Diakonie im reformierten Protestantismus: Vorträge der 11. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus [1 ed.] 9783788732332, 9783788732325, 9783788732318

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Diakonie im reformierten Protestantismus: Vorträge der 11. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus [1 ed.]
 9783788732332, 9783788732325, 9783788732318

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Emder Beiträge zum reformierten Protstantismus

Band 17 Herausgegeben vom Vorstand der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V.

Matthias Freudenberg / J. Marius J. Lange van Ravenswaay (Hg.)

Diakonie im reformierten Protestantismus Vorträge der 11. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3232-5 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Jörg Schmidt, Solingen

Vorwort Die kirchliche und religiöse Neuorientierung des 16. Jahrhunderts stellte die europäischen Gemeinwesen vor neue und zugleich große Herausforderungen. Dies galt insbesondere auch für das Sozialwesen in seinen mannigfaltigen Bereichen. Unter den in dieser Zeit entstehenden Konfessionsfamilien nahmen die Reformierten oft eine signifikante Stellung ein, da sie sich vielfach mit dem Phänomen von Verfolgung, Vertreibung und Flucht konfrontiert sahen. Auch wenn andere Glaubensund Religionsgemeinschaften ähnliche Erfahrungen machen mussten,1 prägte das Erleben von Flucht und Vertreibung fortan sowohl die Theologie und als auch die diakonische Praxis vieler reformierter Kirchen weltweit in besonderer Weise. So steht die markante Position Johannes Calvins, die sich etwa in seiner programmatischen Äußerung in seiner Predigt zu Dtn 15,11–15 vom 30. Oktober 1555 findet, keineswegs solitär, sondern lässt sich weit über seine Zeit und seinen Kulturkreis hinaus nachzeichnen: „[...] et puis au reste, que nous soyons humains pour bien faire chacun selon sa faculté, et que nous monstrions par effect, que nous voulons acquiescer à son bon vouloir: car ce n’est point assez que la bouche parle, sinon que les mains respondent quant et quant.“2 Die Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus e.V. hatte es sich daher auf ihrer 11. Internationalen Emder Tagung zur Aufgabe gemacht, eben dieser Frage in einer möglichst breit angelegten Perspektive nachzugehen und nach den besonderen Spezifika reformiert geprägter Diakonie im Kontext kirchlich-diakonischer Arbeit allgemein zu fragen. Dabei wurden die Linien in die Gegenwart ausgezogen und nach der theologischen Begründung diakonischen Handelns sowie seines Zusammenhangs mit dem Glauben und anderen christlichen Lebensäußerungen gefragt. Die Ergebnisse dieser internationalen Konferenz unter dem Leitthema „‚Wir sollen menschlich sein [...]‘ (Johannes Calvin). Diakonie im reformierten Protestantismus“, die in bewährter Kooperation mit der Stiftung Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden vom 19.–21. März 2017 in der Johannes a Lasco Bibliothek stattfand, legen wir hier vor. Wir danken an dieser Stelle allen Referentinnen und Referenten und geben der Hoffnung Ausdruck, dass weitere Forschungen mit den vorliegenden Arbeiten angestoßen und auf den Weg gebracht werden. Für den Satz und die Druckvorlage danken wir herzlich Jörg Schmidt, der uns bei der Herstellung des Bandes kundig und engagiert zur Seite stand. Saarbrücken und Emden, im Sommer 2017 Matthias Freudenberg und J. Marius J. Lange van Ravenswaay 1  Vgl. hierzu Nicholas Terpstra, Religious Refugees in the early modern world. An alternative history of the reformation, New York 2017. 2  CO 27, 347: „Kurz, wir sollen menschlich sein und jedem nach seinem Bedürfnis wohl tun und zeigen, dass wir sein Wohl im Auge haben. Es genügt nämlich nicht, dass der Mund so spricht, wenn nicht auch die Hände je und je entsprechend mithandeln.“ (CalvinStudienausgabe, Bd. 7, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2009, 77f.).

Inhalt Vorwort

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Gottfried Locher Sola fide Beobachtungen

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Thomas K. Kuhn Werke der Barmherzigkeit Zu den Anfängen der Diakonie in der Frühen Neuzeit

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Marco Hofheinz „Die Gläubigen hatten alles gemeinsam“ Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde nach Johannes Calvin Zugleich ein Beitrag zur sog. Weber-These

45

Gerhard Wenzel Diakonische Existenz im französischen Protestantismus von der Reformation bis 1685

59

Frauke Thees „Lassend eüch die lieb befolhen seyn under einander / und zu / ovorab die armen / Der fryd Christi sey mit eüch / Amen.“ Johannes Oekolampads Umgang mit den Armen

81

Georg-Hinrich Hammer Das Pfarrhaus als „öffentliches Hospitium“ Beispiele für seine diakonische Bedeutung im 16. und 17. Jahrhundert

87

Martin Hamburger Vom Armenhaus der Reformierten Gemeinde zum diakonischen Partner im Sozialstaat 340 Jahre diakonisches Engagement in Elberfeld

99

Ulf Lückel Der reformierte Theologe Conrad Mel (1666–1733) und das Waisenhaus in Hersfeld Eine frühe pietistisch-diakonische Einrichtung in Hessen

111

Martin Sallmann Diakonie in der Schweiz des 19. Jahrhunderts Die Vielgestaltigkeit diakonischen Handelns an den Beispielen der Kantone Bern und Genf

125

8

Inhalt

Holger Balder Schleiermachers Ethik und die Sexualmoral diakonischer Einrichtungen im 19. Jahrhundert

141

Gerald MacDonald Die diakonische Arbeit der Free Church of Scotland (ab 1874) und der Church of Scotland (ab 1875) bei ihrer Missionsarbeit im heutigen Malawi bis 1914

153

Hans-Georg Ulrichs „In fröhlichem Dienst aufgeopfert“? Der Lebensweg einer reformierten Gemeindeschwester im 20. Jahrhundert

167

Sándor Fazakas Von der Diakonischen Theologie zur Sozialdiakonie in der Reformierten Kirche in Ungarn

179

Beate Hofmann Diakonisches Profil zwischen theologischem Anspruch und diakonischer Alltagspraxis Eine Bestandsaufnahme

197

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Sola fide Beobachtungen von Gottfried Wilhelm Locher 1. Glaube und Diakonie „Sola fide“ – allein durch den Glauben. Dass diese Formel von zentraler Bedeutung für die Reformation ist, ist bekannt. Wie aber kommt sie auf das Programm der diesjährigen Emder Tagung mit ihrem Tagungsthema Diakonie? Schweifen wir nun ab in die höheren Sphären reformatorischer Theologie, weg von den Niederungen, in denen sich, immer alltäglich, immer leibgebunden, diakonische Arbeit abspielt? Dass dem nicht so ist, beweist das Lebensmotto eines Pioniers kirchlicher Dia­ konie. „Et plus bas, et plus haut!“1, formulierte Johann Friedrich Oberlin (JeanFrédéric Oberlin, 1740–1826, der Elsässer Pfarrer und Sozialreformer), „sowohl tiefer als auch höher!“ – soll das Suchen und Wirken des Glaubens gehen. Mit dieser Devise hat Oberlin seinem eigenen Leben eine Richtung gegeben, eine dop­ pelte Richtung, quasi gleichzeitig nach unten und nach oben. Er hat damit auch viele andere beeinflusst und ihre diakonische Berufung geweckt. Seine Verbindun­ gen in die reformierte Schweiz waren intensiv, und so gehört der elsässische Luthe­ raner doch auch in die Geschichte reformierter Diakonie. Ein Beispiel für diesen reformierten Wirkungskreis Oberlins ist der Basler Daniel Legrand (1783–1859), der sich als Textilhersteller für die Humanisierung der Fabrikarbeit und bessere Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien einsetzte.2 „Et plus bas, et plus haut!“, zwischen Tiefbau und Höhenflug hat der Glaube nicht zu wählen, und die Diakonie eben auch nicht. Allein der Glaube, wie Paulus im Galaterbrief schreibt, ein Glaube freilich, „der sich durch die Liebe als wirksam erweist“ (Gal 5,6). Leben und Glauben sind so wenig gegeneinander auszuspielen wie Sprechen und Handeln. Beides verweist darauf, dass sich Gott uns zuwendet, beides ist Ausdruck der „vielfältigen Gnade“ Gottes. Ich möchte unser Thema in drei Schritten entfalten. Zunächst soll das, was Glaube ist, in einem einprägsamen Bild erfasst werden. Dann wollen wir, im Sinne von „Beobachtungen zu sola fide“, der Verwunderung darüber nachgehen, dass der Protestantismus, der doch den Glauben ins Zentrum stellt, immer wieder so über­ aus tätig und so überaus vernünftig erscheint: „sola actione“ und „sola ratione“ scheinen die Brennpunkte des protestantischen Systems zu sein. Und ich schließe mit vier Impulsen, die sich aus der alten Formel vielleicht auch im Hinblick auf neue Fragen nutzbar machen lassen.

1  Rodolphe Peter, „Et plus bas, et plus haut!“. Principe théologique de Jean-Frédéric Oberlin, in: Revue d’Histoire et de Philosophie religieuses 61 (1981), 351–366. 2  Loïc Chalmel, Oberlin. Le pasteur des Lumières, Strasbourg 2006, 180–188.230f.

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Gottfried Wilhelm Locher

2. Glaube als erleuchteter Blick: Grundlegendes „Sola fide“, allein aus Glaube: Sinnerfüllt kann die reformatorische Grundformel nur dann bleiben, wenn das, was hier als exklusiv behauptet wird, tatsächlich er­ fasst wird. „Allein aus Glaube“ bedingt zunächst eine Vorstellung von „Glaube“. Was also ist Glaube? Ich möchte das hier bildlich beantworten und theologisch präzis, wie ich hoffe, aber eben in ein Bild gefasst. 2.1 Gnade Glaube ist eine Folge der Gnade; das „sola gratia“ geht dem „sola fide“ voraus. Ohne Gnade kann es Glauben nicht geben; Glaube ist Antwort auf Gnade. Ein verloren gegangenes Wort ist das, die Gnade, selten verwendet außerhalb der Theologie. Isoliert benutzen wir dieses Wort kaum je in der Alltagssprache, eher schon in Wortkombinationen: das Gnadenbrot, ein gnädiger Tod, ein begnadeter Künstler und „Gnade vor Recht“. Gnade beschreibt eine Haltung. „Allein aus Gnade“, die reformatorische For­ mel, meint demnach eine Haltung Gottes. Gnade, so ließe sich sagen, ist ihrem Ursprung entsprechend die Haltung, die Gott dir und mir gegenüber offenbar einnimmt: eine wohlwollende. Oder poetischer ausgedrückt: Gnade ist der zärt­ liche Blick in Gottes Augen, wenn sie dich ansehen. Zärtlich? Nennen Sie den Blick in Gottes Augen so, wie es Ihnen angenehm ist: ein freundlicher Blick, ein anerkennender Blick, ein gütiger, ein liebevoller Blick. Dass Gottes Wohlwollen alles übersteigt, was wir an weltlichem Wohlwollen kennen, das gilt es in Worte zu fassen, welche zwangsläufig unangemessen bleiben. Gnade ist der zärtliche Blick in Gottes Augen, wenn sie dich ansehen. Von hier aus können wir weiterdenken. Denn mit der Haltung Gottes ist noch nicht alles gesagt, was es über Gnade zu sagen gibt. Gottes Haltung ist nicht „statisch“, nicht in sich abgeschlossen, vielmehr bewirkt sie etwas. Was geschieht, wenn wir in Augen sehen, die uns gernhaben? Ein solcher Blick berührt uns. Wohlwollen verändert uns. Entsprechend gilt: Gottes Wohlwollen verändert uns. Ein solcher Blick macht etwas mit uns. Wenn Gott uns anschaut, dann schafft er damit eine uns verwandelnde Beziehung. Gnade ist Haltung und Wirkung zugleich. 2.2 Glaube Bei diesem Verständnis von Gnade setzt „sola fide“ an. Wenn Gnade tatsächlich so etwas wie der zärtliche Blick in Gottes Augen ist, was ist dann, ebenso anschaulich gesprochen, Glaube? Wir bleiben im Bild und antworten: Glaube ist das Leuchten in den Augen derer, die Gott sehen. Glaube ist erleuchteter Blick, ein neuer und neu machender Blick auf Gott, auf die Mitmenschen und die Mitgeschöpfe, auch auf uns selbst. Dieser neue, andere, erleuchtete Blick ist der Effekt, der sich beim Menschen aus der von Gott erhaltenen Kraft der Gnade ergibt. „Sola fide“ folgt (theo)logisch auf „sola gratia“. Das Lächeln in Gottes Angesicht schafft ein Leuch­ ten in den Augen der Menschen. Sie werden im wörtlichen Sinn zu Angesehenen.

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2.3 Calvins Kommentar zum 4. Psalm Johannes Calvin hat in seinem Kommentar zum 4. Psalm3 diesen Zusammenhang in Worte gefasst. „Erhebe auf uns das Licht deines Angesichtes, o Herr“, heißt es in der von Calvin ausgelegten Übersetzung dieses Psalms (V. 7b). Der Genfer Reformator deutet diese Aussage so: „‚Das Licht von Gottes Antlitz‘ wird hier verstanden als sein freundliches Gesicht [accipit (...) pro serena facie], so wie uns umgekehrt Gottes Gesicht düster und verborgen erscheint, wenn er uns ein Zei­ chen seines Zornes zu erkennen gibt.“ Calvin betont den Zusammenhang zwischen der Gnade als freundlichem Ge­ sicht Gottes und dem Glauben als erleuchtetem Blick, wenn er fortfährt: „Mit einem schönen Vergleich wird gesagt, Gott erhebe dieses Licht, da er in unsere Herzen hineinstrahlt und Glaube und Hoffnung [fiduciam et spem] hervorbringt. Denn es würde ja nicht genügen, schreibt Calvin, dass wir von Gott geliebt wer­ den, wenn die Erfahrung dieser Liebe [amoris sensus] uns nicht spürbar wäre; so aber erleuchtet [Gott] unsere Herzen mit seinem Geist und macht uns froh mit wahrer und beständiger Freude.4 Diese Erfahrung, meint Calvin, ist wertvoller als aller Reichtum und stärker als alles Unglück, das uns beschwert. Nur diese eine Sache zähle für das Glück, nämlich dass das väterliche Antlitz Gottes uns leuchte, „weil es alle Dunkelheit erhellt und selbst den Tod in Leben verwandelt“ [mortemque ipsam vivificat (...)].5 2.4 Die mystischen Wurzeln des reformatorischen Glaubensverständnisses Die Forschung der letzten Jahre hat die Herkunft der reformatorischen Verkün­ digung aus der spätmittelalterlichen Mystik herausgearbeitet.6 In der Tat hat die Rede vom Licht, vom gnädig leuchtenden Antlitz Gottes und vom Glauben als Erleuchtung eine ausgesprochen mystische Färbung: Gott gibt sich in der Erfah­ rung, und diese Erfahrung strahlt von Licht. Glaube ist der erleuchtete Blick auf das freundliche Gesicht Gottes. Luthers Abhängigkeit von der „Imitatio Christi“ des Thomas von Kempen sowie von der von ihm herausgegebenen „Theologia deutsch“, einer mystischen Erbauungsschrift des 14. Jahrhunderts, ist seit langem bekannt, und der Tübinger Kirchengeschichtler Volker Leppin hat kürzlich die mystischen Wurzeln von Lu­ thers Frömmigkeit neu verdeutlicht.7 Mit einer Akzentverschiebung findet sich eine ähnliche Bildsprache bei Calvin: Gott ist gegenwärtig als Licht im Herzen. Wie wenig das Klischee vom spröden 3  Johannes Calvin, Commentarius in Psalmos, CO XXXI, 63; lat. Original auch in: Calvini commentarius in Psalmos, hg. v. August Tholuck, Vol. I, Berlin 1836, 20ff. 4  Eigene Übersetzung; vgl. die ältere deutsche Wiedergabe in: Johannes Calvins Ausle­ gung der Heiligen Schrift, Bd. IV: Die Psalmen, 1. Hälfte, Neukirchen o.J., 43. 5  Calvin, Commentarius in Psalmos (wie Anm. 3), 63. 6  Dieser Zusammenhang ist Teil eines komplexen, durchaus nicht unkritischen Verhält­ nisses von Protestantismus und Mystik (Michel Cornuz, Le protestantisme et la mystique. Entre répulsion et fascination, Genève 2003). 7  Volker Leppin, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016.

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Gottfried Wilhelm Locher

Genfer Reformator stimmt, haben ja viele Arbeiten im Umfeld des Calvinjahres 2009 erneut gezeigt. Calvin ist auch ein Theologe des Herzens. Er könnte sonst der meisterliche theologische Lehrer gar nicht sein, der er ist; es kann keine gute Pä­ dagogik und Didaktik geben, die nicht auch das Herz anspräche. Saint-Exupérys berühmter Satz könnte von Calvin stammen und Calvins Glaubensverständnis wiedergeben: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“8 2.5 Christus in den Evangelien unter dem „erleuchteten Blick“ des Glaubens In den Evangelien sehen wir Jesus Christus mit jenem Blick, der vom freundlich lächelnden Gesicht herkommt und von ihm Zeugnis gibt. In Christus nehmen wir selber dann glaubend die Welt neu wahr. Keimende Pflanzen, quellender Teig, allerlei Wassergeschichten und Broterzählungen von – man weiß nicht wie – wun­ dersam bewahrtem oder verwandeltem geschöpflichem Leben: All das zeugt von ei­ ner neuen Wirklichkeit, die sich dem „erleuchteten Blick“ des Glaubens erschließt. Alles wird zugleich menschlicher und göttlicher: „Et plus bas, et plus haut!“ Eindrucksvoll auch die Ostergeschichten, die von Begegnungen mit dem Auf­ erstandenen erzählen, auch sie zeugen von einem Leben, das im Alltag stattfindet und sich im Alltag bewährt. Der Auferstandene gesellt sich unversehens, auf dem Weg nach Emmaus, zu zwei Wanderern aus seinem Kreis. Am See, bei den fischen­ den Jüngern, ist der Auferstandene gegenwärtig, er nimmt teil an ihrer Arbeit, an ihrem Essen – auch wenn all das eine neue, eine geistliche Dimension bekommt. Und wenn Maria Magdalena den Auferstandenen für den Gärtner hält, können wir uns nicht daran hindern, in diesem Missverständnis, wie auch sonst oft im Johannesevangelium, ein tieferes Verständnis zu erkennen: Gärtner des Lebens ist Christus, Gärtner der Seelen, wie manche Kirchenväter formulierten,9 Gärtner der Kirche, die ihrerseits lebendig ist, wenn sie die gleiche schlichte Lebensverbunden­ heit pflegt, mit der die Gleichnisse das Reich Gottes in der Teigschüssel aufgehen und aus der Ackerkrume herauswachsen lassen.10 In Christus allein ist jenes Zutrauen zum Leben, das Glaube heißt, wirklich ge­ gründet. In Christus allein wird die Welt anders, neu und frei, verwandelt durch den erleuchteten Blick des Glaubens, der herkommt vom freundlichen Antlitz Gottes.

3. Das zweifache protestantische Paradox: Aktivismus und Rationalismus Wenn wir all das bedenken – und damit den entscheidenden reformatorischen Impuls „durch den Glauben allein“ –, dann kommen wir an einem eigentümlichen Widerspruch nicht vorbei. Man kann ihn als „zweifaches protestantisches Para­ 8  Antoine de Saint-Exupéry, Der Kleine Prinz. Deutsch v. Peter Sloterdijk. Mit Illustra­ tionen von Nicolas Mahler. Mit einer Nachbemerkung des Übersetzers, Berlin 2015, 77. 9  Finbarr J. Clancy SJ, Christ the Gardener – Christus hortulanus, in: Janet E. Ruther­ ford / David Woods (Hg.), The Mystery of Christ in the Fathers of the Church, Dublin 2012, 55–65. 10  Lk 24,13–35; Joh 21,1–14; Joh 20,11–18; Mt 13,33; Mk 4,26–29.

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dox“ bezeichnen. Es begegnet uns in der Doppelgestalt eines reformierten Aktivis­ mus und eines reformierten Rationalismus. Die Protestanten, die doch eigentlich zum Glauben eingeladen sind, begreifen sich dennoch wesentlich über Tun und Wissen. Im Herzen bekennen wir: „durch den Glauben allein“, doch die Fakten unseres gelebten Alltages sagen etwas anderes aus, eher ein „durch das Tun allein“ und „durch die Vernunft allein“: „sola actione“ und „sola ratione“. 3.1 Die Falle des Aktivismus: ein produktives und streng geregeltes Leben führen Beim Stichwort des „protestantischen Aktivismus“ denken wir an Max Weber.11 Nicht zufällig hat der große Soziologe ein „protestantisches Arbeitsethos“ heraus­ gearbeitet und nicht etwa ein protestantisches Ethos des Spiels, des Tanzes oder der Kontemplation. Der Protestantismus verwirklicht sich in einem produktiven und streng geregelten Leben. Die Schweiz, zum Beispiel, als stark von protestantischer Mentalität geprägtes Zentrum der Uhrenindustrie weist deutliche Züge dieser reli­ giösen Mentalität auf. Es ist auch recht angenehm zu wissen, dass man nützlich ist! Gut reformiert ist die tägliche „gute Tat“, wie sie im Pfadfinderversprechen gelobt wird; die Dankbarkeit der anderen schmeichelt uns. Und der Stolz darüber, eigene Grenzen zu überschreiten, verleiht uns eine tiefe Motivation. Und wo bleibt bei all dem der Glaube? Er läuft Gefahr, im Arbeitsethos seinen Inhalt zu finden und zum Glauben an uns selbst zu werden, an das, was wir zu leisten vermögen. Die Verlockung, dem, was unsere Reformatoren „Werke“ und „Werkgerechtigkeit“ genannt haben, in der Theorie abzuschwören, in der Praxis aber munter zu frönen, diese Verlockung ist auch eine reformierte. Das ist das erste Paradox: Der reformierte Protestantismus, der sich so entschieden für „den Glauben allein“ als Kraft des Heils einsetzt, wird gleichzeitig von einem ihn cha­ rakterisierenden Aktivismus eingeholt. 3.2 Die Falle des Rationalismus: die Vernunft dreht sich im Kreis angesichts des Zweifels Die Falle des Aktivismus ist freilich nicht die einzige, die es zu beachten gilt. Un­ serer theologischen Kultur eignet nämlich zweitens ein Hang zum glaubensbedro­ henden Rationalismus. Es scheint, als sei diese Tendenz eine unvermeidliche Folge der individuellen Freiheit, für die wir einstehen. Seit dem 18. Jahrhundert, unter dem Einfluss Rousseaus,12 sprechen wir vom „libre examen“, von der individuellen Freiheit des prüfenden, kritischen Urteils in Religionssachen. Wir unterstreichen die Gewissensfreiheit des Einzelnen und der Einzelnen; wir verwahren uns vor je­ dem das eigene Bekennen einengenden kollektiven Glaubenszeugnis. Diese Scheu ist in etlichen Kirchen der Schweiz zu beobachten. Statt die legitime Vielfalt kirch­ licher Glaubensformeln zu pflegen, schreckt eine problematisch gedeutete „Be­ kenntnisfreiheit“ vor jeder gemeinschaftlich verbindlichen Formel zurück. 11  Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hg. u. eingel. v. Dirk Kaesler, München 32010. 12  Stark rezipiert wurden unter anderem die Ausführungen des Genfer Philosophen und Laientheologen im 2. Brief der „Briefe vom Berge“ (1764).

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Die Falle des Rationalismus besteht, so könnte man vereinfachend sagen, in einer Anstrengung der Vernunft, die sich im Kreise dreht. Wir kommen zu keinem Ende, wenn wir immer nur vernünftig der Vernunft folgen, unendlichen Ketten von Einwänden und Erklärungen entlang, so als bestünde das Leben nicht ent­ scheidend auch im Wagnis und der Offenheit für das Geheimnis, in Vertrauen und Gelassenheit, in fröhlicher Vorläufigkeit und tragender Gemeinschaft, im Lachen und Weinen, Klagen und Jubeln, Loben und Danken. Die Erklärungskraft, mit der die Vernunft dem Glauben dient, distanziert sich gleichzeitig von jenem Glauben, welchen der Glaubende mit seiner Vernunft zu reflektieren sucht. Die rationalis­ tische Vernunft beendet diese Selbstreflexion des Glaubens und macht sich selbst zum Gegenstand der Reflexion. Oder sie stabilisiert sich im systematischen Zweifel: Wir können nicht wissen, ob Gott existiert, wir können nicht wissen, ob er gerecht und liebend ist. Unter diesen Bedingungen kann der Agnostizismus für sich in Anspruch nehmen, intellektuell redlich zu sein. Ein solcher Agnostizismus ist nicht nur in unseren Kirchen allgemein, sondern auch in unserem Verbi Divini Ministe­ rium im Speziellen verbreitet. Das ist also das andere Paradox: dass wir, die wir uns „sola fide“ vornehmen, doch immer versucht sind, auf ein „sola ratione“ zu bauen. Und wenn wir das doppelte protestantische Paradox zusammenfassen, müssen wir sagen: Wir verkündigen die Rechtfertigung aus dem Glauben allein, wir praktizie­ ren aber Aktivismus und Rationalismus.

4. Glaube als erleuchteter Blick: Folgerungen Greifen wir zum Schluss noch einmal das Bild vom Glauben als erleuchtetem Blick auf. Wir erinnern uns: Es ist ein doppeltes Bild, Gnade einerseits als freundlich lächelndes Antlitz Gottes, Glaube andererseits als menschliche Antwort darauf, Glaube als erleuchteter Blick in unseren eigenen Augen. Das Wort „erleuchtet“ ist nicht nur passiv zu verstehen, denn als Antwort hat der Glaube durchaus auch eine aktive Seite. Um im Bild zu bleiben: Der erleuchtete Blick wird seinerseits zum erleuchtenden, erhellenden Blick desjenigen, der Gottes Gnade erfahren hat. Der auf diese Weise neu geschaffene Blick des Glaubens beinhaltet – immer in der gewählten Bildsprache – Klarsicht und Hellsicht auf die Wirklichkeit; er wird zum „Lichtblick“ des Glaubens. Glaube ist demnach Einsicht und Aussicht zugleich. Er verschafft uns mindestens vier neue Perspektiven. 4.1 Ein neuer Blick auf den Menschen: Ebenbild Einerseits ermöglicht er uns einen neuen Blick auf den Menschen. Der Mensch ist, im Licht des Glaubens, Ebenbild Gottes – erst in diesem Licht. Diese Entspre­ chung bedeutet: Uns Menschen wohnt etwas inne von der Unverfügbarkeit Got­ tes. Auch philosophiegeschichtlich wirkt sich diese Entsprechung aus: Der philo­ sophische Begriff vom Menschen als Person hat seinen Ursprung im theologischen Begriff der gött­lichen Personen;13 und die theologische Gottebenbildlichkeit des 13  Manfred Fuhrmann, Art. Person. I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in: HWPh 7 (1989), 269–283.

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Menschen kristallisiert sich aus im philosophischen und juristischen Begriff der Menschenwürde.14 Theologisch wird nun mit Recht darauf hingewiesen, dass die Ebenbildlichkeit im Neuen Testament ganz auf Christus bezogen ist; über ihn vermittelt kennzeich­ net sie das Menschsein überhaupt.15 Diese Einsicht ist heute von großer Bedeu­ tung. Denn sie nimmt die Menschenwürde wahr nicht nur im starken, sondern auch im schwachen Menschen, nicht nur in der Autonomie, sondern auch in der Verletzlichkeit und sorgenden Zuwendung („Care“). Würde hat der Mensch nicht nur in seiner selbstbestimmten Vernünftigkeit, sondern in der Ganzheit seines Da­ seins, auch im Leiden, in äußeren Einschränkungen, im Geholfenwerden geradeso wie im Helfen. Es gilt, der Tendenz zu widerstehen, die Menschenwürde auf Auto­ nomie zu reduzieren, ja sie gar durch Autonomie zu ersetzen. Hier ist der Glaube hellsichtiger und dadurch humaner als die sich selbst setzende Vernunft. GottEbenbildlichkeit ist eine Perspektive, die sich aus „sola fide“ ergibt. 4.2 Ein neuer Blick auf die Natur: Erwählung und Erlösung Zweitens erscheint auch die Natur anders, neu beleuchtet mit dem Blick des Glau­ bens. Sie ist nicht mehr einfach ein sich um sich selbst drehendes geschlossenes System, ein Kreislauf von Entstehen und Vergehen, von Sinnlosigkeit und Eitel­ keit, „vanitas“, wie es resignierte Weisheit auszudrücken pflegte.16 Dass Natur auch so ist, wissen wir. Der Glaube aber kann Natur als Kreatur und damit als sinner­ füllt wahrnehmen. Dieser neue Blick auf die Natur äußert sich in Gestalt einer Erwählungslehre, die wiederum die Kraft Gottes im Schwachen erkennt. Im Großen sei Gott groß, meinte schon Augustinus, noch größer aber im Kleinsten.17 Und an anderer Stelle liefert er selbst eine Illustration dazu: Wasser in Wein verwandeln, wie Jesus auf der Hochzeit von Kana, das mache Gott doch mit den Reben jedes Jahr.18 Olivier de Serres, ein reformierter Pionier der Landwirtschaftskunde, weist darauf hin, Gott habe ein so niedriges Tier wie den Seidenwurm gewürdigt, „Fürsten und Könige zu kleiden“.19 Nur der Glaube kann das „Seufzen der Kreatur“ hören und Natur als Hoff­ nungsgeschichte wahrnehmen und tradieren. In seiner Deutung des 8. Kapitels des Römerbriefs hat der Genfer reformierte Theologe Marc Faessler den schönen 14  Wolfgang Huber, Art. Menschenrechte / Menschenwürde, in: TRE 22 (1992), 577–602. 15  So schon sehr deutlich Karl Barth, KD IV/2, 186; vgl. Georg Plasger, Art. Jesus Chris­ tus, in: Barth Handbuch, hg. v. Michael Beintker, Tübingen 2016, 307–313, 312. 16  Klassisch ist die „vanitas vanitatum“ in Pred 2: „nichtig und flüchtig, alles ist nichtig“ (Übersetzung der Zürcher Bibel). Die „ewige Wiederkunft“ als Quelle von „Überdruß an allem Dasein“ bildet ein zentrales Motiv in Nietzsches Zarathustra (Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. Karl Schlechta, München 81977, 465). 17  G[erardus] J.M. Bartelink, Augustinus über die minuta animalia. Eminet in minimis maximus ipse Deus, in: Aevum inter utrumque. Mélanges offerts à Gabriel Sanders, Steen­ brugis (Steenbrugge) 1991, 11–19. 18  Augustinus, In Ioh. Ev. Tract. VIII,1, in: CChr.SL XXXVI, Turnhout 1954, 81. 19  Olivier de Serres, Le Théâtre d’agriculture et mesnage des champs. Introduction de Pierre Lieutaghi, Arles 1996, 759 (V,15).

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Gottfried Wilhelm Locher

Vergleich geprägt, die Schöpfung laufe hier „mit Hoffnung“ so wie ein Motor mit Benzin.20 Der mit Hoffnung gefüllte Tank der Schöpfung ist nur für den Glau­ ben sichtbar. Dieser neue Blick des Glaubens auf die Natur ist ein Grund, schon jetzt die Gewalt gegenüber den Geschöpfen zu vermindern. Schöpfungsdiakonie widmet sich dieser Aufgabe.21 Sie bettet die Zuwendung zum Menschen in seiner Leiblichkeit und Verletzlichkeit in das Ganze der irdischen Lebensgemeinschaft ein, mit ihren Stoff- und Energieflüssen und der Vielfalt von Mikroorganismen, Pflanzen und Tieren. Diakonie umfasst demnach auch den Auftrag, glaubend und hoffend die Schöpfung zu achten und zu pflegen. 4.3 Ein neuer Blick auf die Geschichte: Kraft im Schwachen Ein dritter neuer Blick des Glaubens richtet sich auf die Geschichte. Und wieder geht es um die Kraft im Schwachen. „Er hat auf meine Niedrigkeit gesehen, und große Dinge sind an mir geschehen“, singt die junge Maria von Nazareth in der Übertragung des Magnificat in unserem evangelisch-reformierten Gesangbuch.22 Und sie fährt fort: „Gewaltige stößt er von ihren Thronen; wer niedrig stand, darf hoch in Ehren wohnen. Die Reichen lässt er leer in ihrem Überfluss, macht Arme reich, macht satt, wer darben muss.“ Mit Maria auf die Geschichte sehen heißt, die Kraft Gottes im Schwachen, Er­­niedrigten, Verfolgten erkennen. Dieser Blick des Glaubens stellt Arme und Schwache in den Mittelpunkt. Schweizer reformierte Zeugen des Genozids an den Armeniern wie Beatrice Rohner und Jakob Künzler, deren wir 2015 gedacht ha­ ben, haben diese Perspektive auf die Geschichte tätig praktiziert und Tausende Ver­ folgte gerettet.23 Glauben und Tun stehen zweifellos in einem engen Zusammen­ hang – ein Zusammenhang, der keineswegs mit dem oben kritisierten Aktivismus einhergeht. Die schematische Entgegensetzung von Glauben und Werken wird dem Glauben, „der sich durch die Liebe als wirksam erweist“, nicht gerecht. Schon Zwingli setzte sich mit dem naheliegenden Vorwurf auseinander, der Grundsatz „aus dem Glauben allein“ lähme das tätige Leben. Dazu schreibt er in seinem letzten systematischen Werk, der Expositio fidei: „Da nämlich der Glaube ein An­ hauchen des göttlichen Geistes ist, wie kann er ruhen oder untätig sein, da doch dieser Geist ununterbrochenes Tun und Wirken ist? Wo wahrer Glaube ist, da ist auch Tätigkeit – nicht anders als wo Feuer ist, da ist auch Wärme.“24 20  Marc Faessler, Lecture de Romains 8, in: Bulletin du Centre Protestant d’Études, Genève, avril 1985, 22f. 21  Otto Schaefer, L’écodiaconie en paroisse. Un geste de foi et de discernement, in: Kurt Aufdereggen u.a., Paroisses vertes. Guide écologique à l’attention des Églises, Genève 2010, 127–135. 22  Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz, Basel 1998, Nr. 1. 23  Abel Manoukian, Zeugen der Menschlichkeit. Der humanitäre Einsatz der Schweiz während des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich 1894–1923. Zum 100. Gedenkjahr des Völkermordes, Bern 2015. 24  Huldrych Zwingli, Schriften, Bd. IV, hg. v. Thomas Brunnschweiler / Samuel Lutz, Zürich 1995, 335.

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Das Bild vom Feuer und vom Licht kehrt bei unserem Zürcher Reformator häufig wieder: Glauben heißt, Gott lieben, Gott lieben heißt, von ihm erleuchtet werden, und sobald dieses Licht uns erleuchtet und dieses Feuer uns wärmt, ist auch unser Tun davon geprägt.25 4.4 Ein neuer Blick auf Gott: mit Gott im Blickkontakt bleiben Glaube ist damit auch ein neuer Blick auf Gott selbst. Der Blick des Glaubens entdeckt Gott dort, wo er nicht vermutet werden kann. Glauben heißt, mit Gott rechnen, ohne je berechnend mit ihm umzugehen. Glaube besteht, bildlich ge­ sprochen, darin, mit Gott im Blickkontakt zu bleiben. Gott ist dann ein Gegen­ über, sichtbar zwar, aber doch immer außerhalb unserer selbst, so dass wir ihn nicht fassen können. Gott ist uns zugleich so nahe, dass er mit der Freundlichkeit seiner Gnade in uns Glauben erwirkt und so unseren Blick auf ihn, auf die Ge­ schichte, auf die Natur und auf uns selber verändert.

25  Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 22. Artikel, in: Huldrych Zwing­ li, Schriften, Bd. II (wie Anm. 24), 278.



Werke der Barmherzigkeit Zu den Anfängen der Diakonie in der Frühen Neuzeit von Thomas K. Kuhn „Diakonie will Menschen, die arm oder davon bedroht sind, arm zu werden, unterstützen und ihnen helfen, einen Ausweg aus der Armut zu finden.“ Diese diakonische Absichtserklärung findet sich auf einer Informationsseite des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland.1 Diakonie setzt sich demnach mit dem Phänomen der Armut im frühen 21. Jahrhundert als einer weiterhin schwerwiegenden aktuellen gesellschaftlichen Herausforderung auseinander.2 Sie kennt die vielfältigen gegenwärtigen Erscheinungsformen von Armut und nimmt ihre Betroffenen differenziert wahr.3 Zudem weiß sie darum, dass sich die Geschichte der sozialen Entwicklung in Deutschland anders gestaltet hat, als vor Jahrzehnten noch so optimistisch erhofft. Denn die Erwartung, dass sich durch die beiden großen sozialpolitischen Gesetzeswerke der Nachkriegszeit, durch die ‚Große Rentenreform‘ von 1957 und durch das Bundessozialhilfegesetz von 1961, das Problem der Armut politisch lösen ließe, hat sich zweifelsohne als Illusion erwiesen. Zwar wurde Fürsorge nun nicht mehr wie in früheren Zeiten als eine Art Almosen gewährt, und die junge Bundesrepublik nahm die Politik des Sozialstaatsprinzips sehr ernst, doch wurden die Belastungen rasch immer größer und die Armut blieb ein Problem. Nach Phasen politischer Tabuisierung und partieller Dramatisierung fand das Thema in den 1980er Jahren unter den Schlagworten „neue Armut“ und „Zweidrittelgesellschaft“ neue Aufmerksamkeit.4 In regelmäßigen Abständen veröffentlichte beispielsweise die Bundesregierung seit 2001 Armuts- und Reichtumsberichte, um die soziale Lage in Deutschland zu dokumentieren.5 Auch in der Theologie und insbesondere in der Diakoniewissenschaft rückte das Thema in den Blick.6 Die Evangelische Kirche in Deutschland veröffentlichte 2006 ihre erste Denkschrift zum Thema Armut unter dem Titel 1  https://info.diakonie.de/infothek/wissen-kompakt/detail/armut/. 2  Johannes Eurich (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011; vgl. ferner Wolfgang Schroeder, Konfessionelle Wohlfahrtsverbände im Umbruch. Fortführung des deutschen Sonderwegs durch vorsorgende Sozialpolitik?, Wiesbaden 2016. 3  Zur gegenwärtigen Diskussion über Armut vgl. Ernst-Ulrich Huster / Jürgen Boeckh / Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, Wiesbaden 2 2012, sowie u.a. Torsten Meireis, Armut, in: Jörg Hübner u.a. (Hg.), Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 92016, 103–105. 4  Johannes Richter, Frühneuzeitliche Armenfürsorge als Disziplinierung, Zur sozialpädagogischen Bedeutung eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a.M. 2001, 13. 5  Der fünfte Armuts- und Reichtumsbericht wurde am 12.4.2017 veröffentlicht. 6  Traugott Jähnichen, Der Wert der Armut – Der sozialethische Diskurs, in: Huster / Boeckh / Mogge-Grotjahn (Hg.) (wie Anm. 3), 184–198; Eurich (Hg.) (wie Anm. 2).

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„Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität“.7 Liest man diese Armutsdenkschrift aufmerksam, so fällt dreierlei auf: Erstens zeichnet sich die Denkschrift durch einen multidisziplinären Zugang und eine sozialwissenschaftliche Analyse aus. Zweitens bleiben die theologisch-sozialethischen Überlegungen unbefriedigend, und drittens schließlich fehlt eine historische Perspektive. Dass sowohl die Wahrnehmung sozialer Verantwortung in Theorie und Praxis wie die Fragen nach Gestaltung und Funktion von Bildung, nach Exklusion und Inklusion zentrale Themen der Christentumsgeschichte sind,8 findet in der Denkschrift keine Erwähnung. Allerdings forderte damals der derzeitige Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, als einer der Mitautoren in einer Apologie der Armutsdenkschrift im Deutschen Pfarrerblatt: „Wir brauchen im Deutschland des Jahres 2006 eine neue Reformation.“ Er interpretierte die Denkschrift als eine „Art Thesenanschlag“ unserer Zeit.9 Ob und inwieweit hier an die Reformation des 16. Jahrhunderts gedacht wurde, bleibt offen. Sicher ist aber, dass er damit einen grundlegenden Wandel hin zu einer gerechteren Gesellschaft meinte. Rückbesinnungen und Verweise auf die Reformation sind in Zeiten sozialer Herausforderungen und Umbrüche bekanntlich ein beliebtes Mittel, um inhaltliche Orientierung und konfessionelle Identität zu generieren.10 Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein spiegelt sich diese Haltung auch in der diakoniegeschichtlichen Literatur wider. Diese Beobachtung führe ich nach dieser Einleitung im ers­ ten Teil meines Beitrags aus und weise damit zugleich auf einige für mein Thema relevante forschungsgeschichtliche und methodische Aspekte hin.

7  Gerechte Teilhabe, Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2006. Vgl. dazu beispielsweise Traugott Jähnichen, Gerechte Teilhabe im Spannungsfeld von  Armut und Reichtum. Sozialethische Impulse der EKD angesichts wachsender gesellschaftlicher Ungleichheiten, in:  Günter Brakelmann (Hg.), Auf den Spuren kirchlicher Zeitgeschichte. Festschrift für Helmut Geck zum 75. Geburtstag (Recklinghäuser Forum zur Geschichte von Kirchenkreisen 5), Berlin / Münster 2010, 540–555, und Sabine Behrendt, Evangelische Unternehmensethik. Theologische, kirchliche und ökonomische Impulse für eine explorative Ethik geschöpflichen Lebens, Stuttgart 2014, die eine Zusammenfassung der Denkschrift bietet. 8  Gerhard K. Schäfer, Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis, in: Hus­ ter / Boeckh / Mogge-Grotjahn (Hg.) (wie Anm. 3), 257–278; Ernst-Ulrich Huster, Von der mittelalterlichen Armenfürsorge zur sozialen Dienstleistung, in: ders. / Boeckh / Mogge-Grotjahn (Hg.) (wie Anm. 3), 279–301; Thomas K. Kuhn, Armut als Herausforderung für das Christentum in der Neuzeit, in: Eurich (Hg.) (wie Anm. 2), 79–95; vgl. auch neuerdings Bernhard Schneider, Christliche Armenfürsorge. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Freiburg i.Br. 2017. 9  Heinrich Bedford-Strohm, Gerechte Teilhabe – Konsequenzen christlicher Freiheit, in: Deutsches Pfarrerblatt 106 (2006), 634–637. 10  Diese Beobachtung lässt sich insbesondere hinsichtlich der Reformationsgedenken machen; vgl. Hartmut Lehmann, Luthergedächtnis 1817 bis 2017, Göttingen 2012; ferner Thomas K. Kuhn, Erinnerung, Identität und Repräsentation. Reformationsfeiern in Baden bis zum Ende des Großherzogtums, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 100 (2006), 125–153.

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1. Anmerkungen zur Forschungsgeschichte und zu den Quellen Am 2. Mai 1882 hielt der im basellandschaftlichen Arisdorf tätige Pfarrer Bernhard Riggenbach (1848–1895)11 in der Aula der Universität Basel seine Habilitationsvorlesung. Sie erschien 1883 – vermutlich für den Druck erweitert – unter dem Titel „Das Armenwesen der Reformation“.12 Diese Publikation des späteren Basler Dozenten und außerordentlichen Professors für Praktische Theologie, der mit der Inneren Mission verbunden und schließlich bis zu seinem frühen Tod als Gefängnispfarrer tätig gewesen war, ist deshalb von Interesse, weil sie einerseits eine inhaltsreiche Darstellung der reformatorischen Armenfürsorge über die protestantischen Konfessionsgrenzen hinweg bietet.13 Andererseits zählte sie zu jenen im weitesten Sinne diakoniegeschichtlichen Untersuchungen, die um 1900 herum erschienen und sich konfessionell und kontroverstheologisch positionierten.14 Durch die Charakterisierung der Reformation als eine Bewegung, die erfolgreich zu einer Neuordnung der von Riggenbach als unzureichend und ineffizient kritisierten mittelalterlichen Armenfürsorge geführt habe, sollte die Überlegenheit der protestantischen Konfession gegenüber der katholischen Kirche erwiesen werden. Insofern erstaunt es nicht, wenn Riggenbachs informative und armenfürsorgerische Details bietende Darstellung am Ende in eine seinerzeit aktuelle Auseinandersetzung mit dem Katholizismus mündet.15 Sie ist zweifelsohne ein protestantischer Beitrag zum zeitgenössischen Kulturkampf, der auch in der Schweiz – wie in den meisten anderen europäischen Staaten – zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hat und im Zusammenhang der sogenannten Modernisierungskrise zu deuten ist.16 Erinnert sei 11  Zur Person vgl. Kirchenräte der Evangelisch-reformierten Kirchen Basel-Stadt und Basel-Landschaft (Hg.), Basilea reformata 2002. Die Gemeinden und Spezialpfarrämter der Evangelisch-Reformierten Kirchen Basel-Stadt und Basel-Landschaft, ihre Pfarrerinnen und Pfarrer von der Reformation bis zur Gegenwart, Basel / Liestal 2002, 272; ferner Arnold von Salis, Zur Erinnerung an Prof. D. Dr. Bernhard Riggenbach-Oser, geboren den 25. Oktober 1848, gestorben den 2. März 1895, Basel 1895. 12  Bernhard Riggenbach, Das Armenwesen der Reformation. Habilitations-Vorlesung, gehalten den 2. Mai 1882 in der Aula der Universität Basel, Basel 1883. 13  Zu den altkirchlichen und mittelalterlichen Entwicklungen vgl. neuerdings Schneider (wie Anm. 8). 14  Vgl. dazu Thomas K. Kuhn, Innere Mission und Armenfürsorge. Protestantische Diskurse im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, in: Michaela Maurer / Bernhard Schneider (Hg.), Konfessionen in den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im langen 19. Jahrhundert. Ein „edler Wettkampf der Barmherzigkeit“? (Religion – Kultur – Gesellschaft 1), Berlin / Münster 2013, 95–118. 15  Wie auch andere Autoren nimmt Riggenbach in diesem Zusammenhang den Kommunismus als kulturell bedrohliche Erscheinung und dessen Entstehung in den Blick; vgl. Riggenbach (wie Anm. 12), 37f. Er erklärt: „Nicht die Reformation, mit ihren durch die Offenbarung bedingten und gebotenen Anstrengungen zur Verhütung und Hebung der Armuth, ist die Mutter des Communismus, sondern die Gegenreformation, mit ihrem Widerstand gegen den Willen Gottes und mit ihren bloss äusserlichen Concessionen an denselben, sie trägt die Schuld, dass das embryonische Leben einer göttlichen Wahrheit verdorben worden und eine Mischung daraus entstanden ist.“ (38). 16  Peter Stadler, Der Kulturkampf in der Schweiz. Eidgenossen und katholische Kirche im europäischen Umfeld 1848–1888, Zürich 21996.

