Lebens« zuwandte.43 Dirk Laucke »war sieben Jahre alt und hatte gerade gelernt, das Pioniertuch zu binden, als der ganze Spuk zu Ende ging«.44 So liegen zwischen den beiden gebürtigen Sachsen Müller und Laucke Welten. Dirk Laucke ist kein Revolutionär, aber für ihn ist das Drama ein ›Ort des Lebens‹. Und wie es scheint haben in seiner Hinwendungsdramatik auch die zeitgenössischen ›Hütten‹ ihren würdigen Platz gefunden.

41 Lehmann, Hans-Thies: »Zwischen Monolog und Chor. Zur Dramaturgie Heiner Müllers«, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Bd. 48, 2000 (= Heiner Müller: Probleme und Perspektiven. Bath-Symposion 1998), hrsg. von Ian Wallace, Dennis Tate, Gerd Labroisse. S. 11-26, hier S. 13. 42 Ebd., S. 23. 43 Vgl. Ludwig, Janine: Macht und Ohnmacht. Späte Texte Heiner Müllers, Berlin: Kulturverlag Kadmos 2009, S. 155. 44 Laucke, Dirk: »Letzter Zug. Sturzgeburt der Tragödie ausm Geiste der Provinz«, in: http://staatsschauspiel-dresden.de/spielplan/weiter_im_spiel plan/fuer_alle_reicht_es_nicht/letzter_zug/

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T HEATER

UND

M YTHOS /E RZÄHLTHEATER

ZURÜCK ZU »GROSSEN TEXTEN«? DRAMATURGIE IM HEUTIGEN ERZÄHLTHEATER HANS-PETER BAYERDÖRFER 1. »Romane, Romane!«1 Als die Meinungsmacher von Theater heute im November 2008 in großer Aufmachung kundtaten, der »dramatische Nachwuchs« des deutschen Gegenwartstheaters trage die Namen Thomas Mann, Franz Kafka, Fjodor Michajlowitsch Dostojewski, allenfalls Daniel Kehlmann,2 plauderten sie kein großes Geheimnis aus. Eher verhehlten sie, dass solche Namen, d.h. die Titel ihrer Erzählwerke, sich seit Jahren in den Saisonplänen der Bühnen vermehrten. Denkt man historisch weiter zurück, so kommen einem als erstes Frank Castorfs Dostojewski-Aufführungen von 2001 und 2002, Erniedrigte und Beleidigte, sowie Dämonen, in den Sinn. Aber man könnte mühelos weiter zurückgreifen, und zwar nicht nur auf einzelne Roman-Dramatisierungen. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass von Franz Kafkas Werken seit Mitte des letzten Jahrhunderts geradezu ein ständiger Druck auf die Theater auszugehen scheint, sich seines epochalen Werkes auch auf der Bühne zu versichern. Seit den frühen Textentwürfen von André Gide für Aufführungen von Der Prozess und Max Brods Texteinrichtungen von Das Schloss und Amerika3 greifen die einschlägigen Bühnenbearbeitungen auf das ganze Erzählwerk über, mit Aufführungen von Die Verwandlung, Das Urteil, Ein Hungerkünstler oder Ein Bericht für eine Akademie,4 und längst sind 1

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Bosse, Jan/Düffel, John von: »Romane, Romane! Prosatexte auf dem dramatischen Prüfstand: ein Gespräch mit dem Regisseur Jan Bosse und dem Autor und Dramaturgen John von Düffel«, in: Theater heute 11 (2008). Gemeint ist dessen Erfolgsroman von 2005, Die Vermessung der Welt. Der Prozess (André Gide/Jean Louis Barrault 1947), Das Schloss (Max Brod 1953), Amerika (Max Brod 1957). Die Verwandlung beispielsweise wurde auch in Gestalt einer groß angelegten Pantomime (R: Steven Berkoff, Schauspielhaus Düsseldorf), ebenso

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die entsprechenden Libretti für das Musiktheater entstanden.5 Dass an dieser Kontinuität auch das außerdeutsche Theater mit wichtigen Produktionen für eine ›Kafka Bühne‹ teilhat, ist besonders in Polen offensichtlich.6 Sieht man von dieser bemerkenswert dichten Bühnen-Geschichte der erzählenden Werke ab,7 so erscheint die derzeitige Situation kein Sonderfall, und der polemische Schlagabtausch, den sie hervorrief, lässt nach Hintergründen fragen. Nicht weniger aber kam es auch zu Unkenrufen und besorgten Blicken in die Zukunft. In dieser Hinsicht wurde auf der einen Seite prognostiziert, das Drama werde »nicht verschwinden«, auch wenn es »vielleicht nur gelesen wird«8 – wie Moritz Rinke mit einem Seitenhieb gegen die Theatermacher hinzufügte, die statt sich mit Dramen aus der zeitgenössischen Produktion zu beschäftigen, sich lieber als »Dramasseure« aus epischen Vorlagen ihre eigenen Stücke basteln. Andererseits wurde mit leicht herablassender Note den Literaten bescheinigt, »Romane könn[t]en Theaterfantasien anstiften und dürf[t]en das, wie alles andere auch«,9 vorausgesetzt, es würde dabei nicht zu DigestFassungen kommen.

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wie der Bericht für eine Akademie (Stadttheater Aachen) zum 100. Geburtstag Kafkas 1983 aufgeführt, wobei das Jubiläumsjahr insgesamt eine ständig wachsende Bereitschaft der Bühnen signalisiert, mit immer neuern Versionen Kafka einen festen Platz im Repertoire einzuräumen. Schon 1953 entstand die Prozess-Oper Gottfried von Einems (Neun Bilder in zwei Teilen, Libretto von Boris Blacher und Heinz von Cramer), eine Amerika-Oper folgte 1965 (ebenfalls in zwei Teilen, mit dem Libretto von Roman Haubenstock-Ramati), Das Schloss in der Vertonung von Aribert Reimann schließlich in München. Allein Der Prozess wurde in den letzten Jahren mehrfach auf renommierten Bühnen u.a. in Warschau, Krakau und Posen inszeniert. Eine weitere, theatergeschichtlich sehr aufschlussreiche Fundgrube bilden die Aufführungen, mit denen zahlreiche Kinder- und Jugendtheater während der zurückliegenden Jahrzehnte wichtige Erzähltexte ihrem Publikum in vielseitig neuen dramaturgischen Konzepten nahe gebracht haben. Im Übrigen verzeichnet auch die Filmgeschichte eine vergleichbare Tendenz (s. Susan Vahabzadehs Bericht über das 60. Filmfestival Berlin, »Das Erzählkino hat uns wieder«, in: Süddeutsche Zeitung vom 20./21.02.2010, S.15). Zitiert im Bericht von Christine Dössel über den Stückemarkt des Berliner Theatertreffens in: Süddeutsche Zeitung vom 13.05.1999. Burckhardt, Barbara: »Bewegung in Kopf und Darm. Wie aus Prosa Theater wird: Thomas Mann in Frankfurt und Berlin, Daniel Kehlmann in Braunschweig und Andreas Kriegenburgs Münchner Kafka-Fantasie«, in: Theater heute 11 (2008), S. 4-12, hier S. 10.

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Der Theaterkritiker Christopher Schmidt hat in einem Feuilleton vom Oktober 2008 die genannte Tendenz kommentiert und dazu festgestellt, dass sie keineswegs auf einen Mangel an neuer Dramatik zurückgehen könne, da diese seit mehr als einem Jahrzehnt in reichlichem Maße und großer Bandbreite verfügbar sei. So vermutet er eher, dass die »Vormachtstellung der Regisseure«, die diese gegenüber den Autoren nicht preiszugeben bereit seien, eine Ursache bilden könnte. Darin zeichnet sich eine »paradoxe Wendung« im Verhältnis von Theater und Literatur ab: »Zum einen erneuert das Theater seine Bindung an das geschriebene Wort, dem treu zu sein es lange als Fessel verstand […]. Indem es sich aber mit der Epik und nicht mit der Dramatik verbündet, festigt es zum anderen seine erworbene Freiheit«.10 Aber gerade darin bestätigt sich, dass es keine einfache Rückkehr hinter die Errungenschaften des Regietheaters geben kann, wie Schmidt darlegt: »Eine entschiedene Lesart und eine genuine Phantasie können den Roman einholen, indem sie sich ihm entgegensetzen«. In einer weiteren, späteren Stellungnahme untersucht der Kritiker dann das neue oder wieder erneuerte Interesse der gegenwärtigen Bühnen an dem, was Inbegriff und Strukturformel großer bereiche epischer Literatur ausmacht, das Interesse an Lebensphasen und Biographie, und zwar im Modus der kontinuierlichen Darstellung: »Allzu lange war das Theater die Skepsis gegenüber sich selbst. Jetzt ruft es wieder nach Lebensgeschichte und Charakter«. Und er setzt die Frage hinzu: »Ob das hilft?«11

2. »Dramatisierung heute« Eine genauere theatergeschichtliche Position mit Blick auf die Gegenwart bezog in diesem Zusammenhang John von Düffel, der mit seiner Buddenbrooks-Einrichtung für das Hamburger Thalia-Theater12 zu den wichtigen Neuerern in diesem Bereich gehört: »Formal ist eine Dramatisierung ja heute eine viel offenere Form als vor zwanzig oder dreißig Jahren. Ich kann mich bei der Formensprache des Regiethea10 Schmidt, Christopher: »Homo laber. Warum das Theater von Romanerfolgen profitieren möchte«, in: Süddeutsche Zeitung vom 2./3.10.2008. 11 Schmidt, Christopher: »Hallo, in diesen Trümmern lebt noch einer«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.05.2009. 12 Das Theater bot neuerdings Kafkas Amerika in monodramatischer Fassung (Inszenierung von Bastian Kraft, der die Textfassung zusammen mit dem Schauspieler Philipp Hochmair erarbeitet hat), sowie Thomas Manns Zauberberg (Inszenierung von Stefan Bachmann) an.

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ters oder des postdramatischen Theaters bedienen. Ich muß nicht alles in eine konventionelle Szene nach der anderen zwingen, und nach fünf Akten fällt der Vorhang.«13

Diese Hinweise eröffnen ein dramaturgisch wie ästhetisch gleichermaßen weitreichendes Diskussionsfeld.14 Zwischen den kontroversen Zuspitzungen, wie sie dazu andeutend referiert wurden, soll im Folgenden der sachlich tragende Zusammenhang hergestellt und erörtert werden. Dabei kann es nicht darum gehen, Dramatik als literarische Lesevorlage und als theatrale Spielvorlage schlechterdings voneinander zu trennen oder die eine auf Kosten der anderen zu negieren. Die Zwienatur von Drama einerseits und die Spielnähe von erzählerisch gestalteten literarischen Texten andererseits gilt es zu erläutern, um einsichtig zu machen, was es möglicherweise mit der heutigen Neigung zur Dramatisierung von großen Erzählwerken auf sich hat. Dabei geht es auch um Grundfragen der Gattungstheorie, die im gegenwärtigen Kontext neu zu gewichten sind, nicht zuletzt auch um eine theatergeschichtliche15 Positionierung insgesamt. Sie rührt natürlich an eine Grundfrage, welche sich zur heutigen kulturellen Situation einstellt, und diese betrifft nicht nur das Schauspieltheater, sondern alle theatralen Bereiche, d.h. auch die Libretti und Szenare von Musik- oder Tanztheater, von Pantomime und Figurentheater. Es fragt sich, ob die Zukunft von Bühnenkunst immer ausschließlicher durch mediale Verfahren bestimmt sein wird, oder ob sich eine substanzielle Rückbindung an die sprachliche Vermittlung von Personalität, Ereignis, Wahrnehmung und Kommunikation erhält oder wieder herstellt. 13 J. Bosse/J. v. Düffel: Romane, S. 13. 14 Ausgeschlossen bleiben im Folgenden dezidiert bühnengeschichtliche Innovationen im engeren Bereich, wie sie etwa im Falle der Roman-Sequenz ins Auge fallen, die Castorf und Bert Neumann auf die Bühne gebracht haben. Wenn man mit Robin Detje davon ausgeht, dass die Bühnenfassung von Dostojewskijs Dämonen für den Regisseur »eine völlig neue Werkphase einleitet« (Ders.: Castorf. Provokation aus Prinzip, Berlin: Henschel 2002, S. 222), so könnte wohl die Überlegung von dem Bühnenmodell Neumanns ausgehen, dem »ordentlichen Haus« mit »feste[n], rechteckig verfugte[n] Wände[n]«, die den Zuschauer auf »Einblicke« einschränkt, die teils direkt durch Fenster oder andere Gebäude-Öffnungen erfolgen, teils durch Kamera und Projektion vermittelt sind. Detje spricht – in Verbindung mit den technischen Möglichkeiten von Drehbühne und VideoEinblendungen – von Container-Bühne (ebd., S. 236ff.), die der Big Brother-Perspektive verpflichtet sei und ein Arrangement mit sich bringe, welches »an den Voyeurismus des Publikums« appelliere (ebd., S. 238). 15 Auf weitere Rückgriffe, die sich früheren Phasen der Dramatisierung von erzählender Literatur widmen, muss in diesem Zusammenhang verzichtet werden, zumal sich dabei auch eine immer breitere Überschneidungszone zur Stoffgeschichte ergeben würde.

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Wenn heute literarische Werke des kanonisierten oder des gegenwärtigen, aktuellen Leseangebots in den szenischen Prozess einbezogen werden, so hat das auch die Bedeutung eines Appells. Nachdem das sog. postdramatische oder postmoderne Theater mit seinen durchaus vielseitigen wie produktiven Innovationsanstößen das Terrain des szenischen Schaffens in vielen Richtungen erweitert hat, bleibt die Frage, ob – wie nach den Avantgarde-Aufbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der 1920er bzw. 1950er Jahre – sich eine Wiederannäherung an die Sektoren der literarischen Bestände oder des zeitgenössischen literarischen Schaffens ergeben könnte oder bereits abzeichnet. Dass dies keineswegs eine einseitige Hörigkeit der Bühne gegenüber der Literatur besagen würde, bliebe weiterhin zu erörtern.16 Insgesamt ist auf die alte theaterhistorische Einsicht zurück zu kommen, dass sich Bühnengeschichte nie nur in einer Richtung abspielt, sondern immer aus einer Vielfalt von zum Teil auch diametral entgegen gesetzten Innovationswegen ergibt. Unter dem Eindruck vielerlei neuer Errungenschaften, wie sie die performative Welle ausgelöst hat, sind so sprachlich und handlungsmäßig getragene Innovationsimpulse der letzten beiden Jahrzehnte möglicherweise zu wenig beachtet worden.17

3. Impulse der Narratologie Bei der Demonstration anhand weniger heutiger Bühnenspiele nach Romanvorlagen sind natürlich zunächst herkömmliche Ordnungsschemata dramaturgischer Analyse nach Personalität, Interaktion, Handlung und Konflikt, sowie sprachliche und körpersprachliche Grundlagen, räumli16 In diesem Zusammenhang wäre beispielsweise – was die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts angeht – zu diskutieren, inwieweit gerade der Siegeszug des epischen Theaters eine Re-Literarisierung größten Ausmaßes erbracht hat. 17 Seit der Debatte um das als »postdramatisch« deklarierte Theater werden ja immer wieder dessen a-literarische oder anti-literarische Tendenzen betont. Zu fragen bleibt, ob die Vielseitigkeit neuerer dramatischer Textproduktion nicht generell von den literarischen Modellen des absurden und grotesken Theaters, der vielgestaltigen Monodramatik, nicht zuletzt den Entwürfen neuer szenisch-literarischer Biographik des ausgehenden 20.Jahrhunderts inspiriert ist und damit Entwicklungspotentiale freisetzt, die jenseits rein bühneninterner Innovation die Brücke zur literarischen Entwicklung weiter begehbar hält. Diese Frage verstärkt sich angesichts der Beobachtung, dass zahlreiche mediale Neuerungen auf den Bühnen der letzten Jahre rasch auf Gleise der Selbstreproduktion geraten sind, auf denen sie mit ihrem Effektverschleiß an inhaltlichen Interessen vorbeilaufen und an Impuls-Energie verlieren.

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che und zeitliche Disposition, Linearität oder Simultanität etc. heranzuziehen.18 Indessen sind vorab jedoch Überlegungen zu neueren Wendungen in der Theorie der literarischen Gattungen zu referieren, welche von Belang auch für die Verfahren von Theatralisierung von Erzählliteratur sind. Dabei gehe ich von dem Befund aus, dass sich in den Literaturwissenschaften die auf das Grundlagenwerk von Gérard Genette (1994) über das Verhältnis von erzählenden und dramatischen Bereiche zurückgehende Debatte um die Neuformulierung der Gattungsfragen weitgehend durchgesetzt hat. Die Ausgangsthese besagt nach Holger Korthals, dass beide weniger als »weit auseinander liegende« Bereiche zu verstehen sind, wie sie in der traditionellen Gattungstrias einander zugeordnet werden, sondern als »zwei eng verwandte ›Proto-Gattungen‹ der literarischen Geschehensdarstellung, die einander nicht nur hinsichtlich ihrer von Ereignissen, Akteuren und Schauplätzen gebildeten Tiefenstruktur gleichen, sondern auch an der Textoberfläche in viel höherem Maße strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, als dies insbesondere dem Drama zugetraut worden ist.«19 Hinzu kommt eine weitere Forschungsrichtung, die sich mit Grundfragen einer Narratologie beschäftigt, welche als gattungsübergreifende Grundlage aller Differenzierung zu verstehen ist. Erzählen wird dabei als vorauszusetzende, allgemeine Tätigkeit eines Lebewesens verstanden, dessen Selbstwahrnehmung durch die Erfahrung von Zeitlichkeit bestimmt ist. Bei den beiden genannten Betrachtungsweisen muss auf jede normierende Abgrenzung nach herkömmlicher Gattungs-Antithetik zunächst verzichtet werden.

3.1 »Geschehensdarstellung« Geht man demgemäß von »Geschehensdarstellung« als dem gemeinsamen Nenner beider Bereiche aus, so charakterisiert es den narrativen Flügel des Spektrums, dass die Erzählebene das Geschehen und seine Teilhaber in große vereinheitlichende Distanz rückt, während am drama18 Das Verhältnis von dramaturgischer Textfassung und erzählendem Originaltext wird im Folgenden nur am Rande diskutiert, sofern Grundsätzliches zum Zuschnitt der Textfassung für das Bühnenkonzept zu sagen ist. Desgleichen wird der spezielle Fall der Monodramatik, insbesondere deren Nähe zur Monolog-Erzählung etc. nicht erörtert werden. Zu verweisen ist auf Korthals’ globale Bemerkung: »Monodramen sind […] nicht selten via Figurenrede vorwiegend auf narrative Vermittlung ausgerichtet […] in einer Form, die sehr leicht als reiner Erzähltext zu reorganisieren wäre«. Korthals, Holger: Zwischen Drama und Erzählung. Ein Beitrag zur Theorie geschehensdarstellender Literatur (= Allgemeine Literaturwissenschaft – Wuppertaler Schriften, Bd. 6), Berlin: Erich Schmidt 2003, S. 135. 19 Ebd., S. 12.

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tischen Flügel diese Distanz minimiert wird und die Geschehensteilnehmer überwiegend redend die Vorgänge bestimmen. Korthals bezeichnet im Einleitungsteil seiner Untersuchung die so bestimmbaren Formen als Proto-Gattungen, die sozusagen idealtypisch jenseits der realen Textbestände zu denken sind. Die herkömmliche schematische Trennung besagt, dass im einen Modus »die Rede der Geschehensteilnehmer von der Rede des Geschehensvermittlers nach dem ebenso übersichtlichen wie starren Schema von Haupt- und Nebentext getrennt wird«, während beim anderen »die Geschehensdarstellung sich aus einem freien Zusammenspiel von Rede der Geschehensteilnehmer und Rede einer Erzählinstanz ergibt, die z.B. in Form der erlebten Rede ineinander verschlungen sein können«.20 Insgesamt gilt, dass zwischen beiden Bereichen fließende Übergänge bestehen können, außerdem, »daß im Verhältnis der beiden Proto-Gattungen Drama und Erzählung eindeutig das Verbindende überwiegt«.21 Auf beiden Seiten jedenfalls ist »Geschehen« bestimmt durch die drei Faktoren »Akteure«, »Schauplätze« und »Ereignisse«; setzt man für die Triade, unter der Voraussetzung ihrer »semantischen Verkettung«, die weiteren Begriffe von »Handlung« oder »Geschichte«, so geht es hier wie da nur um eine »besonders elaborierte Form des Geschehens«.22 Dass in dieser Trias natürlich auch »Schauplatz« als imaginierte Örtlichkeit zu verstehen ist, ergibt sich von selbst, wenn man von der Lese-Rezeption ausgeht; keineswegs wird sie bei dem Modus der Aufführung durch die Bühne ersetzt, diese fungiert vielmehr als räumlicher Platzhalter für die Szenerie des Geschehens, gleichgültig ob und wie stark sie diesem visuell-bildliche oder raum-illusionistische Ansatzpunkte bietet. Erst die theatrale Raumgestaltung, die der herkömmlicherweise als Bühnenbild bezeichneten narrativ-räumlichen Gestaltung vorausgeht, erreicht die fiktionale Ebene des Theaters.

3.2 Weitere Anregungen der Erzählforschung Eine weitere Umorientierung ergibt sich aus der in den neostrukturalistischen Schulen entwickelten neuen Forschungsrichtung einer »transgenerischen« Narratologie, die allen Gattungs- und Genre-Differenzen vorausgeht, somit auch der traditionellen Trias der Grundformen und der in Bezug auf Drama und Theater so ausschlaggebenden kategorialen Differenz zwischen ›episch‹ und ›dramatisch‹, wie sie u.a. durch Peter Szondis

20 Ebd., S. 80. Über die zahlreichen differenten Funktionen, die sich in Nebentexten niederschlagen, sowie deren Informationsleistung für den Leser, s. Korthals (Kap. IV.2.3), insbesondere S. 117ff. 21 Ebd., S. 80f. 22 Ebd., S. 87, 92 u. 95.

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Musteranalysen zum Formwandel der Dramatik im 20. Jahrhundert gleichsam kanonische Geltung erlangt hat. Dieser Ansatz geht davon aus, »daß Erzählen als anthropologisch universelle (Kulturen und Epochen übergreifende) Praxis im Strukturieren von Erfahrungen, in der Konstitution von Sinn und im Vermitteln von Bedeutung« für alle Gattungen als »Basisoperation« anzunehmen ist.23 Entscheidend sind hierfür zwei Grundoperationen, zum einen die Sequenzbildung, welche eine Grundmenge von Zustands- und Geschehens-Elementen in eine zeitliche Abfolge einbindet, und zum anderen Vermittlung, welche »durch Konstruktion, Präsentation und Interpretation« dafür eine Perspektivierung entstehen lässt.24 Versteht man demnach Erzählen als »Kommunikationsakt zur sinnkonstitutiven Strukturierung von Geschehensfolgen durch gestaffelte Vermittlungsinstanzen«, die sich aus der Art der Perspektivenbildung ergeben, so sind nicht nur die im traditionellen Gattungskanon als episch ausgewiesenen, sondern auch lyrische wie dramatische Formen beschreibbar, indem die spezifische Art aufgezeigt wird, wie sie unterschiedliche Sequenzformen und Vermittlungsebenen anlegen und inhaltlich zum Tragen bringen. Von den Varianten eines ›epischen Dramas‹, das etwa eine explizite Erzählerrolle aufweist, bis hin zum rein »performativen Status der Figurenrede im [traditionellen] Dramentext«, sind Formenbestände zu klassifizieren und mit Blick auf ihre historischen Eigenarten zu bestimmen.25 Für den Theaterbereich sind demnach Ebenen der Betrachtung zu unterscheiden. Zunächst ist von der Sammlung von Gegebenheiten und Geschehnissen, die an sich noch keineswegs einen kohärenten Verlauf aufweisen, auszugehen. Es folgt die Ebene der Darbietung, auf der kohärenz- und sinnbildende Instanzen ordnend und akzentuierend eingreifen. Sie weist wiederum diverse Schichten auf. Sieht man dabei von dem biographischen Autor – und dessen Zielvorstellung von einem zeitgenössischen Rezipienten seines Werkes – ab, so bleibt die Ebene des in das Werk eingegangenen »abstrakten Autors«, unter dem eine Instanz der Gesamtkomposition zu verstehen ist. Davon zu unterscheiden ist die Ebene des explizit, d.h. mehr oder weniger stark profilierten Sprechers 23 Hühn, Peter/Schönert, Jörg: »Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse«, in: Dies./Malte Stein (Hg.), Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (= Narratologia, Bd. 11), Berlin/ New York: De Gruyter 2007, S. 1 und 7. 24 Ebd. S. 2 u. 4. – Das Verhältnis dieser dualen Bestimmung zu früheren begrifflichen Konzepten wie ›histoire/récit‹ (Genette), ›story/discourse‹ (Chatman) u.a. wird ebd. diskutiert. 25 Ebd. S. 4, s. dazu Anm. 12 mit der Definition von »performativ«: »Daß mit dem Äußerungsakt der Rede eine Sprechhandlung vollzogen wird, die beansprucht in selbstreferentieller Weise ›Wirklichkeit‹ zu konstituieren«.

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oder Erzählers, samt der von ihm gegebenenfalls ausgehenden direkten Ansprache eines imaginierten Rezipienten. Schließlich folgt die Schicht der Figuren oder Rollen des inhaltlichen Geschehens und deren Anredeund Kontaktverhältnisse. Auf der Ebene der Darbietung ist daher von einer gestuften Auffächerung der sinnbezogenen Verknüpfungs- und Ordnungsstrategien auszugehen, wobei alle denkbaren Operationen ihrerseits spezifische Bezugsrahmen von Bedeutung voraussetzen und in Anspruch nehmen und bestimmte Muster der sinnvollen Sequenzbildung befolgen. »Kontingentes Geschehen«, wie es sich auf der Materialebene darbietet, lässt sich »erst durch die Verknüpfung mit Kontexten und Weltwissen in sinnhafte Sequenzen überführen«.26 Von besonderem Interesse ist dabei, ob und wie im konkreten Prozess von Bedeutungserstellung hierbei Verstöße und Widersprüche zu bestehenden, kulturell vorgegebenen Ordnungs- und Deutungszusammenhängen erfolgen. Denn darin artikuliert sich dann gegebenenfalls kritisches und provokatives Potential eines Werkes. Anzumerken bleibt, dass es der neueren narratologischen Forschung keinesfalls um eine Einebnung von Differenzen zu tun ist. Vielmehr geht es um übergreifende Überlegungen, aufgrund derer die herkömmlichen Zuschreibungen der Gattungen neu zu sichten und gewichten sind. Für die literarische Ebene der Texte sind weitere literaturwissenschaftliche Ergebnisse abzuwarten. Hinsichtlich des Theaters ist aufgrund des allgemeinen Ansatzes hingegen zu erwägen, inwieweit die traditionelle Zuordnung der Bühne zum Dramatischen zu revidieren, zumindest einzuschränken ist, um sich einer allgemeinen narratologischen Relevanz von Bühnengeschehen sich neu zu vergewissern.

3.3 Erzählinstanzen Theaterwissenschaftlich gesehen ergeben sich verschiedene weiterführende Perspektiven. Denn dass – um zunächst von der traditionellen Dramatik auszugehen – dank der rein sprachlichen Erstellung der Verknüpfungen eine literarisch-erzählerische Kontinuität entsteht, lässt für eine theatrale Umsetzung durchaus kategorial andere Wege offen.27 Prinzipiell gesehen, genügt es keineswegs, lediglich den so genannten Nebentext in die Verantwortung des szenischen Gestaltens und schauspiele26 P. Hühn/J. Schönert (Einleitung, S. 7f.) gehen dabei – mit Anleihen bei der Kognitionspsychologie – von den Begriffen Frame und Script aus, um die einschlägigen kulturspezifischen Muster, welche in die Methoden der Sequenzierung und Darbietung eingehen, zu beschreiben. 27 H. Korthals (Drama und Erzählung, S. 50) betont hierzu, »daß das literarische Drama und die zu ihm gehörige Theateraufführung zwar in einer engen Beziehung zueinander stehen, aber keineswegs mit dem jeweils anderen identifiziert werden dürfen«.

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rischen Agierens zu verweisen. Letztere erstreckt sich weit darüber hinaus auf die Prägung der Vermittler und der Teilnehmerreden selbst und ihre personale Prägung in Sprechmodus und körperlicher Darbietung. Auf der Bühne leistet die performative Kompetenz – grundlegend für und über die dialogischen Entsprechungen der dramatis personae hinaus – die tragende Kohärenz allen Geschehens stimmlich und körpersprachlich, mittels Klang, Mimik, Gestik und Proxemik. Daß eine hoch semiotisierte, systematische Stimm-, Bewegungs- und Gesten-Theatralik äquivalente Kontinuität zur erzählerischen Sequenzbildung – auch über Brüche, zeitliche Umstellungen oder Neuansätze hinweg – erbringt, bezeichnet die Nahtstelle, an der sich das Verhältnis von Erzählung und Darstellung theatergeschichtlich besonders deutlich illustrieren lässt. Der Schauspieler agiert als Geschehensteilnehmer im interpersonalen Geschehen, aber latent immer zugleich körperlich als Geschehensvermittler, d.h. als körperlich erzählender Interpret seiner Verkörperung. Die performativen Energien von Körper und Stimme können auf die diegetische Ebene übergreifen und vermitteln dann auch hier entsprechende Rezeptionsmöglichkeiten für den Betrachter. Damit ist aber zugleich die Voraussetzung gegeben, dass der Schauspieler auch die diegetische Funktion im Sprachlichen übernimmt und das heißt auch mit der Rede dezidiert erzählende Vermittlung leistet und mit seiner Rollendarstellung verbindet. Vielerlei ästhetische Wege, von der offenen Brechung bis zu gleitenden Übergängen zwischen darstellender und erzählender Rollenannäherung sind dabei denkbar, und ebenso viele Akzente, die von der kommentierenden bis zur ironischen Beleuchtung der Vorgänge und Personen gesetzt werden können. Die Modi der Darstellung und der Vermittlung von Geschehen finden im Bühnenspiel ihre non-literarische synthetische Fortführung. Erzähltheater mit epischen Vorlagen fügt sich in das Verhältnis zwischen Literatur und Bühne in einer Weise ein, die den jeweiligen kulturellen Stellenwert, den dieses Verhältnis ausdrückt, prononciert in Erscheinung treten lässt. Der ganz spezielle ästhetische Reiz, den das heutige Erzähltheater entfaltet und der sich aus der Verlagerung von Geschehensvermittlung in explizit erzählende Passagen ergibt, gründet sich auf entsprechende universale Spielkompetenz der einzelnen Schauspieler und auf die szenischen Voraussetzungen, unter denen diese hervortreten kann..

3.4 Erzählanteile der Bühnenpräsentation Unter den genannten Voraussetzungen einer die Genera übergreifenden Narratologie versteht sich der traditionelle dramatische Theatertext als narrative Sequenz, die sich überwiegend aus der Rede von Geschehensteilnehmern zusammensetzt. Den Hiatus, der zwischen deren Rollenrede und deren performativem Rollenverhalten entsteht, überlässt das Drama im Falle des Lesers – einschließlich der ihm zu Hilfe kommenden szeni-

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schen Anweisungen – dessen Imaginationskraft und den in ihr zur Geltung gelangenden kulturspezifischen Vorgaben. Innerhalb dieser Realisation bleibt aber auch die narrative Gesamtlinie, zu welcher ihm die geschehenshaltigen Repliken der Darsteller Material und Richtung vorgeben, weitgehend der Imagination des Lesers überlassen. Diese ist von der Verquickung der Sätze zu Sinnsequenzen, über die personale Intonation der Sprechstile, der Redefolgen und der Dialogfügung, bis zum Stimmen-Gefüge des Ensembles gefordert. Der Leser überbrückt die Lücken der Narration, die zwischen den Redeblöcken bestehen, durch seine eigene komplettierende Imagination, mittels derer er die performative Leistung des Akteurs ersetzt. Dem gegenüber überwindet die szenische Realisierung, d.h. die performative Umsetzung, den Hiatus zwischen textlicher Festgelegtheit und narrativem Gesamtverlauf durch die stimmlichkommunikative wie gestisch-bewegungsmäßige Konkretisierung. Die Darstellung enthält Faktoren, in welchen sich die vom Schauspieler ergänzten narrativen Bindungen seiner Rollenaktion personal niederschlagen. Es versteht sich, dass diese Konkretisation ihrerseits erst auf der Basis von dezidiert theatralen Vorgaben der jeweiligen kulturellen und ästhetischen Zusammenhänge ihre Spielgestalt erreicht. Gleichgültig wie stark szenische Anweisungen das Agieren auf der Bühne vorwegnehmen oder direkt einfordern, so bleibt der impersonierende Schauspieler zugleich auch Sachwalter einer erweiterten ›Erzählung‹ von der Rolle, deren Profil er durch Überbrückung aller zwischen den sprachlichen und außersprachlichen Einzelmomenten bestehenden Lücken personal vermittelt. Der Neuansatz narratologischer Fragestellungen öffnet hier ein Feld von grundsätzlichen weiteren Überlegungen für die Analyse von dramatischen Texten und theatralem Geschehen, sowie der Zusammenhänge zwischen beiden. Der Schritt von darstellender zu explizit erzählender Auseinandersetzung mit einer zu verkörpernden Rolle, einschließlich ihrer individuellen wie sozialen Verhaltenskomponenten, ist möglicherweise geringer als traditionelle Poetik sowie die Schauspiel- und Darstellungsbezogenen Theorie lange Zeit angenommen hat. Die große Bresche der Gattungsgeschichte, die in dieser Hinsicht vor allem mit Brechts Verfremdungs-Ästhetik, aber kaum weniger mit den innovativen dramaturgischen Modellen der amerikanischen Dramatiker der 1930er bis 1960er Jahre geschlagen wurde, hat inzwischen ja fast ein Jahrhundert theatergeschichtlicher Entwicklung28 bestimmt. Die Vorstellung, dass mit der Rol-

28 Es versteht sich, dass in diesem Zusammenhang eine spezielle Würdigung der Szondischen Analysen einzubringen wäre. P. Hühn/J. Schönert (Einleitung, S. 10) sprechen generalisierend von »Rezeptionsereignissen«, wenn von Maßnahmen die Rede ist, die ihr Ziel in Einstellungsveränderungen

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le zugleich übergreifende soziale, geschichtliche und ideologische Bedingungen ihres Handelns sichtbar zu machen sind, hat zumal den von Brecht verlangten Wirkungseffekt eines erkenntnismäßigen Durchschauens immer wieder in den Mittelpunkt der Theorie epischen Theaters gerückt. Zu prüfen wäre, ob die Wirkung dieses Effekts – szenisch und dramaturgisch gesehen – geringer ausfällt, als von den Theaterreformern selber veranschlagt wurde, weil die diegetischen und die performativen Seiten der Verkörperung von Rollen insgesamt viel stärker ineinander spielen, als dass die erstrebte Differenzerfahrung – im Sinne eines unmittelbar Erkenntnis und Reflexion stimulierenden mentalen Vorgangs – entsprechend breitere Tragfähigkeit erlangen könnte.

4. Schauspieler-Erzähler Geht man von einem im Bereich der Erzählformen unstrittig gegebenen Größe einer übergeordneten oder mehrerer gestaffelten Erzählinstanzen aus, so findet sich im Drama dazu – sieht man von den bekannten gattungsgeschichtlichen Varianten ab – keine allgemeine Entsprechung.29 Dennoch ist eine solche Instanz, diesseits des Autors, texttheoretisch unabdingbar, die man zunächst als abstrakte Größe, als Kompositionssubjekt des Dramas annehmen muss. Im Inszenierungsvorgang wird diese dem Regisseur ausgeliefert, und es ist eine Frage, die immer wieder unter dem Etikett »Texttreue« diskutiert wird, ob er sich diesem Kompositionssubjekt des Textes unterordnet oder sich davon löst oder ihm entgegen arbeitet. Explizite Sprecher- oder Erzählerrollen, Spielleiter- und Regisseurrollen gehören hingegen zum Rollenbestand eines Textes, wie sie schon explizit im Theater der frühen Neuzeit auftauchen, in breiterer Streuung dann im 20. Jahrhundert. Bis zu den heutigen dramaturgischen Verfahren haben sich solche Rollentypen vielfältig eingebürgert, aber auch verfestigt und teilweise verschlissen, so dass die narrative Vermittlungsfunktion, die sich in ihnen inkarnierte, in der Gegenwart sich andere Wege sucht und die expliziten Erzählerrollen eher zurücktreten lässt.30 Das besagt aber, dass diese explizite erzählerische Vermittlung heute überwiegend in die dramatis personae selbst verlagert wird. Im Einzelfall ergeben sich dabei sowohl abrupte Veränderungen zwischen dem Status heben, welche – jenseits der dargestellten, erzählten Rolle – erst beim Rezipienten intendiert sind. 29 Immerhin bliebe ein weites Diskussionsfeld offen, wenn man auf außereuropäische Theaterkulturen denkt, etwa die Formen des japanischen Traditionstheaters, die entweder eine feste, musikalisch unterlegte Erzählinstanz aufweisen, wie Bunraku und Kabuki, oder ausgedehnte Erzählpartien in verschiedenen Rollen, einschließlich des Chors aufweisen, wie das Nō. 30 S. dazu Abschnitt 5.

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des Erzählers wie des Rollendarstellers, als auch fließende Übergänge zwischen beiden. Die Einlagerung narrativer Textanteile in voll impersonierte Einzelrollen ist auch für die Theatralisierung von Erzähltexten, wie sie das Gegenwartstheater so häufig vornimmt, ausschlaggebend. Daraus ist ersichtlich, dass zwischen der Einrichtung bzw der. Bearbeitung im Falle von Dramen und Erzählungen wesentliche Gemeinsamkeiten bestehen, zumal die Inszenierung ja jeweils auch die Erarbeitung eines eigenen Spieltextes einschließt. Während bei der Aufführung von Dramatik diese Text-Einrichtung dem Zuschauer häufig entgeht, wird bei Roman- oder Novellen-Vorlage das Bewusstsein des Zuschauers für diesen Schritt geweckt und je nachdem dezidiert herausgefordert.31 Das vermittelnde Kommunikationssystem, welches sich im epischen Theater des 20. Jahrhunderts in dezidierten Rollen inkarnierte oder durch prononcierte Rollenbrüche in Erscheinung trat,32 wird im heutigen Erzähltheater überwiegend dem Rollendarsteller selbst anvertraut, er vertritt gleichmaßen den Erzähler-Schatten der Rolle, wie er deren körperliche Erscheinung präsentiert. Dieser Herausforderung entspricht in der Gestaltung der Rollen, dass diese nicht nur dialogisch agieren, monologisch sinnieren, sich im klassischen Beiseite für Momente aus der Spielsituation entfernen, oder für didaktische und provokative Passagen direkt an den Zuschauer wenden, sondern dass sie – ohne formale Abgrenzung – über sich selbst als Figuren reden und von sich selbst erzählen.33 Damit werden die im früher auf Monolog oder a-parte eingeschränkten Erzählmomente verbreitert, so dass letztlich auch eine funktionale Korrespondenz-Rolle zu einem insgesamt übergeordneten Erzähler-Subjekt auf der Bühne entfallen kann. Wollte man in diesem Zusammenhang von »totaler Subjektivierung« sprechen,34 so wäre dies missverständlich; denn in entsprechenden Erzählpassagen der Einzelrollen werden vielfach übergeordnete narrative Zusammenhänge angesprochen, welche den augenblicklichen situativen Rahmen sowie das subjektive Bewusstsein der Rolle im entsprechenden Moment überschreiten. An die Stelle des im klassischen Beiseite herkömmlicherweise erkennbaren Übergriffs, der über die augenblickliche Situation des Sprechers hinausweist, tritt damit die generelle Herausfor31 Hierzu sowie zu den folgenden Gesichtspunkten vgl. die Thesen in dem bereits genannten Gespräch mit J. Bosse und J. von Düffel. 32 Genaueres dazu s. H. Korthals (Drama und Erzählung, S. 100ff.). 33 Dazu würde sich ein historischer Rekurs auf O’Neill, Strange Interlude, anbieten, das Stück, in welchem ein durchgehend geteiltes Rollenspiel, verlangt ist: szenisch ist im Modus des Dialogpartners, außerszenisch im Modus des inneren Monologs (narrativ, emotiv) zu agieren. Alle Rollen sind so Doppelgänger ihrer selbst. 34 J. Bosse/J. v. Düffel: Romane, S. 13.

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derung an den Zuschauer, in jedem Moment herauszufinden, wie die Rolle von sich spricht: ob den Partnern zugewandt dialogisch, oder im Selbstgespräch monologisch, oder aber von sich persönlich und den Konturen seines augenblicklichen Auftritts erzählend. Keineswegs – so konstatieren von Düffel und Bosse in diesem argumentativen Zusammenhang – handelt es sich dabei um verfremdende Distanzierung von dem Sprecher und den situativen und handlungsmäßigen Bedingungen seiner Rede. Umgekehrt – so wird dargelegt – wird die in Roman und Erzählung gegenüber den vorgeordneten Erzählinstanzen bestehende unbedingte Hörigkeit sistiert. Denn nun wird bereits durch die Rollen-Rede die Stellungnahme des Zuschauers verlangt, wie er sich zu den berichtenden und den personal unmittelbaren Redeanteilen der Rolle verhalten und diese zu einem integralen Gesamtbild verbinden will. Provoziert und verstärkt wird so – auf Seiten des Zuschauers – der abwägende und wertende Vergleich zwischen unmittelbarer Selbstaussage und berichtender Selbstbeschreibung, zwischen quasi spontaner Öffnung der Innensicht und erzählender Gesamtsicht der Rolle. Diese heute nicht mehr zu übersehende Neuerung in der Formation der Rollenfiguren hat gravierende Folgen, für die weiteren Aspekte der Personalität der Bühnenfiguren, wie für die Handlungs-, Raum- und Zeitgestaltung und alle weiteren Einzelfaktoren des Bühnenspiels. Den wichtigsten Angelpunkt bildet dabei das Verhältnis von Spiel- und Zuschauerraum. Mit dem Wegfall des autoritativen Erzählers oder Spielleiters und der immanenten Erzählkonventionen der klassischen Dramaturgie qualifiziert sich der Gesamtraum im doppelten Sinne: Erzählraum lässt sich nicht auf einen abgetrennten visuellen Spielraum einschränken, er greift von vornherein darüber hinaus.35 Das Ineinander eines Bühnenspiels, welches intern zwischen Akteuren stattfindet, und einer Erzählsphäre, welche die räumlich-körperliche Visualität überschreitet, setzt grundsätzlich neue Maßstäbe für die Rezeption. Keineswegs laufen die genannten Gesichtspunkte auf eine einfache Gleichsetzung oder Nivellierung aller Unterschiede zwischen Erzählwerken und Dramen hinaus, wenn es um Theatralisierung, die Umsetzung in das Bühnenspiel geht. Das literaturwissenschaftliche Analyse-Modell, das bisher bemüht wurde, legt dies auch keineswegs nahe. »Erzähltexte« – wobei hier nun nicht von den ›Proto-Formen‹ die Rede ist, sondern ausgearbeiteten literarischen Vorlagen – sind »nicht ohne weiteres als 35 Nach Max Herrmann ist Theater »Raumkunst«. Dabei wird »Raum« mehrdimensional gedacht, nicht nur als Schauraum für Bewegung und Handlung, sondern auch Hörraum. Die akustische Dimension ist dabei ausschlaggebend für die Relation zwischen Geschehen und Wahrnehmung, denn in dieser Hinsicht besteht keine räumliche Trennlinie zwischen Spiel und Rezeption, insofern ist die Stimme raumschaffend für Sprache und Kommunikation (Hörlandschaft).

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Vorlage für eine Theateraufführung« zu nutzen, sie bedürfen dazu »stets komplexer Umstrukturierungsprozesse«. 36 Diese bestehen aber, um keinem Missverständnis Vorschub zu leisten, nicht einfach darin, Erzähltes in ›dramatische Form‹ umzuschreiben; verlangt ist zudem auch ein Umdenken auf bühnenspezifische Qualitäten für die Präsentation. Insofern geht es im Folgenden nicht um »Dramatisierung« sondern um »Theatralisierung« im spezifischen Sinne von theater- und spiel-bezogener Umstellung.37 Wollte man dazu von prägnanten Textpartien innerhalb erzählerischer Vorlagen ausgehen, so kämen zunächst Geschehensberichte in Frage, welche etwa als Pendant zu teichoskopischen Partien, Botenberichte und dergleichen zu denken wären, in denen die Geschehensdarstellung sich erzählenden Mustern annähert, ohne dass damit die Differenz schlechterdings beseitigt wäre. 38 Dennoch greift man mit diesen Analoga zu kurz. Denn insgesamt richtet sich die heutige Beschäftigung mit Erzählvorlagen seitens der Bühnen in erster Linie an der für die Spielgestaltung entworfenen Bühnenstruktur und ihren Spielmöglichkeiten aus, welche alle älteren Bearbeitungskonzepte von ›Dramatisierung‹ weit hinter sich lassen.

5. Erzähltheater 5.1 Unterschiede zu ›epischem‹ Theater Das Erzähltheater der Gegenwart löst sich – wie bereits gesagt – weitgehend von älteren Formen erzählenden Theaters, welche etwa einen Spielleiter in epischer Funktion einsetzten – so bei Thornton Wilder in den 1930er oder Tennessee Williams in den 1930/40er Jahren, nicht anders etwa in Brechts dialektischem Theater, wenn man an den Sänger im kaukasischen Kreidekreis denkt: in klassischer Erzähler-Allüre eröffnet er 36 H. Korthals: Drama und Erzählung, S. 108. 37 In der Regel treten dramaturgische Textvergleiche gegenüber der Erörterung des Verhältnisses von Raum, Zuschauer und Spiel zurück. Ebenso wenig bilden – gegebenenfalls zu findende – metadramatische oder metatheatrale Reflexionspartien innerhalb der Quellentexte – im Sinne von Genettes Begriff des »Paratexts« den Ansatzpunkt (vgl. dazu H. Korthals, Drama und Erzählung, S. 124). 38 »Die dramatische Geschehensdarstellung verschreibt sich insofern der Gegenwart, als in ihr non-figurale teichoskopische Vermittlerrede und geschehensvermittelnde Teilnehmerrede dominant sind, der narrative Modus der Geschehensdarstellung hingegen ist durch und durch von der figuralen oder non-figuralen narrativen Vermittlerrede geprägt.« (Ebd., S. 150 u. 161).

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mit der Formel »In alter Zeit…« das Spiel, gliedert dann den Fortlauf des Geschehens mit Formeln wie »Hört nun die Geschichte …«, um am Ende auch ein fabula docet zu verkünden. Heute scheint dieser autarke – nach Genette extradiegetische – Erzähler auf der Bühne nicht mehr gefragt zu sein, wohl aufgrund der metaphysischen oder der ideologischen Funktionen, die er in Wilders Our Town oder Brechts kaukasischer Parabel übernahm. Offensichtlich wird die Überleitung einer erzählerischen Omniszienz in eine szenische Omnipotenz, die man hier beim Übergang von Text auf Spiel beobachten kann, eher als Störelement in der Relation zwischen Rollenträger bzw. Textträger und Zuschauer verstanden. Die explizite Erzählfunktion wird auf der heutigen Bühne den Schauspielern, in direkter Bindung an ihre Rollen, selbst überantwortet. Der Übergang aus dem einen in den anderen Modus wird mit unterschiedlichen stimmlichen, körpersprachlichen oder szenischen Mitteln signalisiert, auch lassen die Übergänge subtile osmotische Nuancen zu. Funktional ausschlaggebend ist, dass der Übergang nicht die Diskrepanz zwischen Individuum und gesellschaftlicher Verfassung, seelischer Lage und ideologischer Vorprägung hervorhebt und somit dem Ziel einer didaktischen Demonstration zuarbeitet. Vielmehr werden, wie oben dargelegt, die augenblickliche Verfassung und die umgreifenden Voraussetzungen des Verhaltens und Handelns akzentuiert und gegebenenfalls exkursartig illustriert. Dies betrifft auch die jeweilige Verbindung zwischen innerer Motivation und äußeren Bedingungen der Äußerungen etc., die im Modus-Wechsel deutlich gemacht werden. Nicht zuletzt gewinnt damit aber – wie bereits angedeutet – eine Jahrhunderttendenz, die differenzierende Brechung der menschlichen Individualität, neue Dimensionen der szenischen Wiedergabe. Wenn vordem etwa eine dramatische Rolle auf mehrere Spieler aufgeteilt wurde, so diente dies der Kennzeichnung einer inneren Spaltung,39 in der entweder seelische Konflikte, bis hin zu pathologischen Zügen, zutage traten, oder soziale Zwänge, welche zu Antagonismen zwischen gesellschaftlichen Verhaltensmustern und individuellen Handlungsimpulsen führten. Bühnengeschichtlich betrachtet, wären weiterhin Verdoppelungen anzuführen, die verschiedene Altersphasen einer Rolle, einschließlich der inneren Umbrüche, verdeutlichen, aber auch die chorische Vervielfachung, welche ebenfalls zwischen Individuum und Kollektiv die Bruchstellen, die Reibungsflächen und die Zerstörungsvorgänge herausstellen. Schließlich wäre auch an Verfahren der Rollen-Osmose zu denken, welche – mit umgekehrter Gestaltungsintention – den inneren Zusammenhang von äu39 Als älteres Beispiel sei Franz Werfels Spiegelmensch genannt. Neuerdings wurde eine derartige Gestaltung von Botho Strauß unter dem Titel Leichtes Spiel. Neun Personen einer Frau vorgelegt, es handelt sich um entsprechende Episoden, die insgesamt, mit leicht surreal getönten Akzenten zu einer Art von erneuertem Stationendrama führen.

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ßerlich scheinbar selbständigen Individuen thematisiert.40 In den neueren Formen von Erzähltheater werden solche Ansätze grundlegend verallgemeinert: Das Individuum wird nun in der Vielheit seiner Erscheinungen präsentiert, ohne dass notwendigerweise ein Schlüssel zur Zusammenführung im Sinne eines Gesamtbildes mitgegeben wird. Die Krise von Individualität als eines der markanten Kennzeichen des heutigen Menschenbildes gewinnt so radikale Bühnenpräsenz. Die Einheit von Rolle und Spieler kann auf diese Weise ebenso aufgehoben, wie das Verhältnis von Einzelnem und Kollektiv magmatisch verflüssigt werden. Entscheidend ist der jenseits von individueller oder kollektiver Impersonation mögliche narrative Zusammenhang, welcher den jeweiligen Status und dessen Veränderung im Verhältnis zu dem visuellen Geschehen kenntlich macht und auf den größeren Kontext der Problematisierung bezieht. Das heutige Erzähltheater ist ein Theater der vervielfachten Stimmen und Körper, welche – wie es die Münchner Prozess-Inszenierung am schlüssigsten demonstriert hat – für eine plurale, gebrochene Identität des Menschseins insgesamt einsteht.41

5.2 Erzählräume Theaterästhetisch gesehen, ist eine weitere Konsequenz überdeutlich: Da der Bühnenspieler in wechselndem Rhythmus und mit Intervallen seine Rolle bald darstellerisch, bald erzählend gestaltet, kann auf jede äußerliche Verdeutlichung der Kontexte, mittels Bühnenausstattung, Requisiten, oftmals auch Kostüm verzichtet werden. Der Umgebungsraum ist von der Notwendigkeit der szenischen Wiedergabe von Umständen entlastet. Die Bühne definiert sich als Spiel-Erzähl-Raum, in welchem ständig der Wechsel von Darstellung und Bericht in möglichst instruktiver Nähe, d.h. Sichtbarkeit und Hörbarkeit, die Aufnahmefähigkeit des Publikums stimuliert. Es verbindet die Bühnen-Räume, zu denen die verschiedenen Formen von Erzähltheater tendieren, dass sie auffallend asketisch gehalten sind, was die Bildgehalte, d.h. Dekoration, Requisiten etc. betrifft. Eine Nähe zur Ästhetik der Abstraktion, die an frühere bühnengeschichtliche 40 Für die genannten Paradigmen können u.a. Beispiele aus der Geschichte der Faust-Inszenierungen der letzten Jahrzehnte aufgeführt werden, beispielsweise die vierfache Faust-Gestalt gemäß Lebensphasen in der Schweriner Inszenierung von Christoph Schroth (1979), das mit umfangreichen Faust- und Gretchen-Kollektiven aufwartende Spiel von Einar Schleef (Frankfurt 1990) und Wolfgang Engels und Dieter Görnes Dresdener Inszenierung von 1989/90, in welcher der gesamte Textbestand von Faust und Mephisto in eine zwillingshafte Faust-Figur zusammengeworfen und neu auf die beiden Akteure verteilt wurde. 41 Regie: Andreas Kriegenburg; s. den Bericht in: Theater heute 11 (2008).

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Phasen erinnert, zeichnet sich bei der szenischen Gestaltung unverkennbar ab. Der Raum ist von jeglicher Detailangabe entlastet, da diese im Erzähltext erscheint. Auf Realismus jeglicher Art wird völlig verzichtet, Gegenständlichkeit kommt höchstens im Modus des Zitats oder des Symbols ins Spiel. Die Leere und die Raumgrenzen werden stattdessen bedeutungstragend. Überwiegend handelt es sich um Einraum-Inszenierungen ohne szenischen Wechsel, in denen allenfalls ein einziges, zentrales gegenständliches Element zugleich als Blickfang, wie als rätselhaftes Symbol dient, das erst nach und nach gehaltliche Konturen gewinnt. Es ist in der Regel nicht unmittelbar dem Stoff der Vorlage entnommen, also nicht illustrativ, gibt vielmehr der Gesamt-Präsentation ein neues visuelles Kraftfeld für erweiterte Konnotationen und Deutungshorizonte. So werden eher allegorische oder leicht verrätselnde Gebilde in die theatrale Leere der Bühne eingebracht, welche eine Reflexionsebene allgemeiner Art eröffnen, wie das Karussell in Hiob, das große Orchestrion in Kleiner Mann was nun,42 das zunächst als Wirbel oder Sog entworfene, dann meist als Augenrund identifizierte szenische Konstrukt in Prozess. So entstehen selbst bei gegenständlichem Ansatz abstrahierende Bezugsrahmen, welche alle konkrete Bedeutungsentfaltung den agierenden Personen überlassen. Insofern ist Erzähltheater wiederum potenziertes Schauspieler-Theater.43 Seine generelle Zurückhaltung bildet einen gleichsam programmatischen Kontrast zu der visuellen Überladenheit multimedialen Zuschnitts, welche zahlreiche Inszenierungen des sog. Regietheaters der letzten Jahre kennzeichnet.44 Das Erzähltheater, welches sich den Brückenschlag zur Literatur vornimmt, meidet die Konkurrenz zu der universal »illustrierenden« oder der »multimedial sich öffnenden« opulenten Bühne der Geschehnisse und Verwandlungen, zwischen denen das Auge durch ständiges Zappen in Anspruch genommen wird. Basierend auf dem Modell der abstrahierenden Raumbühne – unter Einschluss der Formation des Bühnenbodens – entwirft es eine visuelle 42 Sie bilden in den Inszenierungen von Joseph Roths und Hans Falladas Romanen an den Münchner Kammerspielen (Regie von Johan Simons und Luc Perceval) das Zentrum für die visuelle und zugleich die akustischmusikalische Orientierung. 43 Einen Grenzfall bildet unter diesem Aspekt der wellenförmige Spielboden als einziges Bühnenelement, auf welchem in Johan Simons Inszenierung von Michel Houellebecqs Elementarteilchen (Zürich/München 2006) jede Bewegung der Akteure zu einem akrobatischen Manöver wird. Die spielbestimmende Funktion ergibt sich daraus, dass der Wellenboden zwischen den an beiden Längsseiten sich hinziehenden Zuschauertribünen liegt, so dass jede Bewegung nach beiden Seiten hin ansichtig sein muss. 44 Als Beispiel sei etwa eine Inszenierung wie Stefan Puchers Orestie genannt, des Weiteren die multimedialen Kreationen von Christoph Schlingensief.

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Stilistik von Bewegung und Körper, auf welcher sich das Verhältnis von Text, Körper-Erzählung und Stimme so entfalten lässt, dass die impersonierenden und erzählenden Passagen ihre Zusammengehörigkeit ästhetisch zur Geltung bringen. Es gehört zu diesem spezifischen Verhältnis, dass der Geschehensraum seine funktionale Gestalt zum Ende des Erzähl-Spiel-Geschehens mit aufheben kann. Ein besonders markantes Beispiel dafür erbrachte die Inszenierung von Goethes Werther am Maxim Gorki Theater Berlin. Spiel- und Zuschauersphäre sind zunächst ungetrennt, die Werther-Erzählung beginnt inmitten des Publikums, während die auf das schmale Proszenium reduzierte Bühne unbespielt bleibt. Erst aus dem Verlaufe der Briefrezitationen ergibt sich Personenspiel, zunächst zwischen Werther und Lotte, und erst mit dem Eintritt von Albert in das Geschehen formiert sich das Proszenium als zeitweiliges Spielfeld für dialogische Konfrontationsszenen – während jedoch die Briefrezitationen, mit Angabe der Daten weiter laufen. Das zweiteilige Finale fällt besonders prägnant aus und verdeutlicht die theatrale Struktur von Erzähltheater. Werthers letzter Abschied von Lotte vollzieht sich mit der Aufhebung der räumlichen Gesamtstruktur selbst: Werther durchbricht die das Proszenium wie den Gesamtraum abschließende Styropor-Wand vor dem eisernen Vorhang und verschwindet im raumlosen Dunkel. Das Ende der Rolle beendet die gemeinsame Raumsituation der Spielenden und Zuschauenden. Den Rest – das heißt die noch folgenden Teile aus dem Bericht des »Herausgebers an die Leser«, der Werthers Briefe an seinen Freund in Goethes Roman ergänzt – liest der Albert-Spieler ohne jede schauspielerische Umsetzung. Dieses Raumkonzept verdeutlicht wichtige Grundformen von heutigem Erzähltheater. Sehr häufig schließt die räumliche Einheit Spieler und Zuschauer zusammen, da historisch oder sozial illustrierende, illustrativ markierte Raum-Gestaltung weitgehend vermieden wird. Nur zeitweise – und das heißt nach Form und Gehalt verschiedener Erzählpartien oder Handlungssequenzen differenziert – werden auch szenisch unterschiedliche Akzente der Raumerfahrung gesetzt. Der Raum wird etwa in Zonen aufgeteilt, die dann auch unterschiedliche Zeitebenen repräsentieren. Dass sich solche Zonen in anderem Kontext auch durch Simultangeschehen weiter aufblenden lassen und so das Verhältnis von Spiel und Zuschauer, nach Nähe und Ferne, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Zuwendung und Abwendung genau differenziert werden kann, bedarf keiner weiteren Illustration. Die Art, wie sich dabei das Zusammenspiel der Akteure, die diegetische oder impersonierende Gestaltung der Spielphasen, vollzieht und körperlich-ausdruckshaft, sowie bewegungsmäßig in den Raumzonen niederschlägt, bestimmt dann das stilistische und ästhetische Profil der Inszenierung - und nicht zuletzt auch jeder Einzelaufführung, wenn man den performativen Elan der Stunde mit in Betracht zieht.

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In vieler Hinsicht bietet auch hierfür die Kriegenburgsche ProzessAufführung besonders prägnante Gestaltungsformen an, an denen die Souveränität des Erzähltheaters im Umgang mit Raum und Zeit sichtbar wird. Zunächst sind Vorspiel und Hauptspiel raumzeitlich gegeneinander verschränkt. Das Vorspiel wendet sich direkt an die Zuschauer, indem es sie ironisch auf eine wechselseitige Überwachungssituation mit Verhaftungsgefahr einstimmt; es findet auf dem Proszenium bei geschlossenem eisernem Vorhang statt und wird lautstark durch das mehrmalige Zuschlagen der Tür akustisch akzentuiert. Das Hauptspiel auf der ›Augen‹Bühne hält die Trennung zum Zuschauerraum penibel ein, inspiriert aber visuell ein subtiles Verhältnis reziproker Wahrnehmung bzw. Beobachtung, da der Zuschauer ebenso die Verläufe um Herrn K. beobachtet, wie er sich selbst im Seh-Feld des Bühnen-Auges beobachtet fühlen kann. Die Raum-Zeit-Ästhetik der Aufführung verlangt gleichzeitig eine zweifache Orientierung: die Geschehnisse zwischen K. und den anderen Personen spielen sich überwiegend auf der weißen Außenfläche ab, die sich rechts und links ansteigend ins Unbegehbare nach oben rundet, während die innere, kreisrunde Spielfläche, die überwiegend nur von den K.Gestalten benutzt wird, alle Lagen zwischen der Waagrechten und Senkrechten einnehmen kann. Das auf diese Weise erzeugte räumliche Orientierungsproblem wird dadurch verstärkt, dass sich die Scheibe drehen lässt und somit eine weitere Dimension der Verunsicherung mit sich bringt. Diese ästhetische Verfügung der modernen Bühne über die Raumzeit – und deren Prägung nach heutiger Welterfahrung – legt es nahe, im Falle von Erzähltheater eher von Theatralisierung als von Dramatisierung auszugehen.

6. Vorläufige Bilanz Wenn man noch einmal von traditionellen Gattungsbestimmungen ausgehen wollte, so zeichnet sich im Gegenwartstheater eine ästhetisch beeindruckende Konvertierbarkeit zwischen den Genres ab. Literarisch gesehen, basiert diese auf geschehensdarstellenden Verfahren, welche sowohl durch Teilnehmer- als auch Vermittler-Rollen gekennzeichnet und angeregt sind. Diese durchkreuzen aber die herkömmlichen Gattungsgrenzen. Entscheidend ist nun, dass das heutige Erzähltheater die ästhetischen Muster für eine direkte Theatralisierung, d.h. eine Einrichtung als Bühnenspiel, ohne vorgängige dramatisierende Umsetzung, bereitgestellt hat. Die »Raumkunst« Theater bietet sich dem inkorporierenden wie dem berichtenden Format von Rollen an, indem sie Spiel- und Bewegungsanweisungen, diegetische Ich- oder Er-Formen, ebenso aber Rollenbrechung und -Vervielfachung als szenisches Geschehen im Raum inspiriert.

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Der hier vorgeschlagene Begriff »Erzähltheater« steht also nicht in binärer Opposition zu ›dramatischem Theater‹, da er nicht von dem dualen Schema episch-dramatisch – innerhalb der traditionellen Triade – ausgeht, sondern von Protoformen der Geschehensdarstellung,45 die sich in den literarischen Gattungen in unterschiedlicher Verbindung niederschlagen, die aber beide ebenso für die theatrale Ästhetik in Rechnung zu stellen sind. Eine binäre Konzeption würde einer schematischen Sicht erliegen, die seit dem 19. Jahrhundert die Gattungsfrage auf dem Hintergrund einer Dogmatisierung bestimmter historischer Muster von Drama und Theater erörtert und mehr oder minder festgeschrieben hat. Unter ›Erzähltheater‹ könnte man also Bühnenspiele des Schauspieltheaters verstehen, die ihre Grundlage in primär geschehensdarstellenden literarischen Texten haben – ohne dass darin notwendigerweise bereits vorgegebene Rollenformationen im Sinne personaler szenischer Verkörperung aufzuspüren wären. In der Regel ist aber ein Nebeneinander und Ineinander von Erzählpartien und von Figurenrede zu verzeichnen. In diesem Sinne bezeichnet ›Erzähltheater‹ Inszenierungen, welche mittels szenischen Anordnungen und Verläufen den geordneten Wechsel von narrativen und impersonierenden Partien von Geschehensdarstellung ermöglichen. Auf der Bühne agieren dann Schauspieler als Geschehensteilnehmer wie als Geschehensvermittler, erzählende Passagen und inter-agierende Handlungen bestimmen – in unterschiedlichen Relationen, in wechselnder Dichte und mit gleitenden Übergängen – die Gesamtdarstellung. Dabei können die erzählerischen Funktionen von eigens ausgewiesenen Rollen oder von den Spielrollen selbst – ebenfalls mit abrupten oder gleitenden Übergängen – wahrgenommen werden. Wenn Korthals nun nachgewiesen hat, welche Bedeutung in der europäischen Dramengeschichte der Durchlässigkeit für Erzählverfahren zukommt, so ist dies ein literaturwissenschaftlich wichtiger Befund, der nicht nur für die Lese- sondern auch für die Bühnenrezeption von größtem Belang ist. Für letztere ergeben sich wichtige theaterwissenschaftliche Konsequenzen, die umso deutlicher ins Auge fallen, als im Laufe des letzten Jahrhunderts eine in vielen Schüben sich vollziehende ›Retheatralisierung‹ stattgefunden hat. Unter dem hier erörterten Aspekt kann man diese als eine Befreiung der Bühne vom dramatischen Formzwang des 19. Jahrhunderts, die eine Erneuerung ihrer erzählenden Funktionen mit sich brachte, beschreiben.46 Dabei muss der Bühnenkunst eine eigenstän45 Unter diesem Aspekt ist interessant, dass bereits Käte Hamburger (»Die Logik der Dichtung«, Stuttgart 1957) die beiden zusammen unter dem Begriff des Fiktiven gegenüber dem Lyrischen als dem Existenziellen erörtert hat. 46 Im Hinblick auf die Literaturgeschichte des Dramas ist diese Entwicklung seit Peter Szondi immer erneut nachgezeichnet worden geschehen ist. Dass dessen so durchdachte Bestandsaufnahme nur bis in die 1950er Jahre führt,

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dige narratologische Kompetenz zuerkannt werden, die sich zwar auf die entsprechenden literarischen Vorgaben einlassen kann, sich aber nicht mit diesen prinzipiell deckt. Die unmittelbare Zuwendung zu Erzähltexten, die sich bei vielen Bühnen der Gegenwart erkennen lässt, dürfte sich als eine – seit geraumer Zeit vorbereitete und nun verstärkte – weitere Phase in diesem Prozess der Wiedergewinnung der Erzähldimension der Bühne verstehen lassen. Damit zeichnet sich wohl auch wieder eine partielle, dennoch deutlichere Anbindung der Bühne an literarische Vorgaben ab, als dies in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Dies betrifft keineswegs den gesamten Bereich theatraler Innovationen, wie sie sich in den zurückliegenden Jahrzehnten abgezeichnet haben. Doch ergeben sich bestimmte, oft markante Schnittmengen von theatraler und literarischer Erneuerung, welche in wechselndem Maße die Vorortung der Gegenwartsbühnen im kulturellen Gesamtaufkommen bestimmt. Theatergeschichtlich verweisen die derzeitigen neuen Varianten von Erzähltheater in doppelte Richtung, zum einen auf die genannte Anbindung, zum anderen auf die zahlreichen neuen dramaturgischen Errungenschaften der Bühnen während der zurückliegenden zwanzig Jahre, denen sie sich verdanken. Bei der derzeitigen Konjunktur von Romaneinrichtungen geht es keineswegs um DigestFassungen, welche mehr oder minder triviale Zielsetzungen verfolgen, auch nicht um die Einholung stofflicher Fülle, wie sie zahlreiche RomanTitel nahe legen. In der Regel geht es um prägnante, eher komprimierte Problemstellungen, die der Romanvorlage entnommen werden und deren gehaltlicher Komplexität – jenseits aller Bebilderung mit geläufigen Bühnenmitteln – erst die ästhetischen Errungenschaften der jüngsten Theaterentwicklung und die neuen ästhetischen Möglichkeiten schauspielerischer Vielseitigkeit gewachsen sind. Insgesamt steht zu vermuten, dass das Bedürfnis nach den ›großen Themen‹ mit einem neuen Selbstbewusstsein des Theaters gegenüber den Herausforderungen der Literatur zu tun hat. Es buchstabiert sie nicht nach, sondern etabliert ein Problemverhältnis auf Augenhöhe. Und dies besagt nicht eine Rückkehr zur traditionellen Gattungsbindung, sondern das Selbstverständnis als narratologische Instanz eigenen Rechts. Die globalen Herausforderungen des neuen Jahrhunderts, die ebenso sehr bis in die kleindimensionierten Lebensfragen des Alltags hineinreichen, wie sie prinzipielle Wertentscheidungen verlangen, lassen das Bedürfnis nach Stoffen mit weiträumiger Ansprache von Sozial- wie Individualproblemen, Welt- und Geschichtsbezügen, entstehen. Trotz allen ideologischen Risiken, die damit eingegangen werden, steht damit doch wieder, wie bei

verlangt heute sowieso eine Neubewertung, die u.a. dann auch die Orientierung des Dramenverständnisses an historischen Modellen wie der tragédie classique hinter sich lässt.

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Maurice Maeterlinck, »la situation de l’homme dans l’univers«, oder, zeitgemäß umformuliert, la situation de l’homme vis à vis des conflits des cultures zur Debatte. Es verdient weitere Überlegung, wie sich diese Rückgriffe des Regietheaters auf die großformatigen Themen literarischer Überlieferung zu der kaum überschaubaren Fülle neuer experimenteller Formen szenischen Schreibens verhalten. Denn so oder so antworten die Bühnen auf eine neue geschichtliche Situation, in welcher die zeitweilige Annahme einer post-histoire und die damit einhergehende Verkleinerung von Gegenwartsfragen auf globalen Widerspruch gestoßen ist. So scheint der theatrale Schub, den das Erzähltheater ausmacht, sich in diesem Sinne auch mit Vorliebe an literarischen Themen des kulturgeschichtlichen Fundus zu erproben, die sich als ›Mythos‹ gegen die Trivialmythen der medialen Verflachung ins Feld führen lassen, und gegen einen alltäglich gewordenen Lebenspragmatismus, in welchem sich die Weltlage der Probleme im Kleinformat gebrochen hat. Im Falle von Wortführern des heutigen Erzähltheaters, wie John von Düffel und Jan Bosse, scheint diese »Lust am großen Titel«47 mit der Kreativität, die zu deren Bühnen-Realisierung aufgeboten wird, jedenfalls übereinzukommen. Trotzdem dürfte es für eine wirkliche Bilanz zum Thema eines ›neuen Erzähltheaters‹ theatergeschichtlich gesehen noch bei weitem zu früh sein.

47 J. Bosse/J. v. Düffel: Romane, S.12. – Zu verweisen bleibt auch auf eine thematische Weiterführung im Interview mit Herfried Münkler – in: Theater heute 4 (2009), S. 7-22 – über das »Fehlen deutscher Mythen«. Man könnte von einer Ersatzfunktion der literarischen Mythen sprechen, welche an eine Leerstelle des deutschen Geschichtsverständnisses, den Mangel an grands récits treten. Nicht zuletzt würde eine solche Funktion auch die Ansprüche auf ein europäisches Format einer Gedächtniskultur, an welcher das Theater teilhat, neu artikulieren, wenn man etwa an die DostojewskijSerie von Frank Castorf, aber auch an Guy Cassiers A la recherche du temps perdu, in Deutschland an von Düffels Buddenbrooks oder Johan Simons Hiob denkt, zu schweigen von den europaweit aufgeführten Bühnenversionen von Kafkas Erzählwerken.

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MYTHOS KLASSIKER ODER DIE DRAMATURGIE DES URSPRÜNGLICHEN GUIDO HISS

Diese Skizze versteht sich als Teil der Annäherung an ein Projekt, das die Beziehung von Theater und Mythos auf der Grundlage eines medienwissenschaftlich überarbeiteten Mythos-Begriffs neu durchdenken will – mit Blick auf die neuere Theatergeschichte, auf die Gegenwart des Theaters zumal. Dem Ansatz liegt die These zu Grunde, dass mythische Dimensionen für das moderne Theater relevant sind, und zwar auch dort, wo wir sie normalerweise nicht vermuten, nämlich in institutionalisierten Formen des Schauspiel-, Musik- und Tanztheaters. Vorausgesetzt wird dabei ein Mythosbegriff, der – im Anschluss an bedeutende Definitionen im zwanzigsten Jahrhundert (etwa von Adorno, Blumenberg, Barthes und McLuhan) – das Mythische gerade nicht als lange überwundenen, insbesondere auf Narration bauenden Modus der allegorischen Welterklärung begreift. Im Anschluss an die genannten Autoren verstehe ich den Mythos als »Matrix des Weltbildes« (Norbert Bolz), mithin als Medium von Weltkonstruktion, Identitätsbildung und Komplexitätsreduktion, in der Lage kollektive Identitäten und Gedächtnisformen auszubilden und zu formatieren. Dieser Aufsatz konzentriert sich auf einen Teilaspekt, auf die von maßgeblichen Theoretikern postulierte Ursprungsbeziehung des mythischen Denkens und seine dramatischen Folgen. Der erste Abschnitt stellt diese Ansätze kurz vor; der zweite Schritt beleuchtet subtile mythische Dimensionen im Klassikertheater, mithin im Rahmen einer verbreiteten Theaterspielart, die sich in Deutschland zuerst aus dem Geist der Aufklärung entwickelt hat und zunächst einmal mythisch eher unverdächtig sein dürfte. Der Schluss resümiert den »Mythos Klassiker« mit Blick auf sein Ende im postmodernen Theater.

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1. Der »Zauber der Anfänge« »Der Mythos ist die Matrix des Weltbildes – er stellt ein Bild von der Welt und umstellt die Welt mit Bildern.« (Norbert Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, 1991)

Nach Karl Kerenyi bedeutet »Ursprung […] in der Mythologie zweierlei. Als Inhalt einer Erzählung […] ist er ›Begründung‹, als Inhalt eines Aktes ›Gründung‹«.1 Dass Mythen die Welt nicht nur allegorisch erklären, sondern in den Bildern und Erzählungen des Ursprungs überhaupt erst fundieren, zeige sich in einem für den modernen Menschen zunächst kaum nachvollziehbaren Bereich, im so genannten »gelebten Mythos«. Als Nachhall der göttlichen Weltschöpfung hat der Mythos für diejenigen, die in ihm lebten, demnach den Rang einer absoluten Wahrheit. Mythische Menschen erfahren, so Kerenyis These, die Erzählungen und Bilder vom Ursprung nicht als Fiktionen, sondern als »lebendige Wirklichkeit, von der geglaubt wird, sie sei in Urzeiten geschehen, und sie beeinflusse die Welt und die Schicksale der Menschen seitdem fortwährend«.2 »Ursprung bedeutet unüberbietbare Wirklichkeit.«3 Mircea Eliades Phänomenologie des Religiösen konkretisiert diese These im Rahmen des Nachdenkens über die Dialektik des Heiligen und des Profanen. Auch hier steht jenes mythisch beglaubigte Heilige und Ursprüngliche nicht als Zweites und Abgeleitetes. Es geht dem mythischen Menschen nicht um Glauben, sondern um die Erfahrung eines »Realen par excellence«,4 gegenüber dem das Alltägliche als das Uneigentliche ins zweite Glied trete. Der Mythos »offenbart das Reale, das Überreichliche, das Wirksame«.5

1

2 3 4 5

Kerényi, Karl: »Über Ursprung und Gründung in der Mythologie«, in: Carl Gustav Jung/Karl Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie. Der Mythos vom göttlichen Kind und Eleusinische Mysterien, Düsseldorf/ Zürich: Walter 1999, hier S. 25. Malinowski, Bronisław, zit. nach Kerényi, ebd. Girshausen, Theo: Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike, Berlin: Vorwerk 8 1999, hier S. 278. Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 85. Ebd., S. 87.

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Rituale vergegenwärtigen das mythisch Erzählte, machen es körperlich unmittelbar erfahrbar. »Der Mensch […] ahmt die beispielhaften Taten der Götter nach, wiederholt ihr Tun, gleich ob es sich um eine einfache physiologische Funktion […] oder um gesellschaftliche, wirtschaftliche, kulturelle oder militärische Tätigkeit handelt«.6 Rituale realisieren die mythische Dialektik von Ursprung und Gegenwart als eine besondere Zeiterfahrung, in der das Ewig-Anfängliche gegenwärtig wird, die alltäglichen Abläufe überlagernd. Der entscheidende Modus der performativen Vergegenwärtigung ist die Wiederholung: »Ritus ist die gemeinschaftliche Rückkehr der Gläubigen zur Wirklichkeit, zur Zeit des Ursprungs durch die Wiederholung dieses Ursprungsgeschehens«.7 Der mythische Mensch kennt mithin »zwei Arten von Zeit«, die profane und die heilige Zeit, eine zerrinnende Dauer und eine »Folge von Ewigkeiten«, die in den Ritualen beständig wiedererlebbar bleibt. Im Zusammenspiel von Mythos und Ritus geht es um mehr als nur um die Vermittlung heiliger Worte. Die Vergegenwärtigung des Mythos im Ritual etabliert »exemplarische Modelle« (Eliade) der Erfahrung. Sie formatieren insbesondere die Erfahrung von Zeit, im Sinne der Dialektik des Heiligen und Profanen, des Ewigen und des Vergänglichen. In ihrer Tendenz zur Wiederholung und Typisierung sind Rituale Instrumente der Gemeinschaftsbildung, Welterklärung und der Beheimatung im Vertrauten. Indem der Mythos elementare Muster von Zeit (und Raum), von Mensch und Kosmos nicht nur narrativ generiert, sondern auch rituell zur Erfahrung macht, wird Erzähltes zur erlebten Wirklichkeit. Dass Glauben und Wissen durch einen spekulativen Schritt getrennt sind, wird im Erleben des Rituals ebenso überspielt, wie die Tatsache, dass die Götter nur nachgeahmt und nicht real präsent sind. Rituale suggerieren ein Erstes, wo der kritische Geist ein Spiel mit Doppelungen und Fiktionen erkennt. Indem Mythen an der Wahrnehmung selbst operieren, werden sie dem naiv Gläubigen zur »Matrix seiner Welt« – mit den bekannten, z.B. auch politischen Konsequenzen. In Blumenbergs Worten: »Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar«.8 Beglaubigt durch die rituelle Teilhabe an jener anderen Zeit, trägt der Mythos den Beweis seiner selbst in sich. Dem Mythos wohnt entsprechend die Kraft inne, »Geschichte zur Natur« zu machen (Roland Barthes). Er operiert an der Wahrnehmung

6 7 8

Ebd., S. 81. T. Girshausen: Ursprungszeiten des Theaters, S. 277. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 142.

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selbst. Anders ausgedrückt: Mythen sind Medien, dies ist ihre erste Botschaft. Nach Blumenbergs berühmter These reagieren die frühen Mythen auf die kosmische Verlorenheit des Menschen, bezeugen seine Urangst vor der Natur, die ihm einst in ungeheurer Übermacht entgegentrat. Mythen sind demnach Instrumente zur Überwindung der Angst: »Der Schrecken, der zur Sprache gefunden hat, ist schon ausgestanden«.9 Den Menschen der Gegenwart machen dagegen offenbar Geister Angst, die sie selbst entfesselt haben, im Plan der Beherrschung der Natur: »Möglicherweise erleben wir angesichts der sich so schnell […] verändernden Gesellschaft und Welt – mit Internet und transkontinentalen Reisen – gerade deshalb eine Renaissance von Ritual und Kult: Bei allem Wandel wird Bleibendes und Sinnstiftendes gesucht, etwas das Halt, Sicherheit und Unwandelbarkeit verbürgt«.10

2 . D a s M yt hi sc h e i m Ä s th e t i sc he n . W a s b e g r ü n d e n K l as s i k e r i n sz e n i e r u n g e n ? Seit die Erfindung des Regietheaters den Widerstreit zwischen Drama und Aufführung als primäres Inspirationsfeld einer intellektuell hochstehenden Theaterkunst entdeckte, tobt ein Streit um die Vorherrschaft der beiden Sphären. Jeder Theaterwissenschaftler und jeder Theaterschaffende hat dies durchlitten, die einen im Grundstudium, die anderen in Publikumsgesprächen: die unsterbliche Diskussion um »Werktreue«. Die konservativen Theaterliebhaber fordern die Bühne als Altarraum eines vorgeblich ewigen Dichterworts. Für die Parteigänger des künstlerisch autonom gefassten Theaters zählt nur, was auf der Bühne spielt. Der Text gilt zuletzt als Steinbruch für eine höhere, im multidimensionalen szenischen Raum agierende Autorschaft, die zunächst im Zeichen der Regie entwickelt wurde. Befragt man das Projekt Klassikerinszenierung auf sein künstlerisches und gesellschaftliches Selbstverständnis, taucht unausweichlich ein Begriff auf, unter dessen Vorzeichen der Siegeszug dieser Schule einst begann: Bildung. Theater und Höhere Schulen reichen sich die Hände; Gymnasiasten werden bis heute in die Häuser geschickt, um sich jene 9 Ebd., S. 41. 10 Baumann, Martin: »Kulte in Religionen. Von religiösen Ritualen und dreifarbigen Meerschweinchen«, in: http://www.die-bruecke.uni-bremen.de/ artikel/artikel10.htm

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Aspekte bürgerlichen Selbstverständnisses (»sinnlich«) aneignen zu können, die im klassischen Kanon sowohl des Schauspiel- als auch des Musiktheaters bewahrt sind. Kluge Lehrer und mit Öffentlichkeitsarbeit befasste Dramaturgen stellen darüber hinaus die Ästhetik der Inszenierung als Bildungsgut sui generis in Rechnung. Diskutiert werden hier Begriffe wie Vergegenwärtigung und Historisierung sowie die besondere Eigendynamik des Szenischen. Das entscheidende Stichwort heißt: ›Theater als kreative Textinterpretation‹. Die Bühne liefere demnach eine avancierte Hermeneutik von geschichtlichen Alphatexten; indem es die »unausschöpflichen« Spielräume jener Dramen abtaste und auf je originelle Weise auf Gegenwartshorizonte projiziere, beweise es seine einzigartige Kraft als historische Anstalt. Dieser Bildungsauftrag des Klassikertheaters steht – auch in seinen kritischen Wendungen – allenfalls dort in Frage, wo sich die szenische Postmoderne einschaltet. Fragt man nach historischer Bildung und szenischer Dramainterpretation, bewegt man sich auf der Ebene des Nachvollzugs von Inhalten. Ein (mytho-)medial interessierter Ansatz müsste dagegen unter den Teppich der Deutungen schauen. Er würde gewiss nicht (inhaltlich) danach fragen, welche wie immer neue Sicht diese oder jene »Faust«-Inszenierung sowohl auf das Stück als auch auf die Gegenwart seiner Inszenierung wirft, sondern danach, welche elementaren Wahrnehmungsmuster damit formatiert werden, womöglich über Jahrzehnte hinweg. Er würde vielleicht untersuchen, wie das Modell Klassikerinszenierung (ursprungs)mythisch funktioniert, welche Selbstverständlichkeiten es suggeriert, welche Identitäten es organisiert und welcher Angst es begegnet. Das Wechselspiel von Mythos und Ritual basiert auf dem Grundprinzip der Wiederholung (eines Begründungsgeschehens). Noch diesseits von Inhalten, arbeitet dieser besondere ›Wiederholungszwang‹ auf der Ebene einer elementaren Strukturierung des kontingenten Zeitkontinuums. Besonders deutlich wird die Etablierung von temporaler Ordnung in der Formatierung der Abläufe durch religiöse Feste, die etwa den Zyklus der Jahreszeiten fixieren und im göttlichen Plan von Werden und Vergehen, Tod und Wiedergeburt, Vernichtung und Erschaffung verorten. Die zeitliche Einteilung des Jahres nach religiösen Festtagen in christlicher Tradition gilt noch dort, wo das Christentum seinen Absolutheitsanspruch verloren hat. Gewiss sind die Prinzipien von Wiederkehr und Wiederholung auch jeder Klassikerinszenierung immanent, vermutlich auch hier als unbewusstes survival eines ursprungsmythischen Begründungszusammenhangs. Jede Klassiker-Inszenierung arbeitet, egal wie sie ihre dramatischen Bestandteile behandelt, notwendig als Vergegenwärtigung eines dramatisch Einstigen, spielt auf eine vergangene kulturelle Situation an,

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auf den historischen Horizont des Dramas, auf die Entstehungszeit des Werkes. Im Verständnis einer kritischen Dramaturgie, die den Bildungsauftrag des Theaters ernst nimmt und die falsche mythische Parallele der Wiedergeburt eines ewigen Dichterworts verwirft, gerät der historische Abstand vielfach zum eigentlichen Produktionsanreiz. Theater wird in diesem Sinne zum Instrument einer Archäologie sozialer Muster, etwa der bürgerlichen Welt- und Wertvorstellungen. Macbeth, Emilia Galotti, oder auch Dr. Faust erweisen sich dem archäologischen Blick der Dramaturgen gleichsam als Kinderstube unseres gegenwärtigen Bewusstseins, vielfach als Initiationsorte aktueller Probleme. Was erzählen uns die bürgerlichen Trauerspiele über unsere Wurzeln? Wie weit sind wir von ihnen entfernt? Wie artikulieren sich dramatisch die Moral des Dritten Standes, seine Utopien, die Eltern-, Kinder- und Geschlechterrollen, und nicht zuletzt: die Vorstellungen vom Ich? Lassen sich spätere Katastrophen aus falschen Weichenstellungen ableiten, gerade aus solchen, die zu Beginn der Reise passiert sind? Man kann die dramaturgische Ursprungssuche problemlos weiter zurückdatieren, bis in die Anfangsphase des tragischen Theaters der Antike. Das eigentliche Faszinosum jener Dramen liegt zuerst darin, dass Urmuster nicht des Bürgerlichen, sondern des Menschlichen selbst zu bedeuten scheinen. Wir erleben die im König Ödipus exponierte Familienproblematik nicht unbedingt als mit der unseren deckungsgleich. Dennoch scheint ein markanter Teil der condition familiale, in diesem Fall die Vater-SohnBeziehung, in diesem Drama auf entsetzliche Weise begründet, ja verankert. Je weiter wir kulturarchäologisch zurückreisen, desto abstrakter, allgemeiner, klarer erscheinen die Muster, die wir freilegen. Desto grundsätzlicher wirken sie. Emilia Galotti steht vielleicht für Anfänge einer bürgerlich gedachten Weiblichkeit. Medea und Antigone wirken dagegen als universelle Muster von Aspekten des Weiblichen. Die Bezugnahme der Psychoanalyse auf Ödipus und Elektra arbeitet in dieser verkappt ursprungsmythischen Logik. Die These lautet: Jede Inszenierung eines dramatischen Stoffes der Vergangenheit reproduziert unbewusst die temporale Doppelung, die das Ritual mit seiner mythischen Ursprungsgeschichte verbindet. Jede Klassikerinszenierung reproduziert die Dialektik von heiliger und profaner Zeit auf säkulare Weise: nämlich als Begründung der Gegenwart aus einer Vergangenheit. Je weiter diese Vergangenheit zurückliegt, desto strahlender wird der archetypische Nimbus der dargestellten Figuren und Aktionen. Wie im Ritual ist der Modus dieses Vergegenwärtigungsspiels das unmittelbare Erleben, auch wenn es sich ästhetisch distanziert, jenseits von ritueller Suggestion und magischer Epiphanie. Die existentielle Aura des Ursprünglichen, die im Fall der Antikeninszenierung besonders

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hervortritt, erklärt sich übrigens keineswegs von selbst. Griechische Dramen sind selbst historische und nicht ursprüngliche Erscheinungen. Sie sind ihrerseits auf mythische Vorgeschichten bezogen, ohne noch mythisch zu sein. Der Eindruck, dass griechische Dramen dennoch die Aura des Anfänglichen umgibt, verdankt sich religiösen survivals, der unterschwelligen Gegenwart der ursprungsmythischen Matrix. Je weiter wir zurückblicken, desto heiliger blickt es zurück. Dies gilt wohl selbst noch für Physiker.11 Wenn wir aber von einer unbewussten und diskret säkularisierten Kontinuität von ritueller und theatraler Zeitwahrnehmung ausgehen können, dann müsste sich – typisch für mythische Dispositive – darin auch ein Moment von Komplexitätsreduktion, von Weltbeheimatung und -versicherung spiegeln, und zwar auf Kosten von Kritik, Differenz, Freiheit. Ich vermute, dass das Klassikertheater eine Vorstellung von Geschichte durch ästhetisches Erleben beglaubigt, die auf dem Konzept von Ursache und Wirkung baut, ein historisches Telos unterstellt, ja ein geradezu entelechetisches Modell von Keim, Spross und Pflanze. Wiederholung scheint das entscheidende dramaturgische Mittel zu sein, durch welches das mythische Dispositiv seine Anhängerschaft auf die jeweilige Wahrheit einschwört. Qua Wiederholung wird das Sekundäre, die Konstruktion, zum Primären der Erfahrung. Hier steht das moderne Theater den rituellen Wurzeln sogar näher als das antike, das sich nur in seltenen Fällen und gewiss nicht in seiner Anfangsphase mit Neuinszenierungen von Dramen befasste. Was im theatralen Agon aufgeführt wurde, integriert in die dionysischen Feiern, war prinzipiell einmalig; das Prinzip Wiederholung lässt sich hier eher im rituellen Rahmen der Veranstaltungen nachweisen, in Prozessionen und Tieropfern, vielleicht in der räumlichen Anlage selbst, im Spielort. Unser Klassikertheater ist dagegen geradezu wiederholungssüchtig. Nicht unbedingt, was das Spielen, aber was die Auswahl des Gespielten betrifft. Besonders deutlich wird dies im Feld der Oper, die weltweit kaum mehr als 400 Partituren beständig reproduziert. Wie fleißig aber auch das Schauspieltheater mit kanonisierten Dramen arbeitet, verrät ein 11 Auf beeindruckende Weise wiederholen die mit der Genese des Kosmos befassten Physiker das mythische Interesse an der Zeit der Ursprünge, indem sie mathematische Modelle winzigster Abläufe entwickeln, um den Kosmos aus seiner ersten Sekunde erklären zu können. Nach Auskunft der Physik ist die Erforschung der ersten Momente des Urknalls als Erforschung der generativen Zeit entscheidend wichtig, um der Entwicklung eines physikalischen Standardmodells unserer Welt nahe zu kommen, unerlässlich für die Entwicklung der berühmten GUT: Grand Unification Theory.

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Blick in die Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins. Dieser ganz besondere Wiederholungszwang unterscheidet sich vom rituellen nur vordergründig durch die beständige szenische Variation des je neuinszenierten dramatischen Materials. Hans Blumenberg hat das Prinzip der thematischen Variation als »Arbeit am Mythos« nachgerade in den definitorischen Kern des mythischen Komplexes gerückt. Wenn man auf den theatralen Wiederholungszwang im Zeichen des Kanons blickt, erwächst dem mythologischen Blick ein Verdacht. Der Verdacht, dass auch in diesem Feld qua Wiederholung eingeübt und zementiert wird, was weit diesseits der Vermittlung von Bildungs-Inhalten agiert. Der subtile Widerholungszwang des Klassikertheaters scheint ein Realität konstituierendes Moment zu integrieren, das die Angehörigen einer kulturbürgerlichen Schicht der sich extrem differenzierenden, beschleunigenden (Post-)Moderne entgegensetzen. Wiederum wird, wie schon im mythischen Komplex, Wiederholung zum Anker. Was aber repetitiv beschworen wird, sind Grundmuster eines bürgerlichen oder vom Bürgertum als menschlich allgemein identifizierten Verständnisses von Mensch und Welt. Der bürgerliche Mensch versichert sich in seinen Ursprüngen und wird dafür mit der Überwindung jener Angst entschädigt, die sich aus der galoppierenden Veränderung der Welt ergibt. Es geht vielleicht auch hier um die »Distanzierung der Wirklichkeit«, um die Bewältigung einer Furcht vor der absoluten Übermacht, Undurchdringlichkeit, Mitleidlosigkeit der Welt, die den Mythos als Instrument der Beheimatung nach Blumenbergs Auskunft einst hervorgebracht hatte. Früher war es die Natur, die den mythischen Angsttrieb bewirkte. Heute ist es vielleicht die Angst vor dem Zerfall noch der letzten Gewissheiten, dem Sinnverlust im Zeichen der katastrophalen Auswirkungen eines entfesselten Kapitalismus, den Bedingungen der Globalisierung, der galoppierenden Vernichtung der Biosphäre, der Allmacht der staatlichen Institutionen und dem simulativen Sog der digitalen Massenmedien. Vielleicht ist das Klassikertheater, das in Deutschland seit zumindest hundert Jahren institutionalisiert ist, auch eine Kirche der Angst gegen das Fremde um uns. Wie schon das Ritual, so dient auch die Klassikerinszenierung einer Rückversicherung im ursprünglich Vertrauten, das einem neuen »Absolutismus der Wirklichkeit« (Blumenberg) begegnet.12 Was im Klassikertheater zuletzt mythisch erfahren wird, ist Geschichte, verstanden als Große Erzählung von Ursachen und Wirkungen. Dies markiert das fraglos Selbstverständliche, die Matrix, welche das 12 Ästhetische Dimensionen scheinen dabei auf untergründige Weise mit mythischen durchzogen zu sein. Die Vermutung liegt nahe, dass das Klassikertheater ein exemplarisches Spielfeld der »Dialektik der Aufklärung« ist.

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mythomediale Dispositiv Klassikerinszenierung als Weltkonstante etabliert und qua Wiederholung einübt, im Sinn des von Blumenberg beschriebenen »Verfahrens der Unbefragbarmachung«.13 Die Klassikerinszenierung setzt gegen das kontingente Kontinuum der Zeit die Erfahrung eines Telos, den szenischen Beleg eines fundierenden Zusammenhangs von Einst und Jetzt. Die Klassikerinszenierung gibt der Geschichte einen Sinn und arbeitet damit dem zu, was Baudrillard »als den letzten großen Mythos« bezeichnet hat. Das Klassikertheater ist ein Bollwerk wider die hyperkomplexe Welt. Und die Angriffe dagegen, vorgetragen unter dem Etikett des ›postmodernen Theaters‹, markieren nicht einfach ästhetische Innovationen, sondern Positionen in einem Glaubenskampf um das richtige Verständnis von Geschichte.

3 . J e n s e i t s d e s M y t h o s’ K l a s s i k e r Gerade die Brüche und Verwerfungen des postmodernen »Theaters der Potenzialität« (Nikolaus Müller-Schöll) lassen die medialen Bedingungen eines Theaters der Konventionalität deutlicher hervortreten. Wenn sich in der Tradition des Klassikertheaters mythisch-kollektivbildende Aspekte nachweisen lassen, so treten sie, gerade was die Formatierung von Geschichte betrifft, in ihrer Negation umso deutlicher hervor. Der vielfach registrierte Einbruch des »Posthistoire« in szenische Projekte Müllers, Castorfs, Marthalers (u.a.) operiert eben nicht einfach an Inhalten, liefert nicht einfach ästhetische Innovationen, sondern untergräbt mit traditionellen Konzepten von Handlung und Figur die mythische Matrix selbst. Dies gilt insbesondere für das Spielfeld der um ihre Identitätspotenziale erleichterten Klassikerinszenierungen. Dass die Dramen in diesen Fällen nur noch als »Steinbrüche« entfesselter Theatralität dienten, war in den 90er Jahren Zentraltopos einer Kritik, die sich um das traditionell Beste der Bühne betrogen wähnte. Die Diagnose einer dramatischen Abrisshalde verweist inexplizit auf das, was ihren Wortführern als abgerissen gilt: die Kathedrale des dramatisch orientierten Theaters, sei es in Gestalt einer moralischen, ästhetischen, politischen oder auch nationalen Anstalt. Was den einen als einzig adäquate Art erscheint, Theater in einer medial entfesselten Welt zu betreiben, gilt den anderen als substanzieller Verrat an den Legitimationen eines Theaters der Aufklärung und der Menschenbildung. Wenn Gründgens seinen dynamischen Faust vor dem Brüsseler Atomium agieren lässt, ist das

13 H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 145.

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entelechetische Modell bildlich greifbar (die Renaissance als Ursprung einer technisch-rationalen Gegenwart). Wenn Marthaler seinen kläglichen Faust durch eine ausweglose Anstalt schleichen lässt, sind wir im Jenseits der Geschichte angekommen, zumindest jenseits einer teleologischen Geschichtskonstruktion. Der tektonische Bruch offenbart die Struktur der gebrochenen Platte. Dies betrifft nicht nur die hier angedeuteten Verwerfungen im Feld dramatisch konventionalisierter Geschichtskonzepte, sondern auch die Brüche der mythomedialen Matrix mit Blick auf die Dimensionen von Raum, Körper, Bild, Musik, Publikum. Was tritt in der Depotenzierung der Repräsentation, in der Zuwendung zum Korporalen und Präsentischen etwa im Theater Robert Wilsons zu Tage? Was sagen musiktheatralische »Kreationen«, welche die Partiturfixierung zu Gunsten einer freien Kombinatorik von szenischen Materialien aufgeben, über die strukturalen Mythen der Oper aus? Was berichten szenische Interferenzen über die Korrespondenzen, über das, was aufgebrochen wird, das szenische Gesamtkunstwerk des Regietheaters? Den mythischen survivals im Theater der Moderne formsemantisch nachfragend, könnten wir nicht nur Aufschlüsse über sein identitätsstiftendes Potenzial und über immanente Realitäts- und Zeitkonstruktionen erhalten. Vermutlich lässt sich in diesem Zusammenhang auch klar begründen, dass dekonstruktive Spielarten des Drama- und Partiturtheaters gerade nicht die aufklärerischen Traditionen der Institution Theater bedrohen, sondern allenfalls das darin aufgehobene mythische Potenzial. Damit arbeiten sie zuletzt im Plan der Aufklärung selbst, zuarbeitend dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Und sei es, dass diese Unmündigkeit durch mediale Modelle von Geschichte, Raum, Ich und Wir gegeben ist, die uns zugleich beheimaten und begrenzen.

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ALTE STOFFE IN NEUER BEARBEITUNG: ZU TANKRED DORSTS UND URSULA EHLERS D I E L E G E N D E V O M A R M E N H E I NR I C H GRAŻYNA KWIECIŃSKA In seiner etwa um 1200 verfassten Verserzählung Der arme Heinrich berichtet Hartmann von Aue die Geschichte eines jungen Freiherrn von ›Ouwe‹ im Schwabenland, der mit allen ritterlichen Tugenden ausgestattet, im Besitz von materiellen Reichtum sich des höchsten Ansehens der höfischen Gesellschaft erfreute. Doch als Gott ihn mit Aussatz zeichnet, wohl als Folge seines Übermuts, wendet sich seine Umwelt von ihm mit Ekel und Furcht ab. Er sucht Hilfe bei Ärzten zunächst in Montpellier und dann an der berühmten medizinischen Schule in Salerno, der ersten medizinischen Fakultät des mittelalterlichen Europas. Die Medizin, welche ihm dort verordnet wird, steht ihm nicht zur Verfügung, denn nur das Herzblut einer Jungfrau im heiratsfähigen Alter, die sich freiwillig für ihn opfert, könnte ihn heilen. Es bleibt also Heinrich nichts anderes übrig, als sich auf einen Meierhof zurück zu ziehen und fern von der Welt, gedemütigt, auf seinen unvermeintlichen Tod zu warten. Hier findet er seine Retterin. Es ist die Tochter der Bauern, welche bei seiner Ankunft noch ein Kind von etwa zwölf Jahren ist, sich zunächst in kindlicher Zuneigung an den Ritter hängt, drei Jahre später, bereits im heiratsfähigen Alter vom zwingenden Willen Heinrich zu retten ergriffen wird. Ihr Entschluss hat in Hartmanns Text neben der Zuneigung noch zwei weitere Gründe: ihr Opfer soll ihre Eltern vor einem schlechteren Herrn, dem sie sich wohl nach dem Tode des guten Heinrich unterzuordnen hätten, bewahren und soll sie selbst von dem Diesseitigen sündhaften Leben erlösen und ihr das ewige Leben in der nähe Gottes ermöglichen. In Salerno vollzieht sich jedoch in Heinrichs Seele eine Wandlung, als er das nackte, an den Operationstisch gebundene Mädchen durch ein Loch in der Mauer erblickt, unterbricht er die Vorbereitungen des Arztes und akzeptiert den Aussatz als Gottes Willen. Zwar fühlt sich das Mädchen nun um das ewige Leben betrogen, aber die Heilung des Ritters tritt dennoch ein. Die Geschichte endet mit einem ›Happy End‹: Heimgekehrt heiratet Heinrich das Mädchen trotz des Standesunterschiedes, gewinnt seine frü193

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here gesellschaftliche Stellung wieder und der Maier wird zum Freibauern. Natürlich wurde beiden nach einem langen glücklichen Leben die ewige Seligkeit zuteil. Für die Popularisierung des im Mittelhochdeutsch der Staufenzeit geschriebenen Armen Heinrich haben im 19. Jahrhundert die Brüder Grimm mit ihrer Nachdichtung gesorgt (1815), der eine Ballade von Adelbert von Chamisso unter demselben Titel und einer den Brüdern Grimm gewidmeten Zueignung folgte (1839). Insgesamt hält sich Chamisso an die Vorlage und im gewissen Sinne kann die Ballade aufgrund der Originaltreue ebenfalls als Nachdichtung betrachtet werden. Was aber auffällt, ist eine Verschiebung der Proportionen. Etwa ein Drittel der Ballade ist der Expedition nach Salerno gewidmet (150 von 440 Versen), während es bei Hartmann nur ein Fünftel der Dichtung ausmacht (etwa 300 von 1520 Versen). Offensichtlich regte die Opferszene die künstlerische Phantasie des Romantikers an. Neben dem Messer, von dem Hartmann berichtet, wohl um die Ungeheuerlichkeit des Vorgangs zu veranschaulichen, ist das Zimmer des Meisters auch sonst mit »vorzüglicher Arznei ausgestattet«.1 In Chamissos Ballade dagegen hängen im salernitanischen Kabinett an »den Wänden/Rings befremdlich wundersam Geräte«,2 das Grauen wird also gesteigert, die beruhigende Wirkung »vorzüglicher Medizin« aufgehoben. Bei Chamisso löst nicht erst der Anblick des nackten, an den rot bestrichenen Operationstisch gebundenen Mädchens, sozusagen das erotische Moment, seine Wandlung aus. Man könnte eher meinen, dass erst seine Wandlung ihm die Augen für ihre Reize öffnet. Einen anderen wohl extremen Fall haben wir in Gerhard Hauptmanns Drama Der arme Heinrich. Eine deutsche Sage (1902), denn Hauptmann verzichtet überhaupt auf dieses Fragment. Der vierte Akt endet mit dem Aufbruch nach Salerno und im fünften begegnen wir dem bereits geheilten Heinrich, der in etwa 44 Versen über die Ereignisse berichtet. Das einzige Blut, welches hier fließt, ist das von seinen Fäusten, mit denen er die Tür zum Kabinett des Mediziners zerschlägt. Trotz dieser Verkürzung verzichtet auch Hauptmann nicht auf das erotische Moment, denn

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Aue, Hartmann von: Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt von Siegfried Grosse, hg. Von Ursula Rautenberg, Stuttgart: Reclam 2005, S. 71 (= im Folgenden: AH). Chamisso, Adelbert v.: »Der arme Heinrich«, in: Ders.: Werke in zwei Bänden, Leipzig: Insel 1980, S. 277-288, hier S. 285.