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hier nur an den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan 1873 sowie an die Aufhebung des Bistums Basel 1874. Riggenbach wirft Rom vor, sich in Zeiten drängender sozialer Fragen „ke­cker denn je als alleinigen Rettungshort“ auszugeben.17 Dagegen müsse sich eine selbstbewusste evangelische Theologie erheben,18 die in enger Verbindung mit der Reformation den Kampf gegen Rom aufzunehmen habe. Dieser kontroverstheologische Kampf ist für Riggenbach – wohl auch im Angesicht des Ersten Vatikanischen Konzils – geradezu eine Fortführung des reformatorischen Widerstandes gegen Rom und deshalb unabdingbar, weil Rom „seit den Tagen der Reformation nicht anders geworden ist, ja das im letzten Jahrzehnt zu neuer Tyrannis sich erhoben hat“.19 Eine Lösung der sozialen Fragen durch die evangelische Theologie ist für Riggenbach nur dann möglich, wenn es ihr gelingt, das „Erbe der Reformation treu zu hüten und in homogenem, d.h. gleich der Reformation aus Gott geborenem und aus seinem Worte genährtem Geiste zu mehren“.20 Dieses Erbe führt Riggenbach unmittelbar auf Martin Luthers und Ulrich Zwinglis „gewisse Vorliebe für den ‚armen Haufen‘“ zurück, die er als biographisch begründet interpretiert. Denn die beiden Reformatoren seien aus diesem „armen Volk hervorgegangen“. Weiter sei von Bedeutung, „dass sich die Reformatoren mit ihren oft kategorischen Forderungen für den armen Mann im Einklang wussten mit der heiligen Schrift alten und neuen Testamentes, und diess nicht etwa nur dann, wenn sie die gewissenhafteste Löhnung der Arbeiter verlangten, sondern auch dann, wenn sie gegen unverhältnissmässige Ausdehnung des Einzelbesitzes protestirten und auf Angleichung hinarbeiteten“.21 Mit Blick auf den Zürcher Reformator führt Riggenbach emphatisch aus: „Es ist erhebend zu sehen, wie Zwingli, unbeirrt von den frischen Eindrücken des Bauernkrieges und ohne sich durch dieselben in eine reaktionäre Strömung hineintreiben zu lassen, der evangelischen Wahrheit die Ehre gibt und erklärt, dass weder gewaltsamer Widerstand, noch gewaltsamer Aufstand, sondern nur die freie, aus dem Glauben hervorgehende Anerkennung und Verwirklichung des in Gesetz und Evangelium deutlich ausgesprochenen göttlichen Willens der Entartung des Verhältnisses von Reich und Arm begegnen könne.“22 Dass der Bezug auf die Geschichte der Reformation im Zusammenhang der Debatten über die Soziale Frage bei Theologen in Deutschland ebenfalls eine zentrale Rolle spielte, überrascht nicht.23 Denn die so genannte Soziale Frage war eine um17  Riggenbach (wie Anm. 12), 38f. 18  Riggenbach (wie Anm. 12), 39. 19  Riggenbach (wie Anm. 12), 40. 20  Riggenbach (wie Anm. 12), 41. 21  Riggenbach (wie Anm. 12), 38. 22  Ebd. 23  Vgl. dazu Thomas K. Kuhn, „Wir leben in einem Zeitalter voll Fragen“ – Kirche und soziale Frage im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert, in:  Arie Nabrings (Hg.), Reformation und Politik – Bruchstellen deutscher Geschichte im Blick des Protestantismus. Beiträge zur gleichnamigen Tagung der Evangelischen Kirche im Rheinland und des Land-

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fassende Geistesbewegung, die das Christentum vor vielfältige Herausforderungen stellte und dabei in besonderer Weise auch die neu entstandenen wirtschaftlichen und industriellen Verhältnisse sowie die Arbeiterschaft in den Blick nahm. Dabei ging es auch, wie es beispielsweise Martin Rade (1857–1940) in seinem Buch „Die Konfessionen und die soziale Frage“24 zeigt, um die Herstellung einer Verbindung von Kirche und Arbeiterschaft. Der Terminus Soziale Frage umfasst also im Verständnis der Zeitgenossen vielfältige gesamtgesellschaftliche Auf- und Umbrüche sowie wirtschaftliche, kulturelle Transformationen, die höchst unterschiedliche Reaktionen provozieren konnten.25 Andererseits sind mit diesem Begriff konkrete sozialfürsorgerische Praktiken und Institutionen gemeint. Hinsichtlich der Bewältigung der sozialen Herausforderungen lassen sich durchaus Züge eines konfessionellen Wettstreites erkennen,26 der letztlich auf die Überwindung des konfessionellen Gegners zielte und ebenfalls im Kontext des Kulturkampfes zu deuten ist.27 Es ging dabei letztlich um die Frage der konfessionell bestimmten Deutungshoheit im Kontext einer sich weltanschaulich ausdifferenzierenden Gesellschaft. Diese konfessionalistische Perspektive brachte in besonderer Weise der Loccumer Abt und Konsistorialrat Gerhard Uhlhorn (1826–1901)28 auf den Punkt, dessen 1882–1890 publizierte Geschichte der christlichen Liebestätigkeit sich den Rang eines diakoniegeschichtlichen Standardwerkes erworben hat.29 Er betonte nämlich die zentrale Bedeutung der Sozialen Frage, spitzte sie ekklesiologisch und konfessionalistisch zu, indem er das Überleben der Kirchen respektive der Konfessionen unmittelbar von ihrer Haltung zur Sozialen Frage abhängig machte.30 Für schaftsverbandes Rheinland vom 21. bis 25. April 2014 in Düsseldorf (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 186), Bonn 2015, 79–100. 24  Martin Rade, Die Konfessionen und die sociale Frage, Leipzig 1891. 25  Weite Teile dieser pluriformen Bewegung werden in der jüngeren kirchengeschichtlichen Forschung unter dem Begriff des „Sozialen Protestantismus“ subsummiert. Dieser Begriff umfasst einerseits programmatische Perspektiven zur Lösung der so genannten Sozialen Frage. Hier sei exemplarisch genannt das umfangreiche Werk des Greifswalder Theologieprofessors Martin von Nathusius, Die Mitarbeit der Kirche an der Lösung der sozialen Frage, Bd. 1–2, Leipzig 1893/1894. 26  Michaela Collinet / Bernhard Schneider (Hg.), Konfessionen in den west- und mitteleuropäischen Sozialsystemen im langen 19. Jahrhundert. Ein „edler Wettkampf der Barmherzigkeit“? (Religion – Kultur – Gesellschaft 1), Berlin / Münster 2013; Kuhn (wie Anm. 14). 27  Vgl. dazu Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 22011; Christopher M. Clark (Hg.), Kulturkampf in Europa im 19. Jahrhundert, Leipzig 2003. 28  Zu Uhlhorn vgl. Axel Makowski, Diakonie als im Reich Gottes begründete Praxis unbedingter Liebe. Studien zum Diakonieverständnis bei Gerhard Uhlhorn, Münster / Hamburg / London 2001; Hans Otte, Art. Gerhard Uhlhorn, in: TRE 34, 242–244. 29  Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Bd. 1–3, Stuttgart 1882–1890; ders., Die kirchliche Armenpflege in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, Göttingen 1892; ders., Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990. 30  Gerhard Uhlhorn, Katholicismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage, Göttingen 21887, 1: „An der socialen Frage werden sich auch die Geschicke der Kirchen entscheiden. Diejenige Kirche wird den Sieg erringen, welche zur Lösung der socialen Frage am meisten beiträgt. Reine Lehre ist ein hohes Gut, aber zugleich ein anvertrautes Pfand;

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ihn besteht „der definitive Sieg der Reformation“ in einer wirtschaftlichen Reform. Es ist ein Sieg nicht nur über die römische Kirche, die „die Welt zum Kloster macht“, sondern auch über den häufig im gleichen Atemzug genannten Sozialismus, der dem Menschen „alle individuelle Freiheit und damit die Vorbedingung jeder wahren Cultur“ wegnehme.31 Diesen angeblich engen Zusammenhang von Sozialismus respektive Kommunismus und katholischer Kirche betont mit deutlicher konfessionspolemischer Intention auch Riggenbach, indem er erklärt: „Nicht die Reformation, mit ihren durch die Offenbarung bedingten und gebotenen Anstrengungen zur Verhütung und Hebung der Armut ist die Mutter des Communismus, sondern die Gegenreformation, mit ihrem Widerstand gegen den Willen Gottes und mit ihrem bloss äusserlichen Concessionen an denselben, sie trägt die Schuld, dass das embryonische Leben einer göttlichen Wahrheit verdorben worden und ein Missbildung daraus entstanden ist.“32 Mit diesen Hinweisen auf die so genannte Armutsdebatte des 19. Jahrhunderts33 habe ich ein zentrales forschungsgeschichtliches Problem markiert. Denn der hier kurz angerissene konfessionelle Wettkampf in Sachen sozialer und armenfürsorgerischer Theorie und Praxis prägte maßgeblich die ältere Geschichtsschreibung.34 nicht daß wirs haben, ob wirs recht gebrauchen und damit wuchern entscheidet. Der Werth einer Kirche ist zuletzt immer nur darnach zu bemessen, welche sittlichen Früchte sie bringt. Darüber kann sich heute niemand mehr täuschen, daß der Kampf zwischen Katholicismus und Protestantismus nach einer scheinbaren Ruhepause wieder heftiger als je entbrannt ist; täuschen wir uns darüber nur auch nicht, daß der Kampf nicht auf dem Felde gelehrter Deductionen, nicht auf dem Gebiete dogmatischer Polemik entschieden werden wird, sondern die Frage ist, welche Kirche wird den stärksten Einfluß auf unser Volkleben gewinnen. Das Schlachtfeld, auf dem die Entscheidungsschlacht geschlagen werden wird, ist das Gebiet der socialen Frage.“ Zum Zusammenhang von Konfession und sozialer Frage vgl. zudem Rade (wie Anm. 24). Die zentrale Bedeutung der Armenpflege betonte auch Richard Rothe, Theologische Ethik, Bd. 5, Wittenberg 21871, 450, wenn er mit Blick auf den Pfarrer schreibt: „Ohne Armenpfleger zu sein, kann der Kleriker in unseren Tagen unmöglich Seelsorger sein. Natürlich aber muß seine Armenpflege durchweg zugleich religiös-sittliche Pflege der Armen sein, ohne die ja auch an sich eine wirksame Armenpflege nicht denkbar ist.“ Die häufig geforderte wissenschaftstheoretische Verortung der Armenpflege im Bereich der Poimenik war allerdings in den theologischen Diskursen des späten 19. Jahr­hunderts umstritten. 31  Uhlhorn (wie Anm. 30), 60. 32  Riggenbach (wie Anm. 12), 38. 33  Zur katholischen Perspektive vgl. Georg Ratzinger, Geschichte der Kirchlichen Armenpflege, Freiburg i.Br. 1868; 21884, deren Reprint erschien Freiburg i.Br. 2001; ferner Franz Ehrle, Beiträge zur Geschichte und Reform der Armenpflege, Freiburg i.Br. 1881. 34  Schon im 19. Jahrhundert spielten die Hinweise auf die Geschichtsschreibung und ihre Folgen eine zentrale Rolle. Vgl. beispielsweise Riggenbach, der sich einerseits auf Ignaz von Döllingers (1799–1890) Schriften aus den 1840er und 1850er Jahren bezieht, die eine radikale Ablehnung von Luther dokumentieren; vgl. hier beispielhaft sein dreibändiges Werk „Die Reformation“ (1846–1848). Zum anderen nimmt er den katholischen Historiker Johannes Janssen (1829–1891) in den Blick, der sich, beeinflusst von der frühen antireformatorischen Historiographie Döllingers, unter dem Eindruck des Kulturkampfes gegen Bismarck und den Protestantismus wandte und als Hauptvertreter der ultramontanen Geschichtsschreibung in seinem achtbändigen und einflussreichen Werk „Die Geschichte

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Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein lassen diakoniegeschichtliche Forschungen durchaus die Tendenz erkennen, Reformation und vor allem Luther als einen radikalen Umbruch beziehungsweise Neuanfang des armenfürsorgerischen Handelns darzustellen.35 Dem von den konfessionellen Prägungen unabhängigen wachsenden Einfluss der städtischen Magistrate wurde hier häufig zu wenig Beachtung geschenkt.36 Folglich sieht man in der neueren Historiographie die Zusammenhänge zwischen den sozialpolitischen Ordnungen der Reformationszeit und den Anfängen des neuzeitlichen Sozialrechts wesentlich differenzierter.37 Die ältere, häufig eher ideengeschichtlich ausgerichtete Forschung wurde inzwischen durch zahlreiche, auch sozial- und lokalgeschichtliche Studien erweitert. Mit Jochen-Christoph Kaiser kann man pointiert festhalten: Luther und die reformatorischen Kirchenordnungen brachten mit Blick auf die skizzierte Sicht der Armut nichts entscheidend Neues, sieht man von der theologischen Revision des Almosenmotivs ab. Die Reformation verstärkte die Diskussionen um eine Neuordnung der Armenfürsorge38 und wirkte durch ihre Gemeindezentriertheit bei der Integration von evangelischen Kirchen- und Armenordnungen der Folgezeit mit.39 In der neueren historischen Forschung besteht weiterhin weitgehend Eides deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“ (1878–1894) sich als entschiedener Gegner der lutherischen Reformation erweist. Ihm ging es darum, die Verantwortlichkeit des Protestantismus für die in seinen Augen problematischen Entwicklungen im 16. und 17. Jahrhundert zu erweisen. Zu Janssen vgl. Walter Troxler, Ein Außenseiter der Geschichtsschreibung: Johannes Janssen 1829–1891. Studien zu Leben und Werk eines katholischen Historikers, Berlin 2007, ferner Mario Todte, Wilhelm Maurenbrecher und die lutherische Reformation. Zur Auseinandersetzung mit den konfessionell geprägten Lutherinterpretationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine rezeptionsgeschichtliche Studie, Leipzig 2001. 35  So beispielsweise noch Robert Stupperich, Art. Armenfürsorge IV: Reformationszeit, in: TRE 4, 29–34. 36  Diese neue Perspektive verfolgte u.a. Thomas Fischer, Städtische Armut und Armenfürsorge im 15. und 16. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Untersuchungen am Beispiel der Städte Basel, Freiburg im Breisgau und Straßburg, Göttingen 1979. 37  Heiner Lück zeigt, dass diese Ordnungen „inhaltlich und konzeptionell weitgehend in der Tradition der aus dem Mittelalter überkommenen Vorstellungen und Formen der Armenfürsorge [stehen]. Innovativ, und damit auf das neuzeitliche Sozialrecht aus der Retrospektive sich hinbewegend, sind unverkennbar die insbesondere von den evangelischen Ordnungen geschaffene einheitliche Fürsorgeverwaltung und der staatliche Charakter der Regelungen. Eine Professionalisierung der Fürsorgeverwaltung ist unübersehbar.“ Vgl. dazu Heiner Lück, Armen- und Fürsorgeordnungen der Reformationszeit – Anfänge eines neuzeitlichen Sozialrechts?, in: Stefan Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen in Mitteldeutschland zur Reformationszeit (Schriften der Stiftung Luthergedenkstätten in SachsenAnhalt 6), Leipzig 2007, 197–212, 211. 38  Unter „Armenfürsorge“ oder „Armenpflege“ subsummiert die historische Forschung gewöhnlich den gesamten „Komplex von Praktiken und Institutionen [...], der in irgendeiner Weise dem Ziel diente, die Probleme städtischer Bedürftigkeit zu lösen“; so beispielsweise Martin Dinges, Stadtarmut in Bordeaux 1525–1675. Alltag, Politik, Mentalitäten, Bonn 1988, 253. 39  Jochen-Christoph Kaiser, Art. Armenpflege VI: Kirchengeschichtlich, 2. Reformation bis Neuzeit, in: RGG4 1, 761–763, 761f.; ders., Soziale Formen und Strukturen der Re-

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nigkeit darüber, dass „die tatsächlich in den europäischen Städten und Ländern verfolgte Wohlfahrtspolitik religiöse Grenzen überschritt.“40 Katholische wie protestantische Obrigkeiten und Gemeinden verfolgten beispielsweise fast gleich stark die Differenzierung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Bettlern. Außerdem kann man das „Verschmelzen kirchlicher und weltlicher Zuständigkeit in der Wahrnehmung der Armenfürsorge bis in die Zeit unmittelbar vor der Reformation zurück­ verfolgen.“41 Neben dieser ersten forschungsgeschichtlichen Problemanzeige ist eine zweite methodische zu benennen. In der diakoniegeschichtlichen Literatur fehlt vielfach das quellenkritische Bewusstsein für die Spezifika normativer Texte. Dass Kirchenordnungen beispielsweise nicht die Realität abbilden, sondern ideale Wunschvorstellungen oder gesetzliche Rahmenbedingungen formulieren, bleibt häufig unberücksichtigt.42 Damit zusammen hängt drittens ein Quellenproblem: Mit Blick auf die frühneuzeitliche Diakonie sind vornehmlich normative Quellen überliefert wie insbesondere Kirchenordnungen oder obrigkeitliche Mandate. Die konkrete armenfürsorgerische Praxis – wie sie sich beispielsweise in Rechnungsbüchern niederschlägt43 – und ihre Nutznießer sind nur unzureichend dokumentiert.44 formationszeit, in: Glaube und Lernen 22 (2007), 131–143; ders., Von der Armenpflege zur Diakonie. Wandlungen des Sozialprotestantismus von der Frühen Neuzeit zum „modernen“ 19. Jahrhundert, in:  Swen Steinberg / Winfried Müller (Hg.), Wirtschaft und Gemeinschaft. Konfessionelle und neureligiöse Gemeinsinnmodelle im 19. und 20. Jahrhundert (Histoire 43), Bielefeld 2014, 25–34. Robert Jütte betont allerdings, „wie sehr die Reformation das Armenwesen Mitteldeutschlands und mit ihm die Krankenversorgung geprägt hat“; Robert Jütte, Die Sorge für Kranke und Gebrechliche in den Almosen- und Kastenordnungen des 16. Jahrhunderts. Anspruch und Wirklichkeit, in:  Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen (wie Anm. 37), 9–21, 3. 40  Robert Jütte, Tendenzen öffentlicher Armenpflege in der Frühen Neuzeit Europas und ihre weiter wirkenden Folgen, in: Theodor Strohm / Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 1: Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 22), Heidelberg 2004, 78–104, 78. 41  Jütte (wie Anm. 40), 79. 42  Vgl. dazu Sebastian Schmidt / Jens Aspelmeier (Hg.), Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beihefte 189), Stuttgart 2006; hier v.a. Bernd Fuhrmann, Norm und Praxis der Armenfürsorge in Spätmittelalter und früher Neuzeit – Eine Einleitung, in: Schmidt / Aspelmeier (Hg.), 15–20. 43  Vgl. aber Jens Aspelmeier, Die Haushalts- und Wirtschaftsführung landstädtischer Hospitäler in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Eine Funktionsanalyse zur Rechnungsüberlieferung der Hospitäler in Siegen und Meersburg, Siegen 2009. 44  „Über die konkreten Leistungen des Gemeinen Kastens für die Versorgung der Armen und Kranken im 16. Jahrhundert ist bislang nur wenig bekannt“, erklärt Robert Jütte einerseits, verweist aber andererseits darauf, dass man über die Krankenhilfe beispielsweise des Frankfurter Almosenkastens recht gut unterrichtet sei; Jütte (wie Anm. 39), 16. Zu den Wittenberger Verhältnissen vgl. auch Stefan Oehmig, Studien zum Armen- und Fürsorgewesen der Lutherstadt Wittenberg am Ausgang des Mittelalters und in der Reformationszeit, ungedr. Diss. Berlin 1990, der die Buchhaltung des Gemeinen Kastens genauer analysiert hat und dessen gutes Funktionieren in den ersten beiden Jahrzehnten nach der

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Im Folgenden werde ich zunächst auf die Armut als zentrale Herausforderung der frühneuzeitlichen Gesellschaft vornehmlich im 16. Jahrhundert eingehen. Danach führe ich in die Zusammenhänge frühneuzeitlicher Armenfürsorge ein.45 Nach diesen beiden eher allgemeiner gehaltenen Teilen fokussiere ich mich auf Zwingli und Zürich, bevor ich am Ende einen kurzen Blick auf die Verhältnisse in Emden werfen werde.

2. Armut als gesellschaftliche Herausforderung Als zentrale soziale Herausforderungen galten um 1500 Armut und Bettelwesen.46 Zwei Drittel der Gesamtbevölkerung der Städte im 15. und 16. Jahrhundert zählten schätzungsweise zur Armenunterschicht.47 Etwa ein Fünftel der Einwohner der frühneuzeitlichen  Städte verfügte über kein festes Einkommen und galt als chronisch unterernährt.48 Die Ursachen für Verarmung waren vielseitig:49 Neben Ernährungskrisen mit gesundheitlichen Folgeerscheinungen, die zu individueller Arbeitsunfähigkeit oder zu eingeschränkter Produktivität führen konnten, sind als außerökonomische Armutsursachen vornehmlich überaus schlechte klimatische Verhältnisse zu nennen. In der Geschichtsschreibung charakterisiert man diesen besonders kalten und nassen Zeitraum zwischen 1550 und 1650 als „Kleine Eiszeit“.50 Hinzu kamen Kriege, Seuchen und Epidemien; die Pest war immer Einführung belegt. Ferner ders., Über Arme, Armenfürsorge und Gemeine Kästen mitteldeutscher Städte der frühen Reformationszeit, in:  ders. (Hg.), Medizin und Sozialwesen (wie Anm. 37), 73–114. 45  Die Begriffe „Armenfürsorge“ und „Diakonie“ verwende ich dabei synonym. Im Wesentlichen geht es bei den Debatten des 16. Jahrhunderts um die Versorgung der Armen, in geringerem Maße auch um die Krankenfürsorge. Johann Eberlin von Günzburg (1470– 1533) schlug beispielsweise 1521 vor, die Besoldung der Ärzte durch die Obrigkeit zahlen zu lassen, konnte sich allerdings nicht mit dieser Idee durchsetzen. Am weitesten ging man in der Schweiz: St. Gallen und Zürich erklärten sich bereit, die Kosten der von den verordneten Pflegern als nötig erachteten ärztlichen Behandlungen der Armen aus dem Almosen zahlen zu lassen. Und Calvin schritt sogar zur förmlichen Anstellung eines Arztes und eines Chirurgen; vgl. dazu Riggenbach (wie Anm. 12), 32. 46  Vgl. dazu Helmut Bräuer, Armsein in obersächsischen Städten um 1500, Sozialprofile und kommunale Handlungsstrategien vor der Reformation, in:  Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen (wie Anm. 37), 25–52 mit weiterer Literatur. 47  Fischer (wie Anm. 36), 56. 48  In Freiburg und Basel beispielsweise waren ungefähr 5–10% der Bevölkerung schließlich durch den Hunger existentiell derart bedroht, dass man sie als Bedürftige anerkannte und unterstützte; Richter (wie Anm. 4), 35. Zur Armut als quantitatives Problem vgl. Fischer (wie Anm. 36), 50–58. 49  Vgl. u.a. dazu Martin Rheinheimer, Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850, Orig.-Ausg. Frankfurt a.M. 2000, 18–24, sowie Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 22013, 4; Robert Jütte, Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, Weimar 2000, 28–48. 50  Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017; Wolfgang Behringer (Hg.), Kulturelle Konse-

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noch eine Dauererscheinung. Aber auch Kaufkraftverlust durch politische Manipulationen auf dem Gebiet des Münz- und Steuerwesens gehörten zu den Armutsursachen der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Maßnahmen zur Geldentwertung, ein beliebtes wirtschaftspolitisches Mittel des absolutistischen  Staates, trafen die Unterschicht besonders hart.51 Die Zeitgenossen erlebten Vaganten und Arme häufig geradezu als Landplage. Luther erklärte beispielsweise in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ angesichts dieser sozialen Herausforderungen: „Es ist wol der grosten not eyne / das alle betteley abthan wurden in aller Christen(n)heit / Es solt yhe niemand vnter den Christen betteln gahn / es were auch ein leychte ordnung drob zumachen / wen wir den mut vnd ernst datzu thete(n) [...]“. Angesichts der vielfältigen Belastungen durch Bettel und Abgaben war es für Luther „der grosten gottis wu(n)der einis [...] / wie wir doch bleybe(n) mugen / vn(d) erneret werde(n)“.52 Der fränkische reformatorische Theologe und Sozialreformer Johann Eberlin von Günzburg (1470–1533) beispielsweise erklärte zugespitzt, dass in Deutschland von 15 Menschen nur einer arbeite, 14 dagegen müßig gingen.53 Die Bettelei flankierte allerdings eine große Mildtätigkeit gegenüber den Armen, die als Charakteristikum der mittelalterlichen Frömmigkeit erscheint. Dieser Tatsache war sich auch Luther bewusst, wenn er angesichts sozialer Gleichgültigkeit seiner Zeitgenossen rückblickend predigte: Wir sollten uns vor Eltern und Vorfahren schämen, denn die haben „ohne diess Licht des Evangeliums so reichlich und mildiglich gegeben.“54 Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert nahm man Armut und Bettel allerdings immer weniger als selbstverständlich hinzunehmende Erscheinungen wahr: „Armut empfand man mehr und mehr als selbstverschuldete Devianz gegenüber dem Modell frühbürgerlicher Tugenden (Fleiß, Ordnung, Disziplin, Mäßigung).“55 Deshalb wurden die Armen zunehmend schärfer in ihrem Lebenswandel kontrolliert. Teilweise mussten sie – meist aus Stoff, gelegentlich auch beispielsweise aus Metall gefertigte – Bettelzeichen tragen,56 was in Frankreich bereits im späten 13. Jahrhundert, in Nürnberg seit 1370 und in weiteren deutschen Städten wie Frankfurt am Main und Augsburg sowie am Oberrhein während des 15. Jahrhunquenzen der „Kleinen Eiszeit“ (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 212), Göttingen 2005. 51  Richter (wie Anm. 4), 38–41. 52  Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, in: Hans-Ulrich Delius (Hg.), Studienausgabe, Bd. 2, Berlin 1979, 89–167, 147. Vgl. auch WA 6, 404–469, 450. 53  Zitiert bei Riggenbach (wie Anm. 12), 3. 54  Zitiert bei Riggenbach (wie Anm. 12), 3f. 55  Kaiser (wie Anm. 39), 762. Zum spätmittelalterlichen Umbruch im Armenwesen vgl. vor allem Schneider (wie Anm. 8), 308–373. 56  Helmut Bräuer, Bettel- und Almosenzeichen zwischen Norm und Praxis, in: Gerhard Jaritz (Hg.), Norm und Praxis im Alltag des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 2), Wien 1997, 75–94; Hermann Maué, Bettlerzeichen und Almosenzeichen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums (1999), 125–140.

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derts üblich geworden war.57 Diese stigmatisierende Kennzeichnung,58 welche die Armut visualisierte und somit den „Segregations- und Bewußtwerdungsprozeß“ verstärkte,59 wies durch diese zunehmend als „Schandzeichen“ verstandene Markierung Bedürftige als berechtigte Empfänger von Unterstützung aus, signalisierte aber zugleich, dass diese Personen beispielsweise nicht in Wirtshäusern verkehren durften. Dieser obrigkeitlich verordnete Ausschluss aus ausgewählten öffentlichen sozialen Räumen steigerte die Desintegration der Almosenempfänger. Zudem unterstanden sie an manchen Orten einer besonderen Aufsicht von Bettelvogten und hatten sich möglichst unauffällig, „religiös konform und moralisch würdig“ zu verhalten.60 Allerdings riefen diese Kennzeichnungen und Ausgrenzungen in manchen Städten bereits im 16. Jahrhundert Widerspruch hervor.61 Armut stand in Spätmittelalter und Früher Neuzeit als Gegenbegriff zum Reichtum für ein wirtschaftlich-soziales Phänomen, das den Mangel an jenen Mitteln markierte, „die elementare Voraussetzungen für individuelles und gemeinschaftliches Leben bilden“.62 Die inhaltliche Füllung des Begriffs „Armut“, der sich einer eindeutigen Definition entzieht, ist abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Werten und Bedürfnissen, stellt aber meist eine erhebliche soziale Benachteiligung dar.63 Neben einer rein materiellen Ebene umfasst er nichtmaterielle Aspekte wie das Fehlen von Rechten, von Partizipationsmöglichkeiten, Bildung etc. In historischer Hinsicht ist eine Unterscheidung von primärer und sekundärer Armut hilfreich. Primäre Armut bezeichnet dabei einen „Zustand, welcher keinen Raum ließ für die Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse und Ansprüche.“64 Allein die unmittelbare Sicherung der lebensnotwendigsten Güter bindet hier sämtliche Energien und Kapazitäten. Dieses Phänomen war dem Straßburger Armendiakon Lukas Hackfurt (ca. 1495–1554), der als einer der ersten und erfolgreichsten berufsmäßigen Armenpfleger gilt, im Gegensatz zu den Obrigkeiten gegenwärtig.65 57  Jütte (wie Anm. 49), 211. 58  Vgl. dazu etwa die Praxis in Marburg: Andreas Bingener / Gerhard Fouquet / Bernd Fuhrmann, Almosen und Sozialleistungen im Haushalt deutscher Städte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, in: Peter Johanek (Hg.), Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800 (Städteforschung Reihe A, Darstellungen 50), Köln 2000, 41–62, 54. 59  Rheinheimer (wie Anm. 49), 101. 60  Rheinheimer (wie Anm. 49), 102. 61  Vgl. Fischer (wie Anm. 36), 246; vgl. auch Dirk Brietzke, Armut und Protestverhalten in den norddeutschen Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck. Zum Widerstand gegen die Verfolgung von Bettlern im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jörg Deventer / Susanne Rau / Anne Conrad (Hg.), Zeitenwenden. Herrschaft, Selbstbehauptung und Integration zwischen Reformation und Liberalismus. Festgabe für Arno Herzig zum 65. Geburtstag (Geschichte 39), Münster / Hamburg / London 22006, 467–484. 62  Ulrich Köpf, Art. Armut IV: Kirchengeschichtlich, in: RGG4 1, 780–783, 780. Zum folgenden vgl. auch die Artikel „Armen- und Bettelwesen“, „Armenpflege“, „Armut“ und „Armutskulturen“ von Helmut Bräuer, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 2005, 654–678, und Fischer (wie Anm. 36), 17–20. 63  Jütte (wie Anm. 49), 11–18. 64  Fischer (wie Anm. 36), 40–42, 40. 65  Zu Straßburg vgl. u.a. Heinrich Pompey, Das Engagement für Arme im ausklingenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Katholische und reformatorische Prägungsfaktoren

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Er äußerte Verständnis dafür, dass die Armen nicht an allen Wochengottesdiensten teilnehmen konnten, auch wenn sie wollten. Sie hatten auf Grund ihrer Armut mehr Arbeitszeit aufzubringen, um für ihren nötigsten Lebensunterhalt sorgen zu können. So erklärte er: „Der andern halb gedenke ich, ob sie schon gern an die predig giengend am werktag, hand sie so vil mit irer armut zu schaffen, wie sie ir mälin [ihre kleine Mahlzeit] bessern, das si auch etwan der predigt vergessen. Sie gedenken, die richen haben gut predig hören; sie wüssen, wo sie ir narung und gedeck haben. Armut ist eine schwäre anfechtung.“66 Wenn aber das dürftige Einkommen nicht für die Grundsicherung ausreichte, kam die Bettelei hinzu, und die primäre Armut, die im 15. und 16. Jahrhundert für die Mehrheit der Bevölkerung den vorherrschenden Status darstellte, ging in Bedürftigkeit über. Als sekundäre Armut gilt jene Daseinsform, die nicht mehr allein mit der Sicherung des Existenzminimums beschäftigt war, sondern sich auch in bescheidenem Maße am öffentlichen Leben beteiligen konnte.

3. Armenpflege im 15. und 16. Jahrhundert Das mittelalterliche katholische Prinzip der Armenpflege ist innerhalb des Bußsakraments theologisch zu verorten und hängt unmittelbar mit Reue, Sündenbekenntnis und Genugtuung durch ein Werk und der priesterlichen Satisfaktion zusammen.67 Die Motivation, durch ein gutes Werk etwas für das eigene Seelenheil, beispielsweise durch ein Almosen, tun zu können, stellte eine zentrale Motivation karitativen Handelns dar. Diese unmittelbare, häufig spontane Form des helfenden Handelns verlor allerdings schon Mitte des 14. Jahrhunderts angesichts ihrer Ineffizienz ihre Selbstverständlichkeit und provozierte wachsenden Protest. In den großen Städten formierte sich schließlich einhundert Jahre später – also seit Mitte des 15. Jahrhunderts – Widerstand seitens der städtischen Magistrate und der humanistischen Reformer, die aus unterschiedlichen Gründen für eine rationellere und wirksamere Armenfürsorge plädierten.68 Die dazu erforderlichen, aber häufig des neuen kommunalen und staatlichen Armenwesens am Beispiel der Stadt Straßburg mit Vergleichen zu Freiburg i.Br., in: Konrad Krimm / Dorothee Mussgnug / Theodor Strohm (Hg.), Armut und Fürsorge in der Frühen Neuzeit (Oberrheinische Studien 29), Ostfildern 2011, 41–68, sowie Otto Winckelmann, Über die ältesten Armenordnungen der Reformationszeit (1522–1525), Leipzig 1924. 66  Zitiert bei Sebastian Kreiker, Armut, Schule, Obrigkeit. Armenversorgung und Schulwesen in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Bielefeld 1997, 105. 67  Vgl. dazu Bernhard Schneider, Armut und Armenfürsorge in der Geschichte des Chris­tentums, in: Armut in der Antike. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Trier 2011, 92–101.140–211, sowie Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 1997, 585–598. Zur Krise des überkommenen Wertesystems und der damit zu­sammenhängenden kirchlich-theologischen Vorstellungen vgl. Friedrich Battenberg, Obrigkeitliche Sozialpolitik und Gesetzgebung, in: Zeitschrift für historische Forschung 18 (1991), 33–70, 37–39. 68  Vgl. dazu Christoph Sachsse / Florian Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in  Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 21998, 23–35. Auf dem Land dürfte sich hingegen zunächst nur wenig an der traditionellen Almosenpraxis geändert haben.

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nur schwer durchsetzbaren ordnungspolitischen Maßnahmen standen allerdings in Widerspruch zu den karitativen Zielen kirchlicher Almosenvergabe und zielten vornehmlich auf eine Reglementierung des Bettelns sowie auf einen Ausschluss fremder Bettler, die man als eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung ansah.69 Die Maßnahmen der Sozialgesetzgebung und der Sozialpolitik im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert70 verfolgten deshalb drei Ziele: Man strebte erstens eine rechtliche Differenzierung der Bettler an und zweitens die Bedürftigkeitskontrolle sowie den Ausbau entsprechender Institutionen. Schließlich kam drittens auf der moralischen Ebene die Unterscheidung von „würdigen“ und „unwürdigen“ Bedürftigen ins Spiel. Es ging – zusammenfassend gesprochen – um Kommunalisierung, Rationalisierung, Bürokratisierung und Pädagogisierung der Armenfürsorge.71 Dazu trat – vermehrt seit den 1520er Jahren – bei der Almosenvergabe das Individualisierungsprinzip, das sich strikt an der regelmäßig und streng kontrollierten Bedürftigkeit des Einzelnen orientierte.72 Weitreichende Disziplinierungsmaßnahmen mit dem Ziel der Inklusion waren zudem Bestandteil dieser sozialen Interventionen. Dazu zählten auch die Katechismusprüfungen, die manche Kirchenordnungen vorsahen, die an einigen Orten zweimal jährlich zur Aufrechterhaltung der Bettelerlaubnis bestanden werden mussten. In Basel waren sogar vierteljährliche Examen vorgesehen.73 Wurden die „Prüfungen“ – etwa der Gebete – nicht bestanden, so verlor der Bettler – so beispielsweise in Danzig – sein Bettelzeichen und damit den Anspruch auf Unterstützung.74 Deutlich wird hier: Armenfürsorge implizierte durchaus einen unterschiedlich stark ausgeprägten Bildungsanspruch und nahm deshalb häufig auch die Kindererziehung in den Blick. Diese Vorsätze städtischer Sozialpolitik wurden in den meisten Städten, unabhängig von ihrer Konfession, verfolgt.75 Vergleichende Studien konnten allerdings zeigen, dass es gewisse zeitliche Verschiebungen in den katholischen und evangelischen Städten gab.76 Die Kommunalisierung und Rationalisierung der Fürsorge setzte in vielen Städten spätestens in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein 69  Der Augsburger Reichstag beschloss schließlich 1530, fremde Arme von der obrigkeitlich zugeteilten Fürsorge auszuschließen. Mit dieser Maßnahme sollte die Anzahl der Bedürftigen, die von den Städten Versorgung erwarteten, reduziert werden. Die Folge war ein Anwachsen der heimatlosen Vaganten und Bettler und deren zunehmende Kriminalisierung. Vgl. dazu Rheinheimer (wie Anm. 49), 100f. 70  Vgl. dazu den Überblick von Theodor Strohm, Armut und Fürsorge in der frühen Neuzeit. Aufbrüche und Entwicklungen in den Regionen Europas, in: Krimm / Mussgnug / Strohm (Hg.) (wie Anm. 65), 17–39. 71  Zu diesen Begriffen vgl. Sachsse / Tennstedt (wie Anm. 68), 35. 72  Oehmig (wie Anm. 37), 113f. 73  Riggenbach (wie Anm. 12), 27f. 74  Rheinheimer (wie Anm. 49), 101f. 75  Für einige Städte im Norden und Bugenhagens Programm vgl. Tim Lorentzen, Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge, Tübingen 2008. 76  Vgl. hier vor allem Fischer (wie Anm. 36), passim, und Robert Jütte, Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit. Städtisches Armenwesen in Frankfurt am Main und Köln, Köln u.a. 1984.

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und bedeutete eine Abkehr von der traditionellen mittelalterlichen Armenfürsorge. Die neu entstehenden Armenordnungen des 15. Jahrhunderts sind in diesem Zusammenhang systemtheoretisch als „Ausdruck einer zunehmenden Funktionsdifferenzierung“ zu interpretieren.77 Denn die städtischen Magistrate übernahmen nun zusehends armenfürsorgerische Aufgaben, die zuvor in kirchlichen respektive privaten Händen gelegen hatten. In den Jahren der frühen Reformation erfasste schließlich um 1520 ganz Europa eine armenfürsorgerische Reformwelle: Die Bettelerlaubnis wurde weiter eingeschränkt oder in Städten wie beispielsweise in Wittenberg78 und Nürnberg 1522 verboten. Zentralisierungsmaßnahmen, kommunales Fürsorgewesen und soziale Kontrolle der Armen nahmen merklich zu. Trotz dieser historisch nachweisbaren Entwicklungen bleibt die Frage nach dem Grad der Realisierung dieser armenfürsorgerischen und armenpolizeilichen Konzepte und der Rezeption ihrer Verordnungen und Normierungen häufig noch nicht präzise bestimmt. Wenig wissen wir zudem über die Armut auf dem Land und über deren Bewältigung.79 Dass freilich in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaften soziale Not und Armut allgegenwärtig waren, darf trotz einer rudimentären Quellenlage als sehr wahrscheinlich angenommen werden. Luther und andere Reformatoren nahmen diese zeitgenössischen armenreformerischen Gedanken auf.80 Der Wittenberger Theologe gab in seinen Schriften der frühen 1520er Jahre, die auch die Armenversorgung thematisierten, den Stand des seinerzeit aktuellen sozialpolitischen Diskurses wieder. Seine in der „Adelsschrift“ erhobene Forderung der Abschaffung des Bettels in der Christenheit „war letztlich nur die theologische Formulierung des uneingeschränkten Bettelverbotes, das in den spätmittelalterlichen Armenordnungen vorbereitet worden war und fester Bestandteil der evangelischen Kirchenordnungen wurde.“81 Allerdings konnten sich die Reformen der Armenfürsorge in den reformatorisch gesinnten Territorien häufig schneller durchsetzen als in den altgläubigen Gebieten. Die Bedeutung der Reformation liegt in diesem Kontext darin, dass sie erstens den alten kirchlichen 77  Sebastian Schmidt, „Gott wohlgefällig und den Menschen nutzlich“. Zu Gemeinsamkeiten und konfessionsspezifischen Unterschieden frühneuzeitlicher Armenfürsorge, in: Schmidt / Aspelmeier (Hg.) (wie Anm. 42), 61–90, 64. 78  Stefan Oehmig verweist darauf, dass Wittenberg im Vergleich zu anderen mitteldeutschen Städten wie beispielsweise Leipzig oder Zwickau „noch an der Wende zur Neuzeit kein halbwegs intaktes Armenwesen aufzuweisen hatte, sondern ein solches erst unter dem Einfluss der Reformation aufzubauen begann“; Oehmig (wie Anm. 44), 111. Die Stadt selbst hatte sich nach der Gründung der Universität im Jahr 1502 rasch entwickelt: 1508 lebten dort knapp 2.000 Menschen, 20 Jahre später doppelt so viele und 1542 fast 5.000 Einwohner, ohne Studenten; vgl. zu den Zahlen Uwe Schirmer, Alltag, Armut und soziale Not in der ländlichen Gesellschaft. Beobachtungen aus dem kursächsischen Amt Wittenberg (1485–1547), in: Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen (wie Anm. 37), 115–142, 119. Vgl. ferner Wolfgang Böhmer / Ronny Kabus, Zur Geschichte des Wittenberger Gesundheits- und Sozialwesens, Bd. 1: Von der Stadtfrühzeit bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, Wittenberg 1981. 79  Vgl. dazu Schirmer (wie Anm. 37). 80  Zu den konfessionellen Spezifika der Armenfürsorge vgl. Schmidt (wie Anm. 42) sowie Pompey (wie Anm. 65). 81  Kreiker (wie Anm. 66), 39f.

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Institutionen die Almosenvergabe entzog und diese zu zentralisieren versuchte, wie das Beispiel des Gemeinen Kastens zeigt.82 Dieser Gemeine Kasten, eine größere mit Beschlägen und Schlössern versehene Holzkiste, wurde zu einem zentralen Instrument der evangelischen Finanzverwaltung und stellt verwaltungsorganisatorisch eine „neue Qualität“ dar, da „im Unterschied zu den früheren Sonderkassen in sämtliche Fonds konzentriert“ wurde.83 Im gesamten mitteldeutschen Raum etwa setzte er sich flächendeckend durch und stellte eine Einrichtung dar, die es in dieser Weise in vorreformatorischer Zeit nicht gegeben hatte.84 Zweitens propagierten die der Reformation anhängenden Magistrate nicht nur neue Unterstützungsformen, sondern setzten diese auf einer neuen materiellen Grundlage auch um. Drittens schließlich ist das allgemeine Bettelverbot zu nennen, das freilich in katholischen Städten nicht so umfassend und restriktiv gehandhabt wurde. Der Vergleich reformatorischer und katholischer Städte zeigt aber, dass in beiden Bereichen aufgrund der geforderten Kommunalisierung und Rationalisierung eine zunehmende Bürokratisierung der Armenfürsorge erforderlich wurde. Mit dem Begriff des „Gemeinen Kastens“85 ist nicht nur ein zentrales Instrument der evangelischen Armenfürsorge gemeint, sondern auch ein Behältnis, in das neben den Almosen weiterhin wichtige Dokumente zur Verwahrung eingelegt wurden. Deshalb wurde der Kasten auch besonders gesichert. Um ihn zu öffnen bedurfte es gewöhnlich drei unterschiedlicher Schlüssel. Die vom Rat und nicht von Luther verfasste Wittenberger Beutelordnung86 sah „ein kast mit dreyen Schlosseln wol bewarth“ vor.87 In Magdeburg waren es sogar zehn.88 Zum anderen steht der Begriff aber auch für die Institution, welche das kirchliche Vermögen verwaltete. Insgesamt gesehen ist er verwaltungstechnisch als eine Unterbehörde 82  Die Beurteilung des Gemeinen Kastens und seines innovativen Potentials unterliegt in der Forschung starken Schwankungen; vgl. dazu Oehmig (wie Anm. 44), 75. Die neuere Forschung relativiert diesen Gehalt weithin; so beispielsweise Ernst Schubert, „Hausarme Leute“, „starke Bettler“. Einschränkungen und Umformungen des Almosengedankens um 1400 und um 1500, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Armut im Mittelalter (Vorträge und Forschungen / Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte 58), Ostfildern 2004, 283–347, der scharf mit Luther ins Gericht geht (332). Allerdings gibt es Autoren und Autorinnen, die die reformatorischen neuen Akzente hervorheben; Beispiele nennt Oehmig (wie Anm. 44), 76f. 83  Oehmig (wie Anm. 44), 111. 84  Oehmig (wie Anm. 44), 73. Robert Jütte etwa erklärt: „Die Reformation machte den Weg frei für die Entwicklung einer neuen sozialen Politik, die weltliche Strukturen der Fürsorge bevorzugte“; Jütte (wie Anm. 49), 142. Oehmig schließlich misst der Reformation bei der Frage nach den „Triebkräften der Wittenberger Sozialreformen der Jahre 1520/21 und 1522“ eine „tragende Rolle“ zu; Oehmig (wie Anm. 44), 84. 85  Der Gebrauch der Bezeichnungen „Kastenordnung“, „Almosenordnung“ oder „Gemeiner Kasten“ oder „Gemeines Almosen“ war schwankend. Vgl. dazu ebd. 86  Diese Ordnung, die Luther zwar vorgelegen hatte, war, wie Oehmig nachweist, allerdings in der städtischen Kanzlei formuliert worden; Oehmig (wie Anm. 44), 80f. Zu den Entwicklungen in Wittenberg vgl. auch die unveröffentlichte Dissertation von Oehmig (wie Anm. 44). 87  Zuletzt ediert durch Ernst Koch, in: WA 59, 63–65. 88  Riggenbach (wie Anm. 12), 20.

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des Rates zu verstehen.89 Allerdings ist in diesem Zusammenhang einem weit verbreiteten Vorurteil entgegenzutreten: Die Gemeinen Kästen dienten nicht in erster Linie der Fürsorge. Die Armenpflege war nur eine von mehreren Angelegenheiten, und im Vordergrund standen in den meisten Kirchenordnungen andere Aufgaben.90 In der häufig zitierten Leisniger „Ordnung eines gemeinen kastens“ (1523) beispielsweise, die erstmalig eine Armensteuer erwähnt,91 tauchen die armenfürsorgerischen Aufgaben erst an vierter Stelle auf. Vorher nannte sie die Versorgung der Pfarrer, des Küsters und des Schulmeisters. Zudem hatte der Gemeine Kas­ ten auch die Baulasten für Kirche, Schule usw. zu tragen. Diese hier erkennbare Zu­sammenstellung ist ein Charakteristikum der reformatorischen Neuordnung kirchlicher Finanzen.92 Der aus Pommern stammende Reformator Johannes Bugenhagen (1485–1558), der als eigentlicher Schöpfer lutherischer Armenordnungen gilt, erkannte die Problematik dieser Finanzverwaltung und trennte 1528 in der Braunschweigischen Kirchenordnung die Armenkasse von dem so genannten Schatzkasten ab.93 Bugenhagen wurde spätestens am Ende der 1520er Jahre zur „Leitfigur“ in diesem Bereich.94 Die Gemeinen Kästen95 finanzierten sich zunächst vornehmlich aus den säkularisierten Kirchengütern und durch Almosen. Allerdings stellte die zunehmende Spendenunwilligkeit ein erhebliches Problem dar.96 Weitere Einnahmen verschafften Geldgeschäfte oder Kornverkauf, die – wie es das Beispiel des Wittenberger Kastens zeigt – zeitweise mehr als die Hälfte des Jahreseinkommens einbrachten. Hier wird eine frühe Form der Ökonomisierung sozialer wie diakonischer Arbeit offensichtlich. Von diesen Geldern profitierten in Wittenberg nicht nur die als berechtigt ausgewiesenen Armen, sondern ebenso mittellose Handwerker, die als Hilfe zur Selbsthilfe zinslose Kredite erhielten.97 Auch wenn es durch die Gemeinen Kästen gelang, in durchaus unterschiedlichem, aber eher bescheidenem Maße 89  Oehmig (wie Anm. 44), 113. 90  Kreiker (wie Anm. 66), 55. 91  Diese Steuer war allerdings nicht sehr erfolgreich, und Luther sah seine Erwartungen als nicht erfüllt an. Vgl. dazu Jütte (wie Anm. 37), 14. 92  Kreiker (wie Anm. 66), 56. Auch in der württembergischen Kastenordnung von 1536 rangierte die Armenfürsorge hinter anderen Obliegenheiten. Daneben trat aber auch die Frage nach der finanziellen Belastbarkeit des Gemeinen Kastens – wie etwa in Zeiten der Pest – in den Vordergrund, und es konnte heißen: „Es will auch dem gemeynen kasten beschwerlich furfallen, dass der gemeine kasten alle erhalten soll in sterbens zeiten mit werterin vnd iren behausung, dy toten treger vnd die heuser, so ein e[hrbarer] rad zu schleust [...]“; zitiert bei Elke Schlenkrich, „Es will auch dem gemeynen kasten beschwerlich furfallen, dass er alle erhalten soll in sterbens zeiten“. Pest und Armenpolitik in sächsischen Städten des 16. Jahrhunderts, in: Oehmig (Hg.), Medizin und Sozialwesen (wie Anm. 37), 143–167, 146. 93  Vgl. dazu Lorentzen (wie Anm. 75), 211. 94  So Jütte (wie Anm. 37), 14. Weitere wichtige reformatorische Reformer des Armenwesens waren Caspar Hedio (1494–1552) in Straßburg und Andreas Hyperius (1511–1564) in Bremen. 95  Zu den Einkünften und zur finanziellen Leistungsfähigkeit des Gemeinen Kastens vgl. ausführlich Oehmig (wie Anm. 44), 92–99. 96  Oehmig (wie Anm. 44), 94. 97  Kreiker (wie Anm. 66), 53; Oehmig (wie Anm. 44), 97.

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die Armenfürsorge zielgerichteter zu organisieren und durchaus Not zu lindern, so funktionierten sie langfristig häufig – vor allem in kleineren Städten – aufgrund ihrer finanziellen Überforderung nur unzureichend. Deshalb erstaunt es nicht, wenn neben dieser offiziellen armenfürsorgerischen Institution auch in evangelischen Territorien – in Ulm beispielsweise bis in 17. Jahrhundert hinein – das traditionelle Verhältnis von Almosengeben und Fürbitte der Armen üblich blieb. Almosen wurden beispielsweise in Württemberg und Basel in Wirtshäusern eingesammelt. Dort waren Sammelbüchsen angebracht, damit auch fremde Gäste nach Aufforderung durch den Wirt einen Obolus leisten konnten.98 Dezentrale Unterstützung von Bedürftigen versuchte man in Straßburg dadurch zu fördern, dass man diejenigen Häuser mit einem roten Schild markierte, in denen notleidende Familien lebten.99 Eine weitere wichtige Einnahmequelle für eine zentralisierte Armenfürsorge ergab sich aus der Auflösung der Klöster. Nach ihrer Aufhebung ging an vielen Orten die Armenfürsorge und Krankenpflege an die städtische Obrigkeit über. Auch die Einziehung von weiteren Kirchengütern konnte, wie es beispielsweise in Basel und Zürich ersichtlich wird, die materielle Grundlage für eine zentrale Almosenkasse schaffen, die eine wesentliche Voraussetzung für die Umsetzung eines allgemeinen Bettelverbots darstellte und effektiver als der Gemeine Kasten agieren konnte. Als letztes Beispiel armenfürsorgerischer oder – was häufig identisch zu sein schien – armenpolizeilicher Maßnahmen ist die Einrichtung von Sonderquartieren zu nennen, wie sie in Straßburg und Basel vorzufinden waren. Der Rat richtete sie ein, um dort die fremden Bettler zu registrieren und sie einen Tag lang zu verpflegen. Wenn sie gesund waren, wies man sie anschließend ab. Durch diesen „formalisierten und lückenlosen Verfahrensablauf in der Abfertigung der Fremden entzog die Obrigkeit diese Bettler jeglicher direkten Unterstützung durch die Bürger.“100 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die grundlegenden reformerischen Maßnahmen zur Optimierung und Reorganisation der Armenpflege vorreformatorischen Ursprungs sind. Das belegen Armenordnungen aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert zweifelsfrei.101 Deshalb ist die Gestaltung der frühneuzeitlichen Armenfürsorge nicht ursächlich auf die Reformation zurückzuführen; diese brachte diesbezüglich nichts wesentlich Neues. Allerdings intensivierten die reformatorischen Bewegungen aufgrund ihres inhärenten sozialen Engagements nicht nur die armenfürsorgerischen Diskurse, sondern auch die praktische Umsetzung. Dabei lassen sich innerhalb der reformatorischen Bewegungen unterschiedliche diakonische Modelle erkennen, wenn beispielsweise Martin Bucer (1491–1551) im Gegensatz zu anderen Reformatoren die Armenpflege als eine genuin kirchliche Aufgabe betonte.102 In den frühen 1520er Jahren gab es zudem eine produktive Wechselwirkung „zwischen der Ausformung der städtischen Armenordnungen und der Reformation [...], und zwar nicht im Hinblick auf fürsorgerische Fra98  Riggenbach (wie Anm. 12), 24f. 99  Riggenbach (wie Anm. 12), 36. 100 Richter (wie Anm. 4), 51f. 101 Kreiker (wie Anm. 66), 42. 102 Michael Klein, Der Beitrag der protestantischen Theologie zur Wohlfahrtstätigkeit im 16. Jahrhundert, in: Strohm / Klein (Hg.) (wie Anm. 40), 146–179, 168.

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gen, sondern unter dem Aspekt der Bewertung der guten Werke und der sozialen Intention.“103 Denn Luther hatte bekanntlich nachdrücklich darauf bestanden, dass das Almosen104 nach reformatorischer Auffassung Ausdruck des neuen Glaubens sei und nicht ein Mittel, um beispielsweise das ewige Leben zu gewinnen. Somit entfiel das individuelle religiös begründete Motiv der Armenfürsorge. Dieser Wandel zeigte sich auch in zahlreichen bildlichen Darstellungen seit dem 16. Jahrhundert.105 Wie aber konkretisierten sich reformatorische Werke der Barmherzigkeit? Dieser Frage gehe ich nun in einem weiteren Schritt exemplarisch am Beispiel Zürichs nach.

4. Zürich: Diakonie als weltlicher Sozialdienst Heinrich Bullinger (1504–1575) berichtet in seiner Reformationsgeschichte von der ältesten Zürcher Predigt Zwinglis. Zwingli habe sich dort gegen Aberglauben und Heuchelei, gegen lasterhaftes Leben, Maßlosigkeit und Müßiggang, aber auch gegen das Pensionswesen und den Krieg ausgesprochen. Außerdem verurteilte er die Unterdrückung der Armen und forderte Schutz für Witwen und Waisen: „Häfftig hůb er an wider den mißglouben superstition vnd glychßnery reden. Die bůß oder besserung des läbens, vnd Christenliche lieb vnd trüw, teyb er häfftig. Die laster, alls der Müssiggang, vnmaaß in ässen trincken kleydern, frässerey vnd füllery, vndertrucken der Armen, pensionen vnd kriegen strafft er ruch, trang ernstlich vff das ein oberkeit gericht vnd rächt hiellten, wittwen, vnd weysen schirmpten, vnd das man die Eydgenossische fryheit sich zů behalten flysse, der fürsten und Herren bůlen vßschlüge. Sömliches predigens halb hůb sich an das volck zweyen. Denn ettliche in der gmeind, ouch der gwalltigen und geistlichen, hörtend es gern vnd lobten Gott vmm sömlich predigen. die andern warend übel zůfriden, vnd schaltend den Zwinglj übel, alls der die Statt Zürich in groß lyden brigen werde.“106 103 Kreiker (wie Anm. 66), 42. 104 Zum mittelalterlichen Verständnis des Almosens vgl. Ernst Schubert, Gestalt und Ge­ staltwandel des Almosens im Mittelalter, in:  Jürgen Schneider / Gerhard Rechter (Hg.), Festschrift Alfred Wendehorst. Zum 65. Geburtstag gewidmet von Kollegen, Freunden, Schülern (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 53), Neustadt (Aisch) 1992, 241–262. 105 Jütte (wie Anm. 49), 25–27. Dass die konfessionellen Differenzen von den Zeitgenossen häufig allerdings weniger exklusiv erlebt wurden, zeigt exemplarisch die Tatsache, dass der reformierte Straßburger Münsterprediger Caspar Hedio 1533 eine deutsche Übersetzung der grundlegenden Theorie der Armenfürsorge („De subventione pauperum“) des Katholiken Jean Luis Vives (gest. 1540) übersetzte, die dann auch von Protestanten rege zur Kenntnis genommen wurde. Zu Abbildungen von Armut vgl. beispielsweise Herbert Uerlings / Nina Trauth / Lukas Clemens (Hg.), Armut – Perspektiven in Kunst und Gesellschaft, Darmstadt 2011. 106 Heinrich Bullingers Reformationsgeschichte nach dem Autographen herausgegeben auf Veranlassung der vaterländisch-historischen Gesellschaft in Zürich, Frauenfeld 1838, 12f.; vgl. auch bei Walther Köhler, Armenpflege und Wohltätigkeit in Zürich zur Zeit Ulrich Zwinglis, Zürich 1919, 1f., in leichter sprachlicher Übertragung.

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Von Anfang an dürfte sich Zwingli demnach in Zürich sozialfürsorgerisch und diakonisch engagiert und damit Kontroversen und weiterführende soziale Überlegungen in der Stadt ausgelöst haben.107 Denn schon im August 1519 erteilten Bürgermeister und Räte zwei Bürgern den Auftrag, die Versorgungen von Armen und Kranken zu organisieren. Ein gutes Jahr später lag mit der „Satzung vom Almusen“ das Ergebnis vor. Diese Ordnung ist ein Dokument einer Übergangszeit und formuliert noch kein generelles Bettelverbot. In der Folgezeit sollte auch außerhalb der Stadt der Wunsch nach einer geregelten Armenpflege laut werden.108 Zwingli ist damit ein anschauliches Beispiel dafür, wie Reformation und Wohlfahrt zusehends in das öffentliche Bewusstsein traten.109 Der Begriff „Reformation“ verlor dabei im 16. Jahrhundert seinen rückwärtsgewandten Sinn und zielte nun auf eine Verbesserung der allgemeinen Lebensverhältnisse. Der Ausdruck „Wohlfahrt“, der im 15. Jahrhundert nur vereinzelt vorkommt und im 16. Jahrhundert rasche Verbreitung findet, nimmt das funktionierende und florierende Gemeinwesen in den Blick. Es geht hier um die gute politische Ordnung, die durch eine Vielzahl von Mandaten und somit durch weitreichende Sozialkontrollen hergestellt werden sollte.110 Wie die vor wenigen Jahren veröffentlichte zweibändige Sammlung der Zürcher Kirchenordnungen der Jahre 1520 bis 1675 zeigt, waren Armut und vor allem Bettelei als Störungen der öffentlichen Wohlfahrt immer wieder Gegenstand solcher Mandate.111 Bezeichnenderweise beschäftigt sich der erste dort abgedruckte und nicht präzise zu datierende Text aus dem frühen 16. Jahrhundert mit dem Bettelwesen in Zürich.112 Hier geht es wie in vielen anderen vergleichbaren obrigkeitlichen Verlautbarungen um die Beschwernisse, die mit der Vielzahl vor allem fremder Bettler einhergehen: „Unser herren Burgermeister und Raat der Statt Zürich haben angesächen nach dem der gemein mann von den frömbden bettlern mercklich beschwert wirt“113 Um diese fremden Bettler rasch identifizieren zu können, sollten auch hier den einheimischen „Betleren Zeychen angehennckt werden“. Vor allem untersagt diese Verordnung das Betteln an bestimmten Orten, nicht aber das Betteln an sich: „Es sol ouch kein Betler uf trinckstuben und die 107 Vgl. dazu ebd. und Alice Denzler, Geschichte des Armenwesens im Kanton Zürich im 16. und 17. Jahrhundert, Zürich 1920. 108 Denzler (wie Anm. 107), 25f. 109 Vgl. dazu Lee Palmer Wandel, Always among Us: Images of the poor in Reformation in Zwingli‘s Zurich, Cambridge 1990. 110 Theodor Strohm, Wege zu einer Sozialordnung Europas in der Aufbruchszeit des 16. Jahrhunderts, in: ders. / Klein (Hg.) (wie Anm. 40), 14–58, 25. 111 Emidio Campi / Philipp Wälchli (Hg.), Zürcher Kirchenordnungen, 1520–1675, Zü­rich 2011. In der Sammlung der Basler Kirchenordnungen sind beispielsweise Almosenordnungen (1530, 1590) abgedruckt, eine Bettelordnung (1561), ein Mandat zu den Missbräuchen beim Almosen (1573), eine Bettel-, Armen- und Almosenordnung (1626); vgl. dazu Emidio Campi / Philipp Wälchli (Hg.), Basler Kirchenordnungen 1528–1675, Zürich 2012. 112 Campi / Wälchli, Zürcher Kirchenordnungen (wie Anm. 111), 1f. 113 Campi / Wälchli, Zürcher Kirchenordnungen (wie Anm. 111), 1. Dort auch die weiteren Zitate aus dem Mandat.

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wirtshüser oder in den kilchen umbgon zů gutzlen [hausieren, betteln] oder betlen, sonnder sich benügen lassen vor den kilchen und vor byderben [biederen] lütten hüsern.“ Ebenfalls nicht genau zu datieren ist ein weiteres Mandat zum Bettelwesen, das wahrscheinlich in die frühen 1520er Jahre gehört und sich wiederum gegen fremde Bettler, Heiden und „zyginern“ wendet und einige Anordnungen der eben erwähnten ersten Verordnung wiederholt. Darüber hinaus droht es auch demjenigen Strafe an, der seine Kinder „uff das bettel schickt“.114 Im folgenden Jahrzehnt erschien 1534 eine Einschärfung der Almosenordnung sowie zwei Jahre später ein Mandat zum Armenwesen.115 Die erkennbaren Wiederholungen in den Texten lassen vermuten, dass diese Ordnungen nicht zu dem von der Obrigkeit erhofften Erfolg geführt haben. Doch beschränkte sich die Armenfürsorge in Zürich nicht allein auf die Schaffung rechtlicher sozialfürsorgerischer Rahmenbedingungen, sondern man ergriff auch praktische Maßnahmen, wie sich Anfang 1525 zeigen sollte.116 Dieser Jahresbeginn war für die weitere Geschichte des Zürcher Armenwesens deshalb von besonderer Bedeutung, weil man beispielsweise beschloss, alle klösterlichen Stiftungen für die Armenfürsorge zu verwenden. Auch die in den drei Klöstern befindlichen Messgewänder, Altartücher und andere Kleinodien sah man für den Verkauf vor. Die weniger wertvollen und nicht aus Seide gefertigten Messgewänder und Alben sollten unter den Armen verteilt werden, um sie vor dem Fraß der Motten zu bewahren. Die aus dem Januar 1525 stammende „Ordnung und artikel antreffend das almuosen“117 bildete in der Folgezeit bis zur Helvetik (1798) die Grundlage für das Zürcher Armenwesen. Sie ist Ausdruck einer engen Verknüpfung von Humanismus und reformatorischer Theologie und kann mit Emidio Campi als „epochale soziale Reform“ gewürdigt werden. Er zählt Zürich zu den „ersten Gemeinwesen im Europa der Frühen Neuzeit, das soziale Neuerungen eingeführt hat, die im weitesten Sinne als Vorläufer des Wohlfahrtsstaates betrachtet werden können“.118 Hier übernahm mit Mandat vom 15. Januar 1525 der Rat die ehemals bei der Kirche liegenden sozialen Aufgaben.119 Zur Umsetzung ihrer Regeln setzte der Rat vier Männer ein, die sich konkret um das Armenwesen zu kümmern und die jeweiligen Ansprüche der Bittsteller zu prüfen hatten. Dadurch, dass die Zürcher Armenpflege eine „staatliche“ Institution war, verfügte sie auch über die erforderlichen Mittel, die sie unabhängig von Kirche und privater Wohltätigkeit frei agieren ließen. Neben der Armenpflege widmete man sich in Zürich auch der Kinderfürsorge und einer Reorganisation der medizinischen Versorgung. 114 Campi / Wälchli, Zürcher Kirchenordnungen (wie Anm. 111), 12f. 115 Campi / Wälchli, Zürcher Kirchenordnungen (wie Anm. 111), 163f. sowie 172f. 116 Vgl. zum Folgenden Denzler (wie Anm. 107), 29–41. 117 Vgl. Emil Egli (Hg.), Actensammlung zur Geschichte der Zürcher Reformation in den Jahren 1519–1533, Zürich 1879, Nr. 619. 118 Emidio Campi, Erbe und Wirkung der Zürcher Reformation, in: Erwin Koller / Johannes Fischer (Hg.), Der wirtschaftliche Erfolg und der gnädige Gott. Christliche Arbeitsmoral, Sozialstaat und Globalisierung. Texte zum Symposium „Zwischen Grossmünster und Paradeplatz“ vom 19. Januar 2007 in Zürich, Zürich 2007, 39–50, 45. 119 Campi (wie Anm. 118), 44.

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In Zürich, wo um 1530 in der Stadt etwa 5.000 Einwohner lebten, auf der Landschaft über 50.000,120 war in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts durch Zersplitterung des Landbesitzes ein Landproletariat entstanden, das die Fürsorgeunterstützung vor große Herausforderungen stellte. Die vorreformatorische Armenpflege, die weitgehend durch Klöster oder durch die Armenspeisung reicher Bürger erfolgt war und die zudem einige karitative Stiftungen und Einrichtungen zur Krankenpflege umfasst hatte, wurde im September 1520 durch eine „Satzung vom Almosen“ auf eine neue Ebene gestellt. Sie erlaubte weiterhin das sonntägliche Almosensammeln nach der Messe, ein grundsätzliches Bettelverbot war demnach noch nicht intendiert. Rücklagen und Urkunden sollten in einem dem Gemeinen Kasten ähnlichen „Troge“ aufbewahrt werden. In diesem Zusammenhang entstand auch ein erstes kommunales Almosenamt, das beispielsweise Darlehen vergab. Ob und inwiefern Zwingli, der seit dem 1. Januar 1519 in Zürich wirkte, an dieser Satzung beteiligt war, ist unklar. Aber es dürfte nicht unwahrscheinlich sein, dass die anscheinend schon früh erkennbare soziale Ausrichtung von Zwinglis Theologie, wie sie in seinen Predigten erkennbar wurde, in Zürich das Bewusstsein für sozialpolitische und diakonische Fragen geschärft hat. In Folge der sich immer weiter durchsetzenden Reformation in Zürich kam es ab September 1523 zu umfangreichen Sozialreformen. Es wurden Stiftungen und Pfründe aufgehoben und der Armenpflege zugeführt. 1524 folgte die weitgehende Aufhebung der Klöster, von denen zwei fortan als Armenherbergen dienten. Anfang 1525 erließ der Rat der Stadt schließlich die schon erwähnte Armenordnung für die Stadt Zürich, an der Zwingli in einem nicht näher bestimmbaren Maße mitgewirkt haben dürfte. Insgesamt gesehen ist sie allerdings weniger Ausdruck seiner Theologie als vielmehr ein typisches Dokument seiner Zeit, das, wie andere Armenordnungen auch, vor allem die Rationalisierung und Kommunalisierung der Armenfürsorge vorangetrieben hat. Diese Ordnung beschränkt sich auf rein pragmatische Hinweise und zeigt deutlich die von Zwingli angestrebte politische Trägerschaft der Diakonie, von der er sich mehr Verlässlichkeit, Kontinuität und Erfolg erhofft haben dürfte als von einer gemeindlich organisierten Fürsorge. In personeller Hinsicht ist ein vom Rat beauftragter Obmann für die Verwaltung und Verteilung der Almosen zuständig, dem vier „Pfleger“ zur Seite gestellt werden. Diese Personen kamen aus den beiden führenden Gremien, dem Großen und Kleinen Rat. In den jeweiligen Stadtvierteln wurden ein Priester und ein Laie bestimmt, die gemeinsam mit dem Bettelvogt die Bedürftigen feststellen sollten. Darüber hinaus nahmen zwei Priester gemeinsam mit dem Bettelvogt eine tägliche Armenpflege vor. Die Finanzierung der Armenfürsorge resultierte aus den nun in städtische Verwaltung übergegangenen Klostergütern. Auch in Zürich bewahrte man alle diesbezüglichen Unterlagen und das Geld in einer „gemeinsamen Truhe“ auf. Die Ordnung regelte ebenfalls 120 Nürnberg hatte 35.000–40.000 Einwohner, Lübeck 35.000, Leisnig 1.500; Zahlen bei Michael Klein, Einleitung, in: Theodor Strohm / Michael Klein (Hg.), Die Entstehung einer sozialen Ordnung Europas, Bd. 2: Europäische Ordnungen zur Reform der Armenpflege (Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts an der Universität Heidelberg 23), Heidelberg 2004, 100–102, 100; das Folgende im Anschluss an Klein.

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die Frage der Bedürftigkeit. Sie vertrat im Wesentlichen das Heimatprinzip121 und erlaubte fremden Bettlern nur einen Aufenthalt über Nacht. Bettelei war verboten und Verstöße gegen die Armenordnung wurden mit Gefängnis bestraft. Zusammenfassend ist festzuhalten: „Die soziale Reform der Stadt weitet sich zunehmend in eine totale Sozialkontrolle aus.“122 Als zentrales und alltägliches Mittel der Armenunterstützung galt in Zürich, aber auch in Basel beispielsweise, die Armenspeisung.123 Ihr zentraler Stellenwert wird in der Zürcher Almosenordnung aus dem Jahr 1525 sogleich deutlich, da die Armenordnung mit der Beschreibung dieser karikativen Maßnahme einsetzt: „Des ersten damit die armen lüt ab der gassen gebracht, ist zuo einem anfang angesechen, dass man alle tag ein kessel mit habermel, gersten oder anderem gemües zuo den Predigeren koche, wie hernach folget, muos und brot am morgen, so man die predigergloggen verlütet hat, geben sölle.“124 Weitere Ordnungen regelten beispielsweise die Beschaffenheit des Brotes. In Basel hingegen ging man mit Blick auf die Qualität der Armenspeisung noch ein Stück weiter. Dort wurden im sogenannten Mushaus, in der Kartause und später ausschließlich in der Armenherberge der Mus ausgeteilt. Dieser sollte aber – so die fürsorgliche Bestimmung der Jahre 1537 und, wonach ich zitiere, 1590 – wie folgt gekocht werden: „Jn dieser außspendung gehört ein guter fleiß / also dz das gemüeß / sovil jmmer möglich verendert / jetz Erbs / dann Linsy / Gersten / Rüeben / auch etwan Fleisch / wann das zu bekommen were / gekochet / unnd dermassen lustig vnnd sauber abbreitet / auff das die armen dessen gefreuwet werden“.125 An den hohen Festtagen sollen Sonderportionen an Fleisch gegeben werden, damit sich auch die Armen freuen können.126 In Zürich verfügte die Armenfürsorge als staatliche Institution mit einem Almosenfonds über die notwendigen finanziellen Mittel und konnte sich frei von Kirche und privater Wohltätigkeit entfalten. Zwingli selbst forderte die Bestimmung der säkularisierten Kirchengüter für die Armenfürsorge und wird es mit Freuden angesehen haben, dass auch Messgewänder und Altartücher zu Gunsten der Armenfürsorge verkauft wurden. In seinen „Schlussreden“127 wird nicht nur die Forderung laut, „alle Reichtümer mit den Armen zu teilen“128, sondern es wird auch deutlich, dass Zwingli zu den kirchlichen Amtsträgern auch die „Diener“, d.h. die karitativen Diakone, zählt: „Also laß ich hie gern priester sin, die by der kilchen lerend, die, so das gotswort verkündend, die, so die griechisch und hebra121 Vgl. dazu Strohm (wie Anm. 40), 37. 122 Strohm (wie Anm. 40), 101. 123 Riggenbach (wie Anm. 12), 28. 124 Almosenordnung der Stadt Zürich vom 15. Januar 1525, in: Egli (wie Anm. 117), 270; auch abgedruckt in: Strohm / Klein (Hg.) (wie Anm. 120), 102–107, 102. 125 Campi / Wälchli, Basler Kirchenordnungen (wie Anm. 111), 100. Vgl. auch Riggenbach (wie Anm. 12), 28. 126 Riggenbach (wie Anm. 12), 29. 127 Zitiert bei Gottfried Hammann, Die Geschichte der christlichen Diakonie. Praktizierte Nächstenliebe von der Antike bis zur Reformationszeit, Göttingen 2003, 227. 128 Huldreich Zwingli, Auslegen und Gründe der Schlußreden, in: Emil Egli / Georg Finsler (Hg.), Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Bd. 2 (Corpus Reformatorum 89), Leipzig 1908, 14–457, 295 (= Z 2, 295).

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isch sprach tollmetschend, die predgend, die artznend, die die krancken heimsuochen, die, die hilff und almuosen den armen zuoteilend, die spysend; denn dise stuck ghörend alle zuo dem wort gottes.“129 Bei Zwingli wird erkennbar, dass derjenige, der sich mit Diakonie im karitativen Sinn beschäftigt, auch Diener des Wortes, der evangelischen Botschaft ist, ohne jedoch im eigentlichen und engeren Sinne Prediger zu sein.130 Die tatsächlich vollbrachte diakonische Praxis ist für Zwingli eine elementare Form der „Verkündigung“. Somit gehören die Diakone nach dem Vorbild der Diener in Apg 6,1–7 unzweifelhaft zu den Dienern des Wortes: „In Zwinglis Entwurf oblag ihnen die karitative Verpflichtung gegenüber der ganzen Gesellschaft.“131 Der Zürcher Reformator verortete den Diakon zwischen den Armen und den Priestern. Er verzichtete aber darauf, seelsorgerliche und diakonische Verantwortung in einer Person zu vereinen, was theologisch durchaus möglich, aber „doch ungeeignet im Hinblick auf die Strukturen der Kirchengemeinden der damaligen Zeit“ war.132 Der hohe theologische Stellenwert, den Armut bei Zwingli besitzt, ist beim Zürcher Reformator durchaus auch mariologisch begründet, wenn Maria vornehmlich als Zeugin der „grossen Taten Gottes“, seiner Gnade und Barmherzigkeit erscheint.133 Die unmittelbare Beziehung zwischen Mariologie und Diakonie bei Zwingli, diese „soziale Akzentuierung der marianischen Theologie“, ist eine eigenständige Prägung innerhalb der Reformation.134 Wenn man nun abschließend danach fragt, was das Neue an der Diakonie in Zürich gewesen ist, dann kann man folgendes festhalten: Die Armenfürsorge war auf eine völlig neue finanzielle wie institutionelle Basis gestellt worden. Die oberste diakonische Autorität lag nun nach Straßburger Vorbild beim Magistrat, der mit dem Diakonenamt in neuer Gestalt betraut war. Der Magistrat übertrug die diakonische Verantwortung auf verschiedene als „Pfleger“ bezeichnete Sozialfürsorger respektive Diakone. Eine liturgische Aufgabe, wie sie dem Diakon im Mittelalter zugekommen war, lehnte Zwingli anders als Bullinger beispielsweise ab. „Für Zwingli scheint es offensichtlich kein besonderes Anliegen gewesen zu sein, den sozialen Dienst am Nächsten erneut im sonntäglichen Gemeindegottesdienst zu verankern.“ Ihm ging es vor allem darum, „den Diakonat auf die gesamte Bürgerschaft auszuweiten und die herkömmlichen klerikalen Ämterstrukturen abzuschaffen, um eine neue Form liturgisch-diakonischen Dienstes zu entwerfen.“135 Diakonie erscheint bei Zwingli demnach als weltlicher Sozialdienst. Der relative Erfolg der sozialfürsorgerischen Reformen geht auf übereinstimmende Vorstellungen von Magistrat und Zwingli zurück. Zwinglis theologisch-ekklesiologische und sozialethische Ansätze korrelierten mit den sozial- und ordnungspolitischen Vor129 Z 2, 441. 130 Hammann (wie Anm. 127), 228. 131 Ebd. 132 Hammann (wie Anm. 127), 230. 133 Emidio Campi, Zwingli und Maria. Eine reformationsgeschichtliche Studie, Zürich 1997, 97. 134 Hammann (wie Anm. 127), 218. 135 Hammann (wie Anm. 127), 231.

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stellungen des Zürcher Rats. Man war sich einig, ein Programm staatsbürgerlicher Erziehung von Reichen und Armen initiieren zu müssen. Das sozialdiakonische Zürcher Konzept verband dabei vaterländische mit religiösen Motiven. Zwingli übertrug dem Magistrat die Autorität zur Reform der Diakonie im Rahmen des „jus reformandi“. Deshalb wurden die Diakone in Zürich auch zu Sozialarbeitern und hatten keine dezidiert eigenständig kirchliche Funktion und Bedeutung mehr. In der im Jahr 1525 erlassenen Kirchenordnung war folgerichtig das eigentliche kirchliche Diakonat abgeschafft. Es wurde „einerseits in die obrigkeitliche Sozialfürsorge transformiert, andererseits mit dem Seelsorgeamt der Pastoren vereint“.136 Die von Bullinger verfasste Confessio Helvetica posterior von 1566 schließlich ließ an Ämtern der Kirche nur noch das der „Pastoren“ gelten. Selbst das Wort „Diakon“ verschwand im Protestantismus weitgehend oder bezeichnete seit diesem Zeitpunkt etwas Anderes. Das diakonische Modell Jean Calvins (1509–1564), der die beiden in Genf bereits vorfindlichen weltlichen Ämter der procureurs (Verwalter des Armengutes) und der hospitaliers (Krankenpfleger und Armenfürsorger) mit dem kirchlichen Diakonenamt identifizierte, um diese vorgefundenen Ämter zu verkirchlichen, fand nur langsam und begrenzt Resonanz. Erst nachdem Calvin 1555 eine Ratsmehrheit für seine Pläne gefunden hatte, kümmert man sich effektiver um diakonische Aufgaben. Auch die Bezeichnung „Diakon“ wurde populärer.137 Allerdings konnte sich Calvin nicht mit seiner Ansicht durchsetzen, wonach die Bibel auch ein weibliches Diakonenamt kenne.138 Die calvinistischen Prinzipien der Armenhilfe fanden schließlich vor allem in den Niederlanden Aufmerksamkeit. Die 1568 auf dem Konvent reformierter Gemeinden in Wesel gefass­ten Beschlüsse, die allerdings Calvins ursprüngliche Festlegungen modifizierten und „erfahrene und im Glauben bewährte Frauen“139 für das Amt einer Diakonisse zuließen, blieben in der Folgezeit ohne großen Nachhall. Denn auf der reformierten Synode 1571 in Emden war in den Beschlüssen zumindest keine Rede mehr davon. Als Beispiel für eine umfassende territoriale Sozialgesetzgebung erwähne ich noch kurz die Almosenordnung des reformierten Pfalzgrafen Friedrich III. von der Pfalz. Dieser Territorialherr setzte sich persönlich für eine organisierte Wohlfahrtspolitik ein. Sein Engagement fand in einer Almosenordnung von 1574 Ausdruck.140 Diese Ordnung, deren reformierte Prägung offensichtlich ist, gehört zu den „wichtigsten Dokumenten der Armenfürsorge des 16. Jahrhunderts“.141 Am Beispiel der von mehreren Konfessionswechseln geprägten Pfalz lässt sich zeigen, dass die Wohlfahrtspolitik trotz dieser Wechsel große Fortschritte machen konnte. Das mag daran gelegen haben, dass sich Lutheraner und Reformierte im Bereich der Armenfürsorge nicht grundlegend unterschieden, sondern vielmehr bei der 136 Heinz Rüegger / Christoph Sigrist, Diakonie – eine Einführung. Zur theologischen Begründung helfenden Handelns, Zürich 2011, 98. 137 Klein (wie Anm. 40), 177. 138 Rüegger / Sigrist (wie Anm. 136), 100. 139 Zitiert bei Jütte (wie Anm. 49), 147. 140 Strohm (wie Anm. 40), 39. 141 Strohm / Klein (wie Anm. 120), 302.

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Suche nach den besten sozialen Lösungen in einen diakonischen Wettkampf eintraten. Die Almosenpflege avancierte hier zur allgemeinen Christen- und Bürgerpflicht.

5. Schluss Hinsichtlich der Diakonie wird in den reformatorischen Bewegungen eine unübersehbare Diskrepanz zwischen theoretischen Überlegungen und praktischer Umsetzung evident. Die Differenzen zwischen Theorie und Praxis reformatorischer Ekklesiologie sind offensichtlich. Viele der reformatorisch motivierten ambitionierten Vorhaben scheiterten. Das reformierte Diakonat blieb – so Gottfried Hammann – „außer bei Zwingli größtenteils bloße Theorie. Er wurde von der jeweiligen Ämtertheologie überlagert und außerdem durch die Zurückhaltung und den Widerstand der weltlichen Obrigkeit an seiner erfolgreichen Realisierung seit Beginn der Reformation behindert“.142 Die weltliche Obrigkeit stand einer als bedrohlich empfundenen klerikalen Ämtervielfalt ablehnend gegenüber. Dazu kam als Problem für das Diakonat die theologische wie institutionelle Aufwertung des Wortamtes. Deshalb kann man sagen: Es war wohl ein Ziel der Reformation, die besondere kirchliche Bedeutung der christlichen Diakonie wieder zur Geltung zu bringen. Trotz einiger Erfolge bei der Optimierung der Armenfürsorge gelang es ihr jedoch aufs Ganze gesehen nicht, den Diakonat als ekklesiales Amt nach dem Vorbild der Ur- und Alten Kirche in der Praxis wiederherzustellen.143 Eine gewisse Ausnahme stellten allerdings die Verhältnisse in Emden dar, wo dem Diakon eine wichtige Rolle innerhalb einer ausgeprägten Ämterpluralität zukam.144 Das mag auch damit zusammenhängen, dass die Armenfürsorge in Ostfriesland als eine vornehmlich kirchliche Aufgabe galt.145 In Emden stellte sich wie an anderen Orten angesichts der vielen Flüchtlinge und wandernden Bettler die Frage nach der Finanzierung. Für die Emder Verhältnisse sind vielfältige und anscheinend meist recht solide Finanzierungsgrundlagen kennzeichnend.146 Aber auch hier bot das säkularisierte Klostergut die finanzielle Basis. Über die Zeit vor der ersten Armenordnung 1576 ist kaum etwas über die Diakonie in Emden bekannt. Allerdings weiß man, dass vor 1576 zwischen gewöhnlichen Armen und den Angehörigen der Abendmahlsgemeinschaft unterschieden wurde. Eine 142 Hammann (wie Anm. 127), 296f. 143 Hammann (wie Anm. 127), 297. 144 Timothy G. Fehler, Diakonenamt und Armenfürsorge bei a Lasco. Theologischer Impuls und praktische Wirklichkeit, in: Christoph Strohm (Hg.), Johannes a Lasco (1499– 1560). Polnischer Baron, Humanist und europäischer Reformator. Beiträge zum internationalen Symposium vom 14.–17. Oktober 1999 in der Johannes-a-Lasco-Bibliothek Emden (Spätmittelalter und Reformation, N.R. 14), Tübingen 2005, 173–185; Timothy G. Fehler, Poor relief and Protestantism. The evolution of social welfare in sixteenth-century Emden, London 1999. 145 Marion Weber, Emden – Kirche und Gesellschaft in einer Stadt der Frühneuzeit, in: Jahrbuch der Gesellschaft für Bildende Kunst und Vaterländische Altertümer zu Emden 68 (1988), 78–107, 85. 146 Weber (wie Anm. 145), 87.

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Sonderstellung innerhalb der Emder Diakonie nahm die Fremdendiakonie ein, die sich vornehmlich um die niederländischen Glaubensflüchtlinge kümmerte. Ihre Gründung war eine Bedingung für die Aufnahme der von Johannes a Lasco (1499–1560) im Jahr 1554 angeführten Flüchtlinge in Emden, da Gräfin Anna Nachteile für die einheimischen Armen verhindern wollte.147 Mit der Ordnung von 1576 wurde eine Neuorganisation der Diakonie geschaffen. Neu war vor allem eine „Hierarchisierung der Organisation durch die Unterscheidung von Unter- und Hauptdiakonien“.148 Neben den fünf bis acht Hauptdiakonen, denen die Verwaltung der Diakonie anheimfiel, lag die eigentliche karitative Arbeit in den Händen der 24 Unterdiakone. Die Diakone waren eng an die Gemeindeführung angebunden und hatten auch für die Sittenzucht zu sorgen. Offensichtlich wirtschaftete man aber in den folgenden Jahrzehnten so gut, dass im 17. Jahrhundert ein Großteil des Barvermögens der Fremdendiakonie in Wertpapiere angelegt werden konnte. Im 18. Jahrhundert schließlich galt die reformierte Gemeinde als ökonomisch so potent, dass ihr der Landesherr zusätzlich die Versorgung der Lutheraner auferlegte. Das heißt also: reformierte Werke der Barmherzigkeit für die lutherischen Glaubensgeschwister.

147 Weber (wie Anm. 145), 94. 148 Weber (wie Anm. 145), 91.



„Die Gläubigen hatten alles gemeinsam“ Die Gütergemeinschaft der Urgemeinde nach Johannes Calvin Zugleich ein Beitrag zur sog. Weber-These von Marco Hofheinz 1. Einleitung: Calvin, Calvinismus und die sog. Weber-These Zu den wohl zugleich wirkmächtigsten und abenteuerlichsten Thesen der jüngeren Geistesgeschichte gehört der Max Weber (1864–1920) zugeschriebene Befund, wonach der „Calvinismus“ durch seine innerweltliche Askese Vater des modernen Kapitalismus sei. Weber hat in „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“1 (1904/05) „einen geradezu tollkühnen wissenschaftlichen Versuch“2 der Erklärung für dessen Entstehung vorgelegt, der seitdem die Gemüter bewegt. Zur Wirkungsgeschichte der Weber zugeschriebenen These gehört, dass der Calvinismus rasch mit Johannes Calvin (1509–1564) identifiziert wurde, d.h. Calvin anstelle des Calvinismus sehr schnell zum „Vater des modernen Kapitalismus“ avancierte. Weber selbst weist indes ausdrücklich darauf hin, „daß wir hier [in seiner Studie; M.H.] nicht die persönlichen Ansichten Calvins, sondern den Calvinismus betrachten, und auch diesen in derjenigen Gestalt, zu welcher er sich Ende des 16. und im 17. Jahrhundert in den großen Gebieten seines beherrschenden Einflusses, die zugleich Träger kapitalistischer Kultur waren, entwickelt hat.“3 Man mag diese Bemerkung Webers als „rein salvatorische Formel“4 betrachten, da Weber sich durchaus, wenn auch „nicht so sehr“5, auf Calvin bezieht. Ein Problembewusstsein dafür, dass Calvin und Calvinismus nicht einfach über einen Kamm zu scheren sind, war bei Weber freilich vorhanden: „Calvinismus [ist] mit der Stellungnahme Calvins selbst nicht identisch.“6 Insofern stellt der folgende Beitrag, der sich Calvin selbst zuwendet, durchaus einen Beitrag zur Diskussion der sog. Weber-These dar. 1  Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus / Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904–1920, hg. v. Wolfgang Schluchter (Max Weber Gesamtausgabe I/18), Tübingen 2016. 2  Hartmut Lehmann, Die Weber-These im 20. Jahrhundert, in: Ansgar Reiss / Sabine Witt (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, 378–383, 378. 3  Weber (wie Anm. 1), 267. Dort z.T. kursiv. 4  Wolfgang Lienemann, Calvin, Calvinismus, Puritanismus – und Max Weber, in: Marco Hofheinz u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins (RHT 9), Göttingen 2011, 308–337, 327. 5  Ulrich H.J. Körtner, Calvinismus und Kapitalismus, in: Martin E. Hirzel / Martin Sall­mann (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft, Zürich 2008, 201–217, 206. 6  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 51972, 718.

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Die entfaltete Untersuchung basiert auf folgender Hypothese: Wenn Calvin tatsächlich der „Vater des modernen Kapitalismus“ ist,7 dann muss sich dies auch in seinem Umgang mit den Vertretern eines gewissermaßen vormodernen Antika­ pitalismus widerspiegeln – und zwar in Gestalt einer Ablehnung. Als solche anti­ kapitalistischen Vertreter wurden in der Christentumsgeschichte vielfach die ersten Christen der sog. „Jerusalemer Urgemeinde“ identifiziert, die mit ihrer Praxis von Gütergemeinschaft einen „christlichen Urkommunismus“8 vertreten hätten. Calvins Rezeption dieses „urchristlichen Kommunismus“ soll im Folgenden auf der Grundlage seiner Kommentierung der lukanischen Summarien zur ur­ christlichen Gütergemeinschaft den Untersuchungsgegenstand bilden,9 und zwar anhand der erkenntnisleitenden Fragestellung, ob sich Calvin in seiner Auseinan­ dersetzung mit diesem Phänomen tatsächlich durch eine klare Ablehnung hervor­ tut. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre zumindest ein Beleg dafür gefunden, dass die Ausgangsthese („Calvin ist der Vater des modernen Kapitalismus“) unzutref­ fend ist. Die Beweisführung hätte insofern indirekten Charakter, als gezeigt würde, dass das Gegenteil nicht zutrifft.10

2. Die lukanischen Summarien von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde Bei dem Gegenstand der Untersuchung handelt es sich – wie gesagt – um den sog. „urchristlichen Kommunismus“, wie er in zwei lukanischen Summarien der Apos­ telgeschichte geschildert wird, hinter denen wahrscheinlich eine von Lukas über­ arbeitete vorlukanische Überlieferung steht.11 Die vita communis der Urgemeinde wird dort wie folgt geschildert: „Alle Glaubenden aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Gü­ ter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte“ (Apg 2,44f.; Zürcher Bibel). „Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besass, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. Und mit grosser Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung des Herrn Jesus, und grosse 7  Im Experiment tun wir gewissermaßen in bewusst anachronistischer Weise so, als wäre Calvin Kapitalist bzw. Wegbereiter des Kapitalismus. 8  Vgl. Martin Leutzsch, Erinnerung an die Gütergemeinschaft. Über Sozialismus und Bibel, in: Richard Faber (Hg.), Sozialismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994, 77–94. 9  Vgl. CO 26, 58.94–97. Zitiert wird Calvins Kommentar zur Apostelgeschichte nach der Übersetzung von E.F. Karl Müller, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 11: Die Apostelgeschichte, Neukirchen o.J., 59–60.92–94. Herangezogen werden auch Calvins Predigten zu beiden Textkomplexen, und zwar die Pre­ digt vom 2.2.1550 zu Apg 2,43–45 (SC 8, 46–54) und vom 1.6.1550 zu Apg 4,32–37 (SC 8, 113–120). 10  Vgl. ausführlich: Marco Hofheinz, Ein „Vaterschaftstest“. Die Weber-These und der sog. „urchristliche Kommunismus“ bei Johannes Calvin, in: ders., Ethik – reformiert! Stu­ dien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert (FRTh 8), Göt­ tingen 2017, 178–208. 11  Vgl. Jürgen Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen 21988, 89–91.

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Gnade ruhte auf ihnen allen. Ja, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, denn die, welche Land oder Häuser besassen, verkauften, was sie hatten, und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füssen; und es wurde einem jeden zuteil, was er nötig hatte. Josef aber, der von den Aposteln den Beinamen Barnabas erhalten hatte, das heisst ‚Sohn des Trostes‘, ein Levit, der aus Zypern stammte und einen Acker besass, verkaufte ihn, brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füssen“ (Apg 4,32–37; Zürcher Bibel). In beiden Summarien manifestiert sich die „Schilderung des idealen Lebens der Urgemeinde“12. Exegetisch ist man sich hinsichtlich der Beurteilung recht einig: „Zwar ist dies gewiss ein idealisiertes Bild, das Lukas seinen Leserinnen und Lesern als leuchtendes Vorbild vor Augen malt, um sie zu einer ähnlichen Praxis zu motivieren, und er greift dafür auch auf jüdische und griechische Sozialutopien zurück. Doch lässt sich in der idealisierenden Darstellung durchaus ein historischer Kern eines innergemeindlichen Güteraustauschs erkennen.“13 Die Naherwartung in der Frühzeit der Gemeinde spricht durchaus für eine gewisse Historizität dieser Episode des frühen Christentums.14 Der urchristliche Liebeskommunismus erscheint keineswegs singulär, wenn man ihn beispielsweise um des ekklesiologischen Interesses willen mit den Essener-Berichten Philos (um 15/10 v. Chr.–40 n. Chr.) oder den Originaltexten von Qumran vergleicht.15

3. Zwischen den Extremen. Calvins Beurteilung des Eigentumsverkaufs und der Gütergemeinschaft der Urgemeinde Was den Ideal(isierungs)charakter der Schilderung des Lukas betrifft, so bemerkte bereits Calvin: „Der bisherige Bericht des Lukas könnte den Schein erwecken, als wären die damals unter Christi Namen gesammelten Leute mehr Engel als Menschen gewesen. Denn es ist eine unglaubliche Tugend (incredibilis erat virtus), daß die Reichen zur Unterstützung der Armen nicht bloß Geld, sondern sogar Grundbesitz drangaben.“16 Calvin versteht diese Tugend als Liebe – insofern scheint der Begriff „Liebeskommunismus“, den Calvin freilich nicht explizit gebraucht, nicht vollkommen deplatziert zu sein. Indes handelt es sich nach Calvin um eine spezifische Ausprägung von Liebe, nämlich um die brüderliche Liebe (fraterno amore)17, die nicht eine beliebige oder allgemeine Personengruppe, sondern vielmehr „die Gläubigen“ untereinander verband. Im Blick auf diese bemerkt Calvin, dass „sie dann mit der Tat [sc. die Liebe bezeugten; M.H.], indem die Reichen ihr Eigentum

12  Jürgen Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, 208. 13  Sabine Bieberstein, Gemeinde, Kirche, Amt, in: Lukas Bormann (Hg.), Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, 202. 14  So z.B. Peter Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 21997, 204. 15  Vgl. ebd. 16  Calvin, Komm. Apg 5,1 (wie Anm. 9), 95. 17  Calvin, Komm. Apg 2,44 (wie Anm. 9), 59.

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verkauften, um die Armen zu unterstützen.“18 Calvin spricht explizit von einem „einzigartigen Beweis der Liebe (singulare exemplum caritatis)“19, der zugunsten der Armenfürsorge erfolgte. Hier deutet sich bereits an, dass Calvin keineswegs eine Aufgabe des Privatbesitzes anvisiert, sondern die lukanische Schilderung mit Blick auf die Armenfürsorge auslegt. Calvin grenzt den Umgang mit Besitz gegenüber zwei Extremen (duo extrema) ab, die er als Abwege kennzeichnet: (1) „Viele verschließen unter dem Vorwand der sozialen Ordnung (politiae praetextu) ihren Besitz bei sich, entziehen sich den Armen und halten sich schon für mehr als gerecht, wenn sie nur den andern nicht berauben.“20 Dieses Extrem lässt sich als güterindividualistischer Abweg identifizieren. Zugleich weist er starke ordnungstheologische Charakterzüge auf. Bei Lichte betrachtet wird ein strukturkonservatives Argument aufgeboten, das Calvin als armenfeindlich qualifiziert, nämlich der Vorwand einer Wahrung der in Gefahr geratenen bürgerlichen Ordnung. Diesen Vorwand, die bürgerliche Ordnung werde zerstört, bezeichnet Calvin als Verrat an den Armen und als Diebstahl. Als zweites Extrem, das einem christlich-moralischen Umgang mit äußerem Besitz widerspricht, benennt Calvin folgendes: (2) „Andere fallen in den entgegengesetzten Irrtum (in diversum errorem) und wollen alles durcheinander mengen (omnia confusa).“21 Calvin interpretiert dieses Missverständnis der Sache nach als „christlichen Kommunismus“ bzw. „kommunistische[ ] Verwirrung“22. In diesem Zusammenhang betont Calvin, dass es keineswegs darum gehen könne, die Ordnung mehr oder weniger mutwillig zu zerstören.23 Calvin lehrt, dass man sich vor den beiden oben genannten Extremen hüten soll. Er steuert „die rechte Mitte des Weges der Kirche zwischen wirtschaftlichem Kommunismus und Individualismus“24 an. Dem entspricht Calvins Beschreibung der vita christiana als peregrinatio in seiner „Institutio“. Die Pilgerschaft des Christenmenschen verläuft, so führt Calvin dort aus, als Weg zwischen den Extremen einer allzu großen Enge und Weite: „Wir müssen also Maß halten ([m]odum ergo tenere oportet), um jene Mittel [sc. des gegenwärtigen Lebens; M.H.] mit einem reinen Gewissen zur Notdurft (ad necessitatem) oder auch zum Genuß zu verwenden.“25 Die falsche Enge besteht Calvin zufolge in einer Engherzigkeit des Gebrauchs irdischer Güter (nur „zur Notdurft“26) und die falsche Weite in der Ausschweifung 18  Ebd. So auch Calvin, Komm. Apg 4,32 (wie Anm. 9), 93: „[D]ie Gläubigen [pflegten] die Liebe mit äußerer Tat (charitatem externis officiis coluerint).“ 19  Calvin, Komm. Apg 2,44 (wie Anm. 9), 59. 20  Calvin, Komm. Apg 2,44 (wie Anm. 9), 60. 21  Ebd. 22  Willem Balke, Calvin und die Täufer. Evangelium oder religiöser Humanismus, übers. v. Heinrich Quistorp, Minden 1985, 216. 23  SC 8, 118 (Predigt zu Apg 4,32–37): „Car sainct Luc ne veult point icy introduyre une confusion, et qu’il n’y ait plus de police, mais il declare qu’il ne nous fault point tellement manger nostre bien apart, que nous voyons cependant noz prochains morir de faim aupres de nous, et que nous ne leur subvenions pas.“ 24  Balke (wie Anm. 22), 216. 25  Inst. (1559), III,10,1. 26  Inst. (1559), III,10,1; III,10,3.

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(„Schwelgerei des Fleisches im Gebrauch der äußeren Dinge [in rerum externarum usu carnis intemperies]“27). Vergleicht man Webers Calvinismus-Charakterisierung mit Calvin, so fällt auf, dass dieser sich gerade gegen das wendet, was innerweltliche Askese ausmacht, nämlich eine Reduktion auf die „Notdurft“: „Unter ‚Notdurft‘ (necessitas) verstehen sie [namentlich von Calvin nicht näher identifizierte Asketen; M.H.], der Mensch solle sich alles dessen enthalten, was er entbehren kann.“28 Ihrer Meinung nach sei „außer Brot und Wasser“29 kaum etwas erlaubt. Nach Weber wendet sich die innerweltliche Askese „mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes“30. Sie baue die Welt in „ein stahlhartes Gehäuse“31 um, da ein „genussfrohes Ausruhen auf weltlichem Besitz“32 verboten sei und der Distanzierung von der Welt durch Selbstdisziplinierung und „Rationalisierung der Lebensführung“33 stracks entgegenstehe. Das, was Weber „innerweltliche Askese“ nennt, erscheint bei Calvin unter dem Verdikt eines Extrems, das der Genfer Reformator ablehnt. Insofern war Calvin gewiss kein Vertreter innerweltlicher Askese. Seine Freiheitslehre, die auch den Gebrauch der äußeren Dinge des Lebens betrifft (in rebus externis libertas)34, „atmet Lebensfreude und eine fast franziskanische Unbekümmertheit. Sie kann sich an den Farben der Welt freuen und an einem guten Glas Wein.“35 Recht harsch fordert Calvin: „[F]ort mit jener unmenschlichen Philosophie (inhumana illa philosophia), die uns die Kreaturen nur zur Notdurft (nullum nisi necessarium) will brauchen lassen und damit einer erlaubten Frucht der göttlichen Wohltätigkeit beraubt, auch nur da zur Geltung kommen kann, wo sie einem Menschen alle Sinne weggenommen und ihn zum Klotz gemacht hat (in stipitem redegerit).“36 Stattdessen erinnert Calvins Argumentationsstrategie zum einen an die aristotelische Mesotes-Lehre, welche die Wahl der „goldenen Mitte“ (mesotēs)37 im Sinne eines Austaxierens zwischen den Extremen anvisiert, und an die von Aristoteles (384–322 v. Chr.) hochgehaltene ethische Tugend der „Besonnenheit“ (sōphrosynē).38 Zum anderen vermag Calvin Assoziationen an das Modell der heutigen sozialen Marktwirtschaft zu wecken, insofern es zumindest in der sog. „ordoliberalen Tradition“ (Freiburger Schule) um ein Mittleres zwischen freier Markt27  Inst. (1559), III,10,1. 28  Ebd. 29  Ebd. 30  Weber (wie Anm. 1), 463. 31  Weber (wie Anm. 1), 487. 32  Wolfgang Schluchter, Religiöse Wurzeln frühkapitalistischer Arbeitsethik. Webers These in der Kritik, in: Emidio Campi u.a. (Hg.), Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, Zürich 2012, 195–219, 208. 33  Weber (wie Anm. 1), 410. Dort z.T. kursiv. 34  Inst. (1559), III,10,4. 35  Hans Scholl, Calvin als Seelsorger, in: ders., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 93–134, 130. Vgl. Inst. (1559), III,19,9. 36  Inst. (1559), III,10,3. 37  Vgl. Aristoteles, NE II, 1106a ff. 38  Vgl. Aristoteles, NE II–VII, 1105–1145a.

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wirtschaft (nach der sog. „neoliberalen Tradition“) und staatlicher Planwirtschaft (nach der sog. „marktkritischen Tradition“) geht.39

4. Calvins projektierte „Ordnung“ der „offenen Hand“ für die Notleidenden Calvin zufolge geht es Lukas um Hilfe, die kontextuell und situativ angemessen dargeboten wird. Sie soll selektiv im Sinne von bedarfsorientiert und notbezogen erfolgen: „Die Bereitschaft zur gegenseitigen wirtschaftlichen Hilfe muß vom Kontext aus verstanden werden. Es ging und geht in der christlichen Gemeinde, die den Geist der Liebe empfangen hat, um brüderliche Hilfe allen denen gegenüber, die in Not sind.“40 Der Zweck und die Zielprojektion der Jerusalemer Urgemeinde besteht Calvin zufolge darin, „daß niemand Mangel haben soll[ ] (ut nemo egeret)“.41 Calvin erläutert das notbezogene Bedarfsprinzip (l’exigence de la necessité)42, wie es von der Jerusalemer Urgemeinde handlungsorientierend vertreten worden sei: „So ist die Meinung nicht, daß alle Gläubigen ihr ganzes Eigentum verkauften (non intelligit fideles vendidisse quidquid habuerint), sondern nur, daß dies nach Bedarf geschah (sed quantum exigebat necessitas). Insbesondere sollen wir dieser Mitteilung die rühmliche Tatsache entnehmen, daß die Reichen nicht bloß aus dem Jahresertrag ihrer Äcker Unterstützung gaben, sondern in großer Freigebigkeit (fuisse liberales) nicht einmal der Äcker selbst schonten. Dies aber konnte geschehen, auch wenn sie sich nicht gänzlich beraubten, sondern ihre Einkünfte nur teilweise minderten.“43 Es geht nach Calvin also nicht um eine absolute Selbstenteignung.44 Auch ein kollektiver Zwang habe nicht geherrscht. Was die Praktizierung eines Gerechtigkeitsgrundsatzes betrifft, weist Calvin darauf hin, dass keine gleichmäßige Verteilung erfolgt sei: „Es wurde also nicht eine gleichmäßige Verteilung der Güter vorgenommen ([n]on ergo aequalis fuit bonorum partitio), vielmehr teilte man in überlegter Weise aus (sed moderata dispensatio), so daß niemand seine Dürftigkeit über die Maßen drückte (ne quis egestate ultra modum premeretur).“45 39  Vgl. Heinrich Bedford-Strohm u.a. (Hg.), Zauberformel Soziale Marktwirtschaft? (Jahrbuch Sozialer Protestantismus 4), Gütersloh 2010. 40  Balke (wie Anm. 22), 216. 41  Calvin, Komm. Apg 4,34 (wie Anm. 9), 94. 42  CO 7, 219 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). Vgl. auch SC 8, 118 (Predigt zu Apg 4,32–37): „Voilà donc comme il n’y avoit point ung amas de tous les biens et une confusion pour en prandre par où on eust voulu, mais on regardoit où il y avoit necessité pour y subvenir, et en deppartoit on à ung chacun selon ce qui luy estoit necessaire.“ 43  Calvin, Komm. Apg 4,34 (wie Anm. 9), 93f. 44  Calvin unterstreicht freilich die Freiwilligkeit der Zuwendung zu den in Not geratenen Hilfsbedürftigen: „Mais il veult signifier en somme (par ce qu’il dict que toutes choses estoient communes entr’eulx), que ceulx qui avoient abondance pour subvenir à leurs prochains, vendoient plustost du leur, que de veoir avoir indigence aux enfans de Dieu. Vray est qu’il ne veult pas presser ceulx qui ont abondance, de se despouiller de leurs biens pour faire aulmosnes, mais il veult dire qu’ilz doibvent prester la nourriture à ceulx qui n’ont de quoy vivre.“ SC 8, 53 (Predigt zu Apg 2,43–45). 45  Calvin, Komm. Apg 4,35 (wie Anm. 9), 94.

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Legt man das aristotelische Gerechtigkeitskonzept zugrunde, so wird man im terminologischen Anschluss an Thomas von Aquin (um 1225–1274) sagen können,46 dass die iustitia particularis distributiva (austeilende bzw. zuteilende Gerechtigkeit) in der Verteilung der Güter des Gemeinwesens in dem Sinne „proportional“ eingeübt wurde, dass man nach Bedürfnissen bzw. konkreter Not fragte.47 Insofern wird das sachliche Problem bzw. die mit der austeilenden Gerechtigkeit einhergehende Frage beantwortet, welche Verteilungsregel aufgestellt werden muss. Es ging um eine solidarische Ausrichtung von Gerechtigkeit, die den „Vorrang für die Armen“48 und Bedürftigen einräumte, um den einzelnen Gliedern ein gelingendes Leben in der Gemeinschaft der Urgemeinde zu ermöglichen. Calvin spricht anschaulich von der „offenen Hand“ (la main ouverte)49 für die Notleidenden.

5. Calvins Abgrenzung gegenüber Wiedertäufern bzw. Libertines Welche konkreten Gegner auf dem „linken Flügel der Reformation“50 hat der Genfer Reformator konkret vor Augen? Anders als etwa Ernst Troeltsch (1865–1923) in seinen „Soziallehren“ mit der einschlägigen Trias „Kirche, Sekte und Mystik“51 behauptet, stehen nicht die Vertreter des Typus „Sekte“ für das urchristliche Ideal,52 sondern Calvin beansprucht dasselbe im Sinne der biblischen Darstellung für die eigene Position. Die eigene (Genfer) Gemeinde stehe in der Tradition der Jerusalemer Urgemeinde, wenn man nur deren Praxis entsprechend dem biblischen Zeugnis nicht missverstehe. Ein solches Missverständnis manifestiere sich hingegen auf Seiten von „Schwärmern“ (spiritus fanaticos): „Weil aber manche Schwärmer an eine Gütergemeinschaft denken, die alle sozialen Ordnungen auflösen würde, so bedarf diese Aussage einer gesunden Auslegung. Welchen Aufruhr haben in unserer Zeit die Wiedertäufer (anabaptistae) angerichtet, die es zur notwendigen Ordnung der Kirche rechneten, daß man allen Privatbesitz auf einen gemeinsamen Haufen warf, aus welchem dann unterschiedslos allen das Nötige zufließen sollte!“53 46  Vgl. Aristoteles, NE V, 1129a–1138b; Thomas von Aquin, Summa theologica II–II, q. 58. 47  Vgl. SC 8, 118 (Predigt zu Apg 4,32–37): „Ainsi donc voilà comme il nous fault considerer que les biens de ce monde ne sont tellement propres de ceulx qui les possedent, qu’il ne faille qu’ilz en communicquent à ceulx qu’ilz congnoissent en avoir necessité, et selon la faculté que Dieu leur en a donnée.“ 48  Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993, 294–298. 49  CO 7, 217 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 50  Heinold Fast (Hg.), Klassiker des Protestantismus, Bd. 4: Der linke Flügel der Reformation, Bremen 1962. 51  Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Neudruck Tübingen 1994, 967–986. 52  Vgl. Troeltsch (wie Anm. 51), 677. 53  Calvin, Komm. Apg 2,44 (wie Anm. 9), 60. So auch SC 8, 52 (Predigt zu Apg 2,43– 45): „Il y a l’aultre extremité, assçavoir que plusieurs fantasticques ont voulu dire que tout estoit commun. Or l’intention du sainct Esprit n’est point telle. Et pourtant il nous fault regarder comment cecy se doibt entendre. En premier lieu il ne fault point penser que les

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Auch wenn Calvin in seinem Kommentar zur Apostelgeschichte allgemein von den „Wiedertäufern“ spricht, dürfte er doch bei Lichte betrachtet nicht einfach undifferenziert das allgemeine und durchaus heterogene Phänomen „Täufertum“ im Blick haben, sondern vor allem die geistesverwandte Strömung der sog. „Libertiner“.54 Dies geht aus der Streitschrift „Contre la secte phantastique et furieuse des libertins qui se nomment spirituelz“ (1545)55 hervor.56 In deren 21. Kapitel widmet sich Calvin der Interpretation der Gläubigengemeinschaft durch die Libertiner (libertins spirituels) in der Absicht, diese zu widerlegen. Die Strömung der Libertiner, die leider „fast ausschließlich aus der Schilderung Calvins, ihres ausgesprochenen Gegners, bekannt“57 ist, lässt sich der Darstellung Calvins nach wie folgt charakterisieren: „Bei der von Calvin angegriffenen Gruppierung handelt es sich um Anhänger Quintins (Quintinistes) im französischsprachigen Raum, die eine spekulative, pantheistisch und deterministisch geprägte Spiritualität pflegten und deren Ethik antinomistische [...] Züge trug.“58 Calvins Kritik an den Libertinern fällt deutlich schärfer aus als etwa die am Schleitheimer Täufertum.59 Sie ist „vom scharfen Ton situationsgebundener Polemik geprägt.“60 Calvin erhebt den Vorwurf „diabolischer Täuschung“, von erzielter „Verwirrung“ und „schrecklicher Wegelagerei“.61 Der Genfer Reformator sieht in den Libertinern eine anarchistische Sekte, die eine undifferenzierte Verdammung aller staatlichen Machtbefugnisse und faktischen Machtausübung vertritt. In ihrem Fanatismus würden sie irrtümlich die urchristliche Gütergemeinschaft für sich rechoses fussent là mises en ung monceau comme pour en pandre par où il eust semblé bon à ung chacun, mais le tout estoit dispersé par bon esgard, comme nous voirrons puis après que la charge en estoit donné aux apostres. Les riches vendoient plustost leurs terres et possessions et apportoient l’argent aux apostres, que de souffrir aulcun avoir indigence.“ 54  Vgl. Wilhelmus H.Th. Moehn, „God Calls Us to His Service“. The Relation Between God and His Audience in Calvin’s Sermons on Acts, Genf 2001, 141. 55  CO 7, 145–248 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 56  Zur Theologie dieser Streitschrift vgl. Allen Verhey / Robert G. Wilkie, Calvin’s Treatise „Against the Libertines“, in: Richard C. Gamble (Hg.), Calvin’s Opponents, New York / London 1992, 190–219, 198–205; Matthias Freudenberg, Vorsehung und Freiheit. Calvins Freiheitsverständnis am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit den Libertinern, in: ders., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen reformierter Theologie, Münster 2012, 39–52, 40–44. 57  Gottfried W. Locher, Einleitung, in: CStA 4, 235–247, 236. Vgl. zur Schwierigkeit, die Libertiner historisch zu identifizieren: Benjamin W. Farley, Introduction, in: John Calvin, Treatises Against the Anabaptists and Against the Libertines, Grand Rapids 1982, 162–173. 58  Locher (wie Anm. 57), 240. 59  Vgl. die Streitschrift „Briève Instruction pour armer tous bons fideles contres les erreurs de la secte commune des anabaptistes“ (CO 7, 45–152). Dazu: Marco Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik (ThFr 41), Stuttgart 2012, 102–123. 60  Locher (wie Anm. 57), 235. 61  Vgl. CO 7, 220 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545): „Apprenons donc de conioindre la communion qu’ont les fideles entre eux quant aux biens, avec ordre et police, et par consequent de reiecter et avoir en abomination ceste resverie diabolique, de vouloir mesler tous les biens en confus, pour introduire non seulement un labyrinthe au monde: mais un brigandage horrible: comme chacun le peut concevoir: et se verroit plus clairement par experience.“

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klamieren, dabei aber die Zuneigung zum Nächsten (affection de charité)62 und den „wahren Spiegel christlicher Liebe“ (vraymiroir de la dilection Chrestienne)63 pervertieren, indem sie die Aufhebung der Besitz- und Eigentumsverhältnisse propagierten.64 Immer wieder platziert Calvin den Vorwurf der Konfusion (confusion).65 Sie würde notwendigerweise mit der Forderung nach einem Besitzverzicht für Christenmenschen einhergehen. Calvin spricht diesbezüglich von einem doppelten Fehler (qu’ilz failent doublement)66, den die Libertiner in ihrer Berufung auf die lukanische Schilderung begehen würden. Lukas habe weder behauptet, dass jeder seinen Besitz verkauft habe, noch dass diejenigen, welche dies getan hätten, allen Besitz verkauft hätten.67 Die Libertiner würden mit textlichen Interpolationen arbeiten, die ihrer freien Phantasie entspringen, und dabei eine Fülle von Gegenbeispielen aus der Apostelgeschichte übersehen. Calvin verweist, abgesehen von Joses Barnabas (Apg 4,36), namentlich auf Tabitha (Apg 9,36), Simon den Gerber (Apg 10,6), Maria, die Mutter des Johannes Markus (Apg 12,2), die Purpurhändlerin Lydia (Apg 16,15) und schließlich auf Philemon, den Adressat des gleichnamigen Paulusbriefes.68 Alle diese Personen haben nach der Erzählung der Apostelgeschichte ihren Besitz behalten und werden Calvin zufolge gleichwohl als Glaubensvorbilder (les plus parfaictz entre les Chrestiens)69 dargestellt, was nicht der Fall sein dürfte, wenn Lukas tatsächlich die radikale Besitzlosigkeit hätte befürworten wollen.70 Dies sei indes keineswegs der Fall, wie die Libertiner irrtümlich unterstellen würden.