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er lässt Heinrich berichten: »Und nun, ihr Männer, lag sie vor mir, lag wie Eva nackt …«3 und verstummt bevor er die nächsten Worte spricht. Mit seinem Drama hat Hauptmann dem mittelalterlichen Stoff eine neuzeitliche Form gegeben, ohne auf den transzendenten Zug zu verzichten. Das Verhalten der Figuren ist psychologisch motiviert, das Mädchen erhält auch endlich einen Namen – Ottogebe. Zugleich wird nachdrücklich die theologische Frage nach dem ›Urgrund‹, eine für den Autor und seine Zeit typische Frage gestellt. Der Aussatz wird in Hauptmanns Drama zur »Ausgesetztheit des Menschen an die schmerzerfüllte, qualvolle Dämonie des Erdenleidens, die ihn ohne Frage nach einer Schuld oder Schuldlosigkeit überfällt und wehrlos einsam macht.«4 Stärker als in den früheren Fassungen tritt auch bei Hauptmann der Bezug zum biblischen Abraham und Hiob in den Vordergrund. Die beiden Hauptfiguren des Dramas erleben eine gegenläufige Entwicklung: Heinrich stürzt immer tiefer in Leiden, bis er in dem Mysterium der Liebe Gott findet und Ottogebe steigert sich in ihrem religiösen Wahn, bis sie durch Liebe erlöst wird. So schreibt Fritz Martini 1961: »Der von Hauptmann gestaltete Mensch bleibt stets der passiv, ausgesetzt oder begnadet Erleidende, Empfangende. Aber von dieser Erlösung aus wird nun auch der Sinn des Erleidens, jenes unerträglichen Elends Heinrichs fassbar. Er musste durch es hindurchgejagt werden, um Gott zu erfahren, ihn in dem Mysterium der Liebe aufzufinden, ›bis dass die Liebe, die uns sucht, mich fand‹ […]. ›Die Liebe bleibt – himmlisch, irdisch – immer nur eine‹. Sie bedeutet das Glück der Erfüllung im Irdischen; sie führt zugleich über die Scheinverfallenheit der Kreatur in dieser Welt in die Sphäre des Reinen und Ewigen hinaus.«5

Als »Gerhart-Hauptmann-Leser«, wie er sich selbst in einem Interview bezeichnete,6 kannte Dorst das Drama von Hauptmann (sowie die gleichnamige Novelle von Ricarda Huch), zumindest aus der Studienzeit. Al3 4 5 6

Hauptmann, Gerhard: Der arme Heinrich. Eine deutsche Sage. Mit einem Nachwort von Fritz Martini, Stuttgart: Reclam 2005, S. 87. Martini, Fritz: »Nachwort«, in: G. Hauptmann, Der Arme Heinrich, S. 100. Ebd., S. 103. Vgl. Interview mit Tankred Dorst in: Müller, Ulrich/Eder, Annemarie/ Springeth, Margarete: »Die Legende vom armen Heinrich«: Zum Schauspiel von Tankred Dorst und Ursula Ehler (1996) nach der mittelhochdeutschen Versnovelle des Hartmann von Aue, in: De consolatione philologiae: Studies in Honor of Evelyn S. Firchow, hg. von Anna Grotans et al., Göppingen: Kümmerle 2000 (= Göppinger Arbeiten zur Germanistik 682 I/II), S. 281-298, hier S. 281.

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lerdings sind die Akzente in Dorsts/Ehlers7 Gemeinschaftswerk Legende vom armen Heinrich vollkommen anders gesetzt, denn die Legende hat das zum Gegenstand, was Hauptmann aber auch schon Hartmann von Aue ausgelassen haben, nämlich die gemeinsame Reise nach Salerno. Ursprünglich sollte es eine Filmproduktion werden – »die Pubertätsgeschichte eines rasenden Teenagers«.8 Das Projekt, aus finanziellen Gründen fallengelassen, wurde erst auf Wunsch des Leiters des Wiener Serapion Theaters (Erwin Piplits) wieder aufgenommen.9 Zum Kern dieser »Pubertätsgeschichte« wird, wie es weiter im Interview heißt, die Reise, »die ja bei Hartmann von Aue gar nicht vorkommt: die Reise nach Salerno und die Verbindung von Leben und Tod – dass die beiden so losreisen, dass das Mädchen immer mehr das Leben kennen lernt und auch immer weniger sich selbst opfern will. Sie ist ein rasender Teenager mit heutigen Augen gesehen. Sie sagt, sie will unbedingt eine Heilige werden und will sich opfern. Und er will zuerst nicht gerettet werden, dann aber ziehen sie doch los. Immer ist diese Wechselbeziehung da: sie merkt dann mit der Zeit, was das Leben ist, wie wertvoll es ihr eigentlich ist, sie will es nicht aufgeben. Er taucht aus der Depression auf, nun braucht er ihr Opfer.«10

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Das Stück Die Legende vom armen Heinrich ist von Tankred Dorst und Ursula Ehler gemeinsam verfasst worden, auch wenn in der Buchausgabe aus dem Jahre 1996 als Verfasser nur T. Dorst angegeben wird. Vgl. dazu die Dissertation von Pfisterer, Michaela: »Sonst wären die alten Stücke tot, nur für die Germanisten brauchbar.« Dialoge mit dem Mittelalter. Mittelalterrezeption am Beispiel der »Legende vom armen Heinrich« von Tankred Dorst und Ursula Ehler, Unveröffentlichte Dissertation, Salzburg 2002. 8 U. Müller/A. Eder/M. Springeth: Die Legende vom armen Heinrich, S. 284. 9 Das Stück wurde am 26. Februar 1996 von den Münchnern Kammerspielen uraufgeführt (Regie: Jens-Daniel Herzog). 1993 diente es als Vorlage für eine Performace des Serapion Theaters in Wien unter dem Titel Einen Schatten habe ich umarmt, einen Wahn habe ich gefreit und einen Traum besessen von Erwin Piplits. 10 U. Müller/A. Eder/M. Springeth: Die Legende vom armen Heinrich, S. 284. Hartman von Aue beschreibt nur die kostbare Kleidung, welche das Mädchen als Reisekleidung bekam (Vers 1020-1026). Adelbert von Chamisso und Hauptmann verzichten ebenfalls auf die Beschreibung der Reise. In der Nacherzählung der Brüder Grimm sind der Reise ganze zwei Sätze gewidmet: »Also fuhr das Mägdlein mit seinem Herrn fröhlich und zufrieden nach Salerno. Was konnte sie nun noch betrüben, als dass der Weg so weit war und sie nicht eher ihn erlöste?« (»Der arme Heinrich. Nacherzäh-

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So wird von dem Autorenpaar der Grundgedanke der Verserzählung verkehrt, nicht aber der des Hauptmannschen Dramas. Es soll hier nicht die Frage erörtert werden, von welchem ihrer Vorgänger Dorst/Ehler das meiste übernommen haben, denn sie zitieren direkt aus Hartmanns Verserzählung und erweitern das Personal um Figuren, die Hauptmann erfunden hat, zum Beispiel um den Eremiten. Intertextuelle Bezüge zu Werken anderer Autoren lassen sich problemlos ermitteln. So etwa erinnert das erste Bild an Hugo von Hofmannsthals Drama Der Turm (1925): Heinrich sucht nicht Zuflucht auf einem Meierhof, sonder zieht sich in einen Turm zurück. Dagegen rekurriert das vorletzte Bild »Memento«, welches dem »Wunder« vorausgeht und Heinrich auf einer Müllhalde am Meer im Gespräch mit »der alten Dame« und »dem altern Herrn« zeigt, auf die ›Philemon-und-BaucisEpisode‹ in Goethes Faust II. In dieser Szene wird auch von Heinrich eine Frage formuliert, die veranlasst, dass der Zuschauer auf das gesamte Stück, aber auch auf die gesamte Geschichte Heinrichs eine neue Perspektive gewinnt: »Hätte ich hinter der Tür stehen, durch das Schlüsselloch spähen und Angstvoll beobachten sollen, wie die Metzelei stattfindet?«11 Das voyeuristische Moment an dieser Geschichte, der durch das Loch in der Wand spähende Heinrich, ist zweifellos nicht ohne Bedeutung für die rege Rezeption des Hartmannschen Textes gewesen. In keiner der bebilderten Fassungen des 19. Jahrhunderts fehlt die Darstellung, die »die an den Tisch gekettete Jungfrau, den Arzt als dämonischen Magier mit erhobenem Messer« und den Voyeur Heinrich zeigt, allerdings mit der Ausnahme der jugendfreien Ausgabe von Gustav Schwab (17921850, 1836/38), der schon im Text den Arzt zum Greisen macht. Trotz des empörten Ausrufes von Heinrich heißt es nicht, dass uns Tankred Dorst/Ehler den Anblick der an den Tisch geketteten Jungfrau ersparen. Doch hat er noch seine Wunder wirkende Funktion, wenn dem Wunder Heinrichs Selbstreflexion vorausgegangen und seine Selbstfindung eingetreten ist. Vielmehr dient nun diese Szene zur Visualisierung des inneren Vorgangs – er wird ins Bild umgesetzt und als Wunder angekündigt, ganz den medialen Bedürfnissen folgend: »– Er aber will sich auf den Stein hinlegen, schon halb ein Leichnam krank, faulend, schon lung der Brüder Grimm«, in: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich, hg. von Friedrich Neumann, Stuttgart: Reclam 1974, S. 11-32, hier S. 25f). 11 Dorst, Tankred: Die Legende vom armen Heinrich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 91 (= im Folgenden: L).

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in Verwesung, nur ein blutiges Bündel noch in die Grube zu werfen. – Der arme Heinrich. Nun halten sich Heinrich und Elsa umarmt. Das war der Augenblick als das Wunder geschah. Wir suchen nach Worten Und finden keins. Man muss das Ereignis erzählen. – Wie denn? So viele Wörter gibt es doch! Sie sind verbraucht. Sie treffen das Wunder nicht. Das Unglaubliche nicht! Aber in so vielen Sprachen spricht doch der Mensch! – Redet doch!« (L: 98)

»Der Chor beginnt nun, Wörter zu suchen«, stattdessen ›entwickelt‹ sich Heinrich vor den Augen der Zuschauer von seinen Verbänden, und aus den Verfärbungen, welche zunächst wie Abdrücke seiner Wunden anmuten, ›entwickelt‹ sich das Abbild der Welt. Der Chor sucht nun keine Worte mehr: »Seht was das Auge sieht! Ganz ohne Wunden! Unversehrt der Ritter Heinrich!« (L: 99)

Die abschließenden Worte hat Dorst von Hartmann übernommen, allerdings verzichtet er auf die letzten zwei Zeilen, in welchen Hartmann auf Gott verweist und den Erlösten einen Lohn im Himmelreich verspricht. Die Legende von Dorst und Ehler ist weder ein Bekehrungs- noch ein Erbauungsstück, denn es geht den Autoren um das ›Hier-und-Jetzt‹ und so heißt es am Ende: »In einem langen seligen Leben/gewannen sie beide zugleich/das ewige Reich./So möge es allen/am Ende geschehen« (L: 99). In diesem letzten Bild, in der Frage nach der Möglichkeit das Geschehene zu veranschaulichen, geben uns Dorst/Ehler den Schlüssel zu ihrer Theaterkonzeption, in der es nicht mehr darauf ankommt, in realistischer Manier die Welt in Worte zu fassen, sondern mit Bildern auf die Phantasie, das Gemüht und den Intellekt der Zuschauer einzuwirken. Das Bestreben der Autoren, auf den visuellen Aspekt des Dargestellten aufmerksam zu machen, wird schon durch die Struktur des Stückes betont. Es sind 15 Bilder in die Heinrichs Geschichte gefasst wird, die jeweils

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noch eine Überschrift erhalten: »Was sieht das Kind«, »Darkness«, »Ez soll ze Salerne geschehen«, »Vater und Mutter«, »So eine will ich nicht werden«, »Votivbild«, »Wo ist nun des Traumes Bild«, »Eremitage«, »Labyrinth«, »Der goldene Löffel«, »Entdeckungen«, »Der Sarazene«, »Memento« und »Das Wunder«. Es sei an dieser Stelle nur kurz auf die Besonderheiten des Textes, genauer gesagt der Sprache hingewiesen, deren Kommunikationsfunktion Dorst/Ehler am Ende mit den hier schon einmal zitierten Worten »So viele Wörter gibt es doch! Sie sind alle verbraucht« (L: 98) selbst in Frage stellen. Der Text ist nicht immer verständlich. Die Autoren wechseln die Sprachebenen, zu Beginn wird im schwäbischen Dialekt gesprochen (ein Hinweis auf den Ursprung der Legende). Elsa, so heißt in der Legende die opferbereite Jungfrau, und der Chor verwenden immer wieder Zitate aus dem Original in Mittelhochdeutsch, das zweite Bild beinhaltet lediglich ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes englisches religiöses Lied in Originalsprache, und zwei weitere, ebenfalls in Englisch finden wir im 9. und 10. Bild; dies sind dagegen Liebeslieder mit religiösen Motiven. So verliert sich der philologisch nicht gebildete Zuschauer im Sprachengewirr und der vermeintliche Übersetzer steht vor dem Problem der Unübersetzbarkeit des Stückes. Bei einer solchen Textgestaltung gewinnt die Visualisierung des Geschehens natürlich an Bedeutung. Aber hatte nicht bei Hartmann die Visualisierung des Ungeheuren eine besondere, erzieherische Funktion zu erfüllen? »Ihr Körper war so liebenswert./da sah er sie an und dann sich,/und dabei gewann er eine neue Erkenntnis./Er hielt nicht mehr für gut,/was er vorher gedacht hatte,/und so verwandelte er sofort/seine alte Denkweise/in eine neue menschliche Güte.« (AH: 73)

Dorst/Ehler kehren die Situation um. In ihrem Stück wird das Mädchen zum Voyeur und zur »neuen menschlichen Güte« gerade durch die Grässlichkeit des Erblickten geweckt. Die Episode wird denn auch mit dem Bild »Was siehst du Kind« an den Anfang gesetzt. Das Kind wird sehend gemacht. Der Anblick des vom Aussatz befallenen im Turm eingesperrten Heinrich reißt das Mädchen (Elsa) aus ihrem naiven, verspielten Naturkinddasein. In dieser Umkehrung diagnostizieren Dorst/Ehler die psychische Verfassung des heutigen Menschen. So schreibt Susan Sontag in ihrem Buch Das Leiden anderer betrachten: »Die These, das moderne Leben bestehe aus einer Abfolge von Schrecknissen, die uns verderben und an die wir uns nach und nach gewöhnen, gehört zum

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Grundbestand der Kritik an der Moderne – und sie ist fast so alt wie die Moderne selbst.«12

Weiter zitiert sie aus Baudelaires Tagebuch eine Notiz aus dem Jahre 1860: »Es ist unmöglich, irgendeine Zeitung durchzublättern, gleichgültig welchen Tages, welchen Monats oder Jahres, ohne in jeder Zeile die erschreckendsten Merkmale der menschlichen Pervertierung zu finden … Jede Tageszeitung ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein einziges Gewebe von Greueln, Kriegen, Verbrechen, Diebstählen, Unzucht, Folter …; ein allgemeiner Rausch von Grässlichkeit. Und diesen ekelerregenden Aperitif nimmt der zivilisierte Mensch täglich beim Frühstück zu sich.«13

In Übereinstimmung mit den Ansichten von Sontag und Baudelaire verbannen die Thesen von Dorst/Ehler die Legende ins Reich der Utopie: Der heutige Mensch ist nicht im Stande sich von dem ›medialen Rausch‹ abzuschirmen. Ob gewollt oder nicht bleibt er der ›Abfolge von Schrecknissen‹ ausgesetzt und Furcht und Mitleid pervertieren zur ›Lust am Betrachten der Leiden anderer‹ unterstütz von modernen Medien, die es ihm möglich machen bei den größten Katastrophen dabei zu sein (z.B. am 11. September 2001). Die sensationslüsterne, voyeuristische Gesellschaft der Postmoderne wird im 10. Bild – ›Labyrinth‹ der Spiegel vorgesetzt. Ort der Handlung ist das Wasserschloss Beausejour, in dessen Park der als »elegante Gesellschaft« auftretende Chor sich die Zeit zu vertreiben sucht. Elsa wird als Märtyrerin dem höfischen Publikum vorgestellt, ihr Martyrium soll ihnen vorgeführt werden, um für Abwechslung zu sorgen. Die Grausamkeit der Opferung wird nicht erkannt, sondern als Ablenkung von der Tristesse und Langeweile des übersättigten Lebens empfunden. Nicht Simulation, sondern Authentizität ist das, wonach die sensationslüsterne ›Big-Brother-Gesellschaft‹ lechzt: »– Was mich in diesem Zusammenhang interessiert, ist die Frage der Authentizität. – Unsinn! Ich bin ein Voyeur, ganz einfach! Ich sehe so was gern. – Ein Tötungsritual. Ich bitte Sie: Rituale! – Soll denn wirklich jemand getötet werden? – Warum nicht?

12 Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten, Wien: Carl Hanser 2003, S. 123. 13 Ebd., S. 124f.

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ALTE STOFFE IN NEUER BEARBEITUNG

– Das Echte, das Authentische! Danach schreie ich im Zeitalter der Simulation! […] Ich feiere jede Aktion, die Wirklichkeit herstellt. – Nicht die Darstellung des Lebens, das Leben selbst! Nicht die Darstellung des Todes, der Tod selbst! – Es wird tatsächlich jemand … wie soll ich es sagen … geschlachtet? – Ja, Das Herz wird herausgerissen. – Wieso lachen Sie denn da so unmäßig?« (L: 44f)

Das Labyrinth wird in dem Stück zum Sinnbild der Welt mit allen ihren sündhaften Verlockungen an denen auch das reine Herz Elsas und ihr Erlösungsprogramm zu zerbrechen drohen. Die Szene hat eher einen zynischen Ausklang, wenn Heinrich bekennt: »Erstens: Ich liebe dieses Bauernmädchen nicht. Zweitens: Sie hängt nicht am Leben.« (L: 59) und die schöne Orgelouse über sie spottet: »Ich dachte, du hättest kein Interesse am Diesseits, Kleine.« (L: 60) Neben dem Voyerismus sind das Sehen, Schauen, beziehungsweise ›Nicht-Sehen-Wollen‹ Schlüsselworte im gesamten Stück: Elsas Verwirrung wird ausgelöst durch den Anblick Heinrichs. »Sieh mich doch an« (L: 78), schreit Elsa, als sie Heinrich dazu bewegen will, sie endlich als Frau wahrzunehmen. Heinrich schließt die Augen geblendet von dem Messer, mit welchem der Sarazene die Brust Elsas aufschneiden will, so dass dieser ihn ermahnen muss: »Augen auf Herr Ritter« (L: 84). Seinen letzten, das Stück abschließenden Auftritt beginnt der Chor mit den sich wiederholenden Worten: »Seht, was das Auge sieht« (L: 99, 84, 85). So kann man das ›Schauen‹ als die zentrale Metapher des Stückes bezeichnen, umso mehr, dass sie sich ebenso auf die inhaltliche Ebene, wie auf die formelle Seite des Bühnenwerkes bezieht. Der Zuschauer soll sehend und das Theater soll wieder zur Schau-Bühne werden.

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SCHWIERIGE KOMMUNIKATION: M O R I T Z R I N K E S M Y T H E N /D E /K O N S T R U K T I O N TORSTEN ERDBRÜGGER

»Mythologie, Mythomanie ist bei heutigen Schriftstellern ein weit verbreitetes Leiden.« (Alfred Döblin)

1. Einleitung Moritz Rinke, Dramatiker, Feuilletonist und Romanautor, ist mit mittlerweile zehn Dramentexten zu einem kanonischen, wenngleich nicht unumstrittenen Phänomen der deutschsprachigen Theaterszene der Jahrtausendwende avanciert. Rinkes Stücke stellen eine Reformulierung des Konversationsstücks dar, in denen die Handlung zugunsten des Dialogs zurückgenommen, der Dialog jedoch als misslungene Kommunikation bloßgestellt und zu einem monologischen Patchwork verkürzt wird, das eine slapstickhafte Komik generiert. Damit wendet Rinke – um einen Terminus Peter Szondis aufzunehmen – das rein Formale ins Thematische1 und desavouiert die zwecklose oder dem reinen Selbstzweck dienende Kommunikation seiner Figuren.2 Wie Rinkes Erstling Der Graue Engel3 mit »Ein Monolog zu zweit« untertitelt ist, ließen sich alle folgenden Stücke als ›Monologe zu vielen‹ klassifizieren. In der Verkürzung zum Monolog wird der Dialog seiner handlungsgenerierenden Funktion enthoben, bleibt oberflächlich und stellt so sinnbildlich die Oberflächlichkeit der vorgeführten Kommunikation aus. Rinkes Verfahren jedoch, die Oberflächlichkeit der Figurenrede selbst lediglich auf der 1 2

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Vgl. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1963, S. 89. Die Nähe Rinkes zum Konversationsstück macht auch Franz Wille stark. Vgl. ders: »Ein Schiff muss kommen«, in: Theater heute 11 (2000), S. 1420, hier S. 16. Rinke, Moritz: Der graue Engel. Ein Monolog zu zweit. [UA Schauspielhaus Zürich 1996] Berlin: Fannei & Walz 1995 (= im Folgenden: GE).

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Textoberfläche vorzuführen, ist in der Rezeption wiederholt auf Widerspruch gestoßen, etwa bei Reinhard Wilczek, der konsequent das »Gefühl einer gewissen Oberflächlichkeit und mangelnder Aussagekraft«4 auf der Textebene artikuliert, die auf der Bühne jedoch überspielt werden könne.5 Peter Michalzik resümiert, Rinkes Stücke seien mit der Wiedergabe ihres Inhalts weitgehend zu erfassen,6 andere monieren nicht zu Unrecht deren »fundamentale Harmlosigkeit«7 und den »hohen Niedlichkeitsfaktor«8. Dass Intention und Rezeption von Rinkes Dramatik derart divergieren, mag daraus resultieren, dass diese in einen postdramatischen Resonanzraum hinein arbeitet, ohne dessen Verfahren zu adaptieren. Rinkes Schreiben ist, wie Andrzej Wirth bemerkt, »nicht ohne Genealogie; er nutzt sie und hebt sie auf.«9 Wesentlicher Tenor seiner Dramatik ist eine beständige Auseinandersetzung mit der kommunikativen Funktion von Mythen und deren Dekonstruktion mit den Mitteln des Konversationsstücks. Das Spektrum dieser »Arbeit am Mythos« (Hans Blumenberg) umfasst den ›Mythos Marlene‹, die mythische Stadt Vineta10, den Nibelungen-Mythos11 sowie den ›Mythos Arbeit‹ in Café Umberto, in dem sich im konkreten Ort des Arbeitsamtes Arbeit und Arbeitslosigkeit 4

Wilczek, Reinhard: »›Negative Energie in eine positive Gegenkraft verwandeln‹. Über den utopischen Grundzug in den Theaterstücken Moritz Rinkes«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Theater fürs 21. Jahrhundert. (= Text und Kritik Sonderband), S. 70-80, hier S. 78. 5 Wobei zu fragen wäre, ob das Überspielen nicht gerade der Intention des Autors, mit der Wiederbelebung des Konversationsstücks reine Oberflächenkommunikation auszustellen, zuwiderläuft. Demgemäß spricht Franz Wille vom »genremäßig schwachbrüstigen Innenleben seiner Problemkomödianten«. F. Wille: Ein Schiff muss kommen, S. 16 (Hervorhebung – T.E.). 6 Michalzik, Peter: »Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss«, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Bielefeld: transript 2008, S. 31-42. 7 Jörder, Gerhard: »Die jungen Milden«, in: Die Zeit vom 29.04.1999. 8 Heine, Matthias: »Gottvater lässt rollen«, in: Die Welt vom 26.04.1999. 9 Wirth, Andrzej: »Mythos als Sterbehilfe«, in: M. Rinke: Der graue Engel, S. 90-92, hier S. 90. 10 Rinke, Moritz: Republik Vineta [UA Thalia Theater Hamburg 2000], in: Ders.: Trilogie der Verlorenen. Stücke. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2002, S. 153-235 (= im Folgenden: RV). 11 Rinke, Moritz: Die Nibelungen [UA Nibelungenfestspiele Worms 2002]. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2002 (= im Folgenden: N).

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tricksterhaft12 verdichten und so einen massenkompatiblen Alltagsmythos evozieren. Die verhandelten Mythen illustrieren ein Mythenverständnis, das nicht zwischen klassischen mythischen Stoffen, Mythologemen, Alltagsmythen und Sagen differenziert. Indem Rinke graduelle und qualitative Unterschiede zwischen den verschiedenen Ausformungen des Mythos und deren wissenschaftsgeschichtliche Kontroversen13 nivelliert, findet er einen entscheidenden Zugang zu ihrer Dekonstruktion. Sie nimmt die mythisierende Überhöhung zurück, wie sich auch an seinem 2010 erschienen Debütroman Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel illustrieren lässt, in dem der (Pseudo-)Mythos ›Worpswede‹ durch die Darstellung der alltäglichen Banalität dieses Künstlerortes und seiner Bewohner unterlaufen wird. Durch Parallelisierung von großen und kleinen, alten und neuen Mythen, die zu einfachen Narrativen verkürzt und banalisiert werden, wirft Rinke die Frage nach der Legitimation ihrer identitätsstiftenden Funktion auf. Indes bedingt auch dieses Verfahren der De-Konstruktion mythisch überhöhter Erzählungen zugleich immer auch deren Reartikulierung und Aktualisierung, denn: »Übersetzungen, Überschreibungen oder Übermalungen des narrativen Mythenkerns sind allerdings nicht zugleich Dekonstruktionen des Mythischen. Seine Form bleibt konsistent und bietet sich verschiedenen Inhalten an. Wie ein schwarzes Loch saugt er alle Bedeutungsschichten auf, die sich auf ihn beziehen lassen.«14

2 . M y t h o s › M y th o s ‹ Die Beschäftigung mit Mythen hat permanente Konjunktur, was nicht zuletzt darin begründet liegt, dass man kontinuierlich eine »hohe Veränderung der Systemzustände« artikulieren kann, mit der Hans Blumenberg

12 In der Figur des Trickster werden nach Claude Lévi-Strauss die zwei differenten Charaktere eines Dioskurenpaares auf eine einzige Figur appliziert. 13 Zur Geschichte der Mythosforschung und der Schwierigkeit einer Definition vgl. bspw. Jamme, Christoph: »Gott hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. 14 Niethammer, Ortrun/Preußer, Heinz-Peter/Rétif, Françoise: »Mythen überschreiben, Mythen überwinden? – Eine Einleitung zu topischen Narrationen der sexuellen Differenz«, in: Dies. (Hg.), Mythen der sexuellen Differenz. Übersetzungen Überschreibungen Übermalungen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007, S. 9-20, hier S. 11.

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das Verlangen nach Mythen und Remythisierungen erklärt.15 Gerhard Plumpe hat bereits in den frühen 70er Jahren dargelegt, dass es sich beim Mythos um einen Begriff semantischer Beliebigkeit handelt, die gleichwohl seine Suggestivkraft begründet.16 Mythos meint sowohl eine ›unwahre‹ als auch eine ›geltungsbeanspruchende‹ Geschichte, wird häufig mit dem Begriff des Mythologems17 synonym gesetzt und kann literarisch tradierte mythische Stoffe ebenso bezeichnen wie popkulturelle Konsumgüter oder Medienstars. Diese relative Unschärfe des Mythosbegriffs führt zu zwei gegensätzlichen wissenschaftlichen Positionen: Die erste fordert eine strikte Definition des Mythos ein,18 die zweite geht zwar von seiner prinzipiellen Nichtdefinierbarkeit aus, erkennt darin aber auch ein Hemmnis für den kritischen Umgang mit Mythen.19 Claude Lévi-Strauss stellt zudem fest, dass der Diskurs einer strukturalen Analyse des Mythos wiederum mythisch sei und selbst einen »Mythos der Mythologie« darstelle.20 Weil Moritz Rinkes Stücke hier als eine Arbeit am Mythos beschrieben werden, ist zu berücksichtigen, dass auch sie nicht in einem diskursiven Vakuum existieren, sondern in die semantische Beliebigkeit des Mythosdiskurses involviert sind, auf den sie abzielen. Daher erscheint es nicht sinnvoll, die Texte Rinkes entlang einer singulären Mythosdefinition zu erarbeiten, sondern stattdessen die Polyvalenz als Produktionsbedingung jeder Arbeit am Mythos vakant zu halten. Dies bedeutet nicht, völlig auf eine Eingrenzung des Begriffs zu verzichten, sondern fordert

15 Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, 6. Aufl., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 41. 16 Vgl. Plumpe, Gerhard: »Das Interesse am Mythos. Zur gegenwärtigen Konjunktur eines Begriffs«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 20, 2 (1971), S. 236-252, hier S. 236. 17 Mythologem bezeichnet die kleinste semantische Einheit des Mythos, die sich durch ihre Invarianz auszeichnet. Der Begriff entspricht dem des Mythems von Claude Lévi-Strauss bzw. dem des narrativen Kerns von Hans Blumenberg. 18 Das Unterlassen einer Definition sei entweder »naiv« (in der Annahme, der Mythos sei selbsterklärend) oder »fahrlässig« (in der bewussten Inkaufnahme der Mehrdeutigkeit). Vgl. Parr, Rolf: »Das System der deutschen Gründungsmythen. Von Napoleon bis zur Wende von 1989«, in: Matteo Galli/Heinz-Peter Preußer (Hg.), Deutsche Gründungsmythen. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, S. 23-36, hier S. 23. 19 Vgl. G. Plumpe: Das Interesse am Mythos, S. 236. 20 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Mythologica I: Das Rohe und das Gekochte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 26.

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die Offenlegung (und -haltung) der gegenwärtigen Mythendiskurse ein. So besehen herrscht relative Einigkeit darüber, dass jeder Mythos – ungeachtet ob klassischer oder alltäglicher Natur – als variationsfähige Kommunikation einer symbolischen Bedeutung operiert, weil sich das Bedeutete des Mythos immer auf der Ebene der Metasprache in einem sekundären semiologischen System ausdrückt.21 Jeder Mythos verfügt über eine Grundaussage: das Mythologem, das Mythem bzw. den narrativen Kern. In den Worten Blumenbergs sind Mythen »Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.«22 Der Mythos verschleiert seinen Ursprung, erscheint folglich als Konstrukt ohne Konstrukteur und wirkt in seiner symbolischen Bedeutung identitätsstiftend für reale oder imaginierte Kollektive, was Jan Assmann als »Mythomotorik« bezeichnet.23 Der Frage nach dem gegenwärtigen identitätsstiftenden Potential von Mythen ist die Frage nach der Aktualität von Mythen eingeschrieben: Warum bedarf es heute (wieder) mythischer Erzählungen? Und: Was bewirken diese? Diese Fragen stellt implizit auch Moritz Rinke in seinen Dramen. Es geht ihm um ein Hinterfragen der gegenwärtigen Bedeutung (bzw. der Bedeutungslosigkeit) von Mythen zur Bildung (kollektiver) Identität. Indem er Roland Barthes’ Minimaldefinition, der Mythos sei eine Aussage,24 wörtlich nimmt, stellt er die Frage, wer diese Aussage warum tätigt und welchen Erfolg ein solch interpellatorischer Akt25 haben kann. Letztlich führt Rinke den Mythos heute als gescheiterte Kommunikation vor und seine identitätsstiftende Funktion ad absurdum. Er teilt dabei mit Niklas Luhmann die Grundannahme von der unsichtbaren »Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation« und revisualisiert sie auf allen drei von Luhmann benannten Feldern der Unwahrscheinlichkeit: des Verstehens, des Erreichens und des Erfolgs.26 Anhand der drei Theaterstücke Der graue Engel, Republik Vineta und Die Nibelungen lassen sich 21 Vgl. Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1964, S. 93. 22 H. Blumenberg: Arbeit am Mythos, S.40. 23 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 1992, S. 79f. 24 R.Barthes: Mythen des Alltags, S. 85. 25 Vgl. ebd., S. 106. 26 Luhmann, Niklas: »Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation«, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, 5. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag 2009, S. 29-40, bes. S. 30f.

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sowohl die Kontinuität des Mythosthemas im Werk des Autors als auch drei unterschiedliche Ebenen der Verarbeitung aufzeigen. Während Rinkes erste Arbeit noch die Produktionsebene des Mythos und damit eine Inneneinsicht fokussiert, wird dieser Zuschnitt in Republik Vineta auf der Ebene verstellter Perzeption, nicht durchschauender Wahrnehmung, verhandelt und bei den Nibelungen schließlich auf die Rezeptionsebene überführt, die mehr über den diskursiven Raum aussagt, in den der Mythos hineinwirkt, als über den mythischen Stoff selbst.

3. Der graue Engel Rinkes erstes Theaterstück Der graue Engel ist für zwei Personen konzipiert: eine nicht näher bezeichnete Frau und Konstantin, der aber im gesamten Stück nicht spricht und damit als realisierte Metapher eines ›Stummen Dieners‹ fungiert. Rinke spielt hier mit der Ikonographie des Alltagsmythos’ ›Marlene Dietrich‹ insofern, als die Hauptfigur zwar eindeutig der realen Person Marlene Dietrich nachempfunden ist, jedoch lediglich als ›die Frau‹ und nicht eindeutig als Marlene bzw. ›die Dietrich‹ bezeichnet wird, was das Identifikationsangebot mythischer Kommunikation prinzipiell offen hält. Sie befindet sich, wie es in der ersten Regieanweisung heißt, von Koffern umstellt in einem Raum, der »vielleicht eine Bühne« (GE: 7) sein könnte. Rinke offeriert mit diesem Aufbau ein Vexierspiel von Realität und Fiktion, Wahrheit und Mythos, eine Strategie der vakanten Semantik, die eher im Theatertext als auf der Bühne funktioniert, wo die Frau immer schon als ›Marlene‹ visualisiert und eben nicht frei für imaginative Zuund Überschreibungen ist. Gerade die Uneindeutigkeit der Zuschreibung ist aber wesentlich für den Mythos, in dem sich – im Übergang vom primären zum sekundären semiologischen System – Sinn in Form verwandelt und dabei verarmt.27 Weil die Frau aus der/in der und für die Vergangenheit lebt, indem sie an ihrem eigenen Mythos festhält und ihn pflegt, ist diesem Stück eine zwischen-zeitliche Kommunikationsstörung zwischen der Stück-Gegenwart und der mythisch verklärten Vergangenheit eingeschrieben, die etwa auch Der Mann, der noch keiner Frau Blöße entdeckte (UA 1999) charakterisiert, in der der Germane Helmbrecht unversehens in eine gegenwärtige Theaterprobe gerät.

27 Vgl. R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 97.

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Rinkes Kommunikation, so Andrzej Wirth, wendet Sprache räumlich an, indem in allen seinen Stücken Requisiten eingefordert werden.28 Für die mythische Kommunikation sind sie deshalb von Bedeutung, weil sie zugleich eine alltagsmythische Aura erzeugen und Zeitgeist widerspiegeln, beides aber über ein Zeitkontinuum hinaus präsent halten und so als historische Zeugnisse und Erinnerungsträger, das heißt als (Kommunikations-)Medien eingeführt werden. Dominiert wird das Bühnenbild im grauen Engel von Koffern, die nicht nur Dietrichs Schlager »Ich hab noch einen Koffer in Berlin« aufrufen, sondern metaphorisch Lebensgeschichte bebildern und zugleich für Exil und Bühnenleben stehen. Das sprichwörtliche ›Leben aus dem Koffer‹ wird hier überzeichnet zu einem Leben aus den Erinnerungen aus dem Koffer. Des Weiteren beinhalten die Koffer additionale Bestandteile des Mythos Marlene und erscheinen so als konkrete Erinnerungsräume, die Erinnerung zugleich beherbergen und verschließen und selbst Erinnerungsträger sind.29 Weitere zentrale Requisiten des Stückes sind Telefon, Strumpfbänder, Hosenanzug, Gugelhupf und Bodenschrubber, denen eine den Koffern homologe Funktion zukommt. Sie sind einerseits Objektivationen einer (mythisch überhöhten) Vergangenheit und als solche Auslöser einer erinnernden Kommunikation. Andererseits bezeichnen sie wesentliche Konstanten des narrativen Kerns des Dietrich-Mythos’, weil sie der Transformation von Sinn in Form Ausdruck geben. Der Mythos lässt sich hier zurückführen auf seine wesentlichen Bestandteile, die sich zu einer weiblich-rätselhaften Ambivalenz ergänzen, die den Inhalt des MarleneMythos charakterisiert:30 Einfache Herkunft und Bodenständigkeit werden durch Gugelhupf und Schrubber symbolisiert. Hosenanzug31 und Strumpfbänder bebildern den Aufstieg zum international gefeierten Star sowie die Transgression statischer (Geschlechter-)Rollenmuster. Flucht

28 Vgl. A. Wirth: Mythos als Sterbehilfe, S. 90. 29 Weil Koffer (wie Wagons, Schienen und Schornsteine) zur zentralen Ikonographie des Holocaust gehören, ist Rinkes geforderte Koffer-Installation im Stück nicht unproblematisch, antizipiert sie doch unbewusst die Mehrfachkodierung dieses Symbols sowohl für Freiheit als auch Deportation. 30 Vgl. Geppert, Hans Vilmar: »Wer hat das gemacht? Von Heinrich Mann ›Professor Unrat‹ zu Josef von Sternberg ›Der blaue Engel‹ und zurück«, in: Ders.: Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München: Verlag Ernst Vögel 2006, S. 129-150, hier 147. 31 Vgl. zur Kontextualisierung Sudendorf, Werner: »Marlene Dietrich«, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte II. München: C.H. Beck 2001, S. 621-636, hier S. 629.

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vor dem Nationalsozialismus und Rückkehr nach Europa verdichten sich in den Koffern, von denen die Bühnenfigur im doppelten Wortsinn umstellt ist. Dem völligen Rückzug in die Isolation der Pariser Wohnung, in der das Stück mutmaßlich situiert ist, entspricht das Telefon, das den letzten verbliebenen Kontakt zur Außenwelt darstellt.32 Der Mythos besteht in dieser Form nur so lange, wie die hermetische Abschottung gegenüber der Außenwelt eingehalten wird, was im Stück am Beispiel Greta Garbos reflektiert wird: »Hast du dieses Bild von der Garbo in der Zeitung gesehen? Diese Mistkerle haben sie erwischt. Wie hässlich sie ist, Konstantin. Und so alt. Und schrecklich.« (GE: 42) Für Roland Barthes liegt das Alltagsmythische im Gesicht der Garbo in seiner reinen Essenz, die sich zwar allmählich durch Brille, Kapuze und Exile verschleiert habe, aber – anders als in Rinkes Stück – niemals entstellt worden sei.33 Indem Rinke aber in die Innenwelt der alternden Diva vordringt, gewinnt er einen Zugang zu ihrer Dekonstruktion. Der private Rückzugsraum wird zur Bühne, auf der die Dietrich noch immer ihre Rollen spielt, Konstantin ›dient‹ als Publikum für ihre fortwährende Arbeit am eigenen Mythos.34 Rinke karikiert die Variationsfähigkeit des Mythos, weil seine Figur »sich selbst nichts mitzuteilen hat als das Oberflächlichste, was jeder immer schon wußte«35, so dass schließlich auch die Sprache den Mythos nicht mehr einkleidet, sondern nur noch seinen Kern wiederholt:36 »– und Liebhaber Liebhaber die besten Männer Motten umschwärmen das Licht Kopf Fuß eingestellte Liebe und sonst gar nichts – Sie wissen schon. Und 32 Werner Sudendorf sieht im völligen Rückzug Marlene Dietrichs aus der Öffentlichkeit die Vollendung ihres Mythos: »Das war ihre letzte, vielleicht sagenhafteste Karriere. Sie lebte nur noch als Stimme, als Geist und Beschwörung.« Ders: »Mythos Marlene Inc.«, in: Mythos Marlene Dietrich. Krems: Österreichische Filmgalerie 2007, S. 12-15, hier S. 15. 33 R. Barthes: Mythen des Alltags, S. 74. 34 Jedes Mythische wurde von Marlene Dietrich selbst hingegen permanent bestritten, was jedoch nur der mythischen Eigenschaft entspricht, seinen Ursprung zu verschleiern. Vgl. Sudendorf, Werner: Marlene Dietrich, München: dtv 2001, S. 9. 35 Wille, Franz: »Das Geheimnis der blauen Grotte. Ein Portrait des Dramatikers und Feuilleton-Beglückers Moritz Rinke«, in: Theater heute 3 (1999), S. 54-57, hier S. 56. 36 Gerade in dieser Zyklizität liegt die Unterscheidung von Mythos und Geschichte. Während die Geschichte einer linearen Struktur folgt, besitzt der Mythos ein Grundmuster, das sich unendlich wiederholt. Vgl. J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, S. 248f.

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Hurenkostüm. Und Schauspielkunst. Und Weltverführungskunst. Und Augen auf. Und Augen zu. Und auf und zu und zu und auf. Und vorher den Fußboden schrubben. « (GE: 61)

Mit diesem Bild der alternden Marlene Dietrich wird ihr Mythos jedoch nicht zerstört. Nach der Dekonstruktion ist er um die Tragik des Alters erweitert, bereichert und verändert, aber nicht aufgehoben. Der Tod – der am Ende des Stückes in goethe’scher Manier mit »mehr Licht« (GE: 88), das hier auch Rampenlicht meint, vage angedeutet wird – markiert so auch nicht das Ende des Mythos, sondern vollendet ihn nur bis zur nächsten Bearbeitung.

4. Republik Vineta Mit dem von der Redaktion der Zeitschrift Theater heute als Stück des Jahres 2001 ausgezeichneten Vierakter Republik Vineta wechselt Rinke in der Arbeit am Mythos von der Produktions- zur Perzeptionsebene. Der Mythos taucht hier vordergründig nur im Titel auf, fungiert als reines Zitat und wird unter marktökonomischen Gesichtspunkten als Label für das im Stück geplante Ferienparadies etabliert. »Im Stück geht es eigentlich nicht um die Sage, sondern der Name – verbunden mit etwas Verheißungsvollem, Schönem – wird als utopischer Begriff von den Figuren wie ein Werbeslogan benutzt.«37 Mit dem Wissen bzw. Nichtwissen um den Inhalt der mythischen Vorlage steht und fällt das Experiment von Robert Leonhard. Er inszeniert einen Planungsstab in einer Brandenburgischen Villa, der am Projekt einer freizeitindustriell genutzten Insel namens »Vineta« arbeitet. Die in das Projekt involvierten ›Top Dogs‹ wissen jedoch nicht, dass sie sich in einer Simulation befinden und Teil eines sozialtherapeutischen Experiments sind, bei dem arbeitslos gewordene Spitzenkräfte ›sanft‹ der Arbeit entwöhnt und auf die Arbeitslosigkeit vorbereitet werden sollen.38 (Vgl. RV: 215f) Das mythische Vineta ist der Schlüssel zum Verständnis des Dramas. Mit dem Wissen um den mythischen Stoff setzt auch (spät) im Stück ein allmählicher Erkenntnisprozess ein, der freilich zu spät erfolgt. Bis dahin ist die Kommunikation mit 37 Grund, Stefan: »Wer in der Luft Tomatensaft trinkt, der ist gut im Geschäft. Interview mit Moritz Rinke«, in: M. Rinke: Trilogie der Verlorenen, S. 268-271, hier S. 268. 38 Simulation und Arbeitslosigkeit verweisen auf die beiden wichtigsten Prätexte des Stückes: Friedrich Dürrenmatts Die Physiker und Urs Widmers Top Dogs.

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dem Mythos, das heißt, die Übermittlung des Mythenkerns mit Hilfe der mythischen Erzählung als Medium in die Stückgegenwart hinein auf der Empfängerebene gestört. Diese Kommunikationsstörung im Stück möchte ich als verstellte Mythenperzeption bezeichnen. Das Verhältnis der Figuren zu den im Stück etablierten klassischen und Alltags-Mythen ist bestimmt von einem unbewussten Wahrnehmungsprozess. Die dargebotenen Mythen stellen verheißungsvolle Angebote dar, werden aber nicht hinterfragt und fungieren lediglich als ikonische Verdichtung einer scheinbaren Erfolgsgeschichte, die sie indes nie hatten, wie schon der Arbeitstitel für den Themenpark der Insel »Die untergegangenen Träume« (RV: 178) verdeutlicht. Für die im Stück dargebotenen (Pseudo-)Mythen lässt sich folglich ein Funktionswandel von einem Sinn-Angebot hin zum reinen Waren-Angebot feststellen. Der Kurzschluss von klassischem Mythos mit dem Warenfetisch des Alltagsmythos, den Rinke in seinem Stück vornimmt, ist in der Vorlage angelegt. Die Bewohner der unermesslich reichen Insel Vineta ignorieren alle Voraussagen des baldigen Untergangs. Alle hundert Jahre taucht die in der Ostsee versunkene Insel wieder auf und ihre Bewohner können erlöst werden, wenn an diesem Tag einem der Händler etwas abgekauft wird. So ist die im Stück persiflierte Kommerzialisierung dem Mythos selbst eingeschrieben. Kommerzialisiert wird Vineta insofern, als der Name den Planern ausschließlich als Label zur besseren Vermarktung dient und als solches nicht hinterfragt wird. Als sekundäres semiologisches System verfügt es über eine auratische Autorität,39 die nicht hinterfragbar ist. Umgekehrt würde das Hinterfragen, die Suche nach Ursprung und Verfasser, den schönen Schein trüben. Der Etikettenschwindel wird deshalb nicht wahrgenommen, weil der Vineta-Mythos ausschließlich in den Bereich der Kultur verortet wird und die vorgeführten Manager das symbolische Kapital der Kulturaneignung nicht in ökonomisches Kapital transferieren können, das als ausschließliche Kapitalsorte ihr Feld dominiert. So bleibt auch die Entdeckung des mythischen Kerns durch Hans Montag, die das Scheitern des Experiments beschließt, zufällig: »Das gibt’s doch gar nicht! Hören Sie mal! Ich les ihm [seinem toten Kind – T.E.] immer vor, das beruhigt, und gerade lese ich ›Nils Holgersson und die Wildgänse‹, und da landet er mit den Wildgänsen an einem Strand, und dann ist 39 Vgl. Preußer, Heinz-Peter: Mythos als Sinnkonstruktion. Die Antikenprojekte von Christa Wolf, Heiner Müller, Stefan Schütz und Volker Braun. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, S. 219.

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da eine Stadt, eine herrliche Stadt, aber fünf Minuten später ist sie plötzlich wieder weg, einfach weg. […] Ja und nun raten Sie mal, wie diese Stadt … Ist das da gerade runtergefallen?« (RV: 232f.)

Der hier vorgeführte Wechsel in der Rede Montags überspielt die Erkenntnis und lässt die Rede abrupt ins Triviale kippen. Das Beispiel verdeutlicht die Charakteristik von Rinkes Konversationsstück, in dem Gedanken nicht ausgeführt werden, die Rede immer wieder in ein oberflächliches Gerede kippt und die Figuren nicht in einen gegenseitigen Verstehensprozess treten können, weil sich ihr egomanischer Erfolgsdruck auch in einer völlig heterogenen Pseudo-Fachsprachlichkeit niederschlägt, die Kompetenz mehr simuliert als garantiert und immer einer Übersetzung bedarf: »Sagen Sie mir lieber was eine ›FA‹ [Fehleranalyse – T.E.] ist? Hagemann wirft mit Begriffen um sich, die versteht doch kein Mensch.« (RV: 156) Die Kakophonie der Figurenrede wird nur kurz unterbrochen, als Leonhard Musikinstrumente verteilt, damit seine »Mitarbeiter lernen zusammenzuspielen und nicht gegeneinander.« (RV: 172) Vineta wird im Stück vom klassischen Mythos zum Pseudomythos depraviert und folgt einer strategischen Manipulation mit dem Ziel, aus dem Mythos (symbolisches und/oder ökonomisches) Kapital zu schlagen.40 Diese »Schwundstufe«41 des Mythos beschreiben auch die in den Theatertext eingestreuten Alltagsmythen, die allesamt das Muster einer gestörten Mythenperzeption nachzeichnen. Diese zielt darauf ab, den symbolischen Überschuss der Mythen in ökonomisches Kapital umzuwandeln. Jeder Mythos braucht eine soziale Trägerschicht, die mit Mythen und Symbolen gut vertraut ist, sonst ist der Mythos sinnentleert, sagt Herfried Münkler42, der überdies für die Denkmäler aus dem mythomanischen 19. Jahrhundert konstatiert, sie hätten sich in der Bundesrepublik »für eine

40 Vgl. mit Bezug auf Cassirer Borchmeyer, Dieter: »Mythos«, in: Ders./ Victor Žmegač (Hg.), Moderne Literatur in Grundbegriffen, 2. Aufl., Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1994, S. 292-308, hier S. 294f. und vgl. Vöhler, Martin/Seidensticker, Bernd/Emmering, Wolfgang: »Zum Begriff der Mythenkorrektur«, in: Martin Vöhler/Bernd Seidensticker (Hg.), Mythenkorrekturen. Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 1-19, hier S. 6. 41 Müller, Ernst: »Mythos, mythisch, Mythologie«, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart/Weimar: Metzler 2001, Bd. 4, S. 309-345, hier S. 345. 42 Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin: Rowohlt 2009, S. 17.

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kommerzielle Vermarktung ohne politische Sinnvermittlung an[geboten], das heißt für Tourismus.«43 Dasselbe System einer kommerziellen Nutzung von zu Ikonen verdichteten und sinnentleerten Mythen kennzeichnet auch die geplante Republik Vineta: Eine bronzene Lenin-Statue aus Sankt Petersburg, eine kubanische Rakete, die zu Zeiten des kalten Krieges auf Washington gerichtet war, sowie die Reunion der Beatles sollen den geplanten Themenpark der Insel schmücken. Auch diese Alltagsmythen haben keinen Kommunikationswert mehr, sie sind zum Dogma erstarrt und haben dadurch das spezifisch Mythische, nämlich ihre Variierbarkeit, eingebüßt.44 Trotz aller Dogmatik und verfestigter Form behalten aber auch diese Alttagsmythen das Auratische des Mythos. Dieses wird für eine kommerzielle Nutzung fungibel gehalten, die mit dem mythischen Kern kollidiert, wie der Architekt Färber in einem seltenen Anflug von Weitsicht diagnostiziert: »Man kann doch auf einer Insel, auf der wir den Geist der Oktoberrevolution beschwören, nicht mit Rasenmäher über einen Golfplatz fahren!« (RV: 182) Die Oktoberrevolution wird hier den untergegangenen Träumen eingegliedert und folgt Christoph Schlingensiefs paradoxalem DurchhalteSlogan »Scheitern als Chance«. Rinkes Stück verkürzt das utopische Grundelement der zitierten Mythenfragmente auf ihr dystopisches Umschlagen, das als Metapher für das gesamte Experiment Robert Leonhards dient und dem Stück seine Dynamik verleiht. Vineta fungiert nur so lange als Utopie (der Arbeitswelt), wie die Kommunikation mit dem mythischen Kern gestört ist. Der Glaube an die utopische Kraft des Projekts setzt die Unkenntnis des mythischen Stoffes voraus. Arbeitswelt und Mythos sind die zwei Kernelemente des Stückes. Sie lassen sich zum ›Mythos Arbeit‹ verdichten. Arbeit wird nicht nur unter den präsentierten Workaholics mythisch überhöht, sondern auf Arbeit fußt der Gründungsmythos der ganzen Bundesrepublik, den Rinke damit karikiert und als Label entlarvt; und »der Coup des Autors ist es, dass von Anfang an nichts dran war.«45

43 Ebd., S. 20. 44 Ebd., S. 22 45 Irmer, Thomas: »Möglichkeitsmenschen im Wirklichkeitsspiel«, in: Christel Weiler/Harald Müller (Hg.), Stück-Werk 3. Arbeitsbuch, Berlin: Theater der Zeit 2001, S. 124-127, hier S. 126.

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5 . D i e N i be lu n g e n Mit der Nibelungen-Trilogie, bei der ich mich der Prägnanz halber auf den ersten Teil beschränken möchte, langt Moritz Rinke in seiner Arbeit am Mythos, die auf der Produktionsebene beginnt und auf der Perzeptionsebene fortgeführt wird, schließlich auf der Rezeptionsebene an. Ich verstehe seine Bearbeitung des Nibelungen-Stoffes in erster Linie als eine Auseinandersetzung mit dessen Rezeptionsgeschichte. In diesem Sinne verweist die für alle seine Stücke typische Ausarbeitung von Kommunikationsstörungen hier vor allem auf die vorgängigen Bearbeitungen, die auch einen sprachlichen Wandel reflektieren, der bei Rinke mitgedacht wird. Der Text beginnt in der zweiten Szene – nach kurzem Präludium in der ersten Szene – wie im mittelhochdeutschen Original mit den Worten »Uns ist in alten maeren wunders vil geseit […]«. (N: 13) Er kippt dann in die metrische Sprache der Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts, von dem Herfried Münkler als einer »heißen Phase der Arbeit am Mythos«46 spricht, und schließlich in die Gegenwarts- und Alltagssprache: »Mein Freund spricht noch die alte Sprache. Man sprach sie lang in Worms am Rheine, doch sprechen müssen wir jetzt anders. – Guck mal dort, das sind alles Kriemhilds Brüder.« (N: 14) Die Übersetzungsleistung Rinkes wird im Stück als solche ausgestellt, sie dient der Wiederbelebung der Kommunikation mit dem Mythos. So fungiert auch Brünhilds Sohn als Übersetzer von Kriemhilds Sohn. Dieser sagt: »Swa sint wir do nu?« (N: 14) und jener übersetzt: »Er fragt, wo wir da sind, aber wir sind noch gar nicht geboren.« (N: 14) Der gemeinsame Kommentar des Geschehens durch die Söhne der immer als Rivalinnen inszenierten Kriemhild und Brünhild unterstreicht Rinkes Anspruch auf eine Neulektüre aus Perspektive der/des Nachgeborenen, die eben verstehen (übersetzen) und nicht verklären will. Der im 19. Jahrhundert manifestierten Vereinnahmung des Nibelungenliedes als nationalem Gründungsmythos widerspricht Rinke mit der überzeichneten Betonung des vor-nationalen Deutschlands. Kriemhilds Bewerber kommen aus Franken, aus Bayern und Pöchlarn (Niederösterreich) nach Burgund, die Feinde stehen in Dänemark und Sachsen. Siegfried, der spätestens mit dem als Siegfriedlinie bekannten Westwall zum Verteidiger des Deutschen schlechthin stilisiert wurde, kommt aus »Xanten, Holland« (N: 21). Dieser wundert sich über die Untätigkeit der Burgunder, die nicht mit dem Klischee von deutscher Tüchtigkeit und Tapferkeit, das die Rezeptionsgeschichte der Nibelungen prägt, vereinbar

46 H. Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen, S. 72.

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scheinen: »Jungs, sind wir hier in der Schweiz, oder was? Was sind denn das für Deutsche?« (N: 23) Der Autor will damit nach eigenem Bekunden den Nibelungenmythos von seinem historischen Ballast befreien, das heißt – so Rinke im Selbstinterview für die Zeitschrift Literaturen – »diese mythische Höhe inklusive der schwierigen Rezeption herab[]setzen«.47 Dieses Projekt geht über eine lediglich verknappende Bearbeitung hinaus, die schon durch die Aufführungssituation bedingt ist. Da das Stück vor dem Hintergrund des Wormser Domes als Freilichtaufführung konzipiert ist, muss die Einheit von Zeit, Ort und Handlung (und das im Gegensatz zum Stoff und seinen vorgängigen Bearbeitungen) im Großen und Ganzen gewahrt werden; die maximale Aufführungsdauer wird vom Regisseur Dieter Wedel auf drei Stunden festgesetzt; die Aufführung samt Fernsehübertragung ist auf namhafte Schauspieler zugeschnitten, weshalb das Personal des Stückes aus Aufführungs- und Kostengründen zusammengestrichen wird.48 Neben der Reduktion des Stoffes zielt Rinkes Bearbeitung aber auf ein subversives Unterwandern jener Elemente des Mythos, die das Erbe der deutschen Vergangenheit belastet, denn: »Das Problem der Nibelungen ist, dass sie seit Ewigkeiten nicht mehr in Freiheit leben. Sie sind in der Gefangenschaft von Phrasen, erst die Naziphrasen, dann die Wagnerphrasen, und übrigens auch tausende von germanistischen Phrasen. Diese Phrasen liegen wie Grabplatten über den Figuren.«49

Wenn Rinkes Ziel in einer Entpolitisierung und Enthistorisierung des Nibelungenmythos besteht, dann eröffnet sich eine folgenschwere Krux, woran Rinkes Anspruch schließlich scheitert. Für Roland Barthes ist der Mythos näher klassifizierbar als entpolitisierte Aussage, die Geschichte in Natur verwandelt, den konkreten historischen Kontext hinten anstellt

47 Rinke, Moritz: »Wo sind denn bitte die Helden?«, in: Literaturen 5 (2002) S. 37-41, S. 37. 48 Vgl. dazu Rinkes Äußerung bei der »Podiumsdiskussion mit John von Düffel, Moritz Rinke und Dieter Wedel«, in: Gerold Bönnen/Volker Gallé (Hg.), Die Nibelungen in der Moderne. Dokumentation des 5. Symposiums der Nibelungengesellschaft Worms e.V., Worms: Nibelungengesellschaft Worms 2004, S. 64-102 hier S. 71f. 49 Ebd., S. 38. Diese ›Phrasen‹ ließen sich beliebig erweitern um die zahlreichen kanonischen Bearbeitungen, die für das Theater noch immer wirkkräftig sind – etwa Heiner Müllers Germania. Tod in Berlin (UA 1978 Kammerspiele München), das Stalingrad und die Nibelungen mehr oder minder direkt verschränkt.

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und damit die Essenz des Mythos in den Vordergrund rückt.50 Nur ist, wie Rinke zu Recht bemerkt, die Essenz selbst nicht frei von politischen Überschreibungen. Die Vereinnahmungen des Mythos durch die Nationalsozialisten – kondensiert in der sprichwörtlich instrumentalisierten Nibelungentreue und Hermann Görings Nibelungen-Stalingrad-Vergleich – wird im Stück fast vollständig ausgeblendet. »Ich finde das ist eigentlich die viel größere Ohrfeige für die Nationalsozialisten. Dass es keine eingebaute GöringRede gibt, dass es keine nationalsozialistischen Anklänge von Reden gibt, dass es keine tausendmal gezeigte Hitler-Paraphrase gibt«51. Als Zugeständnis an die »verinnerlichte Bedeutungsschwere, mit der dem Nibelungenmythos hierzulande immer noch begegnet wird«52, wird die nationalsozialistische Rezeptionsgeschichte auf zwei Andeutungen reduziert und trivialisiert. In Burgund trinkt man zuerst »Bacchus Spätlese, Abenheimer Jahrgang 33. Edelrebe« (N: 22), später einen Riesling »Flörsheimer-Dahlsheim, Jahrgang 45« (N: 35). Mit diesem Kurzschluss deutscher Kultur und Unkultur handelt Rinke die schwierige Frage nach dem Missbrauch des Stoffes en passant ab. Eine vollständige Befreiung von der deutschen Geschichte bedeutet dieser Kunstgriff indes nicht, was der strukturalen Eigenart des Mythos geschuldet ist, der die jeweilige Gegenwart absorbiert und dennoch überzeitlich bleibt. Wenn Rinke daher in einem Interview den Namen ›Ulrike Meinhof‹ ins Spiel bringt, tritt er damit unbewusst eine neue ›germanistische Phrase‹ los, die die (intertextuellen, habituellen etc.) Parallelen zwischen Ulrike Meinhof und Kriemhild im Text betont,53 gegen die er sich selbst jedoch wehrt.54 Dem spielt auch die Verwendung des Terms »Schweine« (analog zum angeprangerten ›Schweinesystem‹ und dem ›Bullenschwein‹) sowie das sozialrevolutionäre Gebaren Kriemhilds durchaus zu. Das heißt, Rinkes An-

50 Vgl. R. Barthes: Mythen das Alltags, S. 131f. 51 Podiumsdiskussion, S. 75. 52 Bönninghausen, Marion: »›… auf den Asphalt gestellt‹. Die Nibelungen von Moritz Rinke«, in: G. Bönnen/V. Gallé (Hg.), Die Nibelungen in der Moderne, S. 136-151, hier S. 138. 53 Vgl. etwa die Aussage John von Düffels, Rinkes Kriemhild erinnere an Ulrike Meinhof in: Schößler, Franziska: »Interview mit John von Düffel (25. März 2003 am Thalia Theater Hamburg)«, in: Dies.: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 315-324, hier S. 319. 54 »Wenn jetzt Kritiker schablonenhaft ›Meinhof‹ hören und dann schreiben, ich würde in Kriemhild nur Meinhof sehen, dann ist das verkürzt«. Podiumsdiskussion, S. 83.

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sinnen, den Mythos zu dekonstruieren, scheitert daran, dass der Autor selbst diskursiv verflochten ist, dass es zeitliche Koinzidenzen von Rinkes Stück und der Entdeckung Ulrike Meinhofs für das Theater gibt (bei Dea Loher55, John von Düffel56 und anderen), dass der weltgeschichtliche Diskurs immer noch unter dem Eindruck des 11. September 2001 steht und parallel der Prozess gegen den Attentäter Mohamad Atta geführt wird. So spielt Rinkes Bemühung, die Nationalsozialisten rechts liegen zu lassen, lediglich einer Neubesetzung dieser Deutungshoheit zu, die nun mit Parallelen zum bundesdeutschen und internationalen Terrorismus aufgefüllt wird. In dieser diskursiven Eingebundenheit kann Rinkes Mythendekonstruktion immer nur eine neue Arbeit am Mythos sein, die zwar den Kern freilegt und einen Teil des historischen Ballasts abwirft, sich aber schließlich nicht selbst enthistorisieren kann. So gilt für den Mythos in seiner je aktuellen Bearbeitung dasselbe, was Franz Wille für Rinkes Stücke allgemein festhält, sie seien »hinterhältige Spiegel für alle, die sich darin betrachten. Sie lächeln beim Lesen einladend wie schwerelose Feuilletons oder zufriedene Kühe und erweisen sich auf der Bühne als tückische Untiefen. Unterm plätschernden Gekräusel lauert das Riff.«57

55 Loher, Dea: Leviathan [UA Staatstheater Hannover 1993]. In: Dies.: Olgas Raum. Tätowierung. Leviathan. Drei Stücke, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1994, S. 145-229. 56 Düffel, John von: Rinderwahnsinn [UA Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin 1999], Gifkendorf: Merlin Verlag 1999. Ders.: Born in the R.A.F. [UA Osnabrück 2001], 2. Aufl., Gifkendorf: Merlin Verlag 2001. 57 F. Wille: Das Geheimnis der blauen Grotte, S. 57.

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D AS D RAMA NACH DEM D RAMA II: A KTUELLE S CHREIPOSITIONEN

»D E R S P R U N G I N D E R S C H E I B E , M I T D E M A L L E S B E G A N N .« W O R T -R EG I E -T H E A T E R . ROLAND SCHIMMELPFENNIGS HIER UND JETZT A L S P O L Y P H O N E Z E I T -R A U M -V AR I A T I O N STEFAN TIGGES

»theater ist raum-zeit ist kunst ist leben unterschiedliche aktionen – dinge beieinander jedes an seiner eigenen mitte koexistent dass alles sich durchdringt wie des eines behinderung des anderen verhindern vermeid die kontrolle beider wenn ohne not intention hereinspielt (kontrolle) laß die mittel die sie benutzt verschieden sein für jedes d.h. vermeid das gleiche noch einmal zu tun [..]« (John Cage1)

Roland Schimmelpfennig, geboren 1967 in Göttingen, gelernter Regisseur (Otto-Falkenberg Schule München) und Dramaturg (Münchner Kammerspiele, Schaubühne Berlin), ehemaliger Hausautor am Schauspielhaus Hamburg sowie Übersetzer und Hörspielautor arbeitet heute vor allem als Dramatiker und Regisseur. Zu seinem Theaterwerk gehören

1

Cage, John: »theater ist raum-zeit« (aus dem Amerikanischen von Alexander Schmitz), in: Martin Bergelt/Hortensia Völckers (Hg.), Zeit-Räume. Zeiträume – Raumzeiten – Zeitträume, München: Hanser 1991, S. 280.

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mittlerweile 28 Stücke wobei alleine zehn von Jürgen Gosch in der Ausstattung von Johannes Schütz (ur-)aufgeführt wurden.2 Im September 2009 inszenierte der Autor nach dem Tod von Jürgen Gosch Der Goldene Drache am Burgtheater Wien (Ausstattung: Johannes Schütz) und wurde mit dieser Arbeit 2010 sowohl zu den Mülheimer Theatertagen – hier erhielt er den Hauptpreis – als auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen.3 In der Laudatio für Jürgen Gosch und Johannes Schütz anlässlich der Verleihung des Theaterpreises Berlin der Stiftung Preußische Seehandlung am 3. Mai 2009 im Deutschen Theater – ihre letzte gemeinsame Arbeit Idomeneus hatte wenige Tage zuvor Premiere – zitiert Schimmelpfennig eine Leitvorstellung von Jürgen Gosch, um danach sein eigenes poetologisches Programm bzw. seine persönliche Theatervision zu skizzieren: »Alles ist spielbar, solange es im Text vorkommt«. Und schließlich im O-Ton, der erstaunlich klingt, da der Autor die Sprache unter choreographischen Gesichtspunkten betrachtet und sich für Fragen der »Steuerung von Raum und Zeit« (Gabriele Brandstetter) interessiert: »Man müsste in einem nächsten Schritt noch einmal versuchen, wirklich einmal auf Handlung weitgehend zu verzichten. […] Jetzt könnte man – ohne sich dabei zu verkrampfen – die Sprache fast vollkommen im Hintergrund lassen, es gäbe keine Erzählung, kein Epos, keine Zeitsprünge, wenig Handlung. Vielleicht gar keine. Stattdessen Bewegung. […] Ich stelle mir ein Stück vor, in dem sich alles die ganze Zeit nur um einen einzigen, sehr langen Moment dreht.«4 2

3

4

Push Up, Vor langer Zeit im Mai, Vorher/Nachher, Ambrosia. Ein Satyrspiel, Auf der Greifswalder Straße, Die Frau von früher, Das Reich der Tiere, Calypso, Hier und Jetzt, Idomeneus. Im Dezember 2010 inszenierte Roland Schimmelpfennig Peggy Picket sieht das Gesicht Gottes (Ausstattung: Johannes Schütz) im Akademietheater in Wien. Sein darauf folgendes Stück Wenn, dann: Was wir tun, wie und warum wurde von Christoph Mehler am 7. April 2011 am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt. Im Rahmen der Salzburger Festspiele 2011 und als Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin realisierte Roland Schimmelpfennig jüngst sein neuestes Stück Die vier Himmelsrichtungen (Ausstattung: Johannes Schütz). Vgl. Schimmelpfennig, Roland: »Laudatio«, in: Theater heute 6 (2009), S. 36-39. Vgl. auch »Begriffe in Bewegung. Wie können die Kunstwissenschaften den Künsten gerecht werden? Eine Podiumsdiskussion mit Gabriele Brandstetter, Gertrud Koch, Dieter Mersch und Joseph Vogel. Moderation: Markus Rautzenberg«, in: Erika Fischer-Lichte/Kristiane Hasselmann/Markus Rautzenberg (Hg.), Ausweitung der Kunstzone. Interart Stu-

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Schimmelpfennig unterstreicht in seiner Rede die Überforderung, Unverhältnismäßigkeit, Freiheit und wachsende Radikalität, die von den Arbeiten von Gosch und Schütz ausgehen und bilanziert für sich als Autor: »Gosch und Schütz suchen die gerade Linie in das Zentrum des Textes. […] Und im Zentrum des Stücks steht bei Gosch und Schütz der Mensch – der Mensch im Stück, also die Figur, und der Mensch auf der Bühne, der Schauspieler. […] Aber: Die gerade Linie, der kürzeste Weg ist nicht immer der einfachste. […] Das Theater von Gosch und Schütz ist schnörkellos, direkt, aber es nimmt sich in jedem Fall die Zeit, die der Text braucht. […] Regisseur und

dies. Neue Perspektiven der Kunstwissenschaften, Bielefeld: transcript 2010, S. 241-265, hier S. 252. Martin Bergelt, der den modernen Tanz als ein grundsätzlich offenes System begreift, nennt mit der Loslösung von einer linearen Handlung, der Diskontinuität der Figuren, der Simultaneität verschiedener Bewegungen, der Visualisierung von Strukturen und deren Zerfall, dem Spiel mit dem Zufall und dem Herstellen chaotischer Ordnungen Eigenschaften, die auch in der Zusammenarbeit von Gosch, Schütz und Schimmelpfennig eine elementare Rolle spielen. Bergelt kommt zu dem Schluss dass der »Kunstraum Bühne in den Konzeptionen avancierter Choreographie einem Laboratorium zur Erforschung theoretischer Zeit-RaumModelle« gleiche, »wobei der menschliche Körper gleichermaßen einen Bewegungsparameter wie auch die Dimension der Humanität« darstelle. Damit stellt sich die weiterzuverfolgende Frage – auch im Hinblick auf die prägende langjährige Zusammenarbeit von Johannes Schütz mit der Choreographin Reinhild Hoffmann – inwieweit sich Gosch, Schütz und Schimmelpfennig dramaturgisch Ästhetiken des avancierten Tanztheaters annähern bzw. diese für eine weiter zu entwickelnde körperlich geprägte Schreib- und Spielpraxis als Vorbild wahrnehmen. Jürgen Gosch betont dagegen in einem Gespräch mit Michael Eberth die Bedeutung von William Forsythe, dessen Ästhetik des körperlichen Erzählens – gemeint sind bereits die früheren Frankfurter Arbeiten – ihn nach eigenem Bekunden (nicht nur im Fall von Macbeth) prägte: »Und auf der Ebene des bewegten Spiels war der Einfluss, den William Forsythe auf die Entwicklung des deutschen Theaters hat. […] Was der mit den Körpern macht ist keine Ersatz-Erfindung von Theater. Es schafft auch keine Ersatz-Räume. Es ist eine vollständig neue Art des Erzählens, die eher mit Lucian Freud zu tun hat. Er setzt nur den Körper ein.« Vgl. Bergelt, Martin: »Zeit-Räume. Zur Einleitung«, in: M. Bergelt/H. Völckers (Hg.), Zeit-Räume, S. 7-18. Vgl. auch Eberth, Michael: »Die Kunst der Entfesselung. Vorläufig Letztes über den Regisseur Jürgen Gosch«, in: Theater der Zeit 9 (2009), S. 26f.

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Bühnenbildner begreifen den Text nicht als Material, sondern als eigenständigen, unangreifbaren Körper.«5

Ich möchte im Folgenden versuchen, auf einige inhaltliche und formale Aspekte im Werk von Schimmelpfennig hinzuweisen, wobei Hier und Jetzt besonders beleuchtet wird.6 Dabei interessiert die Frage wie der Autor seine Theatertexte dramatisch entschlackt, als Autor selbst mit seinen Worten/über seine Worte Regie führt, mit der Zeit und dem Raum spielt und dabei zunehmend szenisch experimentell denkt und schreibt, was – so die These – auch mit seinem Regiehintergrund und seinen Arbeitserfahrungen mit Jürgen Gosch und Johannes Schütz zusammenhängt.7 Daran anknüpfend soll punktuell danach gefragt werden, inwieweit Schimmelpfennig mit Hier und Jetzt motivisch und formal auf Stücke Anton Cechovs anspielt – wobei es grundsätzlich auch interessant ist, Roland Schimmelpfennigs Stücke auf den Einfluss William Shakespeares hin zu lesen.8 Damit lässt sich die weiterzuverfolgende Frage formulieren, in welcher Form sich seine Stücke im ästhetischen Spannungsbzw. Resonanzraum von Cechov und Shakespeare verhalten und Schimmelpfennig zwischen beiden Autoren »vermittelt«.9 In einem nächsten 5 6

7

8

9

Vgl. R. Schimmelpfennig: Laudatio. Schimmelpfennig, Roland: Hier und Jetzt, Regie: Jürgen Gosch, Bühne: Johannes Schütz, UA 25.4.2008, Schauspiel Zürich, Schiffbau, Halle 1. Es handelt sich hier um ein Auftragswerk von Roland Schimmelpfennig für die Schiffbauhalle bzw. für Jürgen Gosch ein Stück zu schreiben, der sich für diesen spezifischen Raum interessierte. Ein signifikantes Beispiel für die Einflüsse der zusammenspielenden Spielund Raumästhetiken von Gosch und Schütz auf die Schreibpraxis Schimmelpfennigs sind z.B. die stark reduzierten Ortsangaben, die der Autor seinem Stück Besuch bei dem Vater voranstellt, wobei er bewusst auf (räumliche) Ergänzungsenergien der Schauspieler und des Publikums setzt: »Die leere Bühne. Sieben Stühle. Vielleicht eine Sitzbank. Später ein Tisch. Ort: ein großes Landhaus. Zeit: heute, im Winter.« Vgl. Schimmelpfennig, Roland: Trilogie der Tiere: Stücke, Frankfurt a.M.: Fischer 2007, S. 8. Schimmelpfennig antwortet in einem Gespräch mit Uwe B. Carstensen und Friederike Emmerling auf die Frage, ob es Autoren oder Dramatiker gäbe, die ihn beeinflusst haben, unmissverständlich: »Shakespeare, wie könnte es anders sein«. Vgl. ebd., S. 229-243, hier S. 241. Neben formalen Gesichtspunkten wie der Dialogtechnik, Episierungsstrategien, dem Einsatz von Liedern/Instrumenten oder Aspekten, die das Verhältnis von Mensch/Geist und Natur betreffen, sind speziell Vergleiche interessant, die das Theater im Theater/Meta-Theater sowie Verwandlungsformen (z.B. in Das Reich der Tiere) beleuchten.

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Schritt lässt sich auch danach fragen, inwieweit die von Gosch und Schütz realisierten Cechov- und Shakespeare Arbeiten den Autor in seinen Schreibprozessen ästhetisch geprägt haben.10 Die wechselseitige künstlerische Befruchtung scheint Jürgen Gosch und Johannes Schütz bewusst gewesen zu sein, die kontinuierlich Stücke beider Autoren inszenierten und dabei zugleich ihren Dialog mit Roland Schimmelpfennig intensivierten.11 Damit ist womöglich einer der zentralen Gründe genannt, warum Gosch und Schütz sich immer wieder für die Texte von Schimmelpfennig interessierten.12 Es geht also grundsätzlich um das Verhältnis von Autor und Regie, d.h. um die Bühnennähe bzw. Bühnenprägung des Autors und um ästhetische Alternativen gegenüber postdramatischen Theatertexten.

10 In den mir vorliegenden aufgezeichneten mehrstündigen Gesprächen, die Jürgen Gosch, Johannes Schütz und Roland Schimmelpfennig im Januar und Februar 2009 führten, wird u.a. deutlich, dass der Autor über Jahre deren ästhetische Entwicklungsschritte verfolgte. 11 So z.B. Die Möwe (Schauspielhaus Bochum, 1991 u. Deutsches Theater Berlin in Koproduktion mit der Volksbühne, 2008), Der Kirschgarten (Schauspielhaus Zürich, 2005), 3 Schwestern (Schauspielhaus Hannover, 2005), Onkel Wanja (Deutsches Theater Berlin, 2008) und Wie es euch gefällt (Schauspielhaus Hamburg, 2003, Schauspielhaus Hannover, 2007), Hamlet (Schauspielhaus Düsseldorf, 2001), Macbeth (Schauspielhaus Düsseldorf, 2005), Was ihr wollt (Schauspielhaus Düsseldorf, 2007), Sommernachtstraum (Deutsches Theater Berlin, 2007). Es fällt auf, dass sich Gosch und Schütz im Kontext der Gegenwartsdramatik auf Schimmelpfennig konzentrierten und im Vergleich dazu (lediglich) zwei Werke von Peter Handke (Die Stunde da wir nichts von einander wussten, Schauspielhaus Bochum, 1993; Zurüstungen für die Unsterblichkeit, Deutsches Theater Berlin, 1997), ein Stück von Jean Eustache (La maman et la putain, Schauspielhaus Bochum, 1994), drei Werke von Jasmin Reza (Ein spanisches Stück, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 2005, Der Gott des Gemetzels, Schauspielhaus Zürich, 2006, Im Schlitten Artur Schopenhauers, Deutsches Theater Berlin, 2006) bzw. 2 Stücke von Jon Fosse (Der Name; Da kommt noch wer, Schauspielhaus Düsseldorf, 2000 u. 2001) inszenierten. 12 Dass sich die Arbeitsbeziehung zuletzt intensivierte, zeigt sich auch darin, dass Schimmelpfennig im Rahmen der von Gosch geplanten, jedoch nicht mehr realisierten Arbeiten im Vorfeld dramaturgisch mitarbeitete und für die Spielfassung von Die Bakchen von Euripides (Salzburger Festspiele, 2009) sowie für die Romanadaption von Krieg und Frieden von Tolstoj (Burgtheater Wien, 2009, letztlich von Mathias Hartmann in neuer/eigener Fassung in der Ausstattung von Johannes Schütz inszeniert) verantwortlich war.

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Unterstreicht Schimmelpfennig, dass Gosch seinen Texten die »Zeit gebe, die sie brauchen« und die Texte von ihm als »eigenständige, unangreifbare Körper« aufgefasst werden, so stellt sich die Frage, wie die Texte und szenischen Realisierungen in der gegenwärtigen Theaterlandschaft als Schreib- und Aufführungspraxis ästhetisch zu verorten sind.13 Dass Schimmelpfennig als Autor seine Theatertexte dramatisch abbaut – jedoch grundsätzlich an der Kategorie des Dramatischen festhält – und mit einer Vielfalt von nicht- oder anders dramatischen Narrationsformen operiert, ist ebenso signifikant wie die Tatsache, dass Gosch und Schütz in ihrer langjährigen Zusammenarbeit, in die Schimmelpfennig immer mehr hineinwuchs, nach neuen illusionslosen/illusionsfreieren Spielformen suchten, die vor allem durch die »Abwesenheit dramatischer Äußerungen«14 geprägt sind, dem Zuschauer nichts »vormachen«15, es programmatisch vermeiden, »Realitäten« im bespielten bzw. mitspielenden Bühnen-, d.h. Kunstraum »zu installieren«16 – und mit ihren Arbeiten ästhetisch nur bedingt unter der Kategorie des ›postdramatischen Theaters‹ zu verorten sind. Konkret auf die neuesten Theatertexte von Schimmelpfennig bezogen stellt sich die Frage, in welcher Form sich bereits vor der szenischen Realisierung die abwesenden dramatischen Äußerungen bemerkbar machen bzw. wie die nicht-dramatischen Leer- und Zwischenräume vom Autor aufgefüllt werden, wie die Sprache auf der Bühne Wirklichkeit (mit-)konstituiert, mit der Zeit und dem Raum zusammenarbeitet und die Inszenierungen im Sinne von Theresia Birkenhauer schließlich als Ergebnisse einer »fortgesetzten Praxis des Schreibens und Lesens« zu verstehen sind.17 Anders gefragt: Trägt Schimmelpfennig zu einer ›Rückkehr‹ von ›größeren Textformaten‹ im ›heutigen Erzähltheater‹ bei, das sich keineswegs so radikal von dem Modell des Dramatischen ablöst wie es auf

13 Vgl. R. Schimmelpfennig, Laudatio. 14 Vgl. Gosch, Jürgen: »Beckett auf dem Abstellgleis. Der Regisseur Jürgen Gosch über Natürlichkeit, Scham und den Sauerstoff des Textes«, in: Theater der Zeit 5 (2006), S. 21-26. 15 Vgl. R. Schimmelpfennig: Laudatio. 16 Vgl. Schütz, Johannes: »›Gute Bühnen sind oft leer.‹ Siegfried Gohr im Gespräch mit Johannes Schütz«, in: Ders.: Bühnen/Stages 2000-2008, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst 2008, S. 6-25. 17 Vgl. Birkenhauer, Theresia: Schauplatz der Sprache – das Theater als Ort der Literatur. Maeterlinck, Cechov, Genet, Beckett, Müller, Berlin: Vorwerk 8 2004, S. 127.

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den ersten Blick erscheint und sich damit vielmehr ästhetisch neu konfiguriert? Lässt sich überhaupt noch von ›großen Dramen‹ bzw. ›großen Theatertexten‹ – sprechen, wenn das »deutsche Drama heute tatsächlich keine Rolle mehr spielt« und, so der Theaterkritiker Peter Michalzik weiter, vom Theater selbst immer wieder »marginalisiert« wird?18 Ich möchte die Frage zunächst im Raum stehen lassen, jedoch die These aufstellen, dass im Fall der Zusammenarbeit von Gosch, Schütz und Schimmelpfennig das Theater genau das Gegenteil tut und das Drama bzw. den nicht- oder anders dramatischen Theatertext aufwertet, diesen aus dramaturgischen wie szenischen Konventionen befreit und dabei ein spielerisches »Erzähltheater« anstrebt, das als Zeit-Raum-Kunst seine Möglichkeiten und Erzählstrategien kunstvoll durchspielt und seine spielerischen (Verwandlungs-)Grenzen immer vehementer ausweitet.19 18 Vgl. Michalzik, Peter: »Dramen für ein Theater ohne Drama«, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld: transcript 2008, S. 31-42, hier S. 31. Michalzik reflektiert hier auch ästhetische Momente in Schimmelpfennigs Werk und kommt im Kontext des Realismus-Diskurses und der für ihn signifikanten »geschlossenen Oberfläche« u.a. zu dem interessanten Ergebnis, dass der Autor avancierte Fragen der Sichtbarkeit anstößt und eine neue Diskussion zwischen Fläche und Raum motiviert, die, – so eine noch weiter zu überprüfende Beobachtung – auch im Zentrum des Interesses von Jürgen Gosch und Johannes Schütz standen. Vgl. dazu auch: Thiele, Rita: »Zuschauen, wie die Zeit vergeht. Die Bühnenräume von Johannes Schütz«, in: S. Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen, S. 263- 272. 19 Schimmelpfennig diagnostiziert bereits für sein Stück Die arabische Nacht (2000) einen neuen befreienden »erzählerischen« Ansatz – der auch in Hier und Jetzt u.a. als Variation in Form der komponierten Zeit-Raum-Sprünge spürbar ist – und formuliert: »Im Sinne eines narrativen Theaters war es mit einem Mal möglich, dass ich nicht mehr darüber nachdenken musste, wie all die Szenen in der Wüste, in der Flasche und so weiter möglich sein könnten. Ich verabschiedete mich von einem Theater der ›Illusion‹ und fand eine Lösung, eine uralte Spielweise, die den Zuschauer mitnimmt, an die Hand nimmt. Das bedeutete: Erzählung. Theater ist eine direkte Kunstform. Theater ist eine Kunst, die sich bei ihrer Herstellung durch Schauspieler zusehen lässt. Spielen und Geschichte gehören untrennbar zusammen. Etwas Schöneres gibt es für mich nicht – solange das Theater nicht anfängt, mir etwas vorzumachen.« Vgl. Schimmelpfennig, Roland: Narratives Theater, in: Bernd Stegemann (Hg.), Lektionen 1. Dramaturgie, Berlin: Theater der Zeit 2009, S. 315-317.

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Das im Titel angesprochene »Wort-Regie-Theater« meint hier keine (neue) Form eines Regietheaters, das den Text bzw. die zusammenarbeitenden Wörter letztlich in einer fixen bzw. zu fixierenden (Regie-)Lesart zementiert – ich halte den Begriff des Regietheaters, dem prinzipiell ein Moment der Dekonstruktion innewohnt, sowohl im Falle von Gosch/ Schütz als auch für das Gros der gegenwärtigen Aufführungspraxis aufgrund seiner ästhetischen sowie terminologischen Ermüdung für zunehmend unpassend – sondern vielmehr die schon vom Autor im Text entfachte Regie, der eine Dramaturgie zugrunde liegt, die sich weniger autoreflexiv als szenisch reflexiv verhält und im Idealfall ihr ästhetisches Potential voll entfaltet, wenn die Zusammensetzung (Autor-SchauspielerRegie-Ausstattung) stimmt.20 Schimmelpfennig unterstreicht entsprechend, wie er als Autor gefordert ist, wenn Gosch »jedes Satzzeichen« inszeniert und meint keineswegs eine eindimensionale szenische »Ab-Schrift« (H.-Th. Lehmann).21 Die von Schütz motivierte Raumfrage bzw. Raumästhetik, der Szenograph vermeidet prinzipiell Räume, die die Spielvorlage illustrieren oder interpretieren, fordert Schimmelpfennig als Autor immer wieder neu heraus: »Diese Räume haben manchmal in ihrer großen Kraft etwas von allgemeingültigen, weit übertragbaren Grundsatzerklärungen zum Verhältnis von Mensch und Sprache zum Raum und zur Zeit.«22 20 Dass sich im Fall der Arbeiten von Jürgen Gosch Bezugnahmen auf das Regietheater als problematisch erweisen und in der Rezeption fälschlicher Weise wiederholt (zumeist im negativen Sinne) von ›Regietheater‹ die Rede ist, habe ich an anderer Stelle am Beispiel von Macbeth versucht zu verdeutlichen. Vgl. Tigges, Stefan: »Die Haut als Bühne – der Körper als Aktionsraum: Jürgen Gosch und Johannes Schütz sezieren Macbeth«, in: Friedemann Kreuder/Michael Bachmann (Hg.), Politik mit dem Körper. Performative Praktiken in Theater, Medien und Alltagskultur seit 1968, Bielefeld: transcript 2009, S. 251-269. Zur Bedeutung und Funktion des zeitgenössischen Regietheaters vgl. auch: Gutjahr, Ortrud (Hg.): Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. 21 Vgl. R. Schimmelpfennig: Laudatio. Vgl. auch: Lehmann, Hans-Thies: Das postdramatische Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 46. 22 Vgl. R. Schimmelpfennig: Laudatio. Dass Schimmelpfennig bereits mit seinen Titeln ›Zeit-Räume‹ assoziativ aufruft, zeigt sich z.B. in Die ewige Maria, Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid, Vor langer Zeit im Mai, Die arabische Nacht, Vorher/Nachher, Die Frau von früher, Auf der Greifswalder Straße.

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I m S p r ac hl a b o r : H i e r u n d J e t z t »Alles ist spielbar solange es im Text vorkommt« – Treibt Schimmelpfennig seinem Text das dramatische Spielpotential aus, damit sich das Spiel jenseits der Illusion in der Wirklichkeitslücke bzw. im nichtdramatischen Zwischenraum oder im Vorraum der Wirklichkeit neu realisiert? Ist es die Wirklichkeit, die in die Fiktion bzw. in das Drama einbricht und sich dort einnistet oder ist es die Wirklichkeit, die aus dem Text ausbricht? Es scheint mir, dass der Autor in Hier und Jetzt, d.h. im unmittelbaren Gegenwartsraum versucht, über den Text/die Sprache möglichst viel Wirklichkeit zu produzieren als auch zu komprimieren, womit der Illusionsgrad dramatisch fällt, sich die Fiktionspartikel undramatisch ablagern, diese hintergründig, z.T. geheimnisvoll vom Autor archiviert werden, bis diese spielerisch assoziativ wieder aufgerufen werden, um sich in verschiedenen, widersprüchlichen Variationen in Zeit und Raum zu verwirklichen. Zentral ist hier, dass für Schimmelpfennig Spielen und Geschichte untrennbar zusammengehören und bereits im Prozess des Lesens ein hoher Grad an szenischen »Ergänzungsenergien« (Schütz) erforderlich ist, den Gosch und Schütz ebenso von den Schauspielern wie vom Publikum einfordern. Dabei geht es weniger um ein (vorschnelles) Anstiften von Imaginations-, Assoziationsräumen oder Interpretationsansätzen als darum, kollektiv Wirklichkeit(en) zu produzieren, damit sich Text und Aufführung zeit-raum-gebunden ästhetisch verorten und die miteinander spielenden zeitlichen und räumlichen Strukturen spielerisch herausgearbeitet werden. In Hier und Jetzt versammelt der Autor eine elfköpfige Hochzeitsgesellschaft an einem langen Tisch, der unter »freiem Himmel« steht. Es wird viel gegessen, noch mehr getrunken und – so der dramaturgische Kunstgriff – die Vorgeschichte und Zukunft des Hochzeitspaares gleich miterzählt/durchgespielt, wobei Schimmelpfennig die Handlung ausdünnt, ein Spiel mit Absenzen motiviert, konventionelle Dialogmuster abbaut, die Sprache handeln lässt und die Gegenwart unendlich dehnt bis sie so rein ist, dass sich in ihr das »Vorher/Nachher« jeweils bricht, auslöscht, d.h. vergegenwärtigt.23 23 Schimmelpfennig platzierte bereits in Ambrosia. Ein Sytyrspiel, das u.a. von Jürgen Gosch 2006 am Deutschen Theater Berlin inszeniert wurde, seine Figuren an einem Tisch, an dem sie während einer langen Kneipennacht bei viel Alkohol das Leben philosophisch vermessen und sich dabei

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Im Zentrum stehen Katja und Georg, die gerade, eben, vor einiger oder vor ewig langer Zeit geheiratet haben und nun mit ihren Gästen an einem späten aber noch warmen Sommerabend zusammenkommen. Zu den Gästen gehört auch Martin, den Katja vor oder nach ihrer Heirat in einem Elektrofachmarkt kennen gelernt hat, mit ihm eine Beziehung eingegangen ist, ihren (zukünftigen) Ehemann darauf verlassen hat/wird, dann Martin wieder verlässt um Georg möglicherweise zurückzuerobern, der wie eine tragische, aus einem modernen Märchen entwichene Gestalt »mit nackten schwarzen Füßen und roten, blutunterlaufenden aufgerissenen Augen durch das Unterholz irrt und vor rasendem glühenden Schmerz aufschreit«, womit Schimmelpfennig z.T. motivisch an sein Stück Aus den Städten in die Wälder, aus den Wäldern in die Städte (1998) anknüpft. Katja, »allein, zerrissen, vielleicht schwanger, wer weiß!, vielleicht«, so eine Text-Variation, wird »die Stadt verlassen und verwirrt, irre, Zuflucht suchen auf der kargen Spitze eines Berges«. Das »Vielleicht«, das nur eine erzählerische Option andeutet, wird hier be-

trotz oder gerade wegen wiederholter Filmrisse und unerwarteter Wendungen unterschiedliche komisch-tragische Erzählfäden in divergierenden Zeit-Räumen entfalten. In Calypso (UA von Jürgen Gosch am Schauspielhaus Hamburg, 27.02.2008) versammelt Schimmelpfennig dagegen sechs nach einem Bootsuntergang gestrandete Figuren eine Nacht lang auf einem Steg, auf dem wieder ausgiebig Alkohol getrunken und die Zeit als ein langer Augenblick gedehnt wird, wobei die Vorgeschichten, d.h. die ›Vorleben‹ der zunehmend berauschten Figuren folgenreich in den unmittelbaren Augenblick, d.h. die reine Gegenwart ausströmen. Gemeinsam ist den drei Stücken, die sich jeweils als »Bestandsaufnahmen der Gesellschaft« (Roland Schimmelpfennig) lesen lassen, u.a. die auffällige Handlungsreduktion, die auf Shakespeare verweisenden Lieder (z.B. »Das Lied von der roten Eule« in Ambrosia), die avancierten zeitdramaturgischen, fragmentarischen bzw. sprunghaften Erzählstrategien (Aufhebung der Linearität, Verschwimmen der Grenzen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft sowie von Einbildung, Traum und Realität), die im Text verwebten verschiedenen romantischen Motive (Nacht, Rausch, Liebe, Sehnsucht/Leidenschaft, Einsamkeit, Tod etc.), die spezifischen Komik-TragikKonstellationen als auch die wiederholten Einbindungen mythologischer Motive, die die Texte strukturell mitprägen und aufgrund ihrer Komplexität eine eigene Untersuchung wert sind. Vgl. dazu auch: Thomsen, Henrike: »Das romantische Kaninchen. Was der Dramatiker Roland Schimmelpfennig mit dem Mythos und mit Botho Strauss verbindet«, in: Roland Koberg/ Bernd Stegemann/Henrike Thomsen (Hg.), Autoren am Deutschen Theater, Berlin: Henschel 2006, S. 33-41.

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wusst nicht (weiter-)erzählt und verbleibt wie ein Splitter als »Geschichte hinter der Geschichte« – wie auch zuletzt in Idomeneus.24 Eigentlich ist/könnte auch alles ganz anders sein – wer weiß!25 24 In Idomeneus, das nochmals Schimmelpfennigs Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Mythos unterstreicht, verdichtet der Autor sein spielerisches Prinzip der erzählerisch offen gehaltenen Polyphonie, indem er sein wiederholt chorisch agierendes (Figuren-)Kollektiv, deren Mitglieder sich immer wieder daraus lösen bzw. in neuen Sprecher-Konstellationen auftreten, widersprüchliche und miteinander konkurrierende Erzähloptionen bzw. Handlungsalternativen anbieten lässt. So äußern die namenlosen Figuren bzw. SprecherInnen – in den dem Stück vorangestellten Bemerkungen heißt es schlicht: „Eine Gruppe von etwa zehn bis vierzehn Männern und Frauen. Es können auch mehr oder weniger sein.“ – unmittelbar nacheinander: »So war es nicht.« »So ist es nicht gewesen.« »Es ist so gewesen« und schreiben mit ihren persönlichen Perspektiven auf ihre/die hinterfragte Geschichte, die sich unmittelbar während des Aussprechens zu konstituieren scheint, die Erzählung immer wieder um. Vgl. Schimmelpfennig, Roland: Idomeneus. Unveröffentlichte Endfassung Deutsches Theater Berlin 2009, S. 22. 25 Gegen Ende des Stückes entwirft Katja eine alternative Bilderfolge ihrer Hochzeitszeremonie: »›Ich hatte mir das so ganz anders vorgestellt. Ganz anders.‹ Kurze Pause. ›Ich hatte gedacht, da kommt eine Kutsche. Morgens.« Kurze Pause. ›Ganz früh morgens kommt eine Frau, die mir beim Ankleiden hilft, und mir die Haare macht, also die mich frisiert. Und dann kommt die Kutsche.‹ Kurze Pause. ›Und die Kutsche bringt mich zur Kirche, da wartest Du schon, Du bist auch mit einer Kutsche gekommen, aber natürlich von irgendwo anders, und außerdem hast du ja in der Nacht zuvor unglaublich einen drauf gemacht, und deine Freunde haben mit dir sonst was veranstaltet, das will ich gar nicht wissen, und ich sage, das kann doch nicht sein, dass du völlig betrunken zu deiner eigenen Hochzeit kommst, du bist ja noch völlig betrunken. Nein, nein sagst du mir, mir geht es gut, ich bin nicht betrunken, überhaupt nicht, was denkst du denn, und außerdem: Du siehst toll aus. Sagst du. Toll. Tolles Kleid. Ein weißes, schulterfreies Kleid.‹ Kurze Pause. ›Mit Schleier. Und dann gehen wir in die Kirche, vor uns laufen die kleinen Blumenmädchen, in besonderen Kleidern, alle aus demselben Stoff. Rosenblüten auf dem Fußboden. Die Kirche ist bis auf den letzten Platz gefüllt, alle sind gekommen, alle, die halbe Stadt ist da, und die Frauen tragen Hüte. Feierliche Musik. Und anschließend nach der Trauung ein riesiges Buffet. Wir müssen einen ganzen Saal mieten, damit alle Platz haben. In der Mitte des Saales, oder in der Mitte der Halle ein schimmernder Brunnen, in dem silberne Fische schwimmen. Wir brauchen ja eine ganze Halle, bei all den Gästen. In der Halle: frei umher laufende Pfauen und Fasane. Eine lange, lange Tafel, an der alle Gäste sitzen, und

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Die Bilanz des gehörnten Ehemanns am Ende des Stückes, der zwischenzeitlich Regenwürmer isst, mit seinem Horn Schneckenhäuser aufbricht, um diese dann auszusaugen oder kläglich versucht seinem Horn Töne, d.h. Schmerzensschreie zu entlocken, verrät dementsprechend auch nicht, ob er sein persönliches Drama tatsächlich gelebt hat, er erst davor steht oder sich dieses nie ereignen wird womit er zwischen die Zeiten fällt, in einem sich aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammensetzenden Zeitfluss schwimmt26 aber zugleich auch wie auf einer auftauchenden Zeitinsel konkret im Hier und Jetzt verankert ist: »Warum es nicht geklappt hat. Was ich nicht wusste, und was ich jetzt weiß. Was ich früher hätte wissen müssen. Was ich besser nie gewusst hätte. Was ich nicht weiß. Was ich nie erfahren werde. Was ich nie begriffen habe, und was ich nie begreifen werde.«27

auf der kostbar gedeckten Tafel springen Kaninchen in Livreen herum. Die Kaninchen tragen Livreen und schenken den Champagner aus. Es gibt nur Wasser und Champagner. Tausende von Kerzen. Und das Essen – da laufen Ponys herum, oder kleine weiße Esel, die tragen auf dem Rücken silberne Tabletts, auf denen die herrlichsten Speisen liegen, Austern, und Langusten, Fasane und Wachteln, Krebse und Muscheln. Es regnet Sterne. Feuerwerk.‹« Vgl. Schimmelpfennig, Roland, Hier und Jetzt. Unveröffentlichte Fassung vom 17.3.2008, Schauspielhaus Zürich, S. 102f. (= im Folgenden: H). 26 Damit attackiert der Autor das kausale und relationale Zusammenspiel der Zeitmodalitäten der Erinnerung, des Erlebens sowie der Erwartung und hebt das von Erhard Oeser im Folgenden beschriebene (subjektive) Zeitgefühl auf, indem er diskursive zeitliche ZwischenRäume im Text komponiert und somit gleichermaßen Schauspieler und Publikum zu einer Arbeit an den ZeitRäumen, der RaumZeit bzw. zu deren Co-Produktion motiviert: »Was in der Vergangenheit geschehen ist, steht für immer fest, während die Zukunft noch offen ist. Zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt als Schnittpunkt die Gegenwart, in der wir auf Grund vergangener Erinnerungen aktiv handeln und auf diese Weise Zukunft gestalten.« Vgl. Oeser, Erhard: »Zeitpfeil und Zeithorizonte«, in: M. Bergelt/H. Völckers (Hg.), ZeitRäume, S. 151-190, hier S. 151. 27 Kurz danach fährt Georg fort: »›Das Hier und Jetzt.‹ Pause. Ein neuer Gedankenschritt. ›Das Jetzt oder nie.‹ Pause. ›Früher; bald.‹ Pause. ›Das kommt davon. Ja, ja! Das Nie mehr.‹ Kurze Pause. Erklärungen, Alternativen. ›Leider nicht. Vielleicht doch.‹ Pause. Er verzieht das Gesicht. ›Zu spät, zu früh. So viel lässt sich im Moment – vage – festmachen: Jetzt nicht.‹ Längere Pause. Es fällt ihm nichts mehr ein. ›Also – das wars dann.