6. „Haben als hätte man nicht“. Der Umgang mit Eigentum nach Calvin Da Calvin keineswegs eine Aufhebung des Privateigentums propagierte, sondern sich von solchen Forderungen abgrenzte, stellt sich die Frage nach dem angemessenen Umgang mit demselben umso dringlicher. In der „Institutio“ nennt Calvin drei Regeln für den Gebrauch irdischer Güter. Die erste Regel ist die paulinische Paradoxie des hos mē (1. Kor 7,29–31), die er auch in der Streitschrift „Wider die Sekte der Libertiner“ bemühte:71 „Die erste [sc. Regel; M.H.] finden wir in der Anweisung des Paulus: ‚Die diese Welt gebrauchen, sollen gesinnt sein, als ob sie sie nicht gebrauchen (acsi non ducerent)[,] [...] die da Weiber haben, als hätten sie keine, die da kaufen, als kauften sie nicht (acsi non emerent).‘“72 Die zweite Regel zielt auf Genügsamkeit 62  CO 7, 217 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 63  CO 7, 218 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 64  Vgl. ebd. (Wider die Sekte der Libertiner, 1545): „Car ilz insistent sur ce poinct, que nul ne doit rien avoir de propre.“ 65  Vgl. ebd. (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 66  Ebd. (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 67  Vgl. ebd. (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 68  Vgl. CO 7, 218f. (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 69  CO 7, 219 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 70  Vgl. CO 7, 218 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545): „Et toutesfois il n’y avoit point une communion de biens confuse entre eux.“ 71  Vgl. ebd. (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 72  Inst. (1559), III,10,4.

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ab: „[S]ie sollen den Mangel mit Friedsamkeit und Geduld (placide ac patienter) und gleicherweise den Überfluß mit Mäßigung zu tragen wissen (moderate abundantiam ferre noverint).“73 Bei beiden Regeln geht es um „die Freiheit der Gläubigen in solchen äußerlichen Dingen (fidelium in rebus externis libertas)“.74 Schließlich besagt die dritte Regel, dass Christenmenschen beim Austeilen des irdischen Besitzes, der nur ein anvertrautes Gut sei, „die Liebe (caritas) walte[n]“75 lassen sollen.

7. Gemeindediakonie. Impulse Calvins Es geht – wie bereits angedeutet wurde – Calvin nicht um ein sozial- bzw. wohlfahrtsstaatliches System von Distribution, das von einem zuvor eingezogenen Kollektivvermögen ausginge. Was aber dann? Am ehesten wohl um „eine geordnete Diakonie auf Grund allgemeiner Hilfsbereitschaft aller Glieder der Gemeinde“.76 Dies wird in Calvins Schilderung der Jerusalemer Urgemeinde evident. In ihr nimmt Calvin seine Leser- bzw. Zuhörerschaft in den Blick und stellt ihr die Jerusalemer Gemeinde als vorbildlich vor Augen.77 Die Gemeindeschilderung der Apos­telgeschichte hat nämlich – wie Calvin ausführt – eine elenchtische Funktion: Sie beschämt. Um dies zu demonstrieren, arbeitet Calvin mit einem Kontrastschema, welches das „wir“ der Rezipienten/innen dem „sie“ der Jerusalemer Gemeinde, ihr „damals“ unserem „heute“ gegenüberstellt: „Damals spendeten die Gläubigen reichlich von ihrem Gut; wir begnügen uns heute nicht, mißgünstig zu verschließen, was wir in Händen haben, sondern rauben grausam noch Fremdes (aliena crudeliter rapimus). Jene boten schlicht und gutgläubig ihr Eigentum dar; wir ersinnen tausend trügerische Künste, um alles von allen Seiten an uns zu ziehen. Jene legten ihre Gaben zu den Füßen der Apostel; wir berauben frech das Heiligtum und stehlen ohne Scheu, was dem Herrn geweiht war. Einst verkaufte man seine Besitztümer (possessiones); jetzt herrscht eine unersättliche Gier, alles zusammenzukaufen (nunc insatiabilis regnat emendi cupiditas). Damals machte die Liebe (caritas) den Privatbesitz den Armen gemein; jetzt sind gewisse Leute so unmenschlich (inhumanitas), daß sie den Armen mißgönnen (pauperibus invideant), mit ihnen zusammen auf der Erde zu wohnen und mit ihnen das Wasser, die Luft und den Himmel zu genießen. Was hier geschrieben steht, dient also zu unserer Beschämung (in pudorem ac dedecus; wörtlich: in Scham und Schande [M.H.]).“78 73  Ebd. 74  Ebd. 75  Inst. (1559), III,10,5. 76  Balke (wie Anm. 22), 217. 77  Vgl. SC 8, 118f. (Predigt zu Apg 4,32–37): „Car si nous voulons que Dieu nous accepte pour ses enfans et qu’il nous repute du corps de son Eglise, il fault que nous ensuyvions leur exemple. Nous sçavons que nostre Seigneur n’a point changé de propos depuis ce temps là. Il faultdone que nous ayons uns mesme conjonction avec ceulxcy, dont parle sainct Luc. Et voulons nous qu’elle soit ferme et approuvé de Dieu? Il fault que nous ensuyvions les pas de ceulx, dont il est icy parlé.“ 78  Calvin, Komm. Apg 4,36f. (wie Anm. 9), 94.

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Die Schilderung des Ideals der Jerusalemer Gemeinde hat Calvin zufolge aber nicht nur elenchtische Funktion, sondern man kann sogar alle drei Gesetzesgebräuche,79 die Calvin kennt, entlang seiner Kommentierung der urchristlichen Gütergemeinschaft entfalten. Abgesehen vom usus elenchticus legis, dem überführenden Gebrauch des Gesetzes oder dessen erstem Amt (primum officium),80 entfaltet Calvin auch ein zweites Amt (secundum officium), den usus politicus legis, d.h. den Gemeinschaft erhaltenden Gebrauch.81 Er hat präventive Funktion und zeigt sich in Calvins Auslegung in der Akzentuierung: keine Beseitigung des Privateigentums, keine mutwillige Zerstörung der Ordnung. Schließlich kennt Calvin als den vornehmsten Gebrauch (praecipuus usus)82 den usus in renatis,83 d.h. den Gebrauch in den Wiedergeborenen. Hier geht es um die moralische Orientierung, konkret um die Ausrichtung des Handelns auf die Unterstützung der Armen und die Hilfe für die in Not geratenen Nächsten. Diese dritte Anwendung (tertius usus) „geschieht“ – wie Calvin betont – „an den Gläubigen (erga fideles locum habet), in deren Herz Gottes Geist bereits zur Wirkung und Herrschaft gelangt ist (quorum in cordibus iam viget ac regnat Dei Spiritus).“84 Das urchristliche Ideal als Gesetz in seinen „usus“ (Gebräuchen) usus elenchticus legis primum officium

usus politicus legis secundum officium

usus in renatis praecipuus usus

„Was hier geschrieben steht, dient [...] zu unserer Beschämung“

Keine Beseitigung des Privateigentums, keine mutwillige Zerstörung der Ordnung

Ausrichtung auf die Unterstützung der Armen, Hilfe für die in Not geratenen Nächsten

Inst. (1559), II,7,6–9

Inst. (1559), II,7,10–11

Inst. (1559), II,7,12–17

Calvin intendiert mit seiner Beschreibung der Jerusalemer Urgemeinde nicht einen sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsentwurf nach allgemeinen Grundsätzen. Es geht ihm primär um die christliche Gemeinde, insofern also um Gemeindediakonie. Auch wenn sich Gemeinde und Gesellschaft damals in der Stadt Genf sicherlich in ungleich stärkerem Maße einer Deckungsgleichheit annäherten, als dies unter säkularen Bedingungen gegenwärtig der Fall ist, so trifft eine Gleichsetzung beider Größen keineswegs Calvins Kirchen- wie Gesellschafts- und Staatsverständnis: „Ein Austausch der Güter (bonorum communicatio) kann doch nur stattfinden, wo fromme Eintracht (pius consensus) waltet und man ein Herz und eine Seele (cor unum et anima una) ist. [...] [W]eder schrieb Lukas ein für jedermann verbindliches Gesetz (universis legem) vor, wenn er von dem Verhalten 79  80  81  82  83  84 

Vgl. Inst. (1559), II,7,6. Vgl. Inst. (1559), II,7,6–9. Vgl. Inst. (1559), II,7,10–11. Inst. (1559), II,7,12. Vgl. Inst. (1559), II,7,12–17. Inst. (1559), II,7,12.

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der ältesten Christen berichtet [...] – noch spricht er ausnahmslos (sine exceptione) von allen, so daß man etwa denjenigen nicht für einen Christen angesehen hätte, der nicht sein ganzes Gut verkaufte (nisi qui sua omnia venderent).“85 Dieser ekklesiologischen Verortung der christlichen Praxis des Gütertauschs entspricht der pneumatologische Skopus des lukanischen Textes, den Calvin klar benennt: Im Verhalten der ältesten Christen wirkte sich „eine einzigartige Kraft des göttlichen Geistes (singularis [...] spiritus Dei efficacia)“86 aus.87

8. Schlussbemerkung Kommt man abschließend noch einmal auf die eingangs geschilderte „Versuchsanordnung“ der Untersuchung zu sprechen, so scheint der indirekte Beweis im Sinne der reductio ad absurdum gescheitert zu sein: Calvin verhält sich schroff ablehnend gegenüber den Libertinern mit ihrer „antikapitalistischen Einstellung“ und insofern konform zur Weber-These, sieht man einmal davon ab, dass Weber selbst beansprucht, sich auf den Calvinismus und nicht auf Calvin zu beziehen. Erweist sich Calvin damit nicht tatsächlich als „Vater des Kapitalismus“? Oder vorsichtiger formuliert: Liegt damit nicht ein weiterer, zumindest kleiner Baustein zur Verifikation der Weber-These vor? Freilich wird man einwenden können, dass sich Calvin gegenüber zwei Seiten bzw. Extremen abgrenzt, und d.h. nicht nur gegenüber dem libertinischen „Kommunismus“, sondern auch gegenüber einem Güterindividualismus, der die von Calvin nachdrücklich betonte Armenfürsorge gerade nicht wahrnimmt, sondern beflissentlich ausschlägt. Ein weiteres Argument muss ergänzt werden: die Kennzeichnung der innerweltlichen Askese als abzulehnendes Extrem bei Calvin. Der Genfer Reformator lehnt das ab, was nach Weber grundlegend Kapitalismus befördernd wirkte. Auch Calvins Mahnung, die Armen nicht zu berauben und ihren Nöten mit offener Hand zu begegnen, sei nochmals in Erinnerung gerufen. Lässt sich dieser die Armen beraubende Güterindividualismus nicht als eine Spielart des Kapitalismus, vielleicht sogar als eine recht vulgäre, charakterisieren? Sollte dies zutreffen, wäre die Kapitalismusvaterschaft Calvins infrage gestellt und das positive Ergebnis des Vaterschaftstests hinfällig. Allerdings wird man beachten müssen, was Weber unter Kapitalismus versteht, und hier zeigt sich, dass ihm keineswegs ein Vulgärkapitalismus vor Augen stand: „‚Erwerbstrieb‘, ‚Streben nach Gewinn‘, nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen. [...] Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen ‚Geist‘. Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, 85  Calvin, Komm. Apg 4,36f. (wie Anm. 9), 94. 86  Ebd. 87  So auch Marco Hofheinz, Good News to the Poor. The Message of the Kingdom and Jesus’ Announcement of his Ministry according to Luke. A Bible Work, in: LexTQ 52 (2017), 41–54, 47f.

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im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach ‚Rentabilität‘.“88 Diese von Weber beschriebene Gestalt eines gleichsam domestizierten Kapitalismus dürfte Calvins Vorstellungen näherkommen. Freilich bleiben Zweifel, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass Webers Kollege und Freund Ernst Troeltsch, auf dessen Untersuchungen sich Weber gerne berief, zu einer anderen Beurteilung Calvins und des Calvinismus gelangte und deren Position ausgerechnet unter den Begriff „Sozialismus“ statt „Kapitalismus“ stellte: „Der Calvinismus war [...] christlicher Sozialismus in dem Sinne, daß er das ganze Leben in Staat und Gesellschaft, Familie und Wirtschaft, im öffentlichen und privaten Dasein nach den christlichen Maßstäben solidarisch ausgestaltet. Er sorgte für jedes einzelne Glied, daß er an natürlichen und geistlichen Gütern der Gemeinschaft den ihm angemessenen Anteil erhalte, und suchte zugleich das Ganze der christlichen Gesellschaft wirklich bis ins einzelne zum Ausdruck der Königsherrschaft Christi zu machen.“89 Abschließend wird man festhalten können, dass es sich bei dem vorgeführten indirekten Test um einen „Vaterschaftstest“ handelt, der Zweifel an der „Vaterschaft“ Calvins nährt, aber keinen hinreichenden Beweis liefern kann. Einer gewissen Plausibilitätskontrolle wird er indes dienlich sein, und zwar in der Summe mit anderen Tests. Um im Bilde zu bleiben: Es ging sozusagen um die älteste verfügbare Methode des Vaterschaftstests, die Plausibilitätskontrolle anhand eines bestimmten sichtbaren Merkmals, hier: der Ablehnung des Besitzverzichts. Es sind freilich weitere Merkmale zu betrachten, also weitere Plausibilitätskontrollen durchzuführen, mit denen die Plausibilität steigt. In der Summe wird man resümierend fragen dürfen, ob die sog. Weber-These – wie Christian Link bemerkt – nicht bereits „den ‚Tod von tausend Einschränkungen‘ gestorben“90 ist. Ihrer Popularität scheint dies allerdings keinen Abbruch zu tun. Es lässt sich vielmehr jene eigenartige Paradoxie beobachten, die der Historiker Hartmut Lehmann auf folgenden Punkt gebracht hat: „Befragt, wie es denn heute mit der Weber-These stehe, muss man auf eine doppelte Paradoxie hinweisen. Auf der einen Seite überwiegen in der neueren Weber-Literatur die Einwände und Vorbehalte gegen seine These. Auf der anderen Seite scheint es aber so, als ob die Kritik dieser These nicht eigentlich geschadet, sondern diese nur noch populärer gemacht habe. [...] Vielleicht liegt der eigentliche Beitrag Webers zum besseren Verständnis der Entstehung und Bedeutung des modernen Kapitalismus somit darin, dass er durch eine teilweise – manche Weberkritiker würden sagen: weitgehend – falsche Antwort viele Wissenschaftler angeregt hat, nach einer besseren, einer überzeugenderen Antwort zu suchen.“91 88  Weber (wie Anm. 1), 106. 89  Troeltsch (wie Anm. 51), 676. 90  Christian Link, Calvin – Vater der Moderne? Zur Ethik Calvins, in: ders., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 261–282, 269. 91  Lehmann (wie Anm. 2), 383.



Diakonische Existenz im französischen Protestantismus von der Reformation bis 1685 von Gerhard Wenzel 1. Vorbemerkung Zunächst ist festzuhalten, warum die diakonische Existenz im französischen Protestantismus von der Reformation bis 1685 bislang so etwas wie ein blinder Fleck in der Kirchengeschichtsschreibung war, also eine Forschungslücke darstellte. Erstens, weil Diakonie und Diakoniegeschichte als solche lange Zeit nicht im Blickfeld von Geschichtswissenschaft und Kirchengeschichte gestanden haben, sondern ein Eigenleben oder Schattendasein geführt hatten, so als wäre das ein ganz für sich existierender autonomer Bereich gewesen. Zweitens, weil Diakonie als Forschungsgegenstand meist auf die diakonischen Institutionen, Projekte und Initiativen des 19. und 20. Jahrhunderts reduziert und nicht auch auf das 16. bis 18. Jahrhundert bezogen wurde, obwohl auch dort Diakonie praktiziert wurde und auch begrifflich schon so begegnete. Drittens, weil der französische Protestantismus und seine Geschichte in der Wahrnehmung der deutschen theologischen und kirchengeschichtlichen Forschung bislang eine nur sehr geringfügige Rolle spielten. Und viertens, weil die französisch-protestantische (Kirchen-)Geschichtsschreibung selbst bisher diesen Bereich in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Geschichte des 16. bis 17. Jahrhunderts weitestgehend außer Acht gelassen hat, da die Forschungsschwerpunkte in jener Epoche bislang im Bereich der politischen und religiösen bzw. konfessionellen Konflikte lagen – will sagen: Auch die französischen Theologen und Historiker haben sich damit verhältnismäßig wenig beschäftigt, weil sie andere Gewichtungen vorgenommen haben. Man kann also sagen, dass in dem Buch, das ich zu dieser Thematik geschrieben habe und das hier ausschnitthaft zum Vortrag kommt, etwas aufgedeckt wird, was bislang im Schatten der großen Geschichtsschreibung stand und nun wie aus dem Staube ersteht bzw. aufersteht, zumal ich einen Ansatz zur Erforschung und Darstellung von Geschichte vertrete, der nicht Mainstreamgeschichtsschreibung betreibt, also etwa nur die Geschichte der großen Männer und großen politischen Ereignisse in den Blick nimmt, sondern Geschichte aus einer anderen Perspektive anschaut. Es handelt sich vom Ansatz her um die mittlerweile gar nicht mehr so neuen Zugänge, die die Alltagsgeschichte, Minderheitengeschichte und sogenannte Mikrogeschichte bieten. Ich kann hier nur in Auswahl und auf sehr reduzierte Weise wesentliche Erkenntnisse und Ergebnisse meiner an anderer Stelle publizierten Recherchen darstellen.1 1  Gerhard Wenzel, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich – von der Reformation bis 1685. Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung, Göttingen 2013.

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Es lassen sich dabei drei Phasen der diakonischen Existenz unterscheiden, die ich gerne entsprechend in drei Abschnitten darstellen möchte.

2. Die diakonische Existenz in der Phase der klandestinen Etablierung und Konsolidierung (vom Ausbruch der Reformation bis ca. 1593 bzw. 1598) 2.1 Die Ursprünge und Charakteristika des französisch-reformierten Diakonenamtes Gerade in dieser ersten Phase französisch-protestantischer diakonischer Existenz wird sehr deutlich, dass das Sein wesentlich das Bewusstsein prägt und damit auch die jeweilige Theologie, Ekklesiologie und konkrete kirchliche Gestalt. Das gilt insbesondere für die Entstehungszusammenhänge des Diakonenamtes in der französisch-reformierten Kirche. Die äußere Situation der Konfessionszugehörigen des französischen Protestantismus, nämlich zu einer verfolgten Minderheit zu gehören, bildete zur Zeit seiner Entstehung eine andere Prägung und ein anderes diakonisches Engagement im Bereich der Armen- und Krankenfürsorge heraus als wie wir es etwa von den deutschen lutherischen Gemeinden und Städten her kennen. Die spezifische Situation französisch-protestantischer Gemeinden des 16. Jahrhunderts war bis in die neunziger Jahre hinein dadurch gekennzeichnet, dass sie von außen angefeindet waren, staatlich nicht anerkannt oder toleriert und sich damit in einem illegalen bzw. klandestinen Raum bewegten. Die protestantischen Gemeinden, die sich also im Untergrund bildeten und agierten, bedurften einer besonderen Gestalt, um zukünftig überleben und auch überzeugen zu können. Das brachte für die französischen Protestanten, die sich für ihre Armen verantwortlich fühlten, mit sich, dass sie eine Struktur und Gestalt finden mussten, durch die sie diesem Anspruch unter den genannten Bedingungen gerecht werden konnten. Erforderlich bzw. angemessen war deshalb eine ambulante Struktur, durch die Arme und Kranke und andere Betroffene unabhängig von geschlossenen Einrichtungen versorgt werden konnten und damit grundsätzlich dem negativen, repressiven Zugriff des Staates oder des katholischen Klerus entzogen waren. Die Einrichtung des gemeindlichen Diakonenamtes bot dafür eine Gewähr. Das Dia­ konenamt wurde neben den übrigen Ältesten sowie den Dienern am Wort, also den Pastoren – und hier und da auch den Lehrern –, sogar zum integralen Bestandteil der Gemeindeleitung, des sogenannten Consistoire. Die Diakone waren gewählte Älteste, die explizit und ausschließlich mit der Unterstützung der Armen und Kranken beauftragt waren. Abschied nehmen muss man auf unser Thema der diakonischen Existenz im französischen Protestantismus bezogen von der bisherigen Überbewertung bzw. Vorbildfunktion der Person Johannes Calvins und der Genfer Kirchenordnung. Vorbildcharakter für die Herausbildung des Diakonenamtes wie überhaupt die praktische Gestaltung der gemeindlichen Armen- und Krankenfürsorge hatten nicht etwa die Genfer Kirchenordnung oder diesbezügliche Äußerungen Calvins selbst, wie man aufgrund der großen Bedeutung von Calvin für den französischen Protestantismus meinen könnte, sondern die eigenen Flüchtlingsgemeinden in

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Straßburg und Genf mit ihren Versorgungsinstitutionen (die sog. bourses fran­ çaises) und möglicherweise auch die ebenso bereits im 16. Jahrhundert existierende hugenottische Londoner bzw. Frankfurter Exilgemeinde. Der unmittelbare Einfluss der Person Calvins und der Stadt Genf auf den Bereich des französisch-reformierten Diakonats und seiner gemeindlichen Armenund Krankenfürsorge muss sehr relativiert werden. Calvins spätere Bedeutung für das diakonische Engagement des französischen Protestantismus lag nicht in seinen Überlegungen und Äußerungen zur konkreten Gestalt des Diakonenamtes, sondern in seinen sozialethischen, theologischen und spirituellen Anregungen, also in der Schaffung einer nachhaltigen theologischen Basis für die gemeindliche und gesellschaftlich und sozial engagierte Existenz des französischen Protestantismus. Der französische „Protestantismus, der durch Calvin seine soziale Richtung erhielt und auf Martin Butzers Straßburger Wirken zurückgreifen konnte“2, hatte eine relativ eigenständige, von Martin Luther und in den frühen Anfängen auch von Calvin unabhängige Entwicklung im Blick auf das Diakonenamt und die gemeindliche Armenfürsorge durchgemacht. Er und seine Existenzbedingungen haben in der Anfangszeit des re­forma­to­rischen Aufbruchs Calvin mehr geprägt als umgekehrt Calvin den französischen Protestantismus. So gelangte Calvin von Le Fèvre d’Etaples angeregt3 sowie durch seinen engen Kontakt mit den Straßburgern (wie etwa Martin Butzer) und seinen Aufenthalt in der dortigen französischen Flüchtlingsgemeinde wie auch seine Erfahrungen mit dem Gesicht der Armut in Paris in den dreißiger Jahren und Genf in den vierziger Jahren4 schließlich zu einer intensiven Analyse der Armut und ihrer Ursachen und zu Ansätzen ihrer Bekämpfung. Zeitgleich entwickelten sich in den französischen Heimatgemeinden im Untergrund die gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge und das dazugehörige Diakonenamt. Eine genaue zeitliche Bestimmung des Ausbruchs der Reformation in Frankreich scheint schwierig. Mittlerweile hat sich in der Forschung ein weitgehender Konsens dahingehend herausgebildet, dass sich der eigentliche Beginn der Reformation in Frankreich Mitte der dreißiger Jahre des 16. Jahrhunderts abspielte.5 Dafür sprechen nicht zuletzt auch die in jener Zeit erfolgten Gemeindekonstituierungen in Poitiers, Meaux und Angers.6 Calvins Gedanken zum Diakonenamt waren in der frühen Zeit der dreißiger Jahre kaum besonders ausgeprägt. 2  Heinz Vonhoff / Hans Joachim Hofmann, Samaritaner der Menschheit. Christliche Barmherzigkeit in Geschichte und Gegenwart, München 1977, 83. Wilhelm Bernoulli, Das Diakonenamt bei den Hugenotten, Bd. 1, Greifensee (CH) 3  1964, 2. 4  Vgl. Hans Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, in: RKZ 124 (1983), 66. 5  Vgl. Otto Erich Strasser-Bertrand, Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Bernd Moeller (Hg.), Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 3, Göttingen 1975, 140f.; Janine Estèbe, Vers une autre religion et une autre Église (1536–1596)?, in: Philippe Wolff (Hg.), Histoire des Protestants en France, Toulouse 1977, 45ff.; Henri Dubief, Art. „Hugenotten“, in: TRE 15 (1986), 619. 6  Zu diesen Gemeinden vgl. Henri Dubief / Jacques Poujol (Hg.), La France protestante. Histoire et Lieux de mémoire, Montpellier 1992, 384–386.395.

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Aber vom Beispiel der Straßburger Flüchtlingsgemeinde, in der das Diakonenamt eine herausragende Rolle spielte, da diese Gemeinde auf eine gute selbst organisierte Flüchtlingshilfe unmittelbar angewiesen war, die Calvin in jener Zeit gerade erst kennengelernt hatte,7 wissen wir, dass es sehr bald in den neu gegründeten protestantischen Gemeinden Frankreichs – wie etwa in Meaux – spätestens in den frühen vierziger Jahren nachgeahmt wurde.8 Calvin war bei seiner Analyse der Armut und ihrer Bekämpfung bzw. der Frage des angemessenen Umgangs damit orientiert am Prinzip von sola scriptura und sola fide – also an der Schrift und an einem Glaubensverständnis, das nicht in Werkgerechtigkeit oder Aktionismus aufgeht und dennoch Gottes Anspruch auf unser Leben ernst nimmt. Vieles davon wurde prägend für den französischen Protestantismus und seine Kirchengestalt. Die Vorstellungen vom Diakonenamt, wie sie Calvin dann vor allem verstärkt in den vierziger Jahren entwickelt hatte und wie sie teils in Genf auch praktiziert wurden, unterschieden sich hingegen sehr von französisch-protestantischer Praxis, die bereits sehr frühzeitig situationsbedingt ihre ganz eigenen Charakteristika entwickelt hatte. Dazu gehören einmal die verwendeten Begriffe für die beauftragten Diakone. Die Begriffe procureurs (Armenkassenverwalter) und hospitaliers (Armen- und Krankenpfleger), wie sie für die Diakone in der Genfer Kirchenordnung von 1541 von Calvin verwendet wurden, aber bereits vor ihm existierten, begegnen so nicht in der Kirchenordnung der französisch-reformierten Kirche Frankreichs, also nicht in der Discipline ecclésiastique von 1559. Ebensowenig sind diese Begriffe in der zwei Jahre älteren französisch-reformierten Kirchenordnung der Gemeinde von Poitiers von 1557 zu finden.9 Das ist auffällig und liegt daran, dass diese Begriffe eigentlich nur Bezeichnungen für die Genfer Hospitalangestellten waren und nicht mehr. Das Genfer Hospital war zum einen Armen- und Krankenhaus und zum anderen zugleich zentrale Ausgabestelle für die ambulante Versorgung aller Armen der Stadt Genf, die sich jedoch zu diesem Zweck extra dorthin zu begeben hatten. Die französisch-protestantischen Gemeinden befanden sich in einer völlig anderen Situation. Sie verfügten zu dieser Zeit überhaupt nicht über Hospitäler, und insofern konnten die genannten Genfer Diakone auch unmöglich das Vorbild abgeben für die Diakone der französisch-reformierten Kirchenordnungen. Weiterhin fällt auf, dass die procureurs und hospitaliers der Genfer Kirchenordnung in Genf selbst zwar von Calvin als Diakone betitelt wurden, weil er diese Ämter theologisch würdigen und an die Kirche anbinden wollte, aber vom Genfer Stadtrat in dessen Verlautbarungen nie so genannt wurden. Hingegen wurden vom Genfer Rat sehr wohl die Diakone der bereits vor Calvin in Genf etablierten französisch-protestantischen Flüchtlingsgemeinde so genannt. Sie organisierten die dortige bourse française, also die gemeindliche ambulante Armen- und Krankenversorgung der hugenottischen Exilgemeinde. 7  Vgl. Philippe Denis, Les Églises d’étrangers en Pays Rhenan (1538–1564), Bd. 2, Liège 1982, 400–405.409f. 8  Vgl. Henry Heller, The Conquest of Poverty. The Calvinist Revolt in Sixteenth Century France (SMRT 35), Leiden 1986, 116. 9  Vgl. Bernoulli (wie Anm. 3), 14–18.

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Es gibt aber noch weitere Unterschiede der genannten Diakonenämter. Eine Beteiligung der Diakone an der Gemeindeleitung ist bei Calvin nicht vorgesehen, jedoch in den französisch-reformierten Kirchenordnungen. Ebenso ist die Aufgabe zu katechisieren oder zu verkündigen für die Diakone von Calvin bewusst nicht vorgesehen worden. Er wollte eine strikte Trennung zwischen einem geistlichen Verkündigungsamt und dem Amt eines reinen sozialen Hilfsdienstes. In dem obrigkeitlich geschützten und sicheren Genf mag das umsetzbar gewesen sein. Die französisch-reformierten Heimatkirchengemeinden jedoch waren auch hier von jeher nicht unbedingt immer den Leitvorstellungen Calvins gefolgt, sondern situationsbedingt immer auch ganz eigene Wege gegangen. Die Pastoren der Gemeinden waren in den Verfolgungs- und Kriegszeiten des 16. Jahrhunderts durch feindliche Übergriffe besonders gefährdet und auch viel unterwegs, um verschiedenste Gemeinden mit der Verkündigung zu versorgen. Die Diakone waren neben den Pastoren darum als wichtige ergänzende Überlieferungsträger in Frankreich sehr gefragt. Sie konnten dieser Aufgabe zumindest in Notsituationen vorübergehend gut nachkommen. Bezeichnenderweise gab es nur in den kurzen Friedens- und Toleranzphasen, nämlich 1560–61 und 1570–71, auf den französischen Nationalsynoden Kompetenzgerangel und Versuche, den Einfluss der Diakone bei der Katechese oder der Verkündigung oder Gemeindeleitung einzuschränken.10 Der wesentlichste Unterschied zwischen den Diakonen der Genfer Kirchenordnung und denen der französisch-reformierten Kirche betrifft die Besuchspraxis. Besuche kommen in der Genfer Kirchenordnung von 1541 als Aufgabe der Diakone überhaupt nicht vor. Die Erklärung dafür ist ganz einfach die, dass die Genfer Kirchenordnung nur die Diakone des Genfer Hospitals kannte. Die waren für das dortige Hospital zuständig, und was die übrigen Kranken und Armen von Genf betraf, so gab es am Hospital lediglich die bereits erwähnte zentrale Ausgabestelle von Unterstützungsmitteln. Von den Diakonen zuhause besucht wurden sie nicht. Bei den Diakonen der französisch-reformierten Gemeinden hingegen waren die Besuche bei den Betroffenen geradezu kennzeichnend für das ambulante Unterstützungsnetz. 2.2 Die ambulante Gemeindearmen und -krankenpflege als dritter Weg und ihre Kennzeichen Zu den in der ersten Phase bereits herausgebildeten Spezifika und Traditionen des diakonischen Engagements der französischen Protestanten bzw. Reformierten, auch Hugenotten genannt, gehören deshalb die Einteilung in quartiers (Zuständigkeitsviertel) und die durch die Gemeindeleitung organisierten Besuche durch die diacres (Diakone) und andere von der Gemeindeleitung dazu beauftragte Personen wie Älteste, Pastoren, Ärzte und Hebammen. Die Besuche der betroffenen 10  Siehe Beschlüsse der Nationalsynode von Orléans (25.4.1562) und von La Rochelle (2.8.1571), in: Jean Aymon, Actes ecclésiastiques et civiles de tous les synodes nationaux des Églises réformées de France: Auquels on a joint des Mandemens Roiaux et plusieurs Lettres politiques, Bd. 1, La Haye 1710, 27.104.

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Armen, Kranken und anderer Bedürftiger sind das besondere Kennzeichen der französisch-reformierten Gemeinden auf diakonischem Feld. Somit bekam die Armut ein Gesicht. Dies ist auch gut zu erkennen auf dem vorliegenden, abgedruckten Bild. Der bekannte Kupferstich des hugenottischen Künstlers Abraham Bosse mit dem Titel „Visiter les Malades“ („die Kranken besuchen“)11 zeigt rechts im Bild den betroffenen Kranken in seinem Bett und links seine Familie wie auch Besuchende. Bei den Besuchenden dürfte es sich um Delegierte der Gemeinde handeln: den Diakon sowie mildtätige Damen, erkennbar an der mit Kragen versehenen besonderen Kleidung, die auf adlige oder gehobene bürgerliche Herkunft derer hinweist, die das ansonsten eher bescheidene bis ärmliche Zuhause des betroffenen bettlägerigen Kranken aufsuchen. Die Diakone waren ähnlich wie die übrigen Ältesten der Gemeindeleitung nicht selten Adlige oder aber Bürgerliche der gehobenen Schichten wie etwa Ärzte, Juristen, Kaufleute etc. Dieser Kupferstich von Abraham Bosse, der von 1604 bis 1676 lebte, stammt zwar erst aus späterer Zeit (publiziert durch Jean Leblond 1666), aber er bildet dieselbe gemeindliche Besuchspraxis ab, wie sie schon lange zuvor im 16. Jahrhundert herausgebildet war. Es wird damit ausschnitthaft deutlich, ja greifbar, was das be-

11  Abraham Bosse (Tours 1602/1604–1676 Paris): Visiter les Malades, publ. v. Jean Ier Leblond (gest. Paris 1666). The Metropolitain Museum of Art, Purchase, The Elisha Whittelsey Collection, The Elisha Whittelsey Fund, 1951 (51.501.2213). Image Copyright The Metropolitain Museum of Art (Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Metropolitan Museum of Art).

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sondere Kennzeichen französisch-protestantischer Kranken- und Armenhilfe war, nämlich die damit verbundene Besuchspraxis, also eine genaue Kenntnis der Situation der Betroffenen und eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Das ist besonders angesichts damaliger Marginalisierung in der städtischen Armenfürsorge und vor dem Hintergrund hervorzuheben, dass die Stände und Schichten der damaligen feudalen Gesellschaft sich normalerweise wesentlich mehr in getrennten Lebenswelten aufhielten. Davon zeugen alle berühmten Dramen der großen Literaturklassiker. Hier wurde dieses Schema der Apartheitswelten durchbrochen, und die Besuchenden gingen sogar gleichzeitig oft ein großes gesundheitliches Risiko ein, weil damit Ansteckungsgefahren verbunden waren. Der Gemeinschaftsgedanke und die Begegnung von Angesicht zu Angesicht wurden also tatsächlich höher bewertet als das mögliche Ansteckungsrisiko. Darauf wies auch schon Jeannine Olson hin, die dieselbe Praxis in der französisch-protestantischen Flüchtlingsgemeinde in Genf beobachten konnte.12 Hieran wie an weiteren Vergleichen lässt sich feststellen, dass zwar nicht Calvins Überlegungen oder die Genfer Kirchenordnung die unmittelbaren historischen Vorbilder für die diakonische Praxis der evangelischen Gemeinden im Heimatland Frankreich bildeten, wohl aber die eigenen Flüchtlings- bzw. Exilgemeinden in Straßburg und Genf. Hier wie dort war nicht die Stadt zuständig für die Armenversorgung (wie in lutherischen Armenordnungen und in der Genfer Kirchenordnung Calvins), sondern die Kirchengemeinde war Träger. Das war eine besondere Variante der sogenannten laicization (engl., frz. laicisation, dt. Laizisierung), wie sie sich in ganz Europa im 16. Jahrhundert innerhalb der Armenfürsorge vollzog und zunehmend durchsetzte. Die deutschen Begriffe „Verweltlichung“ oder „Entkirchlichung“ treffen nicht wirklich das, was mit laicization eigentlich zunächst gemeint ist. Es geht vor allem darum, dass die Verantwortung im Bereich der Armenfürsorge von „Laien“ übernommen wird, letztlich also vom ganzen Christenvolk. Mit dem Modell der Kirche bzw. Kirchengemeinde als Trägerin der Armenfürsorge wurde auf reformiertem Boden im Exil und in der Diasporaexistenz im Untergrund in Frankreich eine besondere Variante dieser laicization entwickelt. Denn einerseits stellte dieses Modell eine Alternative zur bisherigen Armenfürsorgepraxis dar, bei der das Bettlertum aufrechterhalten und geheiligt wurde und die Armut in der Weise verklärt wurde, dass sich mit ihr eine meritorische Funktion verband. Diese Lehre und Praxis blieben übrigens noch lange Zeit im französischen Katholizismus verbreitet. Hierzu bot sich das hugenottische Modell als alternative Form des Umgangs mit Armut an. Die Verantwortung für die Armenhilfe wurde nicht mehr der Beliebigkeit einzelner Begüterter überlassen, sondern in die Verantwortung der gesamten Gemeinde bzw. Kirche als Gemeinschaft bzw. Gemeinwesen gelegt. Maßstab für die Versorgung und Vergabe war die jeweilige Hilfsbedürftigkeit des Einzelnen (à chacun particulièrement selon la

12  Vgl. Jeannine E. Olson, Calvin and Social Welfare. Deacons and the „Bourse française“, London / Toronto 1989, 77.

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nécessité)13 und nicht mehr die Hilfsbereitschaft weniger Einzelner oder ihre religiöse Motivation. Andererseits bot das hugenottische Modell, wie es auch besonders in der Pariser französisch-reformierten Kirchenordnung ausgeprägt ist, in der außer den Dia­ konen auch weitere sog. ehrenhafte Bürger der Gemeindebasis selbst wesentlich in die Armenfürsorge einbezogen werden, ebenso eine Alternative zu dem lutherischen und Genfer Modell, wo die Obrigkeit die Armenfürsorge übernommen hatte. So entwickelte sich bei den Hugenotten als dritter Weg das Modell einer von Laien praktizierten, zur Kirchengestalt und -gestaltung genuin dazugehörigen Armenfürsorge, die sich in einem konstruktiven und solidarisch-kritischen Zusammenspiel mit staatlichen Einrichtungen verstehen konnte. Eine von Laien getragene rein kirchliche Diakonie, bei der die Eigenverantwortung nicht auf die Städte abgeschoben wurde, entsprach zwar durchaus auch der Theorie reformierter Theologie bzw. Kirchenlehre, wurde aber außer im französischen Protestantismus nur in wenigen anderen reformierten Kirchen zur gängigen Praxis. Bezeichnenderweise waren auch das überwiegend Flüchtlingsgemeinden, wo dies so umgesetzt wurde, wie etwa die von Johannes a Lasco in London und später Emden, und gerade nicht die reformiert-majorisierten Städte. Der genannte Prozess der laicization ging einher mit dem Prozess der Rationali­ sierung in der Armenfürsorge. Im französischen Protestantismus war das unter anderem deutlich am Wandel der verwendeten Begrifflichkeiten ablesbar. Die Rede ist in der Regel nicht (mehr) von den aumônes (Almosen), sondern von assistance (Unterstützung) und den deniers des pauvres (Geld der Armen). Deutlich dokumentiert sich darin die Entideologisierung und Rationalisierung der Armutsfrage und -bewältigung. Zu den sowohl weiten Teils in der Straßburger und Genfer Flüchtlingsgemeinde wie auch im Heimatland praktizierten Aufgaben und Charakteristika der Diakonie jener ersten Phase des französischen Protestantismus bis 1593 gehörten: die zen­ tralisierte Sammlung und rationalisierte Vergabe von Geldern und anderen Hilfsmitteln entsprechend der spezifischen Notsituation, orientiert an den Bedürfnissen der Betroffenen, und die dreimonatliche öffentliche Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben, die so bis ins Berliner Refuge im 18. Jahrhundert hinein als beibehaltene Praxis beobachtbar ist; die Unterstützung von Schulbesuch und die Etablierung von Armenschulen und anderer für Arme schulgeldfreier Bildungseinrichtungen; die Einteilung in verschiedene Unterstützungsgruppen (regelmäßig und außerordentlich); die besondere Unterstützung von Kranken durch Krankengeld, medikamentöse und ärztliche Versorgung; die besondere Unterstützung von Flüchtlingen durch Reisegelder und Etablierungsstarthilfen; die Unterstützung von Waisen und Witwen durch Hilfsgelder und Vermittlung von Bildung, Ausbildung und Beschäftigungsverhältnisse; die Durchführung von und Beteiligung an städtischen Armenreformen sowie Geldverleih in Form von Kleinkrediten (frz. prêts) für Existenzgründungen und Arbeitsmaterial- oder Werkzeugbeschaffungen etc. 13  „[j]edem gemäß seiner [eigentl. „der“] Not / Bedürftigkeit“; Art. IX der Pariser Ordnung, in: Bull. SHPF 1 (1852), 257.

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An vielen der genannten Interventionsformen wird die Zielrichtung deutlich. Es handelt sich schwerpunktmäßig um Hilfen zur Selbsthilfe. Die Hilfen erstreckten sich nicht nur auf die eigene Gemeinde und auch nicht nur auf die eigenen Konfessionszugehörigen, aber hatten zweifellos hier ihren Schwerpunkt bzw. die Priorität. Unterstützungen von Katholiken durch die Gemeindediakonie waren gerade in dieser ersten Phase, als die Anfeindung durch die katholische Majorität besonders stark ausgeprägt war, eher die Ausnahme von der Regel. In Städten, wo die Protestanten schon damals umgekehrt die Mehrheit hatten, wie etwa in Nîmes, lassen sich Bekehrungsversuche mittels der Armenstützung beobachten. Die Unterstützung wurde also als Druckmittel zur Bekehrung der sozial Schwachen verwendet. Es gab entsprechend den obigen Ausführungen in der ersten Phase keine geschlossenen Einrichtungen in kirchlicher Hand, allenfalls nur ganz wenige städtische Hospitäler eines protestantisch majorisierten Stadtrates wie in Nîmes. 2.3 Das Verhältnis von städtischer und gemeindlicher Armenfürsorge Überall, wo Protestanten an der Macht im Stadtrat partizipieren oder diese gänzlich übernehmen, beteiligen sie sich auch auf städtischer Ebene an Armenreformen oder führen diese ein bzw. fort. In Lyon beispielsweise führen sie den Leseunterricht nicht nur für Jungen aus verarmten Familien durch, sondern installieren ihn auch für verarmte Mädchen und statten diese mit Lesematerial aus (in der Regel die Bibel). Zu dem Engagement in der Armen- und Krankenfürsorge gehören auch Kooperationen zwischen Kirchengemeinde und der Stadt, wo die Protestanten in der Majorität sind. In Nîmes gab es beispielsweise eine intensive Zusammenarbeit der Kirchengemeinde mit der Stadt zu Zeiten der Pest. Die Unterstützung durch Brotausteilung stellte eine Ausnahme in der französisch-reformierten offenen Gemeindearmenfürsorge dar. Die normale Form der regelmäßigen oder auch einmaligen Unterstützung in Notsituationen und Krankheitsfällen war die pekuniäre wöchentliche Unterstützung. Dazu wurden die Betroffenen von den diacres nach Befragung und Beratung über ihre Situation auf einen entsprechenden Etat gesetzt. Unbedingt erwähnt werden müssen im Blick auf die Kooperation zwischen Gemeindeleitung und Stadt bei der Armenfürsorge noch besondere andere kommunale Unterstützungssysteme, die den Charakter von Patenschaftsmodellen hatten. In Lyon und Nîmes etwa gab es anstelle des indirekten anonymen Beitrags zur städtischen Armenhilfe (Armensteuer) wohl zumindest teilweise auch die Möglichkeit, ein oder zwei oder auch mehr Arme unmittelbar auf eigene Kosten zu versorgen – ein Zugeständnis an das traditionelle Verständnis der Almosengabe? Oder war es eher ein interessantes Modell, das zur öffentlichen Verantwortung für das Gemeinwesen verpflichtet, ohne dass dies aber eine Anonymisierung der Armut nach sich zieht?

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2.4 Weibliche Diakonie – Vorformen des Diakonissenamtes Bevor wir zur zweiten Phase kommen, ist noch ein ganz wesentliches Charakteristikum der hugenottischen Gemeindediakonie hervorzuheben, nämlich die Beteiligung von Frauen an der gemeindlichen Armen- und Krankenpflege. Besuche wurden nicht nur von den ausdrücklich durch die Discipline ecclésiastique dafür vorgesehenen diacres respektive anciens oder wie im Fall der Pariser Diakonenordnung durch andere sogenannte ehrenhafte Bürger geleistet. Es entwickelten sich bereits in sehr früher Zeit bezogen auf die Besuchs- und Versorgungspraxis Formen weiblicher ambulanter Diakonie, die sich zu Vorbildern und Modellen in späterer Zeit entwickelten, an die schließlich auch später im Refuge insbesondere in Berlin direkt oder indirekt wieder angeknüpft wurde, so etwa in La Rochelle, Sedan und Nîmes.14 Lange vor den barmherzigen Schwestern eines Vincent de Paul der Gegenreformation bildete sich im französischen Protestantismus eine Vorform der Diakonisse heraus und waren damit die Einbeziehung und Partizipation von Frauen auf diakonischem Feld eine Selbstverständlichkeit. Grund dafür war nicht zuletzt die theologische Aufwertung, die das weibliche Diakonenamt durch Calvin erfahren hatte.15

3. Diakonische Praxis in der Blütephase (1594 bzw. 1598 bis 1660) 3.1 Veränderte Rahmenbedingungen der diakonischen Existenz Die Kennzeichnung der zweiten Phase als „Blütephase“ deutet auf Stabilisierung und Ausbau der diakonischen Praxis des französischen Protestantismus im genannten Zeitraum von ca. 1594 bzw. 1598 bis etwa 1660 hin. Die äußeren Daten markieren den politischen Rahmen, innerhalb dessen sich das diakonische Engagement bewegen und tatsächlich auch bis zu einem gewissen Grade entfalten konnte. 14  In Nîmes beschließt das Consistoire am 5.4.1561, zusätzlich zu den Diakonen vier Frauen zu beauftragen, jede Woche in jedem Viertel Gelder für die Armen zu sammeln und bewilligte Unterstützungen zu überbringen. Besonders sind hier als beispielhaft die soeurs de Sedan oder filles de Sedan oder demoiselles de Charité zu nennen, wie sie in der Literatur unterschiedlich benannt werden. Im November 1573 gab Henri Robert de la Marck, Herzog von Bouillon und Fürst von Sedan, seine Zustimmung zur Gründung einer Société de demoiselles de la charité und spendete entsprechende Mittel zur Unterstützung. Die Frauen, die einem Diakon unterstanden, sollten Kranken Beistand gewähren und ihnen Linderung verschaffen. Sie sammelten zum einen die Gelder. Zum andern leisteten sie die konkrete Versorgung der Armen und gaben je nach Bedarf Geld, Getrei­de, Fleisch und Stoff für Klei­dung aus. Vergleichbare Aufgaben übernehmen auch in der französischreformierten Gemeinde von La Rochelle die Dames de La Rochelle; vgl. Wenzel (wie Anm. 1), 76.116–119. 15  Dem reformatorischen Prinzip sola scriptura (allein durch die Schrift) folgend stieß Calvin durch biblische Bezugnahmen zu 1. Tim 5,3–16 und Röm 16,1 zu der Erkenntnis vor, dass das kirchliche Amt des Diakons ebenso von Frauen ausgeübt werden kann, und revolutionierte damit das kirchliche Ämterverständnis, in dem die Frau bis dato keinen Platz hatte, wenn sich dies auch nicht auf das Predigtamt ausweitete.

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Man kann im Blick auf die Wende durch das Edikt von Nantes sogar von einer regelrechten Aufbruchstimmung sprechen, die sich im Bereich der Diakonie und Armenfürsorge des französischen Protestantismus entfaltete.16 Die Zeit zwischen dem „Toleranzedikt“ von Nantes bzw. dessen Vorbereitungsphase ab ca. 1594 und der Regierungszeit Ludwig XIV. ab 1661 war von relativer äußerer Stabilität und Sicherheit geprägt, wenn auch bereits ab 1657 Maßnahmen und Gesetze der Benachteiligung und Diskriminierung französischer Protestanten wieder neu einsetzten.17 Dass sich die diakonische Praxis im zuvor genannten Zeitraum relativ gut entfalten konnte, hatte mehrere Hintergründe. Gleich wie man das Edikt von Nantes werten will, ob als Edikt, das den Krieg nur in einen kalten Krieg verwandelte, oder doch als einmaliges Toleranzedikt in dem Sinne, dass es einen Bewusstseinswandel einleitete und in Form konkreter Regulierungen einen gewissen Freiheitsraum ermöglichte und auf das Zusammenleben innerhalb eines Staates bezogen dem Toleranzgedanken ein erstes Gesicht gab, ist Folgendes festzuhalten: Erstens. Das Edikt von Nantes vermittelte mehr als vorangegangene Edikte durch seinen Charakter der Unwiderrufbarkeit und der an die Protestanten gemachten Zugeständnisse ein Stück Sicherheit. Zweitens. Relative Rechtssicherheit im engeren Sinne kam dadurch zustande, dass durch das Edikt das interkonfessionelle Miteinander wie auch die Ausführungen und Entscheidungswege im Konfliktfall durch paritätisch besetzte Gremien regional und Chambres de l’Édit für ganz Frankreich geregelt waren. Dass sich durch spätere Entwicklungen und weitere Erlasse und Ausführungsbestimmungen hierauf bezogen das Blatt völlig wendete, war so nicht vorhersehbar und bleibt davon unberührt. Drittens. Für den Bereich der städtischen Hospitäler wie auch der städtischen Aumônes Générales (Armenkassen) gab es grundsätzliche Regelungen, die das Miteinander beider Konfessionen ermöglichten. Für die gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge (vor allem, was Einnahmen durch Legate, Schenkungen etc. betrifft) gab es Regelungen, die die Existenz einer solchen erlaubten, also Spielraum für eigenes legales gemeindediakonisches Engagement boten. Viertens. Ein weiterer Grund für das Aufblühen französisch-reformierter Diakonie in dieser zweiten Phase hing eher indirekt mit dem Edikt von Nantes zusammen. Das Edikt bewirkte eine Konzentration auf die kircheneigenen – und damit eben auch diakonischen – Belange. Diese Wirkung kann positiv und zugleich negativ gedeutet werden. Positiv betrachtet gab das Edikt durch die „Befriedung“ und den rechtlichen Rahmen den Blick dafür frei und eröffnete 16  Vgl. auch Maurice Naert, Les Huguenots du Calaisis au XVIIe siècle, 2. Teil, in: Bull. SHPF (64) 1915, 438. 17  Deren vorläufiger Höhepunkt war das Verbot der protestantischen Collèges und Akade­ mien sowie eine radikale Reduzierung ihrer Elementarschulen im Jahr 1670. Das zuletzt genannte Edikt von 1670 sowie eine Reihe unzähliger anderer Edikte, die bereits zuvor einsetzten und noch kommen sollten, waren die Vorboten oder Vorarbeiten der endgültigen Rücknahme des Ediktes von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau 1685; vgl. Wenzel (wie Anm. 1), 202–209.

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die Möglichkeit, sich überhaupt diesen Belangen zu widmen. Negativ betrachtet begrenzte das Edikt den Handlungsspielraum auf das rein Innerkirchliche und den Kultus. Fünftens. Schließlich ist als Grund für das Aufblühen des französisch-protestantischen diakonischen Engagements noch die Auseinandersetzung, ja der Wettlauf mit den Kräften, Bewegungen und Gemeinschaften der französischen Gegenreformation und katholisch-fundamenta­listischen Vereinigungen bis hin zur geheimen Verbindung Compagnie du Saint Sacrement auf dem Gebiet der Armen- und Krankenfürsorge zu nennen. Als dies nach dem ersten Drittel und besonders in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts virulent wurde, verband sich die Armenversorgung natürlich ganz stark mit klaren Bekehrungsabsichten. Sie waren jedenfalls genuiner Bestandteil solcher katholischen Bewegungen, Gemeinschaften und politischen Vereinigungen und Verbindungen. Sicher darf man darin nicht lediglich eine von reinem Machtinteresse der Kirche motivierte Mitgliederwerbung sehen. Die treibenden Kräfte solcher Verbindungen oder auch der Kirche waren in der Tat von der Notwendigkeit der Seelenrettung der betroffenen Armen überzeugt. Neben der Negativseite der Gewissensbedrängung der Armen, in der sich ihre Abhängigkeit nur einmal mehr zeigte, hatte die Konkurrenz aber auch ihr Gutes. Das soziale Engagement der jeweiligen Konfession hatte sich zu bewähren und musste also effektiv sein und Betroffenen Sicherheit verleihen, sollten tatsächlich die Herzen der „armen Massen“ gewonnen und damit letztlich der Bruch mit der jeweils anderen Konfessionsgemeinschaft vollzogen werden. War es bisher eher die Regel, dass die Unterstützung der Bekehrung folgte, so wurde hier die Reihenfolge teils umgekehrt. Die Armen gerieten durch die konfessionelle Konkurrenz noch mal ganz neu und anders als bisher ins Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das soziale Engagement bzw. die Armenunterstützung werden im wahrsten Sinne des Wortes zum Angelpunkt des Seelenheils, das an der Konfessionszugehörigkeit und schließlich auch an sittlicher Ordnung festgemacht wird. Beispielsweise wird das System der Armen- bzw. Freischulen ausgebaut, und Arme genießen in den französisch-reformierten Gemeinden auf diese Weise weiten Teils kostenlosen Schulunterricht, während die katholischen Kräfte im Zuge der Gegenreformation zunehmend ebenso versuchen, ihre gemeindliche Armenfürsorge – teils ausgesprochen nach dem Vorbild der protestantischen Aktivitäten – auszubauen und die ambulante Krankenpflege sowie materielle Unterstützungen vor Ort zu fördern. Als wichtige Punkte bzw. Charakteristika dieser zweiten Phase lässt sich hervorheben: 3.2 Die Legate als Spiegel spiritueller Identifikation der Gemeindeglieder mit der Verantwortungswahrnehmung für die Armen Schenkungen, Kollekten und Legate, also testamentarisch festgelegte Vermächtnisse, sorgen in jener Phase aufgrund der neuen rechtlichen Rahmenbedingungen für einen erheblichen Kapitalzuwuchs der Gemeinden und eine gesunde finanzielle Basis des diakonischen Engagements. Diese Legate sind Spiegel und zugleich Grundlage einer verstärkten Aktivität bzw. eines Ausbaus des diakonischen Engagements der französischen Protestanten in der hier genannten Blütephase. Dabei

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offenbart die Analyse von französisch-protestantischen Legaten eine ausgesprochen eindeutige spirituelle Identifikation mit der Verpflichtung gegenüber den Armen im Sinne des hugenottischen Selbstverständnisses der Kirche als „Mutter der Armen“ und der calvinischen Definition der Gemeinde als communio (Gemeinschaft), die nicht nur das Wort, sondern auch das Brot miteinander teilt. Die testamentarischen Bestimmungen legen die Anteile der vermachten Summen für die kirchliche Verkündigung einerseits und für die Armenfürsorge andererseits entweder im Verhältnis zwei zu eins oder eins zu eins oder gar null zu eins fest.18 Dieses Verhalten entsprach sowohl den Finanzierungsnotwendigkeiten als auch französisch-reformierter Spiritualität, die zwischen beidem eine Einheit sah – also Verkündigung nicht ohne soziale Tat und soziale Tat nicht losgelöst von der Verkündigung verstand. Die Tatsache, dass die protestantischen Legate von Lyon teils auch das Aumône Générale (also die städtische Armenkasse) mit bedacht haben, deutet darauf hin, dass sich Protestanten nicht grundsätzlich im Gegenüber oder in Konfrontation zu den öffentlichen Einrichtungen der Armenhilfe verstanden haben, sondern die eigene gemeindliche Armenhilfe vor allem deshalb vorwiegend unterstützt haben, weil eine Beeinflussung, Gewissensbedrängung und Benachteiligung ihrer Armen in den öffentlichen Einrichtungen zu befürchten waren und wohl auch vorkamen.19 Der Anteil der protestantischen Legate, die das Aumône Générale in Lyon bedacht haben, lag mit 25% übrigens dennoch nur unwesentlich unter dem der katholischen Legate, die nur 28% ausmachten. Dass der Katholizismus sich durch das protestantische gemeindediakonische Engagement besonders herausgefordert sah, ist daran ablesbar, dass sich der Stellenwert karitativer Zweckbestimmungen bei katholischen Testamenten jener Zeit grundsätzlich eher auf einem durchschnittlichen Level bewegte, aber hingegen ein sehr starker prozentualer Anteil mit karitativer Zweckbestimmung in den katholischen Vermächtnissen zu verzeichnen ist, wo eine starke Konkurrenz vor Ort durch das protestantische Engagement im sozialen Bereich existierte, wie etwa in Nîmes. Der Anteil der sozialen Verfügungen in den protestantischen Vermächtnissen ist in den unterschiedlichen Städten Lyon und Nîmes hingegen gleich stark hoch. Das kann nur darin begründet liegen, dass der Identifikationsgrad protestantischer Erblasser mit ihrer gemeindlichen Armenfürsorge und „ihren Armen“ ein ganz anderer war als der der katholischen Erblasser und nicht zuletzt auch darauf basierte, dass die französisch-protestantische gemeindliche Armenfürsorge zu jener Zeit völlig intakt war und einen hohen Stellenwert hatte, die katholische hingegen eher nicht. Auch in Lyon gab es zwar ab ca. 1630 für die Katholiken durch die dort aktive Compagnie du Saint Sacrement verstärkte Anreize, Legate mit karitativen Zwecken zu hinterlegen. Das begrenzte sich jedoch eher auf die oberen Schichten. Man 18  Was die Mitglieder testamentarisch verfügten, entspricht weitestgehend auch den Empfehlungen der Nationalsynode von La Rochelle 1601, nämlich, wie es dort heißt, damit „zum Unterhalt der Armen und zur Verkündigung der Kirche“ beizutragen (Punkt 2; Beschlüsse der 18. Nationalsynode von La Rochelle vom 1.3.1601, in: Aymon [wie Anm. 10], 336). 19  Vgl. Wilma J. Pugh, Catholics, Protestants and Testamentary Charity in SeventeenthCentury Lyon and Nîmes (French Historical Studies 11/4), Ohio 1980, 488.

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kann auf Grundlage der Daten feststellen, dass die Legate mit karitativer Zweckbestimmung in den unteren Schichten der Protestanten mindestens so verbreitet sind wie in den höheren.20 3.3 Die Vergabe von Kleinkrediten als ein wesentliches Kennzeichen der diakonischen Praxis Die Vergabe von prêts (Kleinkrediten) als Hilfe zur Selbsthilfe wurde durch die Legate und weitere Verbesserungen der finanziellen Lage erst richtig ermöglicht. Sie vollzog sich in der Regel zinsfrei, weil hier im Sinne der Lehre Calvins Bedürftigen nicht mit Zinsforderungen begegnet werden durfte. Die Kredite ermöglichten beruflichen Existenzaufbau oder berufliche Fortexistenz durch den Erwerb von Arbeitsmaterial, wie sich etwa für die Gemeindearmenfürsorge in Bordeaux nachweisen lässt.21 Die Beschaffung von Arbeitsmitteln und Werkzeugen spielte beispielsweise auch auf die Region von Calais bezogen in der dortigen französischprotestantischen Gemeindearmenfürsorge eine große Rolle.22 3.4 Ausbau des Armenschulsystems Im Edikt von Nantes (1598) wurde festgelegt, dass die französischen Protestanten dort, wo sie öffentlich Gottesdienst feiern durften, auch Elementar- und höhere Schulen einrichten durften. Ausdrücklich wurde ihnen in den 56 sogenannten „Geheimen Artikeln“ des Edikts von Nantes nicht nur die Errichtung dieser Schulen, sondern auch die Gründung von vier Akademien zugestanden. Auf dieser Grundlage richteten die Protestanten in allen großen Gemeinden obligatorische und unentgeltliche Elementarschulen für Jungen und Mädchen ein und versuchten diese Rechte einzuklagen, wo sie missachtet wurden.23 Um den Einfluss der ebenso errichteten und erfolgreich funktionierenden französisch-reformierten Collèges (Mittelschulen) zu mindern, in denen Armenkinder gezielt gefördert wurden, „wurden häufig neben ihnen Jesuitenkollegien errichtet, die dies und die die reformierten Unterrichtsmethoden z.T. nachahmten.“24 Hier spornte also das hugenottische diakonische Engagement im Bereich der Armenbildung zur Nachahmung durch die Konkurrenz an und wurde damit zum Segen für die Betroffenen. Besonders die Elementarschulen, die für Arme kostenlos waren, sind in protestantischen Orten bzw. Gemeinden sehr zahlreich gewesen und haben im Verlauf der Periode des Edikts von Nantes zahlenmäßig zugenommen.25 Die einzelnen 20  Hingegen sieht es bei den Katholiken in Lyon so aus, dass der prozentuale Anteil der Legate mit karitativer Zweckbestimmung bei den wohlhabenderen Katholiken verbreiteter ist als bei den unteren Schichten; vgl. Pugh (wie Anm. 19), 498f. 21  Vgl. Martin Dinges, Stadtarmut in Bordeaux 1525–1675. Alltag, Politik, Mentali­ täten, Bonn 1988, 450. 22  Vgl. z.B. Naert (wie Anm. 16), 441. 23  Vgl. Aymon (wie Anm. 10), 426. 24  Strasser-Bertrand (wie Anm. 5), 156. 25  Vgl. Michel Nicolas, Des Écoles primaires et des collèges chez les protestants français avant la révocation de l’édit de Nantes (1538–1685), in: Bull. SHPF 4 (1856), 500.

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Kirchengemeinden vor Ort bzw. ihre Consistoires waren die Träger der Elementarschulen und nach französisch-reformiertem Kirchenrecht in der Pflicht, sie zu unterhalten. Dabei konnte auch die Beauftragung oder Anstellung eines maître d’école (Schulmeisters) selbst unter einem besonderen sozialen Aspekt stehen wie im Fall der Elementarschule von Marchenoir: Ein maître d’école verfügte in der Regel nicht über eine angemessene Altersversorgung. Durch Zahlung einer wöchentlichen Pension / Unterstützung von 5 sols an den gealterten M. Gymet à cause de sa vieillesse (aufgrund seines Alters) blieb er im System gegenseitiger Hilfe der Gemeinde eingebunden.26 Auch im 17. Jahrhundert legten die französischen Protestanten Wert darauf, dass die Alphabetisierung, religiöse Unterweisung und Bildung ein Gut waren, das Jungen und Mädchen gleichermaßen zukommen sollte, was auch in jener Zeit keineswegs selbstverständlich war und als Beitrag zur Prävention weiblicher Armut hier und da auch Aufstiegschancen ermöglichte. In der Regel verfügten die Con­ sistoires der einzelnen Kirchengemeinden über Spenden, Legate und Fonds, die zur Unterstützung armer Schüler der Collèges27 dienen sollten, insbesondere durch Begabtenförderung oder Hilfen zum Schulabschluss respektive Studienabschluss an den Akademien. 3.5 Ergänzung der ambulanten Diakonie durch die Gründung von „Crypto-Hospitälern“ Im Zuge der diakonischen Aufbruchstimmung des französischen Protestantismus unter den neuen Bedingungen des Ediktes von Nantes kommt es nun auch erstmals zu gemeindeeigenen oder privaten protestantischen Hospital- oder Armen­ hausgründungen. Nach Jean Imbert gibt es keine protestantischen Hospitäler unter dem Ancien Régime vor der Rücknahme des Ediktes von Nantes (1685).28 Fakt ist jedoch, dass sie tatsächlich existierten. Sie waren nur nicht erlaubt, denn offiziell bedurfte es dazu der Genehmigung durch die Krone oder des Einverständnisses von Seiten des katholischen Klerus.29 Deshalb wurden sie wohl meist bei Bekanntwerden verboten bzw. geschlossen, es sei denn die Sachlage war eine kompliziertere wie im Fall des protestantischen Hospitals in Nîmes. Die Tatsache, dass sie offiziell nicht existieren durften, konnte offenbar nur bedingt verhindern, dass sie dennoch gegründet und betrieben wurden. Imbert benennt selbst das Beispiel des von Angehörigen der R.P.R. (religion prétendue reformée = der angeblich reformierten Religion) in Paris am Fauxbourg Saint-Marcel errichteten Hospitals, das auch noch nach königlichem Verbot vom 30. Juni 1637 entgegen der Anweisung wieder von Reformierten weiter betrieben wurde, aber dann durch Beschluss der staatlichen Behörden vom 11. April 1657 wohl endgültig enteignet werden sollte.30 26  Vgl. Yves Gueneau, Protestants du centre 1598–1685, Tours 1982, 284. 27  Vgl. A.N. (Archives Nationales, Paris), Serie TT 241, fol. 804 u.a. 28  Vgl. Jean Imbert, L’hospitalisation des protestants sous l’Ancien Régime, in: Bull. SHPF 131 (1985), 176. 29  Ebd. 30  Imbert (wie Anm. 28), 176f.

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Es ist nicht bekannt, wie viele dieser „inoffiziellen“ Hospitäler existierten und an welchen Orten. Aber durch eigene Nachforschungen konnte ich allein 17 solche zeitweilig existenten Einrichtungen ausfindig machen.31 Wodurch waren diese Hospitalgründungen motiviert? Einerseits wurde dies durch das dazu nötige und mittlerweile vorhandene Kapital erst ermöglicht; vor allem Testamente und Sammlungen auf gesetzlicher Grundlage boten die nötige materielle Voraussetzung. Andererseits wurden diese Hospitalgründungen hervorgerufen durch die Konkurrenzsituation der Konfessionen, besonders an den Orten, wo das Edikt von Nantes nicht zur Zufriedenheit der Protestanten umgesetzt zu sein schien und Benachteiligungen oder Beeinflussungen religiöser Art spürbar oder zu befürchten waren, was das jeweils örtliche (städtische) Hospital betraf. Diese Sorge war nicht unbegründet, denn der Bekehrungseifer derer, die durch die Bewegungen der Gegenreformation geprägt oder in ihren Gemeinschaften oder ähnlichen Versammlungen und Vereinigungen organisiert waren, war teils doch sehr ausgeprägt, so dass sie gerade auch auf dem Feld des Sozialen innerhalb oder außerhalb geschlossener Institutionen versuchten, Einfluss zu nehmen auf das Seelenheil und die Konfessionszugehörigkeit der Betroffenen. Offensichtlich gab es aber auch Bekehrungsversuche von Seiten der Protestanten. Im Zuge des konfessionalistischen Wetteifers blieb das nicht aus. Die hier angesprochenen neu gegründeten protestantischen Hospitäler und Armenhäuser könnten in Aufnahme einer Terminologie von Martin Dinges am ehesten noch als „crypto-hospitals“ bezeichnet werden, da sie wohl über keine offiziell notwendige königliche oder bischöfliche Genehmigung verfügten32 oder diese ihnen aber zumindest bald wieder entzogen wurde. So gesehen müsste das von Imbert entworfene Bild korrigiert werden, wonach die französisch-reformierte gemeindliche Armen- und Krankenfürsorge vor 1685 durchweg rein ambulanter Natur gewesen sein soll. Gleichzeitig muss aber auch der Sicht von Dinges widersprochen werden, der die Existenz solcher „cryptohospitals“ für den gesamten Zeitraum ab Bildung der französisch-reformierten Gemeinden bis 1685 voraussetzt und dabei Phasen, Zeiten und äußere politische und geographische Bedingungen nicht differenziert. Für die Zeit vor dem Edikt von Nantes lässt sich bislang kein einziges solcher „crypto-hospitals“ finden. Die ambulante diakonische Struktur ist also erst im Klima bzw. unter den Bedingungen einer begrenzten Toleranz durch geschlossene Einrichtungen ergänzt worden.33 31  Vgl. Wenzel (wie Anm. 1), 171f. 32  Vgl. Martin Dinges, Huguenot poor relief and health care in the sixteenth and seven­ teenth centuries, in: Raymond A. Mentzer (Hg.), Society and culture in the Huguenot world (1559–1685), Cambridge 22007, 167. 33  Bezeugt werden die Errichtung von protestantischen Hospitälern und die diakonische Hartnäckigkeit der Hugenotten schließlich auch durch ein Schriftstück einer katholischen missionarisch-karitativen Konkurrenzbewegung. Dort heißt es: „Sie [= die Armenfürsorge] ist so ausgeprägt unter ihnen, dass, obwohl man ihre Armen in den Hospitälern der Katholiken aufnimmt und es ihnen unter Androhung großer Strafen verboten ist, geheime Hospitäler zu unterhalten, sie dennoch welche in Paris selbst besitzen und sich der Strenge des Edikts aussetzen, nur um ihre Kranken mit besserer Pflege zu unterstützen und sie besser

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Die Arbeit in geschlossenen Einrichtungen – ob städtisch oder gemeindlich – wie etwa in dem Hospital von Nîmes, wo eine Seidenmühle errichtet worden ist, diente vornehmlich der Ausbildung und Armutsprävention und nicht dem Profit der Institution oder ihrer Kooperationspartner. Es gab dort keinen wie sonst oft verbreiteten Vertrag mit Manufakturen, die dazu tendierten, die Betroffenen auszubeuten. 3.6 Teils gelungene interkonfessionelle Zusammenarbeit in der Armenfürsorge auf Stadtebene – so z.B. in Vitré Das Klima der (begrenzten) Toleranz durch das Edikt von Nantes ermöglichte schließlich auch vorbildliche ökumenische Kooperationen auf diakonischem Gebiet. In Vitré, dem Zentrum des bretonischen Protestantismus, konnte 1597 ein auf Stadtebene von Protestanten und Katholiken gemeinsames Projekt im Bereich der Armenunterstützung realisiert werden. Von einem gemeinsam geführten Hospital am Ende des 16. Jahrhunderts erfahren wir zwar nichts, dafür aber umso mehr über eine außergewöhnliche, wenn vielleicht auch nur vorübergehende Einrichtung der städtischen offenen Armenfürsorge im Jahr 1597, bei der beide Konfessionen involviert waren. Es ist nicht sicher, ob es sich hier um eine dauerhafte Einrichtung bzw. Praxis handelte oder ob sie sich lediglich den besonderen Umständen der durch eine Hungersnot bedingten Krisenjahre verdankte und nur wenige Jahre oder gar noch kurzzeitiger existierte. Aber den nachgedruckten Listen aus dem Jahr 159734 ist jedenfalls zu entnehmen, wie die Stadträte bzw. die von der Stadt eingesetzten Armenkommissare protestantische und katholische Bürger(liche) gleichermaßen zur Unterstützung der von Missernten und Hungersnot gebeutelten Armen zwangsverpflichten. Die zu versorgenden Betroffenen konnten grundsätzlich ebenso beiden Konfessionen angehören. Aber die einzige dort aufgeführte Liste umfasst 118 verarmte Katholiken, jedoch keinen einzigen verarmten Protestanten. Das ist gewiss nicht so zu deuten, dass es in Vitré überhaupt keinen einzigen protestantischen Armen gegeben hätte, sondern so, dass etwaige protestantische Arme durch das Netz der offenen Armenunterstützung der protestantischen Kirchengemeinde bereits aufgefangen und versorgt waren – ein Netz, das es in dieser Form in der katholischen Gemeinde in Vitré, ähnlich wie in Bordeaux, nicht gegeben hat. Umso eindrucksvoller ist es, dass die katholischen betroffenen Armen in diesem Kontext dennoch gemischtkonfessionell unterstützt wurden.

in ihrer Religion unterweisen zu können. Sie haben auch in allen Städten, in denen sie Kul­­­tus- / Religionsfreiheit haben, öffentliche und freie Schulen für alle Armenkinder ihrer Sekte.“; Übersetzung des französischen Wortlauts aus: A.N. (Archives Nationales, Paris), AD XIV 2, Fonds Rondonneau: Hôpitaux Civiles, Heft in gedruckter Form „Reglemens des Assemblées politiques de Charité des Paroisses“, 1681, 4, Punkt 4. 34  Vgl. Paul Paris-Jallobert, Journal historique de Vitré, Vitré 1888, 50ff.

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4. Diakonische Existenz in der Phase erneuter Restriktion und Repression (1661 bis 1685) 4.1 Der Angriff auf das diakonische Netzwerk Mit der persönlichen Regentschaft Ludwig XIV. bricht eine Epoche an, die in der Geschichtsschreibung als étouffement à petites goulées (häppchenweise bzw. langsame Erstickung) des französischen Protestantismus bezeichnet wird (Léonard / Mours / Garrison). Gemeint ist der Versuch des Hofes bzw. Ludwig XIV., über verschiedene restriktive gesetzliche Maßnahmen sowie restriktive Auslegungen und Ausführungsbestimmungen des Edikts von Nantes und weitere Gesetze mit diskriminierendem Charakter sowie andere Repressionen dem Protestantismus in Frankreich den Garaus zu machen, was schließlich in der endgültigen Rücknahme des Edikts von Nantes durch das Edikt von Fontainebleau (1685) gipfelte und eine massenweise Flucht französischer Protestanten nach sich zog. Streng genommen beginnt die Zeit der „langsamen Erstickung“ mit ersten Maßnahmen zwar bereits nach dem Frieden bzw. „Gnadenedikt“ von Alès (1629), das die endgültige Zerschlagung der protestantischen politischen und militärischen Gewalt bedeutete, aber unter Ludwig XIV. werden sie erheblich häufiger, systematischer und rigider durchgeführt. Da der – wenn auch in mehreren Schüben und unterschiedlich dosiert verlaufende – Angriff auf den Protestantismus umfassend war und sowohl seine Institutionen wie Personen traf, war selbstverständlich auch die diakonische Existenz als Teil der Kultusausübung und Kultur des Protestantismus betroffen. Jedoch dürfte darauf bezogen vor allem eine Rolle gespielt haben, was einer der herausragenden katholischen Prediger jener Zeit gegenüber Ludwig XIV. in einer Predigt herausstellte: „‚Sie wissen‘, sagte Bourdaloue, als er von den Reformierten sprach, zu denen er als Missionar in die Cevennen geschickt worden war, ‚Sie wissen, wie sehr unsere Häretiker miteinander vereint sind, wie sie aneinander interessiert Anteil nehmen, wie sie Hilfe leisten in ihren Nöten, wie ihre Armen unterstützt werden und wie sie ihre Kranken besuchen. Diese kleine Herde, als die sie versammelt ist. Da sieht man, was sie verbindet! [...] Da sieht man, warum sie sich Brüder nennen und auch wie Brüder verhalten. Was für eine Schande! [...] Sie vereinen sich und wir entzweien uns.‘“35 Wer, wenn nicht Ludwig XIV. selbst, sollte diese Ausführungen besser verstanden haben? Dem, der so sehr auf den Einheitsgedanken bedacht war, musste sofort klarwerden, dass die Zerschlagung dieses von Bourdaloue so eindrucksvoll nachgezeichneten Solidarprinzips und seiner Institutionen umgekehrt eine Schwächung des Protestantismus bedeuten und am ehesten noch zu seiner Auflösung beitragen würde, wodurch wiederum die religiöse Einheit des Staates wieder erreicht worden wäre. Und so wurden schließlich verschiedene Maßnahmen eingeleitet, die den Angriff auf das diakonische Netzwerk der Hugenotten bedeuteten. 35  Übersetzt und zitiert aus dem Original nach Emile Haag, Le protestantisme en favorisant le développement de la charité, in: Bull. SHPF 1/1 (1852), 215.

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4.2 Die Caisse de Conversion Einer der Versuche der Zerschlagung dieses Solidarprinzips bzw. dieser Solidargemeinschaft war die sehr öffentlichkeitswirksame Einrichtung der Caisse de conver­ sion (Kasse / Kasten / Fonds für Bekehrte). Hierbei spielte die bereits erwähnte Geheimgesellschaft Compagnie du Saint Sacrement eine wesentliche Rolle.36 Es handelte sich um einen Fonds, aus dem man Gelder zahlte, um Reformierte zum Übertritt zur römisch-katholischen Konfession zu bewegen. Die Idee wurde von ihr geboren und entsprechend salonfähig gemacht.37 Das sprach insbesondere Verarmte an. Die Einrichtung blieb jedoch weit weniger erfolgreich als ursprünglich erhofft, u.a., weil sie bei vielen wegen ihrer Primitivität bald in Misskredit geraten war. Wie begegneten die Protestanten selbst dieser Herausforderung, wo sie sich doch für ihre Armen verantwortlich wussten und diese drohten, sich nur aufgrund ihrer Not von ihnen bzw. ihrem Bekenntnis abzuwenden? Zudem war das Bekenntnis zum Protestantismus hier und da immer noch oder bald wieder mit gesellschaftlicher Ausschließung und infolge dessen mit materiellen Nachteilen verbunden. Sie begegneten dem diakonisch durch ein ausgefeiltes innersolidarisches Unterstützungssystem ihrer Armen sowie religions- und gemeindepädagogisch durch die Stärkung eines protestantischen Persönlichkeitsprofils und Selbstbewusstseins und vor allem theologisch-seelsorgerlich an den Universitäten und in ihrem Verkündigungsalltag durch die Lehre von der Prädestination. Diese sah die Erwählung gerade nicht etwa im materiellen Status quo festgemacht oder aufgehen, wie es Max Weber später bezugnehmend auf den anglo-amerikanischen calvinistischen Puritanismus glaubte konstatieren zu können und zum Ausgangspunkt seiner berühmten These über den Zusammenhang von Calvinismus und Kapitalismus machte, sondern sprach von Gottes freier Erwählung und Gnade, die am Ende in die Seligkeit führt. Insofern rief sie weder Verunsicherung im Blick auf die Heilsgewissheit hervor noch fungierte sie als Legitimationslehre der Reichen und Erfolgreichen, was beides in Webers Denkansatz vorausgesetzt wird, sondern sie diente der Heilsvergewisserung und war Trostlehre der Bedrängten, Benachteiligten und gesellschaftlich Desavouierten.38

36  In den größeren Städten sammelten sich in ihr einflussreiche katholische Hard­­liner und Scharfmacher, die sich Frömmigkeit, Nächstenliebe, Moral und Rechtgläubigkeit zum Programm gemacht haben und konsequenterweise auch die Bekehrung Reformierter. Diese überwiegend fanatisierte Gruppierung nahm den Kampf gegen Protestanten und alle Freigeister auf. Man könnte sie im Vergleich zu anderen katholischen Bewegungen und Gruppierungen der Gegenreformation auch als einen Negativableger derselben bezeichnen, da sie die französische Gesellschaft und katholische Kirche nicht nach vorn brachte, sondern zurückwarf – gerade, wenn man es vom Endergebnis der Katastrophe von 1685 und ihren Folgen her betrachtet. 37  Vgl. Janine Garrisson, L‘Édit de Nantes et sa révocation. Histoire d’une intolérance, Paris 1985, 167ff. 38  Zu den vorangegangenen theologischen Aspekten vgl. bes. Wenzel (wie Anm. 1), 198.245ff.263ff.

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Schließlich begegneten die Protestanten dem in den Predigten theologischseelsorgerlich auch durch eine Lehre von der Providenz, die in Anbetracht leidvoller Erfahrungen, materieller Not, Entbehrungen und Benachteiligungen ihr Vertrauen ganz auf Gottes Fürsorge setzte. Hier hatte die französisch-reformierte Verkündigung ihren eigentlichen Sitz im Leben. Dort mussten und konnten sich sowohl die Lehre von der Prädestination als auch die von der Providenz bewähren und zur Angstüberwindung und Bestärkung im Bekenntnis beitragen. 4.3 Endgültige Schließung protestantischer Hospitäler und Armenhäuser und die Folgen Um das ambulante diakonische Netzwerk zu stärken, versuchten die Hugenotten das weibliche diakonische Engagement wiederzubeleben, wie es teils bereits im 16. Jahrhundert vorzufinden war.39 Solche Besuchs- und Versorgungsdienste passten aber weder in das Konzept der Religionspolitik Ludwig XIV. noch in das seiner Armenpolitik. Die Religionspolitik zielte auf eine Ausschaltung des Protestantismus. Und die Armenpolitik zielte auf die Kontrolle der Armen, auf Disziplinierung, Umerziehung und eine religiöse Sozialisation, die einzig und allein in der römischkatholischen Konfession den Garanten für die Unterordnung und die Aufrechterhaltung der Ordnung sah. Ähnlich wie in Paris wurde auch der weibliche diakonische Besuchsdienst in Nîmes wieder reaktiviert. Der Tritt in den Ameisenhaufen führte also zumindest an einigen Orten eher zu einer überhöhten Aktivität als zu Lethargie. Solche Besuchsdienste wurden zwar verboten, und ebenso wurden die Vorgaben und Kontrollen, was die Legate betrifft, verschärft. Die praktische Überprüfbarkeit scheint indessen mit einigen Fragezeichen verbunden gewesen zu sein.40 Die Zerschlagung des ambulanten diakonischen Netzwerkes wird schließlich fortgesetzt durch Berufsverbote im medizinischen, pflegerischen und sozialen Bereich. Außerdem werden die Armenschulen geschlossen bzw. immer mehr in die Illegalität gedrängt, und französisch-protestantische Arme sowie auch übrige Unbekehrte und auch Neubekehrte werden zwangsweise zur Betreuung und gleichzeitigen Umerziehung in die Hôpitaux Généraux und vergleichbare Einrichtungen eingewiesen. Die Hôpitaux Généraux hatten schließlich mit einem ganz praktischen Problem zu kämpfen. Sie platzten vor Überfüllung, wie überhaupt die städtischen Fürsorgeeinrichtungen überlaufen waren gerade in Städten, wo die Protestanten bis dato eine starke Minderheit bildeten wie etwa in Montpellier,41 denn die 39  Vgl. Nathanael Weiss, Préparatifs de la Révocation de l’Édit de Nantes, in: Bull. SHPF 2 (1853), 168. 40  Auf den ersten Blick scheint der Befund eindeutig zu sein, dass Erblasser und Gemein­ de sich treu an die gesetzlichen Vorgaben gehalten haben. Aber allein aus den hier und dort folgenden Erläuterungen der diacres, die u.a. benennen, dass ihnen von vielen Testamenten gar keine Kopien vorlägen, lässt sich schon entnehmen, dass es ein Unterschied ist, was von ihnen deklariert wird und was nicht, und was schriftlich fixiert wurde und nachzulesen ist oder auch nicht; vgl. A.N. (Archives Nationales, Paris), TT 261, Pochette „Oloron“, fol. 10–14, 30.3.1683. 41  Vgl. Colin Jones, The charitable imperative: hospitals and nursing in Ancien Régime and revolutionary France, London / New York 1989, 136.242.

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protestantischen Selbsthilfesysteme waren weitestgehend zerstört und ihre Armen mussten versorgt werden. Die Überfüllung und Überforderung der Armeninstitutionen hatte natürlich Konsequenzen für alle Armen, die entsprechend schlecht versorgt waren. Die armenpolitische und religionspolitische Zentralisierung und Bemächtigung hatte ihren Bumerang-Effekt erreicht.



„Lassend eüch die lieb befolhen seyn under einander / und zu / ovorab die armen / Der fryd Christi sey mit eüch / Amen.“ Johannes Oekolampads Umgang mit den Armen von Frauke Thees „Keiner der Reformatoren hat so viel über Armenversorgung geschrieben wie er. [...] Alle Schriften Oecolampads atmen [...] eine glühende Liebe zu den Armen und waren bei aller Unklarheit ihres Inhalts deshalb doch geeignet, das Interesse für die Armenpflege zu wecken. Ganz besonders waren es denn auch die Oecolampad befreundeten Männer Peutinger, Adelmann u.a., welche die Sache betrieben.“1 So beurteilt Gerhard Uhlhorn den Einfluss des Basler Reformators Johannes Oekolampad (1482–1531) auf die Augsburger Verhältnisse.2 Er impliziert im Weiteren einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen der Augsburger Armenordnung von 1522 und Oekolampads persönlicher Antwort auf die Anfrage des befreundeten und schwerkranken Augsburger Domkapitulars Bernhard Adelmann (1457–1523)3 in „De non habendo pauperum delectu, Io. Oecolampadii Epistola utilissima“4 von 1523.5 Andere Quellen müssen also in Betracht gezogen werden und lassen sich in drei, teilweise explizit von Adelmann geforderten Übersetzungen aus dem Griechischen finden. Am 13. Februar 1519 erscheint die lateinische Übersetzung „De amandis pauperibus Gregorii Nazanzeni episcopi et theologi sermo“6, die bereits im Mai 1519 in deutscher Sprache vorliegt; in ihr wird die Liebe zu den Armen 1  Gerhard Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Stuttgart 21895, 544. 2  Ernst Staehelin, Das theologische Lebenswerk Johannes Oekolampads, Leipzig 1939, 246, Anm. 4, folgt diesem Urteil. 3  Franz Xaver Thurnhofer, Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden, Humanist und Luthers Freund (1457–1523). Ein Lebensbild aus der Zeit der beginnenden Kirchenspaltung in Deutschland, Freiburg i.Br. 1900, 30.36f.53f.85124f. Münchener Digitalisierungszentrum (im Folgenden: MDZ): urn:nbn:de:bvb:12-bsb00083703-1; vgl. Franz Posset, „Unser Martin“ aus der Sicht des Domkapitulars Bernhard Adelmann von Adelmannsfelden, in: ders., Unser Martin. Martin Luther aus der Sicht katholischer Sympathisanten (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 161), Münster 2015, 25–49. 4  http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-1768. 5  Jetzt gut zugänglich durch Michael Klein, Johannes Oekolampad: Von der Austeilung des Almosens, Basel (1523), in: Theodor Strohm / ders. (Hg.), Die Entstehung einer sozia­ len Ordnung Europas, Bd. 1 (Historische Studien und exemplarische Beiträge zur Sozialreform im 16. Jh. 22), Heidelberg 2004, 237–255. 1524 wird sie von Peutinger ins Deutsche übersetzt und mehrfach nachgedruckt. 6  Vgl. Ernst Staehelin, Briefe und Akten zum Leben Oekolampads, Bd. 1–2, Leipzig 1927/1934, Nr. 52; MDZ: urn:nbn:de:bvb:12-bsb11228024-5; ins Deutsche übertragen durch Georg Spalatin im Mai 1915, vgl. Staehelin, Briefe und Akten, Nr. 106.

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als vorzüglichste aller Tugenden gekennzeichnet, die zur Linderung der Not des Nächsten nach Christi Beispiel ausgeübt werden solle. Mit zahlreichen auch 1523 aufgegriffenen Bibelzitaten wird diese christliche Pflicht untermauert und mit der Wertschätzung des einfachen Lebens und der Verachtung des Reichtums verbunden. Wohl 1521 eignet Oekolampad Adelmann die Predigt des Basilius „Wider die Wucherer, und wie schädlich es sey, wuchergelt auff sich zunemen“7 als erwünschte Neujahrsgabe zu. Er sieht die kritischen Gedanken des Bischofs in Bezug auf das Zinsnehmen in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes und macht im Vorwort aus seiner eigenen Kritik am Zinsnehmen keinen Hehl wie schon 1519 in seinen „Canonici indocti Lutherani“8. Er tritt für das Gebot des zinslosen Leihens ein, das jedoch ein Umlernen für Kirche und Obrigkeit bedeute. 1522 schließlich übersetzt Oekolampad noch auf der Ebernburg die Homilie von Johannes Chrysostomus über 1. Kor 16,1–4 „De eleemosyna et collatione in sanctos“9. In ihr wird die Pflicht des Almosengebens ohne Ansehen der Person und Ausforschen der Ursachen eingeschärft; zahlreiche Argumente nehmen die Augsburger Freunde auf, zumal seit Luthers Adelsschrift von 1520 an vielen Orten eine Neuordnung der Armenfürsorge in Angriff genommen wird. Michael Klein ediert Oekolampads eilig verfasste Schrift von 1523, nimmt Uhlhorn auf und versteht das Anliegen Adelmanns vor dem Hintergrund dessen ausgeprägter Armenfürsorge als weiterhin bedeutsame Frage nach der Heilsnotwendigkeit der guten Werke in reformatorisch aufgeschlossenen Humanistenkreisen. Er urteilt: „Oekolampads Mahnungen zur persönlichen Liebespflicht sowie seine Kritik an den Stiftungen, seine Aufforderung, vom persönlich Erarbeiteten abzugeben, erinnern stark an Gedankengänge Luthers. Im Unterschied zu diesem hält Oekolampad noch deutlicher an der traditionellen Verpflichtung zur Pflicht der Liebestätigkeit gegenüber den Armen jenseits der Frage ihrer Bedürftigkeit fest. Die stärkste Differenz ist jedoch auf dem Hintergrund der Adelmann’schen Frage nach dem göttlichen Gericht zu finden. Das für die Reformatoren sonst spannungsvolle Verhältnis von Glaube, Rechtfertigung und Heiligung wird nirgends sonst angesprochen. Dass die spätmittelalterlichen Vorstellungen von der Verdienstlichkeit der guten Werke noch immer zum mentalen Bestand der Zeit gehörten, wird hier deutlich. Wenn diese im Gutachten selbst nicht explizit erwähnt ist, so bildet sie doch den ideellen Horizont der Ausführungen Oekolampads.“10 7  Vgl. Staehelin, Briefe und Akten (wie Anm. 6), Nr. 97; MDZ: urn:nbn:de:bvb:12bsb11301905-3. 8  Vgl. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-11481. 9  Vgl. MDZ: urn:nbn:de:bvb:12-bsb00025519-3. Sie erscheint in Mainz und Augsburg in lateinischer Sprache und sogleich in mehrfacher Auflage in deutscher Übersetzung durch Johann Diepold; vgl. MDZ: urn:nbn:de:bvb:12-bsb11228002-4. Dass diese Schrift sofort im Freundeskreis kursierte, ist angesichts der immer wieder brieflich bekundeten Bemühungen um die griechischen Quellen für die von Adelmann geforderten Übersetzungen mehr als wahrscheinlich. 10  Klein (wie Anm. 5), 241.

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Klein ist grundsätzlich zuzustimmen, doch fokussiert er ausschließlich die von Luther übernommenen Akzente11 und übergeht vollständig die für Oekolampad so wichtige Auseinandersetzung mit den Kirchenvätern, die gerade in der Frage der Armenfürsorge immer wieder von Adelmann angeregt worden ist. Hier begegnende Denkfiguren werden in enger Auseinandersetzung mit der Schrift bis zum Lebensende des Reformators prägend sein. Es lässt sich bereits 1523 erkennen, dass der Reformator den Gedanken der Verdienstlichkeit dem der Nachfolge Christi auch und gerade im Angesicht der Armenfürsorge unterordnet, denn „unsere Absicht ist es, die verborgene Selbstliebe auszumerzen, damit wir eines Tages auch sprechen können: ‚Ich lebe, aber nicht ich, sondern Christus lebt in mir.‘ (Gal 2,20). Und wir wollen ihm nachfolgen, wo er uns auch hinführt. So nämlich, dass wir jedem Menschen, wann und wo er es von uns fordert, Barmherzigkeit erweisen.“12 Deutlich wird dies nicht nur symbolisch in der innovativen Entlassungsformel der ersten Abendmahlsliturgie Basels13: „Lassend eüch die lieb befolhen seyn under einander / und zu / ovorab die armen / Der fryd Christi sey mit eüch / Amen.“14 So endet die Abendmahlsliturgie in Basel, die 1526 offiziell in Basel gedruckt vorliegt und von den evangelisch predigenden Pfarrern genutzt wird. Wird man von einer liturgisch gemeinschaftlich verantworteten Abendmahlsagende ausgehen müssen, lässt sich doch ein spezifischer Akzent Oekolampads wahrscheinlich machen, der am 18. Januar 1525 im Brief an den Balthasar Hubmaier auf die Frage, wie er das Abendmahl in seiner Gemeinde feiern wolle, einen ähnlichen Ablauf vorsieht mit dem expliziten Hinweis auf das gottesdienstliche Ende mit der Empfehlung der Armen wie der gegenseitigen Liebe und dem Friedensgruß unmittelbar nach der Kommunion.15 Dass er diese Vorstellung der engen Verzahnung von der Erin11  Vgl. Michael Klein, Der Beitrag der protestantischen Theologie zur Wohlfahrtstätigkeit im 16. Jahrhundert, in: Theodor Strohm / ders. (Hg.), Entstehung (wie Anm. 5), 146–179. 12  Klein (wie Anm. 5), 254. 13  Zur historischen und theologischen Einordnung vgl. Frauke Thees, Erinnerung und Heiligung. Die Abendmahlsliturgien Oekolampads, in: Erinnert – Verdrängt – Verehrt. Was ist Reformierten heilig?, hg. v. Thomas K. Kuhn / Nicola Stricker, Neukirchen-Vluyn 2016, 179–204. 14  Abendmahlsliturgie, in: http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-5368, p. C5v, unter dem Titel: „Form und gstalt wie der kinder tauff, Des herren Nachtmal, und der Krancken heymsuochung, jetz zuo Basel von etlichen Predicanten gehalten werden.“ Wie sich schon aus dem Titel ergibt, wurde eine Ordnung des Predigtgottesdienstes – bis auf eine „ermanung vnd offen Beicht vor der Predig“ – nicht aufgenommen. Dieser explizite Bezug am Ende des Gottesdienstes auf die Verantwortung gegenüber den Armen findet sich z.B. auch in der maßgeblich von Oekolampad beeinflussten Agende in Bern 1528/9: „Liebennd einanderen wie üch Christus geliebt hat: und lassend üch die armen befolhen sin.“ Markus Jenny, Die Einheit des Abendmahlsgottesdienstes bei den elsässischen und schweizerischen Reformatoren, Zürich 1968, 167. Der Hinweis auf die diakonische Aufgabe der Gemeinde findet sich nicht in der Basler Liturgie von 1529/37, wird aber spätestens 1560 als Sendungswort alternativ zum Dankpsalm 67 aufgenommen: „Gond hin in friden, und lassen eüch die Armen umb Gottes willen befolhen syn.“ (Jenny, 157) 15  „Deinde facta communione, cum pauperum et charitatis commendatione, conventum in pace solvi.“ (Staehelin, Briefe und Akten [wie Anm. 6], Nr. 239, 345)

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nerung an Christi Kreuzestod und der Liebe(stätigkeit) in der Gemeinde Christi bereits 1525 zu Allerheiligen umsetzt, berichtet er selbst.16 In der ersten Basler Abendmahlsliturgie wird einerseits die Gestaltung der Feier den biblischen Befunden nachgebildet und auch mit Verweisen auf die Praxis der Kirchenväter fundiert, andererseits wird durch die Erinnerung an die Bedeutung des Kreuzestodes Christi für den Einzelnen der Gedanke der Nachfolge eingeschärft. Die Abendmahlsliturgie führt den Einzelnen in der Gemeinschaft der Gläubigen entsprechend von einer manducatio spiritualis zu einem für den Nächsten hilfreichen Sichtbarwerden der zu einem gottgefälligen Leben bereiten Kirche. Es scheint, als erwiese sich die dem Reformator so wichtige Erneuerung bzw. „Besserung“ von Kirche und Gesellschaft im Umgang mit den Armen als Inbegriff der menschlichen Entsprechung zu Gottes Barmherzigkeit in Christi Passion. Und so leitet die erste Vermahnung des Abendmahlsteils17 die Kommunikanten zu einer Selbstprüfung an, die darauf ausgerichtet ist, sich zu vergewissern, dass ihnen die Sünden durch das Leiden Christi vergeben seien, und sich zu prüfen, dass dieser Glaube zu einem neuen, gottesfürchtigen Leben treibe. Dieser Grundgedanke führt über die gemeinsam im Apostolikum ausgesprochene Glaubensbasis wie in den auf der Schrift basierenden Bannbestimmungen und zahlreichen Passionslesungen zu einer Liturgie, die Grund und Ursache der sakramentalen Handlung ins Gedächtnis ruft und auf die damit verbundenen ethischen Implikationen im Blick auf die im Kreuz sichtbare Barmherzigkeit Gottes und deren Entsprechung in der Haltung der Gläubigen verweist. Als Jünger Christi sitzen diese quasi beim letzten Mahl mit dem Herrn zusammen: „Des bedencket nun als sesset jr bey Christo / vnnd hoertes von jm.“18 Es folgt eine letzte Ermahnung vor der Kommunion: „Befleyßt eüch on all gleyßnerey / bezeügen Christlicher lieb vnd einmuetigkeyt / damit der nam gottes durch eüch geheiligt werd.“19 Der Abschluss des Gottesdienstes mit dem immer wiederholten Verweis auf die Nächstenliebe erfährt durch die Hervorhebung der Armen seine Zuspitzung. Vor dem Hintergrund eines symbolischen Abendmahlsverständnisses tritt die im Grunde auch außerhalb des Gottesdienstes mögliche manducatio spiritualis hinter die ekklesiale Bedeutung des öffentlichen Bekenntnisses einer sichtbar werdenden Kirche zurück und dient deren Förderung durch ein dem Vorbild Christi entsprechendes und sich in der Liebestätigkeit äußerndes Gemeindeleben. Die besondere ekklesiologische Bedeutung des Abendmahls für die Gemeinde wird auch später immer wieder hervorgehoben. Auf Johann Zwicks These z.B., das Reich Gottes sei innerlich, nicht äußerlich, antwortet Oekolampad im Mai 1528, Christus reinige und regiere zwar das Innere mit seinem Geist, aus dem gingen aber sehr schöne äußerliche und von Gott gebotene Werke hervor, die die Nächsten sähen und den Vater verherrlichten gemäß Mt 5,16. Oder seien dies keine äu16  „Nihil autem magis inculcamus, quam memoriam mortis Christi et charitatis commendationem.“ (Staehelin, Briefe und Akten [wie Anm. 6], Nr. 465). 17  Abendmahlsliturgie (wie Anm. 14), p. A8vff. 18  Abendmahlsliturgie (wie Anm. 14), p. C5r. 19  Abendmahlsliturgie (wie Anm. 14), p. C5v.

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ßerlichen, von Gott empfohlenen Werke, nämlich, die Armen zu speisen, das Wort Gottes zu lehren, für Christus zu leiden und den Nächsten zu unterstützen?20 1530 zählt der Reformator in seiner Vorrede zum Danielkommentar unter die äußeren Kennzeichen der Kirche nicht nur z.B. die Verkündigung des reinen Gotteswortes, Taufe und Abendmahl, sondern auch den Unterricht für die Kinder, den Besuch der Kranken und die Hilfe für die Bedürftigen, wie dies in Basel gehalten werde.21 Oekolampad setzt sich in Liturgie, Predigt bzw. Kommentaren und auch praktisch für die Versorgung der Armen ein; in den Streit um die Verwendung des Kirchengutes 1525 mischt er sich ebenso ein wie in die Diskussion um die unterschiedliche Versorgung einheimischer oder fremder Bettler. Auch bei den Kinderverhören zum Katechismusunterricht, die nach Einführung der Reformation 1529 entwickelt werden, zeigt sich bei der Erläuterung des Dekalogs der Maßstab der Bedürftigkeit: „Frag. Waer hatt Vatter und Muoter in eeren? Antwort. Der gehorsam ist einer Christlichen gemeind / Weltlicher Oberkeit / auch sinem vatter vnd muoter guots thuot / vnnd mit willigem Gemut tut er allen guots / wenn ers vermag / dem der es bedarff. [...] Frag. Waer ist ein Dieb vor Gott? Antwort. Der ein gytig hertz hat.“22 Oekolampad hat Luther und die Kirchenväter als Quellen intensiv für die Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften im Angesicht der Armenfürsorge genutzt. Etliche Predigten beschließt er mit der expliziten Aufforderung der versammelten Gemeinde, dem Beispiel von Christi vollkommener Barmherzigkeit nachzufolgen, ihm zu vertrauen, so in der Gemeinschaft der Nachfolger Christi wahrhaft menschlich zu werden und fröhlich Almosen für den bedürftigen Nächsten zu geben23 – Gedanken, die schon 1523 geäußert und in den Abendmahlsliturgien ekklesiologisch sichtbar werden.

20  „Pauperes pascere, verbum Dei docere, pati pro Christo, subvenire proximo.“ (Staehelin, Briefe und Akten [wie Anm. 6], Nr. 577). 21  Vgl. Staehelin, Lebenswerk (wie Anm. 2), 554; „Si in illis verbum pure annuncietur, si lavacro regenerationis in nomine patris et filii et spiritus sancti lotae sint, si e delicatissima mensa Domini pascantur, si Deum patrem per filium in spiritu sancto invocent, si lapsos resipiscentes venia dignentur, si curam gerant, ut pueri instituantur, aegri visitentur, egentibus suvbeniatur, nuptiae honestentur?“ (Staehelin, Briefe und Akten [wie Anm. 6], Nr. 729, 424). Eine Unterscheidung zwischen einheimischen und fremden Bedürftigen wird nicht erwähnt. 22  Mit explizitem Verweis auf Oekolampad als Verfasser: http://dx.doi.org/10.3931/erara-1771 bzw. http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-3903, p. D8rf, zum vierten und sechsten Gebot. In der weiteren Entwicklung aber zeigt sich eine stärkere Betonung der Hilfe zur Selbsthilfe im Rahmen der Pädagogisierung zur Eindämmung der Armut. 23  Staehelin, Lebenswerk (wie Anm. 2), 415, Anm. 1.



Das Pfarrhaus als „öffentliches Hospitium“ Beispiele für seine diakonische Bedeutung im 16. und 17. Jahrhundert von Georg-Hinrich Hammer 1. Ein neuer Faktor: die Priesterehe In der Frühphase der Reformation wagten erste Priester und erste Frauen, die Zölibatsvorschrift offen zu durchbrechen und eine Ehe einzugehen. Dieser Schritt, der über die Form des dispensierten Konkubinats hinausging, hatte weitreichende Folgewirkungen. Da die Zahl dieser Eheschließungen schnell zunahm, löste sich der zölibatär institutionalisierte Klerikerstand mehr und mehr auf. Dieser Prozess verband sich mit der Auflösung und Auflassung der Klöster. Beide Vorgänge zusammen hatten als ökonomische Folge, dass Landbesitz und Vermögen von Kleriker-Stiften und Klöstern in neue Hände kamen.

2. Die soziale Lage In einer Zeit großer Armut und eines ausufernden Bettelwesens gehörten KlerikerStifte, Abteien und Klöster in Deutschland ebenso wie in der Eidgenossenschaft zu den größten Grundbesitzern und verfügten über ein erhebliches Vermögen. Zudem führte das kirchliche „Geschäftsmodell“ dazu, dass verschiedenste kirchliche Gebühren und Geldstrafen, das Betteln der Bettelmönche und der Ablassverkauf den kirchlichen Reichtum ständig vermehrten. Dieser kam einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Klerikern zugute. Bei etwa 5.000 Bewohnern gehörten in Zürich zu Beginn der Reformation rund 200 Personen dem geistlichen Stand an.1 Die in den Kirchen gesammelten Spenden wurden für teure Messgewänder und die Ausstattung der Kirchen verwandt. Die Fehlverwendung des Zehnten, der dem Unterhalt für die Priester und der Versorgung der Armen dienen sollte, veranlasste Ulrich Zwingli zu der fundamentalen Kritik: „Die zehend habend [...] einen sölichen mißbrauch, das, wenn man sy ansicht, schier verzwyflen mueß, daß sy nit mögind widerumb in die rechten leyssen geffuert werden.“2 Detailliert beschreibt er in seiner Schrift „Wer Ursache gebe zu Aufruhr“, wie verschiedene kirchliche Institutionen sich mithilfe des Zehnten bereicherten, ohne dass die Armen ihren Teil erhielten.3 1  Vgl. Oskar Farner, Huldrych Zwingli. Seine Verkündigung und ihre ersten Früchte 1520–1525, Zürich 1954, 18f.; diese Verhältnisse entsprachen denen in zahlreichen deutschen Städten; vgl. die detaillierte Aufstellung bei Karl Müller, Kirchengeschichte, Bd. 2, 1. Hbd., Tübingen 1911 (Neudruck 1922), 283, Anm. 1; Paul Philippi, Vorreformatorische Diakonie. Die Kirche in der hamburgischen Sozialgeschichte bis zum Ende des Reforma­ tions­­jahrhunderts, Stuttgart 1984, 51. 2  Z 3, 453,20–22. 3  Z 3, 392,7–400,14.

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Den reichen kirchlichen Institutionen stand eine Bevölkerung gegenüber, die sozial tief gespalten war. Nach der Steuerliste für das Jahr 1467 waren 1% der Bevölkerung als reich und 5% als wohlhabend einzuordnen. Damit verfügten 6% der Bevölkerung über 61% des gesamten Vermögens, und zwei Drittel lebten in Armut.4 An dieser Verteilung des Vermögens hatte sich in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts nichts geändert. Spenden an die Kirche, Stiftungen von Messpfründen und Almosen für bettelnde Arme galten als wichtigste Elemente der guten Werke, die dem Menschen zur Verdienstlichkeit vor Gott angerechnet werden sollten. Das Interesse an der Bewahrung der eigenen institutionellen und wirtschaftlichen Macht verbunden mit der kirchlichen Lehre und einer entsprechenden Glaubenseinstellung verfestigte den sozialen Status Quo und schützte auch den Ausbau des Großgrundbesitzes in kirchlicher wie weltlicher Hand. Viele Arme wussten sich nur durch den religiös geschützten, ja geförderten Brauch des Bettelns zu helfen. Dies führte zu Wanderbewegungen, gebettelt wurde individuell, in Gruppen oder ganzen Bettelzügen.

3. Städtische Almosenordnungen Um dem ausufernden Bettelwesen zu begegnen und die heimischen Armen zu versorgen, wurden ab den frühen zwanziger Jahren in ersten Städten wie Zürich (1520), Wittenberg (1522) und Nürnberg (1522) Ordnungen erlassen, die versuchten, das Bettel- und Almosenwesen zu regeln und die Verantwortung für die Armen der eigenen Stadt in den Vordergrund zu rücken. Gleichzeitig begannen die Reformatoren, zu dem Problem von Armut und Bettel Stellung zu nehmen und die Abfassung der neuen Ordnungen zu beeinflussen. In seiner Schrift vom Wucher hatte Luther erstmals im November (?) 1519 gefordert, „das yn eyner yglicher statt die durfftigen von selben statt eynwöner sollen versorgt werden“5 und es kein Betteln unter Christen geben dürfte.6 Zwingli kritisierte bereits in seiner ersten Zürcher Predigt 1519 die Lage der Armen7 und stellte 1524 in seiner Schrift „Wer Ursache gebe zu Aufruhr“ fest, es sei „den kindern Israels gebotten, das sy gheine armen und bätler under inen söltind sin lassen“.8 Während die Zürcher Ordnung von 1520 noch weitestgehend in den spätmittelalterlichen Bahnen blieb, die Gottgefälligkeit der Almosen als gute Werke betonte und das Bettelwesen ordnen wollte, kam es maßgeblich durch Zwinglis Handeln 1523 zu einer Reform des Großmünsterstiftes. Diese führte dazu, dass Mittel 4  So nach Hans Morf, Zunftverfassung, Obrigkeit und Kirche in Zürich von Waldmann bis Zwingli (Mitteilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich 45, H. 1), Zürich 1968, 30; ähnlich waren die Verhältnisse in anderen Städten wie u.a. in Straßburg, vgl. Michel Mollat, Die Armen im Mittelalter, München ²1987, 213. 5  Martin Luther, Kleiner Sermon vom Wucher, WA 6, 4,7f. 6  WA 6, 4,3f. 7  So die Darstellung Heinrich Bullingers, Reformationsgeschichte, hg. v. Johann Jakob Hottinger / Hans Heinrich Vögeli, Bd. 1, Frauenfeld 1838, 12f. 8  Z 3, 393,10f.