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Der Sommerabend gerät zu einem unendlichen Moment, der sich gleich über vier Jahreszeiten ausdehnt, d.h. Schimmelpfennig lässt seine zunehmend vom Alkohol und von ihren Erlebnissen bzw. Vorstellungen berauschten Figuren, die unweit eines Sees tafeln, immer wieder singen, musizieren, schweigen, sinnieren, zumeist aneinander vorbeireden bzw. nicht zu Ende sprechen oder Dinge erst gar nicht aussprechen können – der Autor erinnert hier wie auch in anderen Stücken, d.h. mit seinen gestörten Kommunikationsprozessen sowie dem »endlosen (Nicht-)Enden« atmosphärisch und formal wiederholt an späte Stücke Cechovs28 als auch an die Theaterästhetik Becketts – erst gar nicht abgehen und zwingt sie so zu einer permanenten Tisch-Präsenz in unterschiedlichen individuell als auch kollektiv wahrgenommenen (zerrissenen) Zeit-Räumen im Hier und Jetzt.29

Vielen Dank, dass ihr da wart, vielen Dank fürs Kommen. Das wars.‹ Kurze Pause. ›Danke. Gehen wir. Lichter aus. Ende.‹« Vgl. H: 105-107. 28 Neben der für Cechov spezifischen Natur- und Jahreszeitensymbolik, dem Motiv der Vergänglichkeit, der verfehlten oder unmöglichen glücklichen (Liebes-)Beziehungen und den eingebauten Störungen sowie Pausen, die die Gegenwart in die ›weißen Flecken‹ einbrechen bzw. das Drama befreit ›atmen‹ lassen, spielt Schimmelpfennig in Hier und Jetzt mit dem SeeVerweis (»Peter: Schafgarbe und Mohn, Klee und Kornblumen, alles verblüht Gräser, Halme, vom Wind zerdrückt, am Rande eines kleinen Sees etwas Schilf«) möglicherweise unmittelbar auf die Möwe an. Stellt Ilse in Hier und Jetzt fest, dass Georg Blut hustet, mag dies auch ein Verweis auf Cechov selbst sein, der schon als junger Mann an einer unheilbaren Tuberkulose-Krankheit litt. Vgl. H: 9, 12, 31. Vgl. auch Tigges, Stefan: Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung, Bielefeld: transcript 2010. Einen interessanten Aspekt stellt auch die Bedeutung und Funktion der Lieder bzw. der musizierenden Figuren dar, die bei Schimmelpfennig grundsätzlich und auch in Hier und Jetzt als auch in Stücken Cechovs und speziell Shakespeares eine wichtige Rolle spielen und dementsprechend auch in der zunehmend musikalisch ausdifferenzierten Spielästhetik von Jürgen Gosch zum Tragen kommt. Hier wäre nach möglichen ästhetischen Wechselwirkungen bzw. Einflüssen zwischen Schimmelpfennig, Cechov, Shakespeare und Gosch zu suchen und danach zu fragen welche Funktionen (Kommentar-, Spiegelungs-, Wirklichkeits-, Atmosphäreerzeugung) in den Spielvorlagen und szenischen Realisierungen auf inner- und außerdramatischer Ebene von den Liedern ausgehen und wie sich die erzeugte Musikalität ästhetisch genau äußert. 29 Jürgen Gosch verzichtet wiederum (auch) in seinen Cechov-Inszenierungen Die Möwe und Onkel Wanja – wie auch in Hier und Jetzt – so gut wie auf

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Die Metamorphosen der Natur (Dunst, Nebel, Regen, Schneefall, Sonnenschein)30 sowie die wechselnde (fabelhafte) Tierwelt werden von alle Auf- und Abgänge und potenziert damit entscheidend die Präsenz des Ensembles, das er (un-)dramatisch in ein Drama der Wahrnehmung(en) verstrickt. Schimmelpfennig spielt als Autor selbst mit den Mitteln der Theatermittel-Transparenz sowie der Totalpräsenz seiner verwandlungsfreudigen Figuren – wie zuletzt auch in eigener Regie von Der goldene Drache (Burgtheater 2009) – womit eine konsequente »Suche nach den richtigen Abkürzungen« (Schimmelpfennig) sowie möglichst radikale szenische Vereinfachungen intendiert werden, die schon von Gosch und Schütz fokussiert wurden. Vgl. »›Eine aufregende Zeit, um für das Theater zu schreiben.‹ Roland Schimmelpfennig im Gespräch mit Franz Wille«, in: Theater heute. Jahrbuch 2010, S. 114-121. 30 Johannes Schütz setzt sich in seinem für die großräumige Schiffbauhalle konzipierten (Raumbühnen-)Modell (in der ästhetischen Tradition von Hellerau) mit dem Innen- und Außenraum auseinander und arbeitet mit dem aus den großen Fenstern strömenden natürlichen Licht, das im Verlauf der Aufführung bzw. bei Anbruch der Dämmerung mit künstlicher Beleuchtung behutsam ergänzt wird. Der sehr konkret anmutende Bühnenraum, – der sich mit Appia auch als wirklicher Raum bezeichnen lässt – der prinzipiell auch unter freiem Himmel vorstellbar wäre, besticht durch seine ausgewogene Verhältnissetzung von Natur- und Kunstraum. Einerseits ist die Halle (auch aufgrund akustischer Probleme bzw. der Halleffekte) mit 60 Tonnen Erde aufgefüllt, aus der einzelne Grashalme sprießen, wobei die 200 Zuschauer auf einer Stufentribühne auf mit Erde bedeckten ansteigenden Stufen sitzen und auf eine Bodenplatte mit verputzter Rückwand blicken, auf der eine lange Tischreihe sowie Stühle platziert sind und als zentrale Spielstätte fungiert. Die Witterungsverhältnisse und Jahreszeiten werden von den Schauspielern spielerisch mit einfachsten Mitteln hergestellt bzw. gespielt, womit das Theater (im Sinne Appias) als ästhetischer Vorgang (Brandstetter/Wiens) markiert wird und ein hoher Grad an Künstlichkeit entsteht, der natürlich mit dem Umfeld harmoniert und kommuniziert. So kommt z.B. der Regen aus einem Gartenschlauch, den eine Schauspielerin über ihre Mitspieler hält. Während sich der Herbst durch verwelkte Blätter äußert, die eine Schauspielerin aus ihrer Hand gleiten lässt, werden für den Winter vom Ensemble Plastikkörbe ausgeschüttelt, aus denen Federn auf den reich gedeckten Tisch fallen, der immer mehr von der ausartenden Feier (Speisen- und Getränkereste) gezeichnet, d.h. verwüstet ist. Dabei gelingt es der Ausstattung im Zusammenspiel mit den Schauspielern die von Schimmelpfennig vorgegeben komplexen Zeitstrukturen ästhetisch umzusetzen, indem die verschieden Zeiträume in ein verdichtetes Verhältnis gesetzt werden, d.h. einerseits der sich extrem ausdehnende Augenblick (das vom Autor programmatisch vorgegebene ›Hier und Jetzt‹) fokussiert

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Schimmelpfennig über die bzw. mit der Sprache durch die Zeiten sinnlich in den Raum transportiert, in dem sich die Bilder von der Sprache lösen, tönen, den Raum aufladen und dieser eine poetische-musikalische Struktur erfährt. Schimmelpfennig ruft die Natur in Form von wilden Wiesen, Weizenfeldern, Scharfgarbe, Mohn, Gräsern, Schilf sowie der Apfel- und Kirschblüte in den Raum, versammelt ein ganzes Tierreich – Vögel, Wespen, Schmetterlinge, Bienen, Hasen, Schnecken, Käfer, Mäuse, Stechmücken, Regenwürmer, Krebse, Muscheln – und verwickelt bzw. verwebt diese z.T. auch in Fabeln, indem er Figuren vergrößert: »das ist das Lied von der Mücke die mit der Straßenbahn fuhr und dachte, sie sei der Schöpfung auf den Grund gekommen«, so die Figur Ilse.31 Ihr Mann, der wiederholt von vier Däninnen, »nicht älter als zwanzig«, am Strand von Marielyst träumt, ruft noch eine andere doppelbödige Tierparabel auf: »Eine Ameise. Eine Ameise trägt das Vierzigfache ihres eigenen Gewichts, die Ameise ist das stärkste Tier der Welt, und sie trägt schwer, kein Tier auf dem ganzen Erdball kann so schwer tragen wie die Ameise tragen kann, nicht einmal der Elefant«32 und spiegelt zugleich wird und andererseits die Zeitfenster (Jahreszeiten; Vor- und Nachgeschichte) geöffnet werden, – sich mit Bernhard Waldenfels gesprochen die »Spuren der Zeit« im Raum ab-/überlagern bzw. »sich die Zeit verkörpert, indem sie in den Raum hinabsteigt« – und in den anhaltenden Momentaufnahmen ästhetisch implodieren. Vgl. Brandstetter, Gabriele/Wiens, Birgit: »Ohne Fluchtpunkt: Szenische ›Module‹ und der Tanz der Teile. Anmerkungen zu Szenographie und Choreographie nach Appia«, in: Dies. (Hg.), Theater ohne Fluchtpunkt. Das Erbe Adolphe Appias: Szenographie und Choreographie im zeitgenössischen Theater, Berlin: Alexander Verlag 2010, S. 7-36. Vgl. auch Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt .a.M.: Suhrkamp 2009, S. 95-126; hier S. 103. 31 Vgl. H: 34. 32 Vgl. H:. 10f. bzw. 32f. In Der Goldene Drache bezieht sich Schimmelpfennig unmittelbar auf Jean de la Fontaines Die Grille und die Ameise indem er die Sozialparabel (episch) verfremdet und darin das Schicksal einer jungen asiatischen Migrantin, die von einem Lebensmittelhändler sexuell ausgebeutet wird, spiegelt. In der Trilogie der Tiere kulminieren dem Titel entsprechend die Tierverweise – Schimmelpfennig arbeitet hier wiederholt mit zitierten Passagen aus Brehms Tierleben – indem Schimmelpfennig u.a. im dritten Teil Ende und Anfang sowohl eine leuchtende Maus, zwei Affen als auch einen Vogelmannhabicht (Chor) auftreten lässt und mit Verwandlungsformen spielt wobei sich ein Mann in einen Vogel verwandeln und ein Löwe, der einen Menschen gefressen hat, zunehmend menschliche Züge bekommen kann. Entscheidend ist hier, so Schimmelpfennig,

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die Figur Tilo, der seinen »schwer zu tragenden« Bruder Peter unmittelbar darauf in zwei Szenen schultert – wobei sich die Brüder in Text und Aufführung auch mit überdimensionalen viel zu schweren Schwertern bis zur völligen Erschöpfung »mythisch« bekämpfen, damit das Eifersuchtsmotiv von Georg gegenüber Martin aufrufen bzw. Analogien auf die Geschichte von Kain und Abel zulassen.33 »die Darstellung des Tieres durch Mittel und Zeichen« aber auch die Notwendigkeit »die Tierfiguren ernst zu nehmen« und eine »Zoologie« zu vermeiden. Vgl. Roland Schimmelpfennig im Gespräch, S. 236. Im zweiten Teil Das Reich der Tiere, lässt Schimmelpfennig dagegen seine Schauspieler-Figuren in Anspielung auf das Musical Der König der Löwen in Tierrollen auftreten, wobei die tierischen Rollen auch zu Karikaturen von sozialen Masken im Arbeitsalltag werden und die prekären Existenzen bzw. fragilen Subjektkonstitutionen der Schauspieler hinter den Masken transparent werden. Zugleich leistet Schimmelpfennig aber auch einen Kommentar zu gegenwärtigen Repräsentationsdiskursen und skizziert über seine Schauspieler-Figuren eine künstlerische Vision, die unmittelbar an die in seiner an Jürgen Gosch und Johannes Schütz adressierten Laudatio beschriebenen Erfahrungen anschließt: Die Ginsterkatze: »Laß uns etwas anderes sein, als wir sein müssen.« – Der Löwe: »Laß uns vergessen, was wir sind, und etwas anderes werden. Wir wollen aufbrechen, uns verwandeln, frei sein.« Vgl. Schimmelpfennig, Roland: Das Reich der Tiere. Unveröffentlichte Spielfassung der UA des Deutschen Theaters Berlin 2007, S. 45. 33 Im Stück heißt es entsprechend: »Zwei Männer. Jeder hat einen Helm und ein sehr langes Schwert bei sich. Sie ziehen die Schwerter hinter sich her. Die Schwerter sind so schwer, dass man sie nur zweihändig führen kann. Die Männer spucken sich an. Dann setzen sie die Helme auf. Der Kampf beginnt. Die Schwerter sind so schwer, dass nach fast jedem Schlag und jeder Parade eine Pause eintritt. Es sprühen Funken, wenn die schweren Eisen gegeneinander schlagen. Nach nur wenigen Schlägen Keuchen, Atemnot, völlige Erschöpfung. Erneutes Ausholen. Wieder Keuchen. Am Ende, nach nicht mehr als fünf oder sechs Schlägen, bleibt der eine Mann keuchend, nach Atem ringend stehen, der andere geht, sein Schwert hinter sich herziehend.« (H: 26f.) Die später folgende Beschreibung des blutigen Kampfes zwischen Georg und Martin – die Gosch in seiner Inszenierung minutiös szenisch umsetzt – nimmt unmittelbar Bezug auf die erste Auseinandersetzung, womit die von Schimmelpfennig motivierte Spiegelungsfunktion signifikant hervortritt: »Georg steht auf. Martin steht ebenfalls auf. Nach einem Moment stürzt sich Georg auf Martin, schlägt Martin ins Gesicht und reißt ihn an den Haaren zu Boden. Er schlägt und tritt auf den am Boden liegenden Martin wiederholt ein. Dabei keucht er. Martin schreit wie am Spieß. Dann dreht sich Georg ab. Martin setzt sich auf, legt sich er-

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Es tritt aber auch eine Frau mit Kinderwagen auf, die das Kind, das möglicherweise auf die ungelöste Kinderfrage von Katja und Georg – wollen beide (k)ein Kind?; bleibt der Kinderwunsch unerfüllt?; ist Katja vielleicht doch schwanger?; von Georg?; von Martin? – anspielt, wiederholt anspricht: »Na? Na, was sagst du?« Die Antwort bleibt ebenso aus, wie das Kind unsichtbar bleibt. Interessant ist, dass die immer wieder auch strickende Frau auf einer Metaebene aus dem Drama aussteigt, indem sie sowohl die auseinanderlaufenden und z.T. gestörten (cechovschen) Kommunikationssituationen bzw. »weißen Flecken« im Text

schöpft wieder hin. Georg bekommt einen weiteren Zornesausbruch, nimmt sich einen Klappstuhl und drischt damit auf Martin herum, bis der Stuhl kaputt geht. Vielleicht gelingt es Martin kurzzeitig aufzustehen und ein paar Schritte zu fliehen, aber dann trifft ihn Georg wieder, und Martin stürzt erneut. Martin schreit weiter, stöhnt. Georg keucht und stöhnt ebenfalls, es kostet ihn sehr viel Anstrengung, er kann fast nicht mehr.« (H: 65f.). Die von Schimmelpfennig in ihrer Körperlichkeit wiederholt exzessiv beschriebenen Kampfszenen verweisen, so meine Hypothese, auf die extreme Körperlichkeit, die Jürgen Gosch seinen Schauspielern u.a. in Wie es euch gefällt, Sommernachtstraum oder Macbeth abverlangte und dabei mit ihnen in den archaisch anmutenden Kampfszenen bis zum Rande der Erschöpfung ging, wobei die Kampfszenen in Macbeth im Vergleich zu Wie es euch gefällt u.a. durch den transparenten Einsatz von Theaterblut wesentlich artifizieller angelegt sind bzw. der spielerische körperliche Umgang mit der Haut als »nicht-textiles Kostüm« (Johannes Schütz) hier noch kunstvoller nachwirkt. Damit stellt sich erneut die Frage, inwieweit Goschs Spielästhetik die Schreibpraxis von Schimmelpfennig mitbeeinflusst hat, der Autor aufgrund seiner Seh- und gemeinsamen Arbeitserfahrungen (un)bewusst die erfahrene spezifische Körperlichkeit in seine Texte einfließen lässt und programmatisch mit offenen Verwandlungsformen experimentiert. Interessant ist aber auch die andere Seite der ästhetischen Wechselwirkung zwischen Autor, Regie und Ausstattung zu befragen wie das Beispiel Das Reich der Tiere (Deutsches Theater Berlin, 2007) zeigt, wo Schimmelpfennig seine Schauspieler-Figuren als Tiere und Gegenstände (Toastbrot, Spiegelei, Pfeffermühle, Ketchupflasche) auftreten lässt, bereits auf dem Papier über szenische Verwandlungsdiskurse nachdenkt und damit möglicherweise Gosch und Schütz in ihrem szenischen Denken beeinflusst hat, die in ihrer zweiten Inszenierung von Wie es euch gefällt (Schauspiel Hannover, 2007) Fragen der spielerischen Darstellbarkeit (von Obstbäumen, einem Braten, von Tieren sowie von einer Schafsgeburt) verhandeln und dabei ebenso ästhetisch an Macbeth (Schauspielhaus Düsseldorf, 2005) anknüpfen, wo die Schauspieler bereits mit einfachsten Mitteln den Wald von Birnam spielerisch darstellten.

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kommentiert34 – in der Spielvorlage gibt es 174 markierte Pausen35 – als auch eine Zeitebene des Textes vermisst, da sie am Ende ihre Wollfäden verarbeitet, ihre Jacke zu Ende gestrickt hat und Schimmelpfennig somit die Zeit des Textes mit der Zeit der Aufführung kurzschließt bzw. mit dem subjektiven und objektiven Zeitstrahl spielt.36 Bilanzierte Claude Lévi-Strauss, dass für ihn die »Geschichte ein diskontinuierliches Ganzes« sei, das aus »Geschichtsgebieten« bestehe, »von denen jedes durch eine Eigenfrequenz und eine differentielle Kodierung des Vorher und des Nachher definiert« sei, stellt sich auch bei

34 Neben ihrer einseitigen sowie monotonen Kommunikation mit dem unsichtbaren Jungen im Kinderwagen und ihrem »Na? Na, Du?« oder »Na, was sagst du? Du Kleiner?«, formuliert sie fast ausnahmslos Allgemeinplätze, die die Leere bzw. Zwischenräume widerspiegeln, womit sie zumeist isoliert und von den Gesprächen ausgeschlossen bleibt: »Gibt es ja, so was gibt es ja.« (vgl. H: 17) Später erinnert die Frau mit dem Kinderwagen mit ihrem eigentümlich infantilisierten Text »Mit Fingerchen, mit Fingerchen, mit flacher flacher Hand, mit Fäusten mit Fäusten mit Ellebogen patsch patsch patsch wiederitsch ratsch ratsch so soll die Peitsche knallen wiederumpumpum wiederumpumpum so trampeln Elephanten« (H: 87). an Cechovs Drei Schwestern, wo der Autor ebenso mit scheinbar sinnentstellten Repliken arbeitet und einen spezifischen Sprachrhythmus begründet: Masa: »tram-tam-tam…« – Versininin: »Tram-tam…« – Masa: »Tra-rara?« – Versinin: »Tra-ta-ta« bzw. Cebutykin: »Tara…ra…bumbia…wie sitze dumm ich da… (Liest Zeitung). Ist doch egal! Ist doch egal!« Vgl. Cechov, Anton: »Drei Schwestern«, in: Ders.: Gesammelte Stücke, hg. und übers. von Peter Urban, Zürich: Diogenes 2003, S. 771 u. S. 802. 35 Im Fall der Bedeutung und Funktion der Pause sowie des Schweigens wären Bezugnahmen auf Beckett zu überprüfen. 36 Entsprechend heißt es in einer Regieangabe für die Frau mit Kinderwagen kurz vor Schluss: »Kurze Pause. Sie beißt oder reißt den Wollfaden durch. Die Frau mit dem Kinderwagen: ›Fertig‹. Sie hält die fertige Strickarbeit in die Höhe.« (H: 92). Theresia Birkenhauer weist in einer Analyse von Onkel Wanja u.a. auf die Kinderfrau Marina hin, die am Samovar sitzend an einem Strumpf strickt – Cechov verweist gleich drei Mal in seinen Regieangaben auf ihre Tätigkeit – damit als Figur bzw. als ›Metronom‹ ebenso die reale Zeit vermisst bzw. die Dauer eines spezifischen Bühnenprozesses thematisiert. Damit ist ein möglicher weiterer Cechov-Reflex von Schimmelpfennig benannt. Vgl. Birkenhauer, Theresia: »›Der Vorhang senkt sich langsam‹ – Zeitstrukturen dramatischer und szenischer Narration«, in: Dies./Annette Storr (Hg.), Zeitlichkeiten – Zur Realität der Künste. Theater, Film, Photographie, Malerei, Literatur, Berlin: Vorwerk 8 1998, S. 5084.

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einer Bezugnahme auf Hier und Jetzt die Frage, ob daraus eine Autonomie jeder einzelnen Teilfrequenz, d.h. jeder individuellen Geschichte abzuleiten ist bzw. ob eine einzeln betrachtete und für sich isolierte Geschichte überhaupt die Wirklichkeit darstellen kann, was (auch) im Falle von Schimmelpfennigs fiktiven (widersprüchlichen) Geschichten zu verneinen ist, da die Erzählfäden und Spielräume nur in ihrer Relationalität zu lesen sind.37 Levy-Strauss differenziert darauf aufbauend zwischen »schwachen« und »starken Geschichten« wobei für ihn eine Geschichte »schwach« ist, wenn diese nur in kurzen Zeiträumen gemessen wird, obwohl sich diese als inhaltsreich darstellen kann. Dagegen zeichnet sich eine »starke Geschichte« dadurch aus, dass diese einen wesentlich größeren Zeitraum umfasst, obwohl deren Einzelheiten im Gegensatz zur »schwachen Geschichte« zurücktreten und nur schematisch erfasst werden können.38 Mit Hier und Jetzt, gelingt Schimmelpfennig das Kunststück eine detailreiche »starke Geschichte« zu erzählen, indem er weite ZeitRäume öffnet, dabei die zahlreichen einzelnen Miniatur-Narrationseinheiten – in denen gerade die relationalen Zwischenräume zu zentralen Spielorten werden – nicht aus den Augen verliert und diese in ein dichtes Zusammenspiel bringt.39 Die von Schimmelpfennig angebotenen narrativen Verästelungen, die auf den ersten Blick in völlig verschiedene Richtungen verlaufen und wie sich schnell auslöschende performative Momentaufnahmen auftreten, die immer wieder die Aufmerksamkeit auf ihren kurzweiligen Entstehungsprozess und auf ihr schnelles Absterben richten, motivieren weniger eine langfristige innere oder äußere Dramatik, die sich über die Figuren bzw. deren Handlungen entwickelt. Stattdessen schreibt Schimmelpfennig wie auch in Hier und Jetzt situationszentrierte Dramen über

37 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken (1973). Zit. nach Oeser, Erhard: »Zeitpfeil und Zeithorizonte«, in: M. Bergelt/H. Völckers (Hg.), ZeitRäume, S. 151-190, hier S. 152. Ich habe hier den Kritikpunkt an der Studie von Lévi-Strauss – dass letztlich keine der Geschichten für sich isoliert genommen die Wirklichkeit darstellt – von Erhard Oeser übernommen. 38 Vgl. ebd., S. 155. 39 Schimmelpfennig präzisiert die Bedeutung und Funktion der Details, die in seinen Stücken sowohl (über-)zahlreich auftreten können als auch vom Autor bewusst reduziert bzw. verweigert werden können, und folgert: »Die Geschichte hat ein Detail, und das Detail erzählt eine Geschichte. Ohne das Detail keine Geschichte, auch wenn das Detail mehr erzählt als die Geschichte des Stückes. Das Detail macht das Fenster auf« Vgl. Roland Schimmelpfennig im Gespräch, 234.

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die Wahrnehmung und Vorstellungskraft, wobei die mit ihren TextEinsätzen oder Minimalhandlungen subtil orchestrierten und choreographierten Figuren sowohl verbal oder nonverbal über das/ihr Drama kommunizieren und reflektieren als auch sich der Autor über seine Sprecher an das Publikum wendet, das einerseits einem absolut transparenten Geschehen beiwohnt, die Geschichte längst kennt aber dann immer wieder durch spielerisch verhandelte Erzählalternativen sowie wechselnde Erzählperspektiven überrascht und in andere Richtungen geführt wird, womit die vielen Wiederholungen über ihren Wiederholungscharakter hinausgehen und die bewusst gesetzten Lücken als assoziative handelnde Freiräume aufklaffen, in denen sich die Spielvariationen ereignen.40 So äußert Tilo wiederholt: »Das hast du doch schon erzählt.« Oder Ilse: »Das macht doch nichts, dass wir die Geschichte schon kennen, das

40 Bernhard Waldenfels präzisiert diesen Zustand treffend aus phänomenologischer Perspektive: »Vergangenheits- und Zukunftshorizonte sind in der Gegenwart mit da, und ausdrücklich erschlossen werden sie in der wiederkehrenden Wiedererinnerung und in der vorwegnehmenden Erwartung. Räumlich gesprochen bedeutet dies: ich bin auch dort, wo ich sein kann.« Ders.: Ortsverschiebungen, S. 99. An anderer Stelle präzisiert Waldenfels, dass das Hier keinen »bloßen Standort« bezeichne sondern als »Bewegungsort« zu verstehen dem somit eine »Bewegungsgeschichte« eingeschrieben sei. Vgl. Waldenfels, Bernhard, Sinne und Künste im Wechselspiel. Modi ästhetischer Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 219. Intendiert Jürgen Gosch eine Spielästhetik, in der »dramatische Äußerungen« abwesend sind, potenziert er damit genau das Spannungsverhältnis zwischen dem Menschen im Stück und dem Menschen auf der Bühne, womit er ein erfahrungsreiches Theater motiviert, aus dem das Drama befreit hervortritt. Schimmelpfennig arbeitet als Autor an diesem strukturellen Spannungsverhältnis, indem er seine zunehmend weniger fixierten und daher spielerisch flexibleren Figuren in einer spezifischen Präsenz anlegt und dabei die Parameter von Zeit und Raum in ihrem relationalen Wechselspiel und ihren Bewegungen von ihm szenisch mitbedacht werden, womit ein weiterer Grund für die sich gegenseitig befruchtende Arbeitsbeziehung genannt wäre. Johannes Schütz verkleistert als Ausstatter wiederum nicht diese Zwischenräume, indem er darin Realitäten installiert, sondern vertraut mit seiner Ästhetik des Weglassens und der radikalen Reduktion ganz darauf, dass die freigelassenen Zwischenräume selbst Wirklichkeit produzieren und sich die Bühne mit dem füllt, was auf ihr stattfindet. Dabei werden »Ergänzungsenergien« eingefordert, die von den Künstlern sowie dem Publikum zu leisten sind – was auch Schimmelpfennig bewusst ist, weshalb er ästhetisch im Vorfeld genau daran arbeitet und im Text selbst (vor-)inszeniert.

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macht doch nichts.« Und nochmals Ilse nach einer kurzen (Gedanken-) Pause: »Im Gegenteil! Um so besser! Das ist doch das Schöne! Dafür sind Geschichten doch da – dass man sie wieder und wieder erzählt und das man sie wieder und wieder hört«.41 Ein mögliches Auslösemoment für das Drama zwischen Katja und Martin ist eine Szene in ihrem Badezimmer. Beide stehen nebeneinander, putzen sich banal die Zähne und ahnen nicht, dass es nur wenige Stunden später zu dem zufälligen und folgenreichen Aufeinandertreffen von Katja und Martin im Elektrofachmarkt kommt. Schimmelpfennig ruft diesen alltäglichen Augenblick der kollektiven Zahnhygiene immer wieder auf, wobei er völlig offen lässt, wie die Vorgeschichte der beiden eigentlich aussieht. Putzen sich beide bereits jahrelang gemeinsam die Zähne und begreifen plötzlich im Hier und Jetzt, dass sich ihre Liebe abgenutzt hat? Sind beide höchst verliebt? Steht ihre Hochzeit noch bevor oder liegt diese längst zurück? Interessant ist hier, wie der Autor den Text bzw. die Sprache handeln lässt und diesen perspektivisch über die Figuren umverteilt. In kürzester Zeit wird diese Szene sowohl von einer anderen Figur (Peter) skizziert: »Die Frau putzt sich die Zähne. Der Mann putzt sich die Zähne. Keiner ahnt was. So ist das immer. Hauptsache Zähneputzen«, von einer weiteren Figur (Ilse) kommentiert: »Na ja«, darauf perspektivisch durch die direkte Zeugin Katja gebrochen: »Ich putze mir die Zähne, wie jeden Morgen. Er stand ja daneben. Du standst ja daneben« und damit für einen Minidialog mit ihrem Partner Georg durch das »Du« geöffnet, der zuerst nickt, dann bestätigt: »Wie immer. Alles wie immer«. Darauf steigt Katja sofort aus dem Dialogsplitter aus und verweist auf das Nachher: »Und dann, nur ein paar Stunden später-« und wird darauf sofort wieder von einer anderen Figur (Die junge Frau) abgelöst, die sich als Zeugin aus dem Elektromarkt meldet: »Ich habs ja gesehen, ich war ja da, die stand da, bei den Fernsehen, oder davor, bei den Steckern, oder bei den Steckdosen – oder daneben, bei den Hüllen und den Rohlingen« und nach einer kurzen Pause in die Rolle von Katja und Martin schlüpft: »Der hat sie so angesehen – und sie ihn. Das war – wie ein Blitz«. Katja taucht dann unmittelbar selbst in die Szene im Elektrofachmarkt ein, bringt aber nur ein doppeltes und abgebrochenes »Das war« hervor – worauf die aufgerufene Zeugin das Zusammentreffen weiter beschreibt: »Die standen voreinander und sahen sich in die Augen und redeten und redeten, als ob sie sich schon ewig kennen würden«, um darauf von Katja unterbrochen zu werden, die zuerst Martin zitiert und dann für sich bilanziert: »Wir standen vor einem Regal mit Rohlingen und mit Hüllen,

41 Vgl. H: 35 und 55.

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und er hat gesagt, ich sei bezaubernd. […] Und schließlich. Kurz bevor wir auseinander gingen, ich musste ja irgendwo hin und er auch, sonst wären wir vermutlich gleich – gleich miteinander – hat er gesagt, er habe sich auf der Stelle in mich verliebt. Das sagte er«. […] Das hatte ich seit Jahren nicht mehr gehört. Seit Jahren nicht. Das tut gut, das zu hören.« Unmittelbar darauf führt uns Schimmelpfennig wieder über den fassungslosen Georg in das Dialogfragment ins Badezimmer zurück und sprengt damit zugleich den ZeitRaum, indem das Ereignis im Elektrofachmarkt längst Geschichte ist: »Du hast – wie lange geht denn das, wie lange geht denn das schon«. Der von Georg motivierte Dialog reißt jedoch sofort wieder ab, indem nun eine weitere Figur (Lothar) Georgs Frage wiederholt bzw. ihr Drama befragt und den Zeitmodus wechselt: »Wie lange ging denn das -«, worauf die Figur Ilse die Geschichte weitererzählt: »Das ging Monate. Monate. Die haben sich getroffen, heimlich. Bei ihm«. Darauf analysiert eine andere Figur (Die Frau mit dem Kinderwagen) wiederum Katja und spricht sie dann auch selbst an: »Sie hat gedacht, das ist die große Liebe. Das hast du doch gedacht –« worauf Katja antwortet und den Text weiter spinnt: »Das hatte ich gedacht. […] Ich hatte gedacht, das ist die große Liebe. Noch einmal. Vielleicht das letzte Mal in meinem Leben, wer weiß denn das? Kann doch sein!« und dann eine weitere Figur (Horst) einspringt: »Das letzte Mal – also – ja, vielleicht. (Kurze Pause) Vielleicht auch nicht«. Mit den direkt anschließenden Repliken von Tilo: »Also mir ist das zu –« und Katja: »Zu was? Wie denn, zu was denn?«, gelingt es Schimmelpfennig erneut mit einfachsten Mitteln, aber überaus kunstvoll, unmittelbar Wirklichkeit zu produzieren, die die handelnde Sprache freisetzt und dabei durch seine diskursiven Lücken atmet.42 Genau in diesen reflexiven Freiräumen, die sich auch als produktive Bruchstellen im polyphonen Textkörper bezeichnen lassen, gelingt es dem Autor selbst in seinem Text Regie zu führen, mit der Zeit und dem Raum/den Räumen zu spielen, diese immer wieder zu überwinden und sie szenisch als Zeiträume bzw. als Raumzeit kurzzuschließen. Schimmelpfennig fordert so das Publikum auf, an seinem offenen Text mitzuschreiben, sich die Geschichte(n)/den Plot, die Figuren sowie die Struktur selbst zu erarbeiten, wobei der Autor die Geschichte(n) subtil vor- bzw. mitdenkt und diesen eine stringente Form gibt.43 42 Vgl. ebd. S. 47-50. 43 Dementsprechend formuliert Schimmelpfennig als Ziel: »Mich interessiert die Reduktion, die Verdichtung – oder auch die Auslassung, die Verweigerung bestimmter Informationen und Details. Die Reduktion lässt den Zu-

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Hier und Jetzt wird so auch zu einem Drama der Vorstellungen, die glasklar in der (szenischen) Realität eingebettet sind, dort weiterwirken und mit den Schauspielern und dem Publikum herausfordernd spielen. Es scheint, dass Schimmelpfennig seine Texte immer stärker dramatisch entkleidet, womit sie im Vergleich zu früheren Texten transparenter, unmittelbarer und weniger enigmatisch erscheinen, aber längst nicht alle Geheimnisse preisgeben. Zudem, so meine Bilanz, geht es dem Autor zunehmend weniger um eine literarische bzw. dramatische Autonomie seiner Texte – hier hat Schimmelpfennig bereits ein breites ästhetisches Spektrum entfaltet – als darum, seine Spielvorlagen schon am Schreibtisch verstärkt szenisch arbeiten zu lassen, die Grade der Zeitlich- und Räumlichkeit in ihrem diskursiven Wechselspiel zu verdichten und sie dann einer zweiten Regie zu unterziehen, womit eine bedachte Regie/Ausstattung eigentlich nur die vom Autor motivierte sinnliche Spielund Verwandlungsfreude fortzusetzen, den Text über die Schauspieler weiter arbeiten zu lassen hat – was jedoch ein Kunststück ist. Eine Herausforderung auch für das Publikum, das das Hier und Jetzt verstärkt mitkonstituiert und mitverhandelt44, dabei gefordert ist, sich in vielfältischauer bestimmte Teile selbst zusammensetzen, entdecken, abwägen. […] Das ist ein dialogischer Umgang mit dem Zuschauer. Es geht darum, die Geschichte so zu erzählen, dass man dem Zuschauer die Chance lässt, das Geschehen abzugleichen, zu überprüfen. Ich mag Theater als offenes System.« Vgl. Roland Schimmelpfennig im Gespräch, S. 242. 44 Anders formuliert lässt sich bilanzieren, dass der Autor und die Regie ästhetisch verstärkt daran arbeiten, das Jetzt noch »jetziger« zu gestalten und sich damit der im Folgenden von Hans-Thies Lehmann skizzierten Problematik bewusst sind: »Es geht also um ein Theater, das nicht in eine andere Wirklichkeit entführt, sondern vorab zu seinem eigenen hic et nunc verführen will. Dabei aber stößt es auf den Umstand, dass das Jetzt nicht jetzig sein kann, Intensität der Präsenz, genau genommen, vielmehr aus dem Auftauchen von lauter Nicht-jetzt besteht. Im präsentisch Wahrgenommenen leuchtet mit auf: das Andere, das Abwesende, das Künftige, das Vergangene, am Ende das Nichtsein dessen, was da wahrgenommen wird. Dieses Anderssein, Abwesendsein, Noch-nicht und Nicht-Sein kann man bestimmen als im Wirklichen selbst vorzustellende, notwendigerweise zu denkende und zugleich notwendig unbestimmt bleibende Dimensionen.« Vgl. Lehmann, Hans-Thies: »Bruchstücke zu einem Denken des Theaters als Möglichkeitsraum«, in: Tilmann Broszat/Gottfried Hattinger (Hg.), Theater Etcetera: zum Theaterfestival SPIELART München 2001, München: Spielmotor München e.V. 2001, S. 13-20, hier S. 15. Zit. nach Metzger, Stephanie: Theater und Fiktion. Spielräume des Fiktiven in Inszenierungen der Gegenwart, Bielefeld: transcript 2010, S. 84.

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gen, zerrissenen und dennoch fein miteinander verwobenen Zeit-Räumen bzw. Raum-Zeiten zu bewegen und gemeinsam mit den Schauspielern eine dritte Regie zu übernehmen. »Alles ist spielbar solange es im Text vorkommt«.

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»G R O S S E I D E E N «. U T O P I E U N D K R I T I K I N M O R I T Z R I N K E S S O Z I A L EN DRAMEN REPUBLIK VINETA UND CAFÉ UMBERTO GABRIELE FEULNER

»Leicht, sich von einem schlechten Ort weit weg zu wünschen. Aber die Straße aus ihm hinaus ist weniger selbstverständlich, sie muß erst gelegt werden.«1

Das soziale Drama2 blickt auf eine über 200-jährige Gattungstradition zurück. Sie beginnt im weiteren Sinne mit dem bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts, das den Ständekonflikt zwischen Adel und Bürgertum in den Mittelpunkt rückt;3 im engeren Sinne mit den sozialen Dramen des Sturm und Drang – u.a. Jacob Michael Reinhold Lenz’ Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776)4 und dem revolutionären Dramenfragment Woyzeck (1836/37), in dem Georg Büchner erstmals ei-

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Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. Kapitel 38-55, in: Ders.: Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1959, S. 850. Die umfassendste Definition des sozialen Dramas gibt Elm, Theo: Das soziale Drama. Von Lenz bis Kroetz, Stuttgart: Reclam 2004. Als inhaltliche und wirkungsästhetische Kriterien bestimmt Theo Elm die soziale Determinierung der Figuren und die »karitative[] Wirkungsfunktion« des Dramas (ebd., S. 17), als spezifische Formelemente nennt er u.a. den »zerbrechenden« Dialog (ebd., S. 31), ästhetische Verfremdungsverfahren wie Karikatur, Groteske und Parodie, strukturelle »Aufbrechungen« der aristotelischen Form (ebd., S. 35) und »Sinnoffenheit« (ebd., S. 37) sowie Realismus. Vgl. Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama, 2. durchgesehene Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, S. 44 u. 47. Vgl. Hinck, Walter: Theater der Hoffnung. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 7. Vgl. F. Schößler: Einführung, S. 53.

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nen Pauper zur Hauptfigur eines Dramas erhebt und den Fokus auf seine soziale und ökonomische Determinierung richtet.5 Ende des 19. Jahrhunderts führt sie über die naturwissenschaftlich-positivistischen Dramen Gerhard Hauptmanns – u.a. Vor Sonnenaufgang (1889) – und die ›konsequent naturalistischen‹ Stücke des Autorenduos Arno Holz und Johannes Schlaf, die den Menschen in den Zwängen seiner genetischen Disposition und seines Milieus vorführen. Der Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutet einen »klare[n] Bruch in der Gattungsgeschichte«6 des sozialen Dramas: Da die Sozialreformen des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Lage der Arbeiter deutlich verbessern und die ›soziale Frage‹ an Bedeutung verliert, aber auch das alte Besitz- und Bildungsbürgertum schwindet, entstammt das Personal des sozialen Dramas nicht mehr dem Proletariat und etablierten Bürgertum, sondern der neuen Schicht des aufstrebenden Kleinbürgertums.7 Eine bedeutende Ausprägung findet dieses moderne soziale Drama im expressionistischen Stationendrama: Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts dramatisiert allegorisch den Aufbruch des Menschen aus der Starre und Enge des kleinbürgerlichen Lebens und seine vergebliche Suche nach Entfesselung und Erlösung in einer »von Geld korrumpierten«8 kapitalistischen Gesellschaft. Die Phase bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges bestimmen verschiedene Ausrichtungen des sozialen Dramas: Eine Traditionslinie bildet das epische Theater Bertolt Brechts, das sich ideologisch an den historisch-dialektischen Materialismus anlehnt und sich vorwiegend der didaktischen Parabelform bedient sowie die »zeitlos-existentiellen Parabeln«9 seiner Nachfolger (Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt); eine andere die sozialen Dramen Ödön von Horváths und Marieluise Fleißers, die in der Tradition des Volksstückes stehen sowie in ihrer Folge die »›kritischen Volksstück[e]‹«10 der 70er Jahren (Franz Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder, Martin Sperr11), die das Leben der »kleinen Leute«12 und ihre Alltagssorgen in Szene setzen.

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Vgl. W. Hinck: Theater der Hoffnung, S. 74. Vgl. F. Schößler: Einführung, S. 67f. 6 T. Elm: Das soziale Drama, S. 171. 7 Vgl. ebd., S. 172f. 8 W. Hinck: Theater der Hoffnung, S. 85. 9 T. Elm: Das soziale Drama, S. 178. 10 Ebd. 11 Vgl. ebd., S. 179-185. 12 Ebd., S. 183.

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Entstammen die Figuren der sozialen Dramen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts der Unterschicht und dem Kleinbürgertum, so beschäftigt sich eine Vielzahl sozialer Dramen der 90er Jahre des 20. und des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts mit der zeitgenössischen Wirtschafts- und Arbeitswelt13 und rückt so neue Personenkreise in das Zentrum des Bühnengeschehens. Während die Perspektive des sozialen Dramas, so Moritz Rinke, traditionell von oben nach unten gerichtet ist, dem (bildungs-)bürgerlichen Publikum einen Einblick in das Elend der zumeist arbeitslosen Unterschicht und des einfachen Bürgertums gewährt und damit dem mitleidig-distanzierten Motto »›Oh seht, die da unten!‹«14 folgt, richtet sie sich in den 90er Jahren auf den plötzlichen sozialen Abstieg in höheren und höchsten Gesellschaftsschichten, indem sie die Arbeitslosigkeit unter Führungskräften in den Blick nimmt. Den sozialen und ökonomischen Hintergrund dieser Veränderung in der Gattungstradition bilden gesellschaftliche Transformationsprozesse, die seit der Mitte der 70er Jahre im Zeichen einer »Wiederkehr der sozialen Unsicherheit«15 stehen und die eng mit der Entwicklung des Kapitalismus verknüpft sind. Ist die Prekarität in der »Versicherungsgesellschaft[]«16 der Nachkriegszeit, in der sich »die große Mehrheit der Bürger«17 von einer »seitens des Staates garantierte[n] allgemeine[n] soziale[n] Absicherung«18 geschützt weiß, noch ein Phänomen gesellschaftlicher Randgruppen19, gerät gegen Mitte der 70er Jahre der »unaufhaltsam scheinende Ausbau der sozialen Sicherungssysteme ins Stocken«20 und

13 Vgl. F. Schößler: Einführung, S. 94. 14 Rinke, Moritz/Wille, Franz: »Neue Arbeit statt Anerkennungsnotstand. Ein Gespräch mit Moritz Rinke über ›Café Umberto‹, Erfahrungen auf dem Arbeitsamt, 1-Euro-Jobs, glückliche Arbeitslose, neue Würde und zwei Arten kein Geld zu haben«, in: Theater heute 8/9 (2005), S. 68-70, hier S. 69. 15 Castel, Robert: »Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit«, in: Ders./ Klaus Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2009, S. 2134, hier S. 23. 16 Ebd., S. 24. 17 R. Castel: Soziale Unsicherheit, S. 24. 18 Ebd. 19 Armut entfaltet sich »im Wesentlichen außerhalb der tariflich und gesetzlich geschützten Lohnarbeit«. Dörre, Klaus: »Prekarität im FinanzmarktKapitalismus«, in: R. Castel/K. Dörre (Hg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung, S. 35-64, hier S. 40. 20 R. Castel: Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit, S. 25.

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eine »umgekehrte Dynamik«21 kommt in Gang. Die Unternehmen notieren an der Börse und suchen, um das Einkommen ihrer Aktionäre zu steigern, »Extraprofite aus der Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit zu ziehen«22. Der Wandel vom »soziale[n] Kapitalismus«23 zum Finanzmarktkapitalismus führt dazu, dass »konstitutive Elemente des Finanzkapitalismus in die kontinentaleuropäischen Gesellschaften integriert«24 werden: Öffentliche Unternehmen werden privatisiert, »kollektive […] Sicherungssysteme«25 abgebaut, flexible Beschäftigungsformen gewinnen an Bedeutung, die Konkurrenz unter den Beschäftigten verstetigt sich.26 Bedeutend im Kontext des sozialen Dramas ist die »transversale Qualität«27 dieser neuen sozialen Unsicherheit, die nun alle gesellschaftlichen Schichten betrifft.28 Mit der Arbeitslosigkeit in hochqualifizierten Bildungsschichten setzen sich Urs Widmers Top Dogs (UA 1996)29, Roland Schimmelpfennigs

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Ebd. K. Dörre: Prekarität im Finanzmarkt-Kapitalismus, S. 43. Ebd., S. 39. Ebd., S. 42. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 42-45. Vgl. Castel: Soziale Unsicherheit, S. 25f. R. Castel: Soziale Unsicherheit, S. 30. Vgl. dazu Bude, Heinz/Willisch, Andreas: »Die Debatte über die ›Überflüssigen‹. Einleitung«, in: Heinz Bude/Andreas Willisch (Hg.), Exklusion. Die Debatte über die Überflüssigen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 9-30, hier S. 9. 28 Die soziologischen Kategorien der ›Exklusion‹ und der ›Überflüssigkeit‹ versuchen dieses Problem zu erfassen. Vgl. Baecker, Dirk/Bude, Heinz/ Honneth, Axel/Wiesenthal, Helmut: »›Die Überflüssigen‹. Ein Gespräch«, in: ebd., S. 31-49. Vgl. H. Bude/A. Willisch: Einleitung, S. 12.f. Richard Sennett beschreibt die Veränderungen der Arbeitswelt und ihre Auswirkungen auf die Psyche der Arbeitnehmer in ders.: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 7. Aufl., Berlin: Berlin Verlag 1998. Auch Pierre Bourdieu hebt die psychischen Folgen hervor, er sieht in der existentiellen Unsicherheit und der Angst vor Arbeitslosigkeit eine neue ›»kollektive Mentalität‹«, die zu einem »Kampf aller gegen alle« führt, der »sämtliche Werte der Solidarität und Menschlichkeit zunichte macht«. Ders.: »Prekarität ist überall«, in: Ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1998, S. 96-102, hier S. 97 u. 99. 29 Widmer, Urs: Top Dogs, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1996.

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»GROSSE IDEEN«

Push up 1-3 (UA 2001)30 sowie Moritz Rinkes Theaterstücke Republik Vineta31 (UA 2000) und Café Umberto32 (UA 2005) auseinander. Im Folgenden sollen die beiden Dramen Moritz Rinkes vorgestellt werden, da sie zwei unterschiedliche Facetten der Arbeitslosigkeit beleuchten: Während Republik Vineta die Arbeitslosigkeit unter Führungskräften problematisiert, widmet sich Café Umberto prekären Lebens- und Arbeitssituationen in der akademischen und kreativen Mittelschicht. Die Perspektive nach oben auf die Arbeitslosigkeit – »›Interessant, wenn ein hohes Tier plötzlich auch mal rausfliegt‹«33 – ergänzt der Autor durch einen Blick auf die Mitte der Gesellschaft. Die wohltuende Distanz, die das soziale Drama »über Grubenarbeiter oder Topmanager«34 seiner Auffassung nach erlaubt, hebt Café Umberto mit seiner »Nahaufnahme«35 der akademischen Mittelschicht auf. Beide Stücke heben sich von anderen zeitgenössischen sozialen Dramen, die um das Thema Arbeit und Ökonomie kreisen, durch ihre utopischen Elemente ab. Zwar entwerfen die Dramen keine in sich geschlossenen Utopien, wie dies etwa für die Utopien in der Tradition des Staatsromans (Platons Politeia, Thomas Morus’ Utopia) oder der Sozialutopien im Geist der Aufklärung der Fall ist, doch nehmen utopische Gesellschaftsentwürfe eine zentrale Rolle ein. In beiden Dramen gestaltet Rinke Hauptfiguren als Visionäre besserer Lebens- und Arbeitswelten. Diese utopischen Aspekte sind mit der sozialen Herkunft der Figuren unmittelbar verknüpft und bilden genuin neue Elemente in der Tradition des sozialen Dramas: Stehen die »intellektuell[] [b]edürftig[en]«36 Figuren in der Geschichte des sozialen Dramas der Utopie fern,37 so sind

30 Schimmelpfennig, Roland: »Push up 1-3«, in: Ders.: Die Frau von früher. Stücke 1994-2004, Frankfurt a.M.: Fischer 2004, S. 343-397. Vgl. F. Schößler: Einführung, S. 94. 31 Rinke, Moritz: »Republik Vineta. Ein Stück in vier Akten«, in: Ders.: Trilogie der Verlorenen, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2002, S. 153-235. (= Im Folgenden: RV). 32 Rinke, Moritz: Café Umberto, 2. Aufl., Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2009 (= Im Folgenden: CU). 33 M. Rinke/F. Wille: Neue Arbeit, S. 69. 34 Ebd. 35 Thiele, Rita: »Ende und Anfang der Arbeit«, in: Uraufführung Café Umberto von Moritz Rinke. Spielzeit 2005/2006 Kleines Haus, Düsseldorf: Neue Schauspiel GmbH 2005, S. 7-10, hier S. 8. 36 T. Elm: Das soziale Drama, S. 17. 37 »Die Texte schwingen sich nicht in den Ideenhimmel, zu Visionen und Utopien, zu sozialpolitischen Rezepten und Remeduren, zu fernen Zeiten

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Rinkes Figuren aufgrund ihrer Bildung und ihrer Intellektualität zu umfassenden Weltverbesserungsentwürfen in besonderem Maße befähigt. Die Ausgangssituation in Republik Vineta ähnelt derjenigen in Top Dogs: Während in Widmers Drama arbeitslose Topmanager im geschlossenen Raum eines »Outplacement-Centers« aufeinandertreffen, in dem sie unter psychologischer Anleitung ihre Entlassung zu verarbeiten suchen, versammeln sich in Republik Vineta Führungskräfte aus den unterschiedlichsten Bereichen in einem verfallenen Landsitz. Um sie Schritt für Schritt auf ihre Arbeitslosigkeit vorzubereiten, simulieren ihre ehemaligen Arbeitgeber das Stadtbauprojekt »Republik Vineta«. Während Top Dogs analytisch-retrospektiv angelegt ist, sukzessive die psychischen Verwundungen der Manager auf dem Kriegsschauplatz der Wirtschaft freilegt, ist die Perspektive in Rinkes Drama von der Gegenwart in die Zukunft gerichtet: es stellt die Auswirkungen der Arbeitswelt auf die Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen satirisch-kritisch aus und konfrontiert sie zugleich mit Entwürfen einer möglichen besseren zukünftigen Welt. Der Kontrast alter und utopisch-neuer Arbeitswelten, der Republik Vineta bestimmt, zeichnet sich bereits in der Personenkonstellation ab. Die siebenköpfige Planungsgruppe zerfällt in zwei Parteien, die antithetische architektonische, städtebauliche Konzepte und – geht man von der »Symbolkraft gebauter Ordnung«38 aus – konträre Gesellschaftsentwürfe vertreten. Ingenieur Lutz Born und Projektmanager Hagemann repräsentieren das Prinzip der Effizienz in der Arbeitswelt des beginnenden 21. Jahrhunderts. Vor allem Klaus Hagemann hat die Anforderungen einer in hohem Maße dynamischen, mobilen und an Kostenreduzierung orientierten Wirtschaftswelt verinnerlicht. Sein Lebens- und Arbeitsmotto »Sein ist Tun und Tun ist Tempo« (RV: 193) spiegelt sich in seiner parataktisch verknappten bis elliptischen Syntax und seiner übermäßigen Neigung, Substantive einzusetzen, Akronyme zu bilden: »Problemdefinition, PD«, »Lösungsauswahl, LA« (RV: 173), »Potentialerfassung. Anforderungsprofile. Auswahlentscheidungen. (Schreibt quer über die Seekarten: PE} AP }AE)« (RV: 176) . Diese Fokussierung auf Ökonomie und Effizienz zeigt sich auch in dem Bebauungskonzept der Insel Vineta, das oder imaginären Orten, zu parabolischen oder gleichnishaften Abstraktionen, sondern verharren konkret im Hier und Jetzt.« Ebd., S. 16f. 38 Neumeyer, Fritz: »Nachdenken über Architektur. Eine kurze Geschichte ihrer Theorie«, in: Ders. (Hg.), Quellentexte zur Architekturtheorie. Nachdenken über Architektur, München u.a.: Prestel 2002, S. 9-81, hier S. 11. Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 850.

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darauf ausgerichtet ist, die begrenzte Fläche der Insel optimal auszunutzen. So sieht der Plan ausschließlich »›GKs‹«, uniforme 22-stöckige Gebäudekomplexe mit einer Geschossflächenzahl (»›GFZ‹«) von 2000 Quadratmetern vor, die monoton nebeneinander gesetzt werden: »Block, Straße. Block, Straße. Straße, Block.« (RV: 180) Auf die landschaftlichen Gegebenheiten der Insel oder ihre pittoresken Sehenswürdigkeiten nimmt dieser Bebauungsplan keine Rücksicht: Selbst die Küstenautobahn soll in einem »absolut monotonen Viereck« (RV: 181) verlaufen, der Supermarkt direkt neben dem Leuchtturm entstehen. Der städtebaulich-architektonischen Monotonie entspricht dabei die geistige Passivität und Phantasielosigkeit der Bewohner, die ein Konzept der »Vollversorgung« unterhalten soll: »Club Méditerrané! Cinemaxx! Wellenbäder!« (RV: 186) Das Bebauungskonzept, das Born und Hagemann vertreten, orientiert sich mit seinem Funktionalismus39, seinem »simplifizierenden Rationalismus«40, und seinem »Rasterdenken« an spezifisch modernen Architekturkonzepten, die jede »Beziehung der Architektur zum Ort«41 verneinen.42 Die Bebauungspläne Borns und Hagemanns entsprechen schließlich jenem Architekturkonzept des Spätkapitalismus, das Ernst Bloch in Das Prinzip Hoffnung beschreibt. Bloch sieht in der ägyptischen Pyramide und der gotischen Kathedrale die zwei fundamentalen BauUtopien der Architekturgeschichte verkörpert, die spätere Epochen lediglich variierend wiederholen43: Die ägyptische Architektur ist für ihn die »Todeskunst schlechthin«44, ihre kristallinisch-strenge Ordnung und leblose Starre entspricht einer »schlechthin despotischen Gesellschaftsform«45; die organische Ornamentik der gotischen Kathedrale dagegen verkörpert die Bau-Utopie des Lebensbaums46, ihre lebendige, »tief-

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Vgl. ebd., S. 37. Ebd. Ebd., S. 71. In seiner rücksichtslosen Zerstörung der ursprünglich idyllischen Insellandschaft (»Es gibt so eine Art Bucht, […] da stehen nur fünf Fischerhütten und ein Leuchtturm, sonst ist da nichts auf der ganzen Insel, ist das nicht wahnsinnig?« (RV: 177) weckt das Konzept Assoziationen an eine bedeutende Utopie der Weltliteratur, Fausts Landgewinnungsprojekt, das durch die Ermordung von Philemon und Baucis zur »befleckte[n] Utopie« wird. W. Hinck: Theater der Hoffnung, S. 172. Vgl. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, S. 850. Ebd., S. 845. Ebd., S. 844. Vgl. ebd.

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behagliche[] Fülle«47 repräsentiert das Humane. Architektur und Städtebau des Spätkapitalismus sieht Bloch in der Tradition der tödlichinhumanen, kristallinischen Bauutopien. Blochs Charakterisierung dieser Architektur lässt sich nahezu nahtlos auf den Bebauungsplan der »Republik Vineta« übertragen, lässt dessen Lebensfeindlichkeit und »Seelenlosigkeit«48 noch deutlicher hervortreten: »Seit über einer Generation steht […] dieses Stahlmöbel-, Betonkuben-, Flachdach-Wesen geschichtslos da, hochmodern und langweilig […]. Auch die Stadtplanung dieser unentwegten Funktionalisten ist […] abstrakt; […] die Menschen [werden] in diesen Häusern und Städten zu genormten Termiten oder […] zu Fremdkörpern, noch allzu organischen; so abgehoben ist das alles von wirklichen Menschen, von Heim, Behagen, Heimat.49 […] Die funktionalistische Architektur reflektiert und verdoppelt […] die eiskalte Automatenwelt der Warengesellschaft, ihrer Entfremdung, ihrer arbeitsgeteilten Menschen, ihrer abstrakten Technik.«50

Eine radikale Revision dieses lebensfeindlichen, nahezu dystopischen Bebauungskonzeptes initiiert der Projektleiter Robert Leonhard mithilfe eines Architekten, der auf den sprechenden Namen Färber hört und sich als der zentrale Utopist des Stückes erweist. Sein Konzept der »Gegenmoderne« kontrastiert mit dem rationalen Funktionalismus der Bebauungspläne im Zeichen der Moderne: »Die Gegenmoderne ist der Kampf gegen das rein zweckhafte Denken. Sie ist ihrem Wesen nach eine Revolution der Neuen Rückbesinnung.« (RV: 158) Sein enthusiastisches Lob einer Treppe des Landsitzes, die in ihren Maßen dem menschlichen Schrittmaß angepasst ist, zeigt deutlich, dass Färbers Konzept darauf zielt, die Architektur den Proportionen des menschlichen Körpers anzugleichen (vgl. RV: 157f.). Die »Neue Rückbesinnung«, von der er spricht, liest sich daher als Bezug auf Architekturkonzepte der Antike und der Renaissance, die von der grundlegenden Idee ausgehen, dass sich gelungene Architektur in ihren Proportionen an denen des menschlichen Körpers orientiert – so formuliert es Vitruv in seiner Schrift De architectura libri decem51. Die Vorstellung einer Verbindung von Körper, Archi-

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Ebd., S. 866. Ebd., S. 867. Ebd., S. 861f. Ebd., S. 869. »Denn kein Tempel kann ohne Symmetrie und Proportion eine vernünftige Formgebung haben, wenn seine Glieder nicht in einem bestimmten Verhältnis zu einander stehen, wie die Glieder eines wohlgeformten Men-

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tektur und Kosmos, Mikro- und Makrokosmos52 liegt auch Färbers Plänen zugrunde, die Wahl eines Platzes von der Kreuzung der Gestirne abzuleiten, die topographische Lage der Stadt am Sonnenaufgang auszurichten oder vom zentralen Marktplatz eine Aussicht auf das Meer zu ermöglichen (vgl. RV: 210). Auch dass Färber die Säule als architektonisches Element auf Vineta bevorzugt einsetzt53, lässt sich in diesem Kontext deuten: Ihr dreigliedriger Aufbau (Basis, Schaft und Kapitell) ist dem menschlichen Körperbau entlehnt und repräsentiert so exemplarisch die Analogie zwischen menschlichen und architektonischen Proportionen. Über die Analogie von Mensch, Architektur und Kosmos hinaus orientiert sich Färber an der vitruvianischen Trias von ›firmitas‹, ›utilitas‹ und ›venustas‹ – Stabilität, Nützlichkeit und Anmut – als den Prinzipien guter Architektur.54 Auch in diesem Aspekt wendet sich Färber von dem vorhandenen Bebauungsplan ab, der mit diesem harmonischen Dreiklang55 bricht und die ›venustas‹ aufhebt. Färbers Architekturkonzept

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schen.« Vitruv: De architectura libri decem – Zehn Bücher über Architektur, übersetzt von Curt Fensterbusch, in: Fritz Neumeyer (Hg.), Quellentexte zur Architekturtheorie. Nachdenken über Architektur, München u.a.: Prestel 2002, S. 83-91, hier S. 86f. Vgl. dazu F. Neumeyer: Nachdenken über Architektur, S. 16. Vgl. Schröer, Klaus/Irle, Klaus: »Ich aber quadriere den Kreis …«. Leonardo da Vincis Proportionsstudie, Münster u.a.: Waxmann 1998, S. 69. Vitruvs berühmte Vorstellung, dass die menschlichen Gliedmaßen in einen Kreis und ein Quadrat eingeschrieben werden können, stellt zunächst eine Korrespondenz zwischen menschlichem Körper und dem Kosmos, dadurch auch zwischen Architektur und Kosmos her: »[T]he arms and the legs of one figure are drawn in two different positions in order to visualize Vitruvius’ statement that the human body is capable of being inscribed both in a circle and a square. But Vitruvius – and Leonardo – lay stress on this fact merely because it tends to show the harmony between the structure of the human body and the ›most perfect‹ geometrical shapes, which implies also a correspondence of the human body with the universe.« Panofsky, Erwin: The Codex Huygens and Leonardo da Vinci’s Art Theory, London: Warburg Institute 1940, S. 121. Vgl. RV: 189. Vgl. Evers, Bernd: »Vorwort«, in: Architekturtheorie von der Renaissance bis zur Gegenwart. 89 Beiträge zu 117 Traktaten, hg. v. Bernd Evers in Zusammenarbeit mit der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, Köln u.a.: Taschen 2003, S. 6f., hier S. 6. »Vitruvs harmonischer Dreiklang gleichwertiger Bedingungen, die als Voraussetzungen der Architektur eine Einheit bilden, wird von dem analyti-

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zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es Schönheit und Wohlgefallen berücksichtigt: »Wichtigstes Stilmerkmal: Ein Haus sieht wieder aus wie ein Haus. Ich könnte auch sagen: Harmonie. Ja, Entschuldigung, ich sage jetzt einfach mal: Harmonie.« (RV: 210). Für Leon Battista Alberti, der die Architekturtheorie Vitruvs in der Renaissance weiterführt56, hat die ›venustas‹ neben einer formal-ästhetischen auch eine sozial-ethische Dimension.57 Genau wie Alberti es fordert, fügt sich Färbers Architektur in den Rahmen der ›civitas‹58, der städtischen Gemeinschaft ein, bedenkt soziale Kriterien: Mit der zentralen Piazza oder dem Boule-Platz erschafft Färber offene und großzügige Räume, die von ökonomischen Zwecken befreit sind und als Kommunikations- oder Denkräume dienen können (vgl. RV: 211). Vor allem die Freitreppen, ein Würdemotiv der antiken Architektur, sollen die Freiheit des Denkens befördern. »[D]a, wo früher einmal unser Gloria Golf Resort stand mit angeschlossenem Entertainment Center, da stehen jetzt Freitreppen! (Macht wellenartige Handbewegungen) Die führen auf die Hügel rauf und von den Hügeln wieder runter, sonst nichts! Völlig sinnlose Auf- und Abwärtsbewegungen!« (RV: 207)

Dass Moritz Rinke architektonische Stadtbebauungspläne wählt, um utopische Entwürfe besserer Lebenswelten zu veranschaulichen, liegt zum einen in einem grundsätzlichen Zusammenhang von »Architekturtheorie und Sozialutopie«59, zum anderen in der Tradition literarischer Ortsuto-

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schen Geist der Moderne arbeitsteilig zerlegt. Im Zeichen der Vernunft formuliert die Architekturtheorie rationalistische Erklärungsmodelle, die mit Vitruvs Trinität brechen. Die mythische Einheit wird nach den drei Seiten ihrer Begriffe hin einseitig aufgelöst, um jeweils eines der Elemente gegenüber den anderen zu privilegieren.« F. Neumeyer: Nachdenken über Architektur, S. 15. Leonardo da Vincis Proportionsstudie Der vitruvianische Mensch (1492) wird zum »humanistischen Emblem« der Epoche. F. Neumeyer: Nachdenken über Architektur, S. 17. Vgl. Biermann, Veronica: »Leon Battista Alberti«, in: B. Evers (Hg.), Architekturtheorie, S. 23-25, hier S. 25. Vgl. ebd und F. Neumeyer: Nachdenken über Architektur, S. 22. Thoenes, Christof: »Einführung«, in: B. Evers (Hg.), Architekturtheorie, S. 8-19, hier S. 18. Thoenes unterstreicht, dass »jeder Architekturentwurf so etwas wie einen utopischen Kern« enthält: »Er verleugnet, was ist, zugunsten von etwas, das sein wird oder sein sollte.« Ebd.

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pien begründet.60 In ihrer Anlehnung an Konzepte der Antike und Renaissance steht Färbers Utopie zudem ganz in der Tradition architektonischer Utopie-Entwürfe von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, die rückwärtsgewandt »das Neue in Gestalt einer uranfänglichen ›aurea aetas‹ suchen, deren Wiederkehr«61 sie erhoffen. Färbers Entwurf einer entschleunigten, kommunikativen, naturverbundenen Lebenswelt unterstützt Robert Leonhard. Anders als für Färber ist für Leonhard als Projektleiter die Utopie einer besseren Lebenswelt vorrangig Mittel zum Zweck, er unterstützt das Konzept, weil es der therapeutischen Funktion des Planungsspiels dient.62 Indem er die hektisch und angespannt planenden Führungskräfte gemeinsam musizieren oder den Garten pflügen lässt, versucht er, ihrem selbstausbeuterischen Ehrgeiz und ihrem Gewinnstreben neue Werte entgegenzusetzen: »[M]al wieder so richtig mit den Händen arbeiten! Hagemann, da fließt dann […] noch einmal die Kraft der ruhenden Erde in Ihre Seele« (RV: 209). Neben dem idealistischen Färber und dem Zweck-Utopisten Leonhard steht der naturverbundene Träumer Hans Montag. Als ehemalige Führungskraft in der Agentur für Arbeit ist er in besonderem Maße für die seelischen Beschädigungen durch die Arbeitswelt sensibilisiert und stellt sich daher mit seiner Vision, dem Leben der Arbeitslosen, die er betreut, die Leichtigkeit und Schönheit zurückzugeben,63 auf Färbers Seite. So wehrt sich Montag auch gegen die Intrige Hagemanns und Borns, die Leonhard und Färber absetzen und die Leitung des Planungsstabes gewaltsam übernehmen wollen. Die Eskalation des Konfliktes (Born greift Leonhard mit einer Spitzhacke an, wird jedoch von Montag mittels eines Pistolenschusses darin gehindert) führt die Auflösung herbei: Die Anwesenden werden darüber aufgeklärt, dass das Projekt »Republik Vineta« nur ein therapeutisches Planspiel ist.

60 Gnüg, Hiltrud: »Warnutopie und Idylle in den Fünfziger Jahren. Am Beispiel Arno Schmidts«, in: Dies. (Hg.), Literarische Utopie-Entwürfe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, S. 277-290, hier S. 277f. 61 C. Thoenes: Einführung, S. 18. 62 »Färber steht für eine neue Tendenz. Eine Art Neue Rückbesinnung gegen das rein Zweckhafte, die mir, auch der Delta AG, geradezu einleuchtend erscheint für das, was wir am Ende verkaufen wollen.« RV: 161. 63 »Montag: In meiner Position, da sehen Sie jeden Tag diese Menschen vorbeigehen. Sie sehen, wie die mit den Jahren ganz schwer und müde werden. Da will ich ihnen dann manchmal gern zeigen, dass es Dinge gibt, die auch ganz leicht sind und schön. Wenn ich zum Beispiel einfach das Fenster aufreißen und so machen könnte. (Greift in die Luft) Bitte. Eine Wolke.« (RV: 165).

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Diese Decouvrierung des Projektes als Illusion deuten die Kritiker Beatrice Eichmann-Leutenegger, Gerhard Stadelmaier und Klaus Witzeling in ihren Rezensionen als Scheitern der Utopie »Vineta«: »Am Schluss bleibt […] nichts als ein satirischer Abgesang auf alle UtopieEntwürfe«64, resümiert Eichmann-Leutenegger, Stadelmaier zieht den Schluss, dass Republik Vineta »über den Verlust der Utopie und des Wunderbaren in Form einer Komödie«65 trauert, und auch Klaus Witzeling sieht in Rinkes Drama »eine Tragikomödie über den ewigen Traum der Männer, die Welt zu verändern«66: »Stets wollen sie hoch hinaus und enden bestenfalls am Kronleuchter, mit einer Schlinge um den Hals. […] Die einen wirken nicht weniger kläglich und lächerlich im Scheitern ihrer Utopien als die anderen.«67

Zwar fordert die Auflösung der Illusion auf beiden Seiten, dystopischer wie utopischer, Tote – Hagemann nimmt sich das Leben, Born erschießt Montag –, doch ist die »Kippfigur« der Desillusionierung, die Peter Michalzik als schlichten »Zaubertrick«68 ausmacht, eben nicht nur dramaturgische Strategie, um die Machtlosigkeit der Arbeitslosen umso stärker hervortreten zu lassen.69 Vor allem das Konzept der »Gegenmoderne« ist 64 Eichmann-Leutenegger, Beatrice: »Endstation Utopia«, in: Neue Zürcher Zeitung (Internationale Ausgabe) vom 24.09.2002, S. 34. 65 Stadelmaier, Gerhard: »Spuk der Luftschloßgeister. Die Ente der Utopie«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.09.2000, S. 53. 66 Witzeling, Klaus: »Die Kunst des Verlierens«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27.09.2000, S. 61. 67 Ebd. 68 Michalzik, Peter: »Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss«, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld: transcript 2008, S. 31-42, hier S. 34. 69 So deutet es auch Andreas Kilb: »Moritz Rinkes Republik Vineta […] ist die Geschichte einer Handvoll Männer, die glauben, das Richtige zu tun. Sie entwerfen die Stadt der Zukunft, sie planen das Rom der zukünftigen Menschheit, die Stahl gewordene Utopie. Dass sie sich dabei in die Haare kriegen, dass sie alle dieselbe Frau begehren, ist kein Problem. Schrecklich ist nur, dass sie nicht ahnen, was sie und für wen sie es tun. Dass sie längst keine Player mehr sind, sondern Spielfiguren auf einem Totenbrett. Das Stück lüftet dieses Geheimnis ganz langsam und vorsichtig, es macht einen langen, abgründigen, gespenstischen Witz daraus.« Kilb, Andreas: »Toteninsel der Utopie«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.04.2008, S.

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auch Selbstzweck, Färber ein Sprachrohr des Autors. So hält Färber selbst nach der Desillusionierung an seiner Utopie fest, baut sie sogar aus, in dem er eine neue Stadt unterhalb der Akropolis plant, eine Stadt für Visionäre und Utopisten: »Für Künstler, Wissenschaftler und Philosophen! [E]ine Art Akademie als ganzes Stadtviertel.« (RV: 225) Zwar liegt Montags Leiche am Ende des letztes Aktes »mit den Plänen von Vineta« (RV: 234) bedeckt auf der Bühne, doch die letzte Regieanweisung lautet: »Färber sitzt in seinem Sessel und zeichnet. Es schneit und schneit.« (RV: 235) In der Wiederaufnahme der Schnee-Metaphorik, die Färber für seine utopische Stadt verwendet (»Der Bau einer ganzen Stadt, aber so leise und zart, als falle Schnee auf eine Allee.« RV: 197), setzt Rinke an das Ende ein Signal der Hoffnung. In diesem Kontext ist der Auftritt der Schwestern Seligmann interessant, der Erbinnen des verfallenen Landsitzes. Im Dialog mit ihrer Schwester erinnert sich Rosa an einen jungen Mann: »Im letzten Sommer war hier ein junger Mann […]. Er wollte Dichter werden. […] Er liebte die großen Ideen. Und die zärtlichen Menschen. Nur ich glaube, er wusste manchmal nicht, wie diese Ideen in seine Menschen hineinkriegen in dieser Zeit.« (RV: 229)

Diese Charakterisierung des jungen Dichters liest sich als humorvolle Selbstbeschreibung des Autors, der die »großen Ideen« der Utopie schätzt und sie als »Gegenentwurf zur als mangelhaft empfundenen Wirklichkeit« und aufklärerischen »Vorgriff auf eine bessere Welt«70 einsetzt. Anders als in Republik Vineta liegt der Personenkonstellation in Café Umberto keine strikte Antithetik zugrunde: Anhand dreier Paare, Jaro und Jule, Anton und Paula sowie Lukas und Sonia, die in der Wartehalle einer Agentur für Arbeit aufeinandertreffen, thematisiert Rinke das Problem

36. Peter Kümmel sieht in Vineta lediglich einen Ausweichraum, einen therapeutischen Ort und verkennt ebenfalls die Ernsthaftigkeit der utopischen Elemente: »Die moderne Arbeitswelt, sagt Rinke, verstrickt den Einzelnen so dicht in Scheinzusammenhänge, dass er verrückt werden muss – in seinem eigenen Interesse lieber früher als später. Dann aber braucht er Orte, an denen er weiterhin an großen Rädern drehen darf, ohne Schaden zu stiften.« Kümmel, Peter: »Mit gesträubtem Fell«, in: Die Zeit vom 05.10.2000, S. 49f. 70 Gnüg, Hiltrud: »Vorwort«, in: Dies. (Hg.), Utopie-Entwürfe, S. 9-14, hier S. 9.

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der »›kreative[n] Prekarität‹«71 und führt die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf das Selbstwertgefühl des Einzelnen und die Struktur der Paarbeziehungen vor. Rinke zeigt nicht nur die Verzweiflung und die Trostlosigkeit, die mit dem sozialen Absturz und der existentiellen Unsicherheit einhergehen, wie in Republik Vineta setzt er auch positive Akzente, vor allem durch den arbeitslosen Musiker Jaro, der hier die Rolle des Utopisten übernimmt. Zunächst führt Moritz Rinke Jaro dem Zuschauer in seiner Verzweiflung vor. Die ersten Szenen zeigen Jaro in seiner physischen und psychischen Starre; er hat sich der rigiden und leblosen Bürokratie angepasst. Den Fehlern des Automaten, der die Nummern 2 und 5 überspringt und Jaro so zwei Mal übergeht, ordnet er sich widerstandslos unter. Jaro »starrt auf seine Nummer« (CU: 48), als er das erste Mal bemerkt, dass er übergangen worden ist, der zweite Fehler ruft nur eine geringfügig gesteigerte Reaktion hervor, er »starrt entgeistert auf die Sechs, dann auf seine Fünf.« (CU: 55) Gleichermaßen passiv und unterwürfig steht Jaro dem Automaten und der übergroß in Szene gesetzten Tür gegenüber, Zeichen einer technisierten, unpersönlichen und erniedrigenden Vermittlungssituation: Jaro steht »etwas versunken vor der Tür« (CU: 36) oder »gebeugt vor dem Automaten«, klein und gedemütigt sieht er »hoch zur Nummernanzeige« (CU: 56). Die Bewegung der zahllosen Kunden, die den Warteraum der Agentur für Arbeit passieren bzw. sich in den hohen Zahlen der Nummernanzeige spiegeln – »Kommen und Gehen. Oder zwischen 1 und Tausend und Millionen umhertreibende Zahlen auf der Nummernanzeige. Jaro sitzt immer noch so da.« (CU: 59) – unterstreicht Jaros depressive Starre. Nach einem zaghaften Versuch, mit den Mitarbeitern der Agentur in Kontakt zu treten – »Jaro klopft sehr vorsichtig an die Tür. Nichts passiert« (CU: 60) – wird Jaro erstmals aktiv – »Er […] läuft zur Tür […]. Reißt sie auf.«, fällt jedoch sofort wieder in seine alte Mutlosigkeit zurück: »Erstarrt. – Jaro hält bewegungslos die Türklinke in der Hand. – Schließt die Tür.« (CU: 83) Einen Wendepunkt in Jaros Entwicklung bildet sein Auftritt auf einem Konzert in Delbrück-Brücken. Den Auftritt selbst spart Rinke aus, doch als Jaro in der fünften Szene zurückkehrt, ist er nicht nur physisch angegriffen (»mit Verband um den Kopf«; ebd.), auch sein Verhalten hat sich grundlegend verändert, physisch und psychisch bricht er aus seiner bisherigen Starre aus, tritt gegen den Automaten und kann seine Wut nun auch verbalisieren: »Höllenau71 K. Dörre: Prekarität im Finanzmarkt-Kapitalismus, S. 50. Heinz Bude und Andreas Willisch sprechen in diesem Kontext von der Gruppe der »prekären Individualisten«. H. Bude/A. Willisch: Einleitung, S. 28.

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tomat. Mördermaschine. Delbrück-Brücken! Diese Arschlöcher! – (Läuft zur Tür mit der Nummernanzeige. Reißt sie auf. – Schlägt sie zu. –«; ebd.). Dass Jaro seine Kunst in den Dienst einer neonationalsozialistischen Propagandaveranstaltung stellen und seine physische Integrität preisgeben musste, verändert seine Einstellung nicht nur gegenüber der staatlichen Arbeitsvermittlung, sondern auch gegenüber einer Gesellschaft, in der die Würde des Einzelnen an seine Arbeit gebunden ist, sei diese auch noch so inhuman, noch so sinnlos. »All […] diese ganzen Energien, die da draußen in irgendwelche Güter fließen! Ich werde nie wieder im Call-Center sitzen und irgendwelche Tele-Sachen und Auto-Matten … Polsterpflege! 370-mal die Woche den Räuchero-Grillkamin anbieten! […] Konzerte für Nationalsozialisten!? Nur damit am Ende ›Erwerb‹ dabei rauskommt? Was bitte erwerben denn die Menschen?« (CU: 89f.)

Jaro widersetzt sich nun aktiv der gesellschaftlichen Wertschätzung der Erwerbsarbeit, indem er sich als Almosenempfänger auf die Straße setzt oder andere Arbeitslose davon abhält, Jobangebote des Sprachgenerators anzunehmen. Er erkennt, dass das politische Ziel einer Vollbeschäftigung in einer globalisierten Arbeitswelt nicht mehr verwirklicht werden kann und richtet sich auf ein Leben in der Arbeitslosigkeit ein, gestaltet daher den Warteraum als Wohnzimmer und dauerhaften Existenzraum. Den Höhepunkt in Jaros Entwicklung bilden seine Reden in der 7. und 12. Szene, in denen er die Utopie einer neuen Gesellschaft entwickelt. In dieser Gesellschaft sind Wert und Würde des Menschen von der Erwerbsarbeit entkoppelt: »[W]enn jetzt erst mal Würde kommt und dann irgendwann Erwerb, wir drehen das ab sofort um!« (CU: 91) Ein Selbstverständnis, das auf äußeren Faktoren wie ökonomischer und sozialer Position beruht, ersetzt er durch das Konzept eines verinnerlichten Selbstwertes: »Mir bedeuten die draußen nichts. Ich brauch da keine Anerkennung. […] Wenn ich da sitze, weiß ich, dass ich mich getrennt habe von der Welt.« (CU: 153) Jaro fungiert hier als Sprachrohr des Autors, der sich dezidiert gegen die »Totalisierung von Erwerb als einzigem Wert« ausspricht: »Grundsätzlich funktioniert der Mensch ja seit der Industrialisierung so, dass er sein Leben verliert, um es zu verdienen. Dass es da auch andere schöne Konzepte geben könnte, müssen wir wohl erst allmählich lernen.«72 Jaros Konzept der »Neue[n] Arbeit« (CU: 91) ist in diesem Sinne zu verstehen: Gesellschaftliche Anerkennung und Selbstachtung sollen nicht nur über die Erwerbsarbeit, sondern auch über andere Tätig-

72 M Rinke/F. Wille: Neue Arbeit statt Anerkennungsnotstand, S. 70.

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keiten wie etwa Meditation und Reflexion zu erreichen sein.73 So enthält Jaros Vision der »Neue[n] Arbeit« ebenso wie Färbers Utopie eine entscheidende ästhetische Komponente. Vor dem Nachdruck eines Vermeer-Gemäldes, den er in der Wartehalle aufgehängt hat, formuliert Jaro sein Konzept, das dem Kunstwerk wieder Bedeutung verleihen will, um dem Einzelnen durch die reflektierende Betrachtung der Kunst, durch das (ökonomisch) »interesselose Wohlgefallen«74 am Schönen, zu Wert und Würde zu verhelfen. »Es gibt Tausende von unglaublichen Werken, die hängen überall herum, aber was passiert? Die Kunstwerke sehen die Menschen an! So hängen die überall da, guck mal. (Deutet an, wie ein Werk wartet) Diese Frau, die ganzen Figuren, das ganze Eigenleben dieser Werke, das muss uns ja mittlerweile fassungslos angucken, wie wir vor ihnen herumturnen! […] Wir gehen hier jetzt Bild für Bild durch und geben den Werken ihre Würde wieder. Danach kommt die Musik. Dann die Literatur, sogar Drama. Am Ende haben wir auch Würde.« (CU: 107)

Jaros Versuche, seine Visionen einer besseren sozialen Gemeinschaft in die Tat umzusetzen, scheitern.75 So sitzt er in der fünfzehnten und letzten

73 »Ja, man muss das wieder umdrehen, wir müssen das hinkriegen, dass ZeitHaben total angesagt ist! […] Wir müssen das Zeitverlieren überhaupt erst wieder lernen und zwar so lange, bis es kein Verlieren mehr ist, sonst brauchen wir auch gar nicht mit der Neuen Arbeit anzufangen!« (CU: 108f.) Von einer »Wiederaneignung« der Zeit spricht auch Moritz Rinke in: Ders./F. Wille: Neue Arbeit statt Anerkennungsnotstand, S. 70. Jaros Entwurf liegt nicht nur Rinkes »Feldforschung« zugrunde, die er »auf einschlägigen Ämtern sowie in diversen Milieus, vornehmlich dem der neuen Mitte« betrieben hat: »er hat auch fleißig Bücher gelesen: Etwa Jeremy Rifkins Plädoyer für einen postindustriellen Sektor, in dem gemeinnützige Arbeit anerkannt und entlohnt wird. Oder Wolfgang Englers kleinen Katechismus einer neuen Bildungsidee, nach dem, so versteht es Rinke, die neue Arbeit eine Wiederaneignung der Zeitsouveränität sei, um der Ökonomie, die immer weniger Arbeit schaffe und immer mehr Zeit freisetze, die Macht zu entziehen.« Wengierek, Reinhard: »Glücklich ohne Arbeit«, in: Die Welt vom 08.08.2005, S. 23. 74 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Werke in sechs Bänden, Bd. V, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1966, S. 233-620, hier S. 280-288. 75 Die Anwendung seiner Entwürfe erprobt Jaro zunächst an Jule. Um der »desintegrativen Wirkung der Ökonomie des Geldes« (Bourdieu, Pierre: »Für einen neuen Internationalismus«, in: Ders.: Gegenfeuer, S. 68-76, hier

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Szene des Stückes wieder »wie am Anfang« (CU: 156) in der Wartehalle, scheint erneut der tödlichen Starre verfallen. Auch die Entwicklung anderer Figuren scheint seine utopischen Entwürfe als Illusion zu entlarven. Auf die Demütigungen, die mit sinnlosen Arbeiten verbunden sind, reagieren sie selbstzerstörerisch: Paula mit einem Selbstmordversuch, Anton mit dem Suizid. Doch wie in Republik Vineta setzt auch in Café Umberto die abschließende Regieanweisung ein Zeichen der Hoffnung. »August, der Mann mit dem Papierstapel, kommt. Er trägt einen großen Baum im Arm und stellt ihn mitten ins Amt. Er setzt sich. --- Umberto singt, ganz leise, Paulas Lied.« (CU: 156)

Der Baum, den August aufstellt, bezieht sich auf eine Vision Paulas, in der sie der leblosen Starre der Bürokratie und den sprichwörtlichen Strohhalmen der Arbeitsangebote die vitale Kraft der Natur als Zeichen einer neuen Würde der Arbeitslosen entgegensetzt: »Ich werde jetzt sieben Meter mal sieben Meter große Ölbilder malen und überall hinhängen, da laufen auf den Bildern drei Meter große Menschen rum, aus denen bis zum Bildrand Bäume wachsen … […] Die laufen alle in die Ämter und geben diesen Armleuchtern und Bürokraten, die höchstens 25 Zentimeter groß dasitzen mit ihren scheiß Halmen, diesen Stöckchen, die sie uns immer noch so ganz verwundert hinhalten, weil sie denken, wir sind […] irgendwelche Köter … Wir geben ihnen jetzt lachend ihre kleinkarierten Akten zurück, ihre Formulare und Klauseln, mit denen können sie zusammen mit den Stöckchen Mikado spielen, während Tausende von riesigen Mischwäldern die Ämter verlassen und einfach nur für sich da sind, blühen und groß bleiben. –« (CU: 136f.)

Allen Demütigungen und Verletzungen zum Trotz verweisen die letzten Zeichen des Stückes auf die Kraft der Vision und des menschlichen Mitgefühls. Die soziale Utopie ist damit nicht nur ein »Strohfeuer«76, Jaros Gegenentwurf nicht »bloss rhetorisch« und Café Umberto nicht »voll-

S. 70.) entgegenzusteuern, versucht Jaro durch einen außer-ökonomischen »Kreislauf des Geldes« Jules selbstentworfene Kleider zu verkaufen und ihr ihre Würde wiederzugeben. Doch dieser Versuch scheitert ebenso wie sein Plan, Jule aus ihrer eskapistischen Flucht in die Psychiatrie zu befreien. 76 Hartmann, Frauke: »Jenseits der Hoffnung«, in: Frankfurter Rundschau vom 29.09.2005, S. 15.

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kommen trostlos[…]«77, wie es Frauke Hartmann und Martin Krumbholz formulieren. Dass gerade die Nebenfigur August Kück und nicht etwa Jaro das abschließende Zeichen der Hoffnung setzt, erklärt ein Blick auf Rinkes autobiographisch grundierten Roman Der Mann, der aus dem Jahrhundert fiel, der das Leben der Worpsweder Familie Kück über drei Generationen verfolgt. August Kück ist wie der junge Dichter in Republik Vineta eine versteckte Selbstanspielung des Autors, sein Name verweist erneut auf den aufklärerischen Impetus des Theaterstückes, die erkenntnisfördernde Funktion der Kunst. »Die Kücks mit ck wie Glück gingen davon aus, dass ihre Vorfahren wichtige niederländische Berater vom kürfürstlichen Johann Christian Findorff gewesen waren, der hier mit ihnen die Moorkolonisation […] durchgeführt hatte im Auftrag des Königs von Hannover. Pauls Großvater hielt sich als geborener Kück für einen Urbarmacher und Künstler in einem, eigentlich für den Ideal-Worpsweder. Paul junior lernte sehr früh: Kück, abgeleitet vom niederländischen ›kijk‹, heißt Blick, Einblick, Einsicht, also Erkenntnis.«78

Beide, Café Umberto wie Republik Vineta, sind »großformatige Stücke, […] aufs Ganze zielende Weltentwürfe«.79 Dass ihnen »das Gutgemeinte […] und Plädoyerhafte«80, Sozialromantik81 und Trivialität82 vorgeworfen wird, steht ganz in der Tradition der Bewertung literarischer UtopieEntwürfe, die oftmals als »naiv optimistisch, weltfremd«, als »weltflüchtige[…] Phantasterei«83 diffamiert werden. Es ist daher Reinhard Wengierek zuzustimmen, der die utopischen Perspektiven als Gewinn bewertet. 77 Krumbholz, Martin: »Stillstand, Panik, Rausch«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 01./02.10.2005, S. 36. 78 Rinke, Moritz: Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, S. 45. 79 P. Michalzik: Theater ohne Drama, S. 33. 80 Dössel, Christine: »Sechs Personen suchen eine Arbeit«, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.09.2005, S. 13. 81 Ebd. 82 Vgl. R. Thiele: Anfang und Ende der Arbeit, S. 9. 83 »Gerade da heute utopisches Denken weitgehend dem Ideologieverdacht ausgesetzt ist, als naiv optimistisch, weltfremd diffamiert wird, […] wird eine Rückbesinnung auf das Wesen utopischen Denkens und auf seine vielfältigen Ausprägungen notwendig; und es ist vielleicht notwendiger als jemals zuvor, da noch nie die Menschen so global von Sorge und Angst um die Zukunft der Menschheit erfaßt waren, noch nie ihr Überleben so konkret in der Hand des Menschen selbst lag.« H. Gnüg: Vorwort, S. 13.

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»GROSSE IDEEN«

»Neuerdings richtet sich die Kreativität in den Schreibstuben darauf, Stücke zu erfinden, die zwar auch […] Wunden dramatisch offenlegen, aber obendrein – ein Qualitätssprung – der sterbenden Arbeitsgesellschaft ziemlich pragmatisch Perspektiven offerieren, wie man auch jenseits von Vollbeschäftigung dauerhaft Würde finden kann und Lebenssinn.«84

Indem Rinke in einer Zeit ökonomischer und sozialer Krisen »positive Alternativen«85 aufzeigt, wie sich »Wert« und »Maß« (CU: 90) des Menschen bestimmen, reiht er sich in eine Traditionslinie des sozialen Dramas ein, die unter anderem über die Dramen des Expressionismus86 und Brechts episches Theater führt und die sich mit Walter Hinck als »Theater der Hoffnung« beschreiben lässt, das kein »Theater […] der Fata Morgana« und »der billigen Tröstungen«87 ist, sondern dem Elend Hoffnung abringt.

84 R. Wengierek: Glücklich ohne Arbeit, S. 23. 85 H. Gnüg: Vorwort, S. 14. 86 Zum utopischen Charakter des expressionistischen Dramas vgl. Siebenhaar, Klaus: Klänge aus Utopia. Zeitkritik, Wandlung und Utopie im expressionistischen Drama (= Canon. Literaturwissenschaftliche Schriften, Band 8), Berlin/Darmstadt: Agora Verlag 1982, S. 190-217. 87 W. Hinck: Theater der Hoffnung, S. 194.

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G E S C H I C H T E D EU T S C H L A N D S I M V E X I E R S P I E G E L – JOHN VON DÜFFELS RINDERWAHNSINN ALS BÖSARTIGE FARCE ÜBER DEUTSCHLAND UND DIE DEUTSCHEN BEATA DRYGAŁA

John von Düffels szenisches Debüt war das Stück Oil (1995), das sich mit den radikalen rechten Kreisen in Deutschland auseinandersetzt und ähnlich wie seine späteren Werke, das Problem des kollektiven und nationalen Erbes und damit zusammenhängende Konflikte zwischen den Generationen thematisiert. In einer seiner Aussagen über das Stück formulierte von Düffel sein Theaterkonzept folgenderweise: »[Es ist – B.D.] sicherlich kein Stück, das für die Ewigkeit geschrieben ist, sondern ein Stück, das eigentlich dem Forumgedanken dient, dem Gedanken also, daß das Theater eine Art Forum ist, auf dem Auseinandersetzung über Prozesse gesellschaftlicher Art gesucht wird.«1

Seine Vorstellung vom Theater als Diskussionsforum spiegelt sich in seinen späteren Stücken wider, in denen die Tendenz dominiert, Denkstereotype auf eine übertriebene, beinahe absurde Weise darzustellen, um sie dadurch bloßzustellen und mit ihnen ästhetisch zu polemisieren. Das Stück Rinderwahnsinn gehört dabei zu den meist gespielten Dramen des Autors. Allerdings fand es – höchstwahrscheinlich wegen seiner Komplexität – wenig Aufmerksamkeit bei Kritik und Forschung. Es stellt durch seine Form und auch durch die Art und Weise, wie es mit der deutschen Geschichte umgeht, ein gewisses Novum dar. Gattungsmäßig kann man Rinderwahnsinn als eine politische Farce bezeichnen, die die Geschichte Deutschlands und vor allem historische

1

Schößler, Franziska: Augen-Blicke: Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre, Tübingen: Gunter Narr Verlag 2004, S. 275.

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Mythen2 benutzt, um sich so mit Faschismus und Terrorismus auseinanderzusetzen und auf die Widersprüche in der Denkweise rechter sowie linker politischer Kreise hinzuweisen. Von Düffel fokussiert die Geschichte der Roten Armee Fraktion in Form einer postmodernen Modifikation von Zeichen, d.h. in Form eines Zeichensystems, dem die ursprüngliche Bedeutung entzogen und durch neue ›Inhalte‹ ersetzt wurde. Diese haben dann den Zweck, die Hauptprobleme des Bürgertums und des Staates darzustellen.3 Sławomir Świontek zufolge besitzen solche Zeichen einen speziellen Charakter, der es nicht nur ermöglicht, das zu benennen, was sie normalerweise bezeichnen, sondern auch das zu bezeichnen, wofür sie im Text des Dramas und auf der Bühne stehen sollen.4 Der neue Kontext von solchen Codes, z.B. der Figuren, führt beim Zuschauer zu einer Erkenntnisdissonanz, da er sich als Beobachter auf

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Anzumerken ist dabei, dass der Begriff ›Mythos‹ in diesem Kontext im Unterschied zu seiner traditionellen Auffassung eine ganz andere Bedeutung hat. Levi Strauss erkannte beispielsweise den wahren Wert des Mythos in der Geschichte, die von ihm weitergegeben wird. Der Unterschied zu den heutigen Mythen besteht aber darin, dass die alten Mythen an dem Schaffensprozess nicht beteiligt sind, sondern seinem Ursprung entspringen. Die heutige Auffassung des Begriffs stützt sich einzig und allein auf das Bedürfnis, seinen Gegenstand zu verklären und dort Sinn zu stiften, wo er nicht mehr auszumachen ist. Dies trifft teilweise auch auf die alten Mythen zu, aber es besteht ein gravierender Unterschied – heutzutage kann alles zum Mythos werden, ungeachtet dessen, welchen Stellenwert es hat. Die Tradierung der neuen Mythen hängt daher mit der Gefahr zusammen, Faszination zu verfallen und diese in den Tradierungsprozess einzubeziehen. Dies lässt sich am Beispiel der RAF deutlich veranschaulichen. Die Mythen, die mit der RAF in Verbindung stehen, bilden ein Konglomerat, das von romantischem Heldentum geprägt ist, d.h. sie verklären die politische Gewalt als einen Akt, der seinen Ursprung im Idealismus hat. Das bedeutet im breiteren Kontext, dass sie sich an der Glorifizierung der Terroristen beteiligen. Vgl. Preußer, Hans-Peter: Warum Mythos Terrorismus? Versuch einer Begriffserklärung, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, S. 69-79. Vgl. Nusser, Tanja: »Staatsfeinde, Rebellen, Ikonen. Über ästhetische Stilisierung der RAF oder Das Altern eines ›Mythos‹«, in: Heike Hartung (Hg.), Alter und Geschlecht. Geschichten und Theorien des Alter(n)s, Bielefeld: transcript Verlag 2005, S. 89-109, hier S. 99. Vgl. Świontek, Sławomir: »O strukturalnych związkach i zależnościach tworzyw dzieła dramatycznego«, in: Janusz Degler (Hg.), Problemy teorii dramatu i teatru. Teoria dramatu, Bd. 2, Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2003, S. 111.

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die ihm gut bekannten Konventionen nicht verlassen kann und damit auch aufgefordert wird, sich neuen Bedeutungen gegenüber zu öffnen. Im Fall von Rinderwahnsinn kann man sogar von einer manierierten Zeichenverwendung sprechen, die sich unter anderem in der Gestaltung der dramatischen Figuren äußert. Diese besitzen keine Identität, die von überindividuellen Inhalten ersetzt wird, d.h. von Ideologie und Geschichte, sowie von Mythen, die sich um die Personen herum entwickelt haben. Historische Mythen werden dabei von dem Autor als Folie gebraucht und dermaßen übertrieben dargestellt, dass sie zur Farce werden, deren Träger eben die Figuren sind. Durch die Prozesse, denen die Figuren unterzogen werden, verhindert von Düffel jede Form von Identifikation sowohl mit ihnen als auch mit den Ideen, die sie vertreten. Moray McGowan, der die Funktion des Deutschen Herbstes in Düffels Drama interpretiert, fragt, welche Bedeutung sie für die politische Realität Deutschlands haben. Er betrachtet sie als Mittel zur Fokussierung auf die ideologische Verblendung der Linken, von der sich diese befreien müssen, um im 21. Jahrhundert existieren zu können.5 Die Tatsache, dass die deutschen Dramatiker in den 1990er Jahren auf die aktuelle politische und soziale Problematik aufmerksam machten und unter dem Einfluss von Sarah Kane oder Mark Ravenhill schrieben, scheint diese These zu bestätigen. Das Neue bei Düffel ist aber die Art und Weise, wie er mit dieser Problematik umgeht. Die Fokussierung auf die Geschichte der RAF resultiert aus dem ambivalenten Verhältnis des Dramatikers zum ›Phänomen RAF‹ – einerseits ist es für ihn ein Faszinosum, andererseits entdeckt er in der Geschichte der Gruppe groteske Momente, die er in dem Stück bloßstellt. Er erreicht dies sowohl durch die absurde Gestaltung der Figuren als auch dank der Sprache, die sich aus Ironie, Anspielungen und absurdem Humor zusammensetzt. In einem seiner Interviews betont er, dass nicht der Inhalt der Aussage wichtig sei, sondern ihre Formulierung: »Das Entscheidende bei Streitereien, Diskussionen […] ist nämlich nicht, was gesagt wird, sondern die Art und Weise, wie es gesagt wird, die Haltung, der RedeImpetus, der ganze demagogische Gestus.«6

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McGowan, Moray: »Rinderwahnsinn: Schwundstufe politischer Empfindungen am Ende des ›Deutschen Jahrhunderts?‹«, in: Anne Fuchs/Sabine Strümper-Krobb (Hg.), Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute, Würzburg: Könighausen & Neumann 2003, S. 257-267, hier S. 266. Zitiert nach F. Schößler: Augen-Blicke, S. 277.

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Daher arbeitet der Autor mit einer Sprache die voll von Neologismen, Vulgarismen und Sprachspielen ist. Ein interessantes Beispiel ist die Stelle, an der eine der Figuren ihre Motivation zum Mord erklärt: »Er ist auf mich losgegangen Es war Notdurft, Notwehr, Notgewehr, Gegengewehr Ich musste scheißen, schießen, scheißen, schießen.«7

Es ist eine lebendige Sprache, die andauernden Deformierungen unterliegt. Sie bedient sich an manchen Stellen philosophischer Rhetorik, die von populistischen Parolen unterbrochen wird, um anschließend die Form eines aus Zitaten bestehenden Konglomerats zu bekommen. Somit entzieht ihr von Düffel ihre argumentative Eigenschaft und beschränkt sie auf ihre rhetorisch-demagogische Funktion.8 »Faustersterteil Du hast wirklich ein pottsaumäßiges Geschichtsbewusstsein Zur Strafe für diese faschistoide Äußerung Schreibst du mir 100mal Der Kampf geht weiter Aber sofort« (R: 39)

Dieses Vorgehen ist darauf gerichtet, das fanatische Verhältnis der Figuren zu ihrer Ideologie zu veranschaulichen und hat zum Ziel, sie somit zu entlarven. Durch ihre Gestalt gilt die Sprache auch als Träger der Gewalt, wobei ihr Verhältnis zur Ideologie in Rinderwahnsinn einen parodistischen Charakter besitzt. Der Prozess vollzieht sich auf der ästhetischen Ebene der Sprache, die sich besonderer stilistischer Mittel bedient, die den Eindruck eines Schreis vermitteln. Wenn man die Sprache Düffels hingegen unter dem Aspekt ihrer impressiven Funktion analysiert, erkennt man, dass sie mit der Funktion identisch ist, die sie im politischen Aktionismus der RAF hatte. Das wird beispielsweise sichtbar in der Szene, in der Muttermeinhof Faustersterteil dafür tadelt, dass er auf ihre Prügel mit Schreien reagiert: »Du solltest dich schämen, Schande der Familie Dank kapitalistischer Profitgier nagt Ein Drittel der Weltbevölkerung am Hungertuch

7 8

Düffel, John von: Rinderwahnsinn, Gifkendorf: Merlin Verlag 2000, S. 90 (= im Folgenden: R). Vgl. F. Schößler: Augen-Blicke, S. 277.

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Und du saturierter Scheißhaufen schreist ›aua‹ ›aua‹ Während zahllose Genossen Die Folter der Isolationshaft schweigend erdulden.« (R: 52)

Die Sprache ist das Werkzeug, das die Stimmung des Gefährdet-Seins und die Spannung einführt und zugleich ist sie Träger von Propagandainhalten, die hier nicht nur einzig und allein die Funktion eines Zitats besitzen. Durch die Verortung historischer Inhalte in neuen Kontexten, die weit von der politischen Ebene entfernt liegen, gewinnt die Sprache die Gestalt eines Redeflusses, der an die Sprache eines Wahnsinnigen erinnert. Dies trägt dazu bei, dass die ursprüngliche Bedeutung negiert und sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer oder Leser auf die expressive Funktion der Sprache konzentriert. In Rinderwahnsinn präsentiert von Düffel eine eigenartige Familie, die aus Vertretern zweier Generationen besteht. Vertreter der älteren Generation sind Karlmarx und Muttermeinhof, während die jüngere Generation von Faustersterteil und Hänselundgretel repräsentiert wird. Schon die Namen der Figuren verraten, dass das Thema des Stücks nicht die Familienproblematik sensu stricto ist, sondern ein breiteres Themenspektrum umfasst. In der Tat verbindet von Düffel in seinem Stück mehrere wichtige Aspekte der deutschen Geschichte miteinander. So stehen Faschismus, Terrorismus und die Studentenrevolte im Zentrum seines Interesses. Gleichzeitig ist aber anzumerken, dass die Situierung dieser Probleme im familiären Kreis nicht zufällig erfolgt, da es von Düffels Überzeugung entspricht, dass die Familie als kleinste und grundlegende soziale Einheit über Kräfte verfügt, die sowohl verbinden als auch zerstören können. Seiner Meinung nach fungiert die Familie als die Keimzelle von ›Pathologien‹ wie Faschismus oder Terrorismus.9 Um dies zu veranschaulichen, schreibt er den einzelnen Figuren die Funktion von Repräsentanten verschiedener ideologischer Strömungen zu – Karlmarx ist ein überzeugter Sozialist, der den Faschismus verachtet und eine kritische Position zur Geschichte Deutschlands einnimmt, während sein Sohn Faustersterteil ein intellektueller Neonazi ist, der gegen seinen Vater rebelliert und dessen Vernichtung herbeisehnt. Sein Name weist dabei auf weitere wichtige Aspekte. Gemeint ist das faustische Streben nach der Erforschung aller Weltgeheimnisse, auch auf Kosten eines Pakts mit dem Bösen. Im Falle von Faustersterteil gilt der Faschismus als das Teuflische, dem die Figur verfällt. Die nationalsozialistische Auffassung von 9

Vgl. Beer, Fabian: »John von Düffel. Workaholic, Waterholic, Writerholic«, in: Kritische Ausgabe 15 (2007), S. 5.

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Nietzsches Jenseits von Gut und Böse bestimmt das Verhalten der Figur, die davon überzeugt ist, ein Übermensch zu sein und sich wortwörtlich jenseits von Gut und Böse zu befinden. Muttermeinhof, als eine Anspielung auf Ulrike Meinhof, kämpft seit über 30 Jahren gegen den Imperialismus und den Konsum der bürgerlichen Gesellschaft, während ihre Tochter von nichts anderem träumt als von einer bürgerlichen Existenz, die in ihrem Bewusstsein zur Idylle wird. Auch der Name der Tochter eröffnet weitere Interpretationsdimensionen. Er ist in erster Linie eine Anspielung auf das Märchen der Brüder Grimm, in dem das Motiv der Bösen Mutter, die ihre Kinder aussetzt, ausschlaggebend ist. Von Düffel greift dies auf, indem er Muttermeinhof als diejenige schildert, die ihre Kinder vernachlässigt, um sich der revolutionären Sache zu widmen. Im Geiste der Maxime aus Georg Büchners Dantons Tod – die Revolution frisst ihre Kinder – ist sie bereit, ihre Kinder zu opfern, bevor diese den Märchenfiguren ähnlich, die Revolution fressen. Der Generationskonflikt, der hier eine ideologische Grundlage besitzt, erfolgt nicht nur entlang der Linie Vater-Sohn und Mutter-Tochter, sondern auch zwischen Mutter und Sohn, also auf der Ebene, auf der Faschismus und Terrorismus aufeinander stoßen. Die Gegenüberstellung dieser Art soll veranschaulichen, dass zwei scheinbar gegensätzliche Strömungen in Wirklichkeit dermaßen voneinander abhängen, dass sie ohne einander nicht existieren können.10 Karlmarx und Muttermeinhof versuchen auf eine autoritäre Weise ihre Ideologie ihren Kindern zu vermitteln und sie an sie weiterzugeben, aber sie stoßen dabei auf Ablehnung. Die rebellische Haltung wird besonders bei Faustersterteil deutlich, der sich gegen die Aufteilung der Welt in die Kategorien von Gut und Böse auflehnt und sie als trivial bewertet. Gleichzeitig ist er kein dermaßen starkes Individuum, um seine Rebellion außerhalb der Familie ausspielen zu können. Daher demonstriert er seine Auflehnung nur innerhalb dieses Kreises. Die binäre Weltauffassung gilt in dem Stück als eine Anspielung des Autors auf die Parole der RAF »Mensch oder Schwein«, derzufolge ein Subjekt entweder zu den elitären revolutionären Kreisen gehört oder auf dem politischen Feld passiv ist und demzufolge Verachtung verdient. Faustersterteil schätzt die vom Vater verbreiteten Werte als veraltet und unzeitgemäß ein: »Die eine Idee festhaltend, die dich bewegt Der jeder Sinn und Gehalt längst ausgetrieben ist Und sie bewegt dich doch Ein perpetum mobile der Idiotie.« (R: 25) 10 Vgl. T. Nusser: Staatsfeinde, Rebellen, Ikonen, S. 90.

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Der hier dargestellte Konflikt zwischen Karlmarx und Faustersterteil ist zugleich eine ironische Umkehrung des Generationskonfliktes der 60er Jahre. Bei von Düffel ist gerade die profaschistische Kindergeneration diejenige, die sich gegen die Väter auflehnt, die das Phänomen Faschismus bekämpft haben. Der Hauptpunkt der Anklage ist nicht Passivität, sondern Widerstand, der aus der Perspektive des Sohnes als der Beweis für die Verlogenheit der Vätergeneration gilt. Dies resultiert aus der Tatsache, dass der Vater als Historiker aus dem Kampf gegen den Faschismus finanzielle Profite zieht, was der Sohn folgenderweise quittiert: »Du bist ein Parasit deiner Feindbilder Du bist kein Nazi, sondern, was schlimmer ist Ein Nazi-Parasit.« (R: 24)

Ein ähnlich verachtendes Verhältnis besitzt er zu den Ideen, die von Muttermeinhof vertreten werden, die obsessiv an der Idee der Revolution festhält. Von Düffel zeigt sie als eine engagierte Konspirantin, die in einem T-Shirt mit dem RAF-Logo herumläuft. Er verbindet somit die historische Gestalt mit dem gegenwärtigen Komerzialisierungstrend der RAF, der unter dem Stichwort ›Prada-Meinhof‹ bekannt ist. Er zeigt dadurch sein kritisches Verhältnis zur Trivialisierung der Vergangenheit und ihrer Unterwerfung unter die Regeln der Konsumgesellschaft, die die Geschichte zum popkulturellen Artefakt macht und den deutschen Erinnerungsort in ein wirtschaftliches Produkt transformiert. Es finden sich im Text deutliche Signale dafür, dass die radikale Linke und die Ideologie der Revolutionäre dem Autor als veraltet erscheinen. Dieser Gedanke wird in einer ironischen Szene vermittelt, in der Muttermeinhof RAF-Blanco-Bekennerschreiben ausfüllt, aber gleichzeitig anerkennen muss, dass sie keinen Wert mehr darstellen, weil auf ihnen das alte Logo der RAF zu sehen ist. Das Logo auf den Scheinen fungiert gleichzeitig als eine ironische Anspielung auf die Aktionen der RAF, die nur theoretisch politisch motiviert, aber im Grunde genommen durch Konsum determiniert waren. Somit wird die Dissonanz zwischen der Theorie und der Praxis gezeigt. Im Kontext des Konflikts zwischen Muttermeinhof und Faustersterteil fällt auf, dass der Zusammenstoß vom Faschismus und Terrorismus eine Anspielung auf den Mythos der RAF ist, die im Kampf gegen den Imperialismus gleichzeitig den faschistischen Staat bekämpfen wollte. Inzwischen ist im Stück eine Umkehrung des Stereotyps zu beobachten, da der Neonazi derjenige ist, der die Ideen der Terroristen als das Ergebnis des Wahnsinns und der ideologischen Verblendung entlarvt: »Ihr wollt die Wahrheit der Geilheit nicht wahr haben/weil sie all eure Gedankengebäude zum Einstürzen bringt« (R: 49) 271

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Somit verweist er darauf, dass die Anerkennung der Wahrheit über die Grundlagen des politischen Engagements mit seiner Bloßstellung als die Konsequenz des erotisch fundierten Wahnsinns gleich ist, was ihre Legitimität in Frage stellt. Damit korrespondiert auch der Titel des Stücks, der sich auf eine Geschichte bezieht, die von dem aus der DDR kommenden Vetter aus Dingsda erzählt wird. Von Düffel greift mit dieser Figur das Motiv eines aus der Weite kommenden Wanderers auf, das aus der Operette von Eduard Künneke Vetter aus Dingsda stammt. Während er bei Künneke ein Nachtlager sucht, kommt er bei von Düffel nur, weil er auf die Toilette muss. Sein physiologisch motiviertes Erscheinen spielt dabei eine wichtige Rolle, weil es die Mechanismen des häuslichen Terrors in Bewegung setzt. Während seines Aufenthalts berichtet er beiläufig von seinem Verwandten, dessen Rinderzucht an Rinderwahn erkrankte. Den Titel und das Motiv des Wahnsinns kann man allerdings auf zwei Probleme beziehen. Er beschreibt einerseits die Reaktion Deutschlands in den 70er Jahren auf den Terrorismus und enthält zugleich ein Wertungselement der RAF gegenüber. Daher soll man unter Rinderwahnsinn die Panik verstehen, die in der Gesellschaft entstand und zusätzlich durch die Medien und den Staat selbst verstärkt wurde: »Die Reaktion des Staates, der Medien und der Öffentlichkeit war selbst eine Gehirnerweicherung, ein Verlust der vernünftigen gesellschaftlichen Einschätzungsfähigkeit.«11 Den Zustand der Gehirnerweicherung kann man darüber hinaus andererseits auch als Kritik an den Intelektuellen verstehen, die sowohl in den 30er als auch den 70er Jahren der Ideologie verfallen waren und ihre Fähigkeit des logischen und kritischen Denkens verloren haben. Somit setzt sich von Düffel mit der deutschen Geschichte auseinander. Er tut dies im Geiste der marxistischen Maxime, dass die Geschichte sich doppelt ereigne – zum ersten Mal als Tragödie, ein zweites Mal als Farce.12 Allein der Raum, in dem sich die szenischen Ereignisse abspielen, d.h. der Kreis der Familie, die in der Konvention der amerikanischen Adams Family gezeigt wird, dient dem Zweck, diese historischen Ereignisse im Vexierspiegel zu zeigen, d.h. als Produkte einer Pathologie, die auf dem Gefühl basiert, eine höhere Pflicht zu erfüllen.13 In den ironischen Aussagen von Karlmarx wird dieser Tatbestand auf die deutsche Natur zurückgeführt und die Tendenz zum Faschismus oder Terrorismus als eine Neigung der Deutschen zur Selbstzerstörung veranschaulicht: 11 M. McGowan: Rinderwahnsinn, S. 267. 12 Vgl. T. Nusser: Staatsfeinde, Rebellen, Ikonen, S. 98. 13 Vgl. M. McGowan: Rinderwahnsinn, S. 266.

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»Selbsthaß, Selbsthaß über alles Der Deutsche mag sich nicht, wie auch Der gute Deutsche ist nur als toter Deutscher mit sich selbst zufrieden Deswegen auch dieser irrsinnige Zerstörungswahn des Deutschen Der sich mit mühsamer Verblendung gerade noch über das Fremde hermacht um auf diesem Umweg zur eigentlich ersehnten Selbstzerstörung zu gelangen […] Eine Nation von Suizidfanatikern.« (R: 23)

Die Tendenz zur Selbstzerstörung wird an dem Modell der Familie sichtbar, die nach dem Prinzip der Gegensätze und auf der Grundlage der Gewalt funktioniert, die die einzelnen Figuren nicht nur gegen sich selbst sondern gegeneinander richten. Als ein markantes Beispiel dafür gilt die Figur von Muttermeinhof, die in vielen Aspekten mit Ulrike Meinhof identisch ist, aber gleichzeitig dermaßen übertrieben dargestellt wird, dass man sie als eine Art Karikatur der Terroristin betrachten muss. Die dominierende Eigenschaft, die die Figur konstituiert, ist ihre Neigung zur Autorität, die auf dem politischen Fanatismus basiert. Dieser determiniert ihr Verhalten bis ins Absurde. Das wird beispielsweise in der Szene veranschaulicht, in der sie nach Hause zurückkehrt und Karlmarx mit den Worten begrüßt: »Was hast du heute gegen den Imperialismus getan?« (R: 39) Sie beteiligt sich hierzu an paramilitärischem Sportunterricht, schreibt Flugblätter mit revolutionären Inhalten und sieht in jedem Gespräch eine konspirative Unterredung. Das Stereotyp des politischen Engagements ist in dem Stück allgegenwärtig und unterliegt verschiedenen Deformationen, deren Zweck seine Infragestellung ist. Es soll darüber hinaus als ein widersinniges Paradigma entlarvt werden, nach welchem sich die linken Kreise in den 60er und 70er Jahren richteten. Am Beispiel der Figur von Muttermeinhof wird sichtbar gemacht, wie der theoretische Terrorismus durch den praktischen ersetzt wird. Die Familie wird zum Gebiet, auf dem antiimperialistische Ideen umgesetzt werden und gleichzeitig zum Objekt terroristischer Handlungsmethoden, d.h. zum Objekt der Gewalt, Propaganda und Bedrohung. Die Gewalt, auf der Faschismus und Terrorismus gründen, wird bei von Düffel zu einer Erziehungsmethode, die sich aber anschließend gegen das Subjekt richtet und es in einen depressiven Zustand versetzt: »[Muttermeinhof – B.D.] schwänzt ihre paramilitärische Gymnastikstunde Sitzt nur da, völlig stumpfsinnig Und klebt RAF-Sterne für den Tannenbaum.« (R: 80)

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Zusammenfassend kann man konstatieren, dass die Farce Düffels vor allem gegen die linken Kreise in Deutschland gerichtet ist. Der Autor erfasst die wichtigsten und mythologisierten Aspekte ihrer Geschichte – angefangen mit der Studentenrevolte bis hin zu den Ereignissen des Deutschen Herbstes. Die im Stück dargestellte Familie funktioniert als pars pro toto und verkörpert die wichtigsten Ideologien, die die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert prägten. Anhand des Dargestellten verweist von Düffel darauf, dass diese Ideologien weiterhin innerhalb der Gesellschaft existieren und spricht ihnen durch die groteske Darstellung jede Art von Legitimität ab. Sowohl Faschismus als auch Terrorismus gelten für den Autor als irrationale Paradigmen, die auf irrsinnigen Grundlagen aufgebaut sind und einen destruktiven Charakter haben. Das Fortwirken dieser Ideologien schreibt er der mangelnden Einschätzungsfähigkeit der Deutschen zu. Diese seien nicht in der Lage, eine kritische Position einzunehmen und unterliegen leicht einer Faszination, was aus ihrem Geltungsbedürfnis heraus resultiert und aus ihrer Überzeugung, eine Mission zu erfüllen. Von Bedeutung ist daher die Form der politischen Farce, die Düffel als das Werkzeug gebraucht, um das Irrationale dieser Stellung zu betonen und dies sowohl im Kontext historischer Ereignisse als auch der gegenwärtigen Debatten zum Thema Terrorismus. Der ästhetische Aufbau des Stücks nähert sich dem aktuellen Trend, die Geschichte als ein popkulturelles Artefakt zu benutzen. Im Falle von Rinderwahnsinn ist gerade dies jedoch die Absicht des Autors. Er benutzt die Form als eine Art ironischer Kommentar zu der Tendenz, die Geschichte zu banalisieren. Man läuft durch derartige Einstellung der Gefahr entgegen, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, was am Beispiel von Faustersterteil veranschaulicht wird. Aus diesem Grund kann man das Drama als eine Art modernes Lehrstück betrachten, das auf eine ironische Weise sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart kommentiert.

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FANTASMA THEATER

OHNE

RENÉ POLLESCH PLOT? THEATER MIT THESE! VON

KALINA KUPCZYŃSKA »Wir sind in einem falschen Bühnenbild!«1 – mit diesem Satz wurde Fantasma von René Pollesch im Wiener Akademietheater am 30. März 2009 eröffnet. Ich saß im hinteren Parkett und habe es zwei Stunden lang genossen. Mit viel Lust am Schauen und mit Nachdenken darüber was mir diese Lust verschafft. Es war verblüffend, irritierend, anregend. Es war – anders. Die Andersartigkeit resultierte aus dem für Polleschs Theater typischen Verfahren ironischer Verdichtung, welche für die Diskursivität des Dramentextes im gleichen Maße wie für den multimedialen Einsatz in der Inszenierung zutrifft. ›Anders‹ im Sinn: Jenseits der tradierten Muster gestaltet sich bei Pollesch zudem das selbstreferentielle Moment, in dem nicht nur das Theater auf sich selbst verweist, sondern in dem auch die Schauspieler und der Autor ihre Position thematisieren. Pollesch möchte sich und seine Vision des Theaters in einem Perspektivenwechsel positionieren. Sein Anliegen sieht er darin, auf der Bühne jenseits traditioneller Bühnenästhetik zu fragen: »Wie kann man darstellen, was uns ausmacht?«2 »Uns« – das ist der postmoderne in der westlichen Zivilisation sozialisierte Mensch, das ist oft und vor allem Pollesch selbst, der seine Themen autobiographisch ausrichtet, d.h. darüber reflektieren möchte, was ihn selbst prägt/empört/irritiert. Er konstatiert zum Beispiel, dass eines der Probleme des heutigen Menschen in ei-

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Pollesch, René: Fantasma, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 2 (= im Folgenden: F). Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf das unveröffentlichte Verlagsmanuskript des Stückes, das mir Corinna Brocher vom Rowohlt Theaterverlag freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. René Pollesch im Interview: »Wie kann man darstellen, was uns ausmacht? René Pollesch im Gespräch mit Romano Pocai, Martin Saar und Ruth Sonderegger«, in: Corinna Brocher/Anne Quiñones (Hg.), René Pollesch. Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke – Texte – Interviews, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2009, S. 327-347.

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nem restlosen Aufgehen in »erzwungener Authentizität«3 besteht, wo das Ich keinen intimen Freiraum besitzt, in dem er seine gesellschaftliche Rolle ablegen und nur ein Selbst sein könnte. (An der völlig legitimen Frage, wie ein solches Selbst zu charakterisieren wäre, arbeitet sich Polleschs Ästhetik unermüdlich ab). Diese und andere Crux lässt Pollesch auf die Bühne bringen, nicht aber indem er Charaktere zeichnet, die einen solchen Verlust des Selbst im Rahmen eines Geschehens vorspielen. Das würde seiner Ansicht nach das Ziel verfehlen. Daher verzichtet er auf Charaktere und lässt stattdessen seine Schauspieler meistens jenseits jeglichen konkreten Geschehens aber stets im real vorhandenen gesellschaftlichen Kontext auf sich selbst und auf andere Bewohner dieses Kontextes von außen blicken und diese Crux thematisieren. Wie wird nun der Kontext hergestellt in dem die Darsteller agieren und der dem Zuschauer vertraut ist? Als Kontexte treten bei Pollesch Problembereiche auf, in die der postmoderne Mensch verwickelt ist.4 Er entnimmt sie soziologischen und kulturwissenschaftlichen Studien renommierter zeitgenössischer Denker und bietet in seinen Stücken eine Art diskursive Simulation der Wundstellen der Realität. Der bereits erwähnte Perspektivenwechsel als programmatisches Paradigma wird dank der Strategie der Simulation realisiert. Seine Figuren die keine Charaktere, ja nicht mal Typen sind, legen die jeweilige Stimme gelegentlich ab und stellen Fragen in den Raum, welche den gemeinten Kontext betreffen. So wenig wie die Figuren in seinen Stücken Charaktere sind, ist deren Sprachduktus ein individueller. Die Sprache der Stücke hievt Probleme, die dargestellt werden, auf eine entpersönlichte diskursive Ebene, sie bedient sich unter anderem wissenschaftlichen Tenors der Werke kulturphilosophischer Prägung, welche dem jeweiligen Stück zugrunde liegen. Das Ziel ist nicht, »das gesicherte Wissen eines einzelnen autono-

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Diederichsen, Diedrich: »Maggies Agentur«, in: René Pollesch: PraterSaga. Volksbühne im Prater/Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, hg. v. Aenne Quinones, Berlin: Alexander Verlag 2005, S. 7-19, hier S. 11. In Fantasma wird der Kontext allerdings explizit aus dem Blickwinkel der materialistischen Dialektik betrachtet: »Die Materialistische Dialektik denkt die Einheit von etwas und seinem Gegensatz. Also die Einheit von einem Projekt und seinem Kontext. Wenn jetzt das Projekt eine Theatervorstellung ist, ist das Nicht-Projekt der Kontext dieses Projektes, also die Realität. Das Projekt Theatervorstellung immer weiterzutreiben bedeutete jetzt einseitig zu handeln, weil dadurch der Kontext, also die Realität für immer ignoriert wird.« (F: 27).

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men Produzenten auf die Bühne zu bringen.«5 Der forciert diskursive Duktus, das Patchwork der Sprachebenen soll die Endgültigkeit einer Antwort auf gestellte Fragen fliehen. »Der Text will noch etwas wissen, er ist keine Bilanz und das soll er auch nicht werden.«6 Keine Charaktere, ein sprachliches Patchwork, kein Plot – Polleschs Stücke sind keine Lesedramen. Die Zitathaftigkeit der Sprachebenen ist zwar bei der Lektüre seiner szenischen Texte leichter nachvollziehbar als während der Theateraufführung, etwa weil man sie mit den penibel angegebenen Lektüreempfehlungen konfrontieren kann, aber der programmatische Perspektivenwechsel kommt als Mittel der Distanzierung erst in der Inszenierung auf seine Rechnung. Dazu muss gesagt werden, dass allen Stücken von Pollesch das Element des Skriptmäßigen anhaftet. Das Skript liegt am Anfang der Theaterarbeit nur in grober Fassung als allgemeine Orientierung vor und wächst im Laufe der Konfrontation mit den Darstellern an oder wird gekürzt, eine endgültige Version bekommt es nach der Erstaufführung. Und da in den Inszenierungen der Einsatz der Multimedia, das Bühnenbild sowie das Schauspiel grundsätzlich als getrennte Größen für sich eine hohe Relevanz beanspruchen, muss der Leser seiner Stücke die Textfassung als eine nicht sonderlich aufregende Zusammenfassung des Inhalts wahrnehmen. (Das Skriptmäßige wird zusätzlich editorisch hervorgehoben).7 Mit Blick auf die Polyvalenz der Bestandteile von Polleschs Theater läge es somit nahe, es mit den Kategorien des Postdramatischen zu analysieren.8 Eine solche Kategorisierung hätte allerdings einen Haken. Möchte man nämlich den Aufführungen von Pollesch die für das postdramatische Theater grundlegende Gleichwertigkeit aller Elemente einer Inszenierung bescheinigen, so würde man in meiner Sicht die Funktion der Sprache in diesen Stücken marginalisieren. Denn die Thesen, die in seinen Stücken den Plot abgelöst haben, erzwingen eine verdichtete Diskursivität wie man sie im deutschen Theater seit Brecht wohl selten gehört hat.

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Pollesch, René: »Regieanmerkung zum Text ›Prater-Saga 2‹«, in: R. Pollesch: Prater-Saga, S. 127. Ebd. Vgl. die Edition von Polleschs Dramen im Rowohlt Theaterverlag (Liebe ist kälter als das Kapital, world wide web-slums) sowie im Alexanderverlag Berlin (Prater-Saga). Die Kategorie des ›postdramatischen Theaters‹ verwende ich hier in dem Sinn wie sie von Hans-Thies Lehmann herausgearbeitet wurde. Siehe Ders.: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2005.

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1 . P ha n t a sm a Aber zurück zum falschen Bühnenbild und zu Fantasma, das ich hier als ein Stück mit These à la Pollesch exemplarisch darstellen möchte. Das Hauptsujet wird schon im Titel angekündigt und lässt sich als ein Rekurs auf Reflexionen über das Phänomen ›Phantasie‹ bei Giorgio Agamben und Slavoj Žižek identifizieren. Agamben spekuliert in seinem Buch Kindheit und Geschichte über die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit der Erfahrung. Indem er die Kindheit als »einen Ort der stummen Erfahrung«9 denkt – jenseits der Sprache ergo jenseits der Erkenntnis die ein sprechendes Subjekt voraussetzt – konstatiert er: »Die Erfahrung ist das mysterion, das jeder Mensch durch die Tatsache stiftet, dass er eine Kindheit hat«.10 Als ein anderer Ort der »reinen Erfahrung« (also einer Erfahrung die mit der Erkenntnis nicht identisch ist), gilt für Agamben die Phantasie – hier argumentiert er mit Blick auf Antike und Mittelalter, Epochen der Geistesgeschichte, die in der Phantasie einen Vermittler »zwischen den Sinnen und dem Verstand«, gar ein »Medium der Erkenntnis«11 gesehen haben. Mit dem Aufkommen des Reiches des Verstandes, repräsentiert durch ego cogito, wurde vor allem die »willkürliche und halluzinative Eigenschaft«12 der Phantasie hervorgehoben. Ihr produktiver Elan, ihre kreative Beeinflussung des Denkens geriet in Misskredit. Agamben schlägt sich eindeutig auf die Seite der Phantasie, die, so sein Fazit, ein Mehr an Erkenntnis ermöglicht. Žižeks Beschäftigung mit der Phantasie ist Lacanscher Prägung und zirkuliert um das Begehren. Unser Phantasieren auf ein Objekt hin schafft in seiner Auffassung nicht nur einen Rahmen, in dem wir uns das Ziel der Begierde in den Konstellationen unserer Wahl zurechtdrapieren, sondern es ist eine Grundlage für den mentalen und libidinösen Akt des Begehrens überhaupt. »[E]ine Phantasie konstituiert unser Begehren, liefert seine Koordinaten, das heißt, es lehrt uns wortwörtlich, ›wie zu begehren‹«.13 Žižek erklärt das Funktionieren der Phantasie und ihr Verhältnis zum Begehren mit Rekurs auf Lacans Definition der Kastration – so erscheint das Begehren als »ein Teufelskreis, in welchem ›das Genießen mit Notwendigkeit nur als ein verweigertes erreichbar ist auf der 9 10 11 12 13

Agamben, Giorgio: Kindheit und Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 69. Ebd., S. 75. Ebd., S. 39. Ebd. Žižek, Slavoj: Die Pest der Phantasmen: Die Effizienz des Phantasmatischen in den neuen Medien, Wien: Passagen 1999, S. 20.

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umgekehrten Skala, die für das Gesetz des Begehrens gilt‹«.14 Und da die Begierde ohne Phantasie offensichtlich nicht zustande kommt, schlussfolgert Žižek, dass »Phantasie nicht der Realität entgegengesetzt ist, sondern sie konstruiert«.15 Eine Konklusion, die nicht unattraktiv klingt, und die von Žižek u.a. mit einleuchtenden Beispielen aus jedermanns Sexualleben bekräftigt wird – »mitten im intensivsten Sexualakt kann jeder ganz plötzlich ›aussteigen‹ – ganz plötzlich kann die Frage auftauchen, ›was tue ich hier eigentlich, während ich schwitze und diese komischen Bewegungen ausführe?‹«16 Mehr noch – Žižek zufolge ertragen wir den »Terror der Wirklichkeit« nur weil die postmoderne Wirklichkeit selbst ein Körnchen Idealisierung in sich trägt, wo auch immer wir hinblicken. Das heißt, es wird uns vorgemacht – selbst in der Politik – dass uns in der demokratischen aufgeklärten Gesellschaftsordnung unendlich viele Optionen der Selbstfindung und -verwirklichung zur Verfügung stehen, was Žižek als zentralen Bestandteil demokratischer Ideologie bloßstellt: »Die Notwendigkeit einer phantasmatischen Unterstützung der öffentlichen Ordnung (materialisiert in den sog. ungeschriebenen Regeln) zeugt somit von der Verwundbarkeit des Systems: das System ist gezwungen, Wahlmöglichkeiten zu erlauben, die tatsächlich nie eintreten dürfen, da ihr Auftreten das System desintegrieren würde.«17

Diese zwei Statements zur Phantasie könnte man selbstverständlich noch um einige traditionelle und gängige ergänzen, die in Polleschs Fantasma mitschweben – Freud zum Beispiel hat behauptet, wir Erwachsenen würden phantasieren, weil uns die kindische Lust am Spiel fehlen würde. Und weil Erwachsene die sich dem Spiel hingeben, einen unguten Eindruck machen, verlagern wir diese Lusterfahrung ins Reich der Phantasie.18 Peter von Matt bescheinigt der Phantasie den Status eines Grenzphänomens, das »immer zu Recht verdächtig ist und zu Recht immer

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Ebd., S. 64. Ebd., S. 77 (Kursivierung im Original). Ebd., S. 77f. Ebd., S. 56. Vgl. Freud, Sigmund: »Der Dichter und das Phantasieren«, in: Ders.: Schriften zur Kunst und Literatur, Frankfurt a.M.: Fischer TaschenbuchVerlag 1987, S. 170-179.

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wieder gefeiert wird«.19 Verdächtig ist sie weil sie das Individuum, das ihrem Ruf folgt, »aus der Gemeinschaft werfen kann«. Gefeiert wird sie als »Rausch der kreativen Stunde«,20 als Prinzip der schöpferischen Freiheit. Der kleine Phantasie-Exkurs führt zum nächsten wichtigen Themenkomplex in Polleschs Fantasma, nämlich zur Liebe.

2. Liebe »Die Liebe wird als Bereich ausgegeben, der alle vereint. Kaum redet jemand über die Liebe, fühlen wir uns alle sofort gemeint.« (F: 36) – sagt eine von den Figuren in Fantasma und, so aufgeklärt und zynisch es auch klingt, man kann dem schlecht widersprechen. Warum? Weil wir alle denken, dass wir lieben und geliebt werden können – so Pollesch. Und weil wir alle, unabhängig davon ob wir liebesfähig sind oder nicht, die harten Gesetze der Liebe als etwas Unhinterfragbares hinnehmen, wir können gar nicht anders. »Warum liebst du mich nicht mehr? Und warum kann ich dich das nicht fragen?« (F: 21) – auf diese zwei simplen Fragen läuft die Dramatik der harten Gesetze der Liebe zu. Erstens kann die Liebe eines Tages verschwinden – man stellt eines Tages fest, dass man nicht mehr geliebt wird. Mit den Worten von Roland Barthes handelt es sich dabei um einen »Zwang des Diskurses des Liebenden«: »[I]ch kann meine Liebesgeschichte nicht selbst zu Ende konstruieren: ihr Dichter bin ich nur für den Anfang; das Ende dieser Geschichte gehört […] den anderen.«21 Zweitens ist Liebe etwas, »dessen Medium nicht die Sprache ist«: »Die Liebe spricht nicht mit uns! Deshalb macht es auch keinen Sinn, ihr per sms Fragen zu stellen.« (F: 20f.) (Mit Barthes müsste man präzisieren: der Liebende ist ein Sprechender, er ist nahezu ein manischer Sprecher, der Andere dagegen, an den das manische Sprechen gerichtet ist, das Liebesobjekt, schweigt).22 Also, wir können die Liebe weder herbeireden noch ihre Dauer festlegen. Hinzukommt, dass wir möglicherweise unsere Liebesobjekte als reale Personen aus Fleisch und Blut nur dazu brauchen, um über sie zu phantasieren. Wir 19 Matt, Peter von: »Vom Schicksal der Phantasie. Ein Vorwort«, in: Ders.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur, München/ Wien: Hanser 1994, S. 9. 20 Ebd. 21 Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 193. 22 Vgl. ebd., S. 15.

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lieben sie, so die These des Stücks, nur in der Vorstellung, im Phantasma: »Wir lieben in unserer Vorstellung. Und vielleicht ist es sogar der einzige Ort an dem wir Erfahrungen machen können.« (F: 7) Pointiert wird das Dilemma der Liebe durch einen Kurzschluss mit dem Dilemma des Aufbaus des Kapitalismus in China. Ein solches gedankliches Salto scheint vielleicht auf den ersten Blick nicht gerade zwingend, aber Pollesch lehrt uns, dass dies eine Frage der Gedankenführung ist: »Warum hat die chinesische Führung das kommunistische Projekt aufgegeben und ist zum Aufbau des Kapitalismus übergegangen? […] Das Hauptproblem einer Gesellschaft, die noch kein Ende hat, keinen Körper hat, keine historische Form, die wiederholt werden kann, ist es, ihre Projekte zu limitieren, zu begrenzen. Damit sie einen Körper bekommt, damit eine Gesellschaft eine historische Form bekommt und wiederholt wird. […] Wie machen wir das? Etwas zu begrenzen, ohne auf den Tod warten zu müssen, oder darauf, dass uns das Geld ausgeht. Ja, genau. Wie kommt es, dass du von einem Tag auf den anderen aufhörst, dich für mich zu interessieren? Ich kann dich das nicht fragen, obwohl das doch, wie bei der chinesischen Führung auf dialektischer Vernunft beruht, du wirst es mir nicht sagen können.« (F: 3)

Es ist eine Frage der Formulierung, des schnellen Schnitts (dazu später) und der Anwendung des Lieblingsparadigmas von Pollesch – des Perspektivenwechsels. Dem Kommunismus wie auch der Liebe ist doch ein ständiges Werden inhärent, eine Teleologie, ein Mehrwollen. Es sind unabgeschlossene Projekte par excellence, beide aber sind, wie es bei Pollesch heißt, für Schicksalsschläge anfällig. Statt einem Schicksalsschlag zu erliegen, sollte man aus freien Stücken das Projekt Kommunismus oder das Projekt Liebe noch ›im vollen Gang‹ aufgeben – so werden nämlich beide als vollendet gedacht. Limitiert man den Kommunismus indem man zu seinem Kontext, dem Kapitalismus übergeht, so bekommt dieser einen historischen Körper und kann wiederholt werden. Genauso müsste es doch auch möglich sein, seine Liebe, noch während sie da ist, aufzugeben und sie so als vollendet, nicht mehr durch Zeit und Umstände affizierbar, vor dem Schicksal zu retten. Pollesch konstatiert, dass beides möglich ist – in der Vorstellung. (Die Doppeldeutigkeit des Wortes habe ich aus dem Stück übernommen).

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3 . V o r st e l l u n g Vorstellung im Sinn ›Theatervorstellung‹ wird in Fantasma stets mitgemeint. Theaterspielen als eine Limitierung der Darstellung von Thesen auf neunzig Minuten spielt den programmatischen Perspektivenwechsel vor: »Wir setzen hier doch nicht auf die schlechte Unendlichkeit. Das kennt man ja. Man weiß doch wie die zu Tausenden fliehen aus Vorstellungen, die 24 Stunden dauern. […] Wir retten die Welt, indem wir sie auf 90 Minuten begrenzen, und ihr eine historische Form geben. […] Das hier ist der Ort, an dem wir nicht auf die natürliche Beendigung unserer Leben warten müssen oder auf die ökonomische, bis uns das Geld ausgeht.« (F: 10,11) »[…] Das Script, mit dem wir uns wirklich berühren können, das einzige, ist das, auf dessen letzter Seite ›Ende‹ steht. […] Das ist Theater. Dieses eine Wort ›Ende‹.« (F: 13)

Aus Furcht vor Schicksal flüchte man in die Limitierung – sei es im Kommunismus, in der Liebe oder in der Theatervorstellung.23 Dies erlaubt nicht nur die Wiederholbarkeit des jeweiligen Projekts, sondern auch eine Reflexion über seine Gemachtheit. Und wenn wir schon bei der Gemachtheit sind, wird das Geheimnis des falschen Bühnenbildes gelüftet. Das Bühnenbild ist »falsch«, weil es die Kulisse eines Thrillers abgibt. Die Darsteller, die die Bühne betreten, sollten eigentlich Madame Dubarry, die Liebesgeschichte aus dem gleichnamigen Stummfilm von Lubitsch nachspielen. Einzelne Szenen aus Madame Dubarry laufen auf einer Leinwand, die einen Teil des falschen Bühnenbilds ausmacht. Auf derselben Leinwand sieht man abwechselnd mit Madame Dubarry Dreharbeiten zu einem Thriller, die aber hinter der äußeren Bühnenfassade erfolgen. So ist ein großer Teil der Bühnenhandlung nur mittels Videoaufnahme auf eben dieser Leinwand zu sehen. Auf demjenigen schmalen Teil der Bühne, den man direkt sieht, verlaufen die Schienen einer Geisterbahn, die ab und zu auftaucht, um hinter der Bühnenfassade zu ver-

23 Im Fall der letzteren wird Limitierung auch im finanziellen Aspekt gemeint: »Das was man sieht ist die Form die durch die finanzielle Begrenzung des Projektes entsteht. Sonst würde es hier dauernd immer mehr werden und mehr und mehr. Die Dinge, und alles was man sieht verdankt seine Form nicht der Kreativität und gestalterischen Kraft sondern der Limitierung!« (F: 22).

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schwinden, um – gefilmt – auf der Leinwand zu erscheinen. Der Thriller – als Parole in großen, puffrosa leuchtenden Brokatbuchstaben das Bühnenbild dominierend – ist gar keiner. Es handelt sich nämlich um eine Parodie auf dieses Genre, bekannt als der Film Nackte Kanone 2 1/2. Aus dem Film stammen auch die meisten Liebesdialoge, die durch ihre offensichtliche Affinität zum Hollywood-Pathos Liebesdarstellungen per se persiflieren. Eine Kostprobe: »In meiner Vorstellung bringt sie ein Käsesandwich zum Schmelzen. Dieses zarte wunderschöne Gesicht. Und ein Körper, der auf eine kilometerweite Entfernung ein Käsesandwich zum Schmelzen bringen konnte. Und Brüste, die zu sagen schienen: ›Hey, sieh dir die an!‹. Sie war eine dieser Frauen, bei denen du auf die Knie fallen möchtest, um Gott zu danken, dass du ein Mann bist. Ja, sie erinnerte mich an meine Mutter, genau, da konnte kein Zweifel bestehen.« (F: 7)

Die Persiflage als Zitat lässt den Zuschauer in Fantasma, wo Liebe in ihrer dialektischen Konstitution problematisiert wird, zwischen ungehemmten Lachausbrüchen und einfühlsamer Reflexion schwanken. Die Distanz, vom krassen Pathos und demonstrativen Überzeichnung der Dialogpartien hervorgebracht, löst die Empathie ab. Die Empathie kommt wiederum davon her, dass man die auf der Bühne artikulierten Thesen über die Liebe in der Vorstellung (also im Phantasma), auf sich selbst bezieht: ›Kaum redet einer über die Liebe, fühlen wir uns alle sofort gemeint‹ … Das Bühnenbild bildet hier, wie oft bei Pollesch, eine konkrete materialisierte Variation zum vorgegebenen Thema – und wie in seinen anderen Bühnenproduktionen leistet das Konkurrenzmedium Film einen Beitrag zur Verfremdung. Diese kann subtil – etwa als Technik des schnellen Schnittes – am Text des Stückes realisiert werden, was humoristische Effekte auslöst.24 Oder auch als irritierende Simultaneität von zwei Medien von denen eins die Körperlichkeit als Bild reproduziert und einfriert, und das andere das von unmittelbarer sinnlichen Präsenz der Körperlich-

24 Dazu Pollesch: »Ich glaube die Leute lachen auch darüber, wie die Themen kollidieren. Dass die Schnitte so unrealistisch sind, die Anschlüsse so merkwürdig.« Ders.: »Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt. Pollesch über den Künstler als Vorzeigesubjekt und das Grauen im Theater, befragt von Cornelia Niedermeier«, in: C. Brocher/A. Quiñones (Hg.), René Pollesch, S. 313-318, hier S. 318.

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keit lebt. Diese wird allerdings bei Pollesch so gut wie aufgehoben, denn seine Figuren haben Inhalte, nicht Sinnlichkeit zu transportieren.25 In Fantasma verstärkt der multimediale Einsatz den Effekt des Phantasmatischen – die Geisterbahn die hinter der Fassade des Bühnenbildes verschwindet, fährt auf dem Screen mal auf einer echten Reeperbahn weiter, mal wurschtelt sie sich durch fiktive Leichen des fiktiven Thrillers durch. Mitgeschnitten wird Madame Dubarry und Nackte Kanone 2 1/2 – die Desorientierung erreicht ihren Höhepunkt, man hat das Gefühl, es gäbe keinen Ausgang aus der phantasmatischen Verschachtelung der medialen Querverweise. Theater ohne Plot – das überrascht in der Zeit der Postdramaturgie nicht wirklich. Die ruinöse Praxis eines Stranges der Theaterentwicklung seit Beckett besteht doch gerade darin, zu zeigen, wie restlos sich intaktes Erzählen von Geschichten überlebt habe. Die Frage bleibt nach wie vor, was an Stelle von Plot gesetzt wird, und wie das gemacht wird damit Leute noch ins Theater gehen. Pollesch begegnet der Frage scheinbar simpel – er befragt seine Lebenspraxis und lanciert Themen, die im Grund genommen längst lanciert sind. Kapitalismuskritik, Kritik des Neoliberalismus als einer ökonomischen Haltung, die auf andere Lebensbereiche übergreift, Globalisierungskritik, Verlust des Selbst findet man als flagrante Sujets bei Katrin Röggla, Moritz Rinke, Falk Richter und anderen wieder. Der Trick bei Pollesch besteht darin, dass bei diesen mittlerweile zum Überdruss bekannten Themen an Stelle des Plot- oder Dokumentardramas eine verquerte Form von Thesentheater tritt. Ich habe am Anfang Brecht erwähnt, weil diese (erste) Assoziation nahezu zwingend ist. Dass die Ähnlichkeit in der Handhabung der Stoffe und in der Anwendung von Verfremdungstechniken nur eine grobe und allgemeine ist, fällt einem spätestens dann ein, wenn man Brechts Bezeichnung ›Lehrstück‹ im Bezug auf Polleschs Dramen in den Mund nimmt. Die Thesen, wie sie von Pollesch auf die Bühne gebracht werden, stehen nicht als Lehren da, sondern als Möglichkeiten der Befragung der Wirk25 Vgl. Pocai, Romano: »Was die Grundstruktur deiner Stücke und wohl auch ihren Kunstcharakter ausmacht, ist, dass du die traditionelle Einheit der Bühnenfigur aufbrichst, diese Einheit von Sprechen, Fühlen und Handeln. Du stellst auf der einen Seite reine ›talking heads‹, extreme Sprechautomaten auf die Bühne, die auf der anderen Seite – in den Clips, in den Zwischenspielen – eine davon abgekoppelte Körperlichkeit ausagieren.« Ders.: »Wie kann man darstellen, was uns ausmacht? René Pollesch im Gespräch mit Romano Pocai, Martin Saar und Ruth Sonderegger«, in: C. Brocher/A. Quiñones (Hg.), René Pollesch, S. 327-347, hier S. 329.

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lichkeit. Selbst wenn es nahe liegt, Pollesch als einen linken Autor zu klassifizieren, so stimmt diese Positionierung wieder nur partiell, weil man beim genauen Hinsehen merkt, dass es hier nicht um diese Positionierung geht (abgesehen davon dass ›links‹ heutzutage als politische Kategorie aufgeweicht ist). Beleuchtung von Widersprüchen, Abklopfen von Selbstverständlichkeiten bei ständiger Überprüfung der eigenen Perspektive als eines Regisseurs, der in der kapitalistischen, neoliberalen, globalisierten Ordnung mitmischt – dies wäre wohl eine mögliche Charakteristik dieses Theaterkonzeptes. Die Entscheidung für ein Thesentheater mag aus diesem Blickwinkel gesehen als eine Taktik gegen eine vorurteillose Vereinnahmung durch bürgerliches Publikum gelten, eine Abwehrhaltung gegenüber dem Theater als Konsum, auch und gerade weil man von der Gunst des Theaterpublikums finanziell abhängig ist.26 Trotz starken theoretischen Schwerpunktes der Stücke wäre es jedoch auch falsch, zu behaupten, Pollesch würde Aufklärungstheater betreiben. Zutreffend wäre die Feststellung, dass er hochabstrakte Theorien auf die Praxis bezieht und so nach ihrer Plausibilität fragt. Lieben wir nur in der Vorstellung? Fördert Phantasie Erkenntnis? Ist der chinesische Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus als autonome Entscheidung zu denken, als Folge eines Perspektivenwechsels? Heißt Limitieren immer Form geben – im positiven Sinn?

26 Auch in diesem Punkt äußert Pollesch seine Skepsis: »[D]as ist ein Problem, auf das man im Theater tatsächlich stößt: Werden die Inhalte, die man versucht zu vermitteln, überhaupt gehört? Ist es nicht so, dass sie von einem bürgerlichen Theaterpublikum sofort auf Erfolg oder Misserfolg hin überprüft werden, dass sie reine Geste werden, dass jede Äußerung […] als Witz oder als Ironie oder, wo es um Humanismus geht, als Zynismus neutralisiert werden?« Ders.: »›Wir sind schon gut genug!‹ Ein Gespräch mit René Pollesch. Geführt von Sebastian Huber«, in: Programmheft von »Fantasma«, Wien: Burgtheater 2008, S. 4-21, hier S. 5.

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ARCHÄOLOHISCHE SCHNITTE, KOLLIDIERENDE WUCHERUNGEN: DAS POST-BÜRGERLICHE SCHAUSPIEL DES SELBST IN RENÉ POLLESCHS THEATER DES SAGBAREN JOHANN REISSER N a c h d e m S c hw a n e n g e s a n g d e s B ü r g e r tu m s: Präludium zur Politik der Nicht-Repräsentation »Wo hab ich denn mit dir zu tun? Hm? Wo denn? Das seh ich irgendwie nicht.«1 Diese Fragen am Anfang von René Polleschs Stück Tod eines Praktikanten stellen sich nicht lediglich innerhalb einer fiktionalen Bühnenszene – die Frage richtet sich zugleich an die Institution Theater und deren gesellschaftlich-politische Aussagefähigkeit. Was kann da noch kommen, wenn der Zusammenhang zwischen Subjekten, Gemeinschaft und Repräsentation schon am Anfang eines Stücks an sein Ende gekommen ist? In diesem Fall jedenfalls etwas anderes, als eine in den Schwundformen politisch-weltanschaulicher Begriffe der bürgerlichen Gesellschaft kreisende Trauerarbeit, wie das Jean-Luc Nancys Die undarstellbare Gemeinschaft2 angesichts einer heterogenen, postideologischen Gegenwart vorschlägt – was in weiten Teilen der Theaterwissenschaft noch immer als gegenwärtigste Positionierung zur Darstellbarkeit heutiger Gesellschaft gilt. Statt die Konstituenten verblichener Denkformen melancholisch zu umkreisen, begibt sich Pollesch in Auseinandersetzung mit Prozessen, welche die bürgerliche Ordnung des Politischen ablösen. 1

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Pollesch, René: »Tod eines Praktikanten«, in: Ders.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke – Texte – Interviews, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 121-169 (= im Folgenden: T), hier S. 123. UA: 11.01.2007 in der Volksbühne Berlin im Prater. Nancy, Jean-Luc: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Schwarz 1988.

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»Warum geht immer alles zum größten Teil an der Wirklichkeit vorbei? Und mit Sicherheit jetzt! Und ist doch wirksam.« (T: 124), heißt es in Tod eines Praktikanten. Dialektische Repräsentationsmodelle haben hier ausgedient. Auf radikal veränderte Realitäten reagiert Pollesch mit einer radikalen Änderung der Darstellungsmittel und entwickelte so im Verlauf der letzten zwei Jahrzehnte einen hochoriginellen, eigenständigen Theaterstil.3 Die dabei entstandene Darstellungstechnik sprengt den Rahmen eines klassisch-dramatischen Theaters, sie passt sich aber auch nicht in das Raster einer Ästhetik des Performativen, wie sie Erika Fischer-Lichte verteidigt,4 und lässt sich ebenso wenig mit den grobmaschigen Begriffen eines Postdramatischen Theaters im Sinne Hans-Thies Lehmanns5 erfassen. Wenn nun etwa Diedrich Diederichsen in Polleschs Theater »gewissermaßen ein neues Genre«6 sieht, so lohnt es sich, zu fragen, was die spezifische Funktions- und Wirkungsweise dieses Theaters ausmacht und positive Begriffsmuster jenseits der im wesentlichen durch negative Abgrenzung von klassischen Theatermodellen funktionierenden Zuschreibungen von Fischer-Lichte oder Lehmann zu finden.7 Im 3

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Pollesch in einem Interview: »Ich hab begonnen, mich für meine eigenen Verhältnisse zu interessieren, wie ich arbeite, wie ich lebe, und irgendwann entstand aus dem Material zum Beispiel ›Heidi Hoh‹. Seitdem weiß ich, worüber ich schreiben will.« Ders.: »Ich würde gern in der U-Bahn schreien. René Pollesch über Selbstausbeutung und Ohnmachtsgefühle im Gespräch mit Andreas Lehmann«, in: Ders.: Liebe ist kälter, S. 319-326, hier S. 323. Das Interview erschien erstmals in DAS MAGAZIN im November 2002. Heidi Hoh war das Stück, mit dem Pollesch 1999 am Podewil in Berlin der künstlerische Durchbruch gelang. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 2005. Diederichsen, Diedrich: »Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch«, in: Stefan Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld: transcript 2008, S. 101-110, hier S. 107. Fischer-Lichtes »Ästhetik des Performativen« orientiert sich an Phänomenen des Sichtbaren. Dabei treten poetische Platzhalter und unbestimmte Mythologeme (»Atem«, »Rhythmus«, »Präsenz«) an die Stelle kommunikationstheoretischer Raster. Vgl. Rosner, David: Theater als Musik. Verfahren der Musikalisierung in chorischen Theaterformen bei Christoph Marthaler, Einar Schleef und Robert Wilson, Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2003, S. 14f. Die Eigenlogik der Pollesch-Stücke ist mit diesen Begriffen jedoch kaum zu erfassen. Ein unter Verwendung verschiedenster per-

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Folgenden wird anhand des Stücks Tod eines Praktikanten versucht, das Theater René Polleschs als Gefüge zweier komplementärer Verfahren und eines paradoxal synthetisierenden Modus zu begreifen: Sichtbarkeiten schneiden, Sprachen wuchern lassen, Schauspieler werden.

1 . A r c h ä o l o g i sc h e S c hn i t t e : Von den Sichtbarkeiten und Lesbarkeiten der Gegenwart Aristoteles nennt die »Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung«8 Merkmal der (antiken) Tragödie. In Überinterpretation der aristotelischen Poetik postulierte der italienische Humanist Ludovico Castelvetro 1570 die Einheit von Zeit, Raum und Handlung als verbindlichen Rahmen dramatischer Handlung auf der Bühne.9 Diese, der Etablierung der Zentralperspektive in der bildenden Kunst analog verlaufende Entwicklung hin auf ein Realitätsbild findet ihr Ideal in der geschlossenen, gerahmten Nachahmung der Sichtbarkeit des visuellen Feldes. Dieses wurde in der Folge für große Teile des europäischen Theaters zur verbindlichen Konvention, in Deutschland insbesondere seit den klassizistischen Theaterreformen des Johann Christoph Gottsched im 18. Jahrhundert. Im Zuge der bürgerlichen Aufklärung erhielt dies Theatermodell die Rolle eines gesellschaftspolitischen Erziehungsinstruments – man denke an die Qualifizierung des Theaters als »sittlich-moralische Lehranstalt« zu Zeiten von Goethe und Schiller. Die Läuterung des Zuschauers vermittels Re-Präsentation einer positiv oder negativ paradigmatischen Realität galt auch für das Theater der Folgezeit als Leitidee. Das Gezeigte orientierte sich dabei an dem Konzept des Bildes, Subjektformung sollte sich aus der Position des psychologisch mitfühlenden, hermeneu-

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formativer Techniken derart offensiv textlastiges Theater könnte im Verhältnis hierzu eher als ein post-performatives Theater bezeichnet werden. Lehmanns groß angelegter Entwurf, eine analytische Deskription neuerer Theateridiome zu liefern, muss wegen des weit ausgespannten Panoramas notwendigerweise unscharf werden. Lehmanns Begriffe haben meist den Charakter unscharfer Labels, die viel Material aufnehmen können, als genaue Analyseinstrumentarien einzelner Ästhetiken aber kaum geeignet sind. Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam 2005, S. 25. Vgl. Fuhrmann, Manfred: »Nachwort«, zu: Aristoteles: Poetik, S. 174.

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tisch auslegenden Bildbetrachters heraus vollziehen.10 Einen grundlegenden Bruch mit dieser humanistisch-bürgerlichen Konzeption vollzog Brechts episches Theater. Brecht unterbrach die Geschlossenheit und Ganzheit der Bühnenhandlung durch Kommentare und Verfremdungseffekte. Innerhalb eines situativen Zusammenhangs wurde eine ergebnisoffene Experimentalanordnung erzeugt und die Möglichkeit zur kritischen Differenz eröffnet. Bei Tod eines Praktikanten lautet die erste Ortnennung: »Wir sind hier wahrscheinlich in Wolfgang Tillmans Fotoatelier! Er ist grün und links, deshalb liegt hier auch das ganze Obst rum.« (T: 123) Wenig später heißt es dann aber: »Das hier ist der Boulevard der Dämmerung. Er ist voller Prunkvillen, die sich die verrückten Filmleute hingestellt hatten, als das Geld noch auf der Straße lag. Oder die Plattenbauten, die den verschuldeten Kommunen zu günstigen Konditionen abgekauft werden.« (T: 127)

Und wieder später: »Es ist merkwürdig und kaum vorstellbar, aber das hier ist der Planet der Affen.« (T: 133f.) Das Bühnenbild besteht während dieser Szenen unverändert aus Fotofolien, welche die direkt vor dem Theaterspielort Prater liegende Kastanienallee zeigen, und die öfters gewendet werden, um ihre Rückseite, auf welchem der Kaufpreis der Folien aufgedruckt ist, zu zeigen. Während in den früheren Stücken Polleschs noch feste Handlungsfiguren und Handlungsorte ausgewiesen werden,11 sind Figuren und Orte in späteren Stücken vielfach bestimmt. So auch in Tod eines Praktikanten, wo die Texte von drei, im Script nur durch ihre bürgerlichen Namen gekennzeichneten, Schauspielerinnen gespielt werden.12 Während bei

10 Eine systematische Ausarbeitung einer solchen Position als Weltverständnis der Neuzeit leistete Heidegger in: Heidegger, Martin: »Die Zeit des Weltbildes«, in: Ders.: Holzwege, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 69104. 11 In Heidi Hoh arbeitet hier nicht mehr (UA 2000) wird über den Figurendialog und in der Theater-Serie world wide web-slums (UA 2000/2001) werden zusätzlich über einen epischen Prolog Theaterfiguren und Handlungsort festgelegt. Die Geschlossenheit dieser Räume und Figuren wird hier lediglich innerhalb der Szenen unterwandert. Vgl. Pollesch, René: world wide web-slums, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2003. 12 Diese werden im Script jeweils durch den ersten Buchstaben ihres Rufnamens aufgeführt: ›I‹ für Inga Busch, ›T‹ für Christine Groß, ›N‹ für Nina Kronjäger.

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Brecht die behandelte Realität noch eindeutige Konturen aufweist und Fragen nach richtigem und falschem Leben und Handeln beantwortbar erscheinen, ergeben sich bei Polleschs Theater im Zeitalter des postideologischen Liberalismus andere Wirklichkeitsmuster. Konsum- und Medienmaschinerien haben die Internalisierung von neoliberalen Werten und Lebensweisen vorangetrieben, Selbstregulierungs- und Selbstüberwachungsmuster haben ideologische Zwänge ersetzt. In einer globalisierten, wirtschaftlich flexibel vernetzten Welt ist der Begriff der Arbeit ebenso vage geworden wie Werte der Gemeinschaft. Aus einer solchen Situation heraus eine »geschlossene und ganze« Handlung innerhalb eines festen Realitätsrahmens zu simulieren, erschiene dem Theater Polleschs absurd. Es hieße, vorherrschende Machtverhältnisse affirmativ zu wiederholen, statt Kritik und Alternativen zu produzieren.13 Polleschs Theater seziert nun das Realitätsmodell, welches Glaubwürdigkeit und Relevanz des Gezeigten an seiner Ähnlichkeit zur Sichtbarkeit des visuellen Feldes bemisst und das Sagbare,14 also die Entwicklung gedanklicher Zusammenhänge, diesem unterordnet. Es dekonstruiert damit die Lesbarkeit des Sichtbaren und dessen geschlossenes Gefüge von Handlung, Figurenrollen und raumzeitlicher Zuordnung. Polleschs Schnitte sind politische Schnitte: gesellschaftspolitische, theaterpolitische, subjektivitätspolitische. Sie treiben eine Archäologie der Gegenwart voran, eine Offenlegung latenter Wahrnehmungs-, Handlungs- und Machtstrukturen, die konventionellen Darstellungspraktiken eingeschrieben sind. Solche Schnitte passieren in Tod eines Praktikanten ständig, indem zwischen verschiedensten Szenen, Geschichten, Rollen und Sprechweisen gewechselt wird. Immer wieder werden die kritischen Unterbrechungen konventioneller Darstellungsmuster auch innerhalb der Dialoge explizit gemacht, so etwa, wenn über die Schauspielerin Sigourney Weaver gesprochen wird: 13 Pollesch in einem erstmals am 4./5.05.2002 in der Süddeutschen Zeitung erschienen Interview: »Ich denke nicht, dass wir noch an Darstellungen autonom handelnder Subjekte festhalten können, wenn unsere Lebens- und Arbeitsverhältnisse ganz anders aussehen und Autonomie nur kontrolliert zu haben ist. Die Kontrolle ist das eigentlich Thema für mich.« Ders.: »Ich bin Heidi Hoh. René Pollesch im Gespräch mit Jürger Berger«, in: R. Pollesch: world wide web-slums, S. 341-348, hier S. 342. 14 Die hier vorgenommene Unterscheidung von Sichtbarem und Sagbarem orientiert sich an der Verwendung dieser Begriffe bei Michel Foucault. Hierzu vgl. das Kapitel »Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare (Wissen)«, in: Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 69-98.

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»Es gibt einen Film, Snowcake, in dem wältzt sich Sigourney Weaver im Schnee, und in Interviews behauptet sie dann, sie spielt eine Autistin. […] Hier liegen überall Millionäre auf der Straße und stellen Autisten dar. Was ist denn das?« (T: 127)

Eine solche Darstellungspraxis wird im weiteren Verlauf des Stücks immer wieder verhandelt – ironisch-szenisch wie auch dialogisch-diskursiv: »Ein jeder will mich aus dem Beruf herausdrängen, nur weil ich, Hans Moser, Millionärin bin! Soll ich etwa nicht mehr die Post austragen oder mich im Schnee herumwälzen und die Autistin spielen?« (T: 134) »So eine Darstellungspraxis wie zum Beispiel auch Sigourney Weaver, die eine Autistin darstellt, performt nie den Anderen, sondern nur die Differenz zu dem, was gesund, männlich, heterosexuell und Mittelstand ist.« (T: 152)

Durch derartige metanarrative Sequenzen wird die Funktion der Schnitte immer wieder kenntlich gemacht und auf Produktionsbedingungen der Theaterszenen verweisen. Ein Schnitt tritt häufig dadurch auf, dass ein Gesprächszusammenhang unmittelbar durch die Einführung eines neuen Elements unterbrochen wird. So etwa, wenn ein Dialog über die Darstellungspraxis der Millionäre mit der Einführung einer neuen Rolle und dem gleichzeitigen Verweis auf die Arbeitspraxis am Theater folgendermaßen unterbrochen wird: »Ich bin Hans Moser. Und ich finde so gut, dass an diesem Theater alle umsonst arbeiten. Da ist man doch gerne dabei.« (T: 134) Diese Schnitte sind Abstraktionsarbeit, einzelne Elemente werden dadurch aus ihrem konventionellen Zusammenhang und ihrer gewohnten Lesbarkeit herausgelöst und verhandelbar gemacht. Ziel ist, gängige Theaterjargons und den darin eingeschriebenen »Automatismus der Herrschaftssprache«15, der etwa rassistische, männliche, heterosexuelle Stereotype aufruft und sich dabei aber als universell gültige Darstellungsweise inszeniert, zu unterbrechen. Das gilt insbesondere für Darstellungspraktiken, welche aus vermeintlich guten Motiven heraus versuchen, »das Elend der anderen kreativ [zu] bearbeiten.« (T: 128) Erst in der Zersetzung üblicher Sichtbarkeiten und Lesbarkeiten kann die Frage gestellt werden, wie eine

15 Pollesch, René: »›Ich bin ein Antiromantiker‹. Rene Pollesch über Theorie und Alltag, Liebe und Arbeit, schreiende Schauspieler und rassistische Regisseure im Gespräch mit Wolfgang Kralicek«, in: R. Pollesch: world wide web-slums, S. 357-364, hier S. 360. Interview erschien zuerst 2006 in: FALTER 47 vom 22.11.2006.

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Sprache jenseits der Bevormundung durch eine privilegierte Position aussehen kann. In den Schnitten wird deutlich, dass die verhandelten Problematiken keine einfachen Lösungen zulassen, sondern eine Verflechtung aufweisen, innerhalb derer jede Darstellungsweise ihre inhärenten Perspektiven und lokalen Maßstäbe und Lösungsmöglichkeiten mit sich bringt. Die Rahmen der Darstellungen werden so sichtbar und gemeinsam mit dem Evidenzeffekt des Gezeigten verhandelbar gemacht. Die Situation der gegenwärtigen Gesellschaft und deren vorherrschende Darstellungsapparate durch kritische Schnitte neu zur Verhandlung zu stellen, ist im Theater Polleschs aber nur der erste Schritt. Gleichzeitig erfolgt eine Drehung um die Achse zwischen Sichtbarem und Sagbarem, wobei nun dem Sagbaren das Primat zufällt. Jedoch hat das Sagbare in diesem Theater nicht die Struktur einer alles erklärenden Theorie oder einer für alle Fälle anwendbaren Dogmatik. Das Sagbare bildet vielmehr ein vielfältiges Werden, ein Wuchern aus: ein rhythmisches, ein kommunizierendes Wuchern, ein Wuchern, das neue Kohärenzen erzeugt, ein Wuchern als Forschungsinstrument, als Möglichkeitssinn.

2. Kollidierende Wucherungen: Von den paradoxalen Logiken der Sprachen »Das ist nun mal so. Es ist nun mal so, wie es nicht ist.« (T: 130) Dies ist für Pollesch die paradoxe Grundsituation, die er im Zerschneiden geschlossener Perspektiven freilegt, so etwa bei dem mit ›dokumentarischen‹ Abbildungen von Außenseitermilieus erfolgreichen Fotografen Wolfgang Tillmans: »[D]ie Paradoxien seiner grünen linken Position und seiner Unternehmer-aus-Zufall-Praxis möchte er nicht missen, auch wenn er sie mit der Moral der Käfer besser bearbeiten könnte als mit seinem liberalen Künstlerbild.« (T: 125) Selbstbild und Arbeitspraxis, Darstellungspraxis und eigene Lebenssituation sind nicht miteinander kompatibel. Darauf folgt nun aber keine Klage über den Zerfall subjektiver Einheit. Pollesch interessieren gerade die sich ergebenden Inhomogenitäten, Paradoxien und Kollisionen, er verfolgt deren Mechanismen und Verläufe auf seine Weise: »Dem Begriff der Universalität stelle ich den Begriff der Ganzheit gegenüber, die nur durch paradoxale Logik zu erreichen ist. [P]aradoxe Handlungen verhindern einseitiges Denken. […] Es geht nicht nur um die eine Perspektive, die Geschichte erzählt, sondern man muss gleichzeitig das Gegenteil leben und mit dem Gegenteil handeln. Ansonsten sitzen wir die Widersprüche nur aus, indem wir den Widerspruch des Repräsentationstheaters ausblenden und so getan

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wird, als müssten sich alle dieser Perspektive angleichen, um überhaupt in Kommunikation zu treten. «16

An die Stelle der zerschnittenen, zentralperspektivischen Kohärenzmuster der Sichtbarkeit und der linearen Aussagenlogik tritt die polyperspektivische Kohärenz des Sagbaren, die paradoxale Logik des sprachlichen Sinns.17 Dies wird in der Produktionspraxis so umgesetzt, dass der Probenprozess bei Tod eines Praktikanten etwa mit einer offenen Diskussion theoretischer Texte, Anekdoten oder Fragestellungen, die Pollesch mitbrachte, begann.18 Diese wurden von allen Teilnehmern durchgearbeitet und durch weitere Erzählungen und Assoziationen bereichert. Die anfangs noch relativ getrennten Geschichten wurden mit der Zeit stärker ineinander verwoben. In der von Pollesch dann festgehaltenen Textfassung wurden diejenigen Elemente beibehalten, welche nachhaltig Fragen, Resonanzen und weitere Verknüpfungsmöglichkeiten produzierten. In Polleschs Theater wird der hybride Charakter der Stücke offen gelegt, statt auf die Idee einer genialischen Schöpfung zu rekurrieren. Die hierbei angewendeten Verfahren ähneln jenen, die in der Neuen Musik und in verschiedenen Sparten populärer Musik unter dem Begriff des Samplings, in der bildenden Kunst als Montage und Collage bekannt sind, welche aber für den Bereich der Literatur und in der philosophischästhetischen Diskussion noch immer kaum anerkannt werden.19 Bei einer 16 Pollesch, René: »Lebe im Selbstwiderspruch! Perspektivenwechsel eines Theatergenius – der Autor und Regisseur René Pollesch im Gespräch mit Frank Raddatz«, in: Theater der Zeit 11 (2008), S. 12-15, hier S. 13. 17 Zu einer umfassenden Ausarbeitung der der Paradoxien des sprachlichen Sinns vgl. Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 18 Ich beziehe mich bei dieser Darstellung auf den Erfahrungsbericht von Dorothea Walzer über die Proben von Tod eines Praktikanten aus folgendem Aufsatz: Walzer, Dorothea: »Zur Logik des Experiments im Theater von René Pollesch«, in: Reader zum Kongress ›Experimentalisierung des Politischen‹ am ICI Kulturlabor Berlin, 28./29.11.2008, Organisation: Karin Harrasser, Katja Rothe, hier S. 5-8. 19 Vielfach scheint hier noch eine Position vorzuherrschen, wie sie Adorno in seiner Ästhetischen Theorie entwarf. Adorno schreibt dort: »Montage ist die innerästhetische Kapitulation der Kunst vor dem ihr Heterogenen. […] Damit beginnt Kunst den Prozeß gegen das Kunstwerk als Sinnzusammenhang. Die montierten Abfälle schlagen erstmals in der Entfaltung von Kunst dem Sinn sichtbare Narben.« Ders.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 232f. Ein kreativer Eigenwert wird der Montage

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Fixierung der Rezeptionshaltung auf das Konzept eines geschlossenen, einheitlichen Kunstwerks und auf einen eindeutig lesbaren Sinn müssen die produktiven Potentiale solcher Verfahrensweisen natürlich unentdeckt bleiben. Dem Zuschauer des Theaters René Polleschs wird nun aber gerade abverlangt, sich von diesen Positionen zu verabschieden und sich auf transsubjektive Verhandlung von Heterogenitäten und Alterität in samt all den damit verbundenen Differenzen und Perspektivenbrüchen einzulassen. Bei Tod eines Praktikanten kommt man bei einer groben Zählung alleine auf der Textebene auf über 80 ›Samples‹, die aus unterschiedlichsten Anekdoten, Zeitungsmeldungen, Filmen und Theorietexten herausgelöst wurden. Diese weisen sich trotz ihrer Verwebung in das Theatergefüge weiterhin selbst als heterogene Bestandteile unterschiedlicher Narrationen mit unterschiedlichen Erzählmustern und Wertigkeiten aus. So entsteht eine Textur, innerhalb derer Verbindungen jenseits linearer Narrationen und kohärenter Bedeutungsstrukturen hergestellt werden und Materialien sich gegenseitig thematisieren, befragen und dekonstruieren. Hierzu werden unterschiedliche, oft schnell wechselnde Sprech- und Darstellungsweisen eingesetzt. Ein kritischer Umgang mit Materialien auf semantischer Ebene durch Schnitttechniken korreliert mit vielfältigen, offenen Verbindungen. Textmaterialien werden dabei nicht zu einer illustrativen Bebilderung oder einer allegorischen Abbildung von ›Realitäten‹ oder Konzepten eingesetzt. Die Weise, wie die einzelnen Elemente Verbindungen miteinander eingehen, kann eher mit dem Begriff der ›Poetizität‹ bei Roman Jakobson erfasst werden, welche dann zustande kommt, wenn ein Wort nicht mehr als Repräsentant von Gegenständen oder als Gefühlsausdruck erfahren wird, sondern selbständigen Wert erlangt. Ein solcher Umgang mit Sprache desautomatisiert und transformiert das Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem,20 das Äquivalenzprinzip wird von der paradigmatischen Achse der Selektion auf die syntagmatische Achse der Kombination projiziert. Der Vorrang der poetischen Funktion vor der referentiellen löscht den Gegenstandsbezug nicht aus, sondern macht ihn mehrdeutig.21 Bei Pollesch werden ganze Sprechakte und Spielszenen desautomatisiert. Die Loslösung semantischer Elemente aus ihren konhierbei nicht zugeschrieben: »das Monierte wird abermals zum bloß indifferenten Stoff.« Ebd., S. 233. 20 Vgl. Jakobson, Roman: »Was ist Poesie«, in: Ders.: Poetik: ausgewählte Aufsätze 1921-1971, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 67-81. 21 Vgl. Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«, in: Ders.: Poetik, S. 83121.

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ventionellen Bindungen dient nicht der Herstellung eines stimmungsvollen Schwebezustandes, wie etwa bei lyrischen Dramen des Fin de Siécle. Die desautomatisierten Elemente werden so ins Verhältnis zueinander gesetzt, dass Brüche und Inkompatibilitäten zwischen den einzelnen Perspektiven deutlich werden. Die poetische Funktion erhält durch Ersetzung einer subjektzentrierten Erzählweise durch ein thematisch bestimmtes Montageverfahren eine dekonstruktiv durchleuchtende, archäologische rekonstruierende Funktion. Statt einer psychologische Tiefendimensionen und Werkgeschlossenheit verbürgenden Metaphorik regelt eine funktionale Pseudozusammenhänge und paradoxale Heterogenitäten ausprägende Rhizomatik die Zusammenhänge der Einzelteile.22 Rhizomatische Verbindungen ergeben sich in Tod eines Praktikanten auf allen semantischen Ebenen: zwischen einzelnen Wörtern, Syntagmen, Phrasen und Szenen. Es treten vielfach Permutationen auf (»Planet der Affen«, »Planet der Praktikanten«, »Planet der Fickfrisuren«), Katachresen (»Als er endlich bekam, was er sich immer gewünscht hatte, sich im Grunewald zu erhängen, musst er es mit einem hohen Preis bezahlen.« T: 127), paradoxen Literalisierungen – »Und dann gab es noch diesen Schwangerschaftstest. (arbeitet an einem Rubiks Cube)« (T: 166) – und metonymische Verhältnisse (»T: […] Die Gage, die auf deinem Kleid steht, die musst du doch hochrechnen. N: ZDF-Hochrechnung! T: Die musst du doch mit deinen ZDF-Gagen hochrechnen.« T: 145). Die Funktion einzelner Elemente kann hierbei stets umschlagen zwischen thematischem Bedeutungsträger, permutativem Spielelement und szenischem Kohärenzvehikel.23 Dieses ständige Umschlagen führt nicht zu ei-

22 Vgl. hierzu: Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Rhizom, Berlin: Merve 1977. Als Kriterien für ein rhizomatisches Werk nenen Deleuze/Guattari die Prinzipien der Konnexion (Verbindungspotential unter allen Elemente), der Heterogenität (Dezentrierung auf andere Dimensionen und Register hin), der Vielheit (statt Einheit und Geschlossenheit), des asignifikanter Bruchs (statt signifikanten Verbindungen), der Kartographie (Funktion als offenes Orientierungsinstrument) und der Dekalkomonie (Konstruktion statt Reproduktion) an. 23 Den Begriff des Vehikels verwendete Pollesch etwa in einem Interview: »Mit Boulevardtheater beschäftigen wir uns in letzter Zeit tatsächlich. […] sind Formate, mit denen man rumspielen kann, die man auch als Ersatz für eine Inszenierung benutzen kann. Ein Vehikel für das, was wir zu sagen haben.» Ders.: Ich bin Antiromantiker, S. 357.

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nem absoluten Spiel der Signifikanten.24 Durch die Leitproblematiken des Stücks, welche auch die archäologische Richtung der Dekonstruktion der Materialien vorgeben, entsteht eine offene, vielstellige Kohärenzachse. Diese bewirkt keine dialektischen Auflösungen von Spannungen, sondern das Erscheinen neuer Möglichkeiten des Sprechens und Handelns in der neuartigen Verflechtung von aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelösten ›Samples‹. Innerhalb dieser dekonstruktiven Erzeugung neuer Perspektiven gibt es jedoch auch eine synthetisierende Dynamik. Die ähnlich Fugenthemen eingeführten Anekdoten und Fragen verzweigen sich zwar immer wieder, führen im Verlauf des Stücks aber auch zu einer graduellen Erhellung der Zusammenhänge: Elemente fügen sich zueinander und klären ihr Verhältnis zueinander gegenseitig auf. Eine besondere Rolle bei der Zentrierung um Leitproblematiken spielen Verweise auf Theorien aus den Bereichen Philosophie, Soziologie oder Politikwissenschaften. Diese ermöglichen nicht nur die Herstellung einer kritischen Differenz gegenüber vorherrschenden Konventionen, indem sie alternative Konzepte des Sprechens, der Lesbarkeit und der Handlungspraxis liefern.25 Mit Donna Haraway sucht Pollesch etwa in Tod eines Praktikanten nach anderen Erzählweisen, nach einem »Objektivitätskonzept des verkörperten, verorteten Wissens und der partialen Perspektive« (T: 139). Haraways Konzept der Kommunikation wird auf der Bühne explizit erläutert und performativ erprobt: »I: Die anderen brauchen vielleicht niemanden, der für sie redet. Es wird immer vor allem so getan, als hätten die keine Sprache. […] T: Die haben aber eine Sprache, die ist nur nicht weiß, heterosexuell, männlich und Mittelstand und wird als die geeignetere immer verleugnet. Es ist wie Donna Haraway sagt, über den Regenwald können anscheinend nur Greenpeace und europäische und amerikanische Wissenschaftler reden, aber nicht die, die im Regenwald leben. N: (wälzt sich auf dem Boden) Wenn ich mich hier mit der sogenannten Unterschicht beschäftige, performe ich vor allem die Differenz zum Mittelstand, der im Zuschauerraum sitzt und auf der Bühne.« (T: 151f.)

24 Ein absolutes Spiel beschreibt Deleuze etwa anhand der Krocketpartie mit lebendigen Spielgeräten in Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland. Vgl. Deleuze: Logik des Sinns, S. 84 f. 25 Vgl. dazu Pollesch, René: »Requiem fürs Programmheft«, in: Ders.: Liebe ist Kälter als Kapital, S. 306-310. Darin heißt es: »Theorie muss im Theater immer in Programmheften gefangengehalten werden, sonst würde sie den ganzen Laden auffliegen lassen.« Ebd., S. 306.

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So bilden Theorien eine Art Klettergerüst für die Wucherungen der Materialien. Diese Gerüste werden in den Stücktexten weniger als andere Materialien von Wucherungen heimgesucht. Sie werden stattdessen auf ihre Tragfähigkeit und ihre Potentiale hin getestet, wenn es etwa in Tod eines Praktikanten darum geht, »herauszukriegen, ob nicht andere Geschichten möglich sind. Geschichten des Betrugs, der Lügen und nicht der Wahrheit und des Erfolges, nicht die Geschichten, die schon die Welt erbaut haben, sondern Geschichten von einem mikroskopisch kleinen Haar im Darmtrakt einer Termite, von dem Donna Haraway erzählt, das sich so lange mit seiner Beute unterhält, bis sie ein Gast und schließlich ein adoptierter Verwandter ist. T: Und keine Gegensätze von Selbst und Anderem.« (T: 164)

In solchen offenen Erzählungen ohne dominierende Hierarchien findet das Theater Polleschs Praktiken, wie Subjekte neue Formen der Gemeinschaft erzeugen können, ohne alte Muster von Eigenem und Fremdem, Identität und Differenz zu wiederholen. Theoriekonzepte sind für Pollesch zentrale Instrumente bei dem Projekt, Sichtbarkeiten und Lesbarkeiten umzuschichten. Wenn Polleschs Theater das Ziel verfolgt, »Sehhilfen […] für die Wirklichkeit«26 zu liefern, so kann doch diese neue Form des Sehens nur über eine Neuordnung der Sichtweise durch eine gemeinsame Praxis der Verhandlung des Sagbaren passieren: »Es geht darum, sich gemeinsam mit dem Text zu orientieren.«27 Die paradoxe Logik der Verbindung schafft nicht nur neue Perspektiven des Sprechens und Sehens, sie erzeugt auch die komischen Effekte in Polleschs Stücken, und das in einer gänzlich anderen Weise als in der klassischen Komödie oder bei Mainstream-Filmen.28 So sagt Pollesch 26 R. Pollesch: Ich bin Antiromantiker, S. 358. 27 Pollesch, René: »Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt. Pollesch über den Künstler als Vorzeigesubjekt und das Grauen im Theater, befragt von Cornelia Niedermeier«, in: Ders.: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 313-318, hier S. 314. Interview erstmals erschienen in: Der Standard vom 29.06.2002. 28 Pollesch hierzu: »Die paradoxale Logik steht völlig konträr zur Logik des Hollywood-Films. Der behauptet immer: Alles Gedankliche ist stabil, aber die Gefühle sind labil, und deswegen muss man ein Gefühlsbad nehmen. Seine Dramaturgie ist eine formal-logische des Gefühls. […] Gedanken sind aber nicht so stabil, wie das zum Beispiel ein Hollywood-Drehbuch behauptet. Darum muss man die Perspektive wechseln und eine widersprüchliche Gesellschaft erzählen, wo die Leute paradox denken oder Gedanken wechseln.« Ders.: Lebe im Selbstwiderspruch!, S. 14.

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über seine Stücke: »Ich glaube, die Leute lachen […] darüber, wie die Themen kollidieren. Dass die Schnitte so unrealistisch sind, die Anschlüsse so merkwürdig.«29 Worüber man in Polleschs Stücken lacht, ist vor allem das Scheitern der uns bestimmenden Signifikanten(ketten), deren souveräne Beherrschung wir uns im Alltag ständig einreden müssen. Gerade die Umbrüche des Humors erlauben nun aber weit reichende Forschungen der gelebten Widersprüche, ist doch der Witz nach Freud das »Einanderaufheben von mehreren Gedanken, von denen jeder für sich gut motiviert ist.«30 Solche Verhältnisse gerade interessieren Pollesch: »Ich will etwas über mich wissen: Welche Widersprüche habe ich integriert, und wie funktioniert das.«31 Polleschs Theater bietet diesen Widersprüchen eine doppelbödige Bühne. Es bettet sie ständig in neue narrative und szenische Zusammenhänge ein und zerschneidet ihre Zusammenhänge zugleich kritisch. Schneiden und Wuchern treten am selben Ort zugleich auf und erzeugen eine Vielschichtigkeit, innerhalb derer ein Überschuss an Signifikanten stets einem Mangel an Sinnkohärenz gegenübersteht. Sucht man einen Realismus im Theater Polleschs, so ist er gerade eben in dieser Konstellation zu finden. Die Vielschichtigkeit und Vernetztheit von Problematiken wird nicht auf verständliche Formate herunter gebrochen. Auch bilden die einzelnen Stücke keine unabhängigen Sinneinheiten. Polleschs Stücke entstammen einem seriellen Produktionsverfahren, innerhalb dessen Themen, Motive und Textteile von einem Stück auf das nächste übertragen werden. So entsteht ein als gemeinschaftlicher Forschungsprozess ablaufender work in progress, der in kontinuierlich kollidierender Vernetzung Lebens- und Wissensformen zur Verhandlung stellt.

3 . I m S c h a u s p i e l d e s S e l b s t: Von der gemeinschaftlichen Praxis der W i e d e r h o l u n g d e s D i f f e r e n te n Was in den beiden vorangehenden Teilen hauptsächlich auf der Ebene des Textes beschrieben wurde, ist eine Konzeption, die sich über den Text hinaus auf alle weiteren Elemente des Theaters erstreckt und insbesondere auch auf das Zusammenwirken des Schauspielerensembles. Pollesch versteht sein Theater nicht als Bildertheater oder Dramaturgiethea29 Ebd., S. 318. 30 Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten, Gesammelte Werke, Bd. VI, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 234. 31 R. Pollesch: Ich würde gern in der U-Bahn schreien, S. 321.

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ter, sondern als ein Schauspielertheater32 und versucht Hierarchien aller Art so weit wie nur irgend möglich zu vermeiden. Eine gemeinsame, offene Diskussion und Zusammenarbeit ist das Leitmodell dieser Theaterarbeit. Statt kategoriale Trennlinien zwischen Bühnenfiktion und äußerer Realität, zwischen Rollen und Schauspielern zu erzeugen, fordert Pollesch Kontinuität zwischen diesen Bereichen.33 Hierzu werden von Pollesch Regeln zur Unterbrechung sicherer Verhaltens- und Sprachmuster bei den Schauspielern aufgestellt, die Schauspieler werden aufgefordert, lässiger mit Text umzugehen oder diesen zu sprechen, als ob sie gemeinsam tanzen oder musizieren würden.34 Statt linear-diskursiver Zusammenhänge werden so auch auf Ebene der Performanz musikalischpoetische Muster ausgeprägt, die Zufall, Verspieltheit und Situationskomik Raum lassen und zugleich als solidarische Forschungsarbeit immer wieder die eigene Position vergegenwärtigen.35 Innerhalb dieser Praxis wurde für Pollesch im Laufe der Zeit die Auseinandersetzung mit der Logik des Schauspiels und der Figur des Schauspielers zunehmend zum zentralen Reflexionsgegenstand. Während in Polleschs frühen Stücken Machttechnologien und Subjektivierungsprozesse in der neoliberalen Arbeitsrealität über eine kritische gebrochene Darstellung dieser Verhältnisse vollzogen wurde, vollziehen spätere Stücke eine offenere Verhandlung rhizomatisch verbundener Materialien. Einzelne, umgrenzte Lebensrealität tritt nun verstreut auf, während Diskurse über Darstellungsformen und -politiken Zentrierungsachsen bilden. Dabei werden auch zunehmend Elemente aus dem Film-, Theater- und Schauspielermilieu ›gesampelt‹. In Tod eines Praktikanten tauchen etwa die SchauspielerInnen Sigourney Weaver, Maria Schell, Hans Moser und Orlando Bloom und die Filme Gorillas im Nebel, Planet der Affen, Snow Cake, Der Millionär und Citizen Kane auf. Die derart thematisierten, verschiedenen Erscheinungsformen des Theatralen werden auf immer neue Weise in ihren realitätserzeugenden Effekten ver32 R. Pollesch: Ich bin Antiromantiker, S. 262. Als Konsequenz hieraus gibt Pollesch seine Texte nicht für die Aufführung durch andere Regisseure frei, sondern produziert stattdessen am laufenden Band neue Stücke mit unterschiedlichen Schauspieltruppen u.a. in Berlin, Wien und Stuttgart. 33 Vgl. R. Pollesch: Der Ort, an dem die Wirklichkeit anders vorkommt, S. 315. 34 D. Walzer: Zur Logik des Experiments, S. 7. 35 R. Pollesch im Interview: »Das Theater vergisst, dass es selbst Teil der Realität ist. […] Und da halte ich es schon für richtiger, auch die eigenen Produktionsverhältnisse als Realität wahrzunehmen und zu reflektieren.« Ders.: Der Ort, an dem Wirklichkeit anders vorkommt, S. 315.

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handelt und dienen zugleich als Handlungsvehikel. Positionen und Figuren können hierbei schnell wechseln oder auch von einem Schauspieler zum anderen übergehen: »Bei mir gibt es keine Figuren, in die bestimmte Inhalte gegossen werden, sodass die erste den Abend über eine These vertritt, die zweite die Gegenthese dazu, während die dritte wieder etwas anderes verkörpert. Vielmehr gibt es einen Text, der zusammen gedacht wird […].«36

Diese Form praktizierter Solidarität37 bewegt sich somit immer zwischen Rollenspiel und kritischer Distanz. Für Diedrich Diederichsen ist es gerade dieser besondere Umgang mit Theatralität, der Polleschs Theater zu einem »neue[n] Genre«38 macht: »[D]ie Darsteller befinden sich erkennbar nicht in einem alltäglichen Modus der Selbst-Identität, doch ihre Präsenz ist auch überhaupt nicht vom Begriff des Schauspiels gedeckt. […] Sie sind konstitutiv nicht ganz sie selbst wie sie auch nicht jemand anders sind.«

Die aufgehobenen Gegensätze von Privatsphäre und Berufsphäre, von Zuhause und Konsumwelt, von Berufsrolle und privater Subjektivität werden also mit theatralischen Mitteln wiederholt. Eine solche Diagnose trifft auf frühe Stücke wie Heidi Hoh zu, sie ist für spätere Stücke aber noch mal wesentlich auszuweiten.39 Denn hier wird nun der Schauspieler darüber hinaus zum ständig kritisch reflektieren hybriden Syntheseprinzip und zur Synthesefigur für die vorgenommenen Schnitte und Wucherungen. Der Schauspieler liefert die Möglichkeit für die Zerlegungen und Neuzusammensetzungen, er ist die Kippfigur, die die Grundsituation in Tod eines Praktikanten bewältigen kann und muss: »Das ist nun mal so. Es ist nun mal alles so, wie es nicht ist.« (T: 130) Wenn sich Pollesch kritisch von der Vorstellung eines autonom für sich entscheidenden Sub-

36 37 38 39

R. Pollesch: Wie kann man darstellen, was uns ausmacht?, S. 328. R. Pollesch: Ich würde gern in der U-Bahn schreien, S. 331. D. Diederichsen: Maggies Agentur, S. 107. R. Pollesch in einem Interview 2008: »Selbstentfremdung […] ist auch eine Chance. […] Das heißt, es gibt auch die Perspektive, wo man sein Leben verlässt und das Leben eines anderen führt. Man macht in dem fremden Leben Erfahrungen, die man nicht machen würde, wenn man auf dem authentischen Selbst beharrte. […] Das zu leben, was nicht das Eigene ist, wäre also eine Befreiung.« Ders.: Lebe im Selbstwiderspruch!, S. 15.

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jekts in Opposition zu einer ihn umgebenden Welt im bürgerlichen Theater verabschiedet, so scheint er im Schauspielmodell eine angemessene Figur des Selbst im Sinne einer Technik des Selbst40 zu finden. Selbstbehauptung und Widerstand gegen Fremdbestimmung und Selbstentfremdung entstehen aus eben dieser Position, die von dem Scheincharakter des eigenen Tuns weiß, dieses zugleich verfolgt und es kritisch reflektiert. Im Schauspieler entsteht so eine Verdopplung einer nachbürgerlichen Lebenssituation als Verinnerlichung des Außen, als Einfaltung des Anderen in ein hybrides Selbst. Dies bedeutet keine Zweiteilung des Einen, sondern die Verdopplung des Anderen, keine Reproduktion des Gleichen, sondern die differenzielle Wiederholung des Differenten. Der Schauspieler findet das Außen, den Anderen, in sich und kann zugleich in kritische, forschende, spielerische Distanz dazu treten. Die paradoxalen Problematiken, die unsere Gesellschaft und Wirtschaft kennzeichnen, werden auf diese Weise nicht einfach abgebildet, sondern in ihrer paradoxalen Struktur auf paradoxale Weise gedoppelt, wobei zugleich die latenten Ideologien, Welt- und Subjektzurichtung, geschnitten und neu arrangiert werden. So wird aus der vertrauten Realität auf der Bühne ein ergebnisoffenes, in seiner heterogenen Verzweigtheit fortlaufendes Schauspiel, das in seiner Vermeidung einfacher Lösungen und trügerischer Schlüsse fortwährend neue Formen der Gemeinschaft und der Subjektivität erforscht: »Mein Leben ist nicht zu bewältigen, und davon lebe ich!« (T: 168) lautet der letzte Satz in Tod eines Praktikanten und schließt so das paradoxal zwischen Innen und Außen sich fortwebende Möbiusband aus Schnitt, Wucherung und Schauspiel.

40 Vgl. G. Deleuze: Foucault, S. 131-172.

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DAS

INTERTEXTUELLE

IM POSTDRAMATISCHEN

TIM STAFFELS WERTHER

SPIEL

THEATER. IN NEW YORK

IZABELA DZIAŁAK

In seinem dramatischen Schaffen greift Tim Staffel oft auf literarische Stoffe zurück, was schon in den Titeln der Stücke signalisiert wird. In den Werken Werther in New York, Jeanne d’Arc, Schloss oder Titanic bearbeitet der Autor Motive, Symbole und Mythen, die eine lange Vorgeschichte haben und immer wieder in unterschiedlichsten Kontexten, auch durch die Popkultur umerzählt und umgedeutet werden. In diesen Deutungsprozessen bekommen die alten Stoffe eine neue veränderte Form und Funktion im kollektiven Bewusstsein. Die Möglichkeit, das Bekannte neu zu deuten und dadurch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu zu erfinden, scheint für Staffel eine wichtige Aufgabe des gegenwärtigen Theaters zu sein. In einem Interview sagt er: »Ich halte das Theater für keinen ›originären‹ Ort, und ein Theatertext ist für mich nicht notwendigerweise Literatur, sondern die Vorlage oder Matrix eines […] Gesamtkunstwerkes. […] Insofern mag ich im Theater auch Stoffe, die nicht originär sind, sondern eine lange Vorgeschichte haben, die ich mitdenken und ›mitbearbeiten‹ muss.«1

In diesem Beitrag wird das Drama Werther in New York2, das 2000 am Badischen Staatstheater Karlsruhe uraufgeführt wurde, auf seine intertextuelle Beziehung zu Goethes Die Leiden des jungen Werthers und anderen Werken hin untersucht. Beleuchtet werden das Bild des Künstlers und seine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Die Analyse soll aufzeigen, dass der Autor durch die intertextuelle Referenz die Rolle und 1

2

Staffel, Tim: »Gespräch mit Tim Staffel«, in: Nils Tabert (Hg.), Playspotting 2. Neue deutsche Stücke, Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2002, S. 63-74, hier S. 71. Staffel, Tim: »Werther in New York«, in: N. Tabert (Hg.): Playspotting 2, S. 77-150 (= im Folgenden: W).

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IZABELA DZIAăAK

existenzielle Lage des Künstlers und die Unmöglichkeit seiner persönlichen und künstlerischen Entwicklung in der gewalttätigen Gesellschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts thematisiert. Eingegangen wird dabei auf die für das postdramatische Theater charakteristischen formalen Mittel, darunter die Verwendung neuer Medien, die zur Verfremdung szenischer Parameter und semiotischer Ebenen beitragen und zur intensivierten Wahrnehmung führen.3 Dadurch wird eine wichtige Funktion des postdramatischen Theaters erfüllt: der Zuschauer wird gezwungen, seine Erkenntnisschemata zu revidieren, eine neue Perspektive anzunehmen. Gefragt, wie intensiv seine Beschäftigung mit Goethes Roman war, antwortet Staffel: »Wahrscheinlich habe ich in meinem Leben kein Buch häufiger gelesen. Und für meine Begriffe ist Werther in New York auch sehr nah an den Werther Goethes heran geschrieben.«4 Die intertextuelle Beziehung zwischen Werther in New York und Goethes Werk kann nach der Nomenklatur Gérard Genettes als Hypertextualität bezeichnet werden, also als »Beziehung zwischen einem Text B und einem Text A, wobei Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.«5 Die Natur, Intensität und endlich die Funktion der intertextuellen Relation zwischen den Werken Goethes und Staffels lassen sich jedoch nicht leicht klassifizieren. Nach den von Ulrich Broich und Manfred Pfister vorgeschlagenen Kriterien für die Intensität intertextueller Verweise ist die Relation zwischen beiden Werken nicht eindeutig als stark intertextuell einzustufen.6 In ihrem Modell vermitteln Broich und Pfister zwischen zwei miteinander rivalisierenden Konzepten der Intertextualität: dem poststrukturalistischen, in dem jeder Text als Teil eines universalen Intertextes betrachtet wird, und dem strukturalistischen Modell, in dem der Begriff der Intertextualität ausschließlich auf bewusste und markierte Verweise bezogen wird. Die Autoren unterscheiden zwischen den qualitativen und quantitativen Kriterien für die Intensität von Intertextualität, dabei betrachten sie die ersten als gewichtiger. Nach folgenden qualitativen Kriterien weist der Text Werther in New York eine ziemlich intensive intertextuelle Relation zum Goethes Roman, also zu seinem Prätext, auf: 1) Die kommu3 4 5 6

Vgl. Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 144. T. Staffel: Gespräch mit Tim Staffel, S. 71. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 14. Pfister, Manfred: »Konzepte der Intertextualität«, in: Ulrich Broich/Manfred Pfister (Hg.), Intertextualität. Formen – Funktionen – anglistische Fallstudien, Tübingen: Niemeyer 1985, S. 1-30, hier S. 25.

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nikative Relevanz, also der Grad der Bewusstheit des intertextuellen Bezugs ist beim Autor wie beim Rezipienten zweifelsohne hoch; 2) Der Text verweist selektiv auf einen individuellen Prätext. Nach folgenden Kriterien charakterisiert die intertextuelle Relation zwischen den Texten jedoch ein wesentlich schwächerer Intensitätsgrad: 1) Im Drama wird die Intertextualität weder thematisiert noch problematisiert, es artikuliert sich also keine autoreflexive Bewusstheit der Intertextualität; 2) Obwohl zwischen dem Text und dem Prätext eine gewisse semantische Spannung besteht, lässt sich nur schwer eine intendierte ironische Relativierung des Prätextes oder Unterminierung seiner ideologischen Voraussetzungen feststellen. Staffel nimmt den großen Roman Goethes als Vorlage für sein Drama, überträgt in seinen Text die Helden und übersetzt die Geschichte des berühmten Liebesdreiecks in die Sprache des postdramatischen Theaters. Er unternimmt keinen Versuch, die textuelle Differenz ironisch direkt auszuspielen, thematisiert an keiner Stelle die Beziehung des Textes zum Prätext. Goethes Werk wird nicht einmal genannt, Staffels Figuren sind übrigens keine lesenden Menschen – überhaupt keine Menschen im vollen Sinne, da sie keine psychische Struktur, keine persönliche Identität aufweisen. Die Bearbeitung des goetheschen Stoffs zielt auf keinen Fall auf eine ironische Auseinandersetzung mit dem Roman ab. Nach Małgorzata Sugiera dient das Verweisen auf den Prätext bei Staffel nicht der Vervollständigung der Interpretation, sondern der Annullierung von Bedeutung des Prätextes für die Interpretation der Handlung. Denn es ist nicht wichtig, woher das zitierte Element stammt, sondern dass dieses Element kein originelles ist und dass es mehrmals am Prozess der zwischenmenschlichen Interaktion und kulturellen Kommunikation teilgenommen hat.7 Werther in New York bezieht sich nicht nur auf den Roman Goethes, sondern auch auf andere Prätexte literarischer und nicht literarischer Art. Werther sieht Lotte zum ersten Mal auf dem Balkon in Verona beim aufziehenden Gewitter. Die Szene verweist auf Romeo und Julia, aber nicht auf das Werk Shakespeares, sondern auf dessen Verfilmung von Baz Luhrmann aus dem Jahre 1996. Werthers Freund, der in Leiden des jungen Werthers den Namen Wilhelm trägt, heißt bei Staffel Picard, genauso wie der Kapitän aus der amerikanischen Fernsehserie Star Trek. Die zweite Frauenfigur neben Lotte heißt Zoe, was wiederum auf den Film Killing Zoe, einen Actionfilm aus dem Jahre 1994 verweist, der für eine explizite Gewaltdarstellung bekannt ist. Tim Staffel bagatellisiert den in7

Vgl. Sugiera, Małgorzata: Realne światy/możliwe światy: niemiecki dramat ostatniej dekady (1995-2004), Kraków: Księgarnia Akademicka 2005, S. 145.

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tertextuellen Hintergrund solcher Elemente, wie zum Beispiel die Bedeutung des Namens Picard: »Ich mache mir als Autor wahrscheinlich erschreckend wenig Gedanken über die Verweisungsmöglichkeiten eines solchen Namens. Ich brauchte einen Namen für die Figur. […] Nun wollte ich aber nicht, dass jemand in meinem Stück Wilhelm heißt […] und suchte also für Wilhelm einen lässigen, ›coolen‹ Namen.«8

Die Verweise auf bekannte Werke der Popkultur kann man nach Małgorzata Sugiera als ›leere‹ intertextuelle Referenz9 bezeichnen. Diese ›leeren‹, mehrdeutigen, fragmentarischen, intertextuellen Bezüge beeinflussen wesentlich die Rezeption der dargestellten Welt, deren Struktur bruchstückhaft, inkohärent erscheint und sich jedem eindeutigen Interpretationsversuch entzieht. Staffel dekonstruiert den Dialog als das wichtigste Darstellungsmittel im traditionellen Drama.10 Seine Figuren kommunizieren sich in einer Sprache, die der Zuschauer nur mühsam und fragmentarisch zu dechiffrieren vermag. Die Handlung entwickelt sich auf keinen Fall linear, es gilt keine chronologische oder logische Ordnung der nacheinander folgenden Ereignisse, Gespräche und Monologe. Zahlreiche intertextuelle Bezüge sowohl Verweise auf Videoprojektionen, die auf riesigen Bildschirmen auf der Bühne dargestellt werden, verwirren den Zuschauer zusätzlich und fordern von ihm nicht nur das intellektuelle sondern auch das emotionelle Engagement. Das Bühnengeschehen überschreitet übliche Erwartungshorizonte. Die Figuren überraschen durch ihre Verhaltensweisen, Handlungen, Reaktionen. Nur Werther erweist sich als dem Original treu. »Das Stück ist ja fast eine Form der Interpretation oder vielleicht besser Transformation, was die ganze emotionale und äußere Entwicklung Werthers betrifft.«11 Seinem Helden verlieh Staffel ähnliche Charakterzüge, die man gewöhnlich mit Werther Goethes in Verbindung setzt. Die intertextuelle Referenz wird im Falle Werthers völlig realisiert: Staffels Figur kann als eine gegenwärtige Version des goetheschen Helden verstanden werden: Als »Bildermacher« (W: 81) ist er ein empfindsamer, schöpferischer Denker, der an der Realität scheitert. Werther ver8 T. Staffel: Gespräch mit Tim Staffel, S. 70. 9 Vgl. M. Sugiera: Realne światy/możliwe światy, S. 145. 10 Borowski, Mateusz: W poszukiwaniu realności: przemiany formy dramatycznej końca XX wieku a nowe mimesis, Kraków: Księgarnia Akademicka 2006, S. 239. 11 T. Staffel: Gespräch mit Tim Staffel, S. 70.

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tieft sich allmählich in seine innere Welt. Auf Bildschirmen sieht der Zuschauer in Form einer Videoprojektion Bilder, die Werthers Phantasie schafft. Die Grenze zwischen der objektiven, äußeren und der psychischen Wirklichkeit verschwimmt. Werther versucht seine künstlerische Identität zu finden und sie in der fragmentarischen, schizophrenen Welt zu bewahren: »[I]ch kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt.« (W: 84) Er ist sich dessen bewusst, dass die Suche nach einer kohärenten, inneren Welt zum Scheitern verurteilt ist und seine Integration in die äußere Welt unmöglich macht. Andere Figuren- Picard, Zoe, Albert und Lotte haben längst auf die innere Kohärenz verzichtet oder eine solche nie angestrebt. Sie sind konformistisch, machen sich keine Gedanken über ihre existenzielle Lage und vollziehen nicht Werthers Identitätssuche nach. Picard nennt ihn »todgeweihten kleinen Schwärmer« (W: 85) und sagt über ihn: »Er spielt Gott und erfindet die Welt. Ich meine, Himmel und Erde und Tiere und Lotte und Werther und diesen ganzen Scheiß. Ich glaube kaum, dass er das überleben kann, weil ihm nämlich jeglicher Bezug fehlt …« (W: 85)

Werther nimmt sein Außenseitertum wahr und macht seine Seele dafür schuldig: »Die Seele ist mein Kleiner Tumor, er sitzt in meinem rechten Schläfenlappen. Man könnte ihn herausoperieren, dann würde ich aufhören, dich zu lieben. Und hätte keine Seele mehr.« (W: 120) An einer anderen Stelle sagt er »Mein Herz hat einen Tumor. […] Ich brauche eine Herzoperation.« (W: 93) Die Seele ist auch für seine Schwierigkeiten in der Kommunikation mit den Anderen verantwortlich. Werther ist in seiner solipsistischen Welt gefangen,12 kann sich selbst jedoch nicht kennenlernen. Am Ende des ersten Teils erscheint auf einer großen Projektionsfläche in der Mitte der Bühne Werthers Gesicht. Er trifft sich selbst als einen Fremden, was sein Identitätsgefühl zusätzlich schwächt. Es folgen weitere Videoprojektionen, auf einem Bildschirm erscheint die Sequenz: »Werther reißt sein Maul nach oben auf, Stiller Schrei, ein schwarzer Vogel stürzt aus dem nichts in sein Maul.« (W: 113) Der Held sieht der Projektion erschrocken zu und fällt in Ohnmacht. In dem zweiten Teil kehrt er auf die Bühne mit einer Kamera in der Hand. Er nimmt die Handlungen anderer Figuren auf, aber der Zuschauer sieht auf den Bildschirmen Szenen, die sich vom Bühnengeschehen wesentlich unterscheiden. Die Szenen kommen aus Werthers Phantasie und sind voll von Gewalt, Blut und Tod. Der fragile Held unternimmt einen Versuch, sich der Umgebung anzupassen und will mit anderen Figuren einen Bank12 Vgl. M. Borowski: W poszukiwaniu realności, S. 233.

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überfall durchführen. Der zweite Teil des Stücks ist sowohl auf der Ebene des Bühnengeschehens als auch auf der der Videoprojektionen durch Szenen des Banküberfalls dominiert. Langsam wird klar, dass der Banküberfall nur ein Spiel ist, die Aufnahmen ähneln einem Actionfilm oder einem Videoclip. Auf den Projektionsflächen erscheinen brutale Szenen: Die Figuren berauben eine Bank, schießen auf Bankangestellte und aufeinander, ergreifen die Flucht und werden gefahndet. In ein paar Szenen wird Werther erschossen. Der Held sieht seinem Tod zu und bekommt in der Reaktion darauf einen Panikanfall. Von da ist er überzeugt, dass er bald erschossen wird. Plötzlich fängt er an zu bluten, alle versuchen ihm weiter einzureden, es sei nur Farbe. Die Unmöglichkeit zwischen dem Realen, dem Vorgestellten und Empfundenen zu unterscheiden wird für Werther unerträglich. Er trifft eine Entscheidung: »Ich schieße auf meine Bilder. […] Alles ist so still. So ruhig meine Seele.« (W: 141) Seinem Tod auf einem Bildschirm zusehend, hält sich Werther »Alberts Pistole über das rechte Auge […] drückt ab und bricht mit seinem Bild zusammen. Blut auf der Projektionsfläche. […] Werther liegt am Boden tot.« (W: 150) Die Szenen aus dem Banküberfall multiplizieren sich auf den Bildschirmen, dabei ist keine der Versionen wahrscheinlicher als eine andere. Durch dieses Verfahren entblößt der Autor den fiktionalen Charakter der dargestellten Videosequenzen, die nichts mehr als Simulationen sind. Von dem Moment an wird es klar, warum der Handlung des Dramas das Motto »Alles Film« (W: 79) vorangestellt wurde. Staffel thematisiert in seinem Werk die allmächtige Position und allgegenwärtige Präsenz der Medien in der Welt und konfrontiert den Zuschauer mit den Mechanismen, mithilfe deren Medien sein Wirklichkeitsbild beeinflussen und manipulieren. Dadurch richtet er die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Bruchstückhaftigkeit der äußeren Wirklichkeit, die uns zugänglich ist. In diesen Verhältnissen muss ein empfindsames, schöpferisches Individuum in der Konfrontation mit der Realität eine Niederlage erleiden. In dem Sinne nimmt das Stück Staffels einen Dialog mit dem Werk Goethes auf: Beide Helden scheitern an der Realität, ihre »Gefühlswelt gerät durcheinander, und es kommt zu extremen Erlebnissen oder Handlungen.«13 Im Goethes Roman steigt Werther aus der gesellschaftlichen Ordnung des sozialen Lebens, an dem er nicht teilzunehmen vermag, und verzichtet auf das eigene Leben. Der Selbstmord kann als seine individu-

13 T. Staffel: Gespräch mit Tim Staffel, S. 67.

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elle Rebellion gegen die Wirklichkeit gedeutet werden.14 So ist auch der Suizid des Helden Staffels eine Art Auflehnung gegen eine schizophrene Welt, in der Erfahrungen keine Authentizität, keine physische Dimension haben. Aus diesem Mangel an Authentizität erfolgt eine extreme Gewalttätigkeit, die Werther erfährt und trotz Versuche nicht akzeptieren kann. Mit dem Selbstmord unternimmt Werther den letzten, tragischen Versuch, seiner Existenz einen Wert zu verleihen. Paradoxerweise ist der Selbstmord als eine selbstzerstörerische Tat auch eine Art Gewalt. Das Drama thematisiert die Gewalt in verschiedenen Aspekten und verweist auch in dieser Hinsicht auf den Roman Goethes, in dem Selbstmord zum ersten Mal zum Thema eines literarischen Werkes geworden ist.15 Für Staffel ist die Gewalt in verschiedensten Formen ein Grundthema seines Schaffens: »Ich glaube, dass der Mensch von Haus aus ein gewalttätiges Wesen ist und diese Gewalt in den verschiedensten Formen, innerhalb der unterschiedlichsten Strukturen auch ständig auslebt. […] Gewalt ist ein zirkulierender Prozess […].«16

14 Vgl. Martin, Ariane: Die kranke Jugend. J.M.R. Lenz und Goethes »Werther« in der Rezeption des Sturm und Drang bis zum Naturalismus, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 27. 15 Vgl. ebd. 16 T. Staffel: Gespräch mit Tim Staffel, S. 65.

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JUNGE STÜCKE AM ENDE DER GESCHICHTE? DIE DRAMATIK JUNGER AUTORINNEN UND D E R V E R L U S T DE R U T O P I E ANDREAS ENGLHART

»Ihr lieben 68er Danke für alles Ihr dürft gehen […] Aber bitte ruft uns nicht an Wir rufen an Vielleicht rufen wir an« (Peter Licht)

1. S y s t e m z w ä n g e u n d S p i e l p l a n p o l i t i k d e r T h e at e r Die Preisverleihung zum Heidelberger Stückemarkt 2010 fand nicht statt. Oder besser gesagt, sie ging nicht mit dem üblichen Ergebnis zu Ende, denn die Jury, die von einer bekannten Theaterkritikerin, einem Dramaturgen und dem letztjährigen Preisträger gebildet wurde, verweigerte das Urteil und verteilte die Preissumme zu je gleichen Teilen zwischen den nicht gerade erfreuten teilnehmenden jungen DramatikerInnen. Der Grund für den Eklat läge, so die Erklärung der Jury, in der mangelnden individuellen Exzellenz der Theatertexte, zudem wolle sie einen »Impuls für eine Diskussion über die Förderkultur deutschsprachiger Dramatik« geben.1 Die Auseinandersetzung hatte eigentlich schon ein halbes Jahr früher auf dem Berliner Symposium »Schleudergang Neue Dramatik«, veranstaltet von den Berliner Festspielen 2009, begonnen. Dort ging es vor allem um die Frage, welchen Sinn es mache, junge AutorInnen

1

Berger, Jürgen: »Kein Preis wird kommen. Förderkultur überdenken: Der Heidelberger Stückemarkt endet mit einem Paukenschlag«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.05.2010, S. 12.

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schnell zu fördern, um sie sogleich wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen. Der Heidelberger Eklat kann auch als Kritik des Systems an sich selbst interpretiert werden. Denn der Stückewettbewerb und das Berliner Symposium sind Teil eines Fördersystems aus Autorentheatertagen, Stückemärkten, Stipendien und Ausbildungsstudiengängen für Szenisches Schreiben, die in erster Linie eine mehr oder weniger homogene Gruppe fördern, wenn nicht produzieren, bei der gar nicht so klar ist, ob und in welcher Form sie vorkommt und wer ihr eigentlich angehört. Es ist die Gruppe der Jungen AutorInnen im deutschsprachigen Theater, deren Existenz und Kohärenz auf den ersten Blick ihrer Bezeichnung von außen geschuldet sind. Damit ist neben den Intendanzen, Dramaturgien und der Theater- sowie Literaturwissenschaft vor allem die Theaterkritik gemeint, die Nis-Momme Stockmann als »Bewertungskaste«2 bezeichnet. Also diejenige Instanz, bestehend aus der exklusiven, keineswegs großen Gruppe der KritikerInnen der überregionalen Tageszeitungen, wie die Süddeutsche Zeitung, und Fachzeitschriften, wie Theater heute, die bestimmt, was oder wer im Theater auf der Höhe der Zeit ist, welche Regisseure, Texte, Theaterästhetiken aktuell sind etc. Die Jungen AutorInnen, die etwa zwischen 20 und 35 Jahre alt sind und erst wenige Stücke veröffentlicht haben, sind als relativ kohärente Gruppe aus den Spielplänen der wichtigsten Theater heute nicht mehr wegzudenken, sie werden von den jeweiligen Theaterleitungen ganz bewusst integriert und sind ein wichtiger Teil der Spielplanpolitik. Generell scheint für die Theater politisches Agieren unumgänglich zu sein, Spielpläne sollten daher, will die Theaterleitung über einen längeren Zeitraum hinweg reüssieren, intelligent angelegt sein. In der Spielplanpolitik muss zwischen den Erwartungen und Einstellungen der relevanten Instanzen Theaterkritik, regionaler Politik und Publikum ein Weg gefunden werden, den man einen selbstbewusst-diplomatischen nennen kann. Die Spielpläne eines guten, durch die öffentliche Hand geförderten Theaters sollten dementsprechend Klassiker wie Shakespeare und Ibsen, Publikumsschmeichler wie Yasmina Reza, gut eingeführte zeitgenössische Autoren wie Lukas Bärfuss und eben auch Stücke junger AutorInnen aufweisen. Nicht nur die Theatertexte, sondern auch Images junger AutorInnen werden gewinnbringend eingekauft, sie haben im Ganzen eine Funktion, sind Teil des existierenden Theatersystems mit seinen nicht ge2

Stockmann, Nis-Mome: »Eine Gesellschaft auf dem BewertungsmachtHighway«, in: http://www.nachtkritik-stuecke2010.de/component/content/ article/40-nis-momme-stockmann/362-stockmann-ueber-kritik-und-diebewertungsmacht-im-kapitalismus

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ringen strukturellen Zwängen. Marlene Streeruwitz spricht in diesem Zusammenhang von »Effizienzideologie« und der »Logik eines Binnenmarkts«3. Diese Strukturzwänge sind für die jungen AutorInnen Glück und Unglück zugleich, denn sie haben zwei gravierende Folgen: Zum einen werden Junge AutorInnen sehr schnell bekannt. Talente werden kaum mehr zufällig ›entdeckt‹, sondern direkt aus der Ausbildung in die Praxis gezogen. Seit einiger Zeit sind sie auffallend häufig AbsolventInnen der Studiengänge für Szenisches bzw. Kreatives Schreiben in Berlin, Leipzig und Hildesheim. Zum anderen werden Junge AutorInnen aber auch ganz schnell nicht mehr ›gebraucht‹ und verschwinden so abrupt wieder von der Bildfläche, wie sie bekannt geworden sind. Junge AutorInnen im Theater sind also ›in‹, sie werden frühzeitig entdeckt, oft gefördert, beworben, gespielt und leider dann meist nicht mehr aufgeführt. Andrea Breth drückt dies in ihrer direkten Art etwas drastischer aus: Das Theater brauche »eben Frischfleisch für das Aufmerksamkeitsdiktat. Also müssen immer mehr und immer jüngere Regisseure und Autoren auf die Rampe getrieben werden«.4 Das liegt offensichtlich am kursierenden Image der Jungen AutorInnen und an der Spielplanpolitik. Ein weiterer Grund könnte das Fördersystem selbst sein, das zur weitgehenden Selbstreferenz tendiert, zumindest deutet dies Claus Peymann an. Für ihn gibt es »in keinem Land der Welt so viele Förderprogramme für Dramatiker wie in Deutschland«, das sei »der größte Quatsch«. Und dann setzt er etwas unfair gegenüber jüngeren KollegInnen nach: »Die schreiben alle nur, damit sie gefördert werden. Die werden dreimal in irgendeiner Box gespielt, um dann zu verschwinden.«5 Dieses Verdikt ist sicher übertrieben, aber tendenziell nicht ganz falsch. Man benötigt JungautorInnen als lebendige Motoren eines subventionierten Förder- und Ausbildungssystems. Und man will sie jung, frisch und möglichst unbeschrieben. Sie legitimieren den Innovationsanspruch, dem das Theater als Teil des modernen Kunstsystems genügen muss und der sich im Theater in der Regie und in der Vorstellung von neuen Theatertexten unter anderem in den Attributen »grenzüberschreitend« und »radikal« zum Ausdruck bringt. Die/ der junge AutorIn sieht sich jedoch mit dem grundsätzlichen Problem 3 4

5

Streeruwitz, Marlene: »Regie kann machen, was sie will«, in: die tageszeitung vom 11.05.2010, S. 11. Breth, Andrea: »Wohin treibt das Theater?« Rede, gehalten auf der Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt am 21.10.2004, in: http://www.theaterportal.de/andrea_breth_wohin Zit. nach Laudenbach, Peter: »Fördern und verschleißen. Die Nächsten, bitte: Jungautoren beim Berliner Stückemarkt«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15./16.05.2010, S. 14.