Das Pfarrhaus als „öffentliches Hospitium“

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für Arme, die Versorgung von Kranken und den Schuldienst frei wurden. Eine umfassende Lösung bot die am 15. Januar 1525 vom Rat beschlossene „Ordnung und artikel antreffend das almusen“.9 Nun wurde auch das Vermögen der aufgelösten Klöster und kirchlicher Stiftungen sowie die in den Kirchen gesammelten Gelder für Bedürftige und für die (oftmals sehr geringe) Besoldung der Pfarrer und die Schulbildung verwandt. Auch wenn Zwingli und Bullinger sich gelegentlich gegen eine Fehlverwendung der Mittel durch den Rat wehren mussten, verfügte das Almosenamt mithilfe dieser Mittel über eine gut ausgestattete Sozialkasse. Sie wurde für vielfältige Hilfeleistungen verwandt, und über die Verwendung der Mittel wurde Buch geführt.10 Trotz aller nachweislichen Erfolge der Almosen-, Kasten- und Armenordnungen konnten sie allein nicht alle Notfälle lösen. Somit war die Hilfe bereitwilliger Bürger weiterhin gefragt. Als Folge der Befreiung vom Zölibat erwuchs nun ein zusätzliches Hilfeinstru­ ment aus der Neugestaltung der ältesten kirchlichen Institution, des Priester-, Predigt- bzw. Pfarramtes. Dabei übernahmen die Ehefrauen eine besondere Rolle. Viele von ihnen verstanden die neue Pfarrfrauenrolle als eine von ihrem Glauben her diakonisch zu gestaltende Aufgabe.

4. Die diakonische Aktivität der Pfarrhäuser 4.1 Das Pfarrhaus von Ulrich Zwingli (1484–1531) und Anna Reinhart (1485–1539) In Zürich machte Zwingli 1524 seine Ehe mit der Witwe Anna Reinhart öffentlich, die bereits 1522 heimlich geschlossen worden war. Nach einem entsprechenden Ratsbeschluss konnte nun Anna Reinhart als Pfarrfrau mit ihren Kindern aus der ersten Ehe in Ulrichs Pfarrhaus einziehen. Für Zwingli waren die Armen „ein ware bildnuss gottes“.11 In ihnen sollte Gott geehrt werden.12 Er sah es als seine Aufgabe an, Armen nicht allein in seinem Amt als Vorsteher der Zürcher Kirche, sondern auch persönlich zu helfen. So bedauert er in seiner Schrift „Von dem Predigtamt“, dass er aufgrund seiner finanziellen Lage den Armen nicht mehr hat zukommen lassen: „[W]äre es allein umb der armen willen, denen ich so rychlich nit hab zu helfen als etwan, do ich mee gehebt hab.“13 Die gleiche Hilfsbereitschaft gegenüber Armen würdigte er auch bei Anna Reinhart in derselben Schrift. Dort wies er die Unterstellung zurück, er habe sie 9  Ausführlich dazu Walther Köhler, Armenpflege und Wohltätigkeit in Zürich zur Zeit Ulrich Zwinglis, in: 119. Neujahrsblatt, hg. v. d. Hülfsgesellschaft in Zürich auf das Jahr 1919, 28–55. 10  Köhler (wie Anm. 9), 39–53. 11  Z 3, 130,12f. 12  Z 3, 179,32f. 13  Z 4, 406,25f.; vgl. auch Gerold Ludwig Meyer von Knonau, Züge aus dem Leben der Anna Reinhard, Erlangen 1835, 28.

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geheiratet, weil sie besonders vermögend sei, und fügte hinzu: „[...] sy ist zuo viertzig jaren, und vallend sy täglich kind an; darumb ich ouch sy genommen hab.“14 Hintergrund dieses Hinweises war offenbar der Umstand, dass Anna Reinhart täglich von bettelnden Kindern um Verpflegung gebeten wurde. 15 Auch wenn es kaum konkrete Nachrichten über das helfende Handeln von Anna Reinhart gibt16, weist ihr Beiname auf ihr diakonisches Engagement hin. Sie wurde gelegentlich als „apostolische Dorcas“ bezeichnet.17 Von der in der Apostelgeschichte erwähnten Tabea – gräzisiert „Dorcas“ – heißt es: „Die war voll guter Werke und Almosen, die sie gab.“18 Einen weiteren Hinweis für das wohltätige Handeln in diesem Pfarrhaus gibt der bis heute benutzte Name für das Haus, in dem das Ehepaar Zwingli zuletzt wohnte. Es wird die „Helferei“ genannt. 4.2 Das Pfarrhaus von Johann Heinrich Bullinger (1504–1575) und Anna Adlischweiler (um 1504–1564) Johann Heinrich Bullinger und Anna Adlischweiler traten 1531 mit der Wahl Bullingers zum Pfarrer am Großmünster und Antistes in Zürich die Nachfolge des Ehepaares Zwingli an. Sie waren seit 1529 verheiratet. Bullinger weist Anna Adlischweiler in seinem „Brautwerbungsschreiben“ aus dem Jahr 1527 auf 1. Tim 2 hin und meint: „[W]irst finden, worin du must selig werden.“19 Dort konnte Anna finden, dass „Frauen, die ihre Gottesfurcht bekunden wollen“, sich nicht schmücken mit „Gold oder Perlen oder köstlichem Gewand, sondern wie sich’s ziemt den Frauen, die ihre Gottesfurcht bekunden wollen, mit guten Werken.“20 Im darauf folgenden Jahr ließ er seiner Braut eine ausführliche Anleitung zukommen zur Vorbereitung ihres Standes und ihrer Tätigkeit als Pfarrfrau.21 Darin bezieht er sich gleich zweimal auf 1. Tim 222 und zitiert ausführlich Spr 31, wo es über die fromme Frau als Vorbild heißt: „Gipt den armen und ist behülfflich den dürfftigen.“23 Gemeinsam sorgten Bullinger und Anna Adlischweiler bei der Führung des Pfarrhauses dafür, dass dieses Ratsuchenden und Hilfsbedürftigen jederzeit offenstand.

14  Z 4, 407,8f. 15  So mit Melchior Schuler / Joh. Schulthess, Huldrych Zwingli‘s Werke, Bd. 1, Abt. 1, Zürich 1828, 320: „es fallen ihr täglich Kinder zur Verpflegung zu“. 16  Vgl. dazu Farner (wie Anm. 3), 229–231. 17  Vgl. Heinrich Merz, Christliche Frauenbilder, Bd. 1: Vom Anfang der Kirche bis in die Reformationszeit, Stuttgart 51885, 357. 18  Apg 9,36. 19  Heinrich Bullinger, Werke, Abt. 2: Briefwechsel, Bd. 1: Briefe der Jahre 1524–1531, Zürich 1973, 139, Z. 1f. 20  1. Tim 2,9f. 21  Bullinger (wie Anm. 19), 150–176; Raget Christoffel, Heinrich Bullinger und seine Gattin nach ihrem segensreichen Wirken in ihrer Familie, Gemeinde und gegen verfolgte Glaubensgenossen, Zürich 1875, 36. 22  Bullinger (wie Anm. 19), 162, Z. 2 (1. Tim 2,2ff.), und 173, Z. 2f. (1. Tim 2,8ff.). 23  Bullinger (wie Anm. 19), 172, Z. 16 (Spr 31,20).

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Carl Pestalozzi bezeichnet es als „Frei- und Zufluchtstätte für Hilflose aller Art“24 und Felix von Orelli als „gemeine Herberge“.25 Hinsichtlich der Kooperation der Eheleute stellte Raget Christoffel fest, dass Anna Adlischweiler „durch ihre Liebesthätigkeit die Lücken ausfüllte, die das amtliche Wirken Bullingers noch offen ließ.“26 Immer wieder suchten Glaubensflüchtlinge und Vertriebene in Zürich Zuflucht. Sie kamen aus Süddeutschland und seit den späten 20er Jahren aus Italien. Zu ihnen gehörte Celio Secundo Curioni. Er schreibt rückblickend an Bullinger: „Wie liebreich hast du öfter mich aufgenommen; wie freundlich mich sammt meiner Gattin und zahlreichen Kindern bei dir beherbergt und weiter befördert.“27 Bullingers Biograph Pestalozzi kommt zu dem Ergebnis: „Ein Strom von milden Gaben floß durch seine Hand fortgebend den Bedrängten zu. Er versah sie mit Speise, Trank, Kleidern, Geld, kurz mit Allem, was zur Fristung des Lebens je das Nöthigste war.“28 Während der Regierung von Heinrich VIII. (1509–1547) und von Maria der Katholischen (1553–1558)29 kamen mehrfach Glaubensflüchtlinge aus England nach Zürich.30 Von den 14 Personen, die 1555 eintrafen31, wurde ein Teil in den Pfarrhäusern Bullinger und Leo Jud beherbergt, für die übrigen richtete der Buchdrucker Christoph Froschauer ein Haus ein. Für die Leitung dieses Hauses konnte er niemand Besseren finden als eine Pfarrwitwe, die offenbar über Erfahrung in solcher Aufgabe verfügte.32 Richard Horn, einer der Glaubensflüchtlinge, der spätere Bischof von Winchester, drückte seinen Dank für die Aufnahme beim Abschied mit dem Sprichwort aus: „Hier ist gut wohnen.“33 Zum Dank für die Aufnahme englischer Glaubensflüchtlinge ließ die englische Königin Elisabeth I. nach dem Tod von Maria einen Pokal anfertigen und Bullinger überreichen. Er trug in deutscher Übersetzung die Aufschrift: „Englands Flüchtlinge hegte die Zürcher Kirche so freundlich unter Maria’s Scepter. Elisabeth fühlte dies dankvoll. Und hat Bullinger ehrend beschenkt mit diesem Pokale.“34 24  Carl Pestalozzi, Heinrich Bullinger. Leben und ausgewählte Schriften nach handschriftlichen und gleichzeitigen Quellen, Elberfeld 1858, 153. 25  Felix von Orelli, in: 60. Neujahrsblatt, hg. v. d. Hülfsgesellschaft in Zürich auf das Jahr 1860, 18. 26  Christoffel (wie Anm. 21), 98, der dabei nach dem Schema des 19. Jahrhunderts sie nur in der Rolle der „Gehülfin“ sah. 27  Pestalozzi (wie Anm. 24), 155. 28  Pestalozzi (wie Anm. 24), 154. 29  Pestalozzi (wie Anm. 24), 219f.; ausführlich Theodor Vetter, Englische Flüchtlinge in Zürich während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Neujahrsblatt, hg. v. d. Stadtbibliothek in Zürich auf das Jahr 1893. 30  Dazu Fritz Büsser, Heinrich Bullinger (1504–1575), Leben, Werk und Wirkung, Bd. 2, Zürich 2005, 216f. 31  Johann Caspar Mörikofer, Geschichte der evangelischen Flüchtlinge in der Schweiz, Leipzig 1876, 45f.; Christoffel (wie Anm. 21), 116–122; Charles Schmidt, Peter Martyr Vermigli. Leben und ausgewählte Schriften nach handschriftlichen und gleichzeitigen Quellen, Elberfeld 1858, 153f.191. 32  Mörikofer (wie Anm. 31), 46. 33  Mörikofer (wie Anm. 31), 49. 34  Mörikofer (wie Anm. 31), 122; Vetter (wie Anm. 29), 22f. mit einem Foto des Pokals auf dem Vorblatt.

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Ganz selbstverständlich erfolgte die praktische Umsetzung solcher Haltung durch die Ehefrau.35 Diese musste die Führung des Haushalts und die Versorgung der Bedürftigen auch in den Zeiten der Abwesenheit ihres Mannes von Zürich und seiner Erkrankungen aufrechterhalten. „Nebenbei“ hatte sie elf Kinder geboren und zu erziehen. In den Briefen an ihren Mann wird daher auch immer wieder auf sie eingegangen. Der ehemalige Herbergsgast Curioni würdigt sie besonders: „Grüße uns freundlich und herzlich deine Gattin, die sich so voll Dienstfertigkeit und Liebe gegen uns zeigte, sowohl im Namen meiner Gattin als in meinem eigenen.“36 Die Zürcher würdigten Anna Adlischweilers helfendes Handeln mit der Bezeichnung „Frau Mutter“, die Engländer, Italiener, Niederländer, Pfälzer gaben ihr den Namen „Zürich Mutter“.37 Als Anna bei der Pflege ihres pestkranken Mannes selbst an der Pest erkrankte und starb, wurde sie mit „wunderbarem nachvolgen viln volks, den rechten und eren lüten uss der ganzen statt, zu grabe tragen“38. Sie erhielt einen besonders ehrenvollen Grabplatz im Kreuzgang des Großmünsters. Bullinger engagierte sich auch als Antistes beim Rat nachdrücklich für eine bessere Versorgung der Armen. In der von ihm und Jud unterzeichneten Prediger- und Synodalordnung aus dem Jahr 1532 betonten sie die Verantwortung der Gemeinde für die Armen39 und verlangten von den Predigern, „das ein yeder sin kilchen ermaane / das man die krancken besuoche / die werck der barmherzigkeit erzeige“.40 Nachdrücklich betonten sie die Vorbildfunktion der Pfarrer und seines Hauses und damit auch ohne direkte Nennung die Vorbildfunktion der Pfarrfrau: „Ir sind das saltz und liecht der menschen. Also soll üwer liecht lüchten / das die menschen üwere guote werck sehind / und Gott prysind. Und das der heilig Paulus geredt / der Pfarrer soelle heilig sin / ein züchtig fromm hußgesind haben / und eins unstraefflichen wandels sin.“41 Dies waren keine unverbindlichen Empfehlungen. Die Ordnung sah für die regelmäßigen, aufsichtlich zu führenden Gespräche auch eine „censura“ vor „von dem wandel / läben und sitten / unnd zu letst von wägen des hußhabens und hußvolcks“.42 4.3 Das Pfarrhaus von Johann Jakob Breitinger (1575–1645) und Regula Thommann (1573–1634) Zürich galt auch während der Tätigkeit von Johann Jakob Breitinger und seiner Frau Regula Thommann als sicherer Zufluchtsort. Ab 1612 verband Breitinger mit seiner Aufgabe als Pfarrer das Amt des Antistes. In dieser Position engagierte er 35  Pestalozzi (wie Anm. 24), 313: „Nicht nur leitete Bullingers treue Gattin mit Besonnenheit und Sparsamkeit dieses ganze ausgedehnte Hauswesen, sondern war auch stets bereit Besuchende, besonders Vertriebene aufzunehmen und aufs freundlichste zu beherbergen“. 36  Christoffel (wie Anm. 21), 104. 37  Orelli (wie Anm. 25), 2. 38  Heinrich Bullinger, Diarium der Jahre 1504–1574, hg. v. Emil Egli, Basel 1904, 77. 39  Zürcher Kirchenordnungen 1520–1675, hg. v. Emidio Campi / Philipp Wälchli, Zürich 2011, 136, Z. 1–16. 40  Zürcher Kirchenordnungen (wie Anm. 39), 139, Z. 1–2. 41  Zürcher Kirchenordnungen (wie Anm. 39), 140, Z. 30–34. 42  Zürcher Kirchenordnungen (wie Anm. 39), 147, Z. 19–22.

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sich umfangreich für eine angemessene Versorgung der Armen. Er stellte fest: „Die Armen sind Glieder der Kirchen. Darum sind wir der Armen Diener.“43 Breitinger bezeichnete Armut als „ein gewaltig Ding“. Daher reiche es nicht, den Armen zu trösten, er brauche auch Brot.44 Er forderte jedoch nicht nur vom Rat und den Almosenpflegern eine bessere Versorgung der Armen, sondern ließ ihnen gemeinsam mit seiner Frau Geld- und Sachspenden zukommen. Regula Breitinger zeichnete sich durch die Versorgung von Armen, Kranken und die umfangreiche Beköstigung armer Kinder aus. Auf einfallsreiche Weise half sie „verschämten Armen“, die es ablehnten, die städtischen Armutszeichen für die tägliche Versorgung zu tragen. In ihrem Auftrag platzierten nachts ihre Mägde „Brot, Mehl, Butter u.A.“ so im Eingangsbereich der Häuser, dass die Bewohner nicht feststellen konnten, von wem die Sachen kamen.45 Auffällig und für ihre Zeit ungewöhnlich war auch, dass sie sich um „Geistes- und Gemütskranke(n)“ kümmerte.46 Während des Dreißigjährigen Krieges suchten zahlreiche verfolgte evangelische Theologen und Gemeindeglieder Zürich und das Pfarrhaus Breitinger auf: „Da waren unsere wohnungen fast offene wirthshäuser, denn im ganzen Jahr fast wenige tag verfloßen, da nit vertribene lüt mit uns zu tisch gsässen sind“, hielt Breitinger für das Jahr 1623 fest.47 Die Beköstigung und Beherbergung lag in den Händen von Regula Thommann. Ihr Wirken wurde von Johann Jakob Wolff festgehalten, der selbst für längere Zeit im Pfarrhaus Aufnahme fand. Er berichtet, die Pfarrfrau habe die Flüchtlinge versorgt „ohnangesähen wie unsuber, prästhafft und schüchlich sy syn können.“ Er fügt hinzu, dass sie viele sogar monate- und jahrelang im Hause betreut habe: „[V]il hat sy gerathsamet mit waßer und schweißbäderen: vil hat sy gespyßt und beherberget, bis daß sy von Doctoren und Schäreren gecurirt worden und fortreißen können.“48 Breitinger und Regula Thommann öffneten das Pfarrhaus nicht allein Reformierten, auch „die Lutheraner, Bäpstlichen und anderen Sekten“ fanden hier Hilfe.49 Johann Caspar Mörikofer, der Verfasser der Geschichte der evangelischen Flüchtlinge in der Schweiz, kommt zu dem Ergebnis: „Kein anderer Schweizer hat sich lebenslang mit gleicher Kraft, gleicher Ausdauer und gleichen Erfolgen einem so unermüdlichen und wirksamen Liebesdienst gewidmet.“50 43  Hrn. Antistis Johann Jacob Breitingers XIX. Synodal-Sermon, in: Miscellanea Tigurina, hg. v. Johann Jakob Ulrich, II. Theil, Zürich 1723, 524. 44  Johann Caspar Mörikofer, J. J. Breitinger und Zürich. Ein Kulturbild aus der Zeit des dreißigjährigen Krieges, Leipzig 1874, 94. 45  Felix von Orelli, in: 62. Neujahrsblatt, hg. v. d. Zürcherischen Hülfsgesellschaft auf das Jahr 1862, 18. 46  Ebd. 47  Zürcher Staatsarchiv, Gest. VI.54,186, zitiert in: Orelli (wie Anm. 45), 9; vgl. auch 8.19 und Mörikofer (wie Anm. 44), 178. 48  Johann Jakob Wolff, Lebens-Beschreibung der Seligen Frauen Regula Thomannin, Herrn Antistis Breitingers Ehe-Liebsten, in: Miscellanea Tigurina, hg. v. Johann Jakob Ulrich, I. Theil, Zürich 1722, zitiert in: Orelli (wie Anm. 45), 9. 49  Zitiert in: Orelli (wie Anm. 45), 19. 50  Mörikofer (wie Anm. 44), 163.

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Von besonderer Härte war das Schicksal unversorgter Kinder von Vertriebenen. Aufgrund der brutalen Verfolgung im Veltlin trafen ab 1620 Frauen mit Kindern und auch Waisenkinder in Zürich ein. „48 kamen in bürgerliche Haushaltungen, 6 zu Witwen, 10 zu Stadtgeistlichen.“51 Als jedoch im Winter einige Mütter verstarben, wurden – wie Breitinger in seinen Aufzeichnungen berichtet – die zweiund dreijährigen Kinder „bey stränger Winterkälte halbnackend hinausgesetzt uff ys und schnee.“52 Auch ihrer nahm sich Regula Thommann an und ergänzte – so Wolff – die Möblierung des Pfarrhauses für die Bedürfnisse der Kinder: „Wie sy von den gaßen uffgenommen in die warm stuben, und gspyßt die armen verwyßten kinder, das bezügend die langen nideren tisch, so sie sonderbar hierzu hatte machen laßen.“53 Diese umfangreiche Hilfstätigkeit war möglich, weil Breitinger und Regula Thommann dafür immer wieder auf ihr ererbtes Vermögen zurückgriffen. Regula setzte dafür neben ihrem „Erbgut“ auch ihr „Heiratsgut“ ein.54 Mit ihrem Testament vermehrte Regula die „Thommannische Stiftung“ ihrer Schwägerin um 100 Gulden. Zu dieser leistete ihr Mann, der die Stiftung angeregt hatte, einen weiteren Beitrag.55 Diese Stiftung förderte bis weit ins 19. Jahrhundert bedürftige Schüler und Studenten mit Buchspenden.56

5. Eine neue soziale Institution Die dargestellten Pfarrhäuser standen mit ihrem Handeln nicht allein. Die Häufung von Einzelnachrichten diakonischen Handelns der Bewohnerinnen und Bewohner von Pfarrhäusern spricht für ein verbreitetes Phänomen: Auch in den Zürcher Pfarrhäusern von Leo Jud (Judä) (1482–1542) und Katharina Gmünder (∞ 1523)57 sowie von Rudolf Gwalter (1519–1586)58 und Regula Zwingli (1524–1565) fanden Hilfsbedürftige engagierte Ansprechpartner. Gleiches galt für das Haus von Konrad Pellikan (1478–1556), der ab 1526 als Hebraist und Gräzist in Zürich lehrte und im selben Jahr Anna Fries (+ 1536) geheiratet hatte.59 Die Unterstützung Armer insbesondere in der eigenen Gemeinde war das gemeinsame Anliegen von Jud und Katharina Gmünder. Diese erwirtschaftete durch Weben erhebliche zusätzliche Einnahmen zu dem für den Haushalt ihrer großen Familie nicht ausreichenden Gehalt ihres Mannes, der ab 1523 erster evangelischer 51  Mörikofer (wie Anm. 44), 174. 52  Zitiert in: Orelli (wie Anm. 45), 11. 53  Ebd. 54  Zitiert in: Orelli (wie Anm. 45), 6. 55  Zitiert in: Orelli (wie Anm. 45), 20. 56  Ebd. 57  Ebd. 58  Dazu Kurt Jakob Rüetschi, Rudolf Gwalters Kontakte zu Engländern und Schotten, in: Die Zürcher Reformation. Ausstrahlungen und Rückwirkungen, hg. v. Alfred Schindler / Hans Stickelberger (Zürcher Beiträge zur Reformationsgeschichte 18), Bern u.a. 2001, 351–373. 59  Die Hauschronik Konrad Pellikans von Rufach. Deutsch v. Theodor Vulpinus, Straßburg 1892, 106f.; Orelli (wie Anm. 25), 7.

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Pfarrer an St. Peter in Zürich war. Aufgrund dieser Einnahmen konnte sie neben zahlenden Hausgästen auch Glaubensflüchtlinge und mittellose Gäste aufnehmen und versorgen.60 Katharina half zudem bedürftigen Kranken und Wöchnerinnen.61 Gwalter folgte Jud als Pfarrer von St. Peter nach und war seit 1541 mit Regula, der Tochter von Ulrich Zwingli und Anna Reinhart, verheiratet. Sie beherbergten u.a. fünf Monate den englischen Glaubensflüchtling Christopher Hales62 und von 1555 bis 1559 John Parkhurst, der in Zürich auch seine Ehefrau fand.63 Pellikan hatte seine Frau als Schwester von Johannes Fries kennengelernt, eines armen Schülers, der von ihm durch Einladungen zum Mittagessen unterstützt wurde.64 Das Ehepaar beherbergte neben zahlenden Gästen wiederholt bedürftige Schweizer65 und Glaubensflüchtlinge.66 Anna Fries, die selbst in ärmlichen Verhältnissen gelebt hatte, war nach der Schilderung ihres Mannes „barmherzig gegen die Armen“ und „hilfebereit für Bedürftige“.67 Sie kümmerte sich „vornehmlich um stille Haushaltungen, sogenannte Hausarme“, setzte sich für den „unentgeltlichen Schulunterricht“ mittelloser Kinder ein68 und besuchte Sterbende.69 Die Anzahl der Belege für die diakonische Aktivität von Ehepaaren im Pfarroder Theologenamt sind für Zürich besonders zahlreich. Sie finden sich jedoch auch für andere Städte. In der mit Zürich und Basel durch zahlreiche Kontakte verbundenen freien Reichsstadt Straßburg gestaltete Katharina Schütz (1497/98– 1562) die neue diakonische Rolle der Pfarrfrau mit besonderer Intensität. Sie war seit 1523 mit Matthäus Zell (1477–1548), Pfarrer am Straßburger Münster, verheiratet.70 Katharina Schütz betreute Arme, Kranke und Gefangene. Sie nahm zahlreiche Glaubensflüchtlinge im Pfarrhaus auf.71 Nach dem Tod ihres Mannes konnte sie für gut zwei Jahre das Pfarrhaus weiter bewohnen und für ihre Hilfetätigkeit nutzen. Das Pfarrhaus war zu einer Institution der Hilfe geworden auch ohne Anwesenheit des Pfarrers. Auch die Häuser Bucer / Silbereisen / Rosenblatt und Vermigli / Dammartin in Straßburg zeichneten sich durch wiederholte Beherbergung von Gästen und 60  Carl Pestalozzi, Leo Jüdä nach handschriftlichen und gleichzeitigen Quellen, Elberfeld 1860, 83; Orelli (wie Anm. 25), 7; Christoffel (wie Anm. 21), 101. 61  Pestalozzi (wie Anm. 60), 83; Bullinger (wie Anm. 7), 76. 62  Rüetschi (wie Anm. 58), 355. 63  Rüetschi (wie Anm. 58), 358. 64  Hauschronik (wie Anm. 59), 106. 65  Hauschronik (wie Anm. 59), 108.112. 66  Hauschronik (wie Anm. 59), 107f.134.136; Vetter (wie Anm. 29), 3. 67  Hauschronik (wie Anm. 59), 73. 68  Ebd.; Orelli (wie Anm. 25), 7. 69  Hauschronik (wie Anm. 59), 73. 70  Vgl. dazu u.a. Elsie Anne McKee, Katharina Schütz Zell, Vol. 1: The Life and Work of a Sixteenth-Century Reformer, Leiden, 1999, 4–7; Charlotte Methuen, Nächstenliebe als Verkündigung. Das diakonische Amt der Katharina Schütz Zell (1497/8–1562), in: Frauen gestalten Diakonie, Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus, hg. v. Adelheid M. von Hauff, Stuttgart 2007, 307. 71  G. Emil Schweitzer, Katharina Zell (Evangelische Lebensbilder aus dem Elsass 1,2), Straßburg 1902, 70; McKee (wie Anm. 70), 56f.

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Flüchtlingen aus. Rückblickend stellte Martin Bucer mit Bezug auf die Tätigkeit seiner ersten Frau Elisabeth Silbereisen fest, „daß wir hier in Straßburg vielen Pilgern und Dienern Christi viel mehr Dienst bewiesen haben, als ich, wo ich allein gewesen wäre, nimmer vermocht hätte.“72 Der vor der Inquisition aus Italien geflüchtete Theologe Peter Martyr Vermigli (Pietro Mariano Vermigli) (1500–1562) schrieb 1542 über das von Bucers zweiter Frau, Wibrandis Rosenblatt, geführte Hauswesen: „Butzer ist so gastfrei gegen alle um des Evangeliums willen Vertriebenen, daß seine Wohnung einem öffentlichen Hospitium ähnlich ist.“73 Er selbst war siebzehn Tage lang Gast in diesem Haus.74 In Straßburg, wo er seit 1542 als Dozent angestellt war, heiratete Vermigli 1545 Catherine Dammartin. Sie ging mit ihm 1547 nach Oxford, wo sie 1553 verstarb. Von ihr berichtet Orelli, dass sie sich ein hohes Ansehen durch die Betreuung von Armen, Kranken und Wöchnerinnen erwarb.75 Die Bedeutung der Frauen für das diakonische Handeln im evangelischen Pfarrhaus verdeutlicht ein Vorgang im Pfarrhaus von Pellikan und Anna Fries. Pellikan hatte dort drei englische Glaubensflüchtlinge aufgenommen. Als zwei Monaten später seine Frau starb, mussten die Drei das Haus wieder verlassen.76 Erst nach seiner Wiederverheiratung konnten zwei der Flüchtlinge wieder aufgenommen werden.77 Das Wirken der Frauen von Pfarrern und Theologen des 16./17. Jahrhunderts erfuhr im 19. Jahrhundert besondere Aufmerksamkeit. Durch zahlreiche, stilistisch dem Zweck oft sehr angepasste Veröffentlichungen wurden sie den Pfarrfrauen, Frauen und „Töchtern“ dieser Zeit als Vorbilder zur Nachahmung dargestellt.78 Die städtische Armen- und Flüchtlingsversorgung war im 16./17. Jahrhundert weder in der Lage, eine größere Anzahl von Flüchtlingen unterzubringen und zu versorgen, noch alle individuellen Notfälle aufzufangen. „Verschämte Hausarme“, arme Wöchnerinnen und Kranke benötigten zusätzliche Hilfe. Dieser Mangel wurde in den betroffenen Pfarrhäusern erkannt und soweit möglich durch eigenes Handeln ausgeglichen. Damit lebte eine altkirchliche und frühmittelalterliche 72  Zitiert in: Maria Heinsius, Frauen der Reformationszeit am Oberrhein, Karlsruhe 1964, 72, zitiert auch in: Irina Bossart, Wibrandis Rosenblatt (1504–1564) – „euer Diener im Herrn“ oder: Das Wort gewinnt Gestalt im Tun, in: Frauen gestalten Diakonie, Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus, hg. v. Adelheid M. von Hauff, Stuttgart 2007, 330. 73  Schmidt (wie Anm. 31), 48 in einem Schreiben an die Gemeinde in Lucca im Jahr 1542. 74  Ebd. 75  Orelli (wie Anm. 25), 7f. 76  Vetter (wie Anm. 29), 3. 77  Hauschronik (wie Anm. 59), 136. 78  Vgl. u.a. Salomon Heß, Anna Reinhard, Gattin und Wittwe von Ulrich Zwingli, Reformator. Denk-Stück allernächst für Zürichs christliche Frauen, Töchter und ihre Freundinnen. Aus Archiven u. Familienschriften bearbeitet, Zürich 1820; Salomon Vögelin, Frauenstiftungen, in: 34. Neujahrsblatt, hg. v. d. Zürcherischen Hülfsgesellschaft 1834; Orelli (wie Anm. 25); ders. (wie Anm. 45); Christoffel (wie Anm. 21); Heinrich Merz, Christliche Frauenbilder, Bd. 1, Stuttgart 51885.

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Tradition wieder auf, in der diakonisches Handeln zu den Aufgaben des Pfarrers gehörte. Die Zürcher Pfarrer konnten für ihre diakonische Aktivität jedoch nicht auf die Einkünfte des Zehnten zurückgreifen, da diese nach der Reform des Armenwesens der städtischen Almosenkasse zuflossen. Sie waren darauf angewiesen, die notwendigen Mittel aus ihren bescheidenen Gehältern und den zusätzlich von ihren Frauen erwirtschafteten Einnahmen oder dem Erbe der Ehepartner zu bestreiten. Durch die Einbringung eigener Mittel und die selbständige Wahrnahme ihres diakonischen Handelns verließen eine ganze Reihe der Frauen von Pfarrern und Theologen die Rolle als „Gehilfin“ ihrer Männer und wurden zu Partnerinnen mit eigenem Handlungsfeld und eigener Verantwortung. Pfarrer und Pfarrfrauen stellten sich in ihren je eigenen Rollen den sozialen Problemen ihrer Zeit. Durch ihr beiderseitiges Handeln entwickelte sich die Pfarrhausdiakonie des 16./17. Jahrhunderts zu einem die vorhandenen Unterstützungssysteme ergänzenden Hilfe­ instru­ment.



Vom Armenhaus der Reformierten Gemeinde zum diakonischen Partner im Sozialstaat 340 Jahre diakonisches Engagement in Elberfeld von Martin Hamburger 1. Einleitung Im Januar 2017 wurde in Deutschland mit dem Pflegestärkungsgesetz II die größ­te Reform der 1995 eingeführten Pflegeversicherung in Kraft gesetzt. Es ord­net die Eingruppierung und damit die Finanzierung aller Pflegebedürftigen neu. Ebenfalls seit Januar 2017 verändert zudem in Nordrhein-Westfalen die Verordnung zur Ausführung des Alten- und Pflegegesetzes grundsätzlich die Finanzierung der Altenpflegeeinrichtungen. Konnten bisher aus dem investiven Bereich generierte Überschüsse, in erster Linie der Immobilien, für eine bessere Personalausstattung in der Pflege verwandt werden, so ist das nun verboten. Von diesen Gesetzesänderungen betroffen ist auch das Reformierte Gemeindestift Elberfeld in Wuppertal, das traditionsreichste Pflegeheim im Rheinland, das seit mehr als drei Jahrhunderten kontinuierlich seine Pforten für Bedürftige geöffnet hat. Die Konsequenzen dieser aktuellen Gesetzesänderungen sind derzeit nicht abzusehen. Hinzu kommt: Das Reformierte Gemeindestift wurde in den vergangenen Jahren für zehn Millionen Euro komplett saniert. Bot das Haus seit dem Bau eines achtgeschossigen Anbaus in den 1970er Jahren über 300 Menschen eine letzte Heimat in Mehrbettzimmern, so wurden die Plätze in den letzten 15 Jahren deutlich reduziert, derzeit sind es noch 86 Pflegeplätze, fast ausschließlich in Einzelzimmern, und 44 Appartements für Betreutes Wohnen. Doch gehen wir zurück von den aktuellen Herausforderungen in die Anfänge des Reformierten Gemeindestifts als Armenhaus der Reformierten Gemeinde Elberfeld.

2. Die Entwicklung Elberfelds bis zum Ende des 17. Jahrhunderts1 Von wenigen Siedlungsspuren aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert ab­gesehen, setzt die Geschichte Elberfelds im 10. Jahrhundert n. Chr. ein. Am Anfang stand eine Versorgungsstation an der Wupper, ein „Tafelhof“ des Kölner Erzbischofs, mit einer dem Heiligen Laurentius geweihten Kapelle, einem ein1  Vgl. zum folgenden a) die Beiträge von Uwe Eckardt und Hermann-Peter Eberlein in: Sylvia Engels / Hermann-Peter Eberlein (Hg.), Die tausendjährige Geschichte der Alten­ reformierten Kirche – Prisma der Stadt- und Kirchengeschichte Elberfelds, Kamen 2009, b) Vom Armenhaus zum Alten- und Pflegezentrum. 325 Jahre Diakonisches Netz, hg. v. Heta Kriener / Herbert Günther, Erfurt 2003, c) Uwe Eckardt, Die Geschichte der Burg Elberfeld, http://www.doeppersberg.info/die-geschichte-der-burg-elberfeld (Abruf: 25.4.2017).

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fachen, steinernen Saalbau mit eingezogenem Rechteckchor. Im Umfeld des Tafelhofs entwickelte sich nach und nach eine kleine Siedlung. Im 12. Jahrhundert wurde eine befestigte Burg errichtet und die Kirche als dreischiffige Basilika im spätromanischen Stil neu gebaut. Von 1430 bis 1806 blieb Elberfeld im Besitz zunächst der Grafen zu Berg, später der Herzöge zu Berg. 1536 oder 1537 wurde die Entwicklung Elberfelds durch einen Großbrand zunächst zurückgeworfen, die Einwohner bauten ihre Häuser und die bis auf die Grundmauern abgebrannte Laurentiuskirche jedoch wieder zügig auf. Die bei dem Brand zerstörte Burg blieb dagegen eine Trümmerwüste. Hermann-Peter Eberlein konstatiert: „Die Reformation in Elberfeld teilt jene beiden Merkmale, die die reformatorische Entwicklung in den Territorien am Niederrhein generell auszeichnet: Sie erfolgte spät und von unten.“2 Nicht durch obrigkeitliche Entscheidungen, sondern durch die Predigt des Pfarrers Peter Lo (1530–1581) setzte sich ab Mitte der 1550er Jahre reformatorisches Gedankengut in der Gemeinde Elberfeld durch, 1589 war sie auf der ersten reformierten Bergischen Synode in Neviges vertreten und zählte von da an als reformiert. Elberfeld wuchs zur Stadt mit über 2.000 Einwohnern, als um 1600 das seit dem Brand von 1536 brachliegende Burggelände an zahlreiche Bürger verkauft wurde. Durch geschickte Verhandlungen erlangte Elberfeld 1610 endlich Stadtrechte. Entscheidend für den sich nun rasch entwickelnden Wohlstand von Barmen und Elberfeld waren die als Bleichen genutzten Wupperwiesen um Barmen und Elberfeld. Kalkarm und sauerstoffreich, zumal in niederschlagsreicher Gegend, bot das Wupperwasser beste Bleichbedingungen. „Am 29. April 1527 verliehen Herzog Johann III. und Herzogin Maria von Jülich, Kleve und Berg den Barmern und Elberfeldern das Privileg der ‚Garnnahrung‘, das heißt das Monopol zu bleichen und zu zwirnen, laut dem ‚nirgend in herzoglichen Landen gebleicht und gezwirnt werden‘ durfte als in Barmen und Elberfeld.“3 Dieses Garnmonopol blieb bis 1810 bestehen und begründete den wirtschaftlichen Erfolg des Wuppertals. Der 30jährige Krieg warf diese positive Entwicklung jedoch zunächst weit zurück, so sank die Bevölkerung Elberfelds von ca. 2.500 im Jahre 1610 auf ca. 400 bei Friedensschluss 1648. Drei Jahrzehnte später hatte sich die Lage stabilisiert, so dass mit der geordneten Armenpflege der diakonische Auftrag der Reformierten Gemeinde seine besondere Gestalt gewann.

3. Das Armenhaus der Reformierten Gemeinde Elberfeld von 1677 Von Januar 1676 ist im Protokollbuch des Konsistoriums der Reformierten Gemeinde Elberfeld vermerkt: „Weil die allgemeine Armut und Dürftigkeit je mehr und mehr zunimmt und daher zu besorgen, daß die Armenkapitalien in wenig Jahren fast alle darauf gehen und zumalen consumiert werden möchten, auch die neuerwählten und angeordnete Provisores sich beschweren, den Dienst anzunehmen und so gro2  3 

Engels / Eberlein (wie Anm. 1), 31. Zitiert nach http://de.wikipedia.org/wiki/Garnnahrung (Abruf: 25.4.2017).

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ßen Vorschuß zu tun, will die Not erfordern, daß man mit allem Fleiß auf Mittel und Wege bedacht sei, wie diesen Beschwerden so viel möglich vorgebauet und geholfen werde, und soll deswegen gegen nächsten Freitag, welcher sein wird den 10.1.76, viele fürnehme Glieder der Gemeinde nebst den zeitlichen Konsistorialen beisammen gefordert werden, um sich miteinander sonderlich zu besprechen über dem gemeinen Armenhaus, davon nun mehrmalen geredet worden, daß selbiges möchte gebauet und darin die Armen und Dürftigen nicht allein mit leiblicher Notdurft versorgt und unterhalten, sondern auch fürnehmlich zu heilsamer Erkenntnis und Furcht Gottes besser unterwiesen und angeführet und von dem hochschädlichen und schändlichen Müßiggang ab- und hingegen zur ehrlichen und nützlichen Arbeit angehalten werden.“4 Zu diesem Treffen wurde auch der Elberfelder Stadtrat eingeladen. Mit Datum vom 3. Februar 1676 wurde dann vermerkt: „Die Zusammenkunft ist geschehen und allerseiten beliebt worden, daß der Bau des Armenhauses bestermaßen befördert und sobald als möglich werkstellig gemacht werde. Ist auch der ungefehrliche Überschlag gemacht, wie hoch sich die Kosten ertragen werden, und haben die Zimmerleute und Maurer das ganze Werk angeschlagen zu 1900 oder 2000 Reichsthaler. Soll derowegen nun ersten Tages durch die Prediger, Provisores und Ältesten in der Gemeinde der Umgang geschehen und die Habseligen angesprochen und ersucht werden, daß ein Jeder in ein absonderlich dazu verordnetes Büchlein mit eigener Hand verzeichnen wolle, was und wieviel er, wann dieser hochnötige zu Gottes Ehren sonderlich gereichende Bau vorgenommen werde, dazu freiwillig zu geben und beizuschießen gesinnet sei.“5 Das Armenhaus wurde anderthalb Jahre später, am 24. August 1677, feierlich eingeweiht. Es war eines der stattlichsten Häuser Elberfelds; ein Schieferbau mit Betsaal und Stallungen, einer Toreinfahrt und einem viereckigen Innenhof.6 Es bot nicht nur Herberge für gut 20 Erwachsene, Bedürftige sowie körperlich und geistig Erkrankte, sondern auch für notleidende Kinder mit einer Schule, und war Ausgabestelle von Nahrung, Kleidung und Bettwaren. Das Armenhaus war außerhalb des Stadtkerns an einem Mäuerchen zur Wupper gebaut worden. Dies bewahrte es zehn Jahre später beim großen Stadtbrand von 1687, dem fast alle Häuser Elberfelds zum Opfer fielen. Als einziges größeres intaktes Gebäude diente es der kommunalen wie der kirchlichen Gemeinde Elberfeld für die folgenden Jahre als Quartier und Krankenhaus. Aufgrund des neuerlichen wirtschaftlichen Aufschwungs verlor das Armenhaus rasch seine Bedeutung, so dass Anfang des 18. Jahrhunderts sogar über einen Verkauf des Gebäudes nachgedacht wurde. Zugleich wurden die Armenkapitalien, also das diakonische Vermögen der Reformierten Gemeinde, zinsgünstig verliehen. 4   Zitiert nach Rudolf Bergmann, 300 Jahre reformierte Diakonie in Elberfeld (Ref. Armenhaus / Gemeindestift 1677–1977), neu hg. aus Anlass der 325-Jahr-Feier des Reformierten Gemeindestiftes, Elberfeld 2002, 7 (Konsistorialprotokollbuch, 6.1.1776). 5  Bergmann (wie Anm. 4), 8. 6  Vgl. Volkmar Wittmütz, Die Kirche und die Armen in Wuppertal, in: Engels / Eberlein (wie Anm. 1), 67.

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4. Die Frühindustrialisierung und ihre Folge – Elberfeld bis 1815 Doch rasch verschlechterte sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts die soziale Situation vieler Elberfelder. Das folgende Bittschreiben von 1760 an das reformierte Presbyterium ist typisch für diese Epoche Elberfelds: „Ich, gehorsames Mitglied der reformierten Gemeinde, bin Witwe und habe an die 30 Jahre mit meinem seligen Mann Heinrich Rothkopf in einer friedlichen Ehe zugebracht. Mein Mann war die letzten drei Jahre bis an sein seliges Ende bettlägerig. Deshalb habe ich meine Verhältnisse durch Spulen erwerben müssen. In elf Jahren betrübten Witwenstandes bin ich die letzten Jahre mit der Contractur bestraft, meine Glieder sind mehr und mehr geschwächet und erlahmet. Ich habe Krücken und kann den Gottesdienst nicht mehr besuchen. Von hausverordneten Provisores und Pflegern bin ich wöchentlich aus Milde und Erbarmen besucht worden. Dafür schulde ich Dank und Ehrerbietung. Jetzt, da ich ganz geschwächt, bitte ich, in ihrem Hause bis an mein seliges Ende verpflegt zu werden.“7 Die Textilverarbeitung führte in dieser Phase der Frühindustriealisierung zu einem immer schnelleren Bevölkerungswachstum, 1787 hatte Elberfeld bereits 14.000 Einwohner. Die soziale Infrastruktur konnte mit dem Wachstum nicht mithalten. Im Bergischen Magazin wird 1788 gefragt: „Woher kommts, daß allgemein des Elends so viel ist? [...] Elberfeld und Gemark‘, die als Manufakturstädte mit die Ersten sind; woher kommts, daß in eben diesen Städten das Elend so groß ist?“8 Die Französische Revolution verbesserte zunächst die Wirtschaftsbedingungen Elberfelds, da man an die Stelle der französischen Textillieferanten treten konnte, aber als 1794 der Krieg das Rheinland erreichte, stockte auch hier die Wirtschaft, und die Zahl der Arbeitslosen wuchs. Die Reformierte Gemeinde versuchte mit der 1784 von der Bergischen Synode verabschiedeten Armenordnung nach besten Kräften der sozialen Not Herr zu werden, aber um 1800 wurde sichtbar: Die Gemeinde ist damit überfordert, auch die zwischenzeitlich akzeptierte kleine Lutherische wie die Katholische Gemeinde konnten dies nicht ausgleichen. Einerseits blühte der Kapitalismus. So beschreibt ein Zeitgenosse den Blick auf Elberfeld: „Von den steilen Höhen der Hardt aus glaubt man den Reichtum des Landes und den Wohlstand der Einwohner zu empfinden, ein prächtiger Anblick, Idylle im Grünen [...]. Wo Hütten standen sind jetzt Paläste aufgeführt, aus Landleuten sind Besitzer von Millionen geworden.“9 Und ein Besucher aus Düsseldorf konstatiert: „Elberfeld und Barmen [...] sind binnen wenig Jahren zu einem so hohen Grade des Wohlstandes und damit verknüpften Population geraten, daß, wenn dieser nicht Luft gemacht wird, diese Orte gleich wollüstigen Pflanzen in ihrem eigenen Saft ersticken müssen.“10

7  Zitiert nach Volkmar Wittmütz, Diakonie in Elberfeld im Spannungsfeld von Kirche und Stadt, in: Hermann-Peter Eberlein (Hg.), 444 Jahre Ev. Kirche in Elberfeld, Köln 1998, 65. 8  Bergisches Magazin vom 1.11.1788, zitiert nach Wittmütz, Diakonie (wie Anm. 7), 65. 9   Bergmann (wie Anm. 4), 25f. 10  So Hofkammer-Rat Jakobi, zitiert nach Bergmann (wie Anm. 4), 26.

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Auf der anderen Seite verarmten immer mehr Menschen. So entwickelte im Jahre 1800 der Kaufmann und Elberfelder Bürgermeister Jakob Aders (1768– 1825) eine bürgerliche Armenpflege und baute eine Armenanstalt nach dem Vorbild Hamburgs. Verbunden mit der Armenversorgung war das Verbot des Bettelns. 32 ehrenamtliche Armen­pfleger versorgten die ca. 1.000 Armen Elberfelds, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst be­streiten konnten. Mit dem Armenhaus wurde eine Armenschule verbunden, der „die Kinder der Armen an Fleiß und Ordnung gewöhnt und durch Unterricht und Bildung des Verstandes und Herzens zu einem für sie und andere nützlichen Leben vorbereitet werden sollten.“11 Die Unterstützung erfolgte im wöchentlichen Verteilen von Geld, Nahrung, Bettsachen und Arzneien, sowie in Krankenpflege und der Kostenübernahme von Mieten und Schulgeld.12 1805 wurde im zwischenzeitlich französisch regierten Rheinland der Code Napoléon eingeführt, und mit dem Bergischen Decret von 1809 endete zunächst sowohl die kirchliche Fürsorge der Reformierten Gemeinde wie die kommunale durch Aders. Im Rückblick kommentierte das Reformierte Wochenblatt die französische Zeit mit den Worten: „Wenn nämlich bisher die Armenpflege eine kirchliche war, so wirkte ja viel mehr noch als die Not der Kriegszeit 1805 bis 1815 und als das Hunger- und Kummerjahr 1816 die napoleonische Gesetzgebung, das heißt der Staats- und Kommunengeist der neueren Zeit auf eine Ablösung der Armenpflege vom Gemeindeleben hin.“13 Es folgt ein historischer Rückblick auf die Reformationszeit, und trotzig, aber irgendwie auch resignativ, wird festgestellt: So „legte der mündig gewordene Staat die Hand auf die Schule und die Armen. Die Kinder aber und die Armen sind die Macht der Kirche.“14 Eine Wertung aus Sicht der Reformierten Gemeinde, typisch für das 19. Jahrhundert. War die Kirche einerseits überfordert, der sozialen Not ausreichend zu begegnen, so hielt sie andererseits an diesem Auftrag fest und widersetzte sich den Eingliederungsbemühungen öffentlicher Stellen. So musste in Folge des Bergischen Decrets 1813 die Reformierte Gemeinde Elberfeld nach zähem Ringen den Armenfonds übergeben, und das Reformierte Armenhaus wurde der Kommunalverwaltung unterstellt. Die Kontinentalsperre wirkte sich ab 1806 verheerend auf die vom Export nach England und Amerika abhängige Textilwirtschaft Elberfelds aus. Die Hälfte der gut 6.000 Arbeiter wurde arbeitslos. So feierte man 1814 die Rheinlandbefreiung, die Eingliederung als preußische Provinz wurde 1815 allerdings verhalten begrüßt, und eine Missernte 1816 in der noch angespannten wirtschaftlichen Situation veranlasste den wieder aktiven Jakob Aders zur Gründung eines Kornvereins. Er nahm eigenes Geld, kollektierte zudem bei wohlhabenden Bürgern und kaufte für 125.000 Taler ausländisches Korn aus Holland und den Ostsee­anrainern und verteilte es zu geringem Preis an die hungernde Bevölkerung. 1818 kam durch die Veränderung der Zollbestimmungen die Wirtschaft wieder in Gang, 1825 erreich11  12  13  14 

Jakob Aders, zitiert nach Bergmann (wie Anm. 4), 29. Ebd. Reformiertes Wochenblatt 1872, zitiert nach Bergmann (wie Anm. 4), 32. Ebd.

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te man für kurze Zeit wieder Vollbeschäftigung, bevor die politischen Entwicklungen der 1830er und 1840er Jahre, verbunden mit zahlreichen Missernten, erneut eine Rezession auslösten und die Armut sprunghaft anstieg.

5. Bevölkerungswachstum, Pauperismus und Erweckung im 19. Jahrhundert15 So wuchs die Zahl notleidender Menschen immer mehr. Die soziale Infrastruktur konnte mit der Bevölkerungsentwicklung nicht Schritt halten. Grund des Zuzugs nach Elberfeld (und Barmen) war die rapide wirtschaftliche Entwicklung im Textilbereich, neben den bereits bestehenden über 100 Bleichereien im Wuppertal waren längst Manufakturen und Fabriken zur Textilverarbeitung getreten. Elberfeld galt als ein Manchester Preußens. Bevölkerungsentwicklung Elberfeld (und Barmen) bis 1929, dann Wuppertal16 Jahr

Elberfeld

Barmen

Wuppertal

1610

2.500

unter 2.000

1648

400

1687

3.000

1787

14.000

1800

17.000

12.000

1810

18.800

16.300

1822

24.000

1840

31.500

1850

49.000

1860

54.000

1880

94.000

1900

156.000

350.000

1929

180.000

415.000

36.100 106.000

15  Vgl. zum Folgenden a) die Veröffentlichungen des Historischen Zentrums Wuppertal – Museum für Frühindustrialisierung, b) Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe (Hg.), Handbuch der Historischen Stätten – Nordrhein-Westfalen, Stuttgart 2006, 1115ff., sowie c) Bergmann (wie Anm. 4), 57. 16  Die Städte Barmen, Elberfeld, Cronenberg, Ronsdorf und Vohwinkel schlossen sich 1929 zusammen und gaben sich 1930 den Namen Wuppertal.

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1945

318.000

1960

421.000

2015

350.000

105

Die folgenden Zahlen zeigen das rasante industrielle Wachstum zwischen 1822 und 1861: Im Jahr 1822 gab es im Wuppertal 900 Webstühle für Baumwolle, 1.700 Webstühle für Seide, 51 Webstühle für Leinen. 1844 wurde der erste dampfbetriebene Webstuhl in Betrieb genommen, und bereits wenige Jahre später gab es in Elberfeld 1.700 Jaquard (Lochkarten-)Webstühle für Seide und 4.326 Webstühle als Heimgewerbe, dazu in Barmen 968 und 50 in Ronsdorf. Eine Zählung um 1850 nennt 5.344 Handwerkwebstühle und 15 dampfbetriebene Kraftstühle im Wuppertal. 1861 schließlich gab es in Elberfeld 1.120 mechanische Webstühle, 3.746 Hand- und Maschinen-Stühle, in 113 Fabriken arbeiteten 5.804 männliche und 2.497 weibliche Arbeiter/innen. Sowohl in der klassischen Heimarbeit wie an den großen industriellen Maschinen waren die Arbeitsbedingungen katastrophal. An den großen industriellen Webstühlen arbeiteten zu 50% Kinder, sechs Tage in der Woche, zwölf Stunden am Tag. Bei den Erwachsenen wurde der Alkoholismus zu einem immer größeren Problem. Friedrich Engels (1820–1895), Sohn des Barmer Fabrikanten Friedrich Engels Senior (1796–1860) und zunächst bei ihm tätig, beschreibt dies Elend in seinen Briefen. Wuppertal ist für ihn ein Muckertal, dominiert von Obskuranten und Mystikern. Er reibt sich an den Folgen der Erweckung, besonders den Predigten des reformierten Gemarker Pastors Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868). In seinen Jugendbriefen schreibt Engels 1839: „Barmen und Elberfeld sind wahrhaftig nicht mit Unrecht als obskur und mystisch verschrien [...]. [D]u mußt Pastor werden zu Gemarke und den verdammten, schwindsüchtigen, ofenhöckrigen Pietismus wegjagen, den der Krummacher zur Blüte gebracht hat.“17 Und über die Reformierte Gemeinde Elberfelds schreibt er einige Jahre später: „Der eigentliche Mittelpunkt allen Pietismus und Mystizismus ist die reformierte Gemeinde in Elberfeld. Von jeher zeichnet sie sich durch streng calvinistischen Geist aus, der in den letzten Jahren [...] zur schroffsten Intoleranz geworden ist.“18 Diese Engels-Briefe haben gerade bezüglich der christlichen und insbesondere reformierten Gemeinden im Wuppertal eine negative Wirkungsgeschichte entfaltet, da seiner Meinung nach der christliche Glaube zur Ruhigstellung und zur angeblich calvinistischen Rechtfertigung des profitablen Wirtschaftens missbraucht wurde. Das war einer der Gründe, die den jungen Engels zur Abkehr vom christlichen Glauben und gemeinsam mit Karl Marx hin zum dialektischen Materialismus führte. Doch es gibt auch eine andere Sicht. Wie an anderen Orten in Deutschland begann die Zeit der Inneren Mission im Wuppertal mit starkem sozialen Engagement der Gemeindeglieder. Aufgrund der Unbeweglichkeit des seit 17  Nach Bergmann (wie Anm. 4), 44. 18  Bergmann (wie Anm. 4), 45.