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konfrontiert, dass sowohl auf formaler wie auch auf inhaltlicher Ebene kaum mehr Grenzen zum Überschreiten vorhanden sind.

2. S o u v e r ä n e F o r m e n , i n t e l l i g e n te Konstruktionen und der Verlust der i d e a l i st i sc h e n B r i l l e Man kann – etwas übertrieben – behaupten: Es ist gar nicht mal so schwierig, als junge AutorIn, wenn man einen der renommierten Ausbildungsstudiengänge in Berlin, Leipzig und Hildesheim absolviert hat, im Theater gespielt zu werden. Aber es ist kaum möglich, als junge AutorIn konstant über vielleicht einen Zeitraum von zehn bis zwanzig Jahren zu ›überleben‹. Ein prominentes Beispiel für jemand, der das geschafft hat, wäre Dea Loher, deren ›Karriere‹ seit den 1990er Jahren andauert und die momentan wohl eine der spannendsten Autorinnen der ›mittleren‹ Generation ist (Elfriede Jelinek würde demnach für die ›ältere‹ Generation stehen). Auf dem guten Weg zu einer halbwegs etablierten Existenz als TheaterautorIn, also zu dem Status zwischen JungautorIn und der schon durchgesetzten mittleren Generation, scheinen etwa Lukas Bärfuss oder Roland Schimmelpfennig zu sein. Man muss Breths Kritik am System nicht durchweg teilen, insbesondere wenn es um die Qualität der Stücke geht. Die Regisseurin vermisst »Nachhaltigkeit« – ein Begriff aus der Ökologie – in Bezug auf die Pflege der Autoren und der Theatertexte. In den Verlagen würde »kaum noch mit den Autoren gearbeitet«, man gewänne den Eindruck, als »würden die Stücke nur in größere, schönere Umschläge umgeschichtet und dann wie sie im Verlag ankamen weiter verschickt«. Aufgrund von Geld und Zeitmangel fände ein Lektorat meist nicht statt. Breth verbindet diesen sorglosen Umgang in den Verlagen mit der Praxis des Regietheaters, so etwas wie ein Lektorat übernähmen »doch dann eh die Dramaturgen und Regisseure, die ja sowieso mit dem Text machen, was sie wollen, ihn umschreiben, ergänzen, collagieren, bis zur Unkenntlichkeit streichen – warum sich da um ein Wort, einen Satz kümmern, Stunden über ihm sitzen?«6 Andrea Breths zynische Sicht überrascht nicht, steht die Regisseurin doch bekanntermaßen für ein zwar nicht werktreues, aber weitgehend texttreues Theater. Diese entspricht jedoch nicht ganz der Realität, wenn es um die formale Qualität der Stücke geht. Es ist erstaunlich, wie professionell die meisten Jungen Stücke anmuten, wie gut sie gebaut und

6

A. Breth: Wohin treibt das Theater.

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geschrieben sind. Zumindest trifft dies auf der formalen Ebene zu: Geboten wird die ganze Bandbreite des heute in Theatertexten und auf der Bühne Möglichen zwischen dramatischen Formen des Well-made-play und des nicht mehr dramatischen Theatertextes. Offensichtlich haben die jungen AutorInnen in ihrer Ausbildung einiges gelernt. Zum einen die traditionelle Form, worauf Anja Hilling hinweist: »Wir kommen alle von Oliver [Bukowski]; da gibt’s die Figur, den Konflikt, den Höhepunkt, und überm Schreibtisch hängt eine Kurve«.7 Zum anderen sieht man den Texten an, dass die jungen AutorInnen selbstverständlich auch postmoderne Theaterästhetiken wie Das postdramatische Theater von HansThies Lehmann gelesen und verinnerlicht haben. Für Marlene Streeruwitz, die über ihre Erfahrung als Jurorin des Stückemarkts der Berliner Festspiele berichtet, ergibt sich aufgrund der Strukturzwänge ein Rezept für die dramatische Form der Stücke junger AutorInnen: »Ein solches Rezept führt geradewegs in die Art des Stücks, das dann etwa die Hälfte der Einreichungen ausmachte. Ohne Ortsangaben werden aufs mindeste reduzierte Repliken aus der Kleinstfamilie geliefert. Diese Repliken werden nach dem, im deutschen Sprachraum so geliebten, tschechowschen Dialogmuster angeordnet. Replik folgt Replik. Es gibt keine Kommunikation der Figuren miteinander. Aus dem Fehlen von Rede und Gegenrede ergibt sich die äußerste Interpretationsweite für die Regie.«8

Auch wenn eine gewisse Polemik in Streeruwitz’ Argumentation, die nicht nur gegen die Effizienzlogik einer Marktstruktur des Theaters, sondern auch gegen die Ermächtigung der Regie und des Regietheaters opponiert, nicht auszuschließen ist, deutet ihre Bemerkung doch auf die routinierte Integration dramatischer Formen in postdramatische Dramaturgien und umgekehrt. Der kleinste gemeinsame Nenner aller Stücke scheint darauf zu verweisen, dass die Utopie in der Entwicklung der dramatischen Form tatsächlich in die Heterotopie der Gleichzeitigkeit der (post)dramatischen Mittel und Verfahren übergegangen ist; dramatisches Geschichtenerzählen und dramatischer Dialog gehen oft direkt über in nicht mehr dramatische Sprachspiele, -partituren und -flächen. Dies könnte so etwas wie eine Gleich-Gültigkeit als Haltung zur dramatischen Tradition wie zu den Ansprüchen einer formalen Avantgarde reflektie7

8

Der Dramatiker Oliver Bukowski war bis zum Februar 2010 Leiter des Studienganges Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Zitat Anja Hilling aus: »Interview mit Franz Wille«, in: Theater heute 4 (2005), S. 53. M. Streeruwitz: Regie.

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ren. Junge AutorInnen sind sich bewusst, dass auf formaler Ebene annähernd alle Grenzen überschritten wurden und bedienen sich aus dem reichhaltigen Fundus der langen Geschichte traditioneller wie auch avantgardistischer dramatischer oder nicht mehr dramatischer Formen. Mit aller Vorsicht kann somit die These vertreten werden, dass junge AutorInnen im Bau bzw. in der Konstruktion ihrer Stücke auffallend stilsicher sowie professionell in der Kenntnis und Verwendung ihrer formalen Mittel sind. Sie präsentieren sich über ihre Texte als, wie man so sagt, bereits ›mit allen Wassern gewaschene‹ Autoren. Diese Beobachtung trifft jedoch keineswegs für die inhaltliche Ebene zu. Formale Souveränität scheint sich mit einer gewissen Lebensunerfahrenheit und zuweilen einer inhaltlichen Blutleere zu paaren, was kluge Gedanken und intelligente Konstruktionen keineswegs ausschließt. Vielleicht entsteht dieser Eindruck dadurch, dass die Texte junger AutorInnen so fertig, so ohne größere dramaturgische Fehler veröffentlicht werden, man vermisst den Charme der naiven AnfängerInnenversuche. Wie in der Systemtheorie und der Evolutionsbiologie oft diskutiert, kann kulturelle wie biologische Entwicklung nur stattfinden, wenn Fehler gemacht werden. Im Formalen könnte daher frühe Könnerschaft eher zum Stillstand führen und eine weitere Entwicklung verhindern. Wie sieht es diesbezüglich auf der inhaltlichen Ebene aus? Eigentlich müsste die Lebensunerfahrenheit junger AutorInnen die Grundlage für soziale sowie politische Fantasien und persönliche wie gesellschaftliche Bewegungen sein. Wenn man jung ist, sieht man die Welt eher durch eine idealistische Brille, es herrscht revolutionäre Aufbruchsstimmung, Jugend steht für Sturm und Drang, man richtet den Blick mehr auf das Wünsch- und weniger auf das Machbare, man wendet seine Aufmerksamkeit gerne den Utopien zu und vermeidet harte Realitäten.

3. Die Sehnsucht nach g e s e l l s c h a f t s p o l i ti sc he r F an t as i e u n d Ut o p i e Umso mehr erstaunt, dass der Aufbruch bei den jungen AutorInnen verhältnismäßig oft als dezidierte Unmöglichkeit des Aufbruchs zur dramatischen Sprache kommt. Auf der formalen Ebene reflektiert sich diese in der wenig motivierten, kaum legitimierten situativen Wahl der dramaturgischen Form und der dramatischen Mittel. Derzeit scheint auf der formalen Ebene alles möglich, realistische, sozial- und hyper-realistische Dramaturgien, Erzähltheater, Grotesken, absurde Stücke, Diskurstheater und eben traditionelles Dialogtheater, gerne auch als Komödie. Inhaltlich fällt hingegen ein Thema auf: Der Verlust der Utopie bzw. der Möglich316

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keit, eine Utopie überhaupt formulieren oder gar fantasieren bzw. denken zu können. Junge AutorInnen präsentieren erwartungsgemäß Inhalte, die sich nicht so sehr von den Mentalitäten, Vorstellungswelten und Gedanken der Gleichaltrigen unterscheiden. Wenn man noch jung ist, dann wird gerne das zum Thema, was man schon kennt, und das ist: 1. Das engere gesellschaftliche und lebensweltliche Umfeld, also Freunde und vor allem die Liebe. 2. Das persönlich-mediale Umfeld für die Generation, die mit einer Rundumversorgung durch elektronische und gedruckte Medien aufgewachsen ist, insbesondere Filme, Serien, Nachrichten und sonstige medialen Angebote. 3. Die schulische bzw. universitäre, oft philosophische Bildung; und 4. Das Medium, für das man in Zukunft zu arbeiten beabsichtigt, oft das Theater selbst. Dieses doch eher enge Umfeld erzeugt den Eindruck einer lebensweltlichen Rekluse. Dabei sind sich die jungen AutorInnen insgesamt der Immanenz ihres Daseins durchaus bewusst, ihre Figuren sehen sich meist in ihren Situationen gefangen, fast alle würden sie gerne ausbrechen, wissen aber nicht, wozu und wohin. Es fehlt, um es prägnant auf den Punkt zu bringen, an persönlicher und gesellschaftspolitischer Fantasie und Utopie. Utopie, als Begriff zusammengesetzt aus dem altgriechischen ›ou‹, ›nicht‹, und ›topos‹, ›Ort‹, bedeutet wörtlich ›Nicht-Ort‹. Insofern könnte man behaupten: Vermisst wird in den Stücken der jungen AutorInnen der imaginäre Nicht-Ort, der das grenzüberschreitende Denken anregt und die Suche nach dem Außergewöhnlichen motiviert. Und zwar nicht, weil kein kritisches Bewusstsein für die eigene Situation vorhanden wäre, sondern weil kein Weg nach ›draußen‹ oder ›woandershin‹ mehr existiert bzw. denkbar ist in einem allumfassenden marktwirtschaftlichen System samt einer mit diesem System gut kooperierenden postmodernen, performativen Vorstellungswelt. Anja Hilling, Jahrgang 1975, die man eigentlich schon fast als etablierte Autorin bezeichnen kann, schildert die persönlichen Lebenswelten der Figuren in ihrem Stück Schwarzes Tier Traurigkeit im Nebentext: »Man könnte sagen, sie sind Freunde. Sie kennen sich, mehr oder weniger, mögen sich, irgendwie, verachten sich manchmal, wissen voneinander, einiges, wollen sich gefallen.«9 Die Autorin eröffnet hier so etwas wie ein Panorama ihrer Generation der (bei ihr schon) 30 bis 40Jährigen, wobei die Prägung durch die wirkungsvollen TV-Seriendramaturgien, man denke an Friends, auffällt. In Ulrike Syhas Privatleben, sie ist 1976 geboren, geht es, wie eigentlich bei fast allen jungen AutorInnen, um die Liebe, um das »Kennenlernen und Zueinanderfinden eines

9

Hilling, Anja: Schwarzes Tier Traurigkeit, Berlin: Felix Bloch, S. 4.

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Paares«. Verhandelt wird auch die Frage nach der Möglichkeit einer Trennung des Öffentlichen, das hier in den Themen Wirtschaftskrise, Globalisierung und Umweltverschmutzung zur Sprache kommt, vom Privaten vor dem Hintergrund der Annahme, dass das Leben der Figuren der Herrschaft des Systems gehorcht, es also keine wirklichen Freiräume mehr gibt in einem – so die primäre Orts- und Zeitangabe des Stücks – »Land, das schrumpft«10. Systemtheoretisch gesehen ändern sich die Zustände nicht, auch wenn es auf der privaten Ebene in diesem Stück zwischen den Hauptpersonen »Er« und »Sie« eine Art Happy End gibt: »ER: […] Um uns: ein Land in Schweigen. Menschen, versteckt irgendwo, zusammengekauert, allein, vernetzt, mit modernistischem Fortschrittsglauben, alle in der Hoffnung, dass die Dinge sich ändern, eines Tages. Sie ändern sich nicht. Neues gibt es nie auf der Welt. Nur Verschiedenes. Stabilität in der Instabilität. Ich liege also da und warte. […] Che Guevara ist schon lange tot. Und es schneit. Es schneit. Das ist das Ende.«11

Ewald Palmetshofer, Jahrgang 1978, unterstützt diese Sicht einer generalisierten Ausweglosigkeit in einem Kommentar zu seinem Stück Wohnen. Unter Glas: »Man wähnte sich einmal als Teil einer Generation, die vielleicht Epochales tragen können würde. Nun ist der Glaube an diese Potenz der eigenen Generation dem Wissen gewichen, dass sich aus dem Vorfindbaren nichts Neues wird ausfalten können. So wartet man auf das Kommen des Anderen, des Ereignisses, das wie ein Messias kommen muss oder wie eine Flutwelle. Und bis dahin wohnt man einfach. Unter Glas. Und manchmal besteigt man einen Berg.«12

Und in seinem Stück Hamlet ist tot. Keine Schwerkraft bemerkt die Figur Mani: »Du bist modern, denkst du dir, bist modern und jung und jetzt und heutig und total am Puls, […] am Puls der Zeit bist und ein junger Mensch und total am Puls, im Jetzt verdammt, […] zufällig in dieser scheiß Gegenwart, zufällig im Augenblick […], im Jetzt und Hier und Heute. [… U]nd immer nur Augenblick, und jetzt und ausgestreut und ein Jetzt und ein Jetzt und ein Jetzt und da10 Syha, Ulrike: »Privatleben«, in: Theater heute (Stückeabdruck) 12 (2008), S. 2. 11 Ebd., S. 15. 12 Palmetshofer, Ewald: »Über sein Stück ›Wohnen. Unter Glas‹«, in: http:// www.muenchner-volkstheater.de/Presse/Material/wohnen/Pressemappe_ wohnen_unter_glas.pdf

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zwischen keine Linie, keine Linie zwischen den Punkten und keine Kurve und keine Zukunft«.13

Wenn kein besseres Leben als Extrapolation der Vergangenheit in die Zukunft mehr denkbar ist, dann bliebe zumindest die Frage, wie man sich mit den Problemen der sozialen Wirklichkeit in der Gegenwart auseinandersetzt. Dirk Laucke (1982) ist diesbezüglich einen spannenden, auch riskanten Weg gegangen, indem er sich in einer vom Dokumentartheater und von Schlingensief bis Rimini-Protokoll inspirierten performativen Ästhetik der sozialen Wirklichkeit nähert, etwa der Wirklichkeit von Hardcorefußballfans in seiner szenischen Einrichtung Ultras.14 In seinem Stück Für alle reicht es nicht ist die soziale Realität ein lokaler Ausdruck des Wirtschaftskreislaufes der Globalisierung. Die dramatischen Konflikte sind das Resultat der weltweiten Arbeitsteilung, der Migrantenbewegungen sowie der unvermittelten Konfrontation mit dem Fremden. Auf den allumfassenden sozialdarwinistischen Automatismus des Wirtschaftsliberalismus – »der stärkere frisst den schwächeren«, folgt der Rückzug ins Private: »was bleibt ist nur eins. und das ist unsere chance. […] die familie.«15 Behutsamer widmet sich Felicitas Zeller, bereits 1970 geboren, in ihrem Stück KasparHäuserMeer der sozialen Realität, in dem aus dem beruflichen Alltag dreier »Jugendamtssozialarbeiterinnen« berichtet wird. Realität wird zur dramatischen Wirklichkeit an der Schnittstelle von Amt und Privatleben sowie in der Divergenz zwischen sozialpädagogischer Theorie und sozialer Praxis, die zudem ständig mitreflektiert wird. Auch in Zellers Stück sind die Figuren Gefangene des Systems, ohne Hoffnung auf Besserung. Es geht dezidiert um das ›Durchdrehen‹ im betriebsamen Leerlauf auf psychischer wie auch auf institutioneller Ebene, die Autorin gibt die Richtung im Nebentext vor: »Vorne wird gebremst, gleichzeitig Gas gegeben: der Hinterreifen dreht durch. Der Motorradhalter gibt so lange wie möglich ununterbrochen Gas, um den Reifen solange wie möglich am Durchdrehen zu halten: Björn-Out. Der Text ist

13 Palmetshofer, Ewald: »Hamlet ist tot. Keine Schwerkraft«, in: Theater heute (Stückeabdruck) 2 (2008), S. 10. 14 Thalia-Theater Halle/Saale, Spielzeit 2009/10. 15 Laucke, Dirk: »Für alle reicht es nicht«, Arbeitsfassung 2.10.09, Berlin: Kiepenheuer 2009, S. 49.

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ein einziger DIE DAMEN ROTIEREN VON ANFANG AN. Die Sprechgeschwindigkeit ist schneller als normal.«16

Für eine noch prägnantere Aufladung mit sozialer Wirklichkeit steht in Deutschland Clemens Meyer, Jahrgang 1977, wobei darüber diskutiert wird, inwieweit er sich nicht selbst als Teil der sozial Deklassierten in Szene setzt, er also als Autor ›authentisch‹ ist. In dem von Armin Petras und Carmen Wolfram dramatisierten Roman Als wir träumten herrscht eine kreislaufartige Wiederholung von Ereignissen vor, die Figuren sind in ihrem Milieu gefangen, hier existiert als negative Utopie nur das Erziehungsheim und das Gefängnis. Die Ziellosigkeit der Figuren in Stücken der jungen Generation ist jedoch kein speziell deutsches Problem. Von den jungen polnischen AutorInnen, die in Deutschland immer mehr auf die Bühne kommen, ist Dorota Masłowska, geboren 1983, sicher die bekannteste. In ihrem Stück Zwei arme Polnisch sprechende Rumänen, eine Art dramatisiertes postmodernes Roadmovie mit angedeuteten Bezügen zum Sozialdrama, steht ein reisendes Paar im Vordergrund, der Mann spielt wahrscheinlich den »Priester Grzegorz in einer bekannten und beliebten Fernsehserie«, die drogensüchtige und arbeitslose Frau ist eine Gelegenheitsbekanntschaft. Offensichtlich zugedrönt, geben sich beide nach einer Party auf einer chaotisch verlaufenden Reise durch Polen als Rumänen aus, wobei bis zuletzt die Wirklichkeitsebenen – sind die Figuren im Drogenrausch, ist das die soziale ›Wirklichkeit‹ oder befindet man sich in einer schrägen TV-Inszenierung? – nicht auseinanderzuhalten sind. Interessant ist in diesem Stück die Ziellosigkeit der Figuren: »Parcha: […] Sehen Sie, das ist eine peinliche Situation, wir sind durch Zufall hierhergeraten, nicht durch unsere Schuld, wir sind aus Warschau und es hat uns hierher verschlagen, einfach so.«17 Generell scheint demnach für die jüngere Generation insbesondere die Ziellosigkeit ein wichtiges Thema zu sein, sie ist mutmaßlich dem Gefühl einer Alternativlosigkeit im bestehenden marktwirtschaftlichen und postmodern grundierten System geschuldet, in dem die Vereinzelten als, wie es Richard Sennett formuliert hat, flexible Menschen überleben müssen.

16 Zeller, Felicitas: »KasparHäuserMeer«, in: Theater heute 11 (2008), S. 212, hier S. 2. 17 Masłowska, Dorota: »Zwei arme Polnisch sprechende Rumänen«, in: Theater der Zeit 6 (2008), S. 57-69, hier S. 63.

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4 . D a s s o z i a l e E x p e r i m e n t a l s D y st o p i e nach dem Ende der Geschichte Eine höchst spannende soziale Versuchsanordnung hat diesbezüglich Philipp Löhle (1978) in seinem Stück Genannt Gospodin angelegt, in diesem wird vor allem auf inhaltlicher Ebene durchgespielt, was mit einem Menschen in unserer Gesellschaft im Verhältnis zu seiner Umgebung, seinen Freunden, Kollegen und Nachbarn, geschieht, wenn er nicht nur ein Ziel, einen Traum bzw. eine Idee formuliert, sondern gesinnungsethisch fundiert auch streng danach handelt. Die Hauptfigur Gospodin ist ein höchst sturer und tatsächlich widerständiger Charakter, er orientiert sich konsequent an seinem Dogma, das lautet: »Nr. 1: Ein Weggang ist auszuschließen. […] Nr. 2: Geld darf nicht nötig sein. […] Nr. 3: Jedweder Besitz ist abzulehnen. […] Nr. 4: Freiheit ist, keine Entscheidung treffen zu müssen.«18 In jeder Begegnung mit Anderen bleibt Gospodin friedlich und passiv, er lehnt fast alle Angebote und Gelegenheiten ab, er bewegt sich nicht, oft schläft er einfach ein. Löhles Versuchsfigur hält den Widerstand gegen das System durch die Verweigerung, ein anpassungsbereiter, überlebensfähiger, ›flexibler Mensch‹ zu werden, aufrecht. Sein Leidensweg erinnert nicht zufällig an den christlichen Passionsweg und verdeutlicht die Grundstruktur der Utopie als Säkularisat der christlichen Heilserwartung. Am Ende des Dramas, nachdem Gospodin belogen, betrogen und ausgenützt wurde und ihn alle verlassen haben, wird seine A-Sozialität amtlich festgestellt. Das Ziel des Leidensweges ist, und das ist die Pointe, die Freiheit im Freiheitsentzug. Gospodin landet im Gefängnis als seinen persönlichen Raum der Utopie. Damit schafft der Autor ein nicht unbekanntes dramatisches Bild von der bitteren Erkenntnis nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, dass die schon den frühen Vorstellungen von Utopie zugrunde liegenden Annahmen von der Herrschaft der Idee nicht allein von einer idealen, sondern vor allem totalen, wenn nicht totalitären Ordnung ausgehen. Diese folgenreiche Dominanz der Idee geht bis auf Platons Politeia zurück, rechnet aber nicht mit der Fehlbarkeit des Menschen, insofern das Gute in der rationalen Ordnung immer in Gewalt nach Innen und Außen umschlägt. In Löhles Theatertext, in dem nicht ganz geklärt ist, ob wir eine gescheiterte oder böse Utopie, also eine Dystopie vor uns haben, wird das Gefängnis jedenfalls zu einem Ort, an dem die Dogmen der Hauptfigur nun endlich funktionieren: »Gospodin: […] Ich kann frei bestimmen, ob

18 Löhle, Philipp: »Genannt Gospodin«, in: Theater heute (Stückeabdruck) 1 (2008), S. 6.

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ich hier in diesen Besuchsraum will oder nicht. Ich habe klare Grenzen. Ich bin frei […]. Ich bin wirklich frei. Aber das versteht ihr nicht. Keiner von euch.«19 Im Umkehrschluss zeigt uns Löhle, dass Utopia keine Insel, sondern das Gefängnis, also das diktatorische System ist. Diese Lesart nähert sich auf eigenwilligen Wegen der traditionellen Deutung des Utopiebegriffes, denn das Gefängnis ist ein bestimmter, ausgezeichneter Ort und die Entwicklungsgeschichte des Begriffs Utopie beginnt mit einem Toponym: Utopia hieß ursprünglich die in der unerforschten Fremde liegende Insel in Thomas Morus’ Abhandlung Vom besten Zustand des Staates und über die neue Insel Utopia aus dem Jahr 1516. Nicht zufällig zu Beginn des Zeitalters der Entdeckungen und der Neuzeit veröffentlicht, las man einen erfundenen Reisebericht über die fremde Republik der Utopier, die so etwas wie einen idealen Staat aufgebaut hatten. Aufgrund dieser fremden, dennoch in der Herausforderung der eigenen unidealen Staatsformen ähnlichen Strukturen wurden später auch Tommaso Campanellas Sonnenstaat und Francis Bacons Nova Atlantis als Utopien verstanden. Wenn Löhle nun ein Gefängnis als letztmöglichen idealen Ort auszeichnet, dann verweist er neben der Gefahr des Totalitarismus zudem auf die postmoderne Erkenntnis, dass kommunistische Utopien spätestens seit der Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns Archipel Gulag als Wunschprojektion der engagierten Intellektuellen zum real existierenden Albtraum geworden sind. Linke Utopien haben ihre Anziehungskraft verloren, aber auch die real existierende Utopie des liberalen demokratischen Staates, die der Rechtshegelianer Francis Fukuyama als Synthese und damit Ergebnis einer dialektischen Entwicklung aus Liberalismus und der Antithese des Totalitarismus’ vorstellte, gerinnt heute zum lähmenden Stillstand einer utopielosen Ausweglosigkeit.

5. Indifferenz des Daseins und s o l i p si s t i s c h e s › I c h ‹ In diesem Zusammenhang ist das Stück Korrekturen 09 des 1981 geborenen Thomas Freyer interessant. Der junge Autor hat den Text Die Korrektur. Ein Bericht vom Aufbau des Kombinats ›Schwarze Pumpe‹ aus dem Jahr 1957, den Heiner Müller mit Inge Müller geschrieben hat, in die heutige Zeit transponiert. Während es im Text der Müllers in der DDR durch eine Normkorrektur zum Bauunfall kommt, weil ein Brigadier, der im KZ saß, einen Fehler macht, und dieser sich dafür am Ende

19 Ebd., S. 14.

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beim ›bürgerlich vorbelasteten‹ Ingenieur entschuldigen muss, damit der gesellschaftliche Aufbau trotz aller innerer Widersprüche voranschreiten kann, dominiert in Freyers Korrekturen 09 im wiedervereinigten Deutschland der postmoderne rasende Stillstand – es herrscht Bewegungslosigkeit zwischen Nichts und Etwas, zwischen Ideal und Praxis. Jahrzehnte später muss sich die Enkelin des Brigadiers aus dem Ursprungsstück nun mit ganz anderen Systemzwängen als ihre Eltern und Großeltern auseinandersetzen, insbesondere mit der Angst vor Arbeitslosigkeit trotz Überqualifikation und mit der Indifferenz sowie der Alternativlosigkeit ihres Daseins: »Tochter: Alles Schweine. Mama, Papa. Die ganze Sippe. Was versteh ich schon von Politik? […] Was mach ich? Ich studiere. Ein Fach, das ich jedem erklären muss […]. Ich kaufe meine Möbel bei Ikea. Aber meinen Orangensaft auf dem Ökomarkt. Ich rauche. Trinke Kaffee, der nicht immer aus Nicaragua kommt. Ich habe gelernt, dass Fair-Trade eine gute Sache ist. In der Schule habe ich gelernt, dass Diktatur eine schlechte Sache ist. Ich habe einen Wellensittich, keinen Mann, kein Haus, kein Kind. Ich bin jung, sagen alle, die älter sind. Ich spare Wasser, Strom, Gas. Im Winter fahre ich Ski. Das ganze Jahr mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Und sage, dass das mein Leben ist?«20

Der historische Handlungsort – im Stück der Müllers das Kombinat ›Schwarze Pumpe‹ in der DDR in den ausgehenden 1950er Jahren – wird in Freyers Stück im heutigen Deutschland das ›Innere‹ der Figuren, die ihren gewöhnlichen Alltag (er)leben. Es geht folglich nicht mehr um den gesellschaftlichen Nutzen, sondern um den Gewinn für das solipsistische Ich, das sich jedoch paradoxerweise gerade aufgrund der angeblichen allgemeinen Freiheit besonderen Herausforderungen und Unsicherheiten ausgesetzt sieht, und wenn es die Zumutung ist, sich mit dem Ich und seiner Alterität auseinandersetzen zu müssen: »Wenn ich die andere treffe, sagst du. Die, die ich war. Wenn ich sie treffe, muss ich sie schlagen. Und treten. Ich muss machen, dass ich nicht zurück kann. In mich. Ich will das nicht. Ich.«21

20 Freyer, Thomas: »Korrekturen 09«, in: Theater der Zeit 3 (2009), S. 60-65, hier S. 61. 21 Ebd., S. 65.

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6 . Re si g n a ti o n i n d e r P o s t p o s tm o d e r n e Der thematischen Unentschlossenheit aufgrund mangelnder gesellschaftlicher wie auch individueller Perspektiven korrespondiert in den Texten junger AutorInnen eine auffallende Indifferenz auf formaler Ebene: Registriert wird ein jeweils unbegründet bleibender, fast beliebig anmutender Einsatz aus der Theatergeschichte bekannter, traditioneller wie auch avantgardistischer formaler dramatischer Mittel. Fast alle Stücke weisen sowohl dramatische als auch postdramatische Elemente auf, und dies in einer vielschichtigen Konvergenz. Nur gibt es dafür keine zwingenden dramaturgischen Gründe, der Stückaufbau könnte auch jeweils anders sein. Rein formal gesehen kann man keine Entwicklungsrichtung mehr konstatieren. Auch auf inhaltlicher Ebene scheint ein Stillstand in der postmodernen Bewegung, eine Alternativlosigkeit in einem ubiquitären marktwirtschaftlichen System, die Unmöglichkeit, eine Utopie vorzustellen oder zu formulieren, im Vordergrund zu stehen. In Volker Schmidts Stück Die Mountainbiker findet man dazu den passenden, hier eher traditionellen Dialog: »Albert: Franziska: Albert: Franziska: Albert:

Ich hab das Gefühl, dass wir so in einer Zeitschleife hängen. Das kapier ich nicht. Es geht nicht mehr vorwärts. Alles ist Retro. Es wird nur noch recycled. Das hat mit der Postmoderne zu tun. Aha. Es wiederholt sich alles.«22

Wenn sich alles wiederholt, dann betrifft dies auch die Genealogie des postmodernen Paradigmas selbst, also etwa die Entwicklungslinie von Nietzsche über Heidegger, Foucault und Derrida bis zum Performativitätsparadigma nach Butler. Neu ist nur, und das wird von den jungen AutorInnen oft direkt oder indirekt thematisiert, dass sich nun die postmodernen Ent-Züge wiederholen. Neben den dankbar angenommenen Befreiungen – ein Projekt der 68er-Generation – erlebt die jüngere Generation die postmoderne Vorstellungswelt als affirmative Ästhetik des Entzugs der Chancen zur Gestaltung ihrer eigenen und der gesellschaftlichen Zukunft. Das führt in den Stücken zu absurden Lebensentwürfen der Resignation, der Angst vor dem sozialen Absturz, der tatsächlichen GleichGültigkeit und der erschreckenden Verantwortungslosigkeit. Die jüngere Generation scheint nur die Wiederholung zu erwarten, die per se die Irrealität, Maskenhaftigkeit und Unglaubwürdigkeit der Aus-Sage und jeder 22 Schmidt, Volker: Die Mountainbiker, Wien: Kaiserverlag o.J., S. 5.

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Darstellung mit inkludiert. Oder anders gesagt: Was ist von einer Generation zu erwarten, die nur die Wiederholung in der De-Konstruktion erwartet? Ihr bleibt nur die Tradition auf der einen und die DeKonstruktion der De-Konstruktion auf der anderen Seite – oder eben die Demonstration der unaufhebbaren Ambivalenz zwischen beiden Polen. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Utopie oder utopischen Fantasie in der Dramatik der jungen AutorInnen. Auf der formalen Ebene zwingt die Unentschiedenheit zwischen Tradition und Postdramatik in den Stillstand der Wiederholung, auf inhaltlicher Ebene wird der Verlust an Utopie in vielen ähnlichen dramatischen Situationen und Dialogpassagen so oft zum Thema, dass auch hier die Wiederholung auffällt. Diese Dramatik dann inszeniert, ergibt sich eine Spirale als ständig aufmerksamkeitserregende Differenz, die jedoch nicht postmodern in der De-Konstruktion einen Aus-Weg sucht, sondern diesen Aus-Weg selbst als nicht mehr glaubhaft bewertet. Fassen wir zusammen: Thematisch dominieren in den Theatertexten der jungen AutorInnen lokale Beziehungsgeschichten und die Frage nach der (Un-)Möglichkeit von Utopien in einer Zeit der Postpostmoderne. Das Interesse für den Anderen, in und außerhalb der Liebe, für die soziale Wirklichkeit und für Möglichkeiten der Veränderung ist groß – wahrnehmbar ist jedoch vor allem eine Atmosphäre der Resignation. Diese lässt die Figuren weitgehend in der Rekluse einer absurden postmodernen Immanenz des paradoxen Stillstands in der ständigen Wiederholung verharren. Die Vorstellungen von Idealen und politischem Engagement verbinden sich unmittelbar mit der Resignation einer jungen Generation, welche das Gefühl hat, an den bestehenden Machtverhältnissen sowieso nichts ändern zu können. Ihr bleibt nur die Freiheit in der (post-) dramatischen Form und die Utopie der Liebe, an deren Verwirklichung sie letztlich nicht wirklich glaubt.

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STERNE

S-K L A S S E N . BEOBACHTUNGEN ZU EINZELNEN STÜCKEN UND AUTOREN DES STUDIENGANGS SZENISCHES S C H R E I B E N A N DE R UDK B E R L I N UND ANDERE

ANKE ROEDER

»Die heute am häufigst gespielten jungen Autoren und Autorinnen – so meine Thesis – gehen aus dem Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste hervor.«1

Das erste Stück, das 2003 auf dem Stückemarkt Berlin ausgezeichnet wurde, heißt Sterne2 von der heute national und international anerkannten Autorin Anja Hilling. Gewiss – es ist ein naives Stück in versartigen Strophen, in dessen Sprache sich aber bereits das Können und nicht zuletzt auch die Raffinesse der späteren Autorin abzeichnet. Innerhalb des dramatischen Textes sinniert die Hauptfigur in der Ich-Form wie in einer Erzählung, so dass sich die Genres Drama und Ich-Erzählung mischen, wie es später kennzeichnend für Anja Hilling wird. 1

2

Er wurde bis 2009 geleitet von Prof. Dr. Jürgen Hofmann. Stellvertretend für ihn leitete ich den Studiengang Szenisches Schreiben im Wintersemester 2003/04. Vgl. auch die von Stefan Tigges im Auftrag der Universität der Künste herausgegebene Festschrift Leibhaftig schreiben, Welten phantsieren, die anlässlich des 20-jährigen Bestehens 2009 erschien und Einblicke in die Geschichte und Gegenwart des Studiengangs gewährt. Vgl. ebenso Tigges, Stefan (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielfeld: transcript 2008, S. 115-122 u. S. 123-124. Mein Beitrag geht aus einem Vortrag hervor, den ich anlässlich der Emeritierung von Prof. Hofmann im Sommer 2009 hielt. UA: Bühnen der Stadt Bielefeld 28.01.2006, Regie: Daniela Kranz. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Theaterverlag Felix Bloch Erben, Berlin.

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»Ich«, erzählt Susann, »strecke die Zunge aus. Anton legt das Sternchen mit dem Finger auf meine Zunge und küsst mich auf die Stirn.« Sprechend fährt sie fort: »Die Sterne. Mit der ganzen Zeit, die sie haben. Hängen da oben rum. Wie Kinder ohne Zukunft«

Jana respondiert: »Sternchen für Sternchen. Immer wenn ein Stern knallt: Ist eine Liebe gestorben«

Es ist ein Paradies-Stück mit einem Apfelbaum auf der grünen Wiese. Ein sprachlich musikalisch komponiertes Stück, in dem die Hauptfigur Susann wie der Apfel vom Baum fällt. Ein ›Kindertotenstück‹, in dem die Liebes- und Todesmotive von Anfang an anklingen. Die Sterne am Himmel aber haben keine transzendentale Bedeutung mehr. Stattdessen sind es Sternchen – Melissensternchen, Rauschsternchen –, von den Kindfiguren selbst gebastelt. Sie zaubern nicht mehr das erhoffte Paradies herbei, sondern produzieren Zerstörung. Zum Schluss steckt eine Axt im Baum. Anja Hillings 2005 für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiertes Stück Mein junges idiotisches Herz3, benannt nach dem Song der Stones My young and foolish heart, macht einen großen Sprung. Die Szenerie weitet sich in die Großstadt hinein. Das Geschehen spielt in einem Hochhaus. Dort leben verschiedene Personen, alle für sich und isoliert, lose verbunden durch eine Treppe, einen Keller, einen Abfallraum. Es sind wundersame Figuren, die in diesem Hochhaus ein- und ausgehen: ein Fruchtsaftlieferant, ein von Wüstensand und Liebe träumender Sandmann, der ein Paket erwartet, das er selbst abgeschickt hat, ein von den Stones besessener Postbote, ein homoerotischer liebenswürdiger Hausmeister. Ein skurriles, merkwürdiges, surreal anmutendes Personal. Und alle haben Träume von einem oder einer anderen dramatis persona, die sie sich in poetischen Monologen vorstellen und zu ihr sprechen, aber 3

Autorentheatertage: Münchner Kammerspiele 18.11.2004, Regie: Daniela Kranz; UA: Theaterhaus Jena 3.03.2005, Regie: Markus Heinzelmann. Abgedruckt in: Theater heute (4) 2005, S. 54-65. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben, Berlin.

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in der Fiktion, nicht in der Realität. Das heißt, das wirkliche dramatische Moment, der Dialog findet kaum statt als Brücke zu der anderen Person, sondern spielt im eigenen Kopf. Das Dramatische ist eingeschlossen in den Monolog. So sprechen die Personen in der Ich-Form, sagen ihren eigenen Namen, der wie ein Echo zurück klingt: »Frage und Antwort«, räsoniert eine der Personen über die Stimme, die in einen Schacht fällt und sagt: »Die Antwort der Höhle ist mein Name.« Wenn das Ich sich einfängt in sich selbst, in sein eigenes Echo, ist die Konsequenz der Tod. So beginnt auch dieses Stück mit einem Todesmotiv. Eine junge Frau will sich umbringen, aber sie will es schön, sie richtet sich dafür her, legt Rouge auf, zieht ein rotes Kleid an, will sterben als »schöne Tote« von der vierten Etage und inszeniert sich sprechend als gestorben Seiende im Rückblick. Das heißt, Drama bei Anja Hilling ist nicht ein vorwärtstreibendes Element, sondern kontrapunktisch wie in der Fuge Rückgang, Rückzug auf ein imaginäres Selbst. Die Außenwelt ist nicht real, sondern eine vorgestellte, geträumte, in der Innensicht der Einzelpersonen visionierte. Nicht Abbild, sondern Innenbild. Rückblick, Rückzug, Tod, Vision, Imagination – dies sind kennzeichnende Elemente der Stücke Anja Hillings, handeln sie nun von einer Verschwörergeschichte wie in Bulbus4, nach deren Explosion sich Täter und Opfer in einem abseits liegenden Dorf verstecken und wie durch einen Augapfel auf ihre Geschichte zurückblicken. Geht es um eine Grillparty, auf der ein verheerender Waldbrand ausbricht wie in Schwarzes Tier Traurigkeit5, eine Liebes- und Todesgeschichte wie in Angel6 oder eine Zukunftsvision wie in Nostalgie 21757: Nie geht es um Zukunft, sondern immer spielen die Geschichten nach dem Ereignis. Es sind Lebenskatastrophen, geschrieben im futurum praeteritum. Die Welten Anja Hillings sind Innenspiegel, grotesk, skurril, traurig und auch heiter. »Theater«, sagt Anja Hilling auf einem Podiumsgespräch in den Münchner Kammerspielen »ist ja etwas, das die Welt verändern sollte.« Bei An4

5

6 7

UA: Burgtheater Wien 16.3.2006, Regie: Daniela Kranz; Deutsche Erstaufführung: Münchner Kammerspiele 23.01.2009, Regie: Christiane Pohle. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben, Berlin. UA: Schauspiel Hannover/Ballhof 12.10.2007, Regie: Ingo Berk. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben, Berlin. Abgedruckt in: Theater heute (12) 2007. UA: Münchner Kammerspiele 29.09.2006, Regie: Felicitas Brucker. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Felix Bloch-Erben, Berlin. UA: Thalia Theater Hamburg in der Gaußstraße 27.01.2008, Regie: Rafael Sanchez. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben, Berlin.

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ja Hilling verändert es die Sicht auf Welt. Bei ihrem Lehrer, dem Dramatiker Oliver Bukowski, »gibt es die Figur, den Konflikt, den Höhepunkt, und überm Schreibtisch hängt eine Kurve«.8 Bei Anja Hilling mäandriert sie und entführt den Zuschauer/Leser in die Poesie der Phantasie. Ihre Geschichten sind – und das ist das Spannende – immer ein Geheimnis.9

S te r n l o s – d e r H i m m e l Ein Kommilitone von Anja Hilling war Thomas Freyer. Sein Stück Amoklauf mein Kinderspiel10, das ebenfalls beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2006 ausgezeichnet wurde, das von Weimar bis St. Gallen, im Hamburger Thalia Theater und in Gera – der Heimatstadt des Autors – gespielt wurde, für das Thomas Freyer im gleichen Jahr 2006 das Dramatiker-Stipendium des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI erhielt, spielt vor einem realen, konkreten Hintergrund: dem Amoklauf am Erfurter Gutenberg Gymnasium 2002. Und dennoch ist auch dieses Stück kein ›realistisches‹ Stück im Sinne der Widerspiegelungstheorie eines Georg Lukács. Es ist ein – wie es bereits im Titel heißt – »Kinderspiel«, ein Theaterspiel von drei jungen Schauspielern, die sprunghaft in verschiedene Rollen schlüpfen, als Schüler und Lehrer, als Opfer und Täter, so dass das Spiel als Fiktion nie versteckt, sondern bewusst hervorgehoben wird. Es ist kein Dokumentartheater. Wie grausam auch immer die Realität ist – in diesem Stück wird sie nicht unmittelbar abgebildet, sondern durch das empfindende Bewusstsein der Agierenden geprägt, die nach einem Stück Heimat, nach Identität suchen, Angst haben und Abscheu vor ihrer Elterngeneration empfinden, vor ihrer jetzigen ›Heimat‹ fliehen möchten, die keine für sie ist, sondern eine sterbende, verwesende. So heißt es im ersten Teil: 8 9

Siehe Theater heute 4 (2005), S. 52f. Anja Hillings neuestes Stück Sinn erlebte seine schwedische Erstaufführung am 29.04.2010 am Folkteater Göteborg in der Regie von Melanie Mederlind. Vom 13.-15.05.2010 war das Stück beim Kinder- und Jugendtheaterfestival »Imaginate Festival« in Edinburgh von der schottischen Theatergruppe Frozen Charlotte Theater zu sehen. Die Regisseurin Brenda Murphy brachte dort die fünf Episoden der extremen Sinnesreise auf die Bühne. 10 UA: Maxim Gorki Theater in Koproduktion mit dem Nationaltheater Weimar und dem Theater an der Parkaue Berlin 7.04.2008, Regie: Tilmann Köhler. Theatermanuskript und Aufführungsrechte: Rowohlt Theaterverlag, Reinbek b. Hamburg.

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STERNE UND ANDERE S–KLASSEN

»Vor meinen Augen dreht sich eine letzte Landschaft. Eine Stadt stirbt. Ein langsames Ausdünnen. Leichen hängen aus den geöffneten Fenstern. Kissen. Auf den Fensterbrettern Eis. Vor den Eingängen werden die, die hier nicht mehr wohnen, verbrannt. Von denen, die geblieben sind. Die sich an den Flammen wärmen. Jeden Tag aufs Neue.«11

Das ist das Bild, das die Jugendlichen von ihrer Stadt haben, bevor sie den Amoklauf planen und durchspielen. Durchzogen von Ausdrücken aus Counterstrike und Anspielungen auf den Film Bowling for Colombine ist der Amoklauf in Thomas Freyers Stück kein ›wirklicher‹, vielmehr ein phantasierter, von Angst durchsetzter surrealer Plan, der eine seelische Verfassung der Jungen zeigt, die mit der Welt zerfallen sind, deren Selbstbild aufgespalten ist, geprägt durch eine öde, feindlich empfundene Außenwelt und die Sehnsucht nach einer wärmeren Welt. Zwischen Angst, Tod und einem Stück »warmer Kirschtorte im Magen« schwankt ihre Welt. Dieser Amoklauf ist die Rebellion einer Kinder- gegen eine Elterngeneration, die eine tiefe Todessehnsucht aufscheinen lässt. Gewiss ist, dass diese Jungen sich im »Grenzgebiet« als einem »Todesstreifen« bewegen, wie es zu Beginn des zweiten Teils heißt. Dieser Todesstreifen ist in ihnen, in ihrem Inneren. Sie sprechen zu sich in der Ich Form. »Mein Kinderspiel« heißt es im Titel. Das Kinderspiel der Jungen, das Kinderspiel des jungen Autors? Nicht die Tat, denke ich, bestimmt das Spiel, sondern ihr Außen findet die Sehnsucht in einer starken expressiven Sprache, durchzogen von machtvollen poetischen Bildern. So sind auch Thomas Freyers folgende Stücke12 Separatisten13 und In den Nächten liegen wir stumm14 von einem Phantasma gegen die feindliche Außenwelt bestimmt. »Die Welt der Jugendlichen, die gerade keine Kinder mehr sind«, schreibt Robert Koall, der begleitende Drama-

11 Freyer, Thomas: »Amoklauf mein Kinderspiel«, in: Theater der Zeit 12 (2006), S. 59-68, hier S. 60. 12 Alle Theatermanuskripte und Aufführungsrechte von Thomas Freyers Stücken liegen beim Rowohlt Theater Verlag, Reinbek b. Hamburg. 13 UA: Maxim Gorki Theater 30.04.2007, Regie: Tilmann Köhler. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek b. Hamburg. 14 UA: Schauspiel Hannover 7.11.2008, Regie: Tilmann Köhler. Abgedruckt in: Theater der Zeit 11 (2008), S. 55-63. Siehe auch das Autorengespräch zwischen Thomas Freyer und Dorte Lena Eilers: »Eine Landschaft, die immer fremder wird«, in: ebd., S. 54. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek bei Hamburg.

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turg von Thomas Freyers Stück am Staatsschauspiel Hannover, »ist ein umgestürzter Hafen«.15 Das lässt an Büchners ›Märchen vom Kind auf dem Mond‹ denken, das zur Erde zurück wollte und allein war. Die Protagonisten in Thomas Freyers folgenden Stücken sehen kein Außen mehr, wie es sich bereits im Titel des Stückes ankündigt, das 2008 an der Schaubühne uraufgeführt wurde, Das hier, das nichts. »Ich kann da draußen nichts mehr erkennen«, sagt Mara, eine der Figuren des Stückes In den Nächten liegen wir stumm: »Kein Haus. Keinen Baum. Keinen Himmel mehr. Alles ist verschwunden. Vielleicht ist es vorbei.« Eine Apokalypse. Die Protagonisten ziehen sich in sich selbst zurück. »Ich bin in mir. Ich bin hier. Unter meiner Haut.« Aber – und vielleicht ist dies der Trost der Form – den Personen bleibt das Wort, die erkennende, poetische Sprache, die Thomas Freyers Stücke auszeichnet.

L an g e T i t e l , p l a t t e B au t e n Wie Thomas Freyers Stück Separatisten spielt auch Tine Rahel Völckers Stück Die Höhle vor der Stadt in einem Land mit Nazis und Bäumen16, das 2007 in Weimar und Berlin am Maxim Gorki Theater uraufgeführt wurde, in einem Plattenbau. Während aber die Separatisten in Thomas Freyers gleichnamigem Stück sich gegen die städtische Abwicklung der Siedlung sperren, sie mit einem Zaun umgeben und in ein Gemüseparadies verwandeln wollen, finden Tine Rahel Völckers Personen die Siedlung chic und kultig. »Weißt du, was ich am Plattenbau so mag«, sagt eine der Figuren, »Die Strenge. Das Asketische. Die Enthaltsamkeit«. Die Botschaft kommt schnell hinterher; »Da muß man lernen sich zu beschränken. Da sieht man einmal, daß man das alles gar nicht braucht, was einem immer eingeredet wird, daß man das besitzen sollte. Alles besitzen.« Das sagt eine Jungakademikerin, die ihre Doktorarbeit über Hitler in diesem Plattenbau schreiben möchte und zum Schluss wahnsinnig wird, weil sie überall Hitlers sieht. »Erinnerungskultur ist Verkitschung von Geschichte und muß gestoppt werden«. Sie sind alle Akademiker in Tine Rahel Völckers Stück: Zwei Architekten, von denen der eine – Alexander – ein geldgieriger ist, der jeden Auftrag annimmt, dort in der Siedlung ein Einkaufszentrum bauen will mit Glasfassade, im Gegensatz 15 Vgl. Koall, Robert, in: Theater heute Jahrbuch 2008, S. 157. 16 UA: Deutsches Nationaltheater Weimar in Koproduktion mit dem Maxim Gorki Theater, Berlin 16.03.2007, Regie: Tilmann Köhler. Theatermanuskript und Aufführungsrechte: Gustav Kiepenheuer BühnenvertriebsGmbH, Berlin.

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zu seinem Kollegen Holm, der ablehnt, weil er nicht reich werden will. »Ich möchte der Wirtschaft von meiner Kraft eigentlich nichts abgeben […]. Ich möchte mich da nirgendwo eingliedern, nur um so ein krankes Ding am Laufen zu halten.« Chantal kommt aus der Schweiz, hat lange in New York gelebt und findet wie Johanna die Plattenbausiedlung attraktiv. Sie sei nicht verwöhnt, sondern »hungrig«. Hungrig nach sozialem Kitsch? Nach authentischer Location? »An einem falschen Ort falsch zu sein, das scheint mir besser«, fährt Chantal fort, »als an einem geordneten, wo all die Leute bereits eine feste Identität haben.« Kühn und hochmütig zugleich. Offensichtlich suchen die Figuren in Tine Rahel Völckers Stück nach einer neuen Identität und Utopie, wenn sie auch scheitern. Das Stück – und es gibt weitere Dramen von ihr, die sich durch gesellschaftspolitisches Engagement auszeichnen wie Albertz17, das als Gastspiel im April 2009 im Studio des Maxim Gorki Theaters in Berlin gezeigt wurde – durchzieht eine Suche nach dem richtigen, nach dem ›wahren‹ Leben. Auffallend ist die Kluft zwischen Inhalt und Form. Tine Rahel Völcker lässt ihre Figuren mit postsozialistischen, postmarxistischen, postkapitalistischen Slogans auftreten und schreibt dennoch keinen postdramatischen Text. Ihre Stücke sind klassisch-dramatisch aufgebaut mit Handlungs-»Kurve«, und dramatis personae wie in einem Well-made-play. Liegt im Widerspruch zwischen der ästhetischen Form und dem Inhalt eine Ironie? Eine Kritik an den Intellektuellen, die nichts anderes im Kopf haben als rückwärtsgewandte Lebensvorstellungen, die sie dann doch nicht durchzustehen vermögen? Zum Schluss haut der Architekt Holm, der sich weigerte, das Supermarktseinkaufszentrum zu bauen, ab in den Westen: »Ich geh nach New York Shanghai Massenkollaps das wird geil! Rein ins Disneygewühl! Und den Osten betret ich nicht mehr Und zu Fasching setz ich mir ne Marxkappe auf«

Das ist ein zynischer Abgesang an ein Leben, das einst auf Solidarität, Gleichheit, Gemeinsamkeit aufgebaut war. »Glücksmehrwert« hieß das Motto des Spielplans 2008/09 im Gorki Theater, an dem Tine Rahel Völ17 UA: Landesbühne Wilhelmshaven 6.12. 2008. Regie: Christian Hockenbrink. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH, Berlin. Zu Tine Rahel Völcker siehe: Künzel, Christine (Hg.): Radikal weiblich? Theaterautorinnen heute. Berlin: Theater der Zeit 2010 (= Recherchen 72), S. 175-192.

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ckers Stücke aufgeführt wurden. »Leben im Umbruch« heißt das Motto des Spielplans 2009/10 im Gorki Theater, den zwei Absolventen des Studiengangs Szenisches Schreiben mitgestalten: Thomas Freyer mit seinem Auftragswerk Im Rücken die Stadt18 und Juliane Kann mit Fieber19. So jung, so hochgestiegen, so oben – junge Autoren als Sterne am Theaterhimmel?

… u n d a n d e r e S - K l a s se n Es hat zwar keinen Stern, es ist kein Mercedes, es ist museumsreif – das Auto – ein alter ford escort dunkelblau20, mit dem – so der Titel des gleichnamigen Stücks – der Autor Dirk Laucke den Kleist-Förderpreis 2006 erhielt, das auf dem Autorenwochenende der Münchner Kammerspiele 2006 szenisch präsentiert, in Oldenburg 2007 uraufgeführt wurde und durch das Dirk Laucke zum Nachwuchsautor des Jahres 2007 von Theater heute gekürt wurde. Der alte Ford klappert so daher, aber immerhin trägt er drei Kumpels, die in einem Getränkegroßhandel Leergut stapeln, fast bis zum Legoland-Westernpark in Dänemark, bevor das Auto dann in der Kurve verreckt. »Es ist die Geschichte von drei Jungs«, sagt Dirk Laucke, »die ausbrechen wollen, aber an sich selbst kaputt gehen«.21 Es ist ein Roadmovie vom Traum in ein besseres Leben, durchzogen vom AC/DC-Sound: »wir brettern über die landstraße. an feldern, 18 UA: Studio des Maxim Gorki Theaters, Berlin 30.01.2010, Regie: Nora Schlocker. Siehe dazu: Koschwitz, Andrea: »Thomas Freyer. Über Leben im Unbruch«, in: Theater heute (Jahrbuch) 2009, S. 164-166. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek b. Hamburg. 19 UA: Studio des Maxim Gorki Theaters, Berlin 3.06.2010, Regie: Anna Bergmann. Theatermanuskript und Aufführungsrechte: Schaefersphilippen, Köln. Juliane Kanns erstes Stück The kids are alright wurde am 8.02.2008 unter der Regie von Seraina Maria Sievi im Schauspiel Stuttgart uraufgeführt. 2006 wurde Blutiges Heimat im Studio des Maxim Gorki Theaters in Berlin uraufgeführt (Regie: Susanne Chrudina). Aufführungsrechte: Hartmann & Stauffacher, Köln. Abgedruckt ist es in: »Katalogbuch zum Festival ›Radikal jung‹«, Berlin: Henschel Verlag 2008, S. 146-174. Im Rahmen des Festivals wurde es als Gastspiel im Münchner Volkstheater gezeigt. 20 UA: Theater Osnabrück 24.03.2007, Regie: Henning Bock. Theatermanuskript und Aufführungsrechte: Gustav Kiepenheuer BühnenvertriebsGmbH, Berlin. Abgedruckt in: Theater heute 5 (2007), S. 52-58. 21 Vgl. Laucke, Dirk, in: Theater heute 5 (2007), S. 49.

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schutt- und kalibergen vorbei. die erde rotbraun. eines tages werden sie uns noch raus ziehen. dann is schorse« – das ist der Älteste von den dreien, der den Sohn seiner Ex-Frau stiehlt und entführt – »dann is schorse seine fleppe und mit der fleppe den job los. juckt ihn nich, solange ac/dc hoch und runter läuft …«22 Dem Fahren, Stoppen, Fahren, dem Beat entspricht die Dramaturgie in kurzen Szenenabschnitten, die in zwei langen Erzählmonologen endet. Die wirkliche Fahrt ist Abbruch, aber einer, er heißt Boxer, geht am Fahrstreifen der Autobahn entlang, bis am Sonnenuntergang der Schatten eines Trucks hinter ihm auftaucht. Ob er im Schatten verschwindet oder in den Laster einsteigt, bleibt offen. Der Jüngste, Paul, der sich als Karl Liebknecht sieht, träumt immer noch vom Fahren, während zum Schluss dieses Elendsabenteuers Paul und Schorse wieder Bierkästen aufeinander stapeln. Eine klitzekleine Hoffnung schimmert auf, wenn Paul zum Schluss sagt: »wir hatten weder konto noch staat. Was uns zusammenhielt, waren wir. nichts was wir sagten schweißte uns auseinander«.23 Das ist kein sozialistisches Wir, sondern ein persönlicher Zusammenhalt, der einzige Ort, an dem die Personen verankert sind. Das Stück von Dirk Laucke, geschrieben in einem ruppigen, rauen sächsischen Umgangs-/Alltagsdeutsch, das zugleich eine Kunstsprache ist, ist kein naturalistisches Sozialdrama. Dem widersprechen die Übertitel von Szenen, die auf den antiken Mythos von Jason in der Heiner Müllerschen Überarbeitung hinweisen: »landschaft mit argonauten« und damit den tatsächlichen Sozialstatus übersteigen. Dem widersprechen auch die langen Monologe, in denen die Personen manchmal von anderen oder von sich in der dritten Person erzählen. Laucke hat schon früh Kurzgeschichten geschrieben – eine ist abgedruckt im Jahresheft von Theater heute 2007, heißt schlachtensee und erzählt vom Zerbröseln einer Eishockeymannschaft. »Irgendwann«, sagt er, habe er angefangen, »Monologe gegeneinanderzuschalten« und dabei gemerkt, dass »Dialoge auch fetzen«.24 In diesem Stück spiegelt sich – nicht im Sinn naturalistischer Widerspiegelung von Realität, sondern in der Weise gestalterischer Expression – ein Stück unserer Gegenwartswelt. Es enthält einen kleinen Weltenraum und -traum.

22 Laucke, Dirk: »alter ford escort dunkelblau«, in: ebd., S. 52-58, hier S. 53. 23 Ebd., S. 58. 24 Ebd., S. 49.

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Ob dieser Traum nun endgültig zu Ende geträumt ist, ob Welt in Dirk Lauckes neuen Stücken – Der kalte Kuss von warmem Bier25, und zu jung zu alt zu deutsch26, jetzt härter, kälter, unerbittlicher, traumloser geworden ist, kann ich nur vermuten. Es geht um Soldaten in Deutschland und Afghanistan, um Nazis in Geschichte und Gegenwart und wieder um deutsche Kleinstädte. Der Deutschlandhass scheint angestiegen und Dirk Laucke scheut sich nicht, so unbeliebte Themen wie Soldaten in Afghanistan, NVA und Bundeswehr, Stacheldraht- und Mauerschießereien aufzugreifen. Welt scheint in seinen Stücken auf, die garantiert nicht glanzpoliert ist.

W e l tl ä u f i g k e i t Unter dem Stichwort »Weltläufigkeit« fragt Jürgen Hofmann, Verfasser einer geistreichen, witzigen und gebildeten Kleine[n] Fibel des Szenischen Schreibens:

25 UA: Theater & Orchester Heidelberg 2.05.2009, Regie: Henning Bock. Abgedruckt in Theater heute 7 (2009). Theatermanuskript und Aufführungsrechte: Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH, Berlin 26 UA: Theater Osnabrück 15.05. 2009, Regie: Jens Poth. Zu beiden Stücken von Dirk Laucke, siehe Wille, Franz: »Arschblau für immer«, in: Theater heute 7 (2009), S. 32-35. Sein Stück Start- und Landebahn wurde am nächsten Tag im Theater Osnabrück am 16.05.2010 ebenfalls in der Regie von Jens Poth uraufgeführt. Dirk Lauckes Stück Für alle reicht es nicht, uraufgeführt am Staatsschauspiel Dresden in der Regie von Sandra Strunz am 31.10.2009, wurde nominiert für die Mülheimer Theatertage 2010. Im April 2010 wurde das Stück am Deutschen Theater Berlin von Sabine Auf der Heyde inszeniert. Projektiert ist Jimi Bowatski hat kein Schamgefühl in der Regie von Heike M. Götze für die Spielzeit 2010/11 am Schauspielhaus Bochum unter der neuen Intendanz von Anselm Weber sowie im Herbst 2010 Bakunin auf dem Rücksitz (UA: 8.10.2010; vgl. den Auszug in diesem Band) in der Regie von Sabine Auf der Heyde in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin. Vgl. auch Dirk Lauckes Essay »Die Wahrheit in der Gosse oder Fick dich Industrie«, in: Stefan Tigges/ Katharina Pewny/Evelyn Deutsch-Schreiner (Hg.), Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsräume in Theater, Tanz und Performance, Bielefeld: transcript 2010, S. 58-67. Alle Verlagsmanuskripte und Aufführungsrechte von Dirk Lauckes Stücke sind vertreten durch Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH, Berlin.

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»Wovon wird der junge Dramatiker uns nun erzählen, wenn er allein an seinem Schreibtisch sitzt […] Ist seine Innenwelt reich und geräumig genug, um den Mangel an erfahrener äußerer aufzuwiegen? Ist er tatsächlich dem gleichaltrigen Matrosen überlegen, der die sieben Weltmeere bereist, aber vom Schreiben keine Ahnung hat? […] Besteht das Theater noch aus den ›Brettern, die die Welt bedeuten‹ – dann, bitte sehr, mögen die Autoren dieses Theaters jene Welt auch praktisch erfahren.«27

Unübersehbar ist, dass heute das Theater wieder stark politisch konturiert ist – ob es sich nun um die Performance Gruppe Rimini Protokoll mit ihren ›Experten des Alltags‹ handelt, um Volker Löschs Inszenierungen mit Langzeitarbeitslosen, um Kathrin Rögglas Fake Reports, die die Ratund Orientierungslosigkeit der Menschen um die Geschehnisse des 11. September 2001 darstellte oder um die postdramatischen Texte der Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die sich in ihrem Stück Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie28 mit der Kapitalismuskrise auseinandersetzt. »Was muss Theater leisten?«, fragt der Intendant des Leipziger Schauspiels Sebastian Hartmann und antwortet: »Das Theater muss sich mit der aktuellen Wirtschaftskrise und den gesellschaftlichen Veränderungen befassen. […] Ich beobachte«, fährt er fort, »dass Marx und das ›Kapital‹ wieder diskutiert werden. Das Theater in Deutschland ist eine der letzten Bastionen, die hochsubventioniert konsumfreie Sachen machen können«.29 Nicht zu leugnen ist, dass die jungen AutorInnen des Studiengangs Szenisches Schreiben, bevor sie sich mit der globalen Gesellschaftskrise befassen, zunächst von ihrer persönlichen Umwelt, ihrer Familie ausgehen. Um ein berühmtes Beispiel zu nennen: Das Stück Feuergesicht von Marius von Mayenburg, bekannter Absolvent dieses Studienganges, ist ein starkes, bildreiches, metaphorisches Stück.30 Es spielt in einer Klein-

27 Hofmann, Jürgen: Berlin 2001, S. 27. Vgl. auch ders.: »Schreiben lernen. Erfahrungen mit dem Studiengang«, in: S. Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen, S. 115-122. 28 Abgedruckt in: Jelinek, Elfriede: Drei Theaterstücke, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2009, S. 207-348. UA: Schauspiel Köln in Koproduktion mit dem Thalia Theater Hamburg 16.04.2009, Regie: Nicolas Stemann. Nominiert für die Mülheimer Theatertage 2010. Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek b. Hamburg. 29 In: Münchner Abendzeitung 29.06.2009, S. 15. 30 UA: Münchner Kammerspiele 10.10.1998, Regie: Jan Bosse. Abgedruckt in: Theater heute 5 (1998), S. 57-64. Siehe dazu: Burckhardt, Barbara: »Marius von Mayenburg und seine Monsterkinder«, in: ebd., S. 53-56.

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familie und endet im Verbrennungstod des Protagonisten. Damit sind auch Familie und Provinzstadt versengt und gesprengt. Beachtenswert ist, in wie vielen Stücken der jungen Generation persönliche Familien-, Umwelt-, Privatkrisen sich zur politischen Szenerie erweitern und mit ihr verschmelzen. Das lässt sich ablesen an den bisher genannten Stücken und an den neu hinzukommenden. Erwähnen möchte ich innerhalb dieses Rahmens das Stück der jungen Anne Habermehl Letztes Territorium, in dem ein algerischer Flüchtling am Strand von Fuerteventura anschwimmt, wo eine deutsche Mutter und ihr Sohn Ferien machen. Die Annäherungen an den Fremden, seine Ankunft in Deutschland reißen die Stuttgarter Kleinfamilie vollends auseinander, lassen den Jungen zum Rassisten werden, treiben ihn ins Verbrechen und Gefängnis.31 Anne Habermehls darauffolgendes Stück Daddy erlebte seine Uraufführung am Bayerischen Staatsschauspiel. 32

Ä s t he ti sc he P e r s p e k t i v e n Erfreulich ist die Tatsache, dass viele dieser jungen Autoren mit Preisen ausgezeichnet, an größeren Theatern gespielt und nicht zuletzt von profilierten Theaterverlagen betreut werden. Ihre Stücke sind vielfach Geschichten, die narrativ sind, Geschehnisse und Geschichten erzählen – Handlungsdramen, die sich in einer offenen Dramaturgie abspielen, in denen dramatis personae auftreten und Dialoge führen. Und dennoch sind sie nicht rückwärtsgewandt, kehren nicht einfach zu tradierten Dramenformen zurück. Es sind sicher keine postdramatischen Texte, in denen Sprachflächen ineinander montiert und klassische Handlungsträger als klar definierte Subjekte nicht existent sind. Aber es scheint sich in der Postdramatik wieder eine Hinwendung zur erzählten Geschichte abzuzeichnen. (Ich denke an Elfriede Jelineks Ulrike Maria Stuart, in denen Aufführungsrechte aller Stücke von Marius von Mayenburg im Henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag, Berlin. 31 UA: Thalia Theater Hamburg in der Gaußstraße 18.11.2008, Regie: Corinna Sommerhäuser. Das Stück wurde gezeigt auf dem Festival »Radikal jung« 2009 im Münchner Volkstheater und ist abgedruckt im begleitenden Katalogbuch: »Sehnsucht und Notwendigkeit«, Berlin: Henschel 2009, S. 134-175. Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek b. Hamburg. 32 Bayerisches Staatsschauspiel/Marstall 20.06.2009, Regie: Alexander Nerlich. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Rowohlt Theater Verlag, Reinbek b. Hamburg.

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zwei ›Königinnen‹ gegeneinander auftreten). Wiederum hat die Postdramatik – so meine Thesis – die neuen Texte beeinflusst. Es sind nicht ausschließlich ›klassische‹ Dialoge, die die Stücke der jungen AutorInnen prägen, nicht Rede und Gegenrede, mit denen sich die dramatis personae bekämpfen, sondern oft sind die Dialoge in Monologe eingeschlossen oder in Erzählungen eingewoben wie bei Anja Hilling. Manchmal räsonieren sie in langen Passagen für sich wie bei Dirk Laucke, denken über sich, sprechen zu sich. Oder die dramatis personae treten in der dritten Person auf, als ob die Figuren sich von außen betrachten oder in der Vergangenheitsform von sich berichten. Das Subjekt wird sich fremd. Manchmal treten die Personen nicht in ihren Körpern auf, sondern – wie in den magischen Stücken von Johanna Kaptein – als »Stimmen«, die die Personen begleiten, vorantreiben, kritisieren, belauschen. Diese Stimmen sind die unsichtbaren Begleiter der Protagonisten, zum Beispiel in dem geheimnisvollen Stück Die Geschichte von St. Magda33 oder in Johanna Kapteins traurig-grotesken Szenen wie Lohnarbeit und Liebesleid34 Die Person als einheitliches Ganzes, als verantwortende HandlungsträgerIn wird damit in Frage gestellt. Das Subjekt ist fragil. Es zerlöst sich. Nicht zu übersehen ist die ausgeprägte ästhetische Komponente der Sprache, die sich oft in starken, bildreichen, expressiven Metaphern ausdrückt und Form gewinnt. Das ist nicht reine Figurensprache, sondern – wie schon in Heiner Müllers Texten – Autorensprache. Diese Dimension ist sicher nicht unwichtig in einer Gesamtlandschaft des performativen Theaters oder der Sehnsucht des Theaters nach dem ›Realen‹ in seiner gegenwärtigen Abwendung von einer künstlerischen Sprache als Artefakt. Eine Differenz zwischen realem Sein und theatralem Dasein behauptet sich in diesen jungen Stücken. Der Dramaturgin des Residenztheaters München, Angela Obst, schließe ich mich gerne an, wenn sie über die Texte »neuer Dramatik« sagt, es genüge nicht, sie durch die »Jugend des Autors« zu kennzeich33 UA: Badisches Staatstheater Karlsruhe 23.06.2007, Regie: Claudia Brier. Verlagsmanuskript und Aufführungsrechte: Felix Bloch Erben, Berlin. 34 UA: Badisches Staatstheater Karlsruhe 15.05.2009, Regie: Angelika Zacek. Johanna Kapteins neuestes Stück BRD-Fragmente über deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert in Bezug zum Jetzt, das 2009 den Leonard-FrankPreis erhielt, wurde am 15.05.2010 im Mainfranken Theater Würzburg in der Inszenierung von Nada Kokotovic uraufgeführt. Die ›Bildbeschreibungen‹ werfen Schlaglichter auf einzelne Perioden der jüngsten deutschen Geschichte, in der man blättert wie in einem Familienalbum. Nationalsozialismus und politischer Umbruch sind ebenso Thema wie Gewalt in der Familie und das Wirtschaftswunder.

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nen. Sie spricht – anlässlich von Anne Habermehls neuem Stück Daddy – über die »Offenheit des Textes« und die »Durchlässigkeit« seiner sprachlichen Form, die auch Risiken birgt.35 Jürgen Hofmanns Kleine Fibel vermerkt unter dem Buchstaben Ypsilon: »Das Ypsilon steht hier für eine ebenso unabdingliche wie unbeschreibbare Qualität im Theaterstück als dem Wortkunstwerk leibhaftiger Präsenz: der Leerraum, die Lücke, Sprachlosigkeit, Fremdheit, Schweigen.«

A u sb l i c k Die jungen AutorInnen des Studiengangs Szenisches Schreiben, die der Theaterkritiker Egbert Toll eine »Kaderschmiede des deutschen Dramatikernachwuchses« nennt,36 wagen sprachliche, dramaturgische, ästhetische Risiken im Inneren des Textes und öffnen ihr Spektrum – ausgehend von der Familie – zu brisanten gesellschaftspolitischen Dimensionen. Sie schreiben niemals – wie die Autoren der Dokumentarstücke aus den 60er Jahren – über ein politisches Thema. Das zeigt sich ganz deutlich in dem Stück Kein Schiff wird kommen37 von Nis-Momme Stockmann aus dem Studiengang Szenisches Schreiben, das bereits an mehreren großen Theatern gespielt wird. Der Autor ist beauftragt, ein Stück über den Mauerfall 1989 zu schreiben und berichtet in mehreren ineinan35 Pressemitteilung des Residenztheaters München vom Juni 2009. 36 Toll, Egbert, in: Süddeutsche Zeitung vom 22.06.09, S. 13. Vgl. auch die Stück-Auszüge von Nina Büttner, Dirk Laucke, Juliane Kann, Nina Ender, Magdalena Grazewicz, Tina Müller, Anne Habermehl, Anne Rabe sowie Georgia Doll in: S. Tigges (Hg.), Dramatische Transformationen, S. 123197 sowie S. Tigges/K. Pewny/E. Deutsch-Schreiner (Hg.), Zwischenspiele, S. 96-163. 37 Es war ein Werkauftrag des tt-Stückemarktes 2009, gestiftet von der Bundeszentrale für politische Bildung. Es ist ein Künstler-, Familien- und Geschichtsdrama zugleich wie das Stück BRD-Fragmente von Johanna Kaptein. Die Uraufführung von Kein Schiff wird kommen fand im Schauspiel Stuttgart am 19.02.2010 in der Regie von Annette Pullen statt. Das Stück ist seit 19.10.2010 im Repertoire des Deutschen Theaters Berlin in der Regie von Frank Abt. Auch in Nis-Momme Stockmanns anderem Stück Das blaue blaue Meer verbindet der Autor Gesellschaftskritik – das Leben im sozialen Wohnungsbau – mit einer anrührenden Liebesgeschichte. Das Stück wurde bereits uraufgeführt am Schauspielhaus Frankfurt am 22.01.2010 in der Inszenierung von Marc Lunghus. Alle Verlagsmanuskripte und Aufführungsrechte von Nis-Momme Stockmann sind vertreten durch den Theaterverlag Schaefersphilippen, Köln.

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dergeschachtelten Szenen, wie er sich quält, das Thema zu bewältigen und es nicht kann, weil es zu unpersönlich, fern und abstrakt für ihn ist. Aber ab dem Zeitpunkt, als er von seinem Vater erfährt, dass seine Mutter am Tag des Mauerdurchbruchs qualvoll gestorben ist, vermag er zu schreiben. Junge Autoren verweigern sich keineswegs politischen Themen. Im Gegenteil: Sie verwandeln sie sich selbst an und lassen sie als Kontexte in ihren Personen aufscheinen. Das Persönliche ist das Politische. Das Politische ist als persönliches Erlebnis gestaltet.38

38 Ich denke hier zugleich an englische Dramatiker wie Dennis Kelly und besonders an Simon Stephens’ Stück Motor Town, in dem der Irakkrieg sich in der Figur Dannys grausam im eigenen Land fortsetzt.

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D RAMATISCHE »Z ERREISSPROBEN «: T HEATER – A KTIONISMUS – A UTHENTIZITÄT

ALS

THEATER VERLIESS: AKTIONISTISCHE PRAXEN IN D E N 1960 E R J AH R E N

DAS

THEATER

DIE

BRIGITTE MARSCHALL Die Praktiken des Theaters als politisches Forum und die zeitgleich stattfindenden aktionistischen Experimente im urbanen Raum beschreiben in den frühen 1960er Jahren Theatralität an der Grenze zwischen Lebenswirklichkeit und Ästhetik, erweisen sich als Seismograph der Wahrnehmung gesellschaftlicher Strukturen und Ordnungen. In diesem Rahmen wird auch das von den Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits initiierte Aufbrechen bzw. Überschreiten der Grenzen des Theaterraumes und die Aufhebung der Trennung von Bühne und Zuschauerraum weitergeführt. Das Thema der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit und die je eigene Positionsbestimmung waren wesentliche Momente der ästhetischen Ausdrucksformen und Spielpraxen im deutschsprachigen Raum. Es war dies eine Zeit der Rahmenund Tabubrüche, in der das phänomenale Sein, der Mehrwert von Kultur als handlungsorientierter sozialer Prozess in den Blick gerät und den Menschen in seiner gesellschaftlichen Verfasstheit, in seiner Vitalität und Körperlichkeit im Mittelpunkt sah. Die in zahlreichen Kunstprojekten der Zeit vollzogene Zerstörung und Zertrümmerung traditioneller Werte und Kulturen als Instrument der Gesellschaftskritik führte zur Konfrontation mit dem Textinterpretationstheater, schließlich zum Auszug aus den Theaterhäusern. Peter Handke verteilte in seiner Publikumsbeschimpfung die Spielregeln zwischen Publikum und Schauspieler neu, thematisierte die räumliche Trennung von Bühne, Zuschauer- und Lebensraum. Handkes Publikumsbeschimpfung, uraufgeführt am 8. Juni 1966 im Frankfurter Theater am Turm in der Regie von Claus Peymann, griff die Institution Theater an, die Seh- und Erwartungshaltungen des Publikums, zielte auf die Zerstörung von Dramaturgien, stellte inhaltliche Positionen des Dramas infrage. Nicht länger konnte sich der Zuschauer auf seine Erwartungshaltung eines schönen Theaterabends verlassen. Es gab keine dramatischen Figuren und keine fiktive Welt mehr, die dargestellt wurde. Die Attacke

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gegen das Publikum zielte auf ästhetische und ethische Ordnungsmuster, auf tradierte Normen und Tabus, auf Anpassungsstrategien. Die Bühne, der Schauplatz war ausgeräumt, und gegen das Publikum wurden Schimpfkanonaden gerichtet. Die Spielweise bezog sich direkt auf die Masse Publikum. »Sie stehen im Mittelpunkt des Interesses. Hier wird nicht gehandelt, hier werden Sie behandelt […] Sie interessieren in ihrer Eigenschaft als Theaterbesucher. Sie bilden hier als Theaterbesucher ein Muster. Sie sind keine Persönlichkeiten«.1

Das Theater konstituierte sich als Ereignis zwischen Akteuren und Zuschauern, wechselweise wurde eine Beziehung aufgebaut und Reaktionen getestet. Die Zuschauer wurden verbal attackiert und beschimpft, »weil auch das Beschimpfen eine Art ist, mit Ihnen zu reden«.2 Die Zuschauer reagierten auf die Zurufe, »ihr Hungerleider, ihr Griesgräme, ihr Schleimscheißer, ihr geistiges Proletariat«3, ihrerseits mit Kommentaren, mit Aufstehen, Gehen, die Bühne stürmen. Von allen Beteiligten wurden die Bedingungen und Regeln einer Theateraufführung neu verhandelt. Wie sich allerdings zeigte mit einer gewissen Grenzziehung und Ermahnung zur Achtung des literarischen Werkes von Handke und des Regiekonzepts. Peymann duldete nicht, dass bei der auf die Premiere folgenden Aufführung Zuschauer die Seite wechselten und die Bühne beanspruchten, um dort mitzumachen. Er brach die Vorstellung ab und versuchte, die Zuschauer von der Bühne zu drängen. Er verstand seine Inszenierung als Werk und sprach dem Publikum das Recht ab, die Rampe zu überschreiten und verändernd einzugreifen. Der Regisseur Peymann verhinderte eine Neudefinition der Positionen Schauspieler/Zuschauer, Zuscherraum/Bühne, die auch die Möglichkeit des Rollenwechsels beinhaltet hätte. Beteiligung und Mitbestimmung betrafen nicht nur den Rezeptionsmodus der Zuschauer, sondern auch die innere Struktur des Theaterbetriebs, ein Aufbegehren gegen die autokratischen Führungsstile der Theaterintendanten war die Folge. Demokratisierung in allen gesellschaftlichen Strukturen verlangte den Abbau von Hierarchien. Veränderungen im Arbeitsprozess, demokratisch geführte Debatten und Meinungsbildungen waren das Ziel, die in der Schaubühne unter Peter Stein und sei1 2 3

Handke, Peter: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1966, S. 21. Ebd., S. 43. Ebd., S. 46f.

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ALS DAS THEATER DIE THEATER VERLIESS

nem Dramaturgen Dieter Sturm über bloße Absichtserklärungen hinausgingen. Theaterarbeit wurde als gesellschaftliche Arbeit verstanden, die direkt auf Vorgänge in der Gesellschaft reagierte. Die Zerstörung der geschlossenen Dramenformen der Klassiker begann, gegen die kapitalistische Welt wurde mit Pop- und Rockkultur vorgegangen, die Auseinandersetzung wurde direkt in der Öffentlichkeit gesucht. Eine junge Generation, die sich mit Rainer Werner Fassbinder im Action-Theater in München, mit Wilfried Minks und Peter Zadek in Bremen formierte, radikalisierte das Geschehen auf der Bühne. Die Zuschauer wurden aus ihrer voyeuristischen Passivität im Dunklen der Guckkastenbühne gerissen. Das Theater musste aber auch auf die Strategien der Medien, auf veränderte Wahrnehmungs- und Zeitdimensionen reagieren, wollte es nicht als veraltet gelten. Das Fernsehen mit der raschen Bildfolge, der Schnitttechnik und den Liveschaltungen beeinflusste wesentlich die Entstehung von Happening und Performancekunst. Fernsehbilder vom Vietnamkrieg politisierten und radikalisierten die Jugend weltweit. Die Fragen der nachrückenden Generation nach der Schuld und Verantwortung der Eltern im Holocaust ließen neue Protestformen entstehen. Die politischaktivistischen Impulse wechselten zwischen Theater und Studentenbewegung, die sich von 1967 an immer deutlicher formulierte und ihre eigenen theatralen Inszenierungsformen für Demonstrationen und Aktionen entwickelte. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule wurde zur Philosophie eines Jahrzehnts. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse waren die wesentlichen Stimmen in Diskussionen der Studentenbewegung, deren politische Motivierung sich zusehends durch die Auswirkungen des Vietnamkrieges, durch die machtpolitischen Verhältnisse radikalisierte. Die Suche nach Realerfahrung bestimmte die Happenings und die Aktionen mit Partisanentaktik. Das Theater ging auf die Straße, die selbst Theater, Environment wurde. Alltagshandlungen wurden aus ihrem Funktionszusammenhängen gelöst, Prozesse wichtiger als die Statik der Artefakte. Die Theatralisierung der Wirklichkeit folgte dem anarchischen Charakter der Protestbewegungen, die Alltagswelt avancierte zu einem Spielraum aktivistischer Methoden. Der Autonomiebegriff der Kunst beanspruchte wieder seinen Gebrauchswert, seine Funktion. Die beabsichtigte Annäherung von Kunst und Leben und der Einsatz destruktiver Handlungen im künstlerischen Produktionsprozess attackierten Herrschaftsformen und Gesellschaftsstrukturen, wandten sich gegen militärisch-atomare Aufrüstung und die Auswüchse der Technologie. Die sozialen Handlungsformen und Verfahrensweisen bedienten sich profaner Gegenstände, setzten die Rahmenbedingungen für den Kunstbetrieb neu.

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In institutionskritischer Absicht wurde die Rolle des Künstlers befragt. Selbstverletzende Aktionen der Aktions- und Performancekunst verbunden mit Schmerz und Grenzerfahrungen des Bewusstseins stellten neue Anforderungen an ethische und ästhetische Maßstäbe. Der Mehrwert des Rituals im theatralen Geschehen trug wesentlich zur Konzeption körperintensiver Theaterformen der 1960er Jahre bei. Die Betonung des Körpers, der als Lustorganismus und nicht länger als lustfeindliches Leistungs- und Arbeitsinstrument verstanden wurde, schuf die Basis. Marcuse beschreibt diese körperliche Lust, den Zusammenhang zwischen Körperlichkeit, Lustprinzip und einer auf Befreiung angelegten gesellschaftlichen Verfasstheit in seinem Aufsatz Über den affirmativen Charakter der Kultur.4 Die Forderung nach einer gesellschaftlichen Revolution sollte direkt auf der Straße eingelöst werden, die besetzt war vom politischen Straßentheater und von den Happenings Wolf Vostells. An Wolf Vostell kann exemplarisch die Entwicklung der HappeningBewegung in Europa nachgezeichnet werden, gilt er doch als die zentrale Persönlichkeit der Aktionskunst in Deutschland. Zwischen Amerika und Europa pendelnd, brachte Vostell die Ideen und Konzepte der Happening-Bewegung nach Europa. Im Unterschied zu den amerikanischen Kollegen Allen Kaprow und Claes Oldenburg richteten er und in radikalerer Form auch Bazon Brock den Blick auf politische Phänomene, beide verlegten das Aktionsfeld der Happenings in den öffentlichen Raum. Vostell propagierte das Decollagieren, das Aufreißen und Neuzusammensetzen von Wirklichkeitspartikeln. Aus der Dé-Komposition von Vostells malerischem Werk entwickelte sich die szenisch-theatrale Ausdrucksform, die das öffentliche (politische) Leben und dessen Probleme zur Arbeitsgrundlage nahm. Vostell entwickelte ein Instrumentarium des Zerreißens, Aufreißens, Abreißens, Abkratzens, Verwischens und Übermalens, das er auf Leinwände, Plakate, Alltagsgegenstände elektronische Apparate und Konsumgüter anwandte. Er reagierte mit Décollagen auf die Zerstörungsund Selbstzerstörungsbemühungen der zivilisierten Gesellschaft, transferierte den Décollage-Anwendungsbereich ins Aktionistische. Nicht die ästhetischen Ergebnisse waren primäres Interesse, sondern der Prozess der Herstellung. Die Erweiterung des Happening-Begriffs in bewusstseins- und gesellschaftskritische Dimensionen bezeichnete Vostell als Décollage-Happening. Mobile Realitätsfragmente und Wahrnehmungs-

4

Marcuse, Herbert: Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Ders.: Kultur und Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 56-101.

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partikel des öffentlichen Raums schufen die Rahmenbedingungen der Aktionen. Vostell verstand darunter »inszenierte oder improvisierte Geschehnisse mit Einbeziehung auch vorhandener Ereignisse, Phasen und Schocks aus deren Umgebung von heute. Der Zuschauer wird aktiv oder auch alogisch ins Geschehen, das nicht geprobt wird, mit einbezogen. Je nachdem, wie er die Spielregeln akzeptiert, wird auch der Verlauf des Happenings davon abhängen.«5

So forderte Vostell in einer Aktion auf, einen bestimmten Autobus einer Pariser Linie zu besteigen und die jedermann alltäglich begegnenden, aber nur unbewusst wahrgenommenen Randerscheinungen einer Fahrt zu registrieren. »Fahren Sie um Paris herum – achten Sie auf die gleichzeitigen akustischen und optischen Umstände – Lärm, Schreie, Stimmen – Wände mit abgerissenen Plakaten, Trümmer-Ruinen.«6 Vostells Happenings waren ein Unterwegs-Sein, wie auch das Leben Unterwegs-Sein bedeutet. Das perfekte Symbol der Konsumkultur war für ihn das Auto. Schon in seinen frühen Konzepten steht es im Mittelpunkt, nicht nur als Konsumfetisch, sondern auch als aggressives, bedrohliches Element. Neben Kühlschrank, Fernseher und tragbarem Radio, brachte das Auto mit seiner Mobilität als Inbegriff für Freiheit den technischen Fortschritt in der westlichen Welt überdeutlich zum Ausdruck. Flugzeuge und Autos, statusträchtige Güter des Kapitalismus, überführte Vostell in gedankliche und existentielle Veränderungsprozesse, riss die Schichten der oberflächlichen Wahrnehmung auf, zeigte, wie sie zu Maschinen des Todes werden. Bei seinem Happening Neun Nein Décollagen (1963) ließ er auf dem Rangierbahnhof Vohwinkel bei Wuppertal ein Auto von zwei Lokomotiven zermalmen. Die Aktion ist durch Filmaufnahmen und Fotografien dokumentiert. Vostell musste der Bundesbahndirektion vor Beginn der Aktion eine Haftpflichterklärung unterschreiben, in der er auf alle Schadensersatzansprüche verzichtete. Ein Beamter der Bahn beaufsichtigte das Geschehen. Beobachtung und Handlung evozierten einen gezielten Dialog von Kunst und alltäglichem Leben. Vostell formulierte Fragen über den Zeitgeist der Gesellschaft und das Umfeld des Menschen, der immer durch Gewalt, Krieg und Tod bedroht wird.

5 6

Schilling, Jürgen: Aktionskunst. Identität von Kunst und Leben? Eine Dokumentation, Luzern/Frankfurt a.M.: C.J. Bucher Verlag 1978, S. 125. Ebd.

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1969 betonierte Vostell einen Opel Kapitän unter dem Titel Ruhender Verkehr ein. Die Form des Autos sollte an einen Sarg erinnern. Beton, Baumaterial und Schutt waren wiederkehrende Aktionsmaterialien, deren Gebrauchswert er hinterfragte. Der einbetonierte Opel war zugleich auch eine Verwischung, eine Verdeckung, in diesem Falle mit Beton. Das vor der Kölner Galerie »art intermedia« abgestellte, ruhende Verkehrsvehikel erregte Anstoß, wurde als Sicherheitsrisiko eingestuft, da es als Hindernis nicht zu erkennen war. Vostell interessierte der Widerspruch, »daß wir ein Objekt (als Beispiel Auto) als angenehm und brauchbar empfinden, zwei Stunden später jedoch das Gegenteil erleben; nämlich Unbrauchbarkeit und Unannehmlichkeiten, die sich wie Kettenreaktionen auf andere tägliche Handlungen ausdehnen.«7

Das harmlos stehende Auto wurde als gefährliches Risiko angesehen und hatte für Vostell die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeit, in der wir uns täglich bewegen, genau getroffen: Unfallgefahr droht mit dem fahrenden, nicht mit dem ruhenden Verkehr. Der Autounfall als Environment, als Plastik richtete sich gegen das angenehme Fortbewegungsmittel und evozierte den Unfalltod.8 Versuchten Allen Kaprow, Wolf Vostell und die Künstler der Fluxusbewegung eine Gemeinsamkeit der ästhetischen Erfahrung zwischen dem Happening-Auslöser und dessen Teilnehmern herzustellen, um die Zuschauer aus ihrer passiven Rolle zu lösen, so setzten die Wiener Aktionisten einen radikaleren Befreiungsanspruch durch. Die Künstlergruppe, die sich zunächst Aktionsgruppe nannte, bestand aus Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Im Hinblick auf die Entwicklungen des amerikanischen Action Paintings und seiner theatralen Realisierungsform, dem Happening, fanden die Wiener Aktionisten zu eigenständigen Ausdrucksformen. Die österreichische Ausprägung griff die im Land tief verankerte Tradition der katholischen Kirche und die in den 1960er Jahren vorherrschende Ideologie von der Opferrolle im Nationalsozialismus auf. Die Aufarbeitung der NS-Zeit, aber auch die des Austrofaschismus fand nicht statt, im Schulunterricht kam die unmittelbare Vergangenheit nicht vor. 7

8

Becker, Jürgen/Vostell, Wolf (Hg.): Happenings. Fluxus, Pop Art, Nouveau Réalisme. Eine Dokumentation, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1965, S. 403. 1987 gratulierte Vostell anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins mit 2 Beton Cadillacs in Form der nackten Maja.

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Die Universität zeigte sich als Relikt der Zwischenkriegszeit, Wirtschaftsprofessor Taras Borodajkewycz hetzte in seinen Vorlesungen offen gegen Juden. Als es zu Demonstrationen kam, standen einander die Gegner von Borodajkewycz und rechtsradikale Burschenschaften gegenüber. Bei den folgenden Ausschreitungen am 31. März 1965 wurde der Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von Mitgliedern der rechtsradikalen Burschenschaft ›Olympia‹ erschlagen.9 Die Pläne der Amerikaner, nach dem Krieg »belastete« Personen auszutauschen und einen Neubeginn zu versuchen, wurden durch den Ausbruch des Kalten Krieges rasch obsolet. Die geografische Lage, herrschten doch wenige Kilometer von Wien entfernt kommunistische Systeme, isolierte Österreich. »Die Aufgabe der Aktionisten in den 60er Jahren war es, den österreichischen Faschismus, diese große österreichische Verdrängung, diese wirkliche Katastrophe als Zerstörung aufzudecken.«10 Die Tendenz zu geistiger und kultureller Erneuerung blieb nicht nur eine ephemere Erscheinung, sondern bereitete ein Klima der kulturellen und intellektuellen Freiheit vor, welches sich um 1968 allmählich auch in Österreich bemerkbar machen sollte. »Zwar fand 1968 in Österreich nicht statt, wenn man damit die großen politischen Aktionen meint, wie zum Beispiel die Studentenunruhen in Westeuropa. Doch wurde dadurch auch in Österreich ein kritisches Bewusstsein ausgelöst, das sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch auf politischer Ebene niederschlug; durch die politische Wende in der Tschechoslowakei – den ›Prager Frühling‹ – verschärften sich noch die politischen Auseinandersetzungen. Die Übernahme der Alleinregierung durch die SPÖ war letzten Endes eine Folge dieser allgemeinen Bewusstseinsänderung«.11

Der Sozialdemokratie und insbesondere Bundeskanzler Bruno Kreisky gelang es allerdings weder reibungslos noch politisch widerspruchsfrei, gegen den konservativen Zeitgeist anzutreten. Der für die Kreisky-Ära festzustellende Entwicklungsschub vollzog sich im internationalen Trend. Jugendrebellion, sexuelle Revolution, Aufweichung alter Autoritäten gingen mit einer Liberalisierung und nicht zuletzt einer Erweiterung der künstlerischen Möglichkeiten einher. Österreich war jedoch selbst im

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Vgl. Aspetsberger, Friedbert (Hg.): Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich, Wien: Bundesverlag 1984, S. 245. 10 Turrini, Peter/Roussel, Danièle: Der Wiener Aktionismus und die Österreicher, Klagenfurt: Ritter Verlag 1995, S. 94. 11 Freund, Jutta: Die Realitätserfahrung des Arbeiters im österreichischen Roman der siebziger Jahre. Unveröffentlichte Dissertation, Wien 1985, S. 43.

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Jahr der Studentenunruhen weit davon entfernt, eine politische Revolte zu erleben. Dennoch vollzog sich eine sanfte kulturelle Veränderung, die sich massiv 1976 in der Arena-Bewegung12 manifestierte und den daraus entstandenen Freiräumen der Selbstverwaltung sowie der Anti-AtomBewegung und der Besetzung der Hainburger Au, um deren Verbauung zu verhindern. Der Wiener Aktionismus wollte das System, den Staat, die Kirche, die Obrigkeit attackieren. Die Materialschlachten des II. Weltkriegs, das Schlachten in Vietnam sollte mit den Materialaktionen von Mühl und Brus erinnert und weitergeführt werden. Der nackte, verletzte Körper selbst wurde zum Thema, wobei seine Aussonderungen wie Urin, Kot und Sperma bei öffentlich vollzogenen Aktionen produziert und oftmals dem Körper wieder einverleibt wurden. 1962 lernten einander Nitsch und Mühl kennen. In diesem Jahr beschlossen die beiden Künstler, sich zur Befreiung der Menschheit zusammen mit Adolf Frohner drei Tage lang in einem Keller einmauern zu lassen und nannten diese Aktion Die Blutorgel: »es gibt kein erkennbares Weltgesetz außer der Blutorgel«.13 Die angestrebte Regression, das Hinabsteigen in die Tiefen menschlicher Psyche findet die räumliche Entsprechung in der Metapher des Kellers, den Mühl als »uterine Brutanstalt«14 bezeichnet. Mühl: »Unter einem Künstler verstehe ich einen Menschen, der sich unter die Erde begibt, dort Stollen treibt, und solange alles kreuz und quer unterminiert bis plötzlich irgendwo sich ein Erdrutsch ergibt.«15 Im ersten Teil der am 1. Juni 1962 stattfindenden Blutorgel, der den Titel Einkerkerung trägt, begaben sich die drei Künstler in Mühls Kelleratelier in der Wiener Perinetgasse und ließen den Eingang zumauern. Im zweiten, drei Tage dauernden Teil fertigte Mühl Gerümpelplastiken an,

12 Das Areal des Auslandschlachthofes St. Marx, die Arena war 1976 Schauplatz alternativer Kulturveranstaltungen im Rahmen der Wiener Festwochen. Die Besetzung zielte auf eine längerfristige Nutzung des Areals für ein unabhängiges, selbstverwaltetes Kulturzentrum ab. Nach wenigen Wochen der Besetzung wurde das Gelände von der Polizei geräumt und der Gebäudekomplex abgerissen. 13 »Die Blutorgel. Originalmaquette«, in: Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus, Wien 1960-1965, hg. vom Museum Fridericianum Kassel, Klagenfurt: Ritter Verlag 1988, S. 218-221, hier S. 221. 14 Mühl, Otto: Tagebuch, 62/63, Typoskript, S. 34; zit. nach: Braun, Kerstin: Der Wiener Aktionismus, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1999, S. 133. 15 Schwarz, Dieter: Aktionsmalerei, Aktionismus. Wien 1960-1965, eine Chronologie, Zürich: Seedorn 1988, S. 41.

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die er als »Katastrophenapparatur« bezeichnete, welche die eigentlichen Gestaltungstriebe des Künstlers – Sadismus, Aggression, Perversion und Geldgier – zeigen sollten. Das bereits von der Gesellschaft benützte Material, das Vordemolierte wurde durch »totale Misshandlung bis zum Brei« bearbeitet und durch Spritzen, Schütten, Zerstückeln, Amputieren, Foltern, Ausweiden misshandelt. Frohner produzierte Objektmontagen und Nitsch ein Schüttbild.16 Am 4. Juni wurden in der Ausmauerung die Künstler und ihre Werke freigelegt. In einer öffentlichen Abschlussaktion kreuzigte Nitsch als ästhetische Opferersatzhandlung einen Tierkadaver, weidete ihn aus, beschüttete ihn. Nitsch beschreibt diesen Schüttprozess als Weiterentwicklung und Überschreitung der Aktionsmalerei in Form des Aktionstheaters. Die Metamorphose von der Malaktion zur Aktionsmalerei und schließlich zum Aktionstheater war vollzogen. Zugleich wurde die Aktionsmalerei als Element in das Aktionstheater integriert. Die Schüttbilder sind integrierte Malaktionen und Resultate des Handlungsverlaufs. »das o.m. theater ist eine über die möglichkeiten der aktionsmalerei, welche sich die zeitkomponente erobert hat, erreichte ausweitung in das aktionstheater.«17 Die künstlerische Entwicklung von Günter Brus verlief von 1964 bis 1965 von der informellen Malerei über die Atelieraktionen Selbstbemalung und Selbstverstümmelung für Fotos und Film zum Selbsteinsatz als bemalter Akteur im Wiener Spaziergang. Anfang Juli 1965 spazierte Brus durch die Wiener Innenstadt mit weißbemalter Haut und Kleidung. Ein den Körper zweiteilender, vertikaler schwarzer Strich führte über das rechte Bein zum rechten Fuß und ließ Brus wie ein lebendes Bild erscheinen. Der Aktionsverlauf ergab sich aus den Wahlmöglichkeiten, die der Straßenverlauf zum Gehen erlaubte und den Reaktionen der Öffentlichkeit. Die Polizei hielt den Aktionisten an, der schließlich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt wurde. 1966 entstand aus der engen Zusammenarbeit zwischen Mühl und Brus das Konzept der Totalaktion. In dieser wird eine Synthese der Materialaktion von Mühl und der Selbstverstümmelungsthematik von Brus angestrebt. In den Totalaktionen werden »alle opernhäuser, theater, museen und bibliotheken dem erdboden gleichgemacht«.18 Der Aktionsprozess, die aktionistische Vorgehensweise sollte das Theater vollkommen 16 Vgl. ebd., S. 42-48. 17 Ebd., S. 44; 1971 erwarb Nitsch Schloss Prinzendorf im Weinviertel nördlich von Wien. Die Atmosphäre des Barockschlosses und die Naturmystik der Landschaft sind seither eng mit dem O.M.-Theater verbunden. 18 Klocker, Hubert (Hg.): Wiener Aktionismus. Wien 1960-1971. Der zertrümmerte Spiegel, Klagenfurt: Ritter Verlag 1989, S. 219.

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ersetzen. Die Totalaktion sollte durch Provokation und Schock in der Öffentlichkeit wirksam werden. Die in der Totalaktion erfolgte Reduktion und Zerstörung der Sprache auf einzelne Laute, auf Stammeln, Gurgeln, Zischen, Röcheln, Schreien und Brüllen, ist als Folge der Materialisierung des Menschen und seiner Ausdrucksmittel, seiner Verbalsprache und Körpersprache zu verstehen. Die Phase der Totalaktionen floss in das Konzept der Körperanalysen ein. Im Unterschied zu Mühl und Nitsch konzentrierte sich Brus auf seinen eigenen Körper. Die Mal-Farben wurden durch die Köper-Farben wie Kot und Blut ersetzt. Anstelle der Teilungslinie mit Farbe trat die Körperflüssigkeit der Wunde durch Schnitte mit Rasierklingen. Das Rinnen des Blutes hinterließ ihrerseits wieder eine Farbspur am Körper. »Selbstbemalung ist bewältigte Selbstverstümmelung. Selbstbemalung ist unendlich ausgekostete Selbstentleibung.«19 Zuschauerpartizipation existierte bei Brus so gut wie überhaupt nicht. 1970 beendete Brus mit der Zerreißprobe (im Aktionsraum 1 in München) seine Aktionstätigkeit mit dem eigenen Körper. Er verstand diese letzte Performance, die eine dichte, dramaturgisch präzise Durchführung aufwies, als Endpunkt und Abschluss. Der Aufeinanderfolge von schockartigen Impulsen und Verschnaufpausen lag eine genaue Partitur zugrunde. »Der Körper des Agierenden wird auf eine harte Probe gestellt – Muskelflattern entsteht und Keuchatem, Achselschweiß und sonstiger Schweiß und Sehstörungen mit geröteten Augen.«20 Brus zeigte Selbsterfahrung nicht im Stadium der Selbstkontrolle, sondern im Stadium der Dissoziation des Ichs durch Schmerz. Ein Film und eine Fotomappe dokumentierten die Zerreißprobe. Rudolf Schwarzkogler führte zunächst noch gemeinsame Aktionen (1964 mit Mühl Das Luftballonkonzert und 1965 als Modell in Nitschs Penisbespülung) durch, entwickelte aber eigenständige Ausdrucksformen. Das Formgefüge des Raumes und das synästhetische Gesamtkunstwerk wurden immer wesentlicher. In seinen theoretischen Texten bezeichnet er den Raum als »aktionsfeld«. Die Aktion Hochzeit (1965 in der Wohnung von Heinz Cibulka) wurde in einem environmental begriffenen Raum durchgeführt, anwesend waren Freunde des Künstlers. Die Komposition mit weißen Tüchern, weißer und blauer Farbe, erstreckte sich auf Mauerflächen und auf die Glasscheiben der Fenster. Komprimiert, beinahe minimalistisch wurden Raum und Körper (die Modelle waren Cibulka und Ani Brus), Gegenstände und Farben miteinander ar19 Ebd., S. 47. 20 Brus, Günter: »Informationsblatt zur Aktion Zerreißprobe«, in: H. Klocker (Hg.), Wiener Aktionismus, S. 142.