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1815 preußischen Kirchenregiments bediente man sich der Form des Vereins oder auch der Stiftung, um ohne Bürokratie direkt zu helfen. Mehrere Dutzend solcher Hilfsvereine entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Wuppertal. Bürgerschaftliches Engagement suchte sich Wege zur Linderung der großen Nöte der einzelnen Menschen, ohne allerdings das Problem an der Wurzel zu bekämpfen.

6. Das Elberfelder System von 1853 und die Reformierte Gemeinde Angesichts der Verelendung vieler Bürgerinnen und Bürger erlässt die Stadt Elberfeld im Jahre 1841 eine neue Armenordnung, die den Oberbürgermeister in deutlicher Abgrenzung zur Reformierten Gemeinde an die Spitze des gesamten Armenwesens rückt, was vom Presbyterium negativ aufgenommen wurde. Die preußische Gemeindeordnung von 1850 setzte dann einen Schlussstrich unter die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kirche und Stadt, indem sie die Armenfürsorge zur kommunalen Angelegenheit erklärt. Zugleich wurde in Elberfeld festgestellt, dass die bürgerliche Armenpflege in der „Erziehung“ der Armen versagt habe, da sie dauerhaft auf Alimentation angewiesen blieben. Die Kirchengemeinden sollten deshalb wieder an einer umfassenden Armenfürsorge beteiligt werden. Im Unterschied zu den eher unbedeutenden Lutheranern schlossen sich aber die Reformierten diesem Vorschlag nicht an. Unter diesen Rahmen­bedingungen erarbeiteten dann der eigentlich den reformierten Interessen sehr aufgeschlossene Bankier Daniel von der Heydt (1802–1874), die Fabrikanten Gustav Schlieper (1805–1880) und David Peters (1808–1874) sowie der Oberbürgermeister Karl Emil Lischke (1813–1886) ohne Beteiligung der Reformierten Gemeinde eine neue, rein städtische Armenordnung für die Gemeinde Elberfeld, das sogenannte „Elberfelder System“, das im Januar 1853 in Kraft trat. Die Not jedes einzelnen sollte eruiert und dokumentiert und anschließend der Fortschritt evaluiert werden. Dazu wurde das Stadtgebiet von Elberfeld in zehn Bezirke, diese jeweils in 15 Quartiere mit insgesamt 150 ehrenamtlichen Armenpflegern aufgeteilt. Die Unterstützungsbedürftigkeit wurde streng geprüft und in Sachleistungen für jeweils zwei Wochen gewährt. Dazu gehörten Lebensmittel, Kleidung, Bettzeug, Arztbesuche, Arzneien und Schulgeld. Obwohl die Bevölkerung in dieser Zeit weiter rasch zunahm, führte das Elberfelder System zu einer Reduzierung der Unterstützungsbedürftigen um fast die Hälfte auf insgesamt um die 500 Menschen. Von Elberfeld aus trat dieses System seinen Triumphzug durch ganz Deutschland an, 170 deutsche Städte übernahmen es, und für ein halbes Jahrhundert bestimmte es die Organisation und Tendenzen der kommunalen Armenpflege. Und auch über Deutschland hinaus galt es als vorbildlich, auf den Weltausstellungen in Paris (1900) und St. Louis (1904) wurde es vorgestellt und positiv aufgenommen.19 Diese Tatsache rief auch die Reformierte Gemeinde zur Neubesinnung und zum Handeln auf. Am 16. Januar 1857 wurde ein „Organisationsplan für kirchliche Armenpflege und zur Erweiterung der Diakonie-Tätigkeit der reformierten

19  Wittmütz, Kirche (wie Anm. 6), 87ff.

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Gemeinde Elberfeld“ verabschiedet.20 Neu daran war die Trennung von offener und geschlossener Fürsorge, Armenhaus und Gemeindediakonie wurden organisatorisch in verschiedene Hände gelegt. Das System der reformierten Armenverwaltung durch Provisoren sah neben den materiellen Nöten auch die Feststellung sittlicher und religiöser Defizite vor und band die Unterstützung an die Bereitschaft zur Besserung des Lebensstils. Dem reformierten Armenhaus kam dabei nach wie vor große Bedeutung zu. Das Haus wird charakterisiert als kirchliche, unter das Wort gestellte Anstalt, in dem Alte und Junge, Ge­sunde und Kranke Herberge finden, das aber vor allem diejenigen aufnehmen sollte, die „bei kirchlicher Gesinnung in Treue und Rechtschaffenheit ihr Brot zu verdienen suchten.“21 Es sorgte auch weiterhin für 30 verwaiste oder verwahrloste Kinder. Während der Cholera-Epidemie des Jahres 1859 wurde es zum Mittelpunkt der Hilfstätigkeit. 1868 regelte dann ein Diakonie-Statut die Aufgabenteilung zwischen kommunaler und kirchlicher Hilfeleistung. „So wiederholt das Diakonie-Statut von 1868 die fortan geltende Unterscheidung von offener und geschlossener Fürsorge, indem es neben das seit Jahrhunderten durch die Liebe der Gemeinde unterhaltene Armenhaus die seit 1858 auf dem Grunde des Wortes Gottes angeordnete bzw. wiederhergestellte kirchliche Armenpflege für Außenarme stellt und als selbständige Einrichtung neu begründet.“22 Mit der Hilfe für Außenarme war die offene Fürsorge für diejenigen gemeint, die vom Elberfelder System nur unzureichend erreicht wurden.

7. Das Reformierte Gemeindestift ab 1889 Um 1860 wurde deutlich, dass das mittlerweile fast 200 Jahre alte reformierte Armen­ haus eines Neubaus bedurfte. „Die Spuren der Zeit hatten sich an dem Fachwerkbau bemerkbar gemacht [...]. Außerdem wären die Räumlichkeiten so beschränkt, dass die Gemeinde einen Neubau oder Umbau überlegen sollte.“23 Doch die Überlegungen zogen sich zunächst hin, dringend notwendige Reparaturen wurden vorgenommen. 1886 bekam die Reformierte Gemeinde ein gut 11.000 qm großes Gelände geschenkt in einem, wie es heißt, „der gesundesten und landschaftlich schönsten Teile der Umgebung Elberfelds. Das Grundstück sollte für den Bau eines Armenhauses mit Krankenstation und für die Errichtung sonstiger, milden Zwecken dienenden Anstalten bestimmt sein.“24 Der Kostenvoranschlag belief sich auf 380.000 Mark. Anlässlich der Grundsteinlegung am 1. Juli 1887 hielt Pastor Karl Emil Krummacher (1830–1899) die Festansprache. Der Neubau konnte am 14. November 1889 eingeweiht werden. Die Baukosten betrugen schließlich 440.193,95 Mark. Das alte Armenhaus wurde abgerissen und die Bezeichnung des neuen Hauses wurde in Reformiertes Gemeindestift geändert. 20  21  22  23  24 

Vgl. Bergmann (wie Anm. 4), 49ff. Bergmann (wie Anm. 4), 52. Bergmann (wie Anm. 4), 54. So Bergmann (wie Anm. 4), 61. Ebd.

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Am 24. September 1903 wurde vor der Reformierten Kirche in Elberfeld zum 50jährigen Gedenken an das Elberfelder System ein Denkmal enthüllt, im neoklassizistischen Stil geschaffen. Die 2,36 Meter große Figurengruppe zeigte eine stehende junge Frau, die einen vor ihr sitzenden alten Mann speist. Die Frau legt fürsorglich ihren linken Arm um den Mann und reicht ihm mit dem rechten Arm eine Schüssel an den Mund. Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb das Armendenkmal verschollen, sein schwerer Marmorsockel wurde zwar 1953 bei Bauarbeiten am Kirchplatz entdeckt, aber wieder vergraben und erst 2003 bei umfänglichen Restaurierungsarbeiten aus einem verschütteten Keller geborgen und vor dem Reformierten Gemeindestift aufgestellt. Man sah sich als Evangelische Gemeinden in Elberfeld weiterhin der Tradition des Elberfelder Systems verbunden. 2011 wurde dann das Denkmal nach alten Vorlagen wieder neu gegossen und ziert seitdem mit dem Orginalsockel wieder den Kirchplatz vor der Alten Reformierten Kirche. Bis zum Jahre 1927 wurden 498 alte Menschen und 847 Kinder im neuerbauten Stift aufgenommen. Da Kinder jedoch nach und nach vom städtischen Wohlfahrts­ amt nicht mehr zugewiesen wurden, lag der Schwerpunkt des Hauses auf der Pflege Älterer. Kaiserwerther Diakonissen waren bis zum Zweiten Weltkrieg in der Pflege tätig, danach bis 2010 Schwestern des Zehlendorfer Verbandes. Am 25. Juni 1943 brannte bei einem Fliegerangriff das Reformierte Gemeindestift bis auf die Grundmauern aus. Die Bewohner und das Personal konnten glücklicherweise gerettet werden, ein Brandopfer war allerdings zu beklagen. Ab 1945 wurde mit den wenigen verbliebenen Mitarbeitenden versucht, der Not der Nachkriegszeit Herr zu werden. Als 1949 die Wirtschaftsverhältnisse einigermaßen gefestigt waren, wurde der Wiederaufbau des Stifts in Angriff genommen. Das äußere Bild des Gebäudes veränderte sich wesentlich gegenüber der früheren Fassade. Die Baukosten betrugen 1,23 Millionen DM. Am 14. Dezember 1950 fand die Wiedereinweihung statt. Das Reformierte Gemeindestift hatte seine Tore wieder geöffnet und den Heimbetrieb als Altenheim in vollem Umfang wieder aufgenommen. Doch schon bald erwiesen sich die Räumlichkeiten als nicht ausreichend, zumal auch immer mehr Schwestern ihren Feierabend im Reformierten Gemeindestift Elberfeld verbringen wollten. So beschloss man, das alte Hauptgebäude durch ein sogenanntes kleines Haus zu ergänzen, es wurde 1955 seiner Bestimmung übergeben. Als die Elberfelder Reformierte Gemeinde 1964 in drei Teilgemeinden aufgegliedert wurde, blieb das Stift als gemeinsames Eigentum der neuen Gemeinden bestehen. 1971 wurde das Reformierte Gemeindestift in eine gGmbH umgewandelt, dies sollte dem Stift die erforderliche wirtschaftliche Beweglichkeit und Selbständigkeit verschaffen und seine Verwaltung befähigen, sich rascher den jeweils wechselnden Situationen anzupassen. Gegenstand des Unternehmens war die Unterhaltung eines Altenheimes im Sinne der Diakonie der evange­lischen Kirche in praktischer Betätigung und christlicher Nächstenliebe. In den 1960er und 1970er Jahren veränderte sich die Alterspyramide der Bundesrepublik, die Zunahme des Lebensalters machte eine Umstrukturierung der Altenarbeit erforderlich. Es wurden mehr Pflegeplätze benötigt. Der Aufsichtsrat des Gemeindestiftes beschloss daher im Jahr 1972 einen Hochhausbau mit Appartements zu erstellen, um das

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alte Gebäude vor allem für die Pflege von alten und hilfsbedürftigen Menschen zu nutzen. Am 30. Januar 1976 wurde das Hochhaus mit 96 abgeschlossenen Appartements mit Bad oder Dusche, Toilette und Loggia in acht Stockwerken mit zwei Untergeschossen für den Speiseraum, die gemeinschaftliche Heizungs- und Küchenanlage sowie Friseursalon und Gymnastikraum eröffnet. Die Baukosten beliefen sich auf ca. 7 Millionen DM. Auch in den Folgejahren wurden weitere Investitionen getätigt. In den 1980er Jahren passte man sich den Erfordernissen durch weitere Umbaumaßnahmen wie den Einbau von Nasszellen im Hauptgebäude an, zudem stellte man sich auf die weiter zunehmende Zahl von Pflegebedürftigen ein. Im Zuge der Einführung der Pflegeversicherung 1995 baute das Gemeindestift den ambulanten Bereich mit einer Diakoniestation und Begegnungsmöglichkeiten für die Bewohner der Elberfelder Südstadt aus. Die letzte große organisatorische Veränderung wurde 2010 mit der Übergabe der Verantwortung für die Reformierte Gemeindestift gGmbH an das Diakonische Werk Wuppertal vollzogen. Gegenwärtig wird das Reformierte Gemeindestift im Verbund mit sieben weiteren stationären Altenpflegeheimen in Wuppertal betrieben.



Der reformierte Theologe Conrad Mel (1666–1733) und das Waisenhaus in Hersfeld Eine frühe pietistisch-diakonische Einrichtung in Hessen von Ulf Lückel 1. Hinführung Conrad Mel, eine Person, die wirklich nur eingefleischten Pietismuskennern oder Freunden der explizit reformierten (hessischen) Kirchengeschichte geläufig sein dürfte, soll hier vorgestellt werden. Obschon es einen recht gut recherchierten Artikel im BBKL1 gibt, ist Mel doch eine richtiges „Stiefkind“ in vielerlei Hinsicht: Es gibt keine Dissertation zu Mel, keine neuere Monographie oder Biographie, sehen wir einmal von der ausgezeichneten Arbeit von Ulrich Schoenborn aus dem Jahre 2006 ab, die sich mit Mels Lebensabschnitt im Osten beschäftigt.2 Jedoch gibt es einen kurzen Artikel zu Mel in der neuen RGG (4. Auflage).3 Mel wurde früher gern als „reformierter Spener“4 bezeichnet – eine Charakterisierung, die seiner pietistischen Gesinnung und Einstellung geschuldet ist, die er lebenslang einnahm und präferierte. Er ist ein reformierter pietistischer Theologe gewesen, darüber hinaus aber auch ein für seine Zeit moderner Pädagoge, Missionstheologe und ein erfolgreicher Schriftsteller.5 Ich möchte einige Stationen aus dem Leben Mels vorstellen und dann auf seine besondere diakonische Leistung eingehen: die Gründung eines Waisenhauses im Sinne August Hermann Franckes (1663–1727)6 im hessischen Hersfeld.

1  Vgl. Werner Raupp, Art. Mel (Mell), Conrad, in: BBKL 5 (1993), Sp. 1179–1184. 2  Ulrich Schoenborn, „... ich sehe die Fußstapffen der Providentz Gottes“. Zum Wirken des hessischen Theologen Conrad Mel (1666–1733) in Mitau, Memel und Königsberg (Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie 10), Berlin 2006. 3  Hans Schneider, Art. Mel, Conrad, in: RGG 5 (42002), Sp. 1001. 4  Heinrich Heppe, Kirchengeschichte beider Hessen, Bd. 2, Marburg 1876, 330. 5  Mels Predigtbände fanden reißenden Absatz, und ihre Verbreitung erstreckte sich u.a. bis in die Schweiz und die Niederlande, wo allein 14 Werke in holländischer Übersetzung herausgebracht wurden. Sein Gebetbuch „Die Lust der Heiligen zu JEHOVA: Oder Gebet=Buch. Zu allen Zeiten, in allen Ständen, und bey allerhand Angelegenheiten nützlich zu gebrauchen; mit vielen schönen Gebetern [...]“, das sogenannte „Mellenbuch“, brachte es mindestens auf 23 deutsche und 13 niederländische Auflagen. Die erste Auflage erschien 1715 in Kassel. 6  Zu Francke: Friedrich de Boor, Art. Francke, August Hermann, in: TRE 11 (1983), 312–320.

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2. Biographie Am 14. August 1666 wurde Conrad Mel in Gudensberg7 im heutigen SchwalmEder-Kreis in Nordhessen geboren. Sein Vater Johannes Mel (1633–1699) und seine Mutter Maria, geborene Jorenius, lebten in der kleinen Stadt, etwa 20 km südlich von Kassel gelegen. Johannes Mel war Pastor an der dortigen St. Margarethen Kirche, einer schönen gotischen Kirche, deren Ernbauungszeit im späten 13. Jahrhundert liegt.

7  Zur Geschichte der Stadt: Hugo Brunner, Geschichte der Stadt Gudensberg, Cassel 1922; Hilde Zwingmann, Gudensberg. Gesichter einer Stadt, Gudensberg 32000.

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Gudensberg war damals eine reformierte Gemeinde – entstanden im Rahmen der reformierten Kirchenreform Hessen-Kassels unter Landgraf Moritz, genannt „der Gelehrte“, von Hessen-Kassel (1572–1632).8 Bekanntlich war Moritz 1605 zum Calvinismus übergetreten – rechtswidrig, weil der Augsburger Religionsfrieden (cuius regio, eius religio) ja eigentlich nur zwischen Altgläubigen und Lutheranern geschlossen worden war. Der Landgraf führte den Bekenntniswechsel auch in den hessischen Teilen durch, die durch das Aussterben der Linie Hessen-Marburg 1604 an Hessen-Kassel gefallen waren. So wurde auch folglich die Marburger Universität reformiert, was dann 1607 die Gründung der lutherischen Universität Gießen durch seinen Vetter Ludwig V. (1577–1626)9 aus dem Haus Hessen-Darmstadt zur Folge hatte.10 In Gudensberg hatte auch der bekannte, aus Korbach in Nordhessen stammende Theologe Daniel Angelocrater (1569–1635), der an der Dordrechter Synode11 für Hessen-Kassel vom 13. November 1618 bis 9. Mai 1619 teilgenommen hatte, als Pastor vor Johannes Mel gewirkt. Als Hessen-Darmstadt unter Ludwig V. (1577–1626) Marburg eroberte und dieses wieder lutherisch wurde, musste der Marburger Superintendent Angelocrater die Universitätsstadt an der Lahn verlassen. Er wurde von Landgraf Moritz nach Gudensberg geholt. Gudensberg war eine attraktive Pfarrstelle, auch wenn im Dreißigjährigen Krieg plündernde Truppen von Johann T’Serclaes Graf von Tilly (1559–1632)12 die Stadt stark verwüsteten und Angelocrater sein ganzes Hab und Gut verlor – er wechselte dann 1627 als Superintendent nach Köthen im Fürstentum AnhaltKöthen. Es bleibt jedoch zu konstatieren, dass die Gudensberger Pfarrstelle genug Geld abwarf, damit Johannes Mel seinen Sohn Conrad 1676, also im Alter von zehn Jahren, zum Gymnasium nach Hersfeld schicken konnte, wo erheblich mehr an Kost- und Schulgeld verlangt wurde als beispielsweise in dem viel näher gelegenen Gymnasium in Kassel. Warum Hersfeld und nicht Kassel, entzieht sich unserer Kenntnis. Ein möglicher Beweggrund, nach Hersfeld zu gehen, mag die Tatsache gewesen sein, dass sein Onkel Johann Martin Johrenius – der Bruder der Mutter – dort seit 1675 als Konrektor wirkte.13

8  Vgl. Gerhard Menk (Hg.), Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Wissenschaft und Politik, Marburg 2000. 9  Vgl. Wilhelm Martin Becker, Art. Ludwig V., Landgraf von Hessen-Darmstadt, in: NDB 15 (1987), 391f. 10  Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele, Theologen im Exil. Konfessionelle Zwangsmigration und die calvinistische Universitätstheologie in Europa, in: Irene Dingel / Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven, Göttingen 2011, 243–261, 252. 11  Vgl. Johannes Pieter van Dooren, Art. Dordrechter Synode, in: TRE 9 (1982), 140– 147. 12  Vgl. Karl Wittich, Art. Tilly, Johann Tserclaes Graf von, in: ADB 38 (1894), 314–350. 13  Vgl. Rudolf Kempe, Hersfelder Laudatio – Conrad Mel, die Alte Klosterschule und die Lullusstadt, in: Alte Klosterschule Bad Hersfeld (Hg.), Conrad Mel. Gedenkschrift zu seinem 300. Geburtstag, Bad Hersfeld 1966, 30.

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1682 nahm Conrad Mel dann das Studium der evangelischen Theologie und der orientalischen Sprachen an der lutherischen (!) Universität Rinteln14 auf, es folgte die Fortsetzung des Studiums in Bremen. In Bremen wurde er am 30. April 1685 immatrikuliert. Er studierte am „Gymnasium illustre“ und hatte dort Theodor Undereyck (1635–1693)15 kennengelernt, den Begründer des reformierten-pietistischen Konventikelwesens und einen der reformierten „Pietismusväter“ in Deutschland. Undereyck sollte für Mels spätere Theologie große Bedeutung haben, das kann man an seinen späteren Schriften immer wieder feststellen, die sich eindeutig mit Undereycks Auffassungen indirekt und manchmal auch direkt auseinandersetzen bzw. decken.16 Seine nächsten Studienorte waren Franeker17 und die renommierte reformierte Universität in Groningen. Dort wurde er vom Föderaltheologen Johannes Braun (Braunius; 1628–1708)18, einem Schüler von Johannes Coccejus (1603–1669)19, stark geprägt.20 Wir können also konstatieren, dass Mel nach Rinteln eine ganz charakteristische reformierte Laufbahn an den damals recht bedeutenden reformierten Hochburgen der evangelischen Theologie eingeschlagen hatte. 1690 nahm Mel seine erste Stelle an: Er wurde Prediger in Mitau21 (das heutige in Lettland gelegene Jelgava). Die hessische Landgräfin Maria Amalia (1653– 1711)22, Ehefrau von Karl von Hessen (1654–1730)23 und geborene Prinzessin von Kurland, hatte ihm wohl diese Stelle in ihrer Geburtsstadt vermittelt. Eigentlich hatte er geplant, nach seinem Studium in Groningen weiter nach England zu reisen. Er sollte dann aber in den damals deutsch geprägten Osten gehen und dort eine Weile wirken: Von 1692 bis 1697 bekleidete er das Amt als Pastor der 14  Vgl. zu der 1619 gegründeten Universität: Franz Karl Theodor Piderit, Geschichte der Hessisch-Schaumburgischen Universität Rinteln, Marburg 1842. 15  Vgl. Johann Friedrich Gerhard Goeters, Der reformierte Pietismus in Deutschland 1650–1690, in: Martin Brecht / Klaus Deppermann (Hg.) Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993, 241–277; Werner Raupp, Art. Theodor Undereyck, in: BBKL 17 (2000), Sp. 1439–1443. 16  Vgl. Heppe (wie Anm. 4), 330–335, 332. Seinen Abschiedsbesuch machte er am 28.4.1688 bei Undereyck; Winfried Zeller, Frömmigkeit in Hessen. Beiträge zur Hessischen Kirchengeschichte, Marburg 1970, 153. 17  Die in der Provinz Friesland beheimatete zweitälteste Universität der Niederlande bestand zwischen 1585 und 1811. 18  Vgl. C[ornelis] Graafland, Art. Braun(ius) (Bruun) Johannes (Jean), in: Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlands protestantisme 5 (2001), 86–89. 19  Vgl. Heiner Faulenbach, Art. Coccejus, Johannes, in: TRE 8 (1981), 132–140. 20  Vgl. Friedrich Wilhelm Schluckebier, Conrad Mel als Ausleger des Alten Testaments, in: Alte Klosterschule Bad Hersfeld (Hg.) (wie Anm. 13), 35–45. 21  Vgl. Karl-Otto Schlau, Zur Gründungs- und Verfassungsgeschichte der Stadt Mitau (Jelgava) in Kurland (1265–1795), in: Zeitschrift für Ostforschung [heute: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung] 42 (1993), 507–562. 22  Vgl. Ulrich Schoenborn, Mit Herz und Verstand: Biographie und Lebenswelt der Töchter Herzog Jakobs von Kurland in Hessen-Homburg, Herford und Hessen-Kassel (Schriften zur Kulturgeschichte 18), Hamburg 2010. 23  Vgl. Pauline Puppel, Die Regentin. Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500– 1700, Frankfurt a.M. 2004, 236–277.

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deutsch-reformierten Gemeinde in der Hafenstadt Memel (heute: Klaipėda in Litauen), am nördlichen Ausgang des Kurisches Haffs gelegen. Die evangelisch-reformierte Kirche, in der Mel gepredigt hatte, wurde – wie so viele andere von Kriegseinwirkungen zerstörte Kirchen – nach dem 2. Weltkrieg von den Sowjets abgerissen, sodass wir heute keine Überbleibsel mehr davon haben. Das gilt genauso für die reformierte Gemeinde – nach dem 2. Weltkrieg hat es dort keine Reformierten mehr gegeben. In die Zeit in Memel fällt auch die Hochzeit Mels: Er hatte 1692 in Memel Anna Jurski († 19. November 1728), die Tochter des Theologen und seines unmittelbaren Vorgängers im Amt, Dr. Paul Andreas Jurski, geheiratet.24 Das Ehepaar hatte acht Söhne und sechzehn Töchter, also immerhin 24 Kinder, wovon jedoch nur ein Sohn und drei Töchter den Vater überlebten. 1697 kam ein nächster bedeutender Einschnitt in sein berufliches Leben: Mel wurde als Hofprediger nach Königsberg (das heutige russische Kaliningrad)25, berufen. Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg (reg. 1688–1701; Friedrich I., König in Preußen, reg. 1701–1713)26 berief ihn an die 1701 neuerbaute und kirchenbaulich hochinteressante Burgkirche, die im schlichten reformierten Baustil errichtet worden war und durch Mel eingeweiht wurde. In seiner Predigt zur Weihe heißt es: „Wir haben gotlob eine schöne Kirche. Aber was hilft das alles, wan unsre Hertzen keine schöne Kirchen und Tempel des heiligen Geistes seyn? Diß ist nur das exterieur. Die Pracht der gebäude wird niemand zum Himmel helfen. Sehet vielmehr auf das Inwendige, ob das schön sey?“27 In Königsberg veröffentlichte er u.a. folgende seiner ersten Werke: • Exemplarischer Kaufmann, lehrend die Kunst, reich zu werden in Gott [...], Königsberg 1694 (31755) • [Die] Posaune(n) der Ewigkeit, oder Predigten vom tode, aufferstehung der Todten, jüngsten Gericht, Untergang der Welt, Himmel, Hölle und Ewigkeit [...], Königsberg 1697 (101868) • Legatio orientalis Sinensium, Samaritanorum, Chaldaeorum et Hebraeorum [...], Königsberg 1700 • Pharus Missionis Evangelicae seu Consilium de propaganda fide per conversionem ethnicorum maxime Sinensium, 1701 [nur noch als Autograph vorhanden, in: Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale)]28 24  Schoenborn (wie Anm. 2), 15. 25  Zu Königsberg aus kirchenhistorischer Sicht: Lorenz Grimoni / Andreas Lindner (Hg.), Königsberg und das Herzogtum Preußen (Orte der Reformation 18), Leipzig 2014. 26  Vgl. Frank Göse, Friedrich I., ein König in Preußen, Regensburg 2012. 27  Conrad Mel, Worte zu seiner Zeit. Oder Solennel=Predigten über auserlesene texte der Heiligen Schrifft auf die jährigen feste, wie auch paszions=busz=fast=bet und danck=tage, und bey sonderbahren begebenheiten, in fröhlichen und traurigen fällen vorgetragen [...], Franckfurt 1713 (51776), 904. 28  Abgedruckt: Carl Heinrich Christian Plath, Die Missionsgedanken des Freiherrn von Leibnitz. Eine Studie, Berlin 1869, 71–88 [ND Whitefish, USA 2010], und Gustav Kramer, August Hermann Francke. Ein Lebensbild, Bd. 1, Halle 1880, 285–303. Der lange Zeit August Hermann Francke zugeschriebene Text beschäftigt sich mit der Mission in Ostindien (China), den jedoch Mel ausgearbeitet hatte.

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• Dass. in deutscher Übersetzung: Die Schauburg der ev. Gesandtschaft oder ohnmaßgebliche Vorschläge wegen Fortpflanzung des allerheiligsten Glaubens durch Bekehrung der Heiden sonderlich in China, 1701 [Autograph vorhanden, in: Handschriftenabteilung der UB Kassel, Sign: 4 Ms. theol. 78]29 • Der Würdige Gast an des HErrn Tafel, oder Communions=Predigten/ Vor=Bey und Nach dem Gebrauch Des Hochwuerdigen Abendmahls gehalten ueber auserlesene Texte der H. Schrifft [...], Königsberg 1701 (61760) [auch unter dem Titel: Der eröfnete Gnadenthron publiziert] Mel galt damals schon als einer der gelehrtesten Theologen überhaupt, sodass er 1701 durch Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)30 in die berühmte, erst gerade gegründete (11. Juli 1700) Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften berufen wurde, als sogenanntes „abwesendes Mitglied“ – übrigens als erster Reformierter. Leibniz war von Mels Ideen zur China-Missionierung begeistert – wenn Mel diese dann auch später nicht umgesetzt hat, wie er dieses ursprünglich geplant hatte.31 Mel promovierte in Königsberg über ein alttestamentliches Thema: 1. Kön 7,23–26 „Über das eherne Meer“ – man kann hier deutlich die Handschrift des biblischen Archäologen Johannes Braun (1628–1708)32 aus Groningen erkennen, der ihn als Lehrer nachhaltig geprägt hatte.33 Zu dieser Zeit beschäftigte sich Mel intensiv mit der Thematik der Heidenmission – nicht zuletzt deswegen, da er unter einer gewissen Beeinflussung von Leibniz stand; wahrscheinlich deshalb bescherte ihm diese Tätigkeit die Aufnahme in die bedeutende Akademie.34 Damit war aber noch keineswegs Schluss auf der Karriereleiter, er wurde 1702 zum außerplanmäßigen Theologieprofessor an die Universität Königsberg35 berufen. 29  Freundliche Mitteilung von Prof. Dr. Hans Schneider, Marburg. 30  Zu Leibniz’ Interesse an der Mission und den Ideen Mels zur China-Mission vgl. Franz Rudolf Merkel, Gottfried Wilhelm von Leibniz und die China-Mission. Eine Untersuchung über die Anfänge der protestantischen Missionsbewegung (Missionswissenschaftliche Forschungen 1), Leipzig 1920, 174–190. 31  Mel beschäftigte sich aber auch später in Hersfeld noch intensiv mit dem Thema Mission und schreibt darüber seine Gedanken an August Hermann Francke in einem Brief, datiert vom 16.2.1709: Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale): Stab/F 15,1/5 : 3. Auch noch 1720 erkundigt sich Mel bei Francke nach dem Stand der Indienmission: Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale): Stab/F 15,1/5 : 18 (Brief vom 29.7.1720). 32  Vgl. Graafland (wie Anm. 18), 86–89. 33  Erschien stark überarbeitet 1719 in Frankfurt a.M.; vgl. Winfried Zeller, Conrad Mel als protestantischer Theologe, in: Alte Klosterschule Bad Hersfeld (Hg.) (wie Anm. 13), 9–32.49. Wieder abgedruckt: Winfried Zeller, Conrad Mel als Theologe des reformierten Pietismus, in: Zeller (wie Anm. 16), 151–191, 163. 34  Später wollte Mel in seinem Waisenhaus in Hersfeld neben dem Gymnasium auch eine Missionsstation und Ausbildungsstätte für Missionare etablieren, analog dem Franckeschen Erfolgsmodell in Halle, doch hat er den Missionsgedanken dann in Hessen nicht mehr vordergründig verfolgt. Dennoch blieb er an der Mission Halles interessiert und wollte die Missionsberichte von dort zugeschickt haben. Vgl. den Brief aus Hersfeld vom 8.1.1712 an August Hermann Francke: Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale): Stab/F 15,1/5 : 15. 35  Vgl. Kasimir Lawrynowicz, Albertina. Zur Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises 13), Berlin 1999.

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Aber dort sollte er nur ein kurzes Gastspiel halten, denn drei Jahre später, Ende des Jahres 1704, ging Mel nach Hessen zurück, an seinen alten Schulort in der Landgrafschaft Hessen-Kassel, nach Hersfeld. Dort wurde er Kircheninspektor und kurze Zeit später auch noch Rektor des Gymnasiums, also seiner alten Schule,36 die er als zehnjähriger zum ersten Mal betreten hatte, und nun schloss sich der Kreis.37

3. In Hersfeld Noch ein Wort zu einer Begegnung in Königsberg, die von Interesse ist: Am 18. Januar 1703 wurde die Stiftung des Königsberger Waisenhauses, die bereits zur Königskrönung 1701 proklamiert worden war, endlich eingeweiht: Je zwölf Waisenkinder aus jeweils lutherischer und reformierter Konfession sollten hier aufgenommen und versorgt werden. Das ist für uns insofern bemerkenswert, dass wir hier Mels erstes Zusammentreffen mit einem dem preußisch-pietistischen Umfeld entsprungenen Diakoniegedanken zur Etablierung eines Waisenhauses verorten können. Freilich entspringt diese nun immer öfter in Preußen anzutreffende Einrichtung vornehmlich den Ideen und Idealen Franckes.38 1706 wurde Mel noch in die englische „Society for the Propagation of the Gospel in Foreign Parts“39 in London aufgenommen, die heute noch besteht.40 Das war schon eine große Ehrung und Auszeichnung für den neuen Pastor und Rektor, der nun als Inspektor der Kirchen des Fürstentums im Hersfelder Land seinen Dienst verrichten sollte. In Hersfeld sollte Mel dann zum ersten Mal richtig sesshaft und noch erfolgreicher als zuvor werden, hier verstarb er dann schließlich am 3. Mai 1733.41

36  Zum alten Klostergymnasium vgl. Tilman Struve, Zur Geschichte der Hersfelder Klos­ terschule im Mittelalter, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 27 (1971), 530–543. 37  Vgl. zu diesem Abschnitt über Mels Aufenthalt im Osten die detaillierte Untersuchung von Schoenborn (wie Anm. 2). 38  August Hermann Francke, Ordnung und Lehr=Art / Wie selbige in dem Paedagogio zu Glaucha an Halle eingeführet ist: Worinnen vorenhmlich zu befinden / Wie die Jugend / nebst der Anweisung zum Christenthum / in Sprachen und Wissenschaften / als in der Lateinischen / Griechischen / Ebräischen und Französischen Sprache / wie auch in Calligraphia, Geographia, Historia, Artithmetica, Geometria, Oratoria, Theologia, und in denen Fundamentis Astronomicis, Botanicis, Anatomicis &c. auf eine kurtze und leichte methode zu unterrichten / und zu denen studiis Academicis zu praepariren sey / [...], Halle 1702. 39  Neben dieser großen Ehre wurde ihm im selben Jahr noch eine andere zuteil: Die Universität Frankfurt/Oder verlieh ihm die Würde des Doktors der Theologie; vgl. Zeller (wie Anm. 16), 168. 40  Seit 2012 nennt sich die „Non-Profit-Organisation“ vereinfacht „United Society“ (US). Sie ist der Church of England fest verbunden, und das Amt des Präsidenten wird durch den Erzbischof von Canterbury ausgeübt; vgl. die Homepage der Organisation: http://www.uspg.org.uk/ (letzter Abruf: 13.6.2016). 41  Zeller (wie Anm. 16), 171.

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Mel war in Hersfeld, welches er aus Königsberg kommend am 28. Dezember 170442 erreicht hatte, dann schriftstellerisch sehr produktiv. Viele seiner Königsberger Predigten hat er erstmals hier im Druck herausgegeben. Das war der Tatsache geschuldet, dass er als Prediger nun erheblich weniger eingespannt war als vordem in seinen anderen Stellen im Osten und sich so intensiv mit den Publikationen auseinandersetzen konnte. Vor allem aber seine diakonisch-theologische Arbeit nahm ganz neue Dimensionen an. So gründete er in Hersfeld 1709 in Anlehnung an Francke in Halle (Saale) ein Waisenhaus.43 Dieses Waisenhaus ist schon etwas ganz Besonderes gewesen, wenn wir es aus dem Blickwinkel pietistischer Theologie und Diakonie verorten wollen.44 Nachdem Mel von Landgraf Karl von Hessen (1654–1730)45 die Stelle in Hersfeld offeriert bekommen hatte, entschied er sich – wohl schweren Herzens –, nach Hessen zurückzukehren. Auch wenn er sich in einem Schreiben respektive einer später publizierten Predigt46 anfangs gegen eine Rückkehr in die Heimat verwahrt, so scheint doch die Situation in Hersfeld einen entscheidenden Vorteil für ihn gehabt zu haben und machte die Stelle für ihn als dortigen Inspektor äußerst attraktiv: Er hatte nämlich nur die Verpflichtung, einmal im Monat zu predigen, beziehungsweise einen Gemeindegottesdienst zu halten. Er merkt ferner an, dass seine Gesundheit nicht zum Besten stehe und deshalb die Erleichterung bei der Anzahl von Gottesdiensten ihm sehr gelegen käme. Zum anderen weist er auf die „mehrere Erbauung“ hin, zu der er selbst nun durch die Betreuung der Schüler in Hessen, von denen viele zu Predigern werden sollen, mit beitragen wolle und solle.47 Und in der Tat, Mel engagierte sich nun in seiner neuen Stelle als Rektor des Gymnasiums auf ganz neuen Geleisen. Er hatte neue pädagogische und diakonische Ansätze von Francke und seiner erfolgreichen Einrichtung in Halle (Saale) adaptiert, und vor allem ließ er den realienbezogenen Frontalunterricht in Hersfeld einführen: ein Novum, das man hier und freilich auch anderswo – außer in Halle selbst – kaum kannte. Damit sollte er erheblichen Erfolg haben; es sprach sich recht schnell herum, dass das Hersfelder Gymnasium innovativ und etwas Besonderes sei. Man verzeichnete viele Neuanmeldungen, und folgendes ist sicherlich besonders hervorzuheben: 42  Vgl. Kempe (wie Anm. 13), 49. 43  In einem Brief an August Hermann Francke, datiert vom 16.2.1709, teilt Mel nach Halle mit, dass er mit dem Neubau des Waisenhauses in Hersfeld bereits begonnen habe: Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale) (wie Anm. 31). 44  Vgl. Rudolf Francke, Die christliche Liebestätigkeit in Kurhessen, Kassel 1904, 47f.147. 45  Vgl. Puppel (wie Anm. 23), 236–277. 46  Conrad Mel, Die letzte[n] Reden der Sterbenden: Oder Predigten / über auserlesene Texte des Alten und Neuen Testaments [...], Franckfurt 1710, 885–918 (Cassel 41756; holländische Übersetzung 1727); vgl. dazu: Marie Isabel Schlinzig, Abschiedsbriefe in Literatur und Kultur des 18. Jahrhunderts, Berlin 2012, 53–57. Vgl. Kempe (wie Anm. 13), 50f.; Zeller (wie Anm. 16), 161.164. 47  Vgl. zu dem ganzen Abschnitt „In Hersfeld“: Kempe (wie Anm. 13), 52–54. An dieser Ausarbeitung habe ich mich orientiert.

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Die Landesherrschaft unterstütze mit Geld und Personal seine wunderbar eta­ blierte Schulform – gerade auch, als sich erster Widerspruch von den benachbarten Gymnasien in Kassel, Marburg und einzelnen Waldecker Schulen regte, die laut protestierten, dass Mel ihnen die Schüler, und man höre: die Studenten, abgewinnen würde. In der Tat waren nicht gerade wenige Studenten von Marburg nach Hersfeld gewechselt und setzten hier bei Mel ihre Studien fort, da sie dessen Einrichtung ein höheres Niveau als der Marburger Fakultät einräumten.48 Es ist sicherlich nicht leicht, aus heutiger Sicht dazu ein Urteil abzugeben, aber es bleibt auf jeden Fall zu konstatieren, dass Mel in Hersfeld ein hohes Niveau für seine Schüler und Studenten eingeführt hatte, zugleich aber auch eine gewisse Laxheit im Umgang mit den Schülern und Studenten seitens des Lehrkörpers und allen voran durch Mel erfolgte. Hersfeld, ursprünglich aus einer Klostersiedlung im Umfeld des Bonifatius (* um 673, † 754/755) gegründet, zählt zu den ältesten Städten in Hessen.49 Das dortige Gymnasium ist ebenfalls eine sehr frühe sogenannte „Hohe Schule“. Es wurde am 2. Juli 1570 von Abt Michael Landgraf (im Amt: 1556–1571) gestiftet, und am 7. November 1570 kam die Bestätigung durch Kaiser Maximilian II. (1527–1576).50 Freilich war es eine große Ehre, die Mel mit der Leitung dieser Schule angetragen wurde, und zum anderen stand er bei der Kasseler Herrscherfamilie im guten Ruf, das Reformiertentum zu leben und es beleben zu können. Nicht nur bei der Landgräfin Maria Amalia, sondern auch bei deren Gatten Landgraf Karl, der ein ausgesprochen großzügiger Gönner der „Illustris Schola Hersfeldensis“ war. Mehrere Bauprojekte förderte er aus seinem eigenen Vermögen. Mel führte sofort tiefgreifende Innovationen und Korrekturen im Schulunterreicht ein – er orientierte sich an der Pädagogik Franckes. Mel legte großen Wert auf die alten Sprachen und förderte diese immens, zumal er meinte festgestellt zu haben, dass die Schüler hier nur mangelhafte Leistungen erbringen würden. Er selbst lehrte als ausgewiesener Latinist und Orientalist Hebräisch, aber daneben unterrichtete er auch noch in Logik und Mathematik. Durch die Realienlehre Franckes51 inspiriert, vermittelte er auch noch Mechanik, Astronomie und Optik. Bemerkenswert ist auch, dass in Hersfeld als neue Sprache Niederländisch auf dem Lehrplan stand. Sein guter Ruf hatte sich durchgesetzt, und so bezogen auch Marburger Studenten das Hersfelder Gymnasium, das nun immer mehr einer Hochschule statt einem „profanen“ Gymnasium entsprach. Die Studenten unterstanden nicht den

48  Kempe (wie Anm. 13), 53. 49  Vgl. Elisabeth Ziegler, Das Territorium der Reichsabtei Hersfeld von seinen Anfängen bis 1821 (Schriften des Instituts für Geschichtliche Landeskunde von Hessen und Nassau 7), Marburg 1939. 50  Vgl. Volker Press, Art. Maximilian II., in: NDB 16 (1990), 471–475. 51  Mel hat in Hersfeld gewissermaßen genau das Programm Franckes adaptiert und umgesetzt, welches er für seine Einrichtungen von Vorteil sah: August Hermann Francke, Ordnung und Lehr=Art/ [...] (wie Anm. 37); vgl. Thomas Müller-Bahlke, Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen, Fotografien von Klaus E[berhard] Göltz, Halle 22012.

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strengen Schulgesetzen, sondern hatten als „exemti studiosi“52 extreme Vorrechte, sodass sie z.B. Degen tragen durften, im Gegensatz zu den Schülern. So konnten sie ihre neue „Freiheit“ und Ungebundenheit in Hersfeld viel besser ausleben als in der Universitätsstadt Marburg. Das soll aber keineswegs ihren primären Bewegrund, nach Hersfeld gekommen zu sein, schmälern, denn der lag in Mel selbst, der Vorlesungen im pietistischen Sinne hielt. Jede Vorlesung wurde mit einer biblischen Betrachtung begonnen.53 Dass es auch Probleme mit den Studenten gab, ist selbstredend: Durch allzu viele Freiheiten bestärkt, kam es auch ab und an zu größeren Auseinandersetzungen in der Stadt mit den Handwerksburschen und freilich auch in den Wirtshäusern. 1717 musste gar das Militär der Garnison eingreifen, um schlimmere Tätlichkeiten zu verhindern. Dies sollte auch das Ende des „Fast-Universitätsstatus“ bedeuten. So ging es eben nicht weiter in Hersfeld, und die Marburger Studenten mussten zurück an die Lahn heimkehren. Woran hatte es gelegen, dass das Projekt gescheitert war? Sicherlich zum einen an den zu vielen Freiheiten, die Mel den Studenten gewährt hatte. Der andere Grund ist sicherlich die große Problematik, dass die Schüler die gleichen Freiheiten wie die Studenten wollten und diese ihnen so nicht zugebilligt werden konnten. Anfangs bedeutete das erst einmal keinen großen Schaden, den die Arbeit Mels hierdurch bekam. Dennoch sollte sich das neue Modell, welches Mel eingeführt hatte, bitterlich rächen: Er orientierte sich weiterhin an Franckes Muster und versuchte dessen Schulsystem „eins zu eins“ in Hersfeld umzusetzen, aber die Schüler und Lehrerzahl reichte dafür nicht mehr aus, auch überstiegen die Anforderungen der Hersfelder Schule das Vermögen der Schülerschaft signifikant. Mel, als ausgleichender Mann bekannt, kam nur schwer damit zurecht, dass er als zu weich bei Prüfungen und im Unterricht befunden wurde. Das Kollegium meinte dies ebenfalls, sodass im Laufe der Zeit auch die Stiftskanzlei eingreifen musste, denn die Anzahl der Schüler hatte sich mit dem Antritt Mels als Rektor mehr als halbiert. Der Oberamtmann Johann Hermann Diepenbrock richtete nun als ranghöchster Stiftsbeamter für die Bestrafungen der Schüler eigens Arrestzellen und ein Schülergefängnis im Turm der Stiftskirche ein. Er wollte wieder den militärischen Drill durchsetzen, und ganz im Gegensatz zu Mel interessierte ihn die moderne Pädagogik Hallescher Prägung überhaupt nicht.54 Hätte Mel nicht einen so ausgezeichneten Ruf bei Hofe in Kassel besessen, er wäre mit seinem neuen Modell in Hersfeld gescheitert und sicherlich bald abberufen worden – nach dem Motto, dass er eben zu weich wäre. Aber das sollte nicht passieren, Mel hatte volle Unterstützung des Landgrafen und seiner Gattin, sodass er weiter mit den Franckeschen Methoden in Hersfeld den Schulunterricht bereichern durfte und sich dieses System mehr und mehr, wenn auch langsam, 52  Alexander Vial, Dr. Conrad Mel, weiland geistlicher Inspector und Rector des Gymnasiums zu Hersfeld. Ein Lebensbild aus dem Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts, Hersfeld 1864, 33. 53  Vial (wie Anm. 52), 33f. 54  Vial (wie Anm. 52), 33–36.

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etablierte. Übrigens wurde dann der Oberamtmann Diepenbrock vom Landgrafen „zurückgepfiffen“. Es lässt sich abschließend sagen, dass Mel trotz zahlreicher Misserfolge in seiner speziellen Schulpolitik doch letztlich Erfolg haben sollte, denn der Fortschritt des im Pietismus groß gewordenen „diakonischen Schulsystems“ wurde dann in der folgenden Periode der Aufklärung gewissermaßen potenziert und sollte zur Norm werden.

4. Das Waisenhaus Dass sich Mel nicht nur die Schulpädagogik auf sein pietistisch geprägtes Programm geschrieben hat, steht außer Frage. Ebenso war er davon überzeugt, dass die diakonische Handlung vor allem an den Ärmsten der Armen zu erfolgen habe. Auch hier stand das Franckesche Model in Halle Pate. Mit ihm hat er korrespondiert, und einige Briefe haben sich aus dieser Periode erhalten.55 Hieraus geht klar hervor, dass er eben ein Waisenhaus erbauen lassen wollte und dafür Franckes Rat und Unterstützung benötigte.56 Freilich waren Waisen- und Armenhäuser keine Erfindung des Pietismus und auch nicht die von Francke, aber im Pietismus wurden sie sozusagen zum Programm, und dabei hat Francke nicht einen unerheblichen Anteil gehabt.57 Auch viele seiner anderen Ideen sind adaptiert und umgesetzt worden, aber wohl am nachhaltigsten in der Einrichtung der Waisenhäuser und manchmal in Verbindung mit einer Offizin – also einer Waisenhausdruckerei. Prominentes Beispiel hierfür ist das im Zeitalter des radikalen Pietismus bekannte Berleburg mit seiner berühmten Berleburger Bibel und vielen anderen (pietistischen) Druckerzeugnissen mehr.58 Ein Waisenhausneubau ist dann auch in Hersfeld erfolgt, und auch dieses ist eben ein besonderes Verdienst von Mel. Selbstverständlich können wir als pietistisches Ideal immer wieder die Nächstenliebe, aber auch die diakoni,a anführen – das ist hinlänglich bekannt und wurde bereits mehrfach genauestens aufgearbeitet und theologisch verortet. Und diese zentralen Gedanken von biblisch gelebter Nächstenliebe und aktiver Hilfe, beides verbunden in der festen Überzeugung, so Gottes Handeln in der realen Welt aufzuzeigen und zu unterstützen, finden wir auch in der 1709 erfolgten Waisenhausgründung in Hersfeld. Der Winter 1708/09 wurde zum Hungerwinter, und der Landgraf setzte alles daran, die notleidende Bevölkerung nicht allein zu lassen. Im Bezirk des Stiftes Hersfeld öffnete er seine Kornkammern und stellte über 150 Zentner Korn aus sei55  Diese Briefe befinden sich heute in dem Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale). 56  So im Brief an Francke, den Mel am 20.9.1707 von Hersfeld nach Halle schreibt: Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (Saale): Stab/F 15,1/5 : 2. 57  Vgl. Claus Veltmann / Jochen Birkenmeier (Hg.), Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 17. Mai 2009 bis 4. Oktober 2009 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen 23), Halle 2009. 58  Vgl. Ulf Lückel, Adel und Frömmigkeit. Die Berleburger Grafen und der Pietismus in ihren Territorien, Siegen 2016, 93–101.

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nen Hersfelder Stiftsgütern zur Verfügung. Das Korn wurde zu Brot verbacken, und jeden Freitag wurden die vierpfündigen Laibe an die Hungernden von der Stiftskirche beziehungsweise der Stadtkirche aus verteilt. Die Oberaufsicht führte Mel, und er musste feststellen, dass es besonders unter den Waisenkindern doch viele verwahrloste gab. Er katechisierte auch bei jeder Brotausgabe und war entsetzt, dass es mit der Bildung noch ärger stand: Eine gewisse Gottlosigkeit meinte er festzustellen und entschloss sich sofort, hier tätig zu werden.59 Die Kinder benötigten Schulunterricht und Gotteserkenntnis. Und in der Tat schaffte er es binnen kurzer Zeit, für jeweils zehn Jungen und Mädchen einen Platz bei Verwandten oder anderen Menschen zu organisieren, freilich gegen Entgelt.60 Der Unterricht für die Waisen wurde von einem Lehrer durchgeführt. Es war ein sehr erfolgreiches Modell, und schon bald wurde aber ein Haus benötigt, welches es so einfach nicht zu erlangen gab. Die Stadt Hersfeld interessierte das freilich wenig. Von Diepenbrock hatte er kaum etwas zu erwarten, und so war es wieder einmal die Herrscherfamilie in Kassel, die ihm hier zur Hilfe kam. Die Landgräfin vermachte Mel die jährliche Fruchteinnahme von 60 Zentnern Korn und zusätzlich eine größere Summe Bargeld, sodass er schon sehr bald in der Lage war, ein Haus am Markt zu kaufen und als Waisenhaus aufzubauen. Leider erwies sich das erworbene Haus jedoch schon recht bald als baufällig, sodass es 1711 abgebrochen und an gleicher Stelle ein Neubau errichtet wurde – dieser wurde jedoch erst letztlich ein Jahr nach Mels Tod, im Jahr 1734, vollständig fertig.61 Weiterhin setzte Mel alles daran, hier aktive Missionsarbeit vor Ort zu erledigen und diakonische Hilfe zu geben. Auch in seinen Predigten62 kann man dieses ablesen – so, als er über das gegenseitige Lastentragen als Erfüllung des Gesetzes Christi das diakonische Motto des Paulus mehrfach aufgreift.63 Die Herrscherfamilie unterstützte ihn weiterhin aktiv und ließ diese Hilfen nicht abbrechen. Wie er es geschafft hat, auch noch einen Brennholzspendenpool zu bekommen, ist wohl der Tatsache geschuldet, dass die Landgräfin noch auf ihrem Sterbebett ihrem Gatten die nach ihr benannte „Amalienschule“ besonders ans Herz gelegt hat. Und in der Tat, selbst nach dem Tode seiner größten Gönnerin konnte das Waisen- und Armenhaus weiterbestehen. Es wuchs und gedieh – und auch die nachfolgenden Herrscher, so Landgraf Karls Sohn und Nachfolger Friedrich I. (1676–1751)64, der dann durch seine zweite Ehefrau Königin Ulrika Eleonore (1688–1741)65 schwedischer König wurde, förderten Mels große Diakonieeinrich59  Dieser Abschnitt orientiert sich an der Arbeit von Kempe (wie Anm. 13), 54f. 60  Vial (wie Anm. 52). 61  Vgl. zu diesem Abschnitt Kempe (wie Anm. 13), 54–57. 62  Conrad Mel, Zions Lehre und Wunder, oder Predigten über die Sonn= und Festtäglichenn Evangelia [...], Cassel / Franckfurt 1713 (91795), 24–26.67f.113 u.ö. 63  Gal 6,2. 64  Vgl. Wolf von Both, Art. Friedrich I., Landgraf von Hessen-Kassel, König von Schweden, in: NDB 5 (1961), 507f. 65  Vgl. Marita A. Panzer, Wittelsbacherinnen. Fürstentöchter einer europäischen Dynastie, Regensburg 2012, 121–133.