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rangiert. Der ereignishafte Gestus der Aktion wurde mit der Kamera begleitet. In die tableauartigen Materialarrangements in ihrer verknappten Formen- und Aktionssprache wurde der Leib in den Raum eingebunden, sollte sich gleichsam entmaterialisieren und auflösen. In seiner 6. Aktion (ohne Titel, im Frühjahr 1966, in der eigenen Wiener Wohnung) hatte Schwarzkogler zuckartige Bewegungen für den fotogenen, bewegungslosen Moment zum starren Stillstand gebracht. Auf den Schwarz-WeißFotos ist Schwarzkogler – geschminkt, mit Mullbinden bandagiert und mit Elektrodrähten verschnürt – auf weißen Leintüchern zu sehen. Der Penis wurde mit Farb- und Blutspuren befleckt. Rasierklingen, Scheren und Einwegspritzen liegen neben dem bandagierten Penis auf einer schwarzen Unterlage. Schwarzkoglers präzise und ästhetische Sensibilität entsprach seinem ausgeprägten Formwillen. Die Aktionen fanden im privaten Rahmen statt, dennoch gibt es in seiner Biografie Hinweise, dass er eine öffentliche Auseinandersetzung anstrebte, sein Perfektionswille und seine hohen Anforderungen an sich selbst ließen ihn aber dagegen arbeiten21. Direkt im öffentlichen Raum agitierte hingegen Valie Export. Sie bot im Tapp- und Tastkino (November 1968 am Stachus in München) ihren entblößten Busen hautnah zum Betasten dar. Export trug vor ihren nackten Brüsten einen »Kinosaal«, in dem nur Hände Eintritt hatten. Um den Film zu sehen, d.h. in diesem Fall die Brüste zu fühlen, durfte der Besucher eine halbe Minute in der Box mit den Händen verweilen. Peter Weibel erläuterte via Megafon die tragbaren Vorteile. Passanten sollten von der Fern-Sicht des anonymen Voyeurs im Kinosaal zur Nah-Sicht des Verweilens animiert werden.22 Export offerierte die Einlösung des Versprechens der Medien, einen erotisch weiblichen Körper zur Schau zu stellen. Allerdings waren verblüffend wenige für den handgreiflichen Körperkontakt zu gewinnen. Die Tendenzen und Entwicklungen von Happening und Aktionskunst und des Wiener Aktionismus’ waren Wegbereiter des Politisierungspro21 Vgl. Badura-Triska, Eva/Klocker, Hubert: Rudolf Schwarzkogler, Leben und Werk, Klagenfurt: Ritter Verlag 1992, S. 73. 22 Export wollte bei dem Wiener Filmfestival 2. Maraisiade – junger Film 1968 anstelle ihres prämierten Films Ping Pong das Tapp- und Tastkino zeigen. Agitation und Protest verhinderten aber die Aktion. Der Gerbrauch des Körpers als Filmmaterial ermöglichte die Entwicklung des Expanded Cinemas. In diesem Werkkomplex »erweitertes Kino«, der aus Kurzfilmen und Aktionen besteht, findet eine Auseinandersetzung mit den Materialien und Prozessen des Kinos und der Gesellschaft statt.

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zesses, in dem die Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft und kritische Attacken auf Staat und Gesellschaft propagiert wurden. In den aktuellen Inszenierungspraxen sind Strategien und Verfahrensweisen (wieder) zu erkennen, deren Grundlagen in den aufgezeigten künstlerischen Arbeiten liegen und zum Einbruch der Wirklichkeit in den Bühnenraum und zum Ausbruch der Theatralität im öffentlichen Raum führen.

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ZUR

W I E D E N K T T H EA T E R ? POLITIK DER DARSTELLUNG NACH DEM FALL NIKOLAUS MÜLLER-SCHÖLL

Wie denkt Theater? Die Frage mag merkwürdig klingen. Wir sind gewohnt, das Denken im Bereich der Philosophie oder allgemeiner der Theorie zu verorten. Im Theater dagegen, so die weitverbreitete Ansicht, wird gespielt, dargestellt, unterhalten. Was also soll die Rede von einem denkenden Theater, die – zumal im Bereich des Tanzes und der Performance – in den letzten Jahren immer wieder zu hören war?1 Handelt es sich dabei um eine bloße Metapher? Und wenn nicht: Wann wird dort gedacht? Wer denkt? Auf welche Weise? Also kurz: Wie denkt Theater? Im Folgenden möchte ich der Hypothese nachgehen, dass das Denken des Theaters und der Künste etwas mit der Art und Weise der Erinnerung der Geschichte der eigenen Tradition zu tun hat, mit ihrer Interpretation und ihrem Durcharbeiten. Denken erscheint dabei als der angemessene Begriff, weil ja die Theorie, etwa die Philosophie, nur eine Art des Denkens ist, die das Denken nicht erschöpft. Denken übersteigt das begriffliche Denken. Insofern ist es durchaus möglich, davon zu sprechen, dass die Künste andere – und je andere – Formen des Denkens darstellen, gleichsam inkorporiertes Wissen. Sie denken, wenn es eine neue Schule, ein bestimmtes Werk, ein tänzerisches, performerisches oder theatrales Ereignis gibt, kurz ein Voranschreiten. Denken ist dabei involviert, insofern ein Gedächtnis der Geschichte und Tradition der eigenen Arbeit darin zu finden ist, und dies selbst dann, wenn den Künstlern diese Geschichte selbst unbekannt ist, sie aber etwas produzieren,

1

Vgl. Schulze, Janine/Traub, Susanne (Hg.): Moving Thoughts. Tanzen ist Denken, Berlin: Vorwerk 8 2003; Siegmund, Gerald: William Forsythe: Denken in Bewegung, Berlin: Henschel 2004; Müller-Schöll, Nikolaus: »Denken auf der Bühne. Derrida, Forsythe, Chétouane«, in: Hans-Joachim Lenger/Georg Christoph Tholen (Hg.), Mnema. Derrida zum Andenken. Bielefeld: transcript 2007, S. 187-208.

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was so 20 Jahre zuvor nicht möglich gewesen wäre.2 Wobei aus heutiger Sicht hinzuzufügen ist, dass mit der Geschichte und Tradition der eigenen Arbeit noch das Konzept von Geschichte und Tradition selbst zu überdenken ist. Ich möchte diese Hypothese mit Blick auf das Verhältnis von Theater und Politik und die konkrete Frage verfolgen, was es heute heißt, politisch Theater zu machen3 und dabei die zweite Hypothese aufstellen, dass ein Theater, das denkt, heute ein Theater nach dem Fall ist. Als ein Beispiel solchen Theaters möchte ich dabei Christoph Schlingensiefs letzte, kurz vor seinem Tod abgeschlossene Arbeit Via Intolleranza II4, betrachten.

2

3

4

Vgl. dazu wegweisend Brunette, Peter/Wills, David: »The spatial arts: an interview with Jacques Derrida«, in: Dies. (Hg.), Deconstruction and the visual arts: art, media, architecture, Cambridge: Cambridge University Press 1994, S. 9-32. Nur andeuten kann ich an dieser Stelle, dass frei nach entsprechenden Äußerungen von Jean-Luc Godard und Heiner Müller zwischen politischem Theater einerseits und einem auf politische Weise gemachten Theater auf der anderen Seite zu unterscheiden wäre. Der vorliegende Aufsatz ist die leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, der anlässlich der Eröffnung der Internationalen Sommerakademie Hamburg 2010 am 18.08.2010 auf Kampnagel in Hamburg gehalten wurde. Die Veranstaltung stand unter dem Motto »Performing Politics« und hatte unter anderem die Frage der Unterscheidung politischer Kunst von politisch gemachter Kunst zum Gegenstand. Meine Ausführungen zu dieser Arbeit beziehen sich auf die Deutsche Erstaufführung auf Kampnagel in Hamburg am 23.05.2010 sowie auf die Vorstellung am 26.05.2010. Ich danke Anna Heesen, dass sie mir darüber hinaus Einblick in das Regiebuch der Inszenierung auf dem Stand vom 26.05.2010 sowie in eine Probenaufnahme gewährt hat. Zitate aus der Aufführung entstammen allerdings den Mitschriften während der Vorstellungen – und sind entsprechend nur bedingt zuverlässig, da Übertragungsfehler angesichts der unten beschriebenen Eigenart der Inszenierung nicht auszuschließen sind.

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1 . Z u r P o l i ti k d e r D ar s te l l u n g n ac h de m F al l 5 Nach dem Fall, das ist im gegenwärtigen deutschen Sprachgebrauch auf doppelte Weise zu verstehen. Nach dem Fall, das ist zum einen die gebräuchliche Wendung für die Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer. Könnte man auch andere, nicht minder symbolische Momente herausgreifen, so ist doch keiner so sehr zum Zeichen des Niedergangs des real existierenden Sozialismus geworden wie der Moment, als in Berlin die Mauer, die zwischen 1961 und 1989 die beiden Teile der Stadt, die beiden deutschen Staaten und die beiden Blöcke trennte, aufgrund einer mehr oder weniger beiläufigen Wendung eines Funktionärs, wie aus Versehen, geöffnet wurde. Nach dem Fall, das ist aber auch – und lange Zeit vor dem Fall der Berliner Mauer, vor den Ereignissen, die, lange vor 1989 und sogar lange vor der Gründung der zwei deutschen Staaten, vor 1949, in letzter Konsequenz zu ihm führten – die gebräuchliche Wendung für eine unserem jüdisch-christlich-abendländischem Denken eingeprägte triadische Vorstellung: Auf das Paradies folgt mit dem Essen eines Apfels vom Baum der Erkenntnis, mit dem Sündenfall und der Vertreibung Adams und Evas aus dem Garten Eden die Zeit nach dem Fall, eine Zeit, die von den vorgeschichtlichen Ursprüngen in Mythos und Religion bis in die Gegenwart reicht, und darüber hinaus bis in eine Zukunft, die, vielleicht, in einem wiederkehrenden Paradies diese Epoche beenden wird. Die so genannten ›großen Erzählungen‹ (Lyotard)6, die Erzählung von der Emanzipation der Menschheit (Kant), vom allmählich zu sich kommenden absoluten Wissen (Hegel) oder von der in Klassenkämpfen auf das Endziel einer klassenlosen Gesellschaft hin sich entwickelnden Menschheit (Marx) sind auf eine Weise, nämlich in der Form, wie sie sich über den engeren Zusammenhang der Philosophie hinaus im Bewusstsein der westlich-abendländischen Gesellschaft – in Politik, Kultur und im alltäglichen Verständnis von Geschichte – niedergeschlagen haben, Reformulierungen jener biblischen Erzählung. Den Lesern Heinrich von Kleists begegnet sie, vermittelt nicht zuletzt durch das von Kleist wie von weni5

6

Der nachfolgende Teil erschien zunächt in dänischer Sprache im Rahmen des folgenden Aufsatzes: Müller-Schöll, Nikolaus: »Erfaringsfattigdom. Om visse sceniske praksisser ›efter faldet‹«, in: Peripeti. Tidsskrift for dramaturgiske studier 14 (2010), S. 7-16. Vgl. dort auch weitere Beispiele eines Theaters, das im beschriebenen Sinne ›nach dem Fall‹ zu situieren ist. Vgl. Lyotard, Jean-Francois: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Les Editions de Minuit 1979.

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gen anderen registrierte radikale Scheitern des kantischen Versuchs der Etablierung eines allumfassenden philosophischen Systems und Subjekts, in der wiederkehrenden Wendung vom ›Fall‹ in seinen Texten. In seinem vielgelesenen und schwer verständlichen Text Über das Marionettentheater7 etwa stößt man auf die Allegorese des Scheiterns dieser großen Erzählung und zugleich noch ihrer Darstellung. Der amerikanische Literaturtheoretiker Paul de Man hat dies eindrücklich dargelegt.8 Was nach dem Fall, wenn wir Kleist folgen, verschwunden ist, ist nicht nur die paradiesische Einigkeit, sondern mit ihr auch die Möglichkeit, sich in einer Sprache, in einer Praxis des Denkens, einer Theorie, einem Code über diesen Verlust zu verständigen. Es ist, als dächte der Schriftsteller im Topos des Falls, wie später Kafka, die Vertreibung aus dem Paradies mit dem Scheitern des Turmbaus zu Babel9 zusammen. Auf jeden Fall lässt sich in Kleists Schriften immer wieder beobachten, wie die Darstellung eines Scheiterns – von Hoffnungen, Begegnungen, Ersetzungen, Versöhnungen – umschlägt in ein Scheitern noch der Darstellung selbst, auf jeden Fall, wenn man unter Darstellung die adäquate Repräsentation der Dinge durch ihre intellektuelle Bezeichnung versteht. In der Traditionslinie dieses Scheiterns steht nicht zuletzt das Denken ›nach dem Fall‹ in Walter Benjamins Theorie – einer Theorie, die, beginnend mit seinem 1916 verfassten Aufsatz Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen10 in wesentlichen Teilen eine der Sprache nach dem Fall ist: Was Benjamins Ausführungen zufolge im Moment des Falls verloren ging, war die Harmonie des Paradieses, die Harmonie des ersten, alle kommenden vorwegnehmenden totalitären Menschheitssystems. Was Benjamins Lektüre für ein Nachdenken über die heutige condition humaine und das heutige Darstellen so interessant macht, ist, dass für Benjamin letztlich das Zeitalter der Unübersichtlichkeit, das Zeitalter

7

Kleist, Heinrich von: »Über das Marionettentheater«, in: Ders.: Sämtliche Werke, Brandenburger Ausgabe, hg. v. Roland Reuß und Peter Staengle, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern 1997, S. 317-319 u. S. 321323. 8 Vgl. de Man, Paul: »Ästhetische Formalisierung«, in: Ders.: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S. 205-233. 9 Vgl. dazu die zunächst unter dem Titel Das Stadtwappen erschienene Erzählung in: Kafka, Franz: Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 143f. u. 147. 10 Vgl. Benjamin, Walter: »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band II, 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 140-157 (= im Folgenden: WB).

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der verschwundenen Einheit, die Zeit nach der allumfassenden Ordnung, nach dem idealen, alle Fragen und Konflikte grundsätzlich regelnden System im Moment des biblischen Falls beginnt. So liest sich seine Lektüre der biblischen Geschichte vom Sündenfall als Allegorese dessen, was andere als Erfahrung der Modernität bezeichnet haben, als Erzählung von dem, was uns aus den geschlossenen Systemen in eine unübersichtliche Welt heraustreten ließ, deren Unübersichtlichkeit nicht zuletzt darin besteht, dass man sie niemals restlos als solche zu benennen vermag. Thetisch könnte man formulieren, dass über das, was der ›Fall‹ der Mauer im gegenwärtigen Sprachgebrauch vage zu benennen versucht, ein Zeitalter nach den großen Erzählungen, nur geredet werden kann, wenn man diesen Fall auf den von Benjamin konstatierten, auf seine Weise gelesenen Sündenfall bezieht. Was mit der Mauer gefallen ist, ist die Vorstellung, es könne irgendeine geschlossene Ordnung, irgendeine geschlossene Ökonomie geben, in der sich die Dinge gleichsam wie von selbst, konfliktfrei regeln. Gefallen ist auch die Idee einer Geschichte, die von einem vorgeschichtlichen Ursprung her auf ein geschichtliches Telos hin angelegt ist, auf das hin sie sich, mehr oder minder automatisch, entwickelt. Insofern solche Vorstellungen sowohl einen sich fälschlich auf Marx berufenden ›Marxismus‹ wie überhaupt alle jene mehr oder minder totalitären politischen Ordnungen prägte, die den Staat gleichsam als umfassend zu konstruierendes Gesamtkunstwerk begriffen – Stalinismus, Faschismus und Nationalsozialismus, aber auch die von der Vorherrschaft der Kulturindustrie geprägte amerikanische Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, an deren Diagnose sich Adorno und Horkheimer in ihrer Dialektik der Aufklärung11 versuchten – könnte man sagen, dass es uns Benjamins Denken der Sprache erlaubt, ein Denken nicht nur nach dem biblischen Fall, sondern auch nach dem Fall der Mauer zu entwickeln. Dies wird noch deutlicher, zieht man einen zweiten Text hinzu, den im Jahr 1933, wenige Monate nach der Machtübernahme Hitlers von Benjamin in seinem Pariser Exil verfassten Text Erfahrung und Armut12, der von ihm selbst kurz mit Erfahrungsarmut13 betitelt worden war und dessen Titel anders neu formuliert, was es heißt, nach dem Fall zu denken. »Erfahrungsarmut«, mit diesem Begriff versucht Benjamin zunächst einmal, eine Generationserfahrung der radikalen Desillusionierung auf den Begriff zu bringen. Während Erfahrung in der Vergangenheit etwas 11 Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969. 12 Vgl. WB II, 1, S. 213-219. 13 Vgl. WB II, 3, S. 961.

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war, was von Generation zu Generation weitergegeben werden konnte, wobei die Alten die Jungen über etwas unterrichteten, was sie diese mit der Autorität des Alters lehren konnten, hält er fest, dass die Erfahrung nun, wie er schreibt, »im Kurse gefallen« sei und macht dieses Phänomen an mehreren Ereignissen fest, in denen die Erfahrung gründlich Lügen gestraft wurden: Am 1. Weltkrieg, an der Inflation, an Hunger und am unsittlichen Verhalten der Machthaber. Nachdem er den vermeintlichen Ideenreichtum der eigenen Zeit als andere Seite dieser von ihm geschilderten Erfahrungsarmut bezeichnet hat, kommt er zu dem Schluss, dass die Erfahrungsarmut seiner Zeit keine bloß an privaten, »sondern an Menschheitserfahrungen überhaupt«14 sei. Was Benjamin zu entwickeln versucht, scheint eine doppelte Erfahrung zu sein: Was einst als Erfahrung weitergegeben werden konnte, ist nicht länger von Wert angesichts der radikalen Umbrüche und Katastrophen seiner Zeit. Doch darüber hinaus sind das Konzept und der Begriff von Erfahrung überhaupt an ein Ende gekommen. Die Armut an Menschheitserfahrungen ist ein Ausdruck für das Verschwinden einer Vorstellung von Menschheit wie von Erfahrung und letztlich einer Krise der Vorstellungswelt selber. Was sich hier begrifflich Bahn bricht, ist der Versuch, einen Bruch der Generationenfolge und letztlich einen Bruch mit jeder wie auch immer gearteten Lehre der Vergangenheit für die Gegenwart einzuholen, dessen Zeitzeuge Benjamin war. Was es dem korrespondierend heute zu begreifen gilt, ist auf eine radikale Weise, was es heißt, nach dem Fall zu sein. Wobei das heute dabei heißt: Angesichts von Kriegen nach der Ära des Kalten Kriegs, von neuen Bewegungen, die, wie die islamistische, genährt und hervorgebracht von der westlichen Welt, diese heute bedrohen – nicht in der Form eines Clash der Zivilisationen, sondern in einer Präsentation der Rechnung für Kolonialismus und Instrumentalisierung lokaler Konflikte im Dienste des Kalten Kriegs, angesichts von Krisen, die wie die jüngsten ökologischen im Golf von Mexiko, in Pakistan, Russland und Nigeria auf eine blockund systemübergreifende jahrhundertlange Vernachlässigung dessen schließen lassen, was nicht aufging in den manichäischen Weltbildern, zum Beispiel ökologischer Fragen, und schließlich vor allem angesichts der katastrophalen Entwicklung der Finanzmärkte und damit des Falls jener letzten Ideologie, die nach dem Fall der Berliner Mauer von den großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts noch übrig geblieben war, des Kapitalismus mit seinem Versprechen des Wohlstands für alle, der sich irgendwie von selbst ergeben soll, wenn nur jeder seinem priva-

14 Vgl. WB II, 1, S. 215.

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ten Egoismus frönt und der Staat darauf achtet, dass der Markt funktioniert. Mit Blick auf das Theater und sein Denken heißt dies aber, wie zumindest der flüchtige Blick auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ergibt, zumindest zweierlei: Was weggefallen ist, ist jener Typ einer großen Erzählung, der es erlaubt, die kleinen täglichen Entscheidungen ästhetischer Art mit der Legitimation eines noch die alltäglichsten Dinge mit unerschütterlicher Autorität bestimmenden Endzwecks oder Ziels zu begründen. Das Sein nach dem Fall zu bedenken, kann vielleicht auch heute zunächst abstrakt auf die Formel gebracht werden, die Benjamin in seinem Essay wie auch beinahe gleichzeitig in seiner Auseinandersetzung mit Brecht findet: »Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm«.15 Anders gesagt: Nach dem Verschwinden der großen Erzählungen, nach dem Verlust eines alle umgreifenden Sinnhorizonts und nach der Implosion großer Systemalternativen gilt es zunächst einmal, die eigene Armut, das NichtWissen, den Verlust oder die Entwertung der Erfahrung nicht zu verleugnen, sondern rückhaltlos zu bejahen und sich ihr zu stellen. Während ein großer Teil des Kulturbetriebs heute wie zu den Zeiten von Benjamins Essay von Event zu Event springend durch Fülle und Überrumpelung versucht, der Erkenntnis dieser immer neuen und zugleich doch auch alten Erfahrungsarmut zu entgehen, zeichnen sich die Arbeiten einer ganzen Reihe von Künstlern, die sich unter dem Begriff einer Politik der Darstellung nach dem Fall subsumieren ließen, dadurch aus, dass sie rückhaltlos von der neuen Armut nach dem Fall ausgehen, von hier aus aber darüber nachdenken, was es mit den nach diesem Fall unerledigten Ansprüchen, Problemen und Konflikten auf sich hat, etwa mit jenen Fragen, auf die der Kommunismus Antworten zu geben versprach, und die dabei gerade dort ansetzen, wo die schnelle Verabschiedung der großen Menschheitslösungen die größten Lücken gerissen hat. Ich möchte dies hier lediglich an einem konkreten Beispiel ausführen, an Christoph Schlingensiefs Opernprojekt Via Intolleranza II, in dessen Mittelpunkt eine, ja vielleicht die politische Frage des 20. und 21. Jahrhunderts steht, die Frage der Solidarität.

15 Ebd., S. 217.

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2 . C h r i s to p h S c h l i n g e n si e f s V i a I n t o lle r an za I I Wie wenige andere hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Filmemacher, Aktions- und Installationskünstler, Autor und Regisseur Christoph Schlingensief mitgeprägt, was es heute heißen kann, politisch darzustellen. Via Intolleranza II, seine letzte Arbeit, die in Ouagadougou/Burkina Faso und Berlin entwickelt und geprobt wurde, stand im Kontext von Schlingensiefs Bemühungen um eine Oper für Afrika, die in der Planung eines »Remdoogo« genannten Operndorfes mit Schule, Film- und Musikklasse, Proberäumen, Gästehaus, Theaterbühne, Festsaal, Café, Restaurant, Büros, Werkstätten, Siedlungen, Fußballplatz, Argrarflächen und einer Krankenstation mündete. Es soll nach Schlingensiefs Willen in Burkina Faso von einem lokalen preisgekrönten Architekten gebaut werden und »Ausbildung, Austausch und Kunstproduktion, vor allem für junge Leute« ermöglichen. Ein globales Kunstprojekt, wie man auf dem Programmzettel las, »das Welten verbindet«. Der Titel der Arbeit zitiert ein Werk, das die Spuren der politischen Kämpfe des 20. Jahrhunderts wie der in ihnen gemachten Erfahrungen trägt, Luigi Nonos Oper Intolleranza 1960. Es ist in der bleiernen Zeit um 1960 der eindrucksvolle Versuch, mit den Mitteln der Oper gegen Intoleranz, Rassismus und staatliche Gewalt und für eine bessere Welt zu protestieren, von dem sich Nono später, im Jahr 1978, nicht minder eindrucksvoll distanziert. Nicht zuletzt dieses doppelte Vermächtnis, der Versuch politischer Kunst und deren radikale Kritik durch Nono dürfte Schlingensief dazu bewogen haben, mithilfe dieses Stückes über das Engagement für Afrika nachzudenken – über das des Westens im allgemeinen, vor allem aber über das eigene. Ein Konzept und dessen Dekonstruktion, so könnte man den Abend Schlingensiefs zunächst abstrakt beschreiben: Das Projekt einer Arbeit mit Nonos Oper in Afrika, einer Oper für Afrika, geht einher mit dem szenischen Aufweis der Unmöglichkeit eben dieses Projekts – mit der Abgrenzung von Oper als Gesamtkunstwerk wie auch mit der Absage an die Illusion, man könne erfolgreich etwas für Afrika tun. Hatte Schlingensief in seinem Bayreuther Parsifal noch den Rahmen der Oper gewahrt, um in diesem eine Gegenlektüre des Wagnerschen Stückes zu geben, so ist sein Vorbild nun Brecht und dessen zum Beispiel in den Anmerkungen zur Oper Mahagonny festgehaltener radikaler Abbau der Institution Oper. An Brechts Radiolehrstück Lindberghflug und sein Badener Lehrstück erinnert die Bühne. Das kleine, um ein Klavier herum aufgebaute Fönix-Orchester von Arno Waschk hat dort ebenso seinen Platz wie verschiedene aus Pappe gebaute und mit Malereien verzierte Hütten, 364

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ein Kasten, der später als Disco verwendet wird, diverse Bänke und Stühle. Brechtisch wirken drei Gardinen, die im Vorder- und Hintergrund platziert sind, um dort mit Kapiteltiteln, Schrift, Bildern, Videos und Filmen bespielt zu werden. An Brecht erinnert Schlingensief später selbst, wenn er auf der Bühne erscheint, um dort die eigene Rolle zu spielen, zu der gehört, dass er sich als »Brecht II« bezeichnet und über die Spielanlage doziert. Brechtisch wirkt vor allem aber, dass die zwölf Schauspieler, Tänzer und Musiker aus Burkina Faso und Europa beständig mit der eigenen Spielsituation spielen. Wir werden begrüßt von einer sich Brigitte nennenden Theaterbeauftragten des Goethe-Instituts in Burkina-Faso, die uns in der für solche Anlässe typischen, etwas umständlichen Weise einführt, Spendern dankt, von den Schwierigkeiten der Produktion erzählt und eine Mail von Christoph Schlingensief vorliest, der sich darüber beschwert, dass man ihn in einem billigen Stundenhotel in St. Pauli untergebracht habe, dessen Zimmer nach Sperma und Vaseline stänken. Er bittet, dass ihn wegen seiner Erkrankung und Erschöpfung ein Stefan vertreten solle. Der betritt linkisch die Bühne, öffnet sein Laptop, worauf der Begrüßungssound von Windows ertönt, erklärt uns, dass wir einen Film von 1911 im Hintergrund sehen, stellt uns das Orchester vor, hat Schwierigkeiten mit den Namen der Afrikaner und kann sie auch nicht recht auseinander halten. Er moniert, dass eine dunkelhäutige Schauspielerin doch bitte nicht auch noch im Dunkeln sitzen solle und stellt uns die Hauptdarstellerin vor, die angeblich gerade von einer afrikanischen Zeitschrift zur Björk Afrikas erklärt worden ist, außerdem den Hauptdarsteller, einen angeblich 13jährigen Jungen, »den Christoph in einer Hütte gefunden hat«. Tatsächlich handelt es sich um einen kleinwüchsigen Erwachsenen. Dann beginnt die eigentliche Oper, von der wir aber schnell hören, dass sie gnadenlos gescheitert sei. Die Afrikaner lehnten Nonos Stück als vollkommen weltfremd ab. Etwas später tritt der den verwirrten Krebskranken spielende Schlingensief auf, und beginnt zu erzählen, wie es zu dieser Produktion gekommen sei und was es mit ihr auf sich hat. Als Kunstprojekt, das »die Trennung von Kunst und Leben anstrebt«, kündigt der Programmzettel der Hamburger Premiere Schlingensiefs Operndorfprojekt an. Auf dem Programmzettel der zweiten Vorstellung liest man, dass es die »Aufhebung« dieser Trennung anstrebe. Vermutlich ist die erste Variante nur ein Lapsus, doch er hat die Qualitäten eines Freudschen Versprechers. Denn, was den Zuschauern an diesem Abend geboten wird, ist die szenische Abrechnung mit der Ideologie der Verschmelzung erst der Künste, später der Kunst und des Lebens. Das Publikum sieht hier ein Palimpsest aus vielen, kaum zu trennenden Schichten: Da ist erstens die Ebene der Moderation, die von Brigitte, Stefan und

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später Christoph bestritten wird. Da ist zweitens die Ebene der Oper, von der außer einigen Anklängen und den sich auf sie berufenden Kapiteltiteln so gut wie nichts übrig geblieben ist. Da ist drittens die Ebene der afrikanischen Darsteller, Musiker und Tänzer, die in französischer und afrikanischer Sprache auftreten, musizieren, malen, tanzen oder poetische Texte vortragen und mit Übertiteln übersetzt werden. Da ist viertens das vor allem auf Bildern, Videos und in Erzählungen präsentierte Afrika-Projekt Schlingensiefs im Hintergrund des Abends, der deshalb mitunter auch an jene Benefiz-Veranstaltungen erinnert, mit denen die Prominenz des Fernsehens sich und Afrika oder anderen Anlässen ihrer glamourösen Zusammenkünfte Gutes zu tun pflegt. Da ist fünftens die mit vielen multimedialen Ein- und Anspielungen heraufbeschworene Geschichte der Kolonialisierung. Da sind sechstens Schnipsel der Tagesnachrichten des Boulevards zu hören, etwa ein Ausschnitt aus der Aktenzeichen XY-Sendung, in der die Kinder einer entführten Geißel um das Leben ihrer Mutter flehen, die medienwirksame Ausbeutung eines anderen Elends. Nicht zuletzt erfahren wir, was Kritiker über den Abend bereits geschrieben haben. Auf allen Ebenen mischen sich beständig fact und fake. Keine Fiktion scheint ohne wahren Kern, keine ganz wahr. Überforderung und Verwirrung ist, was der Abend von Beginn an vermittelt, und dies auf zweifache Weise: Überfordert zeigt sich Christoph, der Regisseur, der am Ende mit dem Eingeständnis des kompletten eigenen Scheiterns an Afrika nach einem Taxi ruft, um Afrika zu verlassen. »Die sind klasse und brauchen keinen Schlingensief.« Überfordert, und dies von Anfang an, sind vor allem aber die Zuschauer dieses Abends. Es ist, als sollten sie gewissermaßen die erzählte Überforderung und das erzählte Scheitern des Regisseurs und seiner Produktion auf dem Weg der Erfahrung ihrer Überforderung und ihres Scheiterns nachvollziehen: Wer die vielsprachige Inszenierung verstehen will, wird schnell darauf verfallen, die Übertitel lesen zu wollen. Doch wer sie liest, vermag nicht länger dem Geschehen auf der Bühne zu folgen. Die mit Nummern versehenen Zwischentitel scheinen vor allem dazu zu dienen, die kaum zu bändigende Materialfülle des Abends irgendwie zu ordnen, eine Dramaturgie anzudeuten, die freilich nirgendwo anders als in diesen Titeln existiert. Im Resultat erfährt alles, was gesagt wird, eine unglaubliche Entwertung. Es bleibt, selbst nach dem zweiten Sehen (und noch nach der Lektüre von Manuskript und mit der Krücke einer Aufzeichnung), bruchstückhaft, wird beständig durch die Überlagerung und das Übermaß an Sprach-, Klang- und Bild-Ebenen unserer Aufmerksamkeit entzogen. Man begreift, dass ein solcher Abend, darin René Polleschs Arbeiten ähnlich, eine andere Art des Verstehens verlangt als jene, die uns die

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überkommene Hermeneutik lehrt, dass er wie Popsongs oder Witze anderes als das zu verstehen gibt, was er auf der bloßen Bedeutungsebene mitteilt. Wie Träume gibt er uns am meisten dort zu verstehen, wo wir mit Aussetzern, Brüchen, Unverständlichkeiten konfrontiert sind, die noch in unserem Gedächtnis bleiben, wenn wir die gebrochenen Geschichten, Bilder und Filme schon längst vergessen haben. So berichtet eine schwarze Darstellerin in einem Moment, dass sie in jedem Jahr vor dem Gelände des KZ Hagenbeck der sechs Millionen Opfer gedenkt, die hier umgekommen sind. Es folgt dann die Aufzählung einiger jüdischer Namen. Die Provokation dieser Szene liegt in der Auslassung, im Fehlen der Zwischenschritte, die hier etwa lauten könnten: Der industrielle Massenmord an 6 Millionen Juden fußt selbst auf einer Geschichte, in der Teile der Menschen zu Nicht-Menschen erklärt wurden, zum Beispiel, weil sie aus anderen Teilen der Erde kamen, Behinderungen aufwiesen oder krank waren. Zu dieser Geschichte gehört die Exotenschau, bei der in Hagenbecks Park exotische Menschen wie Tiere begafft werden konnten. Die Aufarbeitung solcher Geschichten, die im Zusammenhang einer deutschen Theaterproduktion mit afrikanischen Darstellern den Verdacht nähren, das Theater setze sie nur mit anderen Mitteln fort, diese Aufarbeitung droht zu verschwinden in den zu Trauerritualen gewordenen Versuchen der Aufarbeitung der Judenvernichtung, ja sie wird durch deren Singularisierung möglicherweise verhindert. Wie in einer langen, traumreichen Nacht bilden sich durch alle verschmolzenen Schichten hindurch in Schlingensiefs Abend Knotenpunkte heraus bzw., in der Sprache des musikalischen Kontextes gesprochen, Leitmotive: Da ist als auffälligstes das im Finale explizit, von Beginn an implizit erklärte Scheitern, verbunden mit der Absage an jede Möglichkeit, ein Stück über, überhaupt etwas für Afrika zu machen. »Wir müssen einfach wegbleiben«, lässt Schlingensief Christoph sagen und führt das Scheitern in unzähligen Szenen des Abends vor. Das eigene wie überhaupt das westliche Helfertum erscheint als unfreiwillig-freiwillige Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln, die vor sich hergetragene Solidarität als im besten Fall onkelhafte Paternalisierung, Ideologie, die es erlaubt, besten Gewissens Geld zu verdienen und sich als Künstler-Genie feiern zu lassen. Da ist als zweites Leitmotiv das einer potenzierten Illusionslosigkeit: Nicht nur, dass auf allen Ebenen die Illusion gebrochen wird. Es wird noch die Illusion aufgegeben, man könne irgendwie jemals der Illusion entkommen. Untrennbar verschmelzen etwa Schlingensief, der kranke Regisseur und Künstler, und Christoph, den er auf der Bühne spielt. Wir sehen immer beide und deshalb auch keinen. Ein drittes Leitmotiv ist die rückhaltlose Einbeziehung der Geschichte des Regisseurs. Seine Krebserkrankung wird mit derselben ironischen

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Distanz zum Thema wie Afrika, die Kulturindustrie, der Kolonialismus und die Judenvernichtung. Schlingensief baut sich als aufgrund seiner Krankheit Vertrottelten ein, der das eigene Leiden kommerzialisiert und sich als Messias feiern lässt, als Showbiz-Typen, abgefuckten Profi und amerikanisierten Laienprediger. Nicht zuletzt dieser Rückbezug auf die eigene Erscheinung in den Medien lässt ein viertes, ebenso offenbares Leitmotiv des Abends deutlich werden, seine der aporetischen Thematik zuwiderlaufende untergründig komische Grundstimmung. Er lebt von einer Grundhaltung, die sich aus der Verzweiflung rettet, indem sie, worüber man verzweifeln könnte, parodiert, vorführt wie einen im Erzählen bereits in die analytische Distanz gerückten, nicht länger bedrohlichen Traum. Die Tragödie als Farce. Schlingensiefs Theater ist getragen von einem permanenten Bewusstsein der Differenz zwischen der Repräsentation und dem Repräsentierten. Nie erweckt die Produktion jenen aus unzähligen Formen des mit Armen, Ausgebeuteten, Asylanten sich solidarisierenden Theaters bekannten Eindruck, von allen möglichen Akteuren auf dieser Welt könnten ausgerechnet einige Schauspieler, Dramaturgen und ein Regisseur die untragbaren Verhältnisse ändern. Es demonstriert auf der Ebene der Kunst die Hilflosigkeit und das Scheitern von Kunst im Angesicht von Katastrophen, zu denen auch diejenige unseres fortwährenden, strukturellen Vergessens und Verdrängens Afrikas gehört. Es erinnert sich beständig an den Theoriecharakter des Theaters – und zugleich uns an den theatralen Charakter der Theorie. Es verweist sich und uns darauf, dass Theater wie Theorie nolens volens im Bereich der Interpretation der Welt bleiben. Dass es aber darum ginge, sie zu verändern, deutet der Christoph im Spiel, der gespielte Schlingensief, an, wenn er unter Hinweis darauf, dass die Spender »nicht mitreden« dürfen, zu Spenden aufruft – wobei die tatsächlich herumgehende Spendenbüchse darauf hindeutet, dass hier spätestens die Ironie an ein Ende gekommen ist.

3. Zwei Formen der Armut Wie denkt Theater? Wenn ich eingangs formuliert habe, dass es denkt, wenn es voranschreitet, so ist es ›nach dem Fall‹, nach dem Ende einer im Sinne Hegels begriffenen Geschichte, wie zuvor angedeutet, schwierig geworden, dieses Voranschreiten zu bestimmen. Von dieser Schwierigkeit zeugten bereits im 20. Jahrhundert die philosophischen Versuche, Fortschritt anders zu definieren, als es bis dahin üblich war. Adorno

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sprach von dem »Zum ersten Mal …«16, einem jäh Erscheinenden, das zergehe, sobald es technisch disponibel werde. Benjamin übernahm von Hölderlin den Begriff der »Cäsur«17, einer gegenrhythmischen Unterbrechung, mittels derer anstelle des Wechsels der Vorstellungen die Vorstellung selbst erscheine. Heidegger prägte die Rede vom »Ereignis«18, einem Moment, in dem alle institutionalisierten, konventionalisierten, beherrschten, im eigenen Vermögen stehenden Äußerungsformen auf eine unabsehbare Weise überschritten werden. Derrida stellte dem Ereignis den nicht minder an ein radikal Neues gebundenen Begriff der Erfindung als einer nur im Modus der Unmöglichkeit zu denkenden Intervention des Anderen19 an die Seite. – Im ersten Mal, in der Zäsur, in der Ausstellung des Rahmens, aus dem es hervorgetreten ist, im Ereignis oder in der Erfindung also, so könnte man dementsprechend formulieren, denkt Theater. Und indem es denkt, stellt es in jedem Fall radikal alles das in Frage, was seinem Denken vorausgeht, zu allererst das Theater, die Oper, den Tanz oder die Performance selbst, die Vorstellung einer unveränderlichen, ein für alle Mal eingerichteten, von festen Gesetzen, Handwerksregeln und Bräuchen geprägten Institution. Wo es denkt, da ist es alles andere als jener naive, quasi-natürliche Gegenpol einer angeblich blinden Praxis, die einer wissenden, aber weltfernen Theorie – als der Bauch eines Kopfs – gegenübersteht. Es ist eine Praxis des Denkens, die ihrerseits in der Erfahrung des Werkes statthat, eine irreduzible Provokation, nicht die Umsetzung von Begriffen und Lehrmeinungen, die andere an anderen Orten erdacht und vorgeschrieben haben. Es ist allerdings vermutlich unmöglich, zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt davon zu sprechen, dass das Theater jetzt und hier denkt. Sein Denken findet nicht in der chronologischen Zeit statt, sondern in deren Unterbrechung: In der Markierung eines Einschnitts, hinter den man nicht zurück kann, es sei denn um den Preis der eigenen Zeitgenossenschaft. Im Falle von Via Intolleranza II könnte man davon sprechen, dass nach dieser Arbeit große Teile von dem, was heute in den Künsten unter 16 Vgl. Adorno, Theodor W.: »Fortschritt«, in: Harald Delius/Günther Patzig (Hg.), Argumentationen. Festschrift für Josef König, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964, S. 1-19. 17 Vgl. WB I, 1, S. 181. 18 Heidegger, Martin: Über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Klostermann 1991; Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie. (Vom Ereignis), Frankfurt a.M.: Klostermann 1989. Vgl. Herrmann, Friedrich-Wilhelm: Wege ins Ereignis. Zu Heideggers »Beiträgen zur Philosophie«, Frankfurt a.M.: Klostermann 1994. 19 Derrida, Jacques: Psyché. Inventions de l’autre, Paris: Galilée 1987.

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dem Vorzeichen der Interkulturalität, der Völkerverständigung, der Entwicklungshilfe, und der Solidarität produziert wird, ins Zwielicht getaucht werden, nicht zuletzt – und darin zeigt sich die Radikalität des Denkens dieser Arbeit – große Teile dessen, was Schlingensief selbst hier und an anderem Ort produziert hat. Nicht minder zwielichtig erscheinen vor ihr eben jene Förderorganisationen, denen sich die Arbeit verdankt, wie auch die Theaterhäuser, in denen sie gezeigt wird. Und Zwielicht fällt von dieser Arbeit unweigerlich auf die Versuche, sich ihr in begrifflicher Sprache zu nähern. Was Schlingensiefs auf den ersten Blick überladenes, tatsächlich aber sich und uns verausgabendes, erschöpfendes Theater als Denken auf der Bühne erscheinen lässt, ist, dass es das Publikum ärmer entlässt, als es gekommen sein mag. Über seine Anliegen hinaus verweist dieses Theater darauf, dass die gegenwärtige Theaterpraxis an einem Scheideweg angekommen ist: Auf der einen Seite begegnet uns mit solcher, die eigene Armut und Antwortlosigkeit ausstellenden Kunst eine szenische Praxis, die in ihren Arbeiten am Kunstwerk als nach keiner Seite gebietsmäßig einzuschränkenden Ausdruck der Tendenzen seiner Epoche festhält, der Epoche nach dem Fall. Auf der anderen Seite stehen große Teile des hochsubventionierten Theatersystems in Ländern wie Deutschland, Österreich und der Schweiz, und ein gleichfalls finanzkräftiges System großer, prestigeträchtiger Festivals, die auf ganz andere Weise nicht minder durch Erfahrungsarmut gezeichnet sind. Dort drückt sich die Erfahrungsarmut in erster Linie in der Ausbreitung eines Kuratoren- und Dramaturgenwesens aus, das noch glaubt, einen Apparat zu besitzen, während tatsächlich schon lange dieser Apparat es besitzt. In Deutschland manifestiert sich dies zum Beispiel in einem sich immer mehr angleichenden Programm der subventionierten Theater, im zunehmenden Fehlen eigener Handschriften ihrer Macher und in einer Risiken scheuenden Spielplangestaltung. Mit diesem Programm korrespondiert eine wachsende Zahl von mehr oder minder austauschbaren Festivals, auf denen eine zweite, letztlich nicht minder konformistische Kunst vorgeführt wird. Beide Zweige sind dadurch geprägt, dass bei aller möglichen inhaltlichen und thematischen Radikalität der dort produzierten Arbeiten die Politik der eigenen Arbeit und der eigenen Praxis der Vorstellung nicht weiter bedacht wird. Anders gesagt: Es scheint, dass heute das große Problem der Institutionen ist, dass sie angesichts der vielbeschworenen ›leeren Kassen‹ und eines höheren Drucks der Politik und der berichtenden Öffentlichkeit zunehmend dazu tendieren, die eigenen Voraussetzungen nicht länger zu prüfen und sich neuen Erfahrungen zu verschließen. Unter dem Vorzeichen angeblicher Qualitätsstandards werden jene Formen der Verletzung des Maßes und der Verständlichkeit unterbunden, die in Arbeiten wie derjenigen Schlingen-

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siefs der Ausweis szenischen Denkens sind. Der Betrieb verarmt, weil er an anderes als sein Funktionieren nicht mehr zu denken in der Lage ist. Entsprechend erlaubt er aber auch seinen Besuchern letztlich nur noch, wiederzufinden, was sie ohnehin bereits kennen. Was dann ausfällt, ist ein Theater, das sich rückhaltlos zu seiner Zeitgenossenschaft dadurch bekennt, dass es sich mit dem eigenen geschichtlichen Augenblick auseinandersetzt und dadurch auch seinen Zuschauern solche Auseinandersetzung ermöglicht – ein Theater, das denkt, auch wenn dieses Denken vielleicht im Augenblick zu nichts anderem führt als zur Erkenntnis der eigenen Armut nach dem Fall.

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DIE VERTREIBUNG DER DICHTUNG DAS AUTHENTISCHE

DURCH

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»Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt«, lautet das markige Gebot, auf den Christoph Schlingensiefs Kirche der Angst vor dem Fremden in mir gründet. Doch so programmatisch der Beuys-Satz auch daher kommen mag, überwiegend gilt für das postdramatische Theater wohl eher, dass es ein Verfahren darstellt, Wunden zu versiegeln und im Unbewussten und Unartikulierten zu belassen. Das Zaubermittel, welches die Risse, Verletzungen und Traumata auf ganz undramatische Weise verschließt, ist das allerorten beschworene Authentische. Der scheinbar so neutrale Griff in die empirische Kiste des bloß Gegebenen entpuppt sich bei näherer Betrachtung als doppelbödig, wird doch mit dem mannigfaltigen, in der Empirie zum Teil zufällig aufgelesenen Material die Grenze zum Unbewussten abgedichtet, dessen die Abbildungen trübende Wirkung bereits Brecht fürchtete. Nimmt man das Wundern (›traumazein‹) und den Schrecken (›tremendum‹) als Pole des ästhetischen Universums, welches die beiden elementaren theatralischen Kunstformen, wie sie mit Bertolt Brecht und Heiner Müller dem 20. Jahrhundert dramatische Gestalt annahmen, lässt sich das Authentische, um das das postdramatische Theater rotiert, eindeutig zuordnen. Es ist ein Baustein aus dem nüchternen Arsenal der epischen Theaterform, die das Gängige, Selbstverständliche, allseits Bekannte zum Gegenstand hat. Der zentrale Effekt, den die gesamte Technologie der Verfremdung mit diesen Grundstoffen bezweckt, ist die Erregung von Staunen. Ihre Wirkung lässt den Zuschauer »die natürlichen Vorgänge sozusagen verwundert aufnehmen« oder situiert eine »staunende, erfinderische und kritische Haltung«.1 Weit entfernt davon organisiert Müllers Schreiben »Texte, gegen die sich die Feder sträubt«,2 deren Außerordentlichkeit die »Authentizität des ersten Blicks auf ein 1 2

Brecht, Bertolt: Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1967, S. 656. Müller, Heiner: Schriften (= Werke 8), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 176.

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Unbekanntes, den Schrecken der ersten Erscheinung des Neuen« bestimmt.3 Vor diesem Spannungsfeld installiert das postdramatische Theater seine Bühne, um ein Authentisches zu besingen oder genussfähig zu machen, das nun keineswegs das Schreckliche sichtbar macht, noch am Vertrauten befremdliche Züge freilegen möchte. Zu sehen ist ein episches Theater, dem der Wille zur Gestaltung von Zukunft abhanden gekommen ist, wo Feuerwehrmänner wie in der Inszenierung Vom Feuer des Regieduos Hofmann & Lindholm nichts anderes tun, als Feuerwehrmänner abzubilden. Oder die Kunstgruppe Geheimagentur von professionellen chinesischen Kopisten in The Most Wanted Works of Art Kopien berühmter Ölgemälde der westlichen Tradition herstellen lässt. Staunen kann nur derjenige hervorrufen, der die Dinge durchdringt, die er dramatisch artikuliert. Brecht geht in seiner zwischen 1937 und 1951 entstandenen theatertheoretischen Schriftensammlung Der Messingkauf davon aus, dass eine künftige Dramatik fundiertes Wissen zur Voraussetzung hat: »Für so ein weitläufiges vieldeutiges Werk wie ein Theaterstück, das es unternimmt, das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen darzustellen, genügt bestimmt nicht das Wissen, das die eigene Praxis vermittelt. Es ist optimistisch, zu glauben, der Dichter könne auch heute noch etwas darstellen, ohne es zu verstehen.«4

Dagegen wartet nun paradoxerweise gerade das Theater der Informationsgesellschaft mit dem Hype eines Authentischen auf, dessen Echtheit durch Kontingenz siegelt. Wenn Rimini Protokoll Das Kapital von Karl Marx bearbeitet, bedarf es keiner aufwändigen Analysen, das Geschriebene zu verstehen, sondern vor allem Zeitgenossenschaft, wie Thomas Oberender bei der Preisverleihung der Mülheimer Theatertage 2007 unterstreicht. Der Zeitgenosse ist jener Experte des Alltags, der in diesem Fall zu erzählen weiß, an welchem markanten Punkt seine Lebensbahn und die schicksalhaft erfahrene Konstituente der Ökonomie einander kreuzten. Der Weg führt vom Besonderen zum Allgemeinen, wie auch bei der Adaption von Skakespeares Lear durch die Formation She She Pop zu erleben ist. Die Akteure der Formation lassen ihre leibhaftigen Väter auf der Bühne Rede und Antwort stehen. Der Schrecken, von dem die Vorlage erzählt, verflüchtigt sich, wenn diese Generation von Theatermachern ihre Diskursfähigkeit öffentlich unter Beweis stellt. Denn nun scheint alles verhandelbar, als hätte Jürgen Habermas das Skript ge3 4

Ebd., S. 229f. B. Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 16, S. 539.

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schrieben. Im postdramatischen Theater geht es auch nach brechtschen Maßstäben wünschenswert vernünftig zu. Selbst wenn Schlingensief seine tatsächliche Krebserkrankung im Rahmen einer Messe zelebriert, bleiben die dargebotenen Fakten wie Kindheitserinnerung, Gespräche mit dem Arzt und der Mutter zwangsläufig auf dem empirischen Teppich. Mancher mag sich existentiell berührt finden, ein anderer zum anonymen Krebstod verurteilte Künstler sich durch die öffentliche Zuwendung beschämt sehen, nach der Logik eines auswendig konzipierten Authentischen kommt die Performance stimmig daher. Doch authentisch ist auch die Ästhetik der Signatur, die Heiner Müller akklamiert, wenn er sagt: »Mich interessiert, das zu machen, was nur ich machen kann, solange ich kann, so gut ich kann«,5 um seine Wirbel des Schreckens in Szene zu setzen. Wenn er den Selbstmord Inge Müllers, die nach zahlreichen Selbstmordversuchen 1966 freiwillig aus dem Leben schied, in Die Hamletmaschine be- oder verarbeitet, wird der reale Tod zum Baustein eines synthetischen Fragments. Was Brecht ›eigene Praxis‹ nennt, gerinnt Müller zum Teil einer Collage, wo Shakespeares Opheliafigur, Ereignisse aus dem Privatleben Ulrike Meinhofs und der Suizid seiner Frau in einen unauflösbaren Textblock gebunden werden. »Ich bin Ophelia. Die der Fluß nicht behalten hat. Die Frau am Strick. Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern. Die Frau mit der Überdosis. AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd. Gestern habe ich aufgehört mich zu töten. […] Ich zertrümmere die Werkzeuge meiner Gefangenschaft den Stuhl den Tisch das Bett«.6

Der Kunsttheorie des 20. Jahrhunderts ist die Kategorie des Authentischen also durchaus geläufig. Nur gründet sie nicht in dem »Rechtsanspruch, jeglicher Gegenstand könne von der Kunst ergriffen werden«,7 solange er nur im Reich des Faktischen beheimatet ist, alles und jedes wäre ein Ready Made auf Abruf. Vielmehr wird das Authentische mittels Techniken der Deterritorialisierung der Blindheit verschwistert, um jenen Allgemeinheitsgrad zu erlangen, wo sich die Metaphern »gegenüber ihrer Symbolfunktion verselbstständigen und dadurch zur Konstitution eines zur Empirie und ihren Bedeutungen antithetischen Bereichs« beitragen.8 Die postdramatische Ästhetik begnügt sich dagegen bei einer Authentizi5 6 7 8

Müller, Heiner: Gespräche 2 (= Werke 11), S. 368. Müller, Heiner: Die Stücke 1 (= Werke 4), S. 547. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, S. 99. Ebd., S. 147.

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tät des Materials, die durch das Unbearbeitete, Rohe der Gegenstände gestiftet wird. Das Nicht-Gebildete ist echter als das Gestaltete, das Unausgebildete des Darstellers verbürgt seinen Wahrheitscharakter: »Verfahrenstechnisch ergibt sich das Paradoxon, daß wir in der Regel zwar eher mit potentiellen Zuschauern arbeiten als mit Schauspielern, doch je mehr die Leute, die an so einem Projekt teilnehmen, mit dem Theater zu tun haben, um so schwieriger wird der Prozeß. Je mehr sie das Medium Theater kennen, um so ›ungeeigneter‹ sind sie für uns …«, so Daniel Wetzel von Rimini-Protokoll.9 Diese Verschiebung eines Authentizitätsbegriffs, der mit der Durchdringung und Durchformung des Materials siegelt, zur Präsentation des bloß faktisch Zerstreuten, versinnbildlicht sich im für die Gruppe Gob Squad charakteristischen Verfahren, zufällig auf der Straße vorbeikommende Passanten in den Theatersaal zu holen. Das Authentische der Kontingenz ist das Wasserzeichen der Deliterarisierung des Theaters. Mit kaum überhörbaren manichäischem Zungenschlag fordern die Exponenten der postdramatischen Kaderschmiede Gießen die Entsorgung des ohnehin totgesagten Autors: »Vergeßt die Metapher, das Theater und den ganzen Quatsch!«, ruft eine Gob Squad-Akteurin ins Publikum, während ein kurzerhand zum Dichter erklärter Nicht-Schauspieler kalauert: »Enne meene Miste, es rappelt in der Kiste!« So zu sehen bei Revolution now im März 2010 in der Volksbühne am Rosa-Luxemburgplatz. Aufschlussreicherweise führt die Liquidation des Autors durch zur Selbstdarstellung befähigte Theaterwissenschaftler eine Positionierung des postdramatischen Theaters, die sich gegenüber den Inhalten keineswegs neutral verhält, sondern zutiefst ideologischer Natur ist, wie ein Blick hinter die Kulisse des postdramatischen Theaters erweist. »Das dramatische Theater steht unter der Vorherrschaft des Textes«, bestimmt der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann die Scheidelinie zu den neuen Theaterformen.10 Diese Definition soll ihn gleichwohl nicht hindern, Autoren wie Heiner Müller, Rainald Goetz, Peter Handke oder die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek als »dem postdramatischen Paradigma verwandt« einzustufen.11 En passant werden die Dramatiker von autonomen, künstlerischen Subjekten zu Zulieferern performativer Textkomponenten degradiert. Angriffe gegen die Dichtung haben auf 9

Raddatz, Frank: »Das Theater ist nicht Dienerin der Dichtung sondern der Gesellschaft«, in: Ders., Brecht frißt Brecht, Berlin: Henschel Verlag 2007, S. 214-224, hier S. 218. 10 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999, S. 21. 11 Ebd., S. 25.

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dem Schlachtfeld von Mythos und Logos, auf das man sich in diesem Kontext zwangsläufig begibt, eine lange Tradition. Seit den Anfängen der sokratischen Aufklärung wird die Autorität des poetisch-szenischen Textes bestritten. Denn der philosophischen Überlieferung zufolge wissen die attischen Tragöden vor den Richtstuhl der Vernunft zitiert, keine rechten Angaben zu machen, woher sie denn ihre mehrdeutigen Eingebungen beziehen und können sich nur recht unbestimmt auf dionysisch inspirierte Stimmungen und ekstatische Ausnahmezustände berufen. Kühl kommentiert Platon, der Meister syllogistischer Schlussfolgen, die Genese der Dichtkunst aus den schwer zugänglichen Quellen ekstatischer Räusche mit dem Stilmittel der Ironie: »Der Wahnsinn ist weit vortrefflicher als die Besonnenheit, denn diese hat einen bloß menschlichen Ursprung, jener dagegen einen göttlichen«.12 Die Tragödie stirbt, so Nietzsche 1872, als die Tragöden sich dem Logos unterwerfen und das rationalistische Schönheitsideal akzeptieren, »dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet: ›alles muss verständig sein, um schön zu sein‹«.13 Nietzsche setzt nun seine gesamte Geisteskraft daran, den Primat des Logos aus den Angeln zu heben und wirft Sokrates bzw. Platon vor »aus der Vernunft einen Tyrannen zu machen«.14 Im späten gegen Wagner gerichteten Vorwort der Geburt der Tragödie (1887) wird Nietzsche seinerseits Platons Wort umkehren und bei der Verteidigung der Tragödie wie des poetischen Rausches ebenfalls nicht ohne Süffisanz behaupten, dass »es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort Plato’s zu gebrauchen, der die größten Segnungen über Hellas gebracht hat«.15 Mit der Inthronisation des Dionysischen gelingt es Nietzsche, ein Dichten als Ausgeburt poetischer Raserei göttlich zu verbriefen und sich so gegen jene Rationalisierungsprozesse zu stemmen, welche bezweckten, die Quellen der Dichtung nachhaltig zu verschließen. Während Nietzsche die Urgründe des Rausches auf dem Gebiet des Tragischen und des Gesamtkunstwerks freilegt, baut Arthur Rimbaud das Fundament der Lyrik der Moderne auf die systematische Entregelung oder Entgrenzung aller Sinne und assoziiert es wie in der Antike einem ekstatischen leiblichen Zustand. Eine – man darf wohl sagen – Erfahrung, die Heiner Müller 1988 gegen die 12 Calasso, Roberto: »Brecht, der Zensor«, in: Ders.: Die neunundvierzig Stufen, München: Hanser Verlag 2005, S. 243-249, hier S. 58. 13 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, in: Ders.: Kritische Studienausgabe 1, München/Berlin/New York: Walter de Gruyter 1988, S. 12. 14 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie, in: Ders.: Kritische Studienausgabe 6, München/Berlin/New York: Walter de Gruyter 1988, S. 72. 15 F. Nietzsche: Geburt der Tragödie, in: Ders., Kritische Studienausgabe 1, S., 16.

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psychoanalytische Kunstdeutung ins Feld führt: »Deshalb ist auch Freuds Sublimierungstheorie völliger Unsinn, denn Kunst kommt aus dem Körper und nicht aus einem vom Körper getrennten Kopf. […] Die Tradition der Kunst ist die Tradition des Rausches«.16 Diese Tradition des Rausches steht in völligem Gegensatz zu den brechtschen Postulaten des kritischen Bewusstseins, der Wissenschaft und den materiellen Bedürfnissen als Richtschnur ästhetisch sinnvoller Praxis. Im Rausch entbirgt sich jenes Begehren, in dessen Namen die Surrealisten den Traum zum Maßstab ihrer Schreibpraktiken küren, um Inhalte an die Oberfläche zu befördern, die sich der Zensur und dem »Schwindel der Objektivität« entziehen.17 Gegen die vom Logos formierten Einrichtungen des Nützlichkeitsdenkens wirft George Bataille flankierend das Unverständliche als Zentrum jeglicher Existenz in die philosophische Waagschale, Nietzsche selber hatte vom Unaufhellbaren gesprochen. Botschaften aus dieser dem Begriff nicht zugänglichen Zone des Zwielichts an den Tag zu bringen, fällt in den Zuständigkeitsbereich der Dichtung, der Foucault von daher attestieren konnte, die einzig zugelassene Form des Wahnsinns zu sein. Wilde Mehrfachcodierungen, die den Schrecken der Geschichte zur Sprache bringen, Unbewältigtes und Verdrängtes zum Gegenstand der Phantasie machen, kontert das epische Theater mit dem Diktum aus, dass allein ein wissenschaftlich basiertes Theater ein Publikum anleiten kann, sein ›Leben zu meistern‹. Brechts aufklärender Input aber setzt voraus, dass Dichtung wie Wissenschaft auf oder von ein- und derselben Bewusstseinplattform agieren. Erst die Gleichsetzung von Dichten und Denken erlaubt es, den dramatischen Autor aus dem szenischen Ereignisraum zu exkludieren und den Text auf sein bloßes Gemachtsein, auf einen Komponentenstatus des performativen Gesamtwerks zu reduzieren. Das postavantgardistische Theater sattelt auf diesem brechtschen Axiom, mitsamt den Implikationen von Brechts Wissenschaftsglauben, der sich bis zu seinen platonischen Urgründen zurückverfolgen lässt. Auch Brecht wendet sich im Namen wissenschaftlichen Denkens gegen das visionäre Moment des Dichtens: »Die Erfahrungen anderer Leute sind für den Visionär entbehrlich. Das Experiment gehört nicht zu den Gepflogenheiten des Sehers.«18 Ist für den Nietzsche-Jünger Michel Foucault die Rationalität längst zum Regulationsinstrument der Disziplinargesellschaft verkommen, scheint einem 16 Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 2, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1990, S. 129. 17 Barthes, Roland: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 30. 18 B. Brecht: Gesammelte Werke, Bd.15, S. 307.

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auf Faktizität basierten Authentischen der gesamte Kanon der Erschütterung, den das Imaginäre des Subjekts mit seinen Trugbildern im Gang durch Traum, Mythos und Tragödie ausschreitet, zutiefst suspekt. Die gegen den Autor gerichtete Theaterform, ist nicht nur Nachfahre der brechtschen Theatertheorie, sie attackiert auch in deren Präliminarien einen Begriff der Dichtung, bei dem es sich Roberto Calasso zufolge »um das Gespenst der Kunst selbst, insofern sie etwas irreduzible Doppeldeutiges hat, etwas Unfaßbares, das Widerstand leistet« handelt.19 Brecht träumt von einem Nullpunkt des Schreibens, der von all jenen Obsessionen und Manien der Subjektivität, durch die das Irrationale in das Theater eindringt, gereinigt ist. Ihn zeichnet aus, was für die Spielweise gilt, für den ganzen Aufbau des szenischen Experiments: die erzeugten Emotionen »vermeiden als Quelle das Unterbewußtsein und haben nichts mit Rausch zu tun«.20 Am Phantasma einer signaturlosen Oberstimme, bei dem es sich schließlich auch nur um einen Stil wie jeden anderen handelt, formuliert Heiner Müller den Bruch mit dem brechtschen Entwurf. Seine jenseits des Logos fundierte Ästhetik agiert nicht etwa im Namen des Irrationalen oder beruft sich auf das Andere der Vernunft, sondern operiert im Namen der Subjektivität. So wirft Heiner Müller 1978 Brecht vor, sich hinter der Maske eines vermeintlich Intersubjektiven nur zu verstecken: »Es geht darum, daß es nicht mehr erlaubt ist, nicht über sich selbst zu reden, wenn man schreibt. Der Autor kann nicht mehr von sich absehen. Wenn ich nicht über mich rede, erreiche ich keinen mehr. […] Der Brecht redet sehr viel über sich. Aber er ist immer, auch wenn er sagt: ›Ich, der Stückeschreiber‹ nicht Brecht. Es ist nicht die Person Brecht, es ist immer auch die Rolle«.21

Das Recht auf Singularität und Unverwechselbarkeit wird durch die Verwendung von Träumen oder autobiographische Erfahrungen unterstrichen und drückt sich im Zerschlagen narrativer Ordnungen, der Fragmentarisierung der Szenen, oder aber auch der Mehrfachcodierung der Texte aus. Diese Geste der Subjektivität weiß sich weder der Wiedergabe der Realität noch einem didaktischem Gestus verpflichtet. Vielmehr entsteht eine für das autonome Kunstwerk konstitutive Blindheit, die Adorno als »subjektive Paradoxie von Kunst« bezeichnet.22 Das au19 20 21 22

R. Calasso: Brecht, der Zensor, S. 247. B. Brecht: Gesammelte Werke, Bd. 15, S. 479. H. Müller: Schriften, S. 202. T.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 174.

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tonome Kunstwerk will keineswegs Sinnstiftung betreiben, sondern steht im Zeichen des Begehrens oder der dem Schreibdrang zugrunde liegenden Impulse und Grundschocks. Dieses obsessive, in der Singularität des Autors zentrierte Moment, entbindet das künstlerische Subjekt davon, seine ästhetischen Konstruktionen durchschauen oder verstehbar machen zu müssen. Müller: »Adorno hat das für die Moderne so formuliert: Wir machen Dinge, von denen wir nicht wissen, was sie sind. Das gilt für jede Kunst«.23 Oder: »Es ist ein anderes Wissen, es ist eine Erfahrung, aus der heraus man schreibt. Erfahrungen sind blind. Man kann eine Erfahrung nur machen, indem man sie nicht auf den Begriff bringt«.24 Ein um Autonomie ringendes Schreiben erzeugt Authentisches im Bewusstsein der Blindheit, aber ohne dabei jener bloßen Willkür anheimzufallen, welche die postdramatische Schreiberei mit Blick auf das bloße Gemachtsein allen Textgebilden insgeheim unterstellt. Die unausgesprochene, aber implizite Voraussetzung der um das Authentische zentrierten Schreibwerkstatt geht von der Unterstellung aus, dass Intention eines Textes und dessen Gehalt identisch sind. Der Autorregisseur in einer Person ist der Künstlerdemiurg, der eine Facette des autonomen Subjekts darstellt, das seine geschichtliche Potenz aus den Triumphen der Naturbeherrschung ableitet. Eine in Zeiten der globalen Erwärmung recht zweifelhafte, wenn nicht historisch bereits überholte Legitimationsstrategie, hat sie doch keine Antworten auf die von dieser Scheinautonomie hervorgerufenen Wechselwirkungen zu bieten. Gegen die Authentizität des Faktischen, den Zeugnissen aus der Welt der Macher und ihrer technologischen Erfolge, wirkt die Zone des Unbekannten und Blinden arbiträr, eignen ihr nicht Momente, die über das Subjekt und dessen Zufälligkeit hinausgehen. »Wenn ich schreibe, sehe ich das Loch zwischen Sätzen oder zwischen Worten nicht genau. Wenn ich schreibe, ist das einfach ein Text. Ich bemerke dieses Schweigen erst Wochen oder Monate später, wenn ich den Text lese oder wenn er aufgeführt wird. Deshalb bin ich immer in einer schwierigen Lage, wenn ich gezwungen bin, meine eigenen Texte zu interpretieren. Ich schreibe mehr, als ich weiß. Ich schreibe, in einer anderen Zeit, als der, in der ich lebe«.25

23 Müller, Heiner: Gesammelte Irrtümer 3, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1994, S. 158. 24 Ebd., S. 161. 25 H. Müller: Gespräche 1 (= Werke 10), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 215.

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Die Blindheit des Prozesses macht seine Authentizität aus. Das Unbedingte des sich Einlassens generiert einen intersubjektiven Mehrwert, der nicht in Subjektivität und deren Intentionalität rückführbar ist. 1975 hatte sich Müller gegen Anfeindungen seines Stücks Die Schlacht gewehrt, indem er die »Dummheit, eine Kette von Situationen als Wunschzettel des Autors zu lesen« anprangert.26 Mit dieser Argumentation wird eine über das Autoren-Ich hinausweisende Objektivität angeführt, die Müller als Ergebnis kaum zu kalkulierender Wechselwirkungen fasst, die »aus dem Widerspruch von Intention und Material, Autor und Wirklichkeit« resultieren.27 Das Echte der Texte ist nicht in Subjektivität auflösbar sondern Produkt verschiedener im Schreibprozess wirkender Kräfte. Ebensowenig wird es von Bewusstsein, Reflexionsgrad und Wissen des Schreibenden verbürgt: »Der Autor ist klüger als die Allegorie, die Metapher klüger als der Autor.«28 Nicht das Ich sondern Es schreibt oder der Schreibdrang wie Roland Barthes sagt und tatsächlich finden sich analoge Formulierungen bei Müller: »Das Schreiben verbrennt die Intention. Es ist eine Praxis, keine Theorie. Es ist eine andere Form von Leben. Es ist ganz einfach eine Methode, die eigenen Erfahrungen zu verarbeiten. Ich schreibe nicht, sondern der Text schreibt. Ich weiß, daß diese Erklärung nach Mystik riecht, aber genauso ist es«.29

Wer beginnt, den Brunnen der Intersubjektivität im Schreibprozess oder dessen Umschlag in Nicht-Willkürliches theoretisch auszuleuchten, stößt alsbald auf ein Knäuel philosophischer Problemstellungen. In diesem Kontext entscheidend ist jedoch, dass dort, wo Brecht allein ein in abwägbare Argumente gegliedertes Diskursives gelten lassen will, ein Pol blinder Intersubjektivität existiert. Dieses ästhetische Surplus darf Verbindlichkeit beanspruchen, ohne dass es in Rationalität oder die herrschenden Lehren der Zeit zurückgebunden werden kann. Die Frage ist, ob der Gehalt eines auf diesem Wege gewonnen Authentischen des Ausdrucks strukturell deckungsgleich mit jenem Wissen ist, das durch eine an wissenschaftlich-rationalen Methoden orientierte Poetologie gewonnen wird. Bzw. handelt es sich bei den durch die unterschiedlichen Verfahren eröffneten Sinnhorizonte um zwei Seiten derselben Medaille oder wird das ästhetische Material durch die konträren Begriffe des Authentischen präfiguriert? Das über die Subjektivität des Ein26 27 28 29

H. Müller: Schriften, S. 177. Ebd., S. 176. Ebd., S. 224. H. Müller: Gesammelte Irrtümer 2, S. 132.

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zelnen hinausweisende Moment im Schreibprozess fasst Giorgio Agamben mit Verweis auf die antike römische Kultur als Genius: »Wir müssen also das Subjekt als ein Spannungsfeld ansehen, dessen antithetische Pole der Genius und das Ich sind. Durch dieses Feld gehen zwei miteinander verbundene, aber entgegengesetzte Kräfte […]. Nehmen wir an, das Ich möchte schreiben. […] Dieser Wunsch bedeutet: Ich spüre, daß eine unpersönliche Gewalt in mir ist, die zum Schreiben drängt«. 30

Mit der metaphysisch konnotierten Instanz des Genius’ hat Agamben jene Funktion benannt, die Subjektivität in Intersubjektives umschlagen lässt. Die interpersonelle Natur des Schreibdrangs zeitigt eine Authentizität, die weder von der Krise der Repräsentation befallen noch von der Kritik an der Repräsentation betroffen ist. Der Genius garantiert das Echte des Textes. Welche Rolle aber spielt der Genius, der »aus dem ›Subjekt‹ das Zeichen der Geschichte macht«, in den postdramatischen Theaterformen?31 Welche Auswirkung hat die Abwesenheit des Genius’ respektive des personalisierten Schreibdrangs, die das Authentische des Materials verdecken soll, auf den Gehalt der dargebotenen Vorstellungen? Mit anderen Worten, ist die skizzierte Strategie der Deliterarisierung des Theaters gegenüber dem Gehalt neutral oder, wie bereits präjudiziert wurde, ideologischer Natur? Der Schreibdrang selbst zeigt die Existenz einer Wunde an, welche die Konstitution des Autors ausdrücklich von der Verfasstheit des so genannten normalen Seelenlebens unterscheidet. Das Problem, inwieweit diese traumatische Struktur projektive Wirkungen hervorbringt, also den Gehalt verzerrt, oder die Voraussetzung all jener Künstler bildet, deren »oeuvre die Negativität des Daseienden ohne Zensur objektiviert«,32 gehört zu den Standards der Debatte um das Woher des Schreibimpulses. Agamben operiert in diesem Zusammenhang vorsichtig mit »einem guten und einem bösen Genius«.33 Doch wenn die authentische Quelle des Schreibimpulses, und Müller gibt dies mehrfach zu verstehen, in den Grundschocks zu suchen ist, welche die Psyche nicht durch Trauerarbeit lindern konnte, dann hat das Schreiben, das die eigenen Motive reflektiert, notwendig eine Affinität zum Schrecken. Für Adolf Muschgk besteht ein unabweisbarer Zusammenhang zwischen der Verletzung des 30 Agamben, Giorgio: »Genius«, in: Ders.: Profanierungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 7-17, hier S. 11. 31 R. Barthes: Die Vorbereitung des Romans, S. 137. 32 T.W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 8. 33 G. Agamben: Genius, S. 14.

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dichtenden Subjekts – er bezieht sich auf Samuel Beckett und Thomas Bernhard – und der ästhetischen Qualität: »Es sei eingeräumt, daß ihre Werke ohne furchtbare Deformationen in der Lebensgeschichte nicht geschrieben worden wären. Aber machen die Zeichen der Deformation im Werk dieses Werk weniger human – oder war die Deformation nicht sogar die Voraussetzung, das Humane jenseits von Kultur-Phrasen und Harmonie – Erwartungen sichtbar zu machen?«34

Das deliteralisierte Theater ist also ein um den Schrecken gebrachtes Theater, wobei »der wahre Grundstoff alles Lebens und Daseins eben das Schreckliche« ist,35 so schreibt es Schelling, dem aber eine etliche Anzahl von Autoren und Philosophen zustimmen würden, vorausgesetzt sie beschäftigen sich mit Geschichte. Aufgrund ihrer deliteralisierten Konstitution stehen die neuen Theaterformen wie auch das epische Theater einem emotionalen Spektrum nahe, das Spaß, Heiterkeit, Vergnügen favorisiert und sich gegenüber einer Ästhetik des Schreckens, des Schocks und der Tabubrüche spröde erweist. Auf fatale Weise und gewiss gegen die überwiegende Intention seiner Macher passt es damit nur allzugut in die neue Biederkeit, die der Zeit das Gepräge gibt. Natürlich ist es unausgewogen, Schlingensiefs performancetaugliche Krebserkrankung und Polleschs Technologien der Bearbeitung des Selbst in einen Topf des postmodernen Theaters zu verrühren. Doch basiert diese Schieflage an den von der Theaterwissenschaft hervorgebrachten terminologischen Unstimmigkeiten. Bestimmte Entwicklungen der modernen Theaterliteratur von Heiner Müller bis Elfriede Jelinek mit den Zeugnissen von schriftlich fixierten Zeugnissen von ›Experten des Alltags‹ unter dem Titel postdramatisch zu vermengen, erscheint mehr als problematisch. Dies macht die wunderbare Aufführung Appopriation. Parasiten. Krapp’s last tape von Sebastian Blaisus besonders augenfällig. Dem Regisseur gelingt es mit seinem Darsteller Ludger Lamers die hier angezeigte Divergenz von Kopie, Authentizität und poetischer Sprache zu entkommen, indem sie die deutsche von Beckett selbst geleitete Uraufführung mit Martin Held nach- und überspielen, akkurat abbilden und bewusst verzeichnen. Dadurch entsteht jener Blick in die Tiefe der Zeit, der die äußerst erfolgreiche Strategie der Deliterarisierung des Theaters auch als Symptom der Geschichtslosigkeit 34 Muschgk, Adolf: Literatur als Therapie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 14. 35 Schelling, Friedrich: Die Weltalter. Werke 4, München: C.H. Beck 1927, S. 715.

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der Epoche lesbar macht. Die im Namen der Deliterarisierung organisierte Vertreibung des Autors aus dem Theater steht kaum zufällig in einem Welthorizont, der sich nach dem Verpuffen der sozialen Utopie als geschichtslos maskierte. Nach der Kernschmelze des Kapitals wissen wir, dass die Geschichte tatsächlich nur eine Atempause eingelegt hat, um mit Vehemenz auf den globalisierten Erdball zurückzudrängen. Geschichte aber weist mit verschiedenen Vektoren immer über das Hier und Heute, der Heimstatt des Authentischen hinaus. Kaum ein Zufall also, dass in der unter dem Titel Über Wahrhaftigkeit – Spielformen des Authentischen von Anne Hirth und Hilko Eilts geleiteten Diskussionsrunde während des OUTNOW! Festivals 2010 in Bremen bereits das Wort vom Ende des Authentischen fiel.

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DAS DRAMA EINE

BEGRIFFLICHE

W I ED E R .

UNTERSUCHUNG

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Jene Art des europäischen Theaters, die sich als Drama verstand, scheint schon seit einigen Jahrzehnten überholt zu sein. Neue Begriffe sind entwickelt worden, um die jeweiligen historischen Umwälzungen des europäischen Theaters seit mindestens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erfassen. Mit der neu entstandenen Begrifflichkeit grenzte sich die Disziplin der Theaterwissenschaft allmählich von der Literaturwissenschaft ab und verselbständigte sich. Die zeitgenössischen Theaterformen werden im deutschsprachigen Raum zumeist als »postdramatisch« oder als »performativ« bezeichnet. Gleichzeitig werden in der Theaterwissenschaft rückblickend die Theatralität des klassischen dramatischen Theaters neu beschrieben sowie die Tendenzen thematisiert, die von dort zum heutigen Theater führten. Ich möchte hier einen umgekehrten Weg vorschlagen und als Forschungsfeld begrifflich skizzieren. Ich werde nicht aus dem klassischen Drama heraus eine neue Begrifflichkeit für die neuen Theaterformen suchen, sondern ein neues, erweitertes Verständnis des Dramenbegriffs. So wird auch der Gefahr begegnet, dass die von den neuen Begriffen in den Vordergrund gebrachte Problematik sich auf bestimmte Merkmale festlegt, die als Kriterien dafür dienen, welches Theater zeitgemäß ist. Die hier vertretene These besagt stattdessen, dass das klassische Drama, von dem sich die verschiedenen Theaterformen nach und nach verabschiedeten, als eine historische Erscheinung des Dramas gedacht werden kann, das sich bis heute in neuen Formen entwickelt. Theaterformen, die scheinbar nicht mehr zum Drama gehören, würden mit dem Drama kommunizieren, insofern sie eine dem Drama innewohnende Problematik herausstellen. Es kommt also darauf an, die Entwicklung der dramatischen Problematik zu beschreiben. Momente dieser Problematik, so die These, können manchmal genauso mit klassischeren wie mit experimentelleren Mitteln hervorgebracht werden. Das jeweils Zeitgemäße eines Theaters würde dann nicht die Art der Mittel ausmachen, sondern wie mit ihnen umgegangen wird. 385

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1 . D r a m a u n d p o s td r a m a t i sc h e s T h e a t e r Der Begriff des Postdramatischen1 beruht auf einer Definition des Dramas, die Peter Szondi 19592 gegeben hat und die ihrerseits auf Hegels Dramenbegriff verweist. Für Hegel ist das Drama absolut, es ist von allem ihm Äußerlichen abgelöst. Es ist von einer in sich geschlossenen, aber sich geschichtlich entwickelnden Form-Inhalt-Dialektik gekennzeichnet. Das heißt, dass in dieser Kunst Form und Inhalt weder äußerlich miteinander verbunden, noch vorausgesetzt sind. Form und Inhalt existieren erst durch einander. So bezeichnet diese dialektische Beziehung nicht das Verhältnis zwischen zwei verschiedenen Instanzen, sondern das Subjekt-Werden, das Sich-Selbst-Hervorbringen, die Freiheit. Die Sphäre dieser dialektischen Beziehung ist die zwischenmenschliche Welt. Szondi leitete aus der hegelianischen Bestimmung des Dramas eine Reihe formaler und gleichwohl inhaltlicher Züge ab. Das Drama ist abgelöst vom Autor. Die im Drama gesprochenen Worte werden aus der Situation heraus gesprochen. Sein sprachliches Medium ist der Dialog. Es ist nicht nur vom Autor, sondern ebenso vom Zuschauer vollkommen getrennt. Diese vollkommene Trennung aber ist die Bedingung für vollkommene Identifikation. Dem Drama einzig adäquat ist die Guckkastenbühne, die erst mit Beginn des Spiels als vom Spiel selbst erschaffen sichtbar wird. Die Relation Schauspieler-Rolle darf keineswegs sichtbar sein. Das Drama soll keine sekundäre Darstellung von etwas Primärem sein, weswegen es weder Zitat noch Variation kennt. Seine Zeit ist die Gegenwart, jeder Moment muss den Keim der Zukunft in sich enthalten, jede Szene die nächste hervorbringen. Die räumliche Umgebung muss aus dem Bewusstsein des Zuschauers ausgeschieden werden. Der Zufall soll ausgeschaltet sein. Die Ganzheit des Dramas soll je und je durch die Aufhebung der zwischenmenschlichen Dialektik geleistet werden, die im Dialog Sprache wird. Vor dem Hintergrund dieses Kanons beschrieb Szondi verschiedene Theaterformen, die schon im 19. Jahrhundert und dann bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom klassischen Drama wegführten. In Bezug auf diesen sich radikalisierenden Prozess verstand später Lehmann die Theaterformen, die seit den 1970er Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts entstanden, als postdramatisch, d.h. als ein Theater nach 1 2

Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater, Frankfurt a.M.: Verlag der Autoren 1999. Szondi, Peter: Theorie des modernen Dramas, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1959.

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dem Drama. Lehmann verfolgte die vielfältigen Auflösungserscheinungen der formalen Merkmale, die Szondi in der hegelianischen Bestimmung des Dramas herausgestellt hatte. So vollzieht der Begriff des Postdramatischen einen Wandel nach, der in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts im Theater stattfand. Er betrifft die radikale Verwandlung jenes Theaters, das den Kern der europäischen Theatertradition der Neuzeit formte. Das Postdramatische versteht die Abkehr von jenem Theater nicht bloß als eine Abwendung von der literarischen Gattung des Dramas und vom dramatischen Rollentext. Es begreift diese Wandlung als Unterminierung dessen, was das Drama erreichen wollte: die Stiftung einer bürgerlichen Identität, die als soziales und politisches Modell funktionieren sollte. Das Postdramatische bezeichnet die Auflösung des dramatischen Anspruchs auf eine abgeschlossene, vorbildhafte und totalisierende Identität. In Bezug auf diese hegelianische Bestimmung des Dramas verstand Lehmann wiederum das antike Theater, vor allem aber die Tragödie, obgleich »leicht forciert«, als prädramatisches Theater.3 Das prädramatische Theater bezieht sich insofern auf das Drama, als es die Frage der Freiheit bzw. des Subjekts erhebt und damit den Anfang vom Ende der antiken Welt markiert. Weil aber im antiken Theater Form und Inhalt noch nicht absolut voneinander durchdrungen sind, schildert das antike Drama die unmögliche Verwirklichung des Subjekts in der antiken Welt, das heißt sein (tragisches oder komisches) Scheitern.

2. Drama und performatives Theater Ausgehend von der ›performativen Wende‹ in der kulturellen Szene der 60er und 70er Jahre entwickelte Erika Fischer-Lichte über Max Herrmanns Begriff der Aufführung eine Ästhetik des Performativen, die traditionelle Begriffe wie den des Werkes und seiner Bedeutung oder den der Inszenierung sowie die Dualität Zuschauer-Subjekt und Kunst-Objekt in Frage stellte.4 Herrmann verstand die Theaterkunst im Gegensatz zum dramatischen Werk als ein Ereignis zwischen Zuschauern und Akteuren, das durch die Schauspielkunst ein anderes leibliches Raumerlebnis her-

3 4

Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, Stuttgart: Metzler 1991. Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004.

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vorbringt.5 Fischer-Lichte versteht dieses Ereignis als unmittelbar präsente Materialität, als leibliche Ko-präsenz von Akteuren und Zuschauern, welche eine »autopoietische feed-back Schleife« hervorbringt. Dies führt dazu, wie Fischer-Lichte zustimmend zitiert, »das dichotomische begriffliche Schema als ganzes zu destabilisieren«.6 Die Unterscheidung zwischen Kunst und Leben wird unscharf, transformative Schwellenerfahrungen werden hervorgebracht. Sie führen zu einer »Wiederverzauberung der Welt«, die nicht als Gegenaufklärung, sondern als »neue« Aufklärung verstanden werden soll. Es wird behauptet, das Theater allein von der Aufführung her beschreiben zu können, indem jener Begriff des Dramas abgelehnt wird, der das Drama als inszeniertes und aufgeführtes Werk versteht. Es ist jedoch fraglich, ob diese neue Reflexion des Theaters sich tatsächlich so radikal vom philosophischen Dramenbegriff abwendet, wie sie es vorgibt. Denn im Lichte neuerer Lektüren von Hegels Ästhetik wird mehr und mehr deutlich, dass Hegel die Dualität von Innen und Außen, Subjekt und Objekt radikal in Frage stellte und dass mit Hegel das (künstlerische) Werk, also auch das Drama, radikal in seinem Ereignischarakter als Tätigkeit gedacht werden kann.7 Fischer-Lichtes performative ›Schwellenerfahrung‹ soll auf eine Verwandlung hinauslaufen, welche »kein Abbild oder Sinnbild« ist. Diese Verwandlung erinnert stark an das, was in der klassischen Ästhetik als Hervorbringung der Natur des Menschen gedacht wurde. Für die ganze deutsche Tradition neuzeitlicher Ästhetik wird der Kunst die Zweckmäßigkeit zugeschrieben, alle Dichotomien (von Vernunft und Sinnen, Endlichem und Unendlichem, usw.) dialektisch zu überwinden und den Menschen zu ermutigen sich »im Leben aufzuführen wie in den Aufführungen der Kunst«.8 Diesbezüglich könnte man behaupten, dass es sich bei Fischer-Lichtes Auffassung des Performativen um eine Radikalisierung der klassischen Ästhetik handle. Dagegen lassen sich jedoch einige Bedenken anmelden.

5 6

7 8

Herrmann, Max: »Das theatralische Raumerlebnis«, in: Bericht vom 4. Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Berlin 1930. Krämer, Sibylle/Stahlhut, Marco: »Das ›Performative‹ als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie«, in: Erika Fischer-Lichte, Christoph Wulf (Hg.), Theorien des Performativen, Berlin: Akademie-Verlag 2001 (= Paragrana, Bd. 10), S. 35-64. Vgl. Pippin, Robert: »Ästhetik ohne Ästhetik. Zu Hegels Philosophie der Kunst«, in: WestEnd 1 (2009). E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 362.

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Die neuzeitliche Zweckmäßigkeit der Kunst, die dialektische Überwindung der Dichotomien der Aufklärung, wurde später für totalitäre politische Einstellungen verantwortlich gemacht.9 Doch eben diese Zweckmäßigkeit wurde in der deutschen klassischen Ästhetik der Kunst nie problemlos zugeschrieben. Im Gegenteil, was die Kunst für diese ganze Tradition ausmacht, was sie belebt, ist ein unlösbares Problem. Die klassische Ästhetik reflektiert im Herzen des Kunstbegriffs von Beginn an einen Widerspruch, der die zukünftige »Entkunstung« der Kunst ermöglicht oder sogar benötigt. Es ist kein Zufall, dass das Drama für Hegel das Ende der Kunst in der Kunst und als Kunst erfährt. Das performative Theater, so Fischer-Lichte, unterscheidet sich nur institutionell vom Leben. Diese »Entkunstung« des Theaters, die Auslöschung des Unterschieds zwischen Kunst und Leben, wird jedoch nicht als Widerspruch hinsichtlich jener erzielten Verwandlung, sondern als Mittel dazu verstanden.

3 . M o d e r n u n d P o s tm o d e r n Die Frage der Zweckmäßigkeit bildet philosophisch den neuralgischen Kontaktpunkt zwischen Kunst und Politik. In den 80er Jahren sollte der Begriff des Postmodernen10 einen Epochenwandel markieren, der die Katastrophen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert reflektierte, zu denen die Versuche der Moderne beitrugen über die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Dialektik (z.B. als Gemeinschaft, Staat) die Identität des Subjekts zu stiften. Gegen diese Bestrebungen stellte die Postmoderne die Unmöglichkeit einer dialektischen Versöhnung heraus. Postmoderne Kunst wollte die Erfahrung des Abgrunds im Subjekt hervorbringen, das Undarstellbare erfahren und eine Ästhetik des Erhabenen, der Unmöglichkeit der Aneignung der SubjektObjekt-Dialektik reflektieren. Jedoch beruhte sie auf einer Kritik der Moderne, die zu kurz griff.

9

Siehe u.a. Adorno, Theodor: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970 und Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris: Minuit 1979. 10 J.-F. Lyotard: La condition postmoderne; sowie ders.: Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München: Fink 1994.

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Lyotards Begriff der Postmoderne und des Undarstellbaren wurde selbst von den oft als postmodern etikettierten Philosophen der französischen Dekonstruktion kritisiert, so z.B. von Lacoue-Labarthe.11 Lacoue-Labarthe so wie u.a. Jacques Rancière, Jean-Luc Nancy oder, von deutscher Seite, Christoph Menke versuchten zu zeigen, dass der moderne ästhetische Willen zur Identitätsstiftung keineswegs eindeutig ist, sondern dass in der Moderne die Kunst vielmehr als Problem gedacht wurde. Denn Voraussetzung und Anspruch der Kunst bzw. ästhetische Selbständigkeit und Zweckmäßigkeit der Kunst schließen sich gegenseitig in der Moderne aus. Lacoue-Labarthe zufolge muss man diese Antinomie nicht überwinden, sondern reflektieren. Für ihn bleibt die Antinomie unreflektiert, wenn die Erfahrung des Undarstellbaren, des Abgrunds im Subjekt, zum erstrebten Ziel (der »postmodernen«) Kunst gemacht wird. Es käme aber darauf an, die verschiedenen historischen Gestalten des ästhetischen Widerspruchs zu überdenken.12 Zweifellos wurde die Kunst zuerst mit der Zweckmäßigkeit des Subjekts als einem säkularisierten Absoluten, z.B. als Staat, verbunden. Doch mit dieser Zweckmäßigkeit wurde zugleich ein Widerspruch im Herzen der Ästhetik erfahren. Daraufhin wurde die Negativität, das notwendige Scheitern dieser Zweckmäßigkeit thematisiert. Diese Thematisierung ging vom katastrophalen Scheitern der neuzeitlichen politischen Ideologien aus. Heute, nachdem sich jede Ideologie, jede Bestrebung nach einer säkularisierten Form des Absoluten verflüssigt hat, tritt diese Antinomie des Subjekts, unter einem anderen Aspekt in den Vordergrund:13 als Markt, der sich selbst verzehrt. Das Kapital produziert sich selbst als verallgemeinerte Äquivalenz, die aber unendlich auf nichts anderes hinausläuft als auf die Abstraktion dieser Äquivalenz selbst: auf das »Nichts der Werte«.14 In den Künsten taucht die Kehrseite dieser Selbst-Produktion 11 Lacoue-Labarthe, Philippe: Die Nachahmung der Modernen, Basel: GVA 2003 sowie ders.: Dichtung als Erfahrung, Stuttgart: Schwarz 1990. 12 Vgl. Menke, Christoph/Rebentisch, Juliane (Hg): Kunst Fortschritt Geschichte, Berlin: Kadmos 2006. 13 Siehe u.a. Nancy, Jean-Luc: Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung, Zürich/Berlin: Diaphanes 2002 sowie ders.: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich/Berlin: Diaphanes 2007. In gewisser Hinsicht vgl. auch Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, Zürich/Berlin: Diaphanes 2004 oder schon Deleuze, Gilles/ Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin: Merve 1992. 14 http://www.lettre.de/archiv/44_nancy.html

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auf: die Prozessualität an sich. So wird der Prozess der Selbst-Produktion für einen Moment von der Tauschbarkeit, d.h. der Äquivalenz abgeschnitten: Die Prozessualität des künstlerischen Ereignisses tritt nicht hinsichtlich eines (tauschbaren) Ergebnisses hervor, sie wird nicht mehr hinsichtlich einer Zweckmäßigkeit oder ihres Scheiterns erfahren, sondern lokal als Geschehen. In allerjüngster Zeit ist es genau diese Verwandlung der (positiv oder negativ gedachten) Zweckmäßigkeit der Kunst, die philosophisch reflektiert wird. Nancy fordert, dass wir unsere Vorstellung von Politik als einem Ort, wo Zweckmäßigkeiten übernommen werden, ändern.15 Rancière denkt die ästhetische Erfahrung als eine Neuaufteilung des Sinnlichen, die einen Dissens in der herrschenden Organisation des Realen hervorbringt und insofern politisch ist, als sie keiner politischen Zweckmäßigkeit unterliegt.16 Menke sieht wiederum in der ästhetischen Erfahrung eine vor-subjektive, anthropologische Kraft.17 Es geht darum, der Kunst weder eine neue, noch eine negative Zweckmäßigkeit zuzuschreiben, sondern die Zweckmäßigkeit paradoxerweise als eine endliche und plurale, d.h. unabtrennbar von ihrer jeweiligen realen Sinnlichkeit, zu reflektieren.

4 . P o l i t i k d e s D r am a s So lange das Drama in Hinsicht auf seine Zweckmäßigkeit betrachtet wird, bleibt es mit der Problematik des Gemeinschaftlichen verbunden, in der die Politik vermeintlich gründet. Diese Verbindung des Dramas mit einem metapolitischen Modell betrifft nicht nur den klassischen Begriff des Dramas. Sie steckt auch in jenen Theorien, die in der Theateraufführung die Verwirklichung einer Ursprünglichkeit oder die Bildung Ȏvergänglicherȍ Gemeinschaften sehen: als authentische, ursprüngliche (z.B. körperliche) Erfahrung, die sich der »Gesellschaft des Spektakels«18 entgegensetzt, als performative Wiederverzauberung der Welt19 oder als Verkörperung einer Gemeinschaft durch die aktive Teilnahme

15 Nancy, Jean-Luc: Wahrheit der Demokratie, Wien: Passagen 2009. 16 Rancière, Jacques: Der emanzipierte Zuschauer, Wien: Passagen 2009. 17 Menke, Christoph: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 18 Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Tiamant 1996. 19 Vgl. E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen.

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von Zuschauern und Akteuren (wie Bourriauds »art relationnel«20), usw.21 Auf das historische Dramenmodell reagierend wurde das notwendige Scheitern der dramatischen Zweckmäßigkeit vielfach sowohl in der Theater-Praxis als auch in der Theater-Theorie thematisiert und mit der Problematik des Undarstellbaren22 in Verbindung gebracht. Doch man muss hier ein breites Spektrum differenziert analysieren: Es handelt sich nicht nur oder nicht immer um eine Erfahrung der Tragik des Subjekts, das sich gegen sich wendet und vernichtet, sondern mitunter auch z.B. um eine produktive Negativität, die eine emanzipatorische Haltung erzeugt, indem sie die Zweckmäßigkeit des Menschen als nie gegeben erfahren lässt.23 Heute tritt die dramatische Problematik, so die These, eher unter einem leicht verschobenen Aspekt auf. Die Prozessualität des dramatischen Ereignisses wird nicht mehr an erster Stelle hinsichtlich ihrer Zweckmäßigkeit oder ihres Scheiterns thematisiert, sondern hinsichtlich ihres Geschehens. So besteht die Innovation neuerer Theaterformen in einer Verschiebung der Perspektive, aus welcher die dramatische Prozessualität zu betrachten ist: Die dramatischen Mittel, die Faktizität der Aufführung, sind nicht mehr der Zweckmäßigkeit einer dramatischen Identitätsstiftung untergeordnet. Das, was nun hervorgebracht wird, ist die Prozessualität jener Identität: das Geschehen ihrer Erschaffung, die zu keiner Gestalt gerinnt.

5. Das Drama – wieder Das Drama hat sich zuerst als Versprechen verstanden, die Tragik dialektisch durch das Spiel aufzuheben. Als »Metatragödie des Spiels«24 hat es danach die Auflösung der dramatischen Dialektik als Scheitern des dramatischen Versprechens am Spiel geschildert. Die faktische Entfaltung der dramatischen Prozessualität kann nunmehr als heutige Erscheinungs20 Bourriaud, Nicolas: Relational Aesthetics, Dijon: Presses du réel 2002. 21 Weiterführend in Bezug auf diese Kritik siehe Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik, Wien: Passagen 2007. 22 Vgl. J.-F. Lyotard: Die Analytik des Erhabenen. 23 Vgl. u.a. Lehmann, Hans-Thies: Das politische Schreiben, Berlin: Theater der Zeit 2002; Müller-Schöll, Nikolaus: Das Theater des konstruktiven Defaitismus, Frankfurt a.M.: Stroenfeld Verlag 2002. 24 Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005.

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form der dramatischen Problematik herausgestellt werden: als Moment des Begriffs und der Theatergeschichte des Dramas, das sich nach der Thematisierung des dramatischen Versprechens und nach der Thematisierung des (tragischen oder ironischen) Scheiterns dieses Versprechens am Spiel ergibt. Die Bewegung einer paradoxen Mimesis, die Spielräume des Selbst und der Freiheit eröffnet, indem sie ihr Spiel sich als Spiel entfalten lässt. In diesem Sinne sollte man das Drama als das sich jeder Bestimmung widersetzende Tun, den Akt, das sinnliche Geschehen seiner Erschaffung denken. Ein Beispiel dafür sind Goschs/Schützs Tschechow-Aufführungen. Die Erfahrung der Endlichkeit (der Tod, die Hilflosigkeit der Menschen wie der Kunst, die keine Utopie anbieten kann) ist hier nicht so sehr das, woran die Figuren zerbrechen, sondern das, woraus das Spiel, also die Figuren als lebende Praxis, hervorgeht: Das Raumerlebnis, das das Spiel der Schauspieler während der Aufführung hervorbringt, führt die Zuschauer nicht in eine andere Dimension hinüber, sondern immer wieder zurück zu dem Moment der Entstehung des Spielraums. So wird die Handlung von dem Hervorgehen des Spiels aus dem als Rahmen sichtbaren Bühnenbild belebt.25 Auch Polleschs parodistische Dekonstruktionen der dramatischen Handlung und Figuren thematisieren mehr das Entstehen des Spiels aus der sozio-ökonomischen Materialität der Aufführung, aus der medialen Realität der Schauspieler, als dessen Scheitern: ein Entstehen, dass im Entstehen bleibt und auf keine Figur hinauslaufen will. Diese Problematik kann nicht nur in Aufführungen dramatischer Texte herausgearbeitet werden. Auch in vermeintlich a-dramatischen Theaterformen findet, so die These, eine Umkehrung des dramatischen Prozesses statt, die die dramatische Prozessualität als Geschehen hervortreten lässt. Bei Wanda Golonkas Tanztheater Rrungs! z.B. wird in einer Serie fragmentarischer körperlicher Raum-Erkundungen – die sich zu keiner Gestalt/Identität anordnen lassen, sondern den Rhythmus der Aufführung skandieren – das endliche, pulsierende Sich-Verräumlichen thematisiert. Im so genannten Realitäts-Trend, der u.a. mit Rimini Protokoll aufkam, werden meist keine dokumentarischen Zwecke verfolgt. Es geht weder darum, zu zeigen, wie es wirklich ist, um darüber politische Absichten zu verfolgen (etwa Ausgeschlossenen, sozial Deklassierten das 25 Vgl. Thiele, Rita: »Wie die Zeit vergeht. Die Bühnenräume von Johannes Schütz«, in: Stefan Tigges (Hg), Dramatische Transformationen: Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater, Bielefeld: transcript 2008, 263-272.

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Wort zu geben, wie bei Volker Lösch), noch darum, ein ›authentisches‹ Zusammensein zwischen Zuschauern und Akteuren zu erzeugen. Vielmehr soll ein faktisches Durcheinander, eine Verschiebung der etablierten Wahrnehmung hervorgebracht werden. So gerät von GintersdorferKlaßen bis zu Hofmann und Lindholm der ready-made-Charakter der Realität im Verlauf der Aufführung in Bewegung, ohne dass dabei ein neues Modell explizit oder implizit, positiv oder negativ, performativ oder deskriptiv hervorgebracht wird. Anstatt über die Faktizität der Aufführung auf eine dramatische Identität abzuzielen, wird die verfestigte Vorstellung von Identitäten zum Ausgangspunkt, den die Aufführung in seinem prozessualen Charakter eröffnet. Dass diese Problematik nicht nur im deutschsprachigen Theaterraum auftaucht, zeigen Arbeiten wie Toshiki Okadas Air Conditioner, wo realistisch-triviale Szenen zum stofflichen Ausgangspunkt eines minimalistischen Tanzes werden, der ins Absurde treibt: Der sinnliche Stoff solcher Szenen verselbständigt sich und lässt so die Formbarkeit der jeweiligen Sinnlichkeit hervortreten. In ganz unterschiedlichen Fällen handelt es sich um einen Perspektivwechsel: vom Ergebnis der dramatischen Verwandlung zur EntstehensPraxis einer Gestalt oder Identität. Es handelt sich um die plastische Kraft des bildenden Tuns, das das Drama kennzeichnet. Wenn diese Theaterformen auf das Drama zurückgeführt werden können, als Perspektivwechsel auf die dramatische Prozessualität, ist eine theoretische Arbeit am herrschenden Dramenbegriff erforderlich, um das ganze Potential dieses Begriffs, über die historischen Theaterformen hinaus, aufzudecken.

6. Hegel Durch Szondi ist Hegels Bestimmung des Dramas nach wie vor der Grund, auf dem in der Theaterwissenschaft das Drama als Gattung steht. Von Szondis hegelscher Dramenbestimmung grenzen sich heutige Theaterformen und gegenwärtige theaterwissenschaftliche Begrifflichkeiten bewusst ab. Es ist an der Zeit, die theaterwissenschaftlichen Konsequenzen zu ziehen und die Elemente herauszustellen, die innerhalb von Hegels Theorie über Szondis Interpretation hinausführen. Hegels Dramenbegriff muss aus der Perspektive neuerer Lektüren seiner Ästhetik26 analysiert werden. Wie Menke in Bezug auf die antike

26 Menke, Christoph: Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996; R. Pippin: Ästhetik ohne Ästhetik;

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Tragödie bemerkt, schildert das Drama als Gattung für Hegel das Ende der Kunst in der Kunst. Es markiert das Ende der schönen (antiken) Kunst, das Ende der Kunst als Erscheinungsort des Heiligen und die Entstehung der Freiheit (des Geistes oder des Heiligen) im Subjekt als Tätigkeit. Doch das Drama kann nicht die Freiheit, die subjektive Reflexivität, als Innerlichkeit des Subjekts hervorbringen. Im Drama tritt vielmehr die Freiheit als Performativität der Kunst, als ihr gemachter, prozessualer Charakter hervor, der unabtrennbar vom jeweiligen ästhetischen Medium ist. Diese Performativität verbirgt den Widerspruch, welcher in der Kunst unaufhebbar verbleibt: den Keim ihres Untergangs, oder, wie es bei Adorno heißt, das Ferment ihrer ›Entkunstung‹. Denn die Kunst vermag nicht die diversen Momente sinnlicher ›Performativität‹ in einer Gestalt zu vereinen. So ist, erstens, zu folgern, dass für Hegel das Drama als identitätsstiftende Form-Inhalt-Dialektik – wie Szondi das neuzeitliche Drama im Gegensatz zur antiken Tragödie versteht – nie stattfand. Vielmehr gestaltet für Hegel »die dramatische Poesie, ihrer ganzen Darstellungsweise nach«27 das Tragische zum Prinzip des Kunstwerks aus: die unaufhebbare Antinomie, ihre unabweisbaren, unüberwindlichen Kollisionen. Zweitens ist anzumerken, dass diese Antinomie, welche die Kunst bestimmt, nur aus der teleologischen Perspektive des Geistes tragisch ist. Es ist jedoch genau diese Vorstellung des Geistes und seiner Teleologie, die heute (sogar in ganz unterschiedlichen philosophischen Strömungen) radikal in Frage gestellt wird. Eine Desubstantialisierung des Geistes als Tätigkeit und Handlung wird z.B. von Pippin und Brandom unternommen.28 Nancy andererseits macht darauf aufmerksam, dass der hegelianische »Begriff«, an dem die Teleologie des Geistes sich vollzieht, für Hegel (in der Ästhetik) »grau« und ohne Leben bleibt, wobei die Künste umgekehrt den Geist im Sinnlichen und als Sinnliches zersplittert und plural beleben29.

Nancy, Jean-Luc: Hegel. L’inquiétude du négatif, Paris: Hachette 1997 sowie ders.: Die Musen, Stuttgart: Legueil 1999. 27 Hegel, G.W.F.: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 526. 28 Pippin, Robert: Hegel’s Practical Philosophy: Rational Agency as Ethical Life, Cambridge: Cambridge University Press 2008; Brandom, Robert: Reason in philosophy. Animating Ideas, Cambridge: Harvard University Press 2009. 29 Vgl. J.-L. Nancy: Die Musen.

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So ginge es einerseits darum, zu untersuchen, was, z.B. mit Menke, im Drama das Ende der Kunst in der Kunst und als Kunst zu denken gibt: die Antinomie, die die Kunst nicht nur »entkunstet«, sondern auch belebt und ihr zu funktionieren erlaubt. Andererseits aber ginge es darum, zu untersuchen, was im Drama, z.B. mit Nancy, die Antinomie der Kunst als nicht-tragisch zu denken gibt. In dieser Perspektive müsste schließlich auch Hegels Begriff der dramatischen Handlung und Situation neu interpretiert werden. Aus dieser abstrakten philosophischen Begrifflichkeit heraus kann sich eine anschauliche Revision des Dramen-Begriffs Szondis ergeben und in der Theorie der Theaterwissenschaft kontextualisiert werden: gegen die Steifheit der Konturen von Figuren, gegen die Abgeschlossenheit der zwischenmenschlichen Dialektik, gegen die klare Trennung von Realität und Theater, Zuschauer und Bühne, Schauspieler und Rolle. Vielmehr sollte nun der dramatische Vorgang thematisiert werden – z.B. der Vorgang des Figur-Werdens, die Verschiebung der Wahrnehmung des Realen (nicht die Verwandlung oder ihr Scheitern), die sich wandelnden Spielräume, usw. Es ginge dabei paradoxerweise um den dramatischen Vorgang nicht als Mittel betrachtet, sondern als Eröffnung der Freiheit, die in der Erfahrung ihrer Endlichkeit lebt, und nichts als ihre sinnliche Faktizität ist.