Der reformierte Theologe Conrad Mel ...

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tung. Ebenfalls dann der Verwalter in Hessen-Kassel, Friedrichs Bruder Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel (1682–1760).66 Mel verstand es aber auch exquisit, wie man mit den Adligen umgehen musste67 und wie man sich arrangieren musste – so widmete er eine Predigtsammlung68 Ulrika Eleonore, die sich dann mit 50 Dukaten und einem Medaillon für das Waisenhaus bedankte. 1731 wurden von Schweden aus alle Privilegien erneuert und somit das Waisenhaus bestätigt.69 Nach seinem Tod am 3. Mai 1733 wurde Mel einige Tage darauf in der Hersfelder Stiftskirche beigesetzt. Als die Stiftskirche und die meisten der ehemaligen Klostergebäude70 im Siebenjährigen Krieg 1761 zerstört wurden, haben sich auch die Spuren von Mels Grab dort verloren, und es ist heute unbekannt.71 Sicherlich haben Mels hohe geistliche Ämter, aber besonders seine ausgezeichnete Bildung, sein Weitblick und seine Weltoffenheit vornehmlich sein spürbar pietistisch-diakonisches Handeln beeinflusst und sind für Hessen herausragend gewesen – in der Zeit des Absolutismus, als nur an ganz wenigen Höfen und in wenigen Städten diese geistlichen Maximen „en vogue“ waren. Den reformierten Theologen Mel kann man wohl in erster Linie mit der Neugründung des Waisenhauses in Hersfeld in Verbindung bringen, das er aus reformiert-pietistischer Überzeugung erbauen und gedeihen ließ. Sein biblisch begründeter diakonischer Leitgedanke war dabei seine vornehmste Motivation.72 Seine vielen Publikationen – auch und gerade als Erbauungsliteratur – sind ein anderes wichtiges Thema, doch dafür ist hier nicht der gegebene Ort, dieses genauer zu erörtern.

66  Vgl. Bernhard Schnackenburg, Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel, Gründer der Kasseler Gemäldegalerie, in: Heide Wunder (Hg.), Kassel im 18. Jahrhundert, Kassel 2000, 71–87. 67  Vgl. hierzu den Brief an den hessischen Landgrafen Karl von Hessen-Kassel, den Mel am 27.3.1708 von Hersfeld nach Kassel schrieb. Deutlich kann man hier Mels enorme Bildung und ebenso seine ausgezeichneten Umgangsformen in der Korrespondenz mit dem Adel herauslesen. Vorhanden in der Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel: 2° Ms. hist. litt. 4 [Mel 2]. 68  Hierbei handelt es sich um das 1733 in Bern verlegte Werk: Predigten Uber Einige Macht=Sprüche Heiliger Schrifft, Erkläret und zu geeignet / auch auf Ihro Königl. Majestät in Schweden Hohen Befehl [...]. 69  Vgl. Kempe (wie Anm. 13), 56. 70  Seit 1951 finden die bekannten Bad Hersfelder Festspiele jährlich in den Sommermonaten auf der Bühne der dortigen Stiftsruine statt. 71  Vgl. Vial (wie Anm. 52), 45. 72  Mt 25,31–46, bes. V. 40.



Diakonie in der Schweiz des 19. Jahrhunderts Die Vielgestaltigkeit diakonischen Handelns an den Beispielen der Kantone Bern und Genf von Martin Sallmann 1855 äußerte sich Albert Friedrich Haller, erster Pfarrer in Biel,1 Kanton Bern, zur Zuordnung von Kirche, Diakonie und Staat wie folgt: „Il y avait [dans le canton de Berne] sans doute des pauvres à secourir, mais en cela comme en toute autre chose, le gouvernement se chargeait de pourvoir à tout, et comme il disait: l’Etat, c’est moi, il disait aussi: l’Eglise, c’est moi. Le clergé n’était donc nullement appelé à s’occuper de l’administration de la charité publique. Cet état de choses a subsisté sous tous les différents régimes politiques, et aujourd’hui que la misère a fait dans ce canton, comme ailleurs, des progrès alarmants, c’est encore l’Etat et non l’Eglise qui est chargé de s’en occuper. On organise pour le canton, pour les districts et les communes, des administrations publiques chargées d’office du soulagement de l’indigence; [mais] les Pasteurs n’y ont aucune part officielle.“2 Haller hielt fest, dass im Kanton Bern Staat und Kirche eng verbunden seien, was im Spitzensatz kulminierte: „L’Eglise, c’est moi.“ Die Pfarrerschaft sei bei der Verwaltung der öffentlichen Wohltätigkeit in keiner Weise beteiligt. Es sei nach wie vor der Staat und nicht die Kirche, der beauftragt sei, sich darum zu kümmern. Was war geschehen? In welchem Zusammenhang steht diese scharfe Zuspitzung? Am 8. und 9. August 1855 trafen sich Pfarrer aus der ganzen Schweiz in Genf. Es handelte sich um eine Zusammenkunft der Schweizerischen Predigergesellschaft, die seit 1839 jährlich stattfand, um aktuelle kirchliche Fragen zu behandeln und die gesamtschweizerischen Verbindungen zu pflegen.3 Eines der beiden 1  Carl Friedrich Ludwig Lohner, Die reformirten Kirchen und ihre Vorsteher im eidgenössischen Freistaate Bern, nebst den vormaligen Klöstern, Thun o.J. [1864–1867], 473f. 2  Actes de la Société Pastorale Suisse. Seizième Assemblée Générale Tenue à Genève les 8 et 9 Aout 1855, Genève: Imprimerie de Jules-Gme Fick, Rue des Belles-Filles, 40, 1855, 52: „Es gab [im Kanton Bern] ohne Zweifel Arme, die Hilfe benötigten, aber in dieser Sache wie auch in allen anderen Dingen übernahm es die Regierung, sich um alles zu kümmern, und als sie sagte: der Staat bin ich, sagte sie auch, die Kirche bin ich. Die Geistlichkeit wurde daher überhaupt nicht aufgerufen, sich um die Verwaltung der öffentlichen Wohltätigkeit zu kümmern. Dieser Stand der Dinge hat sich unter all den verschiedenen politischen Regierungen erhalten, und jetzt, wo die Armut in diesem Kanton wie auch anderswo alarmierende Fortschritte gemacht hat, ist es immer noch der Staat und nicht die Kirche, der verantwortlich ist, sich darum zu kümmern. Man organisiert für den Kanton, für die Bezirke und Gemeinden öffentliche Stellen zur Linderung der Armut; [aber] Pfarrer haben hier überhaupt keinen offiziellen Anteil.“ [Übersetzung MS] 3  Christoph Ramstein, „Pfarrbrüder“, „Pfarrconvent“ und Schweizerische Predigergesellschaft. Drei historische Beispiele der Zusammenarbeit und des Austauschs unter Pfarrpersonen der reformierten Schweiz im 19. Jahrhundert, in: Zwingliana 38 (2011), 175–209, 195–207.

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in Referaten behandelten Themen war der Frage gewidmet, wie die Kirche und ihre Pfarrer mit der Armut umgehen sollen.4 In diesem Zusammenhang wurden auch Diakonien erwähnt, die in Genf von der Kirche gegründet worden waren, um religiösen und sittlichen Missständen im Kanton zu begegnen. Hallers Replik bezieht sich auf diesen Zusammenhang: Während in Genf die Kirche eigene Institutionen gründete, um dem Elend der Armut zu begegnen, so Haller, liege in Bern die Armenfürsorge in den Händen des Kantons, und weder die Kirche noch ihre Geistlichen verfügten über einen eigenen Handlungsspielraum. An diesem Beispiel wird sichtbar, dass die kirchlichen Umstände, die Zuordnung von Kirche und Staat und damit auch „Diakonie im reformierten Protestantismus“5 der Schweiz ganz unterschiedlich sein konnten. Der folgende Beitrag versucht einen exemplarischen Einblick in diese Komplexität der Umstände und in die Vielfalt des Umgangs mit „Diakonie“ in der Schweiz des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen.

1. Vielfältige kirchliche Landschaft in der Schweiz Mit der Französischen Revolution veränderte sich die Schweiz tiefgreifend. Das Ancien Régime sollte endgültig verabschiedet werden. Die enge Symbiose zwischen weltlicher Obrigkeit und Kirche, die in den reformierten Ständen der Eidgenossenschaft zu „Magistratskirchen“ geführt hatte, sollte in einem langwierigen Prozess ausdifferenziert werden. Nach dem Einmarsch der französischen Truppen 1798 wurde von Frankreich eine Verfassung der „Helvetischen Republik“ eingesetzt, die einen zentral verwalteten Einheitsstaat mit mehreren Kantonen vorsah.6 Die erste Helvetische Verfassung hielt erstmals die religiöse Freiheit als persönliche Gewissensfreiheit fest. Neben diesem individuellen Grundrecht wurden alle Gottesdienste erlaubt. Allerdings konnte sich die Helvetische Republik in dieser Form nicht halten. Napoleon setzte 1803 eine Mediationsverfassung ein, welche die Verfassungen der damals 19 Kantone und die Bundesverfassung (Acte Fédéral) umfasste.7 Damit war die föderale Ordnung der Schweiz und der Kantone wieder berücksichtigt. Die Bundesverfassung enthielt kaum religionsrechtliche Bestimmungen, so dass die kirchlichen Angelegenheiten in die Kompetenz der Kantone fielen, was bis in die Gegenwart der Fall ist.8 Die Ausgestaltung der Kirchen und ihrer Zuordnung zum Staat ist daher in der Schweiz vielfältig und hängt von den kantonalen Regelungen 4  Actes (wie Anm. 2), 19: „Quelle doit être la position de l’Église et de ses ministres en présence du paupérisme?“ 5  Die 11. Internationale Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus vom 19.–21. März 2017 stand unter dem Thema: „‚Wir sollen menschlich sein ...‘ (Johannes Calvin). Diakonie im reformierten Protestantismus“. 6  Andreas Fankhauser, Art. Helvetische Republik, in: HLS 6 (2007), 258b–267a. 7  Andreas Fankhauser, Art. Mediationsakte, in: HLS 8 (2009), 410b–411a. 8  Dieter Kraus, Schweizerisches Staatskirchenrecht. Hauptlinien des Verhältnisses von Staat und Kirche auf eidgenössischer und kantonaler Ebene (Jus Ecclesiasticum 45), Tübingen 1993, 28–31.

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ab. Es gibt heute Kantonalkirchen, die auf privatrechtlicher Ebene organsiert sind, wie zum Beispiel Genf und Neuenburg, oder solche, die öffentlich-rechtlich organsiert sind, wie beispielsweise Zürich und Bern.9 Die Mediationsverfassung war nur bis zum Ende der napoleonischen Ära 1813 in Kraft. Erst im Zuge des Wiener Kongresses 1815 wurde ein neuer Bundesvertrag geschlossen, dem jetzt 22 Kantone angehörten.10 Damit waren zwei wesentliche Punkte verbunden: Zum einen verstärkten sich restaurative Tendenzen, die an den status quo ante der Helvetik anknüpfen wollten. Für die Kirchen wurde wieder eine staatskirchliche Organisation favorisiert. Zum anderen wurden teilweise die Kantone territorial neu geordnet, so dass konfessionell gemischte Kantone entstanden, wie beispielsweise die Kantone Bern und Genf.

Bildlegende: Die dunkelgrauen Gebiete zeigen die 19 Kantone, die spätestens seit der Mediation 1803 gleichberechtigte Mitglieder der Eidgenossenschaft waren: Appenzell-Innerrhoden (AI) und Appenzell-Ausserrhoden (AR) (zwei Halbkantone), Aargau (AG), Basel (BS), Bern (BE), Freiburg (FR), Glarus (GL), Graubünden (GR), Luzern (LU), Nidwalden (NW) und Obwalden (OW) (zwei Halbkantone), Schaffhausen (SH), Schwyz (SZ), Solothurn (SO), St. Gallen (SG), Waadt (VD), Tessin (TI), Thurgau (TG), Uri (UR), Zug (ZG), Zürich (ZH). Die grauen Gebiete waren schon vor der Helvetik 1798 mit der Eidgenossenschaft verbunden: Das Wallis (Nr. 1), die Stadt Genf mit einigen Landgemeinden (Nr. 3), das Fürstentum Neuenburg (Nr. 2), die Stadt Biel (Nr. 5) und der südliche Teil des Fürstbistums Basel (Nr. 4) waren Zugewandte Orte der Eidgenossenschaft. Die hellgrauen Gebiete hatten vor 1815 keine Beziehung zur Eidgenossenschaft: Der große Teil der Genfer Landgebiete (Nr. 6) gehörte vor 1798 teilweise 9  Reinhold Bernhardt, Die Evangelisch-reformierten Kirchen in der Schweiz: Volkskirche im Übergang, in: Martin Baumann / Jörg Stolz (Hg.), Eine Schweiz – viele Religionen. Risiken und Chancen des Zusammenlebens, Bielefeld 2007, 115–127, 122f. 10  Marco Jorio, Art. Wiener Kongress, in: HLS 13 (2014), 455b–456b; Tobias Kaest­ li (Hg.), Nach Napoleon. Die Restauration, der Wiener Kongress und die Zukunft der Schweiz 1813–1815 (Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 91), Baden 2016.

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zu Frankreich, teilweise zum Herzogtum Savoyen, nach 1798 zu Frankreich. Der nördliche Teil des Fürstbistums Basel (Nr. 7) und das Birseck (Nr. 8) waren 1792 bis 1814 Frankreich eingegliedert. Die nördlichen und südlichen Teile des Fürstbistums Basel (Nr. 7 und Nr. 4) sowie Biel (Nr. 5) wurden 1815 dem Kanton Bern zugeteilt. Die Stadt Genf war als freie Republik mit einigen Landgemeinden ein Zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft, dann 1798 bis 1814 als Departement ein Teil Frankreichs (Nr. 3) und kam erst 1815 als Kanton zur Schweiz, wobei weitere Landteile zur territorialen Abrundung eingebunden wurden (Nr. 6).11 Diese Gebiete, zuvor Frankreich oder dem Herzogtum Savoyen zugehörig, waren römisch-katholisch geprägt.12

Die restaurativen Tendenzen in den Kantonen nach dem Wiener Kongress wurden erst nach der Pariser Revolution im Juli 1830 durch eine Zeit der Regeneration abgelöst.13 In vielen Kantonen wurden nun die aristokratischen Ordnungen durch liberale Verfassungen abgelöst, die eine repräsentative Demokratie mit Gewaltenteilung, Wahlrecht und individuellen Freiheitsrechten einführten.14 Auf der Bundesebene setzten sich diese liberalen Kräfte erst 1848 mit der Gründung und der Verfassung des Bundesstaates durch. 1874 wurde die Bundesverfassung einer Totalrevision unterzogen, die noch vom Kulturkampf geprägt war.15 Wer also über die Konfessionen und ihre Kirchen, über christliche Vereine und Freikirchen, die erst in der Regeneration entstehen konnten, und über Diakonie in der Schweiz nachdenkt, muss einerseits die unterschiedlichen Kantone und andererseits die verschiedenen politischen Zeiten im Blick haben.

2. Enge Bindung der Kirche an den Staat: Diakonie im Kanton Bern Im Stand Bern kam es schon im 18. Jahrhundert zu einer flächendeckenden, territorialen Versorgung durch die staatliche Armenfürsorge.16 Grundlage dafür waren 11  Pierre Felder, Vom Ancien Régime zu den Anfängen der modernen Schweiz (18. Jahrhundert bis 1848), in: ders., Die Schweiz und ihre Geschichte, Zürich 22007, 215–273, 245 (mit Bild und Bildlegende). 12  Vgl. unten zu Genf. 13  Christian Koller, Art. Regeneration, in: HLS 10 (2011), 176a–177b. 14  Kraus (wie Anm. 8), 32. 15  Vgl. Kraus (wie Anm. 8), 32–38. 16  Zur Armenfürsorge im Bern des 18. Jahrhunderts vgl. Karl Geiser, Geschichte des Armenwesens im Kanton Bern von der Reformation bis auf die neuere Zeit, Bern 1894, 188–291; Regula Ludi, Frauenarmut und weibliche Devianz um die Mitte des 19. Jahrhunderts im Kanton Bern, in: Anne-Lise Head / Brigitte Schnegg (Hg.), Armut in der Schweiz (17.–20. Jahrhundert) (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 7/7), Zürich 1989, 19–32; Erika Flückiger-Strebel, Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert, Zürich 2002; dies., „Des Standes sanfter Wohlthats-Strom“. Staatliche Armenfürsorge auf der Berner Landschaft im 18. Jahrhundert, in: Von der Barmherzigkeit zur Sozialversicherung. Umbrüche und Kontinuitäten vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. De l´assistance à l´assurance sociale. Ruptures et continuités du Moyen Age au XXe siècle (Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 18/18), Zürich 2002, 45–57, 50; Heinrich Richard Schmidt, Handlungsstrategien und Problembereiche der Armenfürsorge im Alten Bern, in: André Holenstein / Béla Kapossy / Danièle Tosato-Rigo / Simone Zurbu-

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die Bettelordnungen von 1672 und 1690. Jeder Bewohner des Standes Bern, der noch kein Heimatrecht besaß, sollte ein solches am Ort erhalten, in dem er geboren oder schon lange ansässig war. Die Heimatgemeinden oder Burgergemeinden – jener Verband von Personen mit besonderen Rechten an einem bestimmten Ort – waren verpflichtet, für ihre verarmten Gemeindemitglieder zu sorgen. Regelmäßige Armensteuern, die von den Gemeindeangehörigen erhoben wurden, sollten die finanzielle Versorgung sichern und die bisherigen Formen der Armenfürsorge ergänzen. Die traditionelle Armenfürsorge umfasste die Verdingung – Platzierung von Kindern und Alten aus verarmten Familien bei fremden Familien gegen eine Entschädigung –, die Getreide- und Holzspende und die Zuweisung von Allmendland. Die Almosenkammer, die 1672 eingeführt worden war und mit Vertretern des Kleinen und des Großen Rates besetzt wurde, koordinierte und kontrollierte die Armenfürsorge, während die ausführenden Instanzen die Landvogteien und die Gemeinden waren. Die staatliche Hilfe durch die Almosenkammer sollte die primäre, kommunale Versorgung durch die Gemeinden subsidiär unterstützen. Daher wurde ein Bewilligungsverfahren eingerichtet, bei dem der Landvogt ein Gesuch bei der Almosenkammer stellen und zugleich die Gemeinde die Bedürftigkeit der Almosenempfänger sowie die kommunalen Leistungen belegen musste. Diese Gesuche wurden von den Pfarrern der Gemeinden verfasst, die oft auch deren Armengut verwalteten. Landvogt und Pfarrer wurden so zu den tragenden administrativen Figuren des Armenwesens in Bern.17 Die Gemeinden spielten in der Kooperation mit der Almosenkammer eine zentrale Rolle. Die Armenfürsorge wandelte sich in den ländlichen Gemeinden von einem freiwilligen Akt der christlichen Nächstenliebe zu einem faktischen Rechtsanspruch. In der Kooperation von Gemeinden und Obrigkeit wurden finanzielle und administrative Strukturen für die Armenfürsorge geschaffen, die bis ins 19. Jahrhundert Bestand haben sollten. 18 Die Armenordnung von 1807 auferlegte den Gemeinden die Unterstützung der Armen als Rechtspflicht. Den Armen wurde ein Beschwerderecht gegen die Gemeinden zugebilligt, sofern diese ihren Verpflichtungen nicht nachkamen.19 Grundlage dieser Armenordnung war das erwähnte Prinzip der Burgergemeinde oder der Heimatgemeinde: Jede Gemeinde musste bei Verarmung ihre Burger unterstützen. Auch wenn diese auswärts als Zuzüger arbeiteten und sich dort als Hintersassen niederließen, blieb die Burgergemeinde zuständig. Die Hintersassen bechen (Hg.), Reichtum und Armut in den schweizerischen Republiken des 18. Jahrhunderts. Akten des Kolloquiums vom 23.–25. November 2006 in Lausanne. Richesse et pauvreté dans les républiques suisses au XVIIIe siècle. Actes du colloque de Lausanne des 23–25 novembre 2006, Genève 2010, 239–251. 17  Flückiger-Strebel, „Wohlthats-Strom“ (wie Anm. 16), 46–49. 18  Flückiger-Strebel, „Wohlthats-Strom“ (wie Anm. 16), 55. 19  Verordnung über die Besorgung der Armen [16.–19. und 22. Dezember 1807], in: Gesetze und Dekrete des großen und kleinen Raths des Cantons Bern. Dritter Band, von 1807 bis 1810, Bern: in der hochobrigkeitlichen Buchdruckerey, 1811, 101–109, 101 (§ 1) und 106f. (§ 17). Zur Armenfürsorge im Bern des 19. Jahrhunderts vgl. Geiser (wie Anm. 16), 292–520; Niklaus Ludi, Die Armengesetzgebung des Kantons Bern im 19. Jahrhundert. Vom Armengesetz von 1847 zum Armen- und Niederlassungsgesetz von 1897, Diss. phil. Universität Bern, Bern 1975.

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zahlten ihrer Wohngemeinde ein Einzugsgeld, ein jährliches Hintersassengeld und eine Armensteuer (Armentelle). Verkehrstechnisch und wirtschaftlich günstig gelegene Gemeinden konnten Zuzüger und Hintersassen gewinnen, die an den Lasten der Armenfürsorge mittrugen, während kleine Gemeinden, die mit Abwanderung lebten und kaum Zuzüger hatten, auch für ihre auswärtigen Armen aufkommen mussten. Die Burgerrechte wurden nicht geöffnet, obwohl gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen eine höhere Mobilität bewirkten. Diese Umstände führten zu enormen Unterschieden unter den Gemeinden und zu schwerwiegenden Problemen in der Armenfürsorge.20 Die liberale Verfassung der Regeneration 1831 brachte zwar definitiv das Prinzip der Einwohnergemeinden,21 schuf aber nur stockend und erst spät Veränderungen auch im Armenwesen.22 Die neue Kantonsverfassung von 1846 hob die gesetzliche Pflicht der Heimatgemeinden in der Unterstützung der Armen auf. Das Armengesetz von 1847 verbot die Zurückweisung der Armen an ihre Heimatgemeinden, so dass erstmals die Wohngemeinde alle Armen, die Burger und die Hintersassen unterstützen mussten. Freiwillige Armenvereine sollten kirchgemeindeweise gegründet werden, welche die Hauptlast der Armenfürsorge tragen sollten. Die Armensteuer wurde abgeschafft. Der Kanton verpflichtete sich, Armenerziehungs-, Kranken- und Zwangsarbeitsanstalten zu errichten, um die Gemeinden zu entlasten. Dieses neue Armengesetz aber scheiterte kolossal. Zwei wesentliche Gründe waren ausschlaggebend: Einerseits war der Übergang der Unterstützung von der Heimatgemeinde zur Wohngemeinde nicht einfach umzusetzen, weil die Gemeinden die Hintersassen zur Entlastung gerne an die Heimatgemeinden verwiesen. Andererseits war der Wechsel von der Unterstützungspflicht zur freiwilligen Wohltätigkeit, welche stark durch christliche Prinzipien wie der Nächstenliebe geprägt war, nicht im Handumdrehen zu haben. Nachdem das Gesetz vier Jahre in Kraft war, bestanden in fast der Hälfte der Kirchgemeinden noch keine Armenvereine.23 Erst das letzte Armengesetz 1857/58 führte zu einem Durchbruch: Die Einwohnergemeinde wurde definitiv zur Trägerin der kommunalen Armenfürsorge. Ein Rechtsanspruch auf Armenfürsorge bestand aber weiterhin nicht. Die Unterscheidung zwischen „Notarmen“, die ohne Vermögen und Arbeitsfähigkeit bleibend der Armut ausgesetzt waren, und „Dürftigen“, die zwar arbeitsfähig, aber durch unterschiedliche Umstände zeitweise bedürftig waren, sollte zu unterschiedlichen Armenpflegen führen. Für die Notarmenpflege war der Einwohnergemeinderat zusammen mit staatlich eingesetzten Armeninspektoren zuständig. Für die 20  Ludi (wie Anm. 19), 42–51; Rafael Schläpfer, Kantonale Armenreform und kommunale Fürsorgepolitik. Eine Untersuchung über Armenfürsorge im Kanton Bern im 19. Jahrhundert mit dem Schwerpunkt der Einwohnergemeinde Worb (Berner Forschungen zur Regionalgeschichte 1), Nordhausen 2004, 38–41. 21  Gesetz über die Organisation und die Geschäftsführung der Gemeindbehörden, 20. Dezember 1833, in: Gesetze, Dekrete und Verordnungen der Republik Bern. Dritter Band, Jahrgang 1833, Bern: zu finden im Büreau des Amtsblatts, 1833, 264–287. 22  Ludi (wie Anm. 19), 66–85. 23  Ludi (wie Anm. 19), 107–119.119–130; Schläpfer (wie Anm. 20), 43–47.

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Dürftigenpflege sollte die freiwillige Wohltätigkeit tragend sein. Diese sollte durch zwei Institutionen gestützt und organisiert werden, nämlich durch eine Spendund eine Krankenkasse. Die Spendkassen sollten in jeder Einwohnergemeinde gegründet und ausgestattet werden durch Kirchensteuern, Legate, Vergabungen, Beiträge der Mitglieder und freiwillige Kantonsbeiträge sowie durch freiwillige Liebessteuern, die der Regierungsrat einmal jährlich in den Kirchen sammeln lassen konnte. Die Mitgliedschaft bei den Spendkassen war obligatorisch. Die Krankenkassen sollten kirchgemeindeweise gegründet werden, ärztliche Hilfe leisten und armen Dürftigen beistehen. Verwaltet wurden die Krankenkassen durch die Präsidenten der Spendkassen, die Pfarrer und die Lehrer.24 Ein Niederlassungsgesetz regelte den Aufenthalt und die Niederlassung in den Einwohnergemeinden, ein Armenpolizeigesetz gab den Gemeinde- und Armenbehörden ein Disziplinarrecht gegenüber Bedürftigen an die Hand.25 Überblickt man diese Entwicklungen in der Armen- und Krankenfürsorge, lassen sich die folgenden Punkte festhalten: (1.) Der Kanton regelte den Bereich der Armen- und Krankenfürsorge. Der Kirche kam dabei keine eigenständige Aufgabe zu. (2.) Die Pfarrerschaft wurde bei der Dürftigenpflege in den Krankenkassen eingebunden. Die „organsierte freiwillige Wohltätigkeit“26 im Bereich der Dürftigenpflege war das Feld, auf dem sich die Pfarrer und die Kirchgemeindeglieder einbringen konnten. (3.) Wenn Haller in der zu Beginn geäußerten Einschätzung die nahezu vollständige Einbindung der Kirche und ihrer Geistlichen durch den Staat monierte, war das eine durchaus realistische Einschätzung der zeitgenössischen Situation. Die zwei Predigerordnungen, die im 19. Jahrhundert erschienen sind, ergänzen das Bild. Die Predigerordnung von 1824, also noch vor der Regeneration, nahm das Armengesetz von 1807 auf und teilte der Pfarrerschaft vor allem Aufgaben der Aufsicht zu: Der Pfarrer sollte bei der Abnahme der „Kirchen= und Almosen=Rechnung“ anwesend sein, sollte auf die Wahrung des Kirchenguts achten und die Aufsicht über die Armenanstalten wahrnehmen.27 Die Verwaltung des Armenguts war in der Armenordnung von 1807 ausdrücklich amtlichen Aufsehern, den „Allmosnern“, übergeben worden.28 Die Gemeinde- und Predigerordnung von 1880/81 erwähnte die vom Armengesetz 1857 vorgesehene Stelle der Pfarrer in der Krankenkasse, empfahl aber auch die Bereitschaft für eine Wahl in Spendkassen sowie die Beteiligung im Armeninspektorat oder der Armenbehör24  Ludi (wie Anm. 19), 161–171; Schläpfer (wie Anm. 20), 48–54. 25  Ludi (wie Anm. 19), 171–174.174–176; Schläpfer (wie Anm. 20), 54–56.56–58. 26  Der Begriff stammt von Carl Schenk, der als Regierungsrat für das Armengesetz 1857 zuständig war; vgl. Ludi (wie Anm. 19), 169. 27  Prediger=Ordnung für den Evangelisch=Reformirten Theil des Cantons, Bern: gedruckt bey Ludwig Albrecht Haller, obrigkeitlichem Buchdrucker, 1824, 36f. Vgl. dazu die Verordnung über die Besorgung der Armen (wie Anm. 19), 107f. (§ 19), wo den Pfarrern die Aufgaben der Aufsicht und Berichterstattung übertragen wird. Außerdem sollen sie auf den Gottesdienstbesuch der Armen, den Schulbesuch von deren Kindern sowie Ernährung, Kleidung und Anleitung „zu Fleiß und Arbeit“ achten. 28  Verordnung über die Besorgung der Armen (wie Anm. 19), 102 (§ 4).

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de.29 Ausdrücklich wurde „dem Geistlichen das Feld der freiwilligen Armen= und Krankenpflege zur Bebauung zugewiesen.“30 Zusammen mit dem Kirchgemeinderat sollte er „die Lücken auszufüllen suchen, welche die gesetzliche Armen= und Krankenpflege übrig läßt.“31 Erwähnt wurden auch entsprechende Institutionen wie Erziehungs- und Versorgungsanstalten, Spitäler, Krankenkassen, Vereine für Gesundheitspflege oder Abstinenz.32 Es wird deutlich, dass sowohl die Kirchgemeinden als auch die Pfarrerschaft eine subsidiäre Funktion übernehmen sollten, die mit der öffentlichen, kantonalen Armen- und Krankenfürsorge konvergierte. Fragt sich zum Schluss, wie die konkrete Umsetzung vor Ort aussah. Am Beispiel der ländlichen Gemeinde Worb, ungefähr zwölf Kilometer östlich von Bern gelegen, zeigt sich, dass die Berner Armenfürsorge wesentlich kommunal organisiert war und auch entsprechend umgesetzt wurde.33 Zugleich wird sichtbar, dass in Worb schon früh eine freiwillige Armenfürsorge in Vereinen oder ähnlichen Formen stattfand. Ich nenne einige Beispiele: 1817 und 1818 grassierte in ganz Europa der Hunger. Vorausgegangen war 1815/16 ein frostiger Winter, dem ein kalter, nasser Sommer folgte. Es kam zu Ernteausfällen und Lebensmittelknappheit. In Worb entstand noch 1816 eine „Musanstalt“, kein Verein, sondern eine Kommission, wahrscheinlich mit einem Reglement, überliefert sind lediglich Protokolle. Täglich wurde während beinahe einem Jahr eine warme Mahlzeit an Notleidende, und zwar Burger und Hintersassen, ausgegeben. Mitglieder der Kommission waren u.a. der Pfarrer, der Statthalter, der Gemeindepräsident, der Seckelmeister und ein Sekretär.34 Die Initiative ging weniger von privaten Personen aus als vielmehr von der Gemeinde, wobei unklar ist, ob der Präsident der Kirchgemeinde oder der Viertelsgemeinde vorstand. Der Seckelmeister war wohl für die Finanzen der Armenkommission zuständig, während der Sekretär zugleich Amtsweibel und Chorrichter war.35 Bürgerliche und kirchliche Gemeinde waren hier noch nicht ausdifferenziert.36 Das Gemeindewesen wurde mit dem Gemeindegesetz 1833 neu geordnet.37 Pfarrer und Gemeindepräsident arbeiteten selbstverständlich zusam29  Gemeinde- und Prediger-Ordnung für die evangelisch=reformirte Kirche des Kantons Bern (Vom 9. November 1880), Bern: Stämpfli’sche Buchdruckerei, 1881, 65. 30  Gemeinde- und Prediger-Ordnung (wie Anm. 29), 66. 31  Ebd. 32  Gemeinde- und Prediger-Ordnung (wie Anm. 29), 67. 33  Vgl. Schläpfer (wie Anm. 20). 34  Matthias Baumer, Private und nichtstaatliche Armenfürsorge in der Berner Landgemeinde Worb im 19. Jahrhundert (Berner Forschungen zur Regionalgeschichte 4), Nordhausen 2004, 83–86. 35  Baumer (wie Anm. 34), 97f. 36  Vgl. Kraus (wie Anm. 8), 55–57. Zur „Gemeinde“ in der Frühen Neuzeit vgl. Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 41), Stuttgart / Jena / New York 1995, 41–58. 37  Gesetz über die Organisation und die Geschäftsführung der Gemeindbehörden (wie Anm. 21); Daniel Weber, Gemeindepolitik und Gemeindeverwaltung. Von der Dorfgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen, in: Peter Martig / Anne-Marie Dubler / Christian Lüthi / Andrea Schüpbach / Martin Stuber / Stephanie Summermatter (Hg.), Berns moderne Zeit. Das 19. und 20. Jahrhundert neu entdeckt, Bern 2011, 86–90.

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men. Tragend war die traditionelle christliche Auffassung, wonach in Notzeiten den Armen und Bedürftigen entsprechende Hilfe zu leisten sei.38 Wie schon erwähnt, sollten gemäß der liberalen Armengesetzgebung 1847 in den Gemeinden Armenvereine gegründet werden. In Worb konstituierte sich die ganze Einwohnergemeinde zu einem Armenverein 1851. Privatrechtlich organisiert, nahm der Verein doch einen öffentlichen Auftrag wahr, nämlich die Armenfürsorge freiwillig zu organisieren. Dem Verein standen lokale politische Amtsträger vor. Es vermischten sich hier die vereinsrechtliche, private Form und die öffentliche, gesetzlich vorgeschriebene Form. Die Einwohnergemeinde war „zur ‚freiwilligen Teilnahme‘ verpflichtet“.39 In der letzten Phase unter dem Armengesetz 1857/58 wurde eine regionale Armenerziehungsanstalt in Enggistein, ungefähr drei Kilometer östlich von Worb, 1860 auf christlichen Grundlagen gegründet, aber ohne sichtbare Beteiligung des Pfarrers oder der Kirchgemeinde.40 1866 wurde ein Kranken- und Hilfsverein geschaffen.41 Ein Allgemeiner Krankenverein Worb entstand wohl vor 1891, dem der Pfarrer als Präsident vorstand.42 Als Fazit kann festgehalten werden, dass sowohl in der staatlichen als auch in der privaten Armen- und Krankenfürsorge der Pfarrer und die Kirchgemeinde zwar auftaucht, ein eigenständiges diakonisches Handeln der Kirchgemeinde aber nicht sichtbar wird.

3. Loslösung der Kirche vom Staat: Diakonie im Kanton Genf Wie wir schon gesehen haben, geriet Genf 1798 bis 1814 unter französische Herr­schaft, wurde der Grande Nation eingegliedert und war der Hauptort des Departements Léman.43 1815 trat Genf als Kanton der Eidgenossenschaft bei. Das Territorium wurde mit weiteren Gebieten abgerundet, so dass ein konfessionell gemischter Kanton entstand.44 Die Phase der Restauration nach 1815 brachte zwar auf institutioneller Ebene ungefähr den Status der Genfer Kirche, wie er vor der Revolution bestand, zugleich aber kam es zu großen inneren und äußeren Spannungen. Der Réveil führte in zwei Phasen zwischen 1817 und 1849 38  Baumer (wie Anm. 34), 98f. 39  Baumer (wie Anm. 34), 118f., Zitat 119. 40  Baumer (wie Anm. 34), 134–165, 134–136. 41  Baumer (wie Anm. 34), 165–186. 42  Baumer (wie Anm. 34), 186–199, 186–189. 43  Zu Genf im 19. Jahrhundert vgl. Irène Herrmann, Genève entre République et Canton. Les vicissitudes d’une intégration nationale (1814–1846), Laval 2003; Michel Grandjean / Sarah Scholl (Hg.), L’état sans confession. La laïcité à Genève (1907) et dans les contextes suisse et français (Histoire et Société 51), Genève 2010; Frédéric Amsler / Sarah Scholl (Hg.), L’apprentissage du pluralisme religieux. Le cas genevois au XIXe siècle (Histo­ i­re et Société 58), Genève 2013; Sarah Scholl, En quête d’une modernité religieuse. La création de l’église catholique-chrétienne de Genève au cœur du Kulturkampf (1870–1907), Neuchâtel 2014. 44  Sarah Scholl / Michel Grandjean, Introduction, in: Grandjean / Scholl (wie Anm. 43), 7–20, 8–11; Scholl (wie Anm. 43), 17f.

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zur Gründung von drei unabhängigen Gemeinden, die sich dann zur Église évangélique zusammenschlossen. In der zweiten Phase wurde die Société évangélique 1831 gegründet, dann folgten eine eigene theologische Schule neben der Akademie und eine eigene Kirchgemeinde.45 Zugleich kamen die Privilegien der protestantischen Kirche unter Druck. Nach der Revolution der Radikalen führte die neue demokratische Verfassung von 1847 zur rechtlichen Gleichstellung der Konfessionen. Das Konsistorium, das mit 25 Laien und sechs Geistlichen besetzt zu einem gemischten Gremium geworden war, übernahm die administrative Leitung der Kirche.46 Das allgemeine Schulwesen ging in die Obhut des Kantons, der Religionsunterricht ging an die Geistlichen.47 In diesen Zusammenhang der tiefgreifenden Umwälzungen der protestantischen Kirche und der Loslösung vom Staat gehört die Einrichtung von Diakonien („diaconies“). Die Stadt Genf bildete eine Kirchgemeinde mit fünf Kirchen: St. Pierre, Madelaine, St. Gervais, Fusterie oder Temple Neuf und Auditoire. Das Konsistorium wollte vier Quartiergemeinden einrichten, was der Staatsrat aber nicht genehmigte. Für die Seelsorge und die Armenpflege war die Stadt in 26 Seelsorgebezirke („dizaines“) eingeteilt, die auf die 15 Pfarrer verteilt waren.48 Über die Stadt mit ihren Kirchen wurde nun eine weitere Struktur mit fünf Diakonien („diaconies“) gelegt. Den Kirchen nahezu entsprechend wurden die Seelsorgebezirke auf die Diakonien St. Pierre, Madelaine, Fusterie oder Temple Neuf sowie St. Gervais Süd und Nord aufgeteilt. Während auf dem Land das parochiale Prinzip fortbestand, wurden in der Stadt die Diakonien vom Konsistorium eingeführt.49 Zusammen mit den Pfarrern sollten die Diakone sich um die religiösen und sittlichen Angelegenheiten sowie die Werke der Wohltätigkeit („les oeuvres de bienfaisance“) kümmern. Eine Diakonie bestand aus den Pfarrern, deren Seelsorgebezirke diese umfasste, und aus den Diakonen. Diese wurden auf Vorschlag der Pfarrer vom Konsistorium gewählt. Die Aufgaben der Diakone bestand in der Unterstützung der Pfarrer (1.) bei der Aufsicht über die religiöse Erziehung der Jugend, (2.) bei der Suche von Finanzen für die Hilfswerke, (3.) bei der Verteilung der Unterstützungsleistungen und (4.) bei allem, was das christliche Leben der Gemeinde fördern sollte.50 Als die Diakonie der Fusterie ihr Reglement dem Konsistorium zur Genehmigung vorlegte, erhielt sie eine aufschlussreiche Rückmeldung, nämlich 45  Ulrich Gäbler, Evangelikalismus und Réveil, in: ders. (Hg.), Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (Geschichte des Pietismus 3), Göttingen 2000, 27– 84, 44–51. 46  Véronique Mettral, La politique religieuse de James Fazy (1794–1878), in: Amsler / Scholl (wie Anm. 43), 63–75, 69–73. 47  G.[eorg] Finsler, Kirchliche Statistik der reformierten Schweiz, Zürich 1854, 545. 48  Finsler (wie Anm. 47), 510. 49  Finsler (wie Anm. 47), 538. 50  H.[enri] Heyer, De l’Origine et du But des Diaconies (Annexe, Réunion générale du Consistoire et des Diaconies, 27 novembre 1900), in: Mémorial des Séances du Consistoire de L’Église Nationale Protestante de Genève, 28me Année – 1900, Genève 1900, 453–480, 473f.; L.[ouis] Johannot, L’activité des Diaconies de 1850 à 1900, in: Mémorial des Séances du Consistoire de L’Église Nationale Protestante de Genève, a.a.O., 481–499; Finsler (wie Anm. 47), 538f.

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dass nicht die Werke der Wohltätigkeit, sondern die religiöse und sittliche Pflege an erster Stelle stehen sollte.51 In einem Bericht über die Tätigkeit zum Jubiläum der ersten 50 Jahre wurden unterschiedliche Projekte der Diakonien erwähnt. So wurde ein öffentliches Waschhaus eingerichtet, das vor allem bedürftigen Familien helfen sollte. Die Sonntagsheiligung sollte gefördert werden. Händler und Unternehmer wurden angehalten, ihre Geschäfte am Sonntag zu schließen. Eine Anstalt für Kinder wurde eingerichtet oder Dienstboten wurden unterstützt. Auch äußere Beeinträchtigungen der Gottesdienste wurden durch die Diakonien behandelt: So brachten beispielsweise Milchfrauen ihre Produkte in die Stadt mit Karren, die von Eseln gezogen waren. Die Tiere wurden nahe der Kirche Fusterie angebunden, so dass sie durch ihr ohrenbetäubendes „Konzert“ den Gottesdienst störten.52 Ein wichtiger Teil der Aktivitäten war der religiösen Kindererziehung gewidmet. Es wurden unterschiedliche Modelle praktiziert, die sich offensichtlich mehr oder weniger bewährten. Das Konsistorium bat die Diakonien um einen Unterricht zur Vorbereitung auf die „instruction religieuse“, was wahrscheinlich den Konfirmandenunterricht meinte, der allein obligatorisch war.53 Allerdings gab es eine ansehnliche Zahl von Schulen in den Diakonien („Ecoles de diaconie“), die für Kinder zwischen fünf und 15 Jahren angeboten wurden und am Morgen, Nachmittag oder Sonntag stattfanden. Es wirkten Pfarrer, Diakone und Frauen mit.54 Auch mehrere Bibliotheken wurden unterhalten.55 Wie bei den Schulen wurden die Diakonien auch in der Krankenfürsorge durch Frauen unterstützt. Schon vor der Gründung der Diakonien gab es die Krankenfürsorge der Frauen („dispensaire des dames“), die Kranke zu Hause besuchten und pflegten.56 Für die Einnahmen wichtig waren mehrere Nähstuben („ouvroir“), die wiederum von Frauen getragen waren.57 Die Kollekten der Gottesdienste gingen zu Beginn an das Spital. Die Diakonien wurden durch Spenden und Bazare finanziert. Dann wurden die Spenden und schließlich auch die Kollekten zusammengenommen und nach einem Verteilschlüssel vom Konsistorium wieder auf die Diakonien verteilt.58 Auch Vorsorgekassen wurden eingerichtet.59 Betrachtet man diese Umstrukturierung als Ganzes, dann zeigt sich, dass mit dieser neuen Institution der Diakonien eine eigene kirchliche Größe entstanden war, die nicht vom Kanton abhing, sondern vom gemischten, demokratisch gewählten Konsistorium gegründet wurde. Die Diakone waren Laien, vom Konsistorium auf Vorschlag der Pfarrer gewählt, die ehrenamtlich arbeiteten. Diakonien unterstützten sowohl die öffentliche Wohlfahrt wie auch schon bestehende private 51  52  53  54  55  56  57  58  59 

Johannot (wie Anm. 50), 482. Johannot (wie Anm. 50), 482–485. Johannot (wie Anm. 50), 485f. Finsler (wie Anm. 47), 545; vgl. Johannot (wie Anm. 50), 485–490. Johannot (wie Anm. 50), 490f. Johannot (wie Anm. 50), 491f. Johannot (wie Anm. 50), 492–494. Johannot (wie Anm. 50), 494–496. Johannot (wie Anm. 50), 496f.

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Werke.60 In der Armenfürsorge wirkten sie subsidiär zu den bestehenden Werken. Die Diakone arbeiteten in enger Kooperation mit den Pfarrern zusammen. Sie verstanden sich als Koordinatoren der Hilfe, die unterstützten, wenn die öffentlichen Maßnahmen nicht ausreichten. Dies taten sie aber nur über kurze Zeit und suchten weitere Hilfe, wenn längerfristige Engagements notwendig waren.61 Trotzdem blieb mit der kirchlichen und der finanziellen Unabhängigkeit vom Staat die Freiheit, die Projekte selbst zu wählen und das Engagement auszugestalten.

4. Christliche Vereine zwischen Kirche und Staat Das diakonische Handeln wird häufig im Zusammenhang mit der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts genannt. Unter Mitwirkung der Deutschen Christentumsgesellschaft wurden in Basel mehrere Vereine gegründet wie die Bibelgesellschaft (1804), die Basler Mission (1815), die Traktatgesellschaft zur Verbreitung christlicher Schriften (1802) oder der Verein der Freunde Israels (1820). Es folgten weitere Institutionen wie die Pilgermission St. Chrischona (1840), die Diakonissenanstalt in Riehen (1852) oder Sonntagssäle für Gesellen, Lehrlinge und Schüler (1832).62 In Bern kam es zu vergleichbaren Gründungen, die teilweise mit den Basler Institutionen verbunden waren, so beispielsweise die Bibelgesellschaft, die 1816 gegründet wurde und sich 1839 mit dem Missionskomitee zusammenschloss,63 mehrere Rettungs- und Armenanstalten wie die erwähnte in Enggistein oder Sonntagssäle.64 Der Genfer Réveil wirkte sich auf die Gründung Evangelischer Gesellschaften aus, die in Genf und Bern 1831 oder in Zürich 1835 gegründet wurden. Ziel war es, die Treue zur Bibel und die Orientierung an den Bekenntnissen innerhalb der etablierten Kirchen zu wahren. Die Vereine verfügten über eigene Räume für Zusammenkünfte und stellten auch Prediger an.65 Schon 1834 beschloss das Komitee der Evangelischen Gesellschaft in Bern, sich für die Unterstützung der Armen einzusetzen. Es wurde eine Armenkasse eingerichtet, die durch Beiträge von 60  Actes (wie Anm. 2), 36. 61  Actes (wie Anm. 2), 36f.; zeitgenössische Beobachter haben in den Diakonien eine Analogie zum Modell der Armenfürsorge von Thomas Chalmers in Glasgow gesehen (37); vgl. dazu Ulrich Gäbler, Thomas Chalmers. Die neue Kirche, in: ders., „Auferstehungszeit“. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts, München 1991, 29–54, 41–47. 62  Alphons Thun, Die Vereine und Stiftungen des Kantons Baselstadt im Jahre 1881. Auf Grund von Erhebungen der statistisch-volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Basel bei Anlass der Schweizerischen Landesausstellung in Zürich 1883, Basel 1883, 4–7.9.20. 63  Finsler (wie Anm. 47), 121; Hans Hauzenberger, Basel und die Bibel: Die Bibel als Quelle ökumenischer, missionarischer, sozialer und pädagogischer Impulse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Jubiläumsschrift der Basler Bibelgesellschaft (Neujahrsblatt. Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige 174), Basel 1996, 94. 64  Finsler (wie Anm. 47), 123. Peter Chmelik, Armenerziehungs- und Rettungsanstalten. Erziehungsheime für reformierte Kinder im 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Schweiz, Diss. phil. Universität Zürich 1975, Zürich 1978, mit einem Verzeichnis der Anstalten (402–417). 65  Gäbler (wie Anm. 45), 48–55.

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Mitgliedern des Komitees und später aus einer besonderen Armenbüchse gespeist wurde. Unterstützung sollten arme Notleidende erhalten, die unverschuldet in Armut gerieten, bevorzugt Glaubensgenossen, wobei aber der Besuch der Erbauungsstunden nicht vorausgesetzt wurde.66 Die durch die Kartoffelkrankheit ausgelöste Hungersnot in weiten Teilen Europas führte 1846 zur Gründung des „Nothvereins“, der wesentlich von Persönlichkeiten der Evangelischen Gesellschaft getragen wurde. Die Stadt wurde in mehrere Quartiere aufgeteilt. Für jedes Quartier war ein Quartiervorsteher verantwortlich, dem Armenbesucher unterstellt waren. Jeder Armenbesucher betreute ungefähr sechs Familien, die er wöchentlich aufsuchte. Für jede Familie führte er Buch über die Bedürfnisse. Art und Umfang der Hilfe wurden dann vom Quartierkomitee festgelegt. Der Armenbesucher sollte das Vertrauen der Familien gewinnen, sie in finanziellen Angelegenheiten und bei der Suche nach Arbeit beraten. Ziel war es, dass die Familien möglichst schnell wieder auf eigenen Füßen standen. Aufschlussreich ist die Entwicklung des Vereins, der ganz der privaten Initiative entsprungen war. Schon 1851 wurde er zu einem der „freiwilligen Armenvereine“, die das Armengesetz 1847 kirchgemeindeweise vorgesehen hatte. Der schon bestehende private Verein übernahm diese Funktion in Bern. Bei der Revision des Gesetzes 1857 schlug der Gemeinderat vor, dass der Armenverein die gesamte Armenpflege der Notarmen und der Dürftigen für die Stadt übernehmen sollte. Tatsächlich zögerte der Armenverein, ließ sich dann aber doch in die öffentliche, kommunale Funktion einbinden.67 Relativ früh wurden in Bern die Impulse der Inneren Mission aufgenommen. Im Jahr 1849 beauftragte die Synode der evangelisch-reformierten Landeskirche eine „Commission für Seelsorge und innere Mission“ damit, einen Bericht über den religiösen und sittlichen Zustand im Kanton Bern abzufassen. Mit einem Kreisschreiben vom 15. September 1849 wurden alle Pfarrer aufgefordert, ihre Einschätzungen der religiösen und sittlichen Schwierigkeiten in den Kirchengemeinden, ihre Bemühungen dagegen und ihre seelsorgerliche Tätigkeit mitzuteilen. Es gingen 44 Berichte ein, was nicht ganz einem Viertel der Pfarrerschaft des ganzen Kantons entsprach.68 Der Bericht nannte unter den Maßnahmen gegen die festgestellten Missstände neben den traditionellen kirchlichen Amtstätigkeiten wie Haus- und Krankenbesuche des Pfarrers auch und besonders die Veranstaltungen und Angebote, wie sie die Innere Mission propagierte. So wurden erwähnt: „Localpredigten und Bibelstunden“ zur Erbauung in Schul- und Privathäusern am Sonntagnachmittag, an Wochentagen oder am Abend, Missionsstunden der Missionsvereine, Erbauungsstunden der Evangelischen Gesellschaft, zur Erziehung und 66  Hansueli Ramser, Die Evangelische Gesellschaft des Kantons Bern im Dienst der Ausbreitung des Reiches Gottes, in: Rudolf Dellsperger / Markus Nägeli / ders., Auf dein Wort. Beiträge zur Geschichte und Theologie der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern im 19. Jahrhundert. Zum 150jährigen Bestehen der Evangelischen Gesellschaft hg. v. Hauptkomitee, Bern 1981, 15–151, 42. 67  Ramser (wie Anm. 66), 43–46. 68  Bericht der für die Seelsorge und innere Mission niedergesetzten Commission an die Generalsynode 1850, o.O. u. o.J. [Bern 1850], 1–3, der aber auch 45 Antworten erwähnt (38); zur Zahl der Pfarrstellen vgl. Finsler (wie Anm. 47), 115f.

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Bildung Arbeitsschulen für Mädchen, Handwerksschulen, Sonntagsschulen, aber auch Armenerziehungs- und Rettungsanstalten oder Abstinenzvereine.69 Auch die freiwilligen Armenvereine, die seit 1847 in den Kirchgemeinden gegründet werden sollten, wurden aufgeführt. Die Erfahrungen mit diesen neuen Vereinen seien zwar noch gering, es bestehe auch Misstrauen, weil oft die persönliche Liebestätigkeit fehle, doch sei Besserung beim Bettel und bei der Versorgung von in fremden Familien platzierten Kindern (Verdingkinder) sichtbar.70 Allerdings waren Stellung und Funktion der Armenvereine als kirchliche oder staatliche Institutionen umstritten: „Während die Einen bestimmt feststellen, eine christliche Diakonie sei ohne Armenverein unausführbar und ohne geistliche Hülfe sollte keine leibliche gereicht werden, sind Andere der Ueberzeugung, Armenväter seien eben keine Missionäre und es bleibe sehr mißlich, Gottes Wort und Almosen mit derselben Hand darzubieten.“71 Aufschlussreich für unseren Zusammenhang ist zudem, dass unter den Vorschlägen für Verbesserungen gefordert wird, die Stellung von Ältesten, Diakonen und Diakonissen sowie engagierten Gemeindegliedern müsse geklärt werden. Pfarrer müssten eine stärker praktisch ausgerichtete Bildung und zur Diakonie berufene Gemeindeglieder eine entsprechende Ausbildung in besonderen Anstalten erhalten.72 In diesem frühen Bericht für die Berner Synode sind kirchliche, staatliche und auch vereinsrechtliche Institutionen, die sich diakonisch engagierten, noch nahe beisammen. Die Organisation diakonischer Vereine auf kantonaler Ebene ließ lange auf sich warten. Erst 1883 wurde ein „Berner Verein für kirchliche Liebestätigkeit“ gegründet, der neben dem Zürcher Verein von 1904 der einzige kantonale Verein bleiben sollte.73 Auch auf der Ebene der Schweiz begegneten die Kirchen der Inneren Mission mit Skepsis. Dazu trugen sicherlich auch die theologischen