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EIN GESPRÄCH ZWISCHEN SHERMIN LANGHOFF (KÜNSTLERISCHE LEITERIN BALLHAUS NAUNYNSTRASSE), TUNÇAY KULAOĞLU (LEITENDER DRAMATURG UND KURATOR AM BALLHAUS NAUNYNSTRASSE) UND BARBARA KASTNER (DRAMATURGIN AM BALLHAUS NAUNYNSTRASSE) IM AUGUST 2010

DES

B.K.: Das Ballhaus Naunynstraße bietet bundesweit als einziges Haus mit postmigrantischer Kulturpraxis KünstlerInnen eine stetige Plattform, ihr Schaffen aus einer ›translokalen Perspektive‹ heraus weiterzuentwickeln. Der Blick und Austausch über den nationalen Rahmen sowie der Aspekt der Interdisziplinarität und Nachhaltigkeit ist uns bei der Programmgestaltung des Hauses ein wichtiges Anliegen. Der Anspruch ist, migrantischen KünstlerInnen aus der zweiten und dritten Generation ein Forum zu geben, um neue Geschichten aus neuen Perspektiven zu erzählen. Damit greift das Ballhaus Naunynstraße auf ein kulturelles Kapital zurück, das bisher in der Theaterlandschaft kaum genutzt worden ist. Letztlich blicken wir in Deutschland auf eine Situation, in der höchst entwickelte und breit gefächerte theoretische Diskurse mit kosmopolitischen Ansprüchen gleichzeitig mit einer erschreckend engen und retardierenden Praxis in der ›klassischen Theaterwelt‹ existieren. Wie hat diese Situation eure Idee und Vision vom Ballhaus Naunynstraße beeinflusst? Gab es Vorbilder? S.L.: Vorbilder im Sinne von postmigrantischer Kulturpraxis im Theaterbereich gab es für uns keine, weil sie einfach nicht existieren. Im weitesten Sinne aber ging es uns um ein identitätsstiftendes Moment wie die Volksbühne vielleicht nach der Wende für viele war. Das war viel mehr als ein Haus mit großem Budget und tollen Künstlern wie Castorf, Schlingensief oder Marthaler. So gesehen hat sich das Ballhaus Naunynstraße seit seiner Eröffnung zu einer Plattform entwickelt mit neuen Inhalten und ästhetischen Ansätzen für KünstlerInnen, aber auch für das Publikum, das sich auch als Teil eines Netzwerkes versteht. Es gibt eine postmigrantische Kulturpraxis, die beispielsweise in der Literaturwissenschaft schon länger als solche benannt wird. ›Postmigrantisch‹ umfasst

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vor allem die Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen. T.K.: Man bewegt sich mit diesen Selbst- und Fremdzuschreibungen natürlich immer auf einer Grenzlinie. Dass man aber daraus ein kreatives Potential schöpfen und dies künstlerisch umsetzen kann, sehen wir am konkretesten im so genannten deutschtürkischen Film, der Mitte der 1990er das deutsche Kino um neue Perspektiven bereichert hat. Der Ausgangspunkt dieser neuen Welle von jungen FilmemacherInnen, deren bekanntester Vertreter Fatih Akın ist, ist eindeutig die Migration. Das ist übrigens in Hollywood nicht anders gewesen. Ohne die Migration in die USA gäbe es heute keine Genres wie Western oder Gangsterfilme. Es ist daher kein Zufall, dass viele junge FilmemacherInnen wie Neco Çelik, Hakan Savaş Mican oder Miraz Bezar am Ballhaus inszenieren. Aus der Not machten wir eine Tugend. Insofern kann man schon sagen, dass der deutschtürkische Film für uns eine Art Vorbildfunktion hatte. B.K.: Unser Haus stieß von Anfang an auf ein außergewöhnlich großes Publikums- und Medieninteresse. Wir haben mit über 50 verschiedenen Projekten, Festivals und Produktionen über 50.000 Besucher erreicht. Seit der Eröffnung zieht der Spielplan unseres Hauses mit über 90 Prozent Auslastung ein polymigrantisches generationsübergreifendes Publikum an. Inszenierungen wie Ferienlager – Die 3. Generation, Klassentreffen – Die 2. Generation und ZEY´BrEaK wurden zu zahlreichen Gastspielen im In- und Ausland eingeladen. Jetzt ist die zweite Spielzeit zu Ende gegangen. Das Team ist zusammengewachsen, Strukturen und eine Kontinuität in der Arbeit mit den KünstlerInnen haben sich entwickelt, Nurkan Erpulat hat mit Verrücktes Blut sein viertes Projekt abgeschlossen, Hakan Savaş Mican macht demnächst seine dritte Inszenierung. Wir arbeiten mit KünstlerInnen aus verschiedenen Kontexten zusammen, entwickeln das Profil des Ballhaus Naunynstraße, das vom deutschtürkischen Kontext startete, als eine transkulturelle Spielstätte, an der Projekte aus unterschiedlichen Szenen der darstellenden Kunst ihren Platz haben. So konnten wir den brasilianischen Tanzkurator Wagner Carvalho gewinnen, bei uns die Reihe »project in/out« ins Leben zu rufen, für die er außereuropäische Tanzproduktionen einlädt, die sich mit der Suche nach Formen, Erzähl- und Ausdrucksweisen beschäftigen. In welche Richtung können wir uns noch weiterentwickeln? S.L.: In den letzten zwei Jahren ist es uns gelungen, an andere Netzwerke anzudocken. Projekte im iranischen Kontext sind ein gutes Beispiel da-

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für. Mehdi Moinzadeh und Modjgan Hashemian mit ihren Tanz- und Theater-Inszenierungen sowie Schauspielerinnen mit persischer Herkunft, die in unterschiedlichsten Produktionen regelmäßig auf der Bühne stehen, zeigen, dass wir da auf einem guten Weg sind. Mit dem IranFestival Happy Revolution letztes Jahr haben wir zudem interdisziplinär agiert. Mit Wagner Carvalho haben wir im Rahmen des »project in/out« Tanzprojekte aus Lateinamerika und Südafrika eingeladen; der nächste Schritt wäre, im Tanzbereich selbst zu produzieren. Mit Simone Dede Ayivis Stück Der kleine Bruder des Ruderers bewegen wir uns zum ersten Mal im afrodeutschen Kontext mit weiteren Ideen, die wir nächste Spielsaison realisieren wollen. Es geht also, wenn man so will, um eine Öffnung in andere vorhandene Netzwerke oder darum, dass man selber welche organisch aufbaut. Die polymigrantische Realität des Landes, die wir immer wieder betonen, erfordert das. Denn nur dadurch können wir auch verschiedene künstlerische Ansätze umsetzen. Doch das kann uns nur gelingen, wenn wir eine solide finanzielle Grundlage haben. Zur Zeit ist das nicht der Fall. Wir müssen nebenher auch kulturpolitisch agieren, um die Zukunft unseres Hauses zu sichern. Ein Traum wäre natürlich eine dauerhafte Förderung. Die Konzeptförderung des Berliner Senats ist so gesehen ein erster Schritt, der ausgebaut werden muss. B.K.: Die deutsche Dramatik resultiert immer noch aus einer Vorstellung von einem Deutschland, in dem das Migrantische der jüngeren deutschen Geschichte kaum präsent ist. Sehr aussagekräftig finde ich diesbezüglich den im Deutschen Menschenrechtsrat (UN) vorgestellten Bericht des UN-Sonderberichterstatters zu Rassismus, Githu Muigai, über seinen Besuch in Deutschland im Juni 2009, in dem er empfiehlt, dass Bund, Länder und Kommunen ihrem Handeln ein erweitertes Verständnis von Rassismus zugrunde legen sollen. Gleiches gelte für Institutionen wie die Polizei und Gerichte. In Deutschland wird Rassismus oft mit rechtsextremer Ideologie und Gewalt gleichgesetzt und dadurch zu eng verstanden. Rassismus im Alltag, aus der Mitte der Gesellschaft, wird ausgeblendet, oder, wie unser Tanzkurator Wagner Carvalho sagte, der weiße Deutsche, der einen mit dem Gefühl sieht, alles über einen zu wissen, obwohl er nicht weiß, wer das Gegenüber ist. Was denkt ihr, inwiefern ist das eine Folge deutscher Geschichte – die sich natürlich auch in der Entwicklung des Theaters in Deutschland spiegelt? T.K.: Theater ist natürlich kein luftleerer Raum und spiegelt als Mikrokosmos die sozialen Verhältnisse wider. Die gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen funktionieren im Kunstbetrieb genauso. Zugleich ist Theater als Kunst-Ort ein widersprüchlicher Raum. Denn zum einen

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werden bestehende gesellschaftliche Strukturen reproduziert, zum anderen aber entstehen Räume, die diese Strukturen zu überwinden versuchen. Im Gegensatz zu Wirtschaft und Politik verläuft dieser dialektische Prozess wie in jeder anderen Kunstgattung viel agiler. Das liegt in der Natur der Sache. S.L.: Doch man hat in diesem Land auch eine Geschichte, die diese Prozesse nachhaltig beeinflussen. Die Shoah bedeutete nicht nur die physische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, sondern kam auch dem geistigen Tod Deutschlands gleich. Die jüdische Intelligenzija, als fester Bestandteil, und wenn man so will, als Motor dieser Gesellschaft, wurde vergast. Wenn man bedenkt, welche Vorreiterrolle sie gerade in Film, Theater, Musik und Literatur spielten, dann deutet die intellektuelle Entwicklung nach dem Krieg ohne sie auf eine ernstzunehmende künstlerische Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus hin. Dass die Politik dem hinterher läuft, steht auf einem anderen Blatt. Eine solch historische Zäsur stellte auch das Selbstverständnis des Deutschen in Frage. Man braucht immer die Anderen, um sich selbst definieren zu können. Das kann auf einer abstrakten, körperlosen Ebene geschehen, aber letztendlich braucht man Andere in unmittelbarer Nähe, sichtbar im Alltag. Das waren ab 1955 ganz sicher die Arbeitsmigranten. Ohne die historischen Prozesse verkürzen oder vereinfachen zu wollen, die Sichtbarkeit der Arbeitsmigration mit ihren komplexen Folgen trug wesentlich dazu bei, dass die Politik heute offiziell von einem Einwanderungsland spricht. Und wie schlägt sich das in der Kunst nieder? Die erste ernstzunehmende Arbeitsmigrantenfigur in der deutschen Filmkunst war 1969 in Katzelmacher ein stummer Grieche, den Fassbinder selbst spielte. Heute ist die deutsche Filmkunst ohne Fatih Akın und die anderen jungen FilmemacherInnen türkisch-kurdischer Herkunft nicht definierbar. Und im Theater? Ein Meilenstein und bis heute eine absolute Ausnahme ist vielleicht Birol Ünel, der 1995 in Castorfs Die Nibelungen – Born Bad Siegfried spielte. Abgesehen von einigen wenigen gutgemeinten Ausnahmen ist die postmigrantische Realität im Theater noch nicht angekommen. Fatih Akın in der Filmkunst, Feridun Zaimoğlu in der Literatur sind inzwischen sogar im Mainstream wahrgenommene Spitzen eines umtriebigen Eisberges. Doch als Theaterregisseur ist Nuran David Çalış bislang die einzige Spitze – ohne Eisberg. B.K.: Postmigrantisch steht für eine Kulturpraxis, die die polymigrantische Realität Deutschlands anerkennt und komplexe Identitätskonstruktionen als Herausforderung und als Beweggrund für die künstlerische Auseinandersetzung begreift, hast du mal gesagt. Wir arbeiten haupt-

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sächlich mit KünstlerInnen, die selbst die Erfahrungen der Migration nicht mehr erlebten, deren künstlerisches Schaffen also nicht aus Verlusten und Traumata initiiert wird. Gemeinsam mit den KünstlerInnen suchen wir nach Formen, Erzähl- und Ausdrucksweisen, der Künstler bestimmt die ästhetische Form, der Rahmen ist das postmigrantische Theater, in dem abseits des normierten Kunstbetriebs ein neues Bilderrepertoire, ein anderer Umgang mit Sprache, Geschichten, schauspielerischer Formen geschaffen werden kann. Was ist der Unterschied zwischen den Geschichten und Ästhetiken der ersten Generation MigrantInnen gegenüber denen der zweiten und dritten Generation? S.L.: Die ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei spielten seit ihrer Ankunft in Deutschland Theater. Eingeschlossen in ihren Communities, ohne Möglichkeit sich an die Produktions- und Förderstrukturen des etablierten Kunstbetriebes andocken zu können, bedienten sie mit einer Ästhetik, die hauptsächlich an die Theatertraditionen der 60er und 70er Jahre angelehnt war, vor allem das Bedürfnis der ArbeitsmigrantInnen. Es waren Stücke in ihrer Muttersprache, inhaltlich nicht selten heimatorientiert und die Fremde thematisierend. Es war eine Parallelwelt, die erstmals 1979 mit dem Türkischen Ensemble an der Schaubühne Berlin unter Peter Stein in der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wurde. Doch das Ensemble bestand nicht aus ›Gastarbeitern‹, sondern aus namhaften KünstlerInnen, die sich aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Türkei im Ausland aufhielten oder im Exil lebten. Die Geschichten der zweiten und dritten Generation heute verhandeln diese Themen nach wie vor, aber aus einer hybriden Perspektive. Das ist ganz klar auch eine Generationsfrage, die sich in unterschiedlichen Räumen souverän bewegt und auf mehreren Stühlen bequem sitzt. T.K.: Es gibt auch das Phänomen von migrantischen Amateurtheatern, getragen von zweiter und dritter Generation, die türkischsprachiges Theater machen. Hauptsächlich Komödien oder populäre gesellschaftskritische Stoffe aus der Türkei, die bundesweit, fernab vom etablierten Theaterbetrieb, Tausende von Menschen erreichen. In Sporthallen, Kulturzentren, Vereinslokalen und ohne jegliche Förderung bedienen sie ein postmigrantisches Massenpublikum. Eine Parallelwelt, ein absolutes Volkstheater mit Bildungsauftrag, das zu erforschen bestimmt spannend wäre. B.K.: Neben Regisseuren wie Nurkan Erpulat und Neco Çelik, die inzwischen auch an anderen Häusern inszenieren, sind ein Teil unserer RegisseurInnen DebütantInnen, Quereinsteiger aus dem Film, AutodidaktIn-

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nen, wie Neco Çelik, Hakan Savaş Mican, Miraz Bezar, İdil Üner, Simone Dede Ayivi. Hakan Savaş Mican, Regiestudent an der DFFB, hat seine Stücke selbst geschrieben und inszeniert: Der Besuch – ein poetisches Stück über Berliner Geschichte, erzählt fast wie alltäglich vom Aufeinandertreffen der Besitzer ein- und desselben Grundstücks, das vor dem zweiten Weltkrieg einer jüdischen Familie, heute einer türkischen gehört. In Die Schwäne vom Schlachthof, seiner zweiten Arbeit bei uns, wirft er einen Blick auf bisher wenig beachtete Aspekte der Geschichte des geteilten Berlins. Seine Figuren bewegen sich zwischen Türkei, West- und Ost-Berlin und zwischen den Zeiten vor und nach der Mauer. Geschichte sieht man in seinen Stücken durch den Mikrokosmos menschlicher Beziehungen. Seine Geschichten erzählen von Menschen, die in einer politischen Situation leben und deren Privatleben zwingend von den äußeren Umständen, von Geschichte geprägt ist. Seine ästhetische Herangehensweise hat filmische Komponenten, er schafft unterschiedliche Orte auf der Bühne, die sich durch Spielweise und Kontext definieren. Er lässt sich von Regisseuren wie Dimiter Gotscheff inspirieren, probiert Figurenkonstellationen auf der Bühne aus, entwickelt sich von Inszenierung zu Inszenierung weiter. Ebenso wie Nurkan Erpulat beschäftigt er sich mit deutscher Gegenwart und Vergangenheit aus einem migrantischen Blickwinkel. Die Inszenierungen der beiden sind höchst unterschiedlich. Wie unterscheidet Nurkan Erpulat sich von Hakan Savaş Mican in der ästhetischen Umsetzung historischer Spuren? S.L.: Die Unterschiede liegen in ihren künstlerischen Lebensläufen, aber vor allem in ihrer eigenen Persönlichkeit als Künstler, die meiner Meinung nach, keinen automatischen Zusammenhang zu ihrem ästhetischen Werk herstellen lässt. Ich glaube, dass jede gebrochene Biografie, sei es durch Migration oder anderes, ein gewisses Potenzial birgt. Nurkan Erpulat, der ja kein Einwandererkind ist, sondern ein migrierter Künstler, hat den Luxus, weil weder er noch seine Familie mit der Arbeitsmigration zu tun hat, mit einer spielerischen Leichtigkeit auf die Gesamtkontexte zu schauen. Es gelingt ihm stets zwischen unterschiedlichen Genres zu springen. Das Collagenhafte in den Erzählungen, in den Figuren, verbinden sich bei ihm immer zu einem ganz konkreten Ort auf der Bühne, die dennoch zeitlos wirkt. Das beste Beispiel dafür ist vielleicht Lö Bal Almanya, in dem er 50 Jahre Migrationsgeschichte in einem Ballsaal erzählt. Unverkennbar bei ihm ist auch die musikalisch-choreoraphische Komponente, die sich in fast allen seinen Stücken wie ein roter Faden durchzieht. Nurkan ist sicherlich ein Regisseur, der den EnsembleGedanken konsequent verfolgt, seine SchauspielerInnen in einer großen Einheit inszeniert, um eben den eingangs erwähnten Gesamtkontext prä-

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sent zu halten. Hakan Savaş Mican dagegen lässt seine Geschichten gerne in der Zukunft spielen. So gelingt es ihm den gegenwärtigen Blick auf die Vergangenheit aufzubrechen und neue Kontexte zu schaffen, die von einer fiktiven Annahme ausgehen, aber dennoch realistisch wirken. Unverkennbar bei Hakan ist sicherlich die wuchtige Poesie seiner Texte, die den Geschichten einen traumwandlerischen Aspekt hinzufügen, seien die Inhalte noch so authentisch und aktuell. Es ist auch diese Poesie, die dem Geschehen auf der Bühne nicht selten surreale Momente verleiht, konsequent unterstützt von symbolbeladenen Bühnenbildern. Hakans Erzählweise ist konsequent indirekt; man muss öfter ›zwischen den Zeilen lesen‹, nicht nur im Text, sondern auch in der Psychologie seiner Figuren, die stets mit einem augenzwinkernden Abstand zum Thema agieren. Beiden Regisseuren ist aber eine kompromisslose Präzision in der Inszenierung eigen und nicht zuletzt ihre Auseinandersetzung mit den Inhalten. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass bei beiden die meist sehr aufwendige Recherchearbeit bezüglich der Inhalte eine große Rolle spielt. Dies ermöglicht meines Erachtens einen ganz persönlichen Zugang zu den Inhalten und in die Welt der Figuren, die seltener von rein kreativen Kopfgeburten des Regisseurs gestaltet werden als vielmehr von authentischen Begebenheiten, die letztendlich die Inszenierungen, trotz unterschiedlichster Ansätze, Formen und Inhalte so wahrheitsgetreu wirken lassen. B.K.: Wir sind laufend auf der Suche nach Stücken, die die Hybridität und Diversität der Gegenwart widerspiegeln. Wir haben ein Stück auf die Bühne gebracht von Nuran David Calis, haben mehrfach zusammengearbeitet mit dem Autorenduo Feridun Zaimoğlu und Günter Senkel, haben uns mit Krieg. Landschaft danach mit der katalanischen Sicht von Carles Batlle beschäftigt und zuletzt Le petit frère du rameur (Der kleine Bruder des Ruderers) des togoischen Autors Kossi Efoui aus dem Französischen übersetzt. Mit der deutsch-togoischen Regisseurin Simone Dede Ayivi beispielsweise haben wir lange überlegt, ob es einen Unterschied macht, wenn nur ein Teil der SchauspielerInnen einen Migrationshintergrund hat bzw. inwiefern es in diesem Zusammenhang relevant sein kann, mit schwarzen SchauspielerInnen zu besetzen. Wir haben uns dann für ein rein afrodeutsches Ensemble entschieden und du hast Simone Ayivi in dieser Entscheidung bestärkt. Schon bei den Vorsprechen hatten wir intensive Gespräche mit den SchauspielerInnen über eben diese Besetzungsfragen und die damit verbundenen Sichtweisen und Klischees bei Theaterschaffenden und RezipientInnen. Eine Schauspielerin erzählte davon, dass Journalisten nicht glauben wollten, dass hinter ihrer Besetzung als Julia kein Konzept steckt, sondern dass sich die Regisseurin für sie entschieden hatte, weil sie die Beste im Vorsprechen gewesen sei. Mit

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einem afrodeutschen Team schafft man sich den Freiraum, bestimmte Fragen nicht erst klären zu müssen, da ein gemeinsamer Erfahrungshorizont Basis ist und man auf dem gleichen Niveau diskutieren kann. Unser Haus schafft eine einzigartige Möglichkeit in der deutschen Theaterlandschaft, auf diese Art und Weise zu arbeiten. Warum sind andere Sichtweisen und migrantische Geschichten in der deutschen Dramatik so unterrepräsentiert? Hast du den Eindruck, dass sich da etwas verändert? S.L.: Ich glaube einfach nicht daran, dass man sich an den bestehenden Institutionen über einen Originalitätsfaktor hinaus tatsächlich entfalten kann. Die Gründe liegen in der fehlenden Teilhabe und Repräsentation von Migranten am Theater, in der mangelnden Durchlässigkeit des Systems. Vor allem am fehlenden Interesse an der gesamten Thematik, den Perspektiven migrantisch geprägter Akteure. Ausnahmen bestätigen wie gewöhnlich auch hier die Regel. Es gibt nach wie vor keinen selbstverständlich postmigrantischen Umgang im deutschen Theater. Und es gibt darüberhinaus im deutschen Kulturbetrieb dafür kein Bewusstsein und so auch keine besondere Förderung dieser Minderheiten. Und es ist auch nicht so, dass aus den UdKs und Akademien ständig Künstler mit einem migrantischen Hintergrund nachkämen. Und das hat sehr stark mit den Zugängen dort zu tun. Und so gibt es halt erst im Jahre 2008 mit Nurkan Erpulat den ersten deutsch-türkischen Absolventen der Ernst-BuschRegieschule. Und das ist im alten Westen kaum anders, auch nach 50 Jahren Migration aus Anatolien. Man muss sich die ganzen Jurys anschauen, wie sie besetzt sind, die ja nicht unwesentlich die Fördergelder in Deutschland vergeben, Hauptstadtkulturfonds, Bundeskulturstiftung usw. Die Leitungen der Kulturapparate sind komplett eindimensional besetzt. Sie werden dort kaum sichtbare Minderheiten finden. Die Suchbewegung in der zweiten und dritten, egal ob die der Afrodeutschen oder der Deutschtürken, werden jedoch immer bedeutsamer. Aber sobald man das anspricht, gibt es gerade im Kulturbetrieb, und darauf kann man wetten, mindestens einen Kollegen oder eine Kollegin, die sagt: Es kommt doch nicht auf die Herkunft oder den Migrationshintergrund an, sondern auf die künstlerische Kompetenz und ästhetische Qualität. Das ist selbstverständlich so, aber derzeit eher ein Totschlagargument, um sich gewisse Themen vom Hals zu halten. Qualität kommt nicht vom Himmel gefallen, sondern hat mit Förderung der vorhandenen Begabungen und Möglichkeiten zu tun. B.K.: Auftakt der ersten Spielzeit war ein Theater-Parcours durch anatolische Kaffeehäuser in Berlin-Kreuzberg und -Neukölln. Kahvehane – Turkish Delight, German Fright? brachte zwölf Künstlerinnen und

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Künstler mit jeweils einem Kaffeehaus zusammen. Durch die Auseinandersetzung mit den Räumen entstanden Arbeiten, die aus unterschiedlichen Perspektiven vorherrschende Bilder und Mythen befragten. Die Interventionen schufen Ausnahmesituationen; die Räume öffneten sich für widersprüchliche Nutzungen und Verständnisse. Ein zweites Projekt war die von Michael Ronen inszenierte Die große Geld oder Leben Tour, die migrantische Wirtschaftsräume, die in der öffentlichen Wahrnehmung kaum vorhanden sind, in den Mittelpunkt stellt. Der Zuschauer hat die Möglichkeit, ein neues Berlin vom vietnamesischen Dong Xuan Center bis hin zum Kreuzberger Brieftaubenzüchter kennenzulernen, das direkt in seiner Nachbarschaft liegt. Wann macht es Sinn, das Theater zu verlassen? T.K.: Aus unserer Perspektive ist es wichtig, öffentliche und semi-öffentliche postmigrantische Räume, von denen die Mehrheitsgesellschaft eine Vorstellung, aber keine oder kaum Ahnung hat, zu öffnen. Das ist kein klassischer Eingriff im Sinne von diesem künstlerischen Anspruch, wir wollen etwas verändern. Um etwas verändern zu können, muss man es kennen. Hier geht es in erster Linie darum, Fragen zu stellen. Bei dem Theaterparcours durch anatolische Kaffeehäuser wollten wir die Wahrnehmung dieser Orte durch KünstlerInnen und Publikum ins Spiel bringen und sie damit konfrontieren. Wie sieht ein junger israelischer Theaterregisseur wie Michael Ronen, der in London lebt, ein anatolisches Kaffeehaus in Neukölln, das von einem kurdischen Gastronomen betrieben wird? Und was zeigt er davon dem Publikum? Und wie nimmt das Publikum das wahr? Auf ähnliche Weise griff Michael Ronen bei Die große Geld oder Leben Tour in die migrantischen Wirtschaftsräume ein. Dabei entsteht ein sehr komplexes, polymigrantisches Bild. Ich, vielleicht als Kenner eines anatolischen Kaffeehauses, sehe den Raum und die Kundschaft aus den Augen eines Künstlers aus Israel. Andere, die vielleicht nur eine Vorstellung von diesem Kaffeehaus haben, werden mit der dort existierenden Wirklichkeit konfrontiert und nehmen den fremden Ort aus der Perspektive eines ›fremden‹ Künstlers wahr. Die Kaffeegäste wiederum nehmen als ›Objekt‹ der Inszenierung, aber auch als agierende und reagierende ›Gäste‹, eine gänzlich andere Position ein. Zum Schluss stellt sich immer die Frage: Was ist authentisch? Hier macht es Sinn, das Theater zu verlassen, denn diese Hybridität kann man zwar auch auf der Bühne zeigen, aber nur als reines Kunstprodukt. In dem Moment aber, wo ich die »Vorstellungsräume« betrete, bekomme ich eine »richtige« Vorstellung.

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B.K. Es gibt Stimmen aus Medien und Politik, die das Ballhaus Naunynstraße auf einen soziokulturellen Kontext reduzieren, gesellschaftlich wichtig, aber künstlerisch zu vernachlässigen. Hier wird ein Kulturbegriff zugrunde gelegt, der nicht unserer gesellschaftlichen Realität entspricht bzw. versucht, das Ballhaus für Integrationsdebatten zu instrumentalisieren. Wie verortest du diesbezüglich das Ballhaus Naunynstraße und was ist deine Vision für eine deutsche Theaterlandschaft in der Zukunft? S.L.: Es wäre schön, wenn wir uns in fünf Jahren mit dem Ballhaus Naunynstrasse überflüssig machen, weil alle Theater in Berlin und Deutschland nun migrantische Akteure und deren Themen und Sichtweisen berücksichtigen. Optimistisch bin ich aber nicht. Das hat seine Gründe. Als wir vor 25 Jahren unsere ersten kleinen bescheidenen Projekte in Nürnberg realisierten, war das so genannte Amt für Kultur und Freizeit unser Ansprechpartner, zuständig für alle ›Ausländerprojekte‹ in der Stadt. Teilweise mussten wir uns für die Finanzierung kleinerer Lesungen, Musikveranstaltungen oder Filmvorführungen an das Sozialamt wenden. Noch heute wird das Ballhaus Naunynstraße teilweise als ›Kulturzentrum‹ wahrgenommen, von Kulturjournalisten zum Beispiel, die das auch so schreiben. Andererseits haben wir Nurkan Erpulats Inszenierung Verrücktes Blut zusammen mit der Ruhrtrienale produziert. T.K.: Man spielt irgendwie in der Champions-League, wird aber als Freizeitkicker der Bezirksliga gutmenschlich getätschelt – wenn überhaupt. Das wundert mich nicht, denn als wir uns vor sieben Jahren als ein interdisziplinäres Netzwerk erste Gedanken darüber machten, wie man an der Schnittstelle von Kunst und Politik wirken kann, war klar, dass künstlerisches Schaffen ohne Reflexion und diskursive Auseinandersetzung undenkbar ist, was wir in einem kleinen Manifest formuliert haben. Diskurse und Praktiken der Mehrheitsgesellschaft, die das Schaffen von PostmigrantInnen auf ihre vermeintliche Herkunft reduzieren oder es unter dem Aspekt der Integration soziokulturell zu erklären versuchen, sind eine Form der Ausgrenzung mit langer Tradition. Diese ist nicht nur innerhalb der Mehrheitsgesellschaft anzutreffen, sondern auch in migrantischen Kontexten; Fremdzuschreibungen und Selbstethnifizierung gehen dabei Hand in Hand. S.L.: Ich glaube, wir werden noch eine Weile brauchen, bis wir uns überflüssig gemacht haben.

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D I A L O G E II: GLÜCKLICH IST, WER VERGISST? EINE E-MAIL-KORRESPONDENZ ZWISCHEN ELFRIEDE JELINEK UND RITA THIELE R.T.: Der Historiker Christian Meier hat kürzlich in einem Essay die 50er Jahre in Deutschland und Österreich als eine Art Schockstarre nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben. Er sagt, daß die Verbrechen der Nazis, auch die eigene Schuld, im Bewußtsein der Bevölkerung verdrängt wurden, um weitermachen zu können. Diesen öffentlichen Umgang mit dem Holocaust und den Genoziden des Zweiten Weltkrieges will er ausdrücklich nicht rechtfertigen. Andererseits meint er, daß seit der Antike das Vergessen, die Nichtverfolgung von politischen Verbrechen, oft Heilmittel im Umgang mit schlimmer Vergangenheit war, plädiert also für das Vergessen. Zum Beispiel analysiert er den Krieg in Ex-Jugoslawien als eine fatale Folge von »Nicht-Vergessen-Können«. Gibt es für Sie eine ähnliche Ambivalenz von Erinnern und Vergessen? E.J.: Ja, diese Debatte wurde ansatzweise auch in Österreich geführt: Glücklich ist, wer vergißt? Die Fledermaus als Nationaloperette? Einerseits sehe ich eine neurotische Fixierung darauf, selber Opfer sein zu wollen, wie z.B. die Serben ihre glorreiche Niederlage auf dem Amselfeld jetzt verraten mußten, auf das Kosovo verzichten müssen, vom Sieger zum Opfer geworden sind und diese Opferwunde künstlich, in neurotischer Fixierung, offenhalten wollen, doch andrerseits ist es nicht in der Entscheidung des Einzelnen, über ein Vergessen zu entscheiden oder nicht. Das Vergessen steht also einerseits aus politischer Opportunität, im Sinne eines Die-Wunde-Offenhaltens, zur Disposition, andrerseits ist man nicht Herr des Vergessens oder Erinnerns im eigenen Haus (wo man ja sowieso nie der Herr ist, wie Freud schon nachgewiesen hat). Insofern ist die Faschismuskeule, von der Martin Walser in seiner Paulskirchenrede gesprochen hat, absurd. Es liegt nicht in unserer Macht, die Macht, die unsere Länder einmal über andre Menschen ausgeübt hatten, eine Macht über Leben und Tod, wieder zurückzunehmen, um endlich in die Zukunft schauen zu können. Ich habe die deutsche Geschichte immer mit dem

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Kind verglichen, dem die Hand aus dem Grab wächst, weil es die Mutter geschlagen hat. Dann wird der Hand mit der Gerte eins übergezogen. Wie lange die Deutschen an ihre Verbrechen erinnert werden bzw. sich an sie erinnern müssen, ist nicht in ihrer freien Wahl. Die Geschichte stirbt nicht. Sie kommt immer wieder zurück, ob wir wollen oder nicht. R.T.: Bei aller Ironie, die auch in Das Werk aufscheint, lese ich den Text als Requiem, als Requiem vor allem für die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen, die während des Zweiten Weltkrieges beim Kraftwerksbau in Kaprun starben, auch als Requiem für die Arbeiter im Europa des 20. Jahrhunderts, die in beiden Weltkriegen verheizt wurden, deren Utopien wie die sozialistischen Bewegungen scheiterten. Ein Sturz wirkt dagegen parodistischer, eine Art Satyrspiel zu Das Werk? E.J.: Das ist in vielen meiner Stücke meine erklärte Absicht gewesen: den Vergessenen, Verschwundenen ihre Stimme wiederzugeben. Ähnliches macht ja auch Handke in seinem neuen Stück über die Kärntner Partisanen, die für kurze Zeit Sieger der Geschichte waren (auf der Seite der Sieger standen), nur um gleich wieder unterbuttert zu werden. Ich versuche etwas ähnliches. Die erste Nachkriegsgeneration hat das Kraftwerk Kaprun als eins der Weltwunder bestaunt, aber keiner hat gesehen, mit welchen Opfern der Beginn dieses großtechnischen Monuments erkauft worden ist. Keiner hat von den Toten gesprochen. Die Historikerkommission des Verbunds (der Elektrizitätswirtschaft, Österreich hat ja viele Wasserkraftwerke) gibt es noch gar nicht so lange. Und Ein Sturz ist eine Art Satyrspiel, ja, vielleicht, da treten die Elemente selbst gegeneinander an. Wasser gegen Erde, water wins. Das ist an sich schon eine ironische Ausgangssituation. An Stelle der alten Götter tritt die Natur selbst auf. Aber es werden natürlich auch die Herren der Natur benannt, die großen Baufirmen, die Herrscher der Stadt in ihrer Indolenz gegenüber deren Bewohnern (und was für große Herrscher waren das in der antiken Tragödie! Und wie lächerlich sind die heutigen!), die nichts und niemanden kontrollieren, ihre eigene Stadt verkaufen und die Bürger verachten oder bestenfalls für dumm verkaufen. Verkaufen sowieso. Eine Parodie auf die griechische Polis mit ihren freien Bürgern, bis zum Polier und Vorarbeiter, die die Eisenarmierungen aus der Erde reißen und beim Eisenhändler verkaufen. R.T.: Robin Detje wirft in einem Essay des diesjährigen Jahrbuchs Theater heute dem »postmodernen« Theater vor, daß es für alles nur noch ein ironisches Achselzucken übrig habe. Sie arbeiten in allen Ihren Texten, auch bei großen Themen wie den Verbrechen des Nationalsozialismus,

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den Weltkriegen, dem Versagen der Arbeiterbewegungen mit Ironie. Warum? Und es gibt Auslassungen, die irritieren. Zum Beispiel nehmen in Ein Sturz die beiden jungen Männer, die unter den Trümmern des Stadtarchivs und der angrenzenden Wohnhäuser erschlagen wurden, und die historischen Schätze, die mit dem Archiv verloren gingen, einen verhältnismäßig marginalen Raum ein. Möchten Sie eine Art Phantomschmerz provozieren? (Auch in Das Werk gibt es Auslassungen, die ›mitschwingen‹, z.B. die Wanderung von Arbeit in die sogenannte ›Dritte Welt‹, die dortige Ausbeutung, Versklavung von Menschen.) E.J.: Ich habe den Aufsatz von Robin Detje leider nicht gelesen. Aber ein ironisches Achselzucken brächte ich nicht zustande. Meine Ironie ist eine wütende, verzweifelte, weil ich ja bei all der Anstrengung des Darstellens weiß, daß es vergeblich ist. Schon Freud weist ja auf die Bitterkeit hin, die im Witz steckt, auf diese Verzweiflung, die aus der Differenz kommt. Die Ironie ist ja eine rein sprachliche Form. Sie kann nicht anders ausgedrückt werden. Daher ist die Ironie ein ideales Mittel fürs Theater, wo der Körper etwas andres sagen kann als das Sprechen. Ich würde sogar sagen: Gerade wenn es besonders ernst wird, muß man besonders komisch werden. Ich werde ja sehr oft für meine Kalauer kritisiert, aber gerade Freud weist ja nach, daß durch Wort-Neubildungen, durch die ungewohnte und ungewöhnliche Zusammenziehung zweier Wörter, wenn die Ideologie diesen Wörtern buchstäblich aus allen Nähten platzt (Freud nennt so ein Wort, das dann die Komik aus sich selbst heraus produziert, ein Mischwort), der neu geschaffene Zusammenhang sofort verstanden wird, auch ohne ausführliche Erklärungen. Die Sprache spricht dann selbst. Sie übernimmt. Sie reißt das Unterbewußtsein aus uns heraus. Und ähnlich ist es auch mit den Auslassungen, die ja nur Auslassungen sind aufgrund des Wissens, das ich evoziere, sonst würde man ja nicht merken, daß etwas fehlt, das eigentlich da sein müßte. Man spricht sozusagen um etwas herum, und der glühende Kern in der Mitte, den muß der Zuschauer selber finden, er entsteht, indem er auch er selbst eben pausenlos umkreist wird, ohne angesprochen (und die Mitte: ohne ausgesprochen) zu werden. Bei mir sind Fakten, die ich anführe, der Einsturz, die Gaunereien der Firmen, das Verschachern der Stadt nicht etwas, das erklärt werden muß (bloße Fakten sagt man, das bedeutet ja schon, daß sie nackt und bloß sind und nichts bedeuten, außer eben man erklärt sie), sondern etwas, das selbst, im Übergangenwerden, zu sprechen beginnt. So wie die Menschen, indem sie übergangen werden und die Herrschenden nicht sehen sollen, die sich im Nebel verbergen, sich erst dann als Übergangene erkennen können, wenn sie diese Herrscher benennen (und sich ihnen im Benennen faktisch gleichstellen), was aber

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an den Machtverhältnissen nichts ändert. Die Macht wird nur ambivalenter, wenn sie von unten her attackiert wird. Angebetet und angestrebt wird sie ja trotzdem. R.T.: In Das Werk zitieren Sie im Epilog Die Troerinnen von Euripides. In Ein Sturz knüpfen Sie an den ersten Teil der Orestie von Aischylos Agamemnon an. Warum lassen Sie so unterschiedliche historische Epochen zusammenrücken? E.J.: Ich würde sagen, das ist eine literarische Strategie. Ich benütze die alten Texte als Rhythmusgeber. Ich hangle mich an ihnen entlang, um dann immer wieder (hoffentlich) neue Räume aufzuschließen, mit ihren Schlüsseln. Die Lächerlichkeit, eben das Parodistische, entsteht aus der Fallhöhe zu den großen Texten, die ich natürlich verstärke oder überhaupt erst herstelle. Wo einst die Götter thronten, ihre Rivalitäten austrugen und die Geschicke bestimmten, wird heute den Menschen die eigene Stadt mittels cross border leasing unter dem Hintern weg verkauft. Die Stadt ist zwar immer noch ein Göttersitz, aber ihre Götter sollen ungenannt bleiben, sie gehört sich nicht mehr und nicht ihren Bewohnern. Sie gehört, um eines nebulösen Steuervorteils willen, irgendwelchen Herrschern in der Ferne. Alles ist im Nebel, und gleichzeitig geht alles irgendwie seinen Gang. Es funktioniert, mehr schlecht als recht, aber irgendwie funktioniert es. Niemand kontrolliert die Mächtigen, die mächtig gar nicht mehr sind, denn sie haben ihre Macht längst abgetreten. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Aber was daraus wird, das sieht man nur, wenn dem Boden das Grundwasser entzogen wird und ein Gebäude einstürzt, weil dieser Boden dann nachgeben muß, denn das Wasser ist der Stärkere. Dann bleibt das große Gebäude schon mal nicht groß. Und das Herrscherhaus ist kein Haus der Herrscher mehr. Es wird nicht geherrscht, und das Haus gibt es auch nicht mehr. Eigentlich könnte da nur noch eine Art Stadt-Psychoanalyse etwas erklären. Wenn ein Herrscher z.B. das Begraben eines Leichnams verbietet (ein schrecklicher Tabubruch), dann muß die Erde das Verschlingen eben selber besorgen. Die Elemente übernehmen. Aber ihre Herren sind nicht die, die man kennt und die ihre Pflichten nicht wahrnehmen, sondern es sind anonyme Gesellschaften (ich glaube, in Frankreich heißen die Aktiengesellschaften societées anonymes), nicht ein Schloß im Nebel, sondern nur Nebel bzw. eine Nebelmaschine. Und zwischen ihnen und den Bewohnern der Stadt, zwischen den Über- und den Unterlegenen, gibt es nichts mehr, keine Verbindung, obwohl die Verbindung von Gleichen suggeriert wird (Wahlen! Volksabstimmungen! Jede Stimme zählt, auch deine! Die sogar ganz besonders!), aber in Wirklichkeit sind diese Bezie-

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hungen mit Gewalt aufgeladen, die man aber nicht sieht, außer es stürzt einmal ein Bauwerk ein und begräbt zwei Menschen und, wie in diesem Fall, das Gedächtnis der Stadt selbst gleich mit. Das hat für mich eine besonders symbolhafte Aufladung, daß mit dem Einsturz auch das Gedächtnis verlorengeht, zumindest das, worauf es festgehalten ist. Das aufgezeichnete Gedächtnis gewissermaßen. Und wo kein Gedächtnis mehr ist, da ist auch kein Begehren nach Wissen mehr, nur noch Gleichgültigkeit, weil alles und nichts mehr gültig ist. R.T.: Gibt es Unterschiede zwischen dem Totschweigen der Opfer der Nazizeit im Wiederaufbauheroismus der 50er Jahre und dem heutigen Umgang mit Opfern? Anders gefragt: Woran kranken wir heute, wo sind Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede festzustellen? E.J.: Das Totschweigen der Opfer ist von lautem Schreien der Opfer abgelöst, kommt mir vor, das Opfer benennt sich selbst als solches und schreit gegen neue Bahnhöfe oder gegen Einflugschneisen. Die Opfer ermächtigen sich selbst und schließen sich zu Bürgerinitiativen zusammen. Allerdings ist es oft ein ritualisiertes, formelhaftes Schreien, was sie von sich geben. Das unartikulierte Schreien des Opfers, das ins Nichts geht oder gegangen ist, hört man nicht und hat man nie gehört. Es müßte etwas wie eine mathematische Formel dafür gefunden werden. Das Dionysische, das Heiter-Rauschhafte, die Orgie, ist einerseits Gewalt, die ausgeübt oder erlitten wird, bis zum Zerfetzen der Menschen in der Orgie, andrerseits verbinde ich diese Gewalt mit Ironie, also eigentlich mit etwas Komischem, das ja wiederum Zügellosigkeit bedeutet. Aber hinter dem Ungebändigten, Heiteren lauert eben immer dieser archaische Schrei der Gewalt, der auf dem Theater irgendwie sprachlich formalisiert werden, aber gleichzeitig doch immer da sein muß, weil er ja wie ein Orgelpunkt unter die Wirklichkeit gelegt ist, als anhaltender Schrei. Indem heute die Schuldigen an Unfällen und Katastrophen benannt werden, die Aluminiumfirma in Ungarn gerade in dieser Stunde, oder die Baufirmen in Köln oder die Hermann Göring-Werke, die Kaprun gebaut haben (obwohl sie dabei nicht sehr weit gekommen sind. Grade das Werk Kaprun ist ein Erfolg der Marshallplan-Aufbauhilfe für die Nachkriegsgeneration, ein Aufbauwerk, in dem das Opfer der Zwangsarbeiter buchstäblich aufgegangen ist, und mir sind auch keine Gedenkfeiern für diese Opfer bekannt). Man sagt, eine Rechnung, eine Gleichung ›geht auf‹, aber in diesem Fall bedeutet es eine Auflösung, eine Auslöschung der Opfer, aber vollendet wird diese Auslöschung erst durch eben das Gerede, das formalisierte Gedenken (das im Fall von Kaprun überhaupt nicht stattgefunden hat, soviel ich weiß). Etwas verschwindet, indem man davon

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spricht. Aber Gedenken an die Opfer, die Zwangsarbeiter der ersten Bauphase von Kaprun hat es ohnedies kaum je gegeben, also im Grunde eine doppelte Verneinung: Es wird nicht gesprochen, aber wenn doch, dann als ritualisierte Leerformel, wobei ritualisiert nichts mit Ritual zu tun hat, das ja in gewisser Weise heilig und groß wäre). Doch darf man nicht vergessen, daß hinter allem diese Gewalt steht und ständig auf der Lauer ist. R.T.: Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle der Kunst, der Literatur, des Theaters? Warum schreiben Sie für das Theater? Was ist an diesem Medium interessant? Ist hier Heilung zu erwarten? E.J.: Ich schreibe für das Theater, weil ich mir dabei vorstellen kann, eine Art erhöhtes Sprechen zu praktizieren. Ein Sprechen, das ausgestellt wird und damit zu etwas wie einem Objekt wird, an dem ich die Abhängigkeiten von Herrschenden und Unterlegenen wie in einem Versuch vorführen kann, nicht die Verbindung zwischen Menschen (das würde mich nicht sehr interessieren. Wenn ich das sehen will, gehe ich ins Kino oder schaue mir eine DVD an), sondern gesellschaftliche (Macht-)Diskurse als Untersuchungsgegenstand. Heilung ist davon nicht zu erwarten, nicht einmal Erkenntnis. Vielleicht im besten Fall Bewußtmachung durch Überzeichnung und Zuspitzung der Zustände. R.T.: Roland Barthes sagt, das Theater sei jetzt überall außer im Theater zu finden, bzw. die Realität zwinge das Theater zum Metatheater zu werden. Er meint damit auch die Theatralisierung der Politik. Peter Kümmel sprach in der ZEIT vom 7. Oktober 2010 angesichts der Bürgerproteste, die sich in letzter Zeit in Deutschland wie z.B. bei Stuttgart 21 häufen, von neuen »Wutdarstellern«. Was bedeuten diese Realitäten für das Theater? Für Ihr Theater? Sehen Sie Zusammenhänge mit Ihren künstlerischen Strategien? E.J.: Die Wut ist natürlich eine Reaktion der Ohnmächtigen. Ich versuche, ihnen die Mächtigen zu zeigen, damit sie den Laserstrahl ihrer Wut präziser auf etwas richten können. Bei Doderer gibt es den Wutmarsch, bei dem die Menschen an Nasenzwingen im Kreis herumgeführt werden, damit sie sich abreagieren können. Im Kreis gehts auch bei mir herum. Ich will dabei aber diese Abreaktion nicht, auch nicht eine Katharsis, damit die Menschen von Furcht und Schrecken befreit werden können. Das wäre ja nur das ewig perpetuierte Drama der Familie, in der die Kinder immer machtlos bleiben (auch wenn sie mal ihre Eltern tyrannisieren mögen), aus dem sich das Ich herausarbeiten möchte, aber ich zeige die

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Mächte, die dieses Ich unmündig halten, und meine eigene Wut, mit der ich schreibe, ist die Wut einer Unmündigen, die aber ununterbrochen spricht, auch ohne Mund. Wenigstens im Schreiben kann ich mein narzißtisches Ich bewahren. Die Zuschauer haben vielleicht etwas andres zu bewahren. Den Zuschauern schmeiße ich das hin, um eine Abwehr zu durchbrechen, die sie vor den wahren Zuständen abschirmt. R.T.: Der französische Philosoph Michel Serres weist darauf hin, dass wir die Folgen der technologischen Erfindungen des letzten Jahrhunderts noch gar nicht begriffen hätten, noch gar nicht dementsprechend denken und handeln würden. Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang das Internet? Liegen hier neue Chancen der Partizipation? Es haben beispielsweise Blogger die Gefahren, die in Duisburg zur tödlichen Massenpanik bei der Love Parade führten, vorausgesehen und im Netz diskutiert. Oder ist es eine weitere Büchse der Pandora? E.J.: Es kommt nicht darauf an, die Technik zu begreifen, man muß sie benutzen. Das Internet ist für mich die größte emanzipatorische Erfindung der Menschheit seit der Erfindung der Schrift. Ohne die vielen Möglichkeiten des Netzes wüßten wir von den meisten Menschenrechtsverletzungen gar nichts. Wenn die Frau des chinesischen Friedensnobelpreisträgers Hausarrest hat, dann wüßten wir nichts von ihr, könnte sie nicht twittern, und von den verfolgten Regimegegnern in Iran wüßten wir genausowenig. Es gibt immer jemand, der auf den Maschen des Netzes seine Melodie zupft und sie uns hören läßt. Es hat seit der Erfindung des Telegraphen und des Telefons nichts Vergleichbares gegeben, und das Netz schlägt diese Erfindungen ja noch, weil jeder mit jedem ganz nach eigenem Wunsch in Verbindung treten kann. Es ist ein verwirklichter Traum. Und jeder hat Zugang zu jedem. Ich bin eine begeisterte Anhängerin des Netzes. Und die schärfsten Restriktionen von Regierungen können immer auch von technisch Versierten umgangen oder ausgeschaltet werden. Das Netz ist demokratisch und subversiv zugleich. Es ist Gott. R.T.: In Ihrer Literatur scheint das unberechenbare, nicht kalkulierbare Moment eine große Rolle zu spielen. Man kann Ihre Texte tatsächlich mit einem mäandernden Fluss vergleichen, der hinter jeder Biegung eine Überraschung bereithalten kann. Wie wichtig ist Ihnen dieses ›Unkalkulierbare‹ als Produktionsprinzip? E.J.: Ja, das Mäandernde, das ist schon richtig. Ich schreibe etwas, das steht und sich gleichzeitig bewegt, wenn auch nicht vom Fleck, denn die-

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sen Fleck, siehe oben, umkreise ich ja, wie ein Kind, das so lang einen Kreis um etwas zieht, bis der Bleistift abbricht oder ein Loch im Papier entsteht. Das hat schon was Manisches. Ich muß mich im Schreiben selbst überraschen lassen und darf nie wissen, wohin es geht, sonst würde es mich nicht interessieren, und natürlich geht es nirgendwohin, sondern eben immer nur: im Kreis herum, obwohl es dauernd ausufert und vom Hundertsten ins Tausendste kommt.

Der Beitrag erschien erstmalig im Programmheft von Das Werk/Im Bus/Ein Sturz (Premiere: 29. Oktober 2010 Schauspiel Köln, Regie: Karin Beier, Bühne/Kostüme: Johannes Schütz)

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K ÜNSTLERISCHE P OSITIONEN

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PART 1 die ersten Notizen zu unserem PORJEKT BERLIN 2010 – EIN TAGEBUCH REVOLUTIONÄRE ENERGIEN (das wort durchgestrichen könnte der titel sein) REVOLUTIONÄRE ENERGIEN – ein Tagebuch

Donnerstag, 25. Februar 2010 NOTIZEN ZU RAUM MUSIK VIDEO TEXT SPIELWEISE INHALT Was will ich hier eigentlich? Stapelweise meine autofiktionstexte Das ist ja eine installation und kein bühnenbild Es sollte nähe zu den zuschauer zulassen Und dann auch weite – als würden die figuren verloren gehen vor riesigen videoleinwänden in einem großen raum Die zuschauer sitzen in diesen autofiktionstexten und auf der bühne liegen sie auch stapelweise Ein arbeitsraum

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Das stück entsteht vor unseren augen in einem performativen akt und es ändert immer wieder seine richtung … es gleitet, es fließt. Der raum ist ein bandprobenraum: es stehen mikros herum und instrumente. Auch sehr seltsame, experimentelle instrumente: die sounds werden elektronisch sein. Und akkustische sounds werden sich mischen mit den elektronischen sounds. Eine mundharmonika, ein xylophon kann dabei sein, natürlich eine gitarre, mehrere laptops. Hat schon mal jemand ein laptop konzert erlebt? Es ist toll: leute stehen hinter laptops und wir wissen nicht, welche sounds sie gerade live produzieren und welche sounds sie einfach nur programmiert haben und abspielen Das würde ich gerne als vorbild nehmen für die spielweise der schauspieler Wir wissen nie wann sie improvisieren und wann sie einen auswendig gelernten text performen Zumindest verwischen die grenzen da oftmals Sprechen wir lieber von text performern, nicht so sehr von schauspielern, denn Es wird kein stück und keine figuren geben Ich bemühe mich, texte zu liefern, die weitgehend ohne realistische situation auskommen Aber was sind es dann für situationen, die an die texte gestellt werden? Bilder? Energien? Zustände? Musikflächen? Meine grundidee ist wirklich die eines laptopkonzertes:

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Menschen performen musik und performen texte und dahinter werden dann ganz fein wie bleistiftzeichungen geschichten, menschen, leben, charaktere, ja und meinetwegen auch FIGUREN sichtbar Die figuren sind die schauspieler Den rest projizieren wir ohnehin über den jeweiligen text in sie hinein Ich habe noch nie mein tagebuch inszeniert Diesmal will ich es tun Ich würde gerne über meine eltern schreiben Auch wenn mir das schwer fällt Und ich mich immer wieder frage WOZU EIGENTLICH? WEN INTERESSIERT DAS? Das ist doch alles schon so lange her und das war alles nicht schön und ich bin so froh, dass ich da endlich weg bin und nicht mehr in geiselhaft verwahrt werde von diesen Ist das jetzt schon text? Von kalten wirren lieblosen menschen die alles mit mir machen durften und ich saß da ohne rechte ohne anwalt ohne die genfer konventionen und die – denn die hatten ja nur DEN KRIEG UND DIESE NAZIZEIT UND NAZIIDEOLOGIE UND NAZIERZIEHUNG in ihrem kopf und ihrem herzen und dann den WIEDERAUFBAU und das ADENAUERDEUTSCHLAND, das ja kaum besser war als diese NAZIZEIT, denn da wurden ja einfach nur DIE ALTEN NAZIS UMETTIKETTIERT zu CHRISTLICHEN KORRUPTIONSMITGLIEDERN einer ebenfalls menschenverachtenden ANTIDEMOKTRATISCHEN SCHEISSPARTEI und alle mussten alles so schnell wie möglich VERGESSEN UND ARBEITEN UND NICHT HINTERFRAGEN und ANGST WAR EIN WICHTIGES THEMA DIESER GENERATION angst davor, dass irgendjemand erfährt, was sie im dritten reich gemacht haben, angst davor, abzuweichen von der norm der komplett kontrollierten arbeitstreuen mittelklasse, angst davor, dass ihre kinder nicht dem entsprechen, was das fernsehen einem so vorgibt als rollenmodell für die eigenen kinder. Die idee meiner mutter war: Diese kinder machen mich glücklich Diese kinder die sind lieb

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Diese kinder geben mir all das was mein mann mir nicht geben kann Diese kinder sind besser als eine flasche rotwein nachts vor dem fernseherät, wenn ich vor dem testbild sitze und ganz allmählich hinwegdämmere Diese kinder werden mir endlich LIEBE geben DANKBARKEIT VERSTÄNDNIS Die werden mich ablenken Jetzt muss ich nicht mehr nur für mich alleine putzen Jetzt kann ich endlich auch für mehrere leute putzen Und am wochende fahren wir rad Und am wochenende sitzen wir im garten Halt mich fest mein sohn das leben war keine freude bislang Alle geschwister gestorben auf der flucht aus westpreußen Aber das interessiert keinen Wenn nazis fliehen dann fliehen keine menschen dann fliehen nazis und deshalb wird sich für DEINE GESCHICHTE AUCH NIEMAND INTERESSIEREN und jetzt setz dich da in dieses fertighaus, warte, dass dein mann zu spät von der arbeit kommt, schau dir WETTEN DASS ODER SONST IRGEND NE SCHEISSE IM FERNSEHEN AN und trink eine flasche rotwein eine zweite flasche rotwein badischen oder CÔTES DU RHÔNE und langsam flimmert der kopf und ein angenehmer rausch besetzt den kopf und alles wird etwas müder und weniger aggressiv und Weißt du, ich habe mir immer so sehr kinder gewünscht und dann kamt … ihr. Ich hatte mir das alles ganz anders vorgestellt. Ihr seid so … seltsam. Ich krieg keinen bezug zu euch. WAS WOLLT IHR EIGENTLICH das versteh ich gar nicht WIESO SEID IHR SO KOMISCH ZU MIR? Saß da im so genannten partykeller mit der dritten flasche gepflegten rotwein in ihrem siebziger jahre outfit und der düsteren beleuchtung möbel in schwarz und dunkelbraun gehalten Diese ehemänner waren einfach nicht in der lage diesen frauen irgendwas zu geben Die dämmerten da vor sich hin in den vorstadtsiedlungen Die durften nicht arbeiten Denn die männer hatten angst dass andere männer dann denken würden dass sie selbst zu schwach seien nicht genug geld verdienen würden und Diese frauen waren da geparkt saßen da rum hatten ABSOLUT NICHTS ZU TUN

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Die mussten ja nicht mal kochen, die konnten einfach eine fertigpizza in die mikrowelle schieben Standen da Hielten sich fest am küchenschrank von cognac und einsamkeit benebelt Und starrten auf die sich langsam drehende scheibe der mikrowelle warteten pling holten die pizza raus kippten etwas olivenöl drüber und servierten sie sich und den kindern und Die wurden nicht gebraucht und die hatten nichts zu tun und Die mussten irgendwie den tag rum bringen FASS MICH NICHT IMMER AN MUTTI ICH MAG DAS NICHT KOMM MIR NICHT IMMER SO NAH ICH BIN SCHON SIEBZEHN Diese häuser waren so leer und einsam tagsüber Der mann bei der arbeit Die kinder in der schule Also putzten sie Dann putzen sie noch mal Dann noch mal Damals gab es noch kein nachmittagsprogramm im fernsehen Also öffneten sie briefe Stöberten in schulheften In tagebüchern Machten sich notizen DIE WOLLTEN IHREN SÖHNEN NAHEKOMMEN ABER DIE SÖHNE WOLLTEN KEINE NÄHE

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DIE SÖHNE WOLLTEN IN RUHE GELASSEN WERDEN FASS MICH NICHT IMMER AN MAMA KOMM NICHT IMMER INS BADEZIMMER WENN ICH DUSCHE FUMMEL NICHT IMMER AN MEINEM GÜRTEL RUM ICH BIN SCHON SIEBZEHN MAMA Mutter schleicht heimlich durch mein Zimmer öffnet alle Schränke sucht nach irgendwelchen Anzeichen von Leben Was lebt dieser Junge eigentlich? Ich muss mehr über den erfahren Mutter öffnet Briefe, die an mich gesendet wurden, Mutter stöbert in den Tagebüchern herum, Mutter notiert sich die Telefonnummern, die ich gewählt habe, Mutter sucht die Schulhefte nach Randnotizen ab, Mutter telefoniert mit anderen Müttern von Söhnen, mit denen ich befreundet bin und fragt so nach, was machen denn die beiden so wenn sie bei Ihnen sind? ich habe ja keinerlei zugriff mehr auf meinen sohn und ist alles in ordnung und? Mutter ruft die Lehrer an und erkundigt sich Mutter ruft die Eltern der ersten Freundin an und erkundigt sich Mutter trink nicht jeden abend zwei liter rotwein das verkraftest du doch gar nicht Und komm nicht dauernd nachts in mein Zimmer verdammt noch mal Nein, wenn ich da schwer atme, heißt das nicht, dass ich krank bin, mein Gott, dann heißt das einfach nur … ACH LASS MICH IN RUHE UND HÄNG DICH NICHT IMMER SO AN MICH DRAN UND NIMM NICHT IMMER MEINE HAND WENN WIR AUF DER STRASSE

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LANGLAUFEN ICH BIN SCHON SIEBZEHN VERDAMMT NOCHMAL Nein, ich finde dich nicht attraktiv Nein, du bist nicht der wichtigste mensch in meinem leben Nein, ich will nicht zuhause wohnen bleiben bis ich 30 bin Nein, ich will nicht erst karriere machen und dann eine familie gründen, ich will überhaupt erst mal LEBEN und IRGENDWAS KENNENLERNEN bevor ich mich überhaupt entscheiden kann, WORIN ICH KARRIERE MACHEN WILL LASS MICH ENDLICH LOS FASS MICH NICHT DAUERND AN Und wir sehen jetzt auf der videoleinwand drei kinder und die laufen los Es gibt eine videowand links, eine in der mitte und eine rechts Und ein mädchen und ein junge und noch ein junge laufen Laufen los Die wollen weg Die laufen und laufen Die sind vielleicht elf Und die laufen und laufen und laufen dem leben entgegen Die sind AUF DER FLUCHT Die wissen HIER KANN SICH LEBEN NICHT EREIGNEN HIER IST ALLES TOT HIER FÜHRT ALLES IN DIE ENGE INS DUNKLE

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Und in diese deutsche vergangenheit MIT DER ICH NICHTS ZU TUN HABEN WILL ICH BIN DAS NICHT ICH BIN DAS NICHT ICH WILL DAS NICHT SEIN Wir sehen wie diese kinder laufen Es sind echte kinder Vielleicht sind es auch comiczeichnungen von kindern die laufen Es sind anne stan und laurent Und die laufen Wenn dieses stück DEUTSCHE GESCHICHTE heißen würde, dann würden wir vielleicht der herkunft, der geschichte, der vergangenheit dieser eltern auf den grund gehen, wir würden uns mit ihrer erziehung beschäftigen, mit ihren eltern, mit deutschland und europa zu jener zeit, wir würden uns damit auseinandersetzen, wie eltern und kinder damals miteinander umgegangen sind DER BÜRGERKRIEG DIE NICHTNÄHE DIESE BEZIEHUNG AUS ANGST AGRESSION UND FREMDHEIT zwischen den generationen wie eltern einfach auf ihre kinder einprügeln ihnen gehorsam und zucht und ordnung eingeprügelt haben WEIL DIE EINZIGE VORSTELLUNG VON GESELLSCHAFT DAS MILITÄR WAR Aber das wollen wir nicht Wir wollen dieses stück nicht DEUTSCHE GESCHICHTE NENNEN Wir sind froh, dass wir endlich mal raus dürfen aus diesem dunklen land mit der grauenhaften geschichte Wir sind froh dass wir endlich mal hier sein dürfen in diesem hellen land mit den schönen frauen und dem guten essen und den studenten die über sartre foucault und baudiou diskutieren, während sie endlos kette rauchen und unentwegt zum streik gegen einen ungerechten staat aufrufen und abends godard retrospektiven in kleinen kinos schauen Frankreich Vive la france

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Das dachten schon viele deutsche schriftsteller Fast alle haben dort zuflucht gesucht Schiller büchner Später fassbinder Freiheit gleichheit brüderlichkeit Liberté toujours Aber dazu kommen wir später Darauf gehen wir später weiter ein

Es wird musik gemacht Denn stan anne und laurent sind auch eine band Eine laptop experimental band Die nach sehr produktiven jahren eine pause eingelegt hat Und sich zurück gezogen hat Um DIE SUBSTANZ DES LEBENS ZU FINDEN Man kann nicht unentwegt produzieren und energien herausschleudern Man muss ja auch mal WAS AUFNEHMEN Und dafür treffen sie sich nun wieder nach zehn jahren um etwas aufzunehmen Eine neue platte Stan sitzt allein im probenraum er ist der bandleader ohne band der popstar ohne starruhm der leadsänger ohne lied Er sitzt da und spielt mit den herum liegenden seltsamen instrumenten

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Einem xylophon Einer harmonika Einem mikrophon Und er singt Er singt consequences von the notwist // anzuschauen auf youtube.com Er haucht eher als das er singt Seine stimme scheint eingerostet zu sein in den letzten jahren Aber dieser raum ist auch das wohnzimmer der eltern Ein bürgerliches wohnzimmer Und die drei treffen sich dort nach dem tod ihrer eltern Der vater ist im schnee zusammengebrochen Er lag mehrere monate im koma Aus ihm redeten kriegserlebnisse heraus Mutter saß am bett Als er starb brach auch die zusammen lebte noch 2 tage ohne ihn kletterte dann auf den zehnmetersprungturm im freibad im winter und sprang von oben in das wasserlose schwimmbecken Stan hatte am vorabend pool – no water von mark ravenhill gesehen und wusste nicht, was er sagen sollte, als anne ihm erzählte, auf welche weise die mutter aus der welt gegangen war Das beunruhigende: alle drei nahmen diesen tod unbeeindruckt zur kenntnis, keine trauer, kein schock, kaum ein gefühl. Aha, jetzt sind die also beide weg, na ja, gut Gibt es eigentlich geld jetzt?

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Oder möbel? Ich brauch noch n sofa – auf meinem ist bei der letzten party ne flasche rotwein ausgelaufen und Also sitzen sie jetzt da in dem haus der eltern und da liegen all diese tagebuchstapel. Stans tagebuchstapel, von der mutter damals heimlich einkassiert und kopiert und die liegen da und stan ist im schock: er wusste nicht, dass er dermaßen überwacht wurde, jedes wort, jede notiz alles, was er je geschrieben hat in seinem leben bevor er auszog liegt da als kopie sortiert abgeheftet zum teil beschriftet und mit kommentaren versehen ich habe diese beiden menschen nie verstanden und jetzt wo sie tot sind verstehe ich sie noch weniger irgendwann sollte dieses stück zur vergebung führen, ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwann wird es so etwas wie vergebung geben, die wut, das unverständnis lösen sich auf, und die drei können weitergehen nach vorne und müssen sich nicht immer umschauen ich wollte nie über meine eltern schreiben ich war so froh als ich die endlich los war jetzt versuche ich es also noch einmal vielleicht kommt dabei irgendetwas heraus vielleicht ist das auch eine sackgasse zurück in eine zeit, in der ich heute NICHTS MEHR VERLOREN UND NICHTS MEHR ZU SUCHEN HABE und nichts mehr zu finden finden wir finden wir finden ab und an

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wir finden ab und an anhaltspunkte für eine geschichte denn stan will seinen ersten roman schreiben anne schreibt einen blog laurent schreibt an einem text über widerstand alle fragen sich WIE UND WO SICH LEBEN EIGENTICH EREIGNEN KÖNNTE es wird einen moment geben wo sie alle tanzen, aber nur auf der videoleinwand und wenn es kein video gibt weil es kein geld gibt was sehr schade wäre und mir völlig unverständlich warum FÜR MEIN PROJEKT KEIN GELD DA SEIN SOLLTE während für jeden unsinnigen überflüssigen scheiß auf dieser welt MASSENHAFT GELD da ist und die BANKEN ES NUR ABRUFEN MÜSSEN VON DEN REGIERUNGEN und die es dann freundlich überweisen und die banken es dann weiterleiten an die besitzer der großen vermögen die es brauchen um ihre rendite zu garantieren, dann dann wird einfach gesagt, was wir auf dem video sehen, ohne dass wir es sehen, dann beschreiben die schauspieler einfach das, was wir sehen würden BEGRENZUNG SCHAFFT RÄUME Bei all den begrenzungen, die ich so erfahren habe in meinem leben Stehe ich oftmals da und denke: Gut, das hier, das ist jetzt also dabei rausgekommen: Ich! Zurück zu den videos auf denen getanzt wird: jeder ist in einem anderen raum ein büro ein hotelzimmer eine wohnung ein club der flur einer klinik und es läuft eine getrashte version von den bee gees STAYING ALIVE und die drei tanzen

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wie gogotänzer diese vierzigjährigen körper was können die eigentlich noch leisten? Was können die eigentlich noch einbringen auf dem markt? Wer will die noch? O je, dieses stück sollte auf keinen fall so düster und negativ werden Wir wollen ja auch ein bisschen spaß haben, immerhin verbringen wir ja unsere lebenszeit damit, und die läuft ja nun allmählich auch ab wie eine mitgliedschaft in einem club, die nicht unentwegt verlängert werden kann Und dann gehörst du plötzlich nicht mehr dazu zu diesem club Oder du stehst plötzlich da auf einem podest an so einer dämlichen go go stange und musst tanzen für so eine meute verkokster zwanzigjähriger, die sich alle totlachen über dich und deinen körper und Stan sitzt da es ist nacht um halb 2 und er zieht sich langsam aus Weihnachten Hotelzimmer Schnee nebel kälte Als er aus dem fenster schaut sieht er unten seinen vater, der langsam in zeitlupe im schnee zusammenbricht, immer wieder, in einem nie mehr endenden loop, und die mutter eilt zu ihm, schaut sich panisch um, kniet neben ihrem mann, schreit nach hilfe, aber da ist niemand, immer wirrer, sie spricht auf den mann ein, aber der … keine regung, schaut sie an, signalisiert mit seinen augen »ich habe dich geliebt, auch, wenn es oftmals nicht so aussah« und »vergib mir für dieses beschissene einsame leben was du da …« und dann stirbt er Stan sitzt in seinem sessel hoch über der stadt Hafen nebel zwei uhr nachts

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Er zieht sich langsam aus Er schaut auf seinen körper Diese haut Streicht über die haut Schaut sie sich genau an und Es wird auch irgendwann ein bild geben, wo stan mit all den massenhaften stapeln des autofiktionsmaterials am hintersten punkt der bühne steht und mit einer windmaschine all diese zettel durch die luft fliegen lässt DAS SOLL ALLES WEG ICH WILL DAS ENDLICH LOSWERDEN DIESE VERGANGENHEIT DIESE SCHWERE Er will seinen ersten roman schreiben und das soll ein erfolgsroman werden und er will einfach nur erzählen von menschen die hier jetzt heute leben und IN BEWEGUNG BLEIBEN SICH DURCHSCHLAGEN Der will einfach nur geschichten erzählen und Laurent ist pornosüchtig und gleitet beim schreiben seines essays über die versuche widerstand gegen die totalitäre warenförmigkeit des high tech kapitalismus zu leisten, immer wieder von seinen research-seiten über youtube langsam hin zu pornotube und youporn und verbringt dort den rest der nacht. Am nächsten morgen kleben all diese verlinkungen in seinem hirn wie klebstoff und er kann nicht klar denken und er sucht hilfe im netz aber das ist das problem: immer, wenn er pornosucht bei google eingibt, landet er schon wieder bei irgendwelchen dicken titten die dicke schwänze fest umklammert halten und sich danach sehnen, endlich vollgespritzt zu werden und er … sein gehirn … und Folgende texte werden wichtig sein: Georg Büchners Lenz. Ich gehe immer wieder auf diesen Text ein. Bitte lesen. Im Netz mal recherchieren über PORNOSUCHT

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Wer viel Zeit hat, sollte mal Alan Ehrenbergs Das erschöpfte Selbst lesen und Eva Illouz Die Errettung der modernen Seele Laurent ist dieser mann, der den ist-zustand unserer gesellschaft beschreiben will. wo stehen wir eigentlich nach dieser seltsamen Finanzkrise? Welche chancen wurden dort vertan, unser system grundsätzlich in frage zu stellen und zu korrigieren? Wohin fließt eigentlich unsere psychische energie? Wieso wollen wir alles so lassen, wie es ist? Wir sind einfach zu erschöpft und zu verstrickt in all die kleinsten verästelungen unseres sytems, um uns gedanken über ein anderes leben zu machen … wo sollte das stattfinden? Wie sollte das stattfinden? Das andere leben? Und wer ist dieses ›wir‹ Eine konstruktion Dahinter verbergen sich sehr viele interessen, die momentan keiner bündeln kann, außer denjenigen, die uns alle in richtung arbeit und konsum drängen. Er macht sich gedanken über ein anderes leben und landet immer wieder auf diesen pornoseiten und schaut sich kleine mädchen an, die von pferden und alten männern durchgefickt werden und er hat das gefühl, dass nicht er, sondern sein computer diese seiten aufruft, er gleitet nur von einem vorschlag zum nächsten, und folgt dieser youtube youporn pornotube logik Es wird einen moment geben wo anne tismer nico singt die ballade vom einsamen mädchen sie steht an ihrem laptop sie raucht sie singt die ballade vom einsamen mädchen wie kann hier heute eigentlich exzessives leben stattfinden? Oder bin ich einfach nur froh, wenn ich von dem ganzen zeug in ruhe gelassen werde und den ganzen exzess an meinen dvd spieler delegieren kann, der soll sich die filme für mich anschauen, ich archivier die nur, ich will das gar nicht sehen, genau wie all diese bücher, ich les die nicht, die stehen hier nur herum

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Erinnerung und biografie müssen ERKÄMPFT werden Und werden performativ hergestellt Wer bin ich? Was erinnere ich? Wie erinnere ich es? WAS IST DAS ÜBERHAUPT EIN TAGEBUCH? Es ist ja auch eine form der fiktion. Von wo aus schau ich überhaupt zurück. Diese menschen, die mir damals so viel leid angetan haben, liegen jetzt hier an schläuche angeschlossen, kraftlos, brauchen meine hilfe, ihre organe werden mit eispacks gekühlt und hinter ihnen hängen große computerbatterien und zeigen an, wie viel lebensenergie noch in ihnen ist NICHT MEHR VIEL NICHT MEHR VIEL Das entweicht da jetzt so langsam alles Diese brutalität diese angst diese lieblosigkeit Die suche nach einem stück Das stück wird in einem performativen Akt hergestellt Es kann funktionieren wie eine youtube nacht Wir gleiten von verlinkung zu verlinkung Widerstand Finanzkrise Beziehung Eltern Vergangenheit Erinnerung Tagebuch RAUSCH Eine textfläche kommt zu einer musik und verbindet sich mit einem bild und dann kann der text wie ein kunstwerk irgendwann im raum stehen Und dazu braucht er keine handlung, keine figuren, keine geschichte Und an anderer stelle kann der text eine orientierung sein: wo leben wir eigentlich? Was ist das hier gerade? Diese enormen umverteilungen von geld. Mehr als 600 milliarden allein in deutschland hat merkel von unserem geld weitergeleitet an die führungsetagen der banken und die durften damit machen, was sie wollen und mussten nicht einmal rechenschaft ablegen darüber, wohin das geld denn nun genau fließen würde. Und wo ist dieses geld jetzt? Und wo war es vorher?

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Und wenn dieselbe summe in die kunst, in die bildung, in die wasserversorgung derjenigen, die keinen zugang zu trinkwasswer gegangen wäre und Das wäre ja AUCH möglich Das ist ja gar nicht NICHT MÖGLICH Es wird nur immer gesagt, dass das NICHT MÖGLICH ist Da unrealistisch WAS IST EIGENTLICH REALISTISCH? Gibt es ihn denn, den anderen ort? Die andere möglichkeit? Das andere leben? Wenn dies stück REVOLUTIONÄRE ENERGIEN heißen würde, dann würden wir hier junge menschen sehen, die sich nicht mehr alles gefallen lassen würden, die ihr leben für sich zurückerobern wollen die morgens aufstehen, müde, ausgelaugt, verpennt, sich in unterhose in die küche stellen und einen kaffee kochen, die erste zigarette anzünden und aus dem fenster schauen: und dann würde sie da liegen die stadt; schnell und kalt und unfreundlich und viel zu groß und sie würden ihr spiegelbild im vom morgentau beschlagenem fenster sehen und sagen: DIESE GEDEMÜTIGTE PRAKTIKANTENFRESSE HAT KEINEN BOCK MEHR JEDEN TAG UMSCHLÄGE ZUR POST ZU SCHLEPPEN ODER NEBEN DEM KOPIERAUTOMATEN HERUMZUSTEHEN DAS AUTO DES CHEFS AUS DER GARAGE ZU FAHREN UND SUSHI FÜR DIE TEAMSITZUNG IN DER PAUSE ZU HOLEN UND DAFÜR ABSOLUT KEINEN CENT UND NICHT MAL EIN FREUNDLICHES WORT ZU BEKOMMEN DIESE GEDEHMÜTIGTE PRAKTIKANTENFRESSE WILL JETZT MEHR VOM LEBEN UND GEHT ZU DIESER SCHEISSFIRMA EINFACH NICHT MEHR HIN DIE KNACKT JETZT LIEBER DEN BANKACCOUNT DES CHEFS KLAUT SEINE STEUERUNTERLAGEN UND ERPRESST IHN FÄHRT SEIN AUTO GEGEN DEN PFEILER IN DER TIEFGARAGE OOOPS SORRY UND VERBINDET JEDEN ANRUFER MIT IRGEND EINER SEXHOTLINE BIS NIEMAND MEHR ANRUFT UND DIESE SCHEISSAGENTUR KEINE SCHEISSWERBEAUFTRÄGE MEHR BEKOMMT UND DIE STADT NICHT MIT IHREN SCHEISSWERBESLOGANS VON WEGEN ZUKUNFT FORTSCHRITT INNOVATION FREIHEIT GRENZENLOSIGKEIT ABENTEUER INTENSITÄT SICHERHEIT VOLLHÄNGEN KANN ICH KANN DIESE SCHEISSE NICHT MEHR SEHEN ICH REISS DIESE GANZE VERLOGENE WERBESCHEISSE AB VON DEN HÄUSERFASSADEN ICH ZIEHE MIT ALL DEN ANDEREN UNBEZAHLTEN

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GEDEHMÜTIGTEN PRAKTIKANTENFRESSEN LOS UND REISS DIESE VERLOGENE SCHEISSE DIE MIR DEN BLICK AUF MEINE STADT VERSPERRT VON DEN FASSADEN UND Das wäre zum beispiel eine möglichkeit Und wenn dieses stück jetzt RAUSCH heissen würde, dann würden wir alle hier liegen auf großen sofalandschaften und komplexen flächigen sounds lauschen, wir würden uns aneinander anlehnen Wir würden sehr viele gutaussehende junge frauen und männer casten mit sehr schönen gesichtern und tollen fettlosen körpern und wir würden hier liegen wochenlang und musik hören und die würden von ihrem leben erzählen, ihren träumen, wir würden denen zuhören, wir würden rumknutschen, uns berühren, uns in die augen schauen, wir würden über mehrere wochen so eine sehr schöne, erotische choreografie einstudieren, wo wir hier alle nackt liegen würden, aufeinander, übereinander und ineinander verkeilt und das wäre sehr gut, das würde uns ENERGIEN ZURÜCKGEBEN DIE WIR IN DEN LETZTEN JAHREN VERLOREN HABEN Das wäre eine möglichkeit Und wenn dieses stück ERSCHÖPFUNG heißen würde, dann würden wir einen sehr einsamen mann sehen, zB den opernregisseur stanislas nordey, der den auftrag bekommen hat, wagners lohengrin zu inszenieren, ein schauderhaft grauenhaft selten dämliches stück nazischeisse, aber er will den ruhm, die ehre, das geld, und er betrügt und belügt sich selbst und findet sätze, die sagen: dies ist ein sehr interessanter, hochbrisanter, aktueller stoff, der auch heute EINE ENORME EMOTIONALE RELVANZ entfalten kann, und er liegt da in seinem hotelzimmer in shanghai im 27 stock wohin er sich zurückgezogen hat und er schaut raus und aus dem nebel wächst nun langsam dieses neue faschistoide radikalkapitalistische empire und wir sehen nokia, sharp, toyota, siemens, nike schriftzüge in wilden neonfarben und 20 mal 30 meter lange werbeflächen, die von großen schleppkähnen den yangste river entlang gezogen werden, wo die helden beckham, clooney, pit, die lohengrins unserer zeit, versprechen abgeben, die nie ein mensch einlösen wird können und er liegt da und er hört diese wagner musik auf seinem i pod und er denkt an seinen vater, der irgendwo tiefgekühlt im koma an schläuchen hängt und dessen herz künstlich am leben gehalten wird, und der immer mal wieder für sekunden aus seinem koma erwacht und von den zivilisten frauen und kindern erzählt, die mit weitaufgerissenen mündern panisch versuchen von der brücke zu fliehen, die er und seine kameraden gerade in die luft sprengen in der nähe von reims neunzehnhundertvierundvierzig und es handelt sich natürlich nicht um den opernregisseur stanislas nordey, son-

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dern um den opernregisseur falk richter, der da jetzt sitzt, diese musik hört und denkt: Nein, ich will da nicht rein in diese nazischeiße Diese welt meines vaters Zu dieser oper müssten unentwegt große videos laufen mit genickschüssen menschen die massenweise exekutiert werden Diese dämlich verschwollene sprache Diese saudumme nicht mehr nachvollziehbare sentimalvertriefte handlung Das ist unsere große deutsche tradition Ich halt das nicht aus Er packt seinen koffer Fährt zum flughafen Er steigt in den flieger nach bangkok Dort erwartet ihn der chauffeur des internationalen health ressorts CHIVA SOM und fährt ihn in einer dreistündigen Autofahrt, auf der dreimal das tape RELAXING SOUNDS A GUIDE TO YOUR INNER WORLD durchloopt Er kommt an Er steigt aus Alles wird ihm abgenommen Der koffer seine sorgen sein leben Er muss sich diesen leuten nur anvertrauen Er legt sich hin und die bewegen seine eingerosteten glieder Er schaut auf die palmen den himmel Er legt sich auf einen gynäkologenähnlichen stuhl man führt einen kleinen schlauch in seinen anus ein und saugt allen dreck all die scheiße die sich dort in den letzten jahren und jahrzehnten in den windungen seines dickdarms und zwöffingerdarms angelagert hat aus ihm heraus Das ist sehr schmerzhaft und man muss oft weinen denn mit all dieser scheiße die sich da so festklammert in den entlegensten verästelungen, strömen auch alle verborgenen erinnerungen an die oberfläche und die sind nicht immer angenehm Ich glaube mein ganzes leben bestand daraus durchzuhalten weiterzumachen nicht aufzugeben Das wurde mir so mitgegeben aber ich weiß gar nicht warum Ich hatte ja überhaupt kein ziel vor augen außer nicht unterzugehen Ich weiß auch heute noch nicht so recht wo ich hin will In diesem ressort gibt es

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keine kinder Keine handies Keine laptops Keine kameras Keine i pods Keine laute musik Das ist da alles nicht erlaubt VERBOTEN In dem ressort gibt es Kein geld Und kein alkohol und nur selbst angebautes essen Und man steht morgens um sechs auf und macht yoga und dann geht man ans meer und nimmt ein kleines frühstück ein und macht etwas stretching und dann geht man schwimmen und am strand entlang spazieren geht in die sauna und trifft einen coach mit dem man all seine sorgen bespricht und der macht dann unterschiedliche pläne, an die man sich halten kann: Was esse ich? Was gucke ich im fernsehen oder kino? Was trinke ich und wie viel? Welche muskelgruppen trainiere ich? Was lese ich? Wann schlafe ich und wie viel? Wie organisiere ich meine freundschaften? Wie schaffe ich kleine zwischenräume zwischen arbeit und privatleben Wie schaffe ich mir überhaupt ein privatleben Und er schaut sich um und sieht Nur reiche leute mit seltsam unförmigen schlappen körpern, die sie hinter sehr teuren markenklamotten verbergen, die traurig und einsam vor sich hinschauen, allein am tisch vor ihrer algensuppe sitzen und sich an einem vollkommen debilen buch von michael crichton oder einem dieser schwachsinnigen debilautoren festklammern Alle sind fett Keiner lächelt Alle sind müde Alle halten sich an etwas fest, das ihnen keine substanz gibt Stille Ich muss einfach mal zu mir kommen

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Aber was finde ich dann da vor in mir? O je Gar nichts Ich will mich nicht erinnern Ich will nicht wissen wer ich hier und heute bin Ich will das alles nicht Ich weiß überhaupt nicht, was ich will Er geht auf das laufband im fitnessraum und er schaut raus und sieht dort einen alten schwerbeweglichen mann mit einem jungen coach an seiner seite Und der coach wirft ihm immer wieder einen ball zu und der alte mann hebt den ball auf, wenn er es schafft, und oft schafft er es nicht, weil seine gelenke zu eingerostet sind, als dass er sich nach etwas bücken könnte. dieser körper hat sich einfach ein leben lang nicht bewegt, wurde nicht gebraucht, nicht begehrt, kam nie zum einsatz, hatte irgendwo eine frau geparkt, die ihm alle praktische arbeit abnehmen konnte, so dass er tag ein tag aus über sein laptop mit den börsen dieser welt virtuell verbunden fondspakete packen umverpacken neuverpacken neuetikettieren und zwischenlagern und verkaufen konnte und nun steht er da mit seinem unbrauchbarbaren körper und versucht, einen ball, den ihm ein freundlicher, gutaussehender 23 jähriger thaijunge zuwirft, vom boden aufzuheben, bückt sich, es fehlen etwa 15 zentimeter bis zum boden, er lacht etwas verschämt, aber er erreicht den ball nicht, macht nichts, sagt der trainer, wir versuchen das noch mal, wir haben ja noch 2 wochen und wenn wir dranbleiben und jeden tag 2 bis 3 stunden trainieren, dann kommt er irgendwann vielleicht einmal ran an den ball. Plötzlich fällt der mann um, bewegt sich nicht mehr, herzstillstand, wird abtransportiert und ist weg. Tja. Falk steigt runter von seinem laufband, hält inne und weint, aber da kommen keine tränen, woher auch, ich habe es doch immer so perfekt geschafft, alles zurückzuhalten, was in mir ist. Wenn ich eines von meinen eltern gelernt habe dann das: zeig niemand deine gefühle und arbeite viel. Und da bin ich nun: Was für ein leben! Einsame frauen mit körperlichen defekten und einer unmenge an geld sitzen dort in strandkleidern von dior und versace aber niemand sieht sie, denn keiner der männer hat die energie überhaupt aufzuschauen,

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die liegen alle nur da und der blick geht nicht weiter als bis auf ihre fetten kraftlosen körper und die haut, die diese schlaffheit umzingelt wie ein ledernes band, das nein, auch die bilder funktionieren nicht mehr sprachbilder lösen sich auf jetzt bin ich wirklich nur noch mit mir beschäftigt ich nehme nichts mehr wahr in dieser reparaturstätte für ausgelaugte überarbeitete körper, aus denen der angestaute kot der letzten jahre mit langen schläuchen herausgesaugt wird, damit ihre organe wieder etwas platz bekommen in diesen körpercontainern er ruft seine freundin an die wir hier jetzt mal viviane nennen die sitzt zuhause an drei ihrer vier handies und kann sich nicht entscheiden ob sie am tag der kleistpremiere in wien lieber die kostümanprobe für den tatort in stuttgart oder den frischkäsespot in münchen terminieren sollte und diskutiert das gerade angestrengt verhetzt mit ihrer agentin claudia, während unten das taxi wartet für dieses lifestyle shooting für allegra, das sie auf dem weg zu den drei fragezeichen und das geheinmis des verschwundenen weckers hörspielaufnahmen noch mitnehmen wollte all das kurz vor einem kurztrip nach ibiza mit ihrer künstlerfreundin sibylle mit der sie dort kurz mal runterkommen und auskühlen wollte und sich mit diesem neuen drehbuch beschäftigen wollte, das da gestern noch auf den tisch geflattert ist und einfach SO GEIL KLINGT DAS GANZE PROJEKT und sie sich bis übermorgen entscheiden muss ob sie da zusagt oder nicht und sie hier in berlin sowieso niemals zur ruhe kommen würde schon allein weil ihr freund stefan gerade in den endproben steckt zu seinem projekt mit diesen moment mal, wieso stefan ich dachte, ich sei dein freund bist du auch, also bist du AUCH aber, was, wieso?

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Hör mal, du bist nie hier, ich meine, wir sehen uns einfach nie, und … das ist auch nicht schlimm, ich meine, das ist völlig in ordnung, niemand sieht sich, zumindest nicht live, aber ich kann hier nicht die ganze zeit allein rumhängen, mann, ich komm abends nach hause und da bin ich müde und da will ich was erleben und da will ich vor allem nicht hier rum sitzen und darauf warten, dass du mich anrufst und mir erzählst wie kaputt und müde du bist und wie scheisse grade alles läuft, da will ich einfach mal, dass hier so n junger typ rum sitzt und … du es tut mir leid, aber der ähm, der stefan kann einfach supergut ficken und ich hab nur dieses eine leben und ich muss versuchen, in dieses eine leben so viel reinzupacken wie möglich, ein leben ist einfach zu wenig und ich hab eines mit dir und ich hab eines mit stefan und ich hab auch noch ein paar andere leben aber das ändert nichts daran dass ich dich immer noch mag und dass ich ab und an an dich denke und ich freu mich schon, wenn wir uns dann im herbst oder frühjahr ich weiß es nicht mehr so genau ich hab mir das aufgeschrieben wieder sehen und dann Aber das sind alles nur möglichkeiten Ich will auch improvisieren Ich will wirklich dass da all meine autofiktionstexte ausliegen Und es wird einen moment geben wo sich jeder einfach ein paar zettel herauszieht aus dem großen stapel und dann einige sätze vorliest Und wir schauen, ob sich aus diesen tagebuchaufzeichnungen szenische momente ergeben können. Anne hatte diese nico phase damals in der fertighausausstellung in buchholz in der nordheide. Die wollte einfach nur noch hässlich sein. Das war ihre form von widerstand. Nicht die hübsche tochter in der hübschen fertighaussiedlung, die mal hotelfachfrau werden soll oder EU-Sekretärin. Nein, die wollte ANTI STAR werden DAS ANDERE LEBEN kennenlernen und musik machen Sie sitzt nun nach zehnjähriger pause in ihrem hotelzimmer in shybuya und wartet auf einen gig in einem kleinen club in harajuku. Sie wird nico songs spielen. Sie liest eva illouz und fragt sich, wie menschen im high tech therapie kapitalismus ihre wut verwalten: therapie oder amok, mehr scheint es da nicht mehr an spielraum zu geben. Obwohl es sich hier unentwegt um einzelne textfragmente handelt, alles völlig unterschiedliche genres: Tagebuch Textfläche

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Monolog Diskurs Diskussion Interview Fliesstext Filmzitat theaterdialog songlyrics videofilm youtubeausschnitt werden sich irgendwann eine geschichte und figuren abzeichnen und wir werden das gefühl haben, wir erkennen hier menschen, die sich über ihr leben auseinandersetzen und wir wissen nicht immer, welche szenen auf welcher realitätsebene spielen, denn das tagebuch ist ja ein text, der sich auf einen szenischen, fiktionalen text hinschreibt, ist ja hinschreiben zu etwas, ist also bewegung auf etwas zu. Und der ganze abend wird auch diese bewegung auf etwas zu sein. Was aus meiner vergangenheit möchte ich überhaupt heute noch zum thema machen? Denn wir leben in einer zeit, wo ich mir meine biografie auch einfach zusammen sampeln kann, ich muss ja gar nicht auf ›authentische‹ erfahrung und erlebtes zurück greifen, um von mir zu erzählen, ich kann mir alles, was ich sein will, ja auch von anderen aus filmen, aus blogs, aus anderen büchern, aus meiner fantasie zusammen bauen. Wieso soll ich mich da immer mit meiner so genannten echten vergangenheit auseinandersetzen. Ich kann mir doch eine bewegliche gegenwart schaffen. Und natürlich die frage: wo kann sich leben hier und heute überhaupt ereignen? Wo zeichnet sich etwas ab, das ich dann wieder als material für meine kunst verwerte. O je. Oder gibt es erlebnisse, die nur mir gehören, und die ich nicht nutzbar mache für meine kunst. Oder nutze ich alles, so wie der kapitalismus eben auch ALLES NUTZBAR machen will für seinen markt, jedes gefühl, jede angst, jedes lachen, jede sehnsucht, jede erinnerung, jede erfahrung, jede liebe, jede lust. Und natürlich die frage: was ist das hier überhaupt für eine gesellschaftsform, diese seltsame postdemokratie, in der die politik eine art agentur für die finanzwirtschaft gworden ist. Die können da einfach anrufen und gelder abrufen, wenn sie sich verspekuliert haben, weil sie sich selbst als systemrelevant bezeichnen. WIESO BIN ICH EIGENTLICH NICHT

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SYSTEMRELEVANT? Wieso ist nur so n spekulantenschwein das absolut nichts von wert schafft und der gesellschaft nur schadet, wieso ist denn so jemand systemrelevant und die kunst ist es nicht? Und wieso werde ich immer nur erpresst und habe keinerlei möglichkeit auf politische prozesse einfluss zu nehmen? Wieso wird mir immer nur gesagt, wenn du jetzt nicht zustimmst bei diesem rettungspaket, dann bricht hier alles zusammen und du hast morgen nichts mehr zu essen. Wenn du nicht zustimmst bei diesem angriffskrieg, dann haben wir morgen alles voller terroristen hier und die vergewaltigen deine tochter und jagen deine wohnung in die luft. Und welche spuren hinterlässt das eigentlich in unserem leben? Wir sind ja nur noch zuschauer des politischen geschehens, sollen aber durch unsere arbeit unentwegt ein system stützen, das uns nur in die erschöpfung in die verausgabung treibt uns nie glücklich macht. Und was für beziehungen leben wir hier eigentlich?

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ÜBER

VERWENDUNGSMÖGLICHKEITEN DER EFFIZIENZSTEIGERUNG

DIE

V O L K S W A G EN K O N Z E R N S I N D E N L E T Z T E N Z W A N Z I G J A H R EN A L S V O R B I L D F Ü R D I E INSZENIERUNGSPRAXIS AM REPERTOIRETHEATER. EINE SKIZZE, EIN VERSUCH DES

OLIVER KLUCK Vorwort Das Entstehen von literarischen Texten ist ein Prozess, den ich vorab weder planen noch hinreichend beschreiben kann. Mein Unvermögen ergibt sich aus meiner Art des Begreifens von Textmaterial und meinem sich daraus ergebenden Umgang mit den literarischen Figuren. So ist alles, was ich folgend aufschreiben möchte, als eine Ideenskizze zu verstehen. Zu Ende gedacht, »wie man es hierzulande so sehr schätzt, bis nichts mehr übrig bleibt«, soll in dieser Skizze nichts sein. Die Widersprüche, die sich aus ihr ergeben, sollen der Einstieg in eine Diskursarbeit sein, als deren Ergebnis eine andere, neue Art des Inszenierens von Bühnentexten entsteht. Was ich folgend schreibe, soll ein allgemeingültiger Arbeitsplan für die nächsten zwei Spielzeiten sein. Ausgehend von den bisherigen Erfahrungen mit dem Kluck-Labor am Deutschen Nationaltheater Weimar, möchte ich weiter am Laborgedanken arbeiten, nur soll nunmehr das Labor in erster Linie den Theaterschaffenden als Versuchsanordnung dienen, den Zuschauern jedoch wie eine Inszenierung erscheinen. Daher ist der Titel ›Labor‹ bis auf weiteres als eine interne Arbeitsbezeichnung anzusehen

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1 . D i e E f f i z i e n z al s p r o d u k ti o n s p r äg e n d e E i g e n sc ha f t – W a r u m e i n e n äh e r e B e tr ac h tu n g d e r E n tw i c k l u n g d e s V o l k sw ag e n k o n z e r n s i n d e n l e tz t e n z w a n z i g J ah r e n b e s o n d e r s g e e i g n e t f ü r e i n d e r ar ti g e s P r o j e k t i s t Noch Anfang der neunziger Jahre fertigte der Volkswagenkonzern im Wesentlichen drei Modelle: Polo, Golf und Passat. Heute fertigt der Volkswagenkonzern mehr als ein Dutzend Modelle, dazu kommen weitere Produkte aus einem Markenportfolio mit gewaltigem Ausmaß. Die Qualität der Fahrzeuge des Volkswagenkonzerns wurde in den zurückliegenden zwei Dekaden erheblich verbessert, Produktionsbedingungen wurden nicht nur auf die Steigerung der Produktion ausgerichtet, sondern auch auf höhere Anforderungen der Kunden an das Produkt. Generierte Trends, wie beispielsweise das Jogging der achtziger Jahre, wurden durch die Marketingstrategen unverzüglich aufgenommen und umgesetzt. Der Volkswagenkonzern sieht sich nun in der Lage, den Kundenwunsch nach Individualität bedienen zu können Es ist darüber festzustellen, dass die Produktionsmethoden des Volkswagenkonzerns derart erfolgreich sind, dass wir es uns unmöglich erlauben können, diese als Option für das eigene Inszenieren am Theater weiterhin auszuschließen. Der interdisziplinäre Ansatz unseres Projektes erfolgt nun aus der anderen Richtung: Nicht wir geben Methoden vor, sondern Methoden werden übernommen und an unsere Bedürfnisse angepasst. Erkenntnisse aus dem Bereich der Ingenieurwissenschaften, der Logistik und des Marketings werden wie auf einem Prüfstand auseinander genommen, die visuelle Kommunikation des Volkswagenkonzerns in ihre kleinsten Einzelteile zerlegt. Dabei bleiben wir zu jeder Zeit Theaterschaffende, bleiben ausschließlich dem Theater und der Literatur verpflichtet. Der Volkswagenkonzern ist lediglich einer unserer Zulieferer, ein Subunternehmer für unsere Zwecke. Unsere Werkhalle ist das Theater, das Labor ist unsere Entwicklungsabteilung. Wir werden individuell fertigen, passgenau und in der gewohnt hohen Qualität. Die immer wieder gern ausgesprochene These, dass die Kunst die Kultur prägt und die Kultur die Gesellschaft, wird somit auf den Kopf gestellt. Dem Wunsch des Zuschauers, nach möglichst vielen Uraufführungen, Stücken mit regionalem Bezug und temporären Projekten, wird prompt entsprochen. Den Bezeichnungen Premierendruck und Uraufführungswahnsinn begegnen wir dahingehend, dass die Jungfräulichkeit unserer Veranstaltungen zu einer Selbstverständlichkeit wird, auf die jeder unserer Zuschauer einen Anspruch hat

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Die Geschichte der Familien Piëch und Porsche, die Entstehung der Retortenstadt Wolfsburg auf der grünen Wiese und die Entwicklung der nationalsozialistischen Kraft durch Freude-Fabrik zu einem Weltkonzern, soll uns Anlass genug sein, nach den Folgen der Massenindividualisierung Ausschau zu halten. Im altgriechischen Sinn wurde der Begriff Volk für die Bezeichnung einer Minorität verwendet, die sich aus wohlhabenden und gebildeten Männern zusammensetzte. Die Demokratie war, entgegen dem heutigen Verständnis, die Herrschaft des Volkes über die Bevölkerung. In diesem Zusammenhang erscheint sowohl die Bezeichnung Volkswagen, als auch der Ruf nach mehr Volksbestimmung, zuletzt durch den Theaterregisseur Lösch in Stuttgart formuliert, in einem ganz anderen Licht. Weiterhin ist festzustellen, dass das derzeitige Theater im Vornehmen der Diskursraum einer assimilierten Bevölkerungsschicht ist. Die Autoren, die diesem Theater ihren Diskursstoff als Rohmasse liefern, kommen zumeist selber aus dieser Schicht. Bevor sie Autoren wurden, haben sie Universitäten besucht, über Tellerränder geschaut, aus kalten oder warmen Händen ein Erbe empfangen oder zumindest jemanden als Lebensmenschen gefunden, der sie in ihren ersten Schreibjahren finanziert hat. Dieses Fremdfinanzieren ist beinahe unausweichlich geworden, da die Bezahlung junger Schriftsteller schlichtweg als mies zu bezeichnen ist. Geht man von einem Arbeitsergebnis von etwa zwei abendfüllenden Theatertexten pro Jahr aus, erzielt der junge, qualifizierte Schreiber in etwa das Einkommen eines Facharbeiters, in den Jahren seiner zumeist autodidaktischen Ausbildung verdient er, anders als Regieassistenten, nicht einen Cent. Entsprechend werden die Kinder aus Angestellten und Zuwandererfamilien, wenn sie überhaupt in ihrem Leben je eine Universität als Student von innen sehen, vernünftigerweise besser Diplomvolkswirt, Frauenärztin oder gleich Hochschullehrer, statt an ihrer brotlosen Kunst zu Grunde zu gehen. Diese Leute fehlen nun dem Theater, ihre Themen müssen durch Autoren bedient werden, die diese erst recherchieren, also künstlich generieren müssen, was im Ergebnis oft einen Mangel an Authentizität in den Inszenierungen nach sich zieht. Die so genannte Aufklärung, ist hier nur ein subjektiver Versuch über eine Aufklärung, das Ergebnis dieses Versuches steht bereits vor der Theaterarbeit fest, woraus nun wiederum der Eindruck entsteht, dass das Theater als gesamtgesellschaftlicher Streitraum mausetot ist Möchte man nun also die ›heißen Themen‹ angehen, das Theater dem Mediendiskurs und der tagespolitischen Debatte entgegenstellen, dann müssen Organisationsformen und Mechanismen entwickelt werden, die genau das in einem noch stärkeren Maß möglich machen. Speziell für Schriftsteller könnte das bedeuten, dass sie nicht mehr darauf hoffen

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müssen, bald und vernünftigerweise der Qualität ihrer Arbeit entsprechend bezahlt zu werden, sondern nunmehr durch gesteigerte Produktionszahlen im Sinne des Volkswagenkonzerns eigenständig in die Lage versetzt werden, vom Ergebnis ihrer Arbeit leben zu können – was schlussendlich das Theater auch für Schreibende interessant machen würde, die bisher vor allem aus existenziellen Gründen auf eine Zusammenarbeit verzichtet haben

2. Über die Möglichkeit zur Improvisation im ProduktionsraumTheater der latenten Forderung der Administration an die Theater »nach Senkung aller Kosten und gleichzeitigem Steigern des Einspielergebnisses«, begegnen die Theaterschaffenden oft mit einer passiven Haltung der Empörung. Die Kollegen verhalten sich somit kaum anders als Studenten, die auf suboptimale Lernbedingungen einzig mit der Besetzung ihrer Universität reagieren. Selbstverständlich ist es ein großer Irrtum der Administration, das Ergebnis einer künstlerischen Arbeit alleine an einer Kosten-Nutzen-Rechnung betrachten zu wollen, da sich gerade im Theater der Nutzen nicht aus der Summe der verkauften Theaterkarten ergibt, sondern aus dem Diskurs, den ein soeben gesehenes Theaterstück unter den Zuschauern auslöst. Das Theater ist somit kein gesellschaftsredundanter Kunsttempel für eine privilegierte Minderheit, sondern ein geschützter Raum innerhalb des Stadtraumes, in dem Fragen der »gesellschaftlichen Konstruktion unserer Wirklichkeit« ausgesprochen und überprüft werden. Das Theater dient demnach auch der Frage der eigenen Wehrhaftigkeit – und bringt sich somit in Diskredit, wenn es wehrlos wird. Ein defensives Verhalten kann sich kein Theater leisten, wenn es ernst genommen werden möchte, Verweigerung, Besetzung und Straßenprotest sind unzureichend. Die Stärken des Theaters sind die Stärken der Literatur: Überhöhung, Allegorie, Abstraktion. Es kommt nun darauf an, Möglichkeiten zu schaffen, um diese Stärken ›ausspielen‹ zu können, die Frage nach den Maßstäben der Administration ist dann bereits Teil dieses Spieles Unser jetziges Schauspiel ist in vielen Fällen mit der Aufführung eines sinfonischen Konzertes zu vergleichen: Es gibt eine klare Partitur mit einer einigermaßen festen Rollenverteilung, in den Proben wird das Zusammenspiel in der Gruppe eingeübt, der Regie kommt dabei in etwa der Posten des Dirigenten zu, entsprechend werden die Schauspieler durch die Regie wie Gliederpuppen über die Bühne dirigiert, was natürlich jeder Schauspieler und besonders die erfahrenen Schauspieler sofort ab448

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streiten würden. Unbestritten hingegen ist, dass die Proben einen hohen logistischen Aufwand hervorrufen. Um ein Gruppenspiel zu proben, muss die gesamte Gruppe anwesend sein, was das parallele Arbeiten einzelner Gruppenmitglieder an verschiedenen Produktionen und räumliche Abwesenheit bestenfalls temporär zulässt. Eine Möglichkeit der Situation des dauerhaften Zeitmangels zu begegnen ist der Versuch zur freien Improvisation. Anders als bei einem sinfonischen Konzert, lassen sich die Vorbereitungen für einen Free-Jazz-Abend individuell planen. Nicht primär das Zusammenspiel wird einstudiert, sondern das Thema, auf das im Verlauf der Aufführung gedanklich verbindend zugegriffen wird, wobei diese Freiheit wie jede Freiheit als relativ anzusehen ist, da es auch im freien Improvisationsspiel Regeln gibt, aus denen sich unter anderem der Unterschied zwischen dem Freejazz und dem Erzeugen von Geräuschen ergibt. Die Relativität unserer Freiheit soll im Verlauf unseres Projektes, aus den empirischen Versuchen in unseren Laboren, zumindest ein stückweit (be-)greifbar gemacht werden Nicht mehr zuallererst am Zusammenspiel arbeiten zu müssen, sondern am Thema, bedeutet, dass sich die Zeiten für das Erfassen dieses Themas einfacher planen lassen, gleichzeitig ein Leerlauf (im Volkswagensinn: eine Ineffizienz) vermieden werden kann, da die Probearbeit immer unmittelbar mit und durch den Spieler erfolgt, kein Spieler gerade warten muss, weil er vielleicht in einer Szene nicht vorkommt. Geprobt wird individuell oder in der Kleingruppe, die Versuche zum Zusammenspiel erfolgen erst in einer späteren Phase. Den aus der Militärlogistik und später aus der Produktion entnommenen Begriff der just-in-time Fertigung nehmen wir dahingehend wörtlich, dass wir erst als Gruppe zur richtigen Zeit am richtigen Ort zusammenkommen müssen, genau dann, wenn die Prozesse der Vorbereitung abgeschlossen sind. Nicht mehr die Konzeptionsprobe, bei der die Schauspieler bisher oftmals den Text bzw. eine Strichfassung davon zum ersten Mal lasen, während Dramaturgie und Regie bereits auf eine mehrwöchige Diskursarbeit zurückblickten, markiert den Einstieg in die Inszenierungsarbeit, sondern bereits das Austeilen der Textbücher Es ist nun auch erforderlich, dramatische Texte formell anders zu organisieren als in der bisherigen Partiturform einer klaren Rollenverteilung. Der in diesem Zusammenhang oftmals benutzte Begriff der Textfläche ist hierbei nur eine ungenügende Krücke für das, was tatsächlich geleistet werden muss. Schon an der Entscheidung, ob eine Textfläche als bessere Regieanweisung für die Theaterschaffenden gedacht oder als innerer Monolog vielleicht Teil einer Sprechrolle ist, zeigt auf, dass es hierfür einer wesentlich feineren Unterscheidung bedarf, die im Übrigen den Rahmen einer Skizze sprengen würde und somit Teil der Projekt-

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auswertung werden muss. Sicher ist nur, dass bereits durch die formelle Beschaffenheit der Texte, insbesondere durch die Art der Aufteilung der Figuren- und Sprechrollen und ihrer Benennung eine wichtige Vorarbeit für die Möglichkeit des Improvisierens geleistet werden kann. Das Gespräch auf einer Konzeptionsprobe dreht sich nun nicht mehr um die Frage »worum es eigentlich in dem vorliegenden Text geht«, sondern wer an welchem Ort spricht und ob dieser Ort ein Ort im Raum ist oder ein Ort in der Zeit

3 . w i e i c h a r b e i t e , w o r a u f i c h d ab e i a c h t e , um nicht in die Gefahr zu geraten, didaktisch oder agitatorisch zu schreiben, konstruiere ich keine Figuren, sondern stelle den Figuren Fragen, deren Antworten, ähnlich wie bei einem Flickenteppich, irgendwann ein Bild ergeben. Durch diese Arbeitsweise vermeide ich zudem, dass meine Literatur sich für die Belange der Administration und anderer Interessenvertretung vor den Karren spannen lässt. Eine scheinbar politische Figur, ist demnach immer schon eine Figur und nie jemand, der einen Diskurs in eine gewisse Richtung voranzutreiben versucht. Ich versuche meiner Arbeit möglichst neutral gegenüberzustehen, versuche meine persönliche Sicht auf die Dinge, meine Prägungen so weit als möglich von meinem Schreiben fern zu halten. Es geht nicht darum, welche Meinung ich vertrete, sondern wie meine Figuren die Zusammenhänge begreifen, womit das Fragen meine einzige Möglichkeit ist, den Figurendiskurs zu beeinflussen. Dazu nur am Rande: Mein ganz persönliches Interesse bringt mich des Öfteren mit Figuren zusammen, die nicht unbedingt zu jenen Charakteren zählen, denen üblicherweise Fragen gestellt werden Die Figuren verhalten sich nun wie ›richtige‹ Menschen. Sie kommen wie selbstverständlich nicht mit der wirklichen Antwort raus, sondern verschleiern, taktieren, beschönigen und lügen, dass sich die Balken biegen. Aus Scham über das eigene Versagen, über die eigene Fehlbarkeit und menschliche Schwächen, versuchen sich meine Figuren mit ihren Antworten in ein besseres Licht zu stellen als in jenes, in dem sie womöglich stehen müssten. Wie man es besonders in Autobiografien von Politikern und Schlagersängern nachlesen kann, unternehmen meine Figuren analog dazu den Versuch, ihre eigene Biografie zu glätten und öffentlichkeitstauglich zu machen. Damit sind ihre Aussagen und Antworten zunächst für das Erzählen einer Geschichte nur bedingt brauchbar, da die Geschichte nun gewissermaßen schief, das Handeln der Figuren nur schwer nachvollziehbar und wahrscheinlich unglaubwürdig wäre. Es bleibt mir daraus nichts anderes übrig, als immer wieder nachzufragen,

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die Figuren mit ihren eigenen, in sich nicht stimmigen Antworten zu konfrontieren. Tatsächlich ist es so, dass sich die Figuren irgendwann öffnen und von sich aus erzählen, was ›wirklich‹ passiert ist. Es erschließen sich nun die Zusammenhänge, eine Geschichte wird in ihrer Komplexität und Verfahrenheit nacherzähl- und darstellbar. Für mich besteht hier nur noch die vergleichsweise einfache Aufgabe, eine geeignete Form für dieses Erzählen zu finden, wobei ich jederzeit dafür verantwortlich bleibe, dass die nun nackte Figur nicht wie ein Idiot dasteht, sondern ganz einfach wie ein Mensch der sich aus welchen Gründen auch immer verlaufen hat Noch kurz etwas zur Organisation meiner Arbeit: mein Schreiben ist organisiert wie eine kleine Werft, in der aus Holz Boote gebaut werden. Muss auf einem dieser Boote der soeben aufgetragene Lack trocknen, arbeite ich zwischenzeitlich am nächsten Boot weiter. Stillstand gibt es keinen. Ich arbeite mich dabei weniger an der Form als an der Frage des Inhaltes ab. Aus einem einzigen Thema können auf diese Weise mehrere Texte entstehen, Essays, Prosa und Prosastücke, Hörspiele oder eben Arbeiten für das Theater

4 . Ü b e r d e n sc h r i f ts t e l l e r i sc he n B e i t r a g zur Steigerung der Effizienz die Verwendung von universal verwertbaren Teilen und Teilgruppen ist eines der Erfolgsrezepte des Volkswagenkonzerns. Ich möchte daher für unser Projekt nach ähnlichen Fertigungsmethoden suchen. Dazu werde ich im Selbstversuch die nun entstehenden Texte, unabhängig von ihrem Genre, konsequent auf diese Forderung ausrichten. Noch mehr als bisher, möchte ich mich mit der Frage des Inhaltes von Texten beschäftigen. Speziell für das Theater geht es nicht mehr darum wer spricht, sondern vielmehr darum was gesagt wird, was sich auch in der Art unseres Inszenierens widerspiegeln wird. Da ich mich nicht mehr an Aufträgen abarbeite, sondern ausschließlich am Thema, werde ich ohne Unterlass für dieses Thema produzieren. Die Texte, die nun entstehen, werden für jedes Haus passen, sie werden theateruniversal sein, was bedeutet, dass sie nicht mehr auf ein Haus, ein Ensemble und schon gar nicht auf ein Publikum zu geschnitten werden. Die Rollenverteilung, die in den Texten nicht festgeschrieben wird, obliegt immer den Verantwortlichen vor Ort, was keineswegs bedeutet, dass es in den Texten keine Rollen oder so etwas wie einen roten Faden gibt. Über die diffuse Bezeichnung Textfläche habe ich bereits geschrieben. Ich möchte diesem Konstrukt nunmehr frei assoziierbare Sprechräume entgegenstellen, aus denen durch den Diskurs 451

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innerhalb der Theatergruppe die Rollenverteilung heraus destilliert wird. Durch diese Vorgehensweise ergibt sich ein ganz anderer Zugriff als der, den wir bisher gewohnt sind (Stück für 2D und 3H). Der Frage nach dem geschlechterspezifischen Rollenverständnis kann auf diese Weise ganz anders, viel direkter begegnet werden Bislang wurden Figuren oft über Regieanweisungen charakterisiert: Klaus, 45 Jahre, Bauchansatz, wäscht sich nach dem Pinkeln nicht die Hände, schlägt seine Frau. Leider wurde nun weder im Text noch in den Anweisungen darauf eingegangen, warum Klaus seine Frau terrorisiert, stattdessen die Genese des Klausmordes skizziert, im didaktischen Sinn von »bitte nicht die Frau schlagen, auch wenn es gute Gründe dafür gibt«. Die eigentliche Frage, wie Klaus zu seinem Schlagen kam, konnte auf diese Weise nicht thematisiert werden, was auch daran liegt, dass das Theater mehr Handlungsstoff, Sprechrolle und Bewegung, aber weniger episches Erzählen für seine Bühne benötigt. Die Schauspieler müssen bewegt werden, was für das Zeichnen der psychologischen Verfassung von Figuren bedeutet, dass diese sich aus dem Spiel ergeben soll. Das alles halte ich für grundsätzlich nicht unvernünftig, jedoch möchte ich probieren, mehr von meinem Figurenwissen in einer eigens aufbereiteten Form an das Theater weiterzugeben. Dieses Wissen muss nicht zwangsläufig in der gesprochenen Inszenierung aufgehen, es soll lediglich Teil einer besseren Vorbereitung werden José Ignacio López bestellte Mitte der neunziger Jahre diese bessere Vorbereitung für den Volkswagenkonzern, indem er im Auftrag von Ferdinand Piëch die Fertigungstiefe des Konzerns verringert hat. Diese Verringerung (Vereinfachung) betraf allerdings nur den Konzern, da die Fertigung der Teile lediglich an Zulieferfirmen übertragen wurde, die ihrerseits 12 nicht nur geringere Fertigungskosten durch außertarifliche Löhne erzielen konnten, sondern darüber hinaus die Produktion einer eigenen Optimierung unterzogen. Tatsächlich ist die gesamte Fertigung nun komplizierter geworden, jedoch mit dem bereits erwähnten Ergebnis einer höheren Qualität, weshalb es uns nun analog dazu in unserer Inszenierungsarbeit nicht primär darum geht, die Prozesse zu vereinfachen, sondern darum, diese besser zu organisieren.

Berlin, Februar 2011

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D E R S T E I N (A U SZ U G ) MARIUS VON MAYENBURG PERSONEN Witha Wolfgang Heidrun Hannah Mieze Stefanie 1993 (Witha sitzt unter dem Tisch.) HANNAH: Du. HEIDRUN: Was denn, Hannah? HANNAH: Ich will hier nicht sein. HEIDRUN: Gleich gibts Kaffee und Kuchen. HANNAH: Jeden Morgen, wenn ich aufwach, denk ich, ich müßte noch in meinem alten Zimmer sein. Ich mach die Augen auf und erschrecke. Die Wände stehen so blau im Zimmer morgens. Und es ist so still, nur das Laub rauscht. HEIDRUN: Vielleicht decken wir heute das gute Porzellan. Was meinst du, Mutter? WITHA: Ist im Keller, alles in Sicherheit. HANNAH: Ich schüttel den Kopf, damit ich wach werde, damit alles an seinen Platz rutscht, und ich wieder daheim bin, aber mein altes Zimmer ist weg, ich bin schon wach, und wacher werd ich nicht, egal, wie ich die Augen aufreiß. HEIDRUN: Willst du das gute Porzellan decken, Hannah? HANNAH: Hörst du mir zu? HEIDRUN: Was denn, Kind? HANNAH: Ich will hier nicht sein. HEIDRUN: Gefällts dir nicht? HANNAH: Ich gehör hier nicht hin.

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HEIDRUN: Schade. HANNAH: Sag nicht immer schade, Mama. HEIDRUN: Aber ich finde das schade. HANNAH: Das ist, wie wenn du mich aufgibst. HEIDRUN: Was soll ich machen? Ich finds schade – so ein schönes Haus, schönes Zimmer, hübsches, neues Bett, aber du willst hier nicht sein. HANNAH: Als ob ich eine Enttäuschung bin: Schade. Du könntest dich bemühn um mich, aber du fragst nicht mal, warum. HEIDRUN: Weil ich dich ernstnehme, weil du erwachsen bist. Ich fang nicht an, zu diskutieren. HANNAH: Vielleicht will ich gar nicht, daß du mich so ernst nimmst. Vielleicht bin ich noch gar nicht so erwachsen. HEIDRUN: Plötzlich. HANNAH (zu Witha): Willst du hier sein? WITHA: Wo? HANNAH: In diesem Haus? In dieser Stadt? HEIDRUN: Oma hat hier im Haus gelebt, natürlich will sie hier sein. WITHA: Wo? Wo will ich sein? HANNAH: Warum sitzt sie dann unter dem Tisch? HEIDRUN: Mutter? Warum sitzt du unter dem Tisch? HANNAH: Das hat sie früher nicht gemacht. WITHA: Kindchen, was tust du noch da draußen? HANNAH: Erst seit wir hier sind. WITHA: Hörst du die Sirene nicht? Du machst mir solche Angst. HANNAH: Das ist, weil Oma wieder bombardiert wird. HEIDRUN: Wir werden nicht bombardiert, Mutter, im Gegenteil, alles ist wieder aufgebaut. WITHA: Wenn ich in den Keller gehe, stürzt das ganze Haus ein, hat er gesagt. HANNAH: Sieht nicht aus, als ob sie hier sein will. WITHA: Die Sirene. 1935 MIEZE: Wir können uns so lange unterhalten. Wollen Sie sich nicht setzen, Frau Heising? WITHA: Wenn ich darf. MIEZE: Sie dürfen alles. Fühlen Sie sich wie zu Hause. WITHA: Noch nicht.

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MIEZE: Das wird nicht lang dauern. Der Vertrag ist fertig, Ihr Mann muß nur unterzeichnen, dann gehört das alles Ihnen. Die Zeit wird grade so für einen Kaffee reichen. WITHA: Dann nehm ich einen. MIEZE: Sie nehmen einen. WITHA: Einen Kaffee. MIEZE: Den nehmen Sie sich. Mit beiden Händen? WITHA: Wie bitte? MIEZE: Ist das so Ihre Art, daß Sie sich Sachen nehmen? WITHA: Ich fürchte, ich versteh nicht. Was haben Sie gesagt? MIEZE: Nichts. Hier haben Sie den Kaffee. Greifen Sie zu. 1993 HEIDRUN: Vielleicht dein Großvater. HANNAH: Ich hab kein Vorbild, warum soll ich mir jetzt eins ausdenken, ich geh morgen hin und sag: Ich hab kein Vorbild. Ende des Referats. Als ob jeder ein Vorbild haben muß, und Sylvia hat sich wirklich hingestellt und gesagt, mein Vorbild ist Frau Döbner. Frau Döbner. Wir haben sie noch nicht mal auslachen können, so schockiert sind wir gewesen, und dann hat sie gesagt, daß Frau Döbner eine gute Lehrerin ist und gerecht und lustig, und außerdem hat sie eine gute Frisur, und das hat die komplett ernst gemeint. Ich hab kein Vorbild. Oder ich sag, Sylvia ist mein Vorbild, weil die so schöne Referate hält. HEIDRUN: Warum nicht dein Großvater? HANNAH: Das ist ein Mann, außerdem kenn ich ihn überhaupt nicht. HEIDRUN: Das macht nichts. HANNAH: Wie soll er mein Vorbild sein, wenn ich ihn nicht kenne? HEIDRUN: Viele Menschen haben Vorbilder, die sie nicht kennen. Zum Beispiel Napoleon. HANNAH: Mein Großvater war aber nicht Napoleon. Napoleon steht in jedem Geschichtsbuch, nach dem sind Straßen benannt. HEIDRUN: Aber dein Großvater hat Dinge getan, auf die du stolz sein kannst, mehr als Napleon, der Kriege geführt hat. HANNAH: Vielleicht will ich gar nicht stolz sein. HEIDRUN: Schade. Dein Großvater hätts verdient. HANNAH (hält jetzt ihr Referat): In meiner Familie spricht man eigentlich nicht darüber, aber mein Großvater hat eine jüdische Familie gerettet. Schwarzmann. Das war der Chef von meinem Großvater im veterinärmedizinischen Institut, bis er in der Nazizeit seinen Posten aufgeben mußte. Mein Großvater hat weiter zu ihm gehalten, und hat ihm 1935 die Flucht ins Ausland finanziert. Die Schwarzmanns sind über Amsterdam

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in die USA emigriert. Frau Schwarzmann lebt heute noch in New York und ist eine berühmte Galeristin und Kunsthändlerin. Sie hat das Werk von Max Beckmann in Amerika bekannt gemacht. Mein Großvater ist für mich ein Vorbild, weil er zu seinen Freunden gehalten hat und dafür von den Nazis verfolgt wurde. HEIDRUN: Schön. […] 1993 HEIDRUN: Und deshalb brauchen Sie auch nicht meinen, Sie wären die einzigen, die zu leiden hatten unter dem Sozialismus. Wir haben unsern Preis gezahlt. STEFANIE: Das hab ich nicht gewußt, aber was hat das – HEIDRUN (unterbricht): Weil man das schlecht auf ein Tuch schreibt und zum Fenster raushängen läßt. HANNAH: Und das ist tragisch, daß er in dem Moment, wos eigentlich vorbei war – mit einem Freudenschuß. Und daß der Russe den völlig falschen erwischt hat, weil, der war ja auf deren Seite, völlig falsch, daß er sterben mußte. HEIDRUN: Laß gutsein, Hannah, ich mach das jetzt. (Zu Stefanie:) Sie wollen über das Haus reden? STEFANIE: Über das Haus, ja. HEIDRUN: Von der Fassade fällt der Mörtel ab. STEFANIE: Wir hatten nicht genug Geld, Ihnen die Fassade frisch verputzt zu überlassen, tut mir leid, aber Sie sind ja reich, Sie können sich eine neue Fassade spachteln lassen. HEIDRUN: Darum gehts nicht. STEFANIE: Und für das Mauerwerk ist das natürlich besser, falls Sie das meinen, noch ein paar Jahre, und man hätte gar nicht warten müssen, bis das System zusammenbricht, das ganze Land wäre insgesamt zusammengebrochen, buchstäblich, die Gebäude, eins nach dem andern eingekracht, das ganzes Land eingekracht, unwiederbringlich, falls sie das sagen wollten. HEIDRUN: Der Mörtel. Wenn Sie die Farbe runterwaschen von der Fassade, oder wenn Sie nur mit der Hand ein paar mal fest drüberstreichen, wenn alles naß ist vom Regen, dann haben Sie rote Farbpartikel an der Hand. Rot. Meinen Sie, das Haus war mal rot gestrichen? STEFANIE: Das Haus war immer weiß. HEIDRUN: Genau. Und trotzdem dieses Rot. Ich lüg Sie nicht an. Natürlich war das Haus immer weiß. Aber in den Dreißiger Jahren sind Män-

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ner gekommen, mit Farbe und Pinseln, und sind mit Rot über die Fassade gegangen. Wußten Sie das? STEFANIE: Was für Männer? HEIDRUN: Mein Vater hat eine jüdische Familie finanziert, die Flucht finanziert, hat ihr das Geld für die Emigration gegeben. Und dafür hat man ihm die Fassade mit Beschimpfungen zugeschmiert. Erst ist er immer wieder drüber, mit Weiß, zuletzt hat er das Geschmier mit Stolz getragen, wie einen Orden. Das haben Sie nicht gewußt, oder? STEFANIE: Nein. HEIDRUN: Und hier – (Heidrun legt den Stein auf den Tisch.) Daß man nicht laut schreit, heißt nicht, daß man was zu verbergen hat. Das ist kein gewöhnlicher Stein. STEFANIE: Pflasterstein. HEIDRUN: Mit diesem Stein haben sie nach meinem Vater geschmissen, weil er der jüdischen Familie das Geld gegeben hat. Er wär fast getötet worden. Aber er hat sich gebückt und hat den Stein aufgehoben und in seine Tasche gesteckt. Und jetzt liegt der Stein hier auf dem Tisch. STEFANIE: Den haben Sie aus meinem Garten gegraben. Ist das der? Aus meinem Rhododendron. HEIDRUN: Was ich sagen will: Das ist nicht Ihr Garten. Ist es nie gewesen. Das ist das Haus meines Vaters, er hat hier einen einsamen Kampf gekämpft, die Spieße auf der Gartenmauer, die hat er eingesetzt, um seine Familie vor den Nazis zu schützen, er hat die Demütigungen ertragen und die Gefahr, aber sie haben ihn nicht brechen können, er mußte sich mit Steinen beschmeißen lassen und ist zuletzt dort oben erschossen worden, in dem Zimmer, das vielleicht ein paar Jahre Ihr Kinderzimmer gewesen ist. Es hat nicht viele Leute gegeben wie meinen Vater, Leute, die bewiesen haben, daß Widerstand möglich war, Leute, die ihr Leben für andere aufs Spiel gesetzt haben, aber mein Vater war so eine Ausnahme, und trotzdem kennt keiner seine Geschichte. Sie – Sie haben hier eine Weile gewohnt, in seinem Haus, gut, Sie haben uns keinen Pfennig Miete gezahlt in all den Jahren, seit wir das Land verlassen mußten, und wir haben uns nie beklagt. Aber jetzt stehen Sie in seinem Garten, sitzen an unserm Tisch, in Ihrer ganzen jugendlichen Ingoranz und Frechheit, und reden von einem Ort, über den Sie, offensichtlich, überhaupt nichts wissen – schämen Sie sich gar nicht? STEFANIE: Was? HEIDRUN: Ob Sie sich nicht schämen. WITHA: Hannah? Was regt deine Mutter sich so auf?

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STEFANIE: Wie hätt ich das wissen sollen? Sie sind weg gewesen. Sie haben die Schokolade nie geschickt. Mein Großvater ist gestorben. Ich wollte nur noch nach Hause. HEIDRUN: Genau. Sie kriegen noch einen Kaffee, und dann machen Sie sich auf den Weg. STEFANIE: Wohin? HEIDRUN: Nach Hause. STEFANIE: Ich hab gedacht, das wär hier. HEIDRUN: Nein. Sie wohnen längst woanders. Dieser Ort ist besetzt. Sie haben das nicht bemerkt, aber das Haus war immer bewohnt. Die ganze Zeit über. Vom Zimmer, in dem mein Vater starb bis runter in den Keller, wo meine Mutter den Terrorangriff überlebt hat. Sie waren nur zu Besuch. Und deshalb müssen Sie jetzt heimgehn. 1993 STEFANIE: Mein Großvater hat mir gesagt, es war ein Unfall, hat versucht, es mir zu erklären. Daß sie im Auto unterwegs waren, meine Eltern, nachts bei Regen in Richtung Plauen, und sie sind von der Fahrbahn abgekommen und gegen einen Baum. Ich hab den Wald nie mehr gemocht danach, hab immer aufs Haus hin geschaukelt, die Bäume waren zu unheimlich. Dann hab ich das erste Mal von Republikflucht gehört, in der Schule davon gehört, und wie Leute abhaun in den Westen und alles zurücklassen. Ich hab sofort gewußt, meine Eltern sind nicht tot, die haben mich zurückgelassen, und ihr Auto ist nicht an einem Baum zerschellt, sondern steht im Westen in einer Garage, und ich hab immer überlegt, ist das in Frankfurt oder in Hamburg, von da haben wir manchmal Pakete gekriegt, von Verwandten, die ich nicht kannte, aus dem Westen, zu Weihnachten. Meinem Opa hab ich nie ein Wort gesagt, und nie gefragt, und hab ihn immer geliebt dafür, wie gut er mich hat schützen wollen vor der Wahrheit. Jetzt ist er tot, und ich hab angefangen zu suchen, im Westen, nach meinen Eltern. Aber es gibt niemanden mit dem Namen. Nicht in Frankfurt, nicht in Hamburg, und auch sonst nirgends. Vielleicht, daß mein Vater inzwischen gestorben ist, und meine Mutter hat wieder geheiratet und heißt jetzt anders. Sie sind weg. Ich bin jetzt allein. 1993 HEIDRUN: Erkennst dus wieder? WITHA: Was? HANNAH: Das Haus.

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WITHA: Was für ein Haus? HEIDRUN: Hier wohnen wir jetzt wieder. So wie früher. WITHA: Hier? Nein, ich wohne woanders. HEIDRUN: Du kriegst das Zimmer oben, mit Blick auf den Garten. WITHA: Und wie soll ich die Treppe raufkommen? HEIDRUN: Du kannst auch das Gartenzimmer unten haben. WITHA: Und wann fahren wir wieder nach Hause? HEIDRUN: Wir bleiben jetzt hier. HANNAH: Sie erkennts nicht. HEIDRUN: Das ist unser Haus. Dein Haus. Hier hast du mit Vater gelebt. Mit Wolfgang. WITHA: Ich weiß, wie dein Vater heißt. Aber daß sie alles so leergeräumt haben. Wir hätten die Möbel doch behalten sollen. HEIDRUN: Welche Möbel? WITHA: Hier stand mal das Klavier. HEIDRUN: Nein. Hier stand kein Klavier. Das verwechselst du. WITHA: Nein. Ich verwechsel nichts. Hier. Das Klavier. HEIDRUN: Aber du hast nie Klavier gespielt. WITHA: Ich nicht. Aber Mieze. HANNAH: Mieze? HEIDRUN: Das ist ihre Freundin von damals. WITHA: Mieze konnte so schön Klavier spielen. 1935 (Mieze kommt mit einer Axt.) MIEZE: Sie wollten ein bißchen Musik für die Ohren? WITHA: Frau Schwarzmann? MIEZE: Nein, nein, das muß Sie nicht kümmern, das ist nur eine Axt. Der Gärtner nimmt die, wenn er was kleinzuhacken hat, es gibt ja Bäume auf dem Grundstück. WITHA: Aber was wollen Sie damit? MIEZE: Eigentlich ist das fast ein kleiner Wald. Hören Sie das? WITHA: Was? MIEZE: Das Rauschen vom Garten her. Das ist der Wind in den Zweigen. WITHA: Ich hol jetzt lieber meinen Mann. MIEZE: Nein, stören Sie die Herren nicht, die sind bestimmt bald fertig, und Ihr Mann sagt nur noch, das Klavier, das ziehen wir ab, das brauchen wir nicht. WITHA: Sagt er das?

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MIEZE: Oder Sie überlegen es sich noch, und nehmen Stunden. Sie spielen im Nu Frère Jacques. WITHA: Ich nehm keine Stunden. MIEZE: Bruder Jakob heißt das jetzt. Nein? Wollen Sie nicht? Bruder Jakob. Ich zeigs Ihnen. WITHA: Dann nehmen Sies mit, Ihr Klavier, wenn Sie so besessen sind, ich wills nicht. MIEZE: Jetzt sind Sie doch noch wütend geworden, obwohl ich eine Axt in der Hand hab. WITHA: Und es ist auch nicht einzusehen, wozu wir das zahlen sollen, wenn wirs nicht brauchen. MIEZE: Deshalb die Axt. WITHA: Was? MIEZE: Ich nehms mit, das Klavier. Wenn Sies nicht zahlen, sollen Sies auch nicht kriegen. Ich spiel Ihnen was zum Abschied. Hören Sie genau hin. Das ist das letzte Mal, das drauf gespielt wird. (Sie geht und zerhackt das Klavier.) 1993 HANNAH: Hilfst du mir? WITHA: Was denn, Kindchen? HANNAH: Ich will einen Brief schreiben. WITHA: An wen? HANNAH: Eigentlich will ich, daß du einen Brief schreibst. WITHA: Ach ja? HANNAH: Ja, für mich. WITHA: Warum schreibst du den Brief nicht selbst? HANNAH: Ich kenn die Person nicht. WITHA: Was willst du an jemand schreiben, den du gar nicht kennst? HANNAH: Frau Schwarzmann. Frau Schwarzmann in New York. WITHA: Schwarzmann. HANNAH: Ja. WITHA: Hab ich auch mal gekannt. HANNAH: Schreibst du für mich an sie? WITHA: Aber das geht nicht, Kindchen. HANNAH: Bitte. Ich will sie besuchen, wenn ich in Amerika bin, ich will sie so viel fragen. WITHA: Aber das kannst du nicht, Kindchen. HANNAH: Ich hab ihre Adresse gefunden. In Brooklyn. Sie heißt jetzt Shwartzman. Schreibt sich anders, aber das muß sie sein. Deborah Shwartzman.

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DER STEIN (AUSZUG)

WITHA: Sie heißt nicht Deborah. Sie heißt Mieze. HANNAH: Mieze ist kein Name. WITHA: Doch. Mieze. Mignon. Mieze. HANNAH: Mignon? WITHA: Französisch soll das sein. Klingt komisch. Deshalb heißt sie Mieze. HANNAH: Aber Mignon, ist das ein jüdischer Name? WITHA: Nein. Ihr Mann hatte auch keine Schläfenlocken, und er hat Schweine behandelt. HANNAH: Dann ist es vielleicht die Tochter. WITHA: Nein. HANNAH: Wie willst du das wissen? WITHA: Sie ist tot. Sie hat keine Tochter. Sie ist nie in Amerika angekommen, Kindchen. HANNAH: Doch. Sie war in Amsterdam. Sie hat Max Beckmann getroffen. Sie hat seine Bilder aus dem Keilrahmen genommen und in ihr Kofferfutter eingenäht. Sie hat ihn nach Amerika gebracht. WITHA: Ist das so? Ich glaub, ich hab das irgendwo gelesen. HANNAH: Weil es so war. WITHA: Aber nicht über sie. Ich glaub, die Schwarzmanns sind nie in Amsterdam gewesen. Die wurden abgeholt, wie alle andern auch. HANNAH: Ihr habt sie gerettet. WITHA: Ja? Ich dachte, jemand hat der SA Bescheid gesagt. HANNAH: Wer? WITHA: Ich glaub, jemand hat sie angezeigt, daß sie irgendwas gesagt haben, und dann wurden sie da draußen vor der Haustür festgenommen mit ihren Koffern und abgeführt. HANNAH: Jemand. WITHA: Ja, Kindchen. HANNAH: Nein. WITHA: Ja. 1935 MIEZE: Frau Heising, wollen Sie meine Freundin sein? WITHA: Aber das bin ich schon. MIEZE: Nein, wollen Sie meine Freundin sein? Wir kennen uns so lange, wie lange? WITHA: Ich weiß es nicht, zwei, drei – MIEZE: Länger, ich weiß noch, wie Ihr Mann als Assistent angefangen hat, die Abendgesellschaften, das müssen mehr als fünf Jahre sein, und Sie sind die einzige von allen Leuten, die mich noch besucht.

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MARIUS VON MAYENBURG

WITHA: Ja. MIEZE: Wer böse ist, soll denken, Sie sind nur gekommen, um uns das Haus wegzunehmen, aber böse sind wir ja nicht, oder? WITHA: Bestimmt nicht, wie meinen Sie das – böse? MIEZE: Ich will Ihre Freundin sein, es tut ja auch nichts mehr, morgen sind wir weg, ich heiße Mieze. WITHA: Ich weiß nicht, ob das geht. MIEZE: Es wär so gut, in der Fremde, zu wissen, daß Freunde in unserm Haus leben. Entschuldigung. WITHA: Bitte? MIEZE: Es wär ja dann Ihres, Sie würden in Ihrem Haus wohnen, nicht in unserem, Sie hätten es dann gekauft, Sie kaufen es gerade, ich heiße Mieze, wollen Sie mir Ihren Namen nicht sagen? WITHA: Wir sollten das nicht ohne unsere Männer, finde ich – MIEZE: Nein, weil, wissen Sie, wenn unsere Männer aus dieser Tür kommen, ist es vielleicht schon viel schwieriger, mit Ihnen befreundet zu sein, ich weiß, daß Sie Roswitha heißen, kann ich Witha sagen? Unsere Männer erfahren das nie, morgen bin ich weg, wir stoßen mit einer Tasse Kaffee an, Witha, darf ich? Es wird keine peinliche Begegnung mehr geben, Sie sehen mich nicht wieder, es ist nur für heute abend, und daß ich weiß, daß du mich nicht vergißt, daß du deine Freundin Mieze nicht vergißt. ENDE

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BAKUNIN

A U F DE M

R Ü C K S I T Z (A U S Z U G )

DIRK LAUCKE PERSONEN STEVEN BENDEMANN (35) EDDI (30) CHARLOTTE (42) JAN (17) MONI (55) und natürlich BAKUNIN – vermeintlich anarchistischer Straßenköter ORT/ZEIT Metropole (Krieg) / Hochsommer Schrägstriche (/) im Text deuten den überlappenden Sprecheinsatz durch die folgende Replik an.

1. Jörgs Wohnung. BAKUNIN als die tritte mich weckten, träumte ich gerade vom krieg. ich hing mit dem kopf am türspalt, ein fiependes asthmabündel, das bisschen frischluft einsaugend, das von der welt noch übrig war. vor mir das gröhlen der feuerwehr, vorsicht-es-wirdengetreten-eins-zwei-drei, und hinter mir die leiche von jörg. ich träumte davon, einfach aufzustehen und durch diese stadt da zu latschen, vorbei an den ganzen in panik geratenen, den panikmachern, sollten sie sich doch weiter in ihren nischen verschanzen und gegenseitig die würde zerschießen, ich würde einfach weiter gehen, bis keine stadt, keine straße, kein mensch mehr wäre. und noch ehe ich meinen angeknockten körper aus der flugbahn der tür ziehen konnte, hatten sie fertig gezählt. Blackout mit Sternchen.

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DIRK LAUCKE

2. Jörgs Wohnung. STEVEN was. BAKUNIN – ich geb ihnen vierzig für die kiste. als ich die augen wieder aufmachte, musste ich mich erstmal neu sortieren, wer ich war und wowiesoweshalb-warum, was ja in meiner situation kein einfaches manöver gewesen sein dürfte. ich meine, hey, eben hatte noch jörgs leiche dort hinten gelegen und das gute stück war – als ich die augen wieder aufmachte, schlicht und ergreifend wie vom flokatiimitat verschluckt. – vierzig für den fernseher. an stelle von jörg standen zwei typen in jörgs wohnung. der eine im anzug starrte unentwegt auf den hier-lag-jörgsleiche-fleck. STEVEN wie bitte. BAKUNIN – ich sagte, vierzig für die glotze. so sie denn geht. fünfzig die couch. wasn los, wir sind doch nich zum aufdenteppichkucken hier. STEVEN wo ist er jetzt. BAKUNIN – wer, meinte der typ, der dem zeug die preise gab. jetzt hab ichs: zollschätzer, zwangsvollstrecker. STEVEN der eigentümer. BAKUNIN – der eigentümer sind sie. der mensch schuldet ihnen soviel geld, es könnte fürn kleinwagen reichen (hö.hö.) STEVEN wo ist er jetzt. BAKUNIN – dritte reihe massengrab (höhö.) wenn sich keine angehörigen finden, die sich bestattung UND schulden aufhalsen, und davon gehen wir mal aus. (höhöhö.) das einzig wertvolle wird die gitarre da hinten sein, springt vielleicht ein hunni rum. was isn das / fürn ding. STEVEN country. BAKUNIN country. ich hasse country (hö.hö.) STEVEN und der hund. BAKUNIN – welcher hund. während der anzugtyp seine ganze optik jetzt auf mich feuerte und auf mich zukam, hörte ich von dem zollschätzertypen nur die altgeläufigen brocken – tierheim – wer weiß was der mit sich rumschleppt – einschläfern-lassen-sollte-man-die-verdammte-krücke (gefolgt von einer orgiastischen salve: höhöhöhö.) STEVEN wer bist du denn. BAKUNIN bakunin. hab ich mir nicht ausgesucht. STEVEN ist das alles meins. ich sagte, ist das alles meins. BAKUNIN – naja, ja, sagte der zollschätzer. – aber, moment, wir sind noch nicht fertig, sie können doch nich einfach abhaun. was wollen sie denn mit der töle. ich bins gewohnt, keine antwort zu kriegen und unter

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BAKUNIN AUF DEM RÜCKSITZ (AUSZUG)

normalen umständen hätte ich jedem, der auch nur auf den gedanken gekommen wäre, mich anzupacken den mittelhandknochen zernagt, aber wie gesagt – das verdammte gas schaffte mich. der anzugtyp nahm mich hoch und spazierte mit mir aus jörgs wohnung. das treppenhaus runter. und als er die haustür öffnete, schlug uns das gleißende licht, der gestank und die hitze der stadt und noch allerhand anderer scheiß entgegen. DIE HÄUSER DENEN, DIE DRIN WOHNEN. ein haufen schwarz vermummter leute am brüllen. an meinem kopf zischte ein babykopf großer beutel vorbei richtung hauswand, explodierte, färbte die welt dunkelrot. DIE HÄUSER DENEN, DIE DRIN WOHNEN. der anzugtyp hielt sein rotgefärbtes sacko über mich und legte mich auf den rücksitz. und mit quietschenden reifen ließ er die vermummten separatisten, marodierende bande, oder was auch immer diese leute darstellen wollten, hinter sich. ich sah aus der heckscheibe, die krachend bunteste farben annahm – und wie in meinem traum zuvor wusste ich wo ich gelandet war. STEVEN willkommen im krieg.

3. »Fettecke«. MONI der hund kann rein. sie sollten sich vielleicht erstmal ausweisen. STEVEN ich will nur was trinken. MONI alkfrei für das ordnungsamt. STEVEN ein bier, ein korn. MONI verarschen kann ich mich alleine. wohl in einen verkehrsunfall geraten. momentchenmal, den köter / kenn ich doch. STEVEN werde ich hier nicht bedient, oder was. MONI den kenn ich. heyheyhey, pfoten weg, das ist meine kneipe. ich bestimme, wer bewirtet wird. STEVEN warum nicht ich. MONI sie erklären mir erstmal, wie sie wie sie an den hund gekommen sind. STEVEN muss ich aldi-klamotten tragen oder was. MONI von mir aus ziehen sie sich einen müllsack über, sie könntens ja doch nicht verstecken. STEVEN was denn / verstecken. MONI von wem is / der hund. STEVEN ein bier. ein korn. MONI klasse gegen klasse. STEVEN ich kriege jetzt / ein bier und ein korn. MONI sie verschwinden jetzt aus meiner kneipe.

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DIRK LAUCKE

STEVEN hab ich irgendwas gemacht. hab ich gesagt, ich will den laden kaufen und abreißen. MONI raus. STEVEN hab ich das gesagt, oder was. MONI ich sagte, raus. STEVEN ich sagte, ein bier, ein korn. sprechen wir dieselbe sprache. MONI nein. STEVEN am liebsten würde ich diesen laden kaufen und abreißen. komm, / pfiffi. MONI hey, hey, ich ruf die bullen. und der köter bleibt hier. der köter bleibt – scheiße. verpiss dich doch, yuppie. BAKUNIN er packte mich in seine karre, fuhr los, und zum ersten mal seitdem mich jörg zu sich geholt hatte, sah ich das entsetzen in den gesichtern dieser leute. kaum wurde eine zerranzte couch auf die straße gewuchtet, fuhr der nächste kleinbus aus irgendeinem osteuropa vor. die alte kopftuchfrau mit dem kinderwagen schob und schob ihre wertvolle ladung flaschenpfand vom park richtung kaiser's. ein zitternder typ, hose offen, schlabberte von seinem rollator weg zur wand, rutschte ab als hätte er keine muskeln, um der beknackten erdanziehung zu trotzen. er ließ mit starrem blick ins nirgendwo einfach laufen. jörg hatte recht, man hätte blind sein müssen, um zu übersehen, dass das da draußen keine straße war, sondern der untergang einer welt, der so breit und fett angekündigt wurde, wie ein brandherd von rauch.

4. CHARLOTTE der hund bleibt draußen. was ist denn mit dir passiert. STEVEN die hitze. CHARLOTTE das vieh bleibt draußen. nicht auf die couch, nicht auf die couch. na prima, dein läusenest parkt sich auch da wos ihm gerade passt. was wird das, das ding war noch nie an. STEVEN nur eine sekunde. wir sollten in urlaub fahren. CHARLOTTE jetzt. STEVEN jetzt. CHARLOTTE komm weg von der klimaanlage, dein hirn friert ein. STEVEN norwegen oder island wären nicht schlecht. entschuldige, island ist buhland. CHARLOTTE die polizei kann nichts machen. STEVEN ich habs, alaska. CHAROTTE ich rede von den plakaten. STEVEN ich nicht. ich kann den ganzen scheiß hier nicht mehr sehen.

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BAKUNIN AUF DEM RÜCKSITZ (AUSZUG)

CHARLOTTE ich hatte heute fünfzehn anrufe. drei davon kannst du als morddrohung verbuchen. STEVEN klasse gegen klasse. CHARLOTTE ist das witzig. ist das witzig. meine private nummer kursiert da draußen und / du lachst dich kaputt – STEVEN entschuldige. warum rufst du nicht die polizei. CHARLOTTE jemand zu hause, ist da irgendjemand drin. das hab ich. warum lachst du. ist das ein witz. STEVEN ja. nein. CHARLOTTE sag deinem köter, er soll von der couch gehen. STEVEN ändere deine nummer. was erwartest du von rot lackierten faschisten. CHARLOTTE das sind keine faschisten. STEVEN die methode ist faschistisch. was steht denn auf dem plakat. ich habe mit dem kapital paktiert. CHARLOTTE nein, das steht da nicht. STEVEN was ist denn daran anders als wenn da stehen würde, ich habe mit dem bolschewismus / paktiert. CHARLOTTE warum solltest du es lesen. faschismus, sozialismus – alles dasselbe. STEVEN es interessiert mich nicht. CHARLOTTE du hast angst. STEVEN angst. wovor / soll ich denn angst haben. CHARLOTTE du hast angst. angst. sags doch einfach. mein name ist steven bendemann, ich habe angst. STEVEN schwachsinn. wovor. CHARLOTTE du stehst in der schusslinie. dein name sollte da stehen. ich versuche die ganze zeit, irgendwelche karren aus dem dreck zu ziehen, kaufe eine wohnung und krieg eine öffentliche hetzjagd an den hals. und du kaufst und verkaufst wies dir passt – STEVEN pass auf was du sagst. CHARLOTTE wenn sie deine nummer haben, meinst du nicht sie gehen bei dir einen zacken schärfer vor. STEVEN niemand steht in der schusslinie. CHARLOTTE bin ich niemand. STEVEN das palaver kannst du dir in jeder kneipe anhören. die fiese böse aufwertung von unserm kiez vertreibt die armen armen, dabei ist unser armer kiez doch unser kiez und der / muss bitte schön auch arm bleiben – CHARLOTTE lass das. ich brauche das noch. STEVEN die finden das geil, wenns scheiße bleibt. / dass ein haus nach dem andern verfällt und sie sich selber einlullen können – in ihrer zwanzig jahre alten netten kleinen nachbarschaftlichkeit.

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DIRK LAUCKE

CHARLOTTE das ist ein beweismittel, steven. STEVEN es darf nichts rein, es darf nichts raus. CHARLOTTE / du hast sie doch nicht mehr alle. STEVEN / was brennt, brennen lassen. heißt das nicht so. wenn die sache gegessen ist, fühlen sie sich woanders genauso wohl. Pause. STEVEN dein problem bin ich. CHARLOTTE was. STEVEN weil ich von der andern seite bin. der böse onkel mit dem kapital. CHARLOTTE es steht da drin kein wort von verwandtschaftsgraden, die reden vom ausverkauf der stadt / und das ist ja nunmal ein fakt, der – STEVEN dem was. nenn mir ein gesetz, das den bekloppten ausverkauf der stadt / auch nur beim namen nennt. CHARLOTTE wenn ich keine wohnungspolitik mehr führen kann, weil ich alles an den freien markt verschleudert hab, dann hab ich mir in den eigenen fuß geschossen. STEVEN du nennst dein problem nicht beim namen. vetternwirtschaft. riechts nach schmierigen geschäften, wenn du dich mit mir einlässt und / dass diese leute – CHARLOTTE einlassen, so nennst du das beim namen. STEVEN ich nenne das beim namen. CHARLOTTE wie nennst dus denn. STEVEN terror. CHARLOTTE uns. STEVEN was. ach uns, uns nenne ich, das / ist was es ist – CHARLOTTE was denn, was denn ein / prima fick mit der alten vom senat, was dann. STEVEN eine eine, nein nein, eine liebschaft. vive l’amour. CHARLOTTE spinner. sag deinem dreckigen hund, er soll von der couch gehen. STEVEN halbstarke wollen aufmerksamkeit. warst du niemals 17. CHARLOTTE im gegensatz zu dir war ich 17, und ich war genauso drauf, ich hab das durch, castor, häuser, blumen an polizeihelme. STEVEN blumen. CHARLOTTE das ist psychologie. STEVEN das ist keine psychologie, das ist weltfremd. wenn ich polizist gewesen wäre und du hättest mir ein paar blümchen irgendwo hingesteckt, ich hätte mir dich und dein grünzeug als erstes geschnappt und der 17jährigen charlotte die rechtmäßigkeit von staatlicher gewalt und ordnung eingeprügelt. CHARLOTTE aah, lass das, lass mich los. du – jan.

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BAKUNIN AUF DEM RÜCKSITZ (AUSZUG)

Jan kuckt dem Reiben äh Treiben zu. JAN was soll das. STEVEN shit. CHARLOTTE jan, ähm – dreh dich um. umdrehen. was solls eigentlich. es ist das, wonach es aussieht. JAN wonach soll das denn aussehen. CHARLOTTE tu nicht so. JAN was lacht er denn so dämlich. STEVEN nur ein déjà vu. JAN weiß mein vater davon. CHARLOTTE wieso sollte ihn, wieso sollte ihn das was angehen – jetzt geht mir dein gekicher aber auch auf den keks. STEVEN entschuldige. entschuldigung. ich gehe jetzt besser. CHARLOTTE du bleibst. jan, steven. steven, mein sohn jan. JAN ich dachte, wir haben striktes haustierverbot. STEVEN freut mich. JAN nutte. STEVEN das wird schon wieder. CHARLOTTE wie hast du mich genannt. steven, bleib. STEVEN du hättest ruhig mal klopfen können. CHARLOTTE was soll das. warum benimmst du dich wie ein pubertierendes arschloch. du bist doch kein kind mehr. JAN du hättest mal was sagen können. CHARLOTTE das wollte ich. JAN und wann. wenn wir ins schicke loft gezogen sind und der makler mit den dildos vorbei schneit. CHARLOTTE wenn du diesen ton anwendest, rede ich in hundert jahren nicht mit dir. JAN du hast mich doch gerade / arschloch genannt. CHARLOTTE dein schickes loft ist ein böses öko-projekt, aber ich habe nicht das gefühl, dass du hier irgendwas verstehen willst. JAN warum ausgerechnet der. STEVEN warum nicht. CHARLOTTE das geht dich überhaupt nichts an. STEVEN entschuldigung. CHARLOTTE ich meinte herrn weiß-mein-vater-davon. als hätte sein vater sich irgendwann mal für ihn interessiert. wo ist er denn, sein vater. STEVEN ich kann nichtmal sagen, wo mein vater ist. CHARLOTTE wo ist er denn, dein vater. na los, verrat mir, wo dein vater ist. STEVEN ich bin dein vater, luke. Kurze Pause.

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DIRK LAUCKE

JAN warum er. CHARLOTTE das frag ich mich auch grad. STEVEN vergessen wirs. CHARLOTTE was ist an einer wohnung falsch, verrat mir das mal. beute ich jemanden aus. sage ich den leuten, dass sie aus ihrem kiez verschwinden sollen. ich bin doch nicht bescheuert. wir, und dieses wir solltest du nicht vergessen, ziehen dahin, weil es nett ist. JAN nett. CHARLOTTE was haben wir denn vor. eine großbank, ein luxushotel. also komm mir nicht mit deinem grundkurs sozialkunde. JAN du kannst soviel du willst in deiner stadtteilmanagementkacke/ rumrühren – CHARLOTTE quartiersmanagement. zu einer eins wirds nicht reichen. JAN – du bist und bleibst ein ein ein ein teil des problems. STEVEN das sind schon vier probleme in einer person. JAN kannst du den nicht abstellen. CHARLOTTE ich möchte da wohnen und da bin ich ein problem. wo sind wir denn. JAN du du wohnst ja nicht nur. du bringst ja erstens die andern geldsäcke mit. und zweitens deine ganzen scheißansprüche. CHARLOTTE was denn für scheißansprüche. seit wann bin ich denn mit ansprüchen teil eines problems. JAN ordnung, sicherheit, sauberkeit. da wird der kiez erstmal schön gemeinschaftlich umgekrempelt. obdachlose und ausländer raus. CHARLOTTE dass die RAF sich mit deiner rhetorik erlaubt hat, leute umzulegen, ist dir hoffentlich auch klar. JAN ja. CHARLOTTE und. warum legst du mich nicht um. leg mich um. na los, leg mich um. ich habs doch verdient, ich will dahin ziehen mit meinem fetten, fetten geldbeutel. JAN du checkst es nicht. CHARLOTTE leg mich um. jetzt. JAN du checkst es / einfach nicht. CHARLOTTE und danach legst du dich am besten gleich selber um, weil ich nämlich ein sparbuch für dich angelegt habe, womit du wahrscheinlich genauso nach kreuzberg ziehst, und wie ich glaube nicht zu irgendwelchen hartgesottenen assi-proleten, sondern zu zu – was auch immer du darstellen willst. JAN assi-proleten. CHARLOTTE ja, das war nicht pc. hauptsache deinesgleichen, darum gehts dir doch haargenauso wie allen fiesen yuppies und allen bösen rockern, jeder zu seiner klitsche.

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BAKUNIN AUF DEM RÜCKSITZ (AUSZUG)

STEVEN soll ich nicht doch besser gehen. CHARLOTTE ich frage dich noch was. wen erreichen die grafittis, die ich ständig decken muss, die latschdemos, die verbrannten mülltonnen, der ganze kompromisslose gedankenschrott. wen. JAN man muss ja nicht gleich mit seinen kompromissen ins bett gehen. STEVEN das. war. mein. startsignal. CHARLOTTE du kannst das ruhig mitkriegen. die plakate findest du wahrscheinlich auch cool. JAN welche plakate. STEVEN mir reichts. komm pfiffi. CHARLOTTE ich krieg morddrohungen, findest du das cool. STEVEN hund, hund, komm her. / scheißdrauf. Rumms. Steven ist weg. CHARLOTTE ich hab doch schon alles mögliche toleriert. JAN deine toleranz kotzt mich an. BAKUNIN der junge warf einen blick auf mich, als er an der tür stand, keinen schimmer, was er machen soll. Mir schoss jörg durch den kopf, und die hölle.1 ich rollte mich von der couch und ging mit dem jungen da raus. […]

1

die hölle mit jörg bricht aus, als man ihm den räumungsbescheid ins gesicht hält. laberlaber, teile man ihm hiermit den richterlichen beschluss nach paragraph sonstwie mit, dass er zum 21. aus der bude verschwunden sein müsse. – is (ähm), is alles okee (hmh), fragt der kurzbehoste bote der bitteren nachricht. – (ähm, hmh) jörg hält den brief fest. – (ähm) sie müssen hier noch unterschreiben. ist alles in ordnung. (ähm, äh) hallo. hallo. und wie jörg sich keinen zentimeter weit rührt, nimmt der bote jörgs hand und hilft ihm bei der unterschrift ein bisschen – nach. – das (hmh) wird schon wieder, sagt er, und (ähm äh ähm äh) zieht die tür von außen zu. ich kuck jörg an und kann mir ziemlich genau vorstellen, welche schlacht in seinem kopf so wütet, eine endlosschleife verschiedenster warum-fragen, deren eigentliche aussage wahrscheinlich nur in einer formulierung dem ernst und der komplexität der zustände gerecht wird. und diese formulierung lautet nun mal, allen ähms, ähs und hmhs zum trotz, ganz einfach: scheiße. wie auch immer, jörg steht vor seiner eignen tür wie vor der wahl, sich schleunigst aus dem schlamassel zu verpissen oder aber – und das hat auch was für sich – in der beschissnen scheiße zu bleiben, in der er nunmal steckt. und zu sagen, ihr könnt mich. ihr könnt mich alle mal. leider hat er das gemacht.

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7. Charlottes Wohnung./Straße. CHARLOTTE wenn du glaubst, dass du dich vor deiner herkunft verstecken kannst, hast du dich geschnitten. irgendwann kommt der punkt, an dem du nicht mehr weiter weißt. und soll ich dir was sagen. das ist das beste, was dir passieren kann. BAKUNIN wir lungerten in irgendeinen hauseingang herum. er konnte noch nicht mal anständige zigaratten drehen und obwohl er noch billigbier trank würde ich sagen, dass der junge eher von weichem schrot war. JAN was machst du mich hier an. BAKUNIN und ich da eigentlich keine große hoffnung hab, dass die barrikaden, die er mal bauen könnte, jemals mehr sein werden als eine uralte geste seiner jugend. JAN sag mal, was willst du eigentlich von mir. BAKUNIN bakunin. JAN jan. wie war das. BAKUNIN den namen hab ich mir nicht ausgesucht. JAN was hast du gegen den namen. bakunin war anarchist. BAKUNIN er war antisemit. JAN ja und. wer war das nicht. BAKUNIN / arschloch. JAN zu der zeit. was ist. wo wilstn hin. ich hab auch nur gescherzt. BAKUNIN wo hast du scherzen gelernt, bei der napola. JAN und es ist ja auch fakt, oder nicht. BAKUNIN korrekt. fakt ist, dass fast alle dieser weltverbesserer antisemiten waren. fakt ist auch, nicht gerade wenige von denen haben das abgelegt. das ist ja auch der indikator für ihre blödheit oder puren hass. ich meine, wenn du dir ankuckst, wer heute mit dieser wir-verbessern-diewelt-scheiße am hebel sitzt. JAN wo ist denn hier linker scheiß am hebel. CHARLOTTE jan. BAKUNIN es ist bestimmt deine mutter. willst du nicht langsam mal ran gehen. CHARLOTTE jan, es tut mir leid. wir sind beide erwachsene menschen. geh an dein telefon, lass uns die sache aus der welt räumen, ja. BAKUNIN deine mutter, junge, und du gehst nicht ran. JAN meine mutter ist vielleicht sone linke, die am hebel sitzt. aber sie ist keine antisemitin. BAKUNIN sie bumst ja auch das internationale finanzkapital. JAN ey, seh ich vielleicht wie’n fascho aus.

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BAKUNIN ey, was weiß ich, wie faschos heutzutage aussehen. was wird das. JAN unterstellst du mir jetzt die / scheiße. BAKUNIN warum nicht. JAN das ist ein schöner name, bakunin. BAKUNIN / hey, momentchenmal. bind mich los. das meinst du doch nicht ernst. hey, du kannst mich doch hier nicht stehen lassen. JAN irgendjemand nimmt dich schon mit. BAKUNIN das mit dem bumsen war nicht so gemeint. JAN dieser typ ist einfach nur zum kotzen. BAKUNIN welcher typ. JAN der anzugtyp. BAKUNI wieso. JAN das spekulantenschwein. das ist doch kein ehrlich verdientes geld. BAKUNIN was ist denn ehrlich verdientes geld. JAN abzocken jedenfalls nicht. BAKUNIN sich abzocken lassen, ist doch genauso bescheuert, findest du nicht. wenn du hier den unterschied zwischen bösem raffenden und gutem schaffenden kapital aufmachen willst, bist du erstens absolut nicht kapitalismuskritisch, und zweitens wirklich n fascho. JAN häh. BAKUNIN naja, dieselbe sprache, die logik. gemeinsam, treu und bodenständig gegen diese herrsch- und geldsüchtige elite da oben, etcetera etcetera, den rest spar ich mir. JAN der anzugtyp ist trotzdem zum kotzen. BAKUNIN kann ich nicht beurteilen, ich hab nie groß familie gehabt. CHARLOTTE falls du noch vorhast, dich zu melden und hier aufzutauchen, solltest du es bald tun. diese blöden plakate schaffen mich. ich kann nicht mal mehr irgendwo einkaufen gehen oder essen. oder auf dem sofa sitzen, ständig habe ich das gefühl, dass gleich ein stein durchs fenster fliegt. warum bin ich denn gleich das gentrifiziererschwein. ich hab seit tagen nicht geschlafen. ich würd jetzt mal versuchen mich hinzulegen. wenn du mich nochmal erreichen willst, solltest du es bald tun. BAKUNIN mir war der typ sympathisch. JAN glaubst du vielleicht, wenn geld irgendwo hinkommt, kommt es in friedlicher absicht. wozu sind denn sonst die zäune da. die überwachungskameras, die sicherheitsfirmen. wozu parken die ihre luxuskarossen auf dem balkon. BAKUNIN ist ja gut, ist ja gut. JAN irgendwann fangen die reichen wichser an, die gegend aufzuhübschen und ziehen noch mehr reiche wichser an. im park wird uns zuviel gedealt, das ist echt nicht gut für unsre kinder. und dann werden die ille-

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galisierten afrikaner eben solange von den bullen schikaniert, bis man sie endlich abschieben kann. wenn sie sich nicht von selber verpissen. in der schule wird uns zu viel türkisch gesprochen. das ist echt nicht gut für unsere kinder. der arbeitsmarkt ist viel zu hart, als dass unsere kinder auch noch ständig diejenigen mitziehen müssen, die eh kein bock haben und die es eh nicht bringen. also engagieren diese leute sich im elternrat. oder hauen gleich irgendwelche privatschulen in die gegend. rein weiß. CHARLOTTE da du dich nicht meldest, habe ich jetzt schlaftabletten genommen. so in zwanzig minuten werde ich wohl nicht mehr auf deinen anruf reagieren können, also melde dich vorher. JAN wir wählen alle grün und sind für multikulti, aber wir wissen auch nicht, warum wir außer schweden und franzosen nix internationales in die kita kriegen. CHARLOTTE glaub ja nicht, dass du dieselbe masche wie dein vater abziehen kannst. dich in luft auflösen und schon sind die probleme vergessen. wenn du ein klein bisschen mehr anstand hast als er, lässt du mich nicht einfach hängen. JAN auf die idee, dass ihr ganzer biokram und pekipscheiß denen einfach zu teuer ist, zum kotzen, darauf kommen / die nicht. BAKUNIN und. und. JAN was und. BAKUNIN was erzählst du mir das. bin ich deine mutter. wie sieht der subversive gegenplan aus. bind mich los. JAN welcher gegenplan. das sind einfach mal die fakten. BAKUNIN wenn die reichen wichser keinen bock haben herzukommen. wenn man ihnen einfach jeden tag penetrant genug versaut, bleibt alles wie es ist, und das willst du doch. ich rede hier von deattraktivierung.2

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es bietet sich an, dass ich hier ausnahmsweise mal ein paar stellen aus meinem werk Handbuch für Großstadtkommunarden zitiere, das ich über die zeit hinweg zusammen geschustert habe. das ›Handbuch‹ ist unvollendet, und von veröffentlichung wollen wir gar nicht groß die rede schwingen. hier einfach das zitat: »Farbeier oder Farbbeutel*(81) sind manuelle Wurfgeschosse und werden i.d.R. mit dem Ziel gebraucht, um gegnerischer Personen, Gebäude oder Sachen öffentlich zu schädigen oder zu stigmatisieren. Prominente Opfer von Farbbeutelanschlägen wurden aus Kino und TV allseits bekannte PelzträgerInnen oder der ehemalige Außenminister der rot-grünen Kriegsbefürwortungskoalition Joschka Fischer im Mai 1999 in Bielefeld (Vgl. hierzu Kapitel 12: In Zeiten des Verrats sind die Landschaften grün; Register: → Antiimperialismus, deutscher; → Persilschein; → Völkermord, Kiffen gegen den.)

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aber was erzähl ich dir das. du bist doch auch son reicher wichser von woanders her. bind mich los. JAN ich geh noch zur schule, ich bin gar nichts. […]

*(81) Farbbeutel bestehen aus kleinen, mit Abtön- oder Lackfarbe (möglichst schwer entfernbar) gefüllten PVC-Beuteln. Häufig gebraucht werden dazu handelsübliche Luftballons, die im Stile der guten alten – wir kennen sie von diversen Kindergeburtstagen oder adolszenten Klassenfahrten – »Wasserbombe« angefertigt werden. Die Farbe gelangt in recht praktischen Dosen über Schampoo-Flaschen o.Ä. in den darüber gestülpten Ballon: Nochmal schütteln, umdrehen, ab die Post! Farbeier hingegen beruhen in ihrer Konstruktion eher auf dem ebenfalls durch die menschliche Sozialisation bekannten (allerdings eher präadolaszenten) Osterei-Prinzip: Hühnereier*(a) werden beidseitig mit einer Nadel oder einem ähnlichen spitzen Gegenstand angestochen, der Inhalt nach dem schon erwähnten Prinzip ausgeblasen, eine der beiden Öffnungen mit heißem Wachs verschlossen. Kurz erkalten lassen. In die andere Öffnung mittels einer handelsüblichen Spritze (Kanüle nicht von Nöten) ebenso handelsübliche Abtönfarbe oder Lack (Farbwahl ganz nach eigenem Geschmack und Zielsetzung) gefüllt. Öffnung ebenfalls mit Wachs verschließen. In den beim Eierkauf mit erworbenen Ei-Kartons ist auch eine kleinere Menge F. leicht transportabel. (Sechserpack oder Zwölfer, je nach Lust und Laune, wobei sich das kleinere Sechserpack u.U. besser eignet, da die Verstauung in szene-modischen Umhängeoder Gürteltaschen, unter der Jacke o.Ä. weniger aufwendig erscheint und das Objekt bei eventuellen polizeilichen Personenkontrollen leichter übersehen oder vom Nutzer unaufwendiger präventiv entsorgt oder versteckt werden kann.) *(a) Da in differierenden Jugend- und Protestkulturen auch ein breites Spektrum an Einstellungen bzgl. der Verwendung oder Nutzung von tierischen Produkten besteht – stark ausgeprägt bei Anhängern der Tierrechtsbewegungen oder Vertretern der Vegan-Kultur (→ Anti-Spezieismus) –, werden Farbeier aus Hühnerei-Produktion von einem Teil der Protestierenden weder produziert noch verwendet. Gegen Farbbeutel hingegen bestehen – zumindest in ihrer Zusammensetzung – keine weiteren tierrechtlichen Bedenken.« ich gebe zu, dieser ausschnitt macht nicht grad lust auf das gesamte werk, aber ich hab ihn ja hier nur angebracht, um die bedeutung der farbeier und beutel im sozialen kampf um rechte, ressourcen und lebensräume, dem, was mit diesem steven, seinem maßgeschneiderten anzug oder seiner bude passiern könnte. nur um das mal ins lichtige richt, richtige licht zu rücken. gott, dieses verdammte scheißgas ist echt ein elender trip. jedenfalls, da geht noch einiges.

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13. Jörgs Wohnung. EDDI was ist denn jetzt mit dem job. ich muss. ich hätte längst bei frau beierlein sein müssen. STEVEN mein vater hat auch immer johnny cash gehört. EDDI etepetete. ich nenn die so, weil sie früher mal kohle gehabt hat, so redet, piekfein und so. STEVEN johnny cash, johnny cash. und selber pfeifst du aus dem letzten loch, papi. EDDI ist nicht die jüngste. zweiundneunzig, kriegt kaum einen fuß vor den andern. trotzdem will sie jeden tag spazieren gehen. ich sag, frau beierlein, das ist nicht drin, nehmen sie den rollstuhl. die frau lässt sich nicht unterkriegen. tausendmal fragt sie nach, ob auch ja alles seine ordnung hat, ob ich auch ja nicht das geschirr falsch abgestellt hab. nichts geklaut. STEVEN hast du. EDDI spinnst du. das letzte mal als ich sie die treppe runter gewuchtet hab, hat sie irgendwas über die ganzen schmarotzer erzählt, die dieses land in den abgrund führen. die stufen so steil, so, die alte wiegt ne tonne und erzählt munter weiter, dass ich richtige arbeit gar nicht kennen würde. ich brech halb unter ihr zusammen und die erzählt mir was von richtiger arbeit. für einen moment hab ich sie losgelassen und schon gesehen, wie sie die treppen runter segelt und ich ihr gesicht und ihr piekfeines gerede nie mehr sehen muss. ich hab sie nicht fallen gelassen. kannste nicht machen. ist wahrscheinlich echt an der zeit fürn andern job. Pause. EDDI was ist aus ihm geworden. STEVEN wem. EDDI na, dein vater, auch ein pflegefall, oder was. STEVEN mein vater hat immer von alaska geredet, aber er wird nie dahin gekommen sein. EDDI noch son spinner wie jörg. STEVEN bevor mir diese ganzen penner da draußen noch mehr / auf den keks gehen, oder – EDDI auf den keks gehen, oder ich ihnen. jörgs rede. Pause. EDDI was. was. STEVEN auf dem klingelschild steht cash. auf dem klingelschild steht cash. EDDI jot wie johnny, j. cash, das ist, das war seine macke.

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BAKUNIN AUF DEM RÜCKSITZ (AUSZUG)

STEVEN kuck nicht so, verdammte dreckstöle. EDDI was ist denn jetzt abgebrochen. STEVEN wieso steht da cash, das kann man doch nicht machen. das ist doch nicht erlaubt, sich hinter falschem namen zu verstecken. EDDI wenn er keine post will. was ist mit dir, du weißt doch seinen namen. STEVEN weiß ich, weiß ich, du verstehst es nicht. EDDI er hieß bendemann, na und. STEVEN na und. abend, bendemann, ich möchte eine fehleinschätzung melden. bendemann. hier. ich. EDDI der name ist ja nicht grad selten. STEVEN das ist er aber. mein fleisch, mein blut, mein alkoholikerpapa. EDDI ich glaub, da ist vorhin zuviel passiert. setz dich mal. STEVEN fassmichnichtan. EDDI entschuldigung. ich hab mir das doch schon angezogen. was soll ich noch machen. STEVEN abhauen. EDDI macht das einen unterschied. STEVEN verpiss dich. EDDI wieso macht das plötzlich einen unterschied. du hast ihn ewig nicht gesehen. was ist wenn er bei einem einem autounfall / ge-gedingst – STEVEN wäre er das mal. EDDI hast du den gashahn aufgedreht. nein, also. STEVEN kuck nicht so. EDDI wie bitte. STEVEN kuck nicht so. EDDI lass den hund in ruhe. okee, okee, dann isses eben so. scheiße. was solls, du – STEVEN was. EDDI du – STEVEN was. EDDI was. was ist. was ist mit dem job. ich schluck das auch nicht wie sahnebonbons. STEVEN kuck nicht so, du verdammte dreckstöle, warum hast du kein wort gesagt, ich mach dich fertig, ich schlag dich tot.3 3

Anm. Bakunin: apropos alaska. nach den vorfällen mit jörg ist mir eine idee gekommen. eine geschichte, vielleicht für einen film. er handelt in alaska. apropos, vielleicht ist das ein geiler titel, apropos alaska. ist doch ne alliteration und solche stilmittel kommen immer gut, außerdem geht apropos alaska ganz gut ins ohr. wie auch immer, als die geschichte anfängt, ist der protagonist von apropos alaska schon tot. sowas wollte ich schon immer mal sehen.

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DIRK LAUCKE

er war ein alter ähm äh inuit-häuptling. oder ein alter weiser inuit. oder einfach nur ein alter einfacher inuit, dessen grundstück platt gemacht werden soll, weil dort, wo sein haus steht, öl gefunden wurde. der alte inuit war aber ziemlich verwurzelt da in seiner region und hat da vielleicht auch noch an das eine oder andere gespenst geglaubt, ich meine geist, der auf diesem grund und boden haust. kurz gesagt, er hat dem fortschritt und raubbau an seinem boden nicht weichen wollen. leider kannte er die gesetzlichen mittel nicht so gut, wie man der ölbohrung entgeht, einfach ne klage starten oder so. außerdem würde das den film in einem gerichtsdrama enden lassen und ich hasse diese schinken, wo inuitgeister zum letzten gefecht blasen. wie auch immer, der junge erreicht das haus mit letzter kraft und macht einen anschlag auf eins der baufahrzeuge, um das ganze unternehmen in schutt und asche zu legen. natürlich wird er dabei von den schergen des ölbohrfuzzis überrumpelt und typen in anzügen die ganze zeit nur labern. egal. jedenfalls hat er keinen ausweg mehr gewusst und sich umgebracht in seiner alten blockhütte da mitten in der wildnis. vielleicht wars auch ein protest oder so, das kann man ja im unklaren lassen. wichtig ist: pünktlich zu seinem tod treten da natürlich die geschäftsleute der ölbohrfirma auf. einer davon ist ein ziemlich fertiger typ, der eine beziehung mit ner braut aus der lokalen ähm distrikt-regierung oder wie das heißt, unterhält. und der will anfangen, jetzt das haus platt zu machen, um mit den ölbohrungen anzufangen. er erledigt nur noch das nötigste, vögelt seine alte von der regierung nochmal, kommt zurück und – er kann nicht anfangen. in der hütte sitzen zwei bräute, die dem alten inuit ihren tribut zollen. sie ziehen irgendwelche mystischen rituale ab, tänze oder so, kann man ja nachforschen. jedenfalls kennen sie die ganze inuit-sache ziemlich gut, weil eine von den beiden ist selber alte inuit-tante, die andere, natürlich die attraktive jüngere lebt mehr so zwischen den welten. das heißt sie ist halbe inuit, oder setzt sich nur für sie ein, sie pendelt zwischen der nächstgrößten stadt und den ganzen einsiedlern da draußen hin und her. vielleicht sone art sozialarbeiterin oder inuit-beauftragte. ist ja auch egal, als die beiden bräute ihr rituale da abziehen und da mittenrein auch noch unser ölbohrfuzzi platzt, ist der schaden natürlich komplett. die bulldozer stehen vor der tür und die mädels wollen ihre abschiedsrituale zu ende bringen. sie weisen den ölbohrfuzzi darauf hin, dass das hier eigentlich ein boden ist, der nicht von seiner drecksindustrie angerührt werden sollte. da scheißt der natürlich drauf, aber irgendwas hat der an sich, dass man denkt, der hat doch den komplettschaden, der typ. ich meine, der ist richtig wütend auf die ganzen ganzen traumfänger, robbenfelle, wurzelpasten und lebertran-gebräue und sowas. son richtiger sozialdarwinist. und da passierts – scheiße, ich hab noch vergessen, den nebenstrang zu erwähnen. der ölbohrfuzzi hat doch was mit dieser regierungsbraut. und die hat einen sohn, der sich sozial engagiert. gegen die unterdrückung und sowas. was weiß ich, vielleicht hat er eine inuitfreundin oder hat jemanden kennen gelernt. vielleicht ist auch der geist

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des toten in ihn reingefahren, aber das ist zu sehr sixth sense. der junge hat auf irgendeine art und weise stress mit den ölbohrfuzzi, vielleicht weil er die mutter auch noch scheiße behandelt. oder nein, er studiert das mit den inuits, das ist sein ding. und als er rauskriegt, was fürn fieser typ der stecher seiner mutter ist – er sitzt vorm rechner, recherchiert, recherchiert, labert mit leuten, und er findet raus, was da gerade am anderen ende der eiswüste läuft, und da fährt er kurzerhand mit seinem pickup oder motorrad los – motorrad passt besser zu so einem. er fährt also mit seinem motorrad mitten durch einen einen sowas von bösartigen schneesturm, der sich schon die ganze zeit über angekündigt hat, und vielleicht auch sowas aufmacht wie die vorahnung, dass die beraubten fest gehalten. als der ölbohrfuzzi merkt, dass es der sohn seiner ische ist, hat er ein problem. den jungen einfach fertig machen – kann er nicht. ihn zu seiner mutter zurück bringen – geht auch nicht, weil sie ja dann die ganze fiese wahrheit über seine methoden erfährt. also muss er sich was einfallen lassen, wie der junge bei einem tragischen unfall irgendwo ums leben kommt, zum beispiel. und natürlich gibts son hin und her und ich hab mir überlegt, dass letzten endes eine der beiden inuit-sympathisantinnen dem jungen hilft und die dann gemeinsam diese baustelle ein für alle mal erledigen. die braut von der regierung erlässt noch irgendein naturschutzgesetz für beschränkung der bohrungen, oder so. nee, das ist quatsch. nach dem hin und her, was zu machen ist, zeigt der ölbohrfuzzi dem jungen, wer am längeren hebel sitzt. entweder kostet das bekanntwerden des öko-terrorismus ihres sohnes der regierungsbraut den job, oder der jungspund hält einfach die klappe. so muss der junge machen, was er machen muss, wenn er seine mutter nicht unter dieses eine popelanwesen stellen will. er hält die klappe. nicht ohne trickreich zu sein, versteht sich. natürlich kommt er wieder, und zwar zusammen mit der inuit-alten um sich vor die vor die hütte zu ketten. wenn die bagger kommen, müssten diese über leichen gehen. über noch mehr leichen, in dem fall. und es sieht alles danach aus. das problem ist nur, dass der ölbohrfuzzi währenddessen sich mit dieser jüngeren inuittante einlässt und rausfindet, dass der alte tote inuit sein vater sein muss. er wills erst nicht glauben, dann kapiert ers und dann – weiß er gar nichts mehr. sein ganzes leben hat er gedacht, dass er soweit weg ist vom einfachen volk, dass er die ganze zeit gemütlich drauf rum trampeln konnte. und jetzt findet er raus, dass einer von dieser beschränkten masse sein vater ist. äh war. also besinnt sich der ölbohrfuzzi, in letzter sekunde, während die bagger auf die angeketteten zurollen und macht der scheiße ein ende. irgendas ist dann noch mit der regierungsbraut, aber das ist kleinkram. ich meine mir ist schon klar, dass das eine volkkomen affirmative geschichte für die bestehenden verhältnisse ist, zumal ja alles auf die kraft der einsicht des ölbohrfuzzis setzt und weder ölbohrungen an sich, vater staat, der sinn von sozialarbeit oder die nicht grad rosigen verhältnisse der mit sicherheit schwer alkoholkranken inuits in frage gestellt werden. ich meine, reservat bleibt am ende reservat, und dass die in-

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14. Charlottes Wohnung. CHARLOTTE was hast du gemacht. JAN nichts. CHARLOTTE kuck dich an, du hast doch was gemacht. weißt du, wie spät es ist. was wird das. JAN packen. du hast es verstanden. CHARLOTTE wenn ich mich recht erinnere, solltest du noch ein bisschen was für sozialkunde machen. JAN geographie. das fach heißt geographie. CHARLOTTE dann heißt es eben geographie, aber es ist prüfungszeit. JAN pff. CHARLOTTE was pff. was ist mit deinem gesicht passiert. scheiß doch auf alles. du bist gerade mal in der lage, dir selbständig die schuhe zu zu binden und da ist dir alles egal. wo willst du wohnen, jan. wo willst du wohnen. JAN kann dir egal sein. CHARLOTTE ist mir aber nicht egal, weil ich mit sicherheit zur kasse / gebeten werde. JAN behalt dein geld. CHARLOTTE wohnung, klamotten und essen. JAN behalt doch dein verficktes geld. CHARLOTTE als ich dasselbe mit meinen eltern veranstaltet habe, dieselbe show, sachen packen, rumbrüllen, und abhauen, da hatte ich wenigstens was in petto, das dir total abgeht. JAN den sozialstaat. CHARLOTTE freunde. vielleicht tuts dir auch ganz gut, ein paar tage obdachlos zu spielen. warm genug ist es draußen. was ist mit deinem gesicht passiert. JAN fickdichdoch. CHARLOTTE hey. so redest du nicht mit mir. JAN wie redest du denn mit mir. hach, schafft der junge seine prüfung. was hat er denn für eine wohnung. hat er denn auch freunde. dir fällt doch sowieso nichts anderes ein. wies mir dabei geht, hast du nie gefragt. uits mit dem scheißöl vielleicht jede menge jobs gekriegt hätten, die zumindest ein besseres leben im falschen ermöglicht hätten, das wird auch nicht erwähnt. aber mit dieser art geschichte wollte ich ja irgendwie auch geld verdienen und nicht vom philosophischen quartett besprochen werden, falls es das noch gibt.

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CHARLOTTE was kommt denn raus, wenn ich dich frage. nichts. JAN ich ziehe in kein verficktes carloft. CHARLOTTE und hör auf rumzubrüllen. JAN ich hab nicht gebrüllt. CHARLOTTE vielleicht solltest du das mal. JAN na was denn jetzt. brüll nicht rum, brüll rum. vielleicht kommst du selber mal über deinen ex-mann weg ehe du versuchst, mich zu erziehen. oder groß politik machen. CHARLOTTE was ist das. JAN weiß ich nicht. was ist das. CHARLOTTE das ist ein plakat. JAN das sind schnipsel. CHARLOTTE das war ein plakat, jetzt sind es schnipsel. das bin ich, hier hier. das ist meine telefonnummer, meine addresse, mein weg zur arbeit, mein auto, mein kennzeichen. bin ich freiwild. bin ich ein nazi. JAN vielleicht waren das ja die nazis. CHARLOTTE nazis hängen nicht solche plakate auf. JAN ich sehe nichts von einem plakat. CHARLOTTE wenn in jedem besetzten haus oder wohnprojekt solche leute sitzen, sollte man diese dinger allesamt verdammt nochmal schließen. JAN die warns wieder, alles klar. CHARLOTTE das weißt du doch genauso wie ich. JAN was weiß ich. das ist kein plakat. das ist ein haufen fetzen. CHARLOTTE ich war in deinem zimmer. JAN was machst du in meinem zimmer. CHARLOTTE ich darf das, ich bin teil des problems, nicht der lösung. JAN was hast du gefunden. stifte. papier. einen rechner. soll ich dir was sagen, vielleicht ist es genau richtig, sone dinger in die ganze stadt zu pflastern. scheiße. Steven steht in der Tür. CHARLOTTE kuck du nicht auch noch so, steven. ich setze mich mein ganzes leben mit den problemen anderer leute auseinander und alles was ich dafür kriege, ist hass direkt in mein wohnzimmer. JAN vielleicht setzt du dich ja für die falschen leute ein. STEVEN was ist denn mit seinem gesicht passiert. CHARLOTTE nicht auf die couch, nicht auf die couch. was macht der schmutzige hund schon wieder hier. STEVEN warst du das. CHARLOTTE wie bitte. STEVEN naja, vielleicht – kleiner scherz.

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JAN er war das. CHARLOTTE hör auf, solche behauptungen in die welt zu setzen. mein sohn hat die plakate gemalt. was gibts denn da zu lachen. JAN das sind schnipsel. hör auf zu lachen. wen willstn du eigentlich fertig machen. sie oder mich. CHARLOTTE weshalb sollte steven mich fertig machen. hat er vielleicht die plakate gemalt. JAN er hat mir das angetan. CHARLOTTE wegen der plakate. STEVEN plakate. JAN mit meinem vater wärst du nicht so drauf gekommen. CHARLOTTE dein vater hat sich ohne ein wort aus meinem leben verabschiedet. ohne ein verdammtes wort. aber dich schmeiße ich selber raus. was ist. / du wolltest doch gehen. hau ab, du topterrorist. JAN mama. CHARLOTTE und du, hör auf zu lachen. geh endlich, jan. Jan machts. Steven lacht. CHARLOTTE vergiss den hund nicht. Steven lacht weiter.

15. Straße. EDDI udo liegt vorm kaisers, diesmal unterm rollator. er quatscht einen passanten an, ob er nicht ne kippe hat. er kriegt eine. dann fragt udo, ob der passant nicht den notarzt rufen kann, er kommt nicht mehr nach hause. ich hab ihm schon drei mal den notarzt gerufen. in den letzten zwei monaten. und am nächsten tag stand er wieder da. ICH HAB DIR SCHON DREIMAL DEN NOTARZT GERUFEN. UND AM NÄCHSTEN TAG STANDST DU WIEDER MIT DEINER PULLE DA. MICH BRINGT AUCH KEINER NACH HAUSE. MICH BRINGT AUCH / KEINER NACH HAUSE. CHARLOTTE lassen sie den mann in ruhe. lassen sie den mann in ruhe. EDDI sie können mir gar nichts sagen – sie sind doch die. CHARLOTTE hauen sie ab. EDDI sie sind doch die mit dem carloft. CHARLOTTE abhauen.

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16. Jörgs Wohnung. MONI haah. – hast du mich erschreckt. mein herz, ach du gutegüte. JAN ich bin zuhause raus geflogen. MONI und jetzt warteste bis dein zuhause hier her kommt. JAN nee. Pause. MONI mein ex wohnt in ner laube. einer meiner exe. den hab ich auch rausgeschmissen. da ist ihm nichts besseres eingefallen, als in seine gartenlaube zu ziehen. wo er heute noch drin sitzt. 5 jahre lang, winter für winter. – wenigstens braucht der keine angst zu haben, dass jemand ihm die kolonie wegnimmt. JAN irgendwann kommt immer irgendwer. MONI das müssen die erstmal hinkriegen, uns hier raus zu schmeißen. JAN was ist. MONI ich helfe den leuten in meiner kneipe die hartzvier anträge auszufüllen, damit die ihre zeche an mich zahlen und ich meine ladenmiete. ich bleib hier. JAN das geht nicht. MONI und wie das geht. JAN das geht nicht. MONI und ich sagte, und wie das geht, was is dein problem, hastes dir anders überlegt, machstes dir doch schön fein hier. JAN ich fackel den laden ab.

17. Auto. STEVEN tierheim, kiesgrube, soll ich dich irgendwo anders rauslassen. BAKUNIN wann gehts denn los. STEVEN was. BAKUNIN wann kommen denn bagger und abrissbirne. STEVEN arbeiter. es kommen arbeiter, ich reiß nichts ab. BAKUNIN und. STEVEN was und. lass mich in ruhe damit. BAKUNIN und wie kriegst du sie, deine ruhe. STEVEN gar nicht. wie soll ich sie denn kriegen. einfach weg fahren. schwupps, vergessen, alles primstens, mir gehts gut. ich komm da nicht raus. aus dem verfickten carloft komme ich niemehr raus. BAKUNIN ist das ding versichert. 483

DIRK LAUCKE

STEVEN hä. BAKUNIN dein auto hat schonmal keine vollkasko, wie siehts mit dem haus aus. ist das versichert. ich meine ja nur, für den fall, dass was damit mal was passiert und du trotzdem genug kohle in der tasche haben willst, um weit weit weg zu fahren. nach alasaka, was weiß ich. ein brand oder so. STEVEN ein brand. BAKUNIN wir hielten an einer kreuzung. eine polizeiwanne an der andern. dahinter zog der schwarz verkleidete mob vorbei, KEIN GOTT KEIN STAAT ALLE MACHT DEM – hab ich vergessen. ich konnte die augen kaum aufhalten und wartete, bis die aktivisten vorbei gezogen waren. eigentlich kann sich jeder ausmalen, wie die sache enden würde. die versammlung aufgelöst, stress, material für den ermittlungsausschuss und die bullen würden weißgott keine engel sein. wie auf fernschaltung flogen sie schon, die ersten oder letzten farbeier. oder farbbeutel. die ersten oder letzten bullen zogen die ersten oder letzten leute raus. und aus dem lauti mit den obligatorischen boxen auf dem dach hetzte die stimme eines typen, den man nie zu gesicht bekam, erst seine drei semester politik, soziologie und philosophie runter und dann seinen hass gegen alles fremde UND DIESE TOURISTEN, DIE TÄGLICH UNSERE STRASSEN VERSTOPFEN, TRAGEN GENAUSO ZUR VERDRÄNGUNG BEI – ein tourist am straßenrand verschickte den 10-sekunden film von seinem handy, und ich musste kotzen. so viel daran wahr ist und so gerne ich auch tanzen würde, nicht auf dieser revolution. ENDE

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AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Hans-Peter Bayerdörfer, Prof. Dr., Professor (emeritus) für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsund Publikationsschwerpunkte: Theatergeschichte und -theorie seit der Aufklärung, u.a. im 19. Jahrhundert, der Jahrhundertwende, der Weimarer Republik und der Theaterentwicklung seit 1945. Besondere Interessen für jüdisch-deutsche Kultur- und Theaterbeziehungen seit Lessing, für das Verhältnis zu den Theaterkulturen der östlichen Nachbarn, insbesondere Polens, sowie – im außereuropäischen Zusammenhang – für die Traditionstheater Ostasiens, vor allem Japans. Herausgebertätigkeit: Theatron (Bde. 1–53); Forum Modernes Theater (Jgg. 1–22). Sprecher der DFG-Forschergruppe Kulturelle Inszenierung von Fremdheit im 19. Jahrhundert (2001–2007). Emmanuel Béhague, Dr. phil., Maître de conférences am Institut für Germanistik/Université de Strasbourg. Monographie: Le théâtre dans le réel. Formes d'un théâtre politique allemand après la réunification (1990-2000) (Presses Universitaires de Strasbourg 2006). Sammelbände: L'identité collective et sa représentation dans le cinéma, le théâtre et la littérature d'aujourd'hui (Recherches Germaniques, Strasbourg 2007) – herausgegeben mit Valérie Carré; Politique culturelle en RFA: questionnements et enjeux contemporains (Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande, Strasbourg 2010). Beata Drygała, Mag., Doktorandin am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz/Universität Łódź. Izabela Działak, Mag., Doktorandin am Lehrstuhl für Österreichische Literatur und Kultur/Adam-Mickiewicz-Universität Poznań; Promoviert zum Thema Narzisstische Spuren in den österreichischen Autobiographien anhand ausgewählter Werke aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Andreas Englhart, Prof. Dr., zurzeit Professor für Theaterwissenschaft (Vertretung) am Dept. Kunstwissenschaften der LMU München und Dozent am Centre for British Studies der Universität Bamberg; Publikatio-

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DAS DRAMA NACH DEM DRAMA

nen u.a. Einführung in die moderne Theaterwissenschaft (m. J. von Brincken, WBG 2008) und Einführung in das Werk Friedrich Schillers (WBG 2010). Torsten Erdbrügger, M.A., Mitglied des Promotionsstudiengangs »Transnationalisierung und Regionaliserung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart« der Research Academy Leipzig; Sammelband (mit Ilse Nagelschmidt und Inga Probst): Geschlechtergedächtnisse. Gender-Konstellationen und Erinnerungsmuster in Literatur und Film der Gegenwart (Frank & Timme 2010). Gabriele Feulner, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf; Monographie: Mythos Künstler. Konstruktionen und Destruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts (Erich Schmidt 2010). Bernadette Grubner, M.A., Doktorandin an der Freien Universität Berlin (Promotion in Neuerer Deutscher Literatur zur Dramenästhetik von Peter Hacks); freie Übersetzerin. Jüngste Arbeiten: Aufsätze und Vorträge zu Peter Hacks; Übersetzung: Guy Debord, Ausgewählte Briefe 19571994 (aus dem Französischen gemeinsam mit Roman Kuhn, Birgit Lulay und Christoph Plutte), Edition Tiamat: Berlin 2011. Guido Hiß, Prof. Dr., Professor für Theaterwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum, Monographien: Der theatralische Blick. Einführung in die Aufführungsanalyse (Reimer 1993); Synthetische Visionen. Theater als Gesamtkunstwerk von 1800 bis 2000 (Epodium 2005), Mitherausgeber des Jahrbuchs Schauplatz Ruhr (Theater der Zeit) sowie der Reihe Aesthetica Theatralia (Epodium). Elfriede Jelinek, geb. 1945 in Mürzzuschlag/Steiermark, Schriftstellerin, Philosophin, Nobelpreisträgerin (2004); Gedichte, Romane, Theatertexte, Drehbücher, Libretti, Hörspiele, Essays, politische Reden, Übersetzungen u.a. Vgl. http://www.elfriedejelinek.com/ Jean Jourdheuil, Regisseur, Autor von Theaterstücken sowie Drehbüchern für Filme von René Allio sowie Übersetzer (u.a. Brecht, Büchner, Valentin, Kleist, Müller). Er unterrichtet ebenso an der Universität ParisNanterre und inszenierte zuletzt Germania 3 von Heiner Müller in Lissabon, Mozarts La Finta Giardiniera und Idomeneo in Stuttgart sowie Müllers Philoktet und eine Hommage an Michel Foucault in Paris.

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Barbara Kastner, studierte in Berlin und São Paulo Theater- und Kommunikationswissenschaft. Nach Engagements u.a. am Theaterhaus Jena und an den städtischen Bühnen Münster arbeitet sie seit 2008 als Dramaturgin am Ballhaus Naunynstraße. Oliver Kluck, geboren 1980 in Bergen auf der Insel Rügen, arbeitet als freier Schriftsteller. Zuvor: Berufsausbildung, erstes Studium, zweites Studium, erster Förderpreis, nächster Förderpreis, Teilnahme an mehreren einschlägigen Workshops. Heute: Uraufführungen, Nachspiele, Hörspielfassungen, Stückabdrucke und Veröffentlichungen. Momentane Tätigkeit: Arbeit am Romanprojekt. Tunçay Kulaoğlu, lebt und arbeitet als Filmemacher, Dramaturg und Übersetzer in Berlin. Für Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke? wurde er mit Nurkan Erpulat in Theater heute als Nachwuchsautor nominiert. Kalina Kupczyńska, Dr. phil., wiss. Assistentin am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz/Universität Łódź; Sammelbände: Verbalisierung und Visualisierung der Erinnerung. Literatur und Medien in Österreich (Wyd. Uniwersytetu Lodzkiego 2008), Lust im Text. Eros in Sprache und Literatur (Praesens 2009). Grażyna Kwiecińska, Prof. Dr., seit 2006 Leiterin der Abteilung für Literaturgeschichte und -theorie am Germanistischen Institut der Universität Warschau; Monographie: Hermann Brochs Engagement für die Demokratie. Literatur und Politik (Ekochem 1999). Shermin Langhoff, kam 1978 nach Deutschland und landete nach langen Jahren beim Film mit Fatih Akin u.a. am Theater als Kuratorin und Künstlerische Leiterin von Festivals wie beyond belonging und Produktionen wie Schwarze Jungfrauen am HAU. 2008 gründete sie das postmigrantische Theater Ballhaus Naunynstraße. Dirk Laucke, geb. 1982 in Schkeuditz (Sachsen), 2004 bis 2008 Studium an der UdK. Kleistförderpreis für junge Dramatiker 2006 für altes ford escort dunkelblau (UA: 27.01.2007 im Theater Osnabrück, R: Henning Bock). 2009 Förderpreis zum Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und 2010 Dramatikerpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Zuletzt wurde am 8.10.2010 sein Stück Bakunin auf dem Rücksitz am Deutschen Theater Berlin von Sabine Auf der Heyde uraufgeführt.

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DAS DRAMA NACH DEM DRAMA

Brigitte Marschall, Univ. Prof. am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Lehr- und Forschungstätigkeit an den Universitäten Bern, Tokyo, Tel Aviv und Boston. Monographien: Ich bin der Mythe. Von der Stegreifbühne zum Psychodrama Jakob Levy Morenos (Böhlau 1988); Die Droge und ihr Double. Zur Theatralität anderer Bewußtseinszustände (Böhlau 2000); Politisches Theater nach 1950 (UTB Taschenbuch, Böhlau 2010); Sammelbände: Theater am Hof und für das Volk. Beiträge zur Vergleichenden Theater- und Kulturgeschichte (Böhlau 2002); 50 Jahre Theater in Österreich. Verzeichnis der Inszenierungen 1945-1995 (LIS Reinisch OEG 2003). Marius von Mayenburg, geb. 1972 in München, 1994 bis 1998 Studium an der Hochschule der Künste. 1998 bis 1999 Dramaturgie-Mitarbeit an der DT-Baracke, seit 1999 Dramaturg und Hausautor an der Schaubühne am Lehniner Platz. Regiearbeit, Übersetzungen. Kleistförderpreis für junge Dramatiker 1997 für Feuergesicht (UA: 10.10.1998 an den Münchner Kammerspielen, R: Jan Bosse). Das Stück wurde bislang in mehr als 30 Sprachen übersetzt und weltweit inszeniert. Zahlreiche Inszenierungen auch seiner weiteren Stücke im In- und Ausland (Parasiten, Das kalte Kind, Eldorado u.a.). Der Stein wurde bei den Salzburger Festspielen 2008 als Kooproduktion mit der Schaubühne Berlin von Ingo Berk uraufgeführt. Nikolaus Müller-Schöll, Professor für Theaterforschung an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Experimentelles Gegenwartstheater, Das Komische als Paradigma der Modernitätserfahrung (17.-21. Jahrhundert), Walter Benjamin, Bertolt Brecht, Heiner Müller. Zahlreiche Publikationen zu Fragen im Spannungsfeld zwischen Theater, Philosophie und Politik, u.a.: Das Theater des »konstruktiven Defaitismus«. Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller (Stroemfeld 2002); Ereignis. Eine zentrale Kategorie der Zeiterfahrung. Anspruch und Aporien (Hg., transcript 2003). Zuletzt erschien: Die Revolution für den Rausch gewinnen, in: Röttger, Kati (Hg.): Welt – Bild – Wissen. Bd. 1: Politik des Wissens und der Bilder. Tübingen: Gunther Narr 2010, S. 133-142. Artur Pełka, Dr. phil., wiss. Assistent am Lehrstuhl für Literatur und Kultur Deutschlands, Österreichs und der Schweiz/Universität Łódź; Monographie: Körper(sub)versionen. Zum Körperdiskurs in Theatertexten von Elfriede Jelinek und Werner Schwab (Peter Lang 2005); Sammelbände: Information Warfare (Vandenhoeck & Ruprecht 2007), Felix

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Austria (litblockin 2009) und Übersetzbarkeit zwischen den Kulturen (Peter Lang 2010). Christoph Pflaumbaum, M.A., Doktorand der Graduate School Practices of Literature an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Dissertationsthema: Poetiken der Melancholie in der deutschsprachigen Literatur nach 1945; Veröffentlichungen u.a. zu Uwe Johnson und W.G. Sebald; Mitherausgeber der Online-Zeitschrift Textpraxis. Digitales Journal für Philologie. Frank Raddatz, in Hannover geboren, promovierte über Heiner Müller, Arbeit als Dramaturg am Schauspiel Köln, Staatstheater Hannover, Staatstheater Stuttgart, Düsseldorfer Schauspielhaus u.a. mit Dimiter Gotscheff, Einar Schleef, Theodoros Terzopoukos, Valery Fokin und Tadashi Suzuki. Lehrtätigkeiten an der Universität Hannover, der Gutenberg-Universität in Mainz, der Heinrich Heine Universität Düsseldorf, der Ruhruniversität Bochum, der Universität zu Köln, und University of Performing Arts, Damascus, Universität Greifswald und Universität Regensburg. Mitglied der Redaktionsleitung Theater der Zeit, des Internationalen Theaterinstituts. Langjährige Tätigkeit als Publizist. Veröffentlichte mit Heiner Müller: Zur Lage der Nation, Jenseits der Nation. Als Autor u.a. Botschafter der Sphinx – Über das Verhältnis von Ästhetik und Politik beim Theater an der Ruhr (Theater der Zeit 2007), Brecht frißt Brecht (Henschel 2008), Der Demetriusplan (Theater der Zeit 2010); Hg.: Reise mit Dionysos – Das Theater des Theodoros Terzopoulos (Theater der Zeit 2006); mit Kathrin Tiedemann: Reality strikes back – Tage vor dem Bildersturm (Theater der Zeit 2008); dies.: Reality strikes back II – Tod der Repräsentation (Theater der Zeit 2010). Eigene Regiearbieten u.a.: Außer diesem Stern, Achill in Modern Wars und Hysteria oder Brechts LAB, Warming up, City of Dreams. Agnieszka Rajewska-Perzyńska, Dr. phil, bis 2009 Lehrkraft an der Berufshochschule in Konin, jetzt freischaffend. Monographie: Rolf Bongs: Dissoziatione eines Schriftstellers im Spannungsfeld zwischen Selbststilisierung und Anpassung (Peter Lang 2009). Johann Reißer, M.A., Kollegiat am Graduiertenkolleg Lebensformen und Lebenswissen an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt Oder; Promotionsprojekt: Spracharchäologie und Sampling – Postavantgardistische Ortungen der Lyrik bei Brinkmann, Kling und Köhler. Jurypreis beim 100 Grad Berlin Theaterfestival 2010 für eigenes Stück. Veröffentlichung von Lyrik, Prosa und Essayistik.

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DAS DRAMA NACH DEM DRAMA

Falk Richter, Autor und Regisseur. Seine Stücke u.a. Gott ist ein DJ, Electronic City, Unter Eis liegen in über 25 Sprachen vor und werden weltweit gespielt. Richter arbeitete als Regisseur u.a. an der Schaubühne Berlin, dem Schauspielhaus Zürich, dem Wiener Burgtheater, den Salzburger Festspielen, der Wiener Staatsoper, bei Tonelgroep Amsterdam, dem Hamburger Schauspielhaus. In den letzten Jahren werden Richters Stücke vermehrt in Frankreich und in Belgien gespielt, wo er auch selbst in französischer Sprache inszeniert, zuletzt beim Festival Avignon My secret garden, beim Theatre National in Brüssel Play loud. Gemeinsam mit der holländischen Choerografin Anouk van Dijk inszenierte Richter mit einem Ensemble aus Tänzern, Schauspielern und Musikern die viel beachteten chroeografischen Inszenierungen Nothing hurts, Trust und Protect me. Anke Roeder, Dramaturgin und Theaterwissenschaftlerin. Dozentin an den Universitäten London und München. Dramaturgin an den Schauspielhäusern Hamburg, Kiel, Dortmund und München. Professorin für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig. Leitung des Studiengangs Dramaturgie an der Bayerischen Theaterakademie. Stellvertretende Leitung des Studiengangs Szenisches Schreiben an der UdK, Berlin. Veröffentlichung u.a.: Autorinnen: Herausforderungen an das Theater (Suhrkamp 1989), Junge Regisseure (gemeinsam mit Sven Ricklefs; Fischer 1994), Radikal jung. Regisseure (gemeinsam mit C. Bernd Sucher; Theater der Zeit 2005), 55 Monologe für Frauen (Henschel 2006), 55 Monologe für Männer (Henschel 2007), Die Kunst der Dramaturgie (gemeinsam mit Klaus Zehelein; Henschel 2011). Gerald Sommerer, Dr. phil., Literatur- und Medienwissenschaftler; Monographie: »Aber dies ist nichts für Deutschland, das weiß und fühle ich.« Nelly Sachs – Untersuchungen zu ihrem szenischen Werk (Königshausen & Neumann 2008). Bernd Stegemann, Prof. Dr., Chefdramaturg an der Schaubühne am Lehniner Platz und Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« in Berlin. Mitherausgeber der Blätter des Deutschen Theaters. Er hat die Reihe Lektionen gegründet, in der bereits erschienen: 1 Dramaturgie, 2 Regie, 3 und 4 Schauspielen (Theater der Zeit 2009 u. 2010). Marita Tatari, Dr., Dissertation an der Philosophischen Fakultät Strasbourg bei Jean-Luc Nancy über die Erfahrung der Dichtung als Mitteilung (›partage‹) des Seins bei Heidegger. Aktueller Arbeitsschwer-

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AUTORINNEN UND AUTOREN

punkt: eine Revision des Dramenbegriffs. Publikationen u.a.: Die Doppelbindung ästhetischer Erfahrung als dran (in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Tübingen: Mohr Siebeck 2009), L'extime du drame (in: Revue Europe 2010). Rita Thiele, geb. 1954 in Essen, studierte in Köln Geschichte, Germanistik und Theaterwissenschaft. Sie arbeitete u.a. als Dramaturgin mit Claus Peymann am Wiener Burgtheater sowie am Berliner Ensemble. Von 2001-2006 Chefdramaturgin am Düsseldorfer Schauspielhaus, wo sie wiederholt mit Jürgen Gosch/Johannes Schütz zusammenarbeitete. Seit der Spielzeit 2007/08 Chefdramaturgin am Schauspiel Köln unter der Intendantin Karin Beier. Stefan Tigges, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der RUB im Rahmen eines DFG-Projektes über Theater als Raumkunst. Er vertritt die Schaubühne Berlin als Wissenschaftler im Rahmen des europäischen Theaternetzwerkes Prospero. Publikationen u.a: (Hg.) Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater (transcript 2008), Zwischenspiele. Neue Texte, Wahrnehmungs- und Fiktionsspielräume in Theater, Tanz und Performance (hg. mit Katharina Pewny u. Evelyn DeutschSchreiner; transcript 2010), Von der Weltseele zur Über-Marionette. Cechovs Traumtheater als avantgardistische Versuchsanordnung (transcript 2010). Jutta Wolfert, Dr. phil., freie Autorin, Monographie: Theatertexte zwischen Medien und Revolution. 1989-1996 (Alexander Verlag 2004); Aufsatz: Die Performanz des Tonbands. Akustische Aspekte in »Drei Wünsche frei«, in: Eine Welt aus Sprache – Zum Werk der Schriftstellerin Gerlind Reinshagen. Hg. v. Therese Hörnigk/Helga Kraft (Theater der Zeit 2007).

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Theater Jan Deck, Angelika Sieburg (Hg.) Politisch Theater machen Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten November 2011, 180 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1409-1

Susanne Valerie Granzer Schauspieler außer sich Exponiertheit und performative Kunst. Eine feminine Recherche März 2011, 162 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1676-7

Bettine Menke Das Trauerspiel-Buch Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen 2010, 284 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-634-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Patrick Primavesi, Jan Deck (Hg.) Stop Teaching! Neue Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1408-4

Jens Roselt, Christel Weiler (Hg.) Schauspielen heute Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten April 2011, 268 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1289-9

Wolfgang Schneider (Hg.) Theater und Migration Herausforderungen für Kulturpolitik und Theaterpraxis Juli 2011, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1844-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Theater Johanna Canaris Mythos Tragödie Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise

Eva Krivanec Kriegsbühnen Theater im Ersten Weltkrieg. Berlin, Lissabon, Paris und Wien

Dezember 2011, 368 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1565-4

Dezember 2011, ca. 362 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1837-2

Nicole Colin Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945 Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer

Karin Nissen-Rizvani Autorenregie Theater und Texte von Sabine Harbeke, Armin Petras/Fritz Kater, Christoph Schlingensief und René Pollesch

Oktober 2011, 784 Seiten, kart., mit CD-ROM, 55,80 €, ISBN 978-3-8376-1669-9

Miriam Drewes Theater als Ort der Utopie Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz 2010, 456 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1206-6

Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.) Junge Stücke Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater Januar 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1734-4

Juli 2011, 322 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1731-3

Ljubinka Petrovic-Ziemer Mit Leib und Körper Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik September 2011, 428 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1886-0

Katharina Pewny Das Drama des Prekären Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance Februar 2011, 336 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1651-4

Ralph Fischer Walking Artists Über die Entdeckung des Gehens in den performativen Künsten

Jenny Schrödl Vokale Intensitäten Zur Ästhetik der Stimme im postdramatischen Theater

Oktober 2011, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1821-1

Januar 2012, ca. 300 Seiten, kart., mit CD-ROM, ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1851-8

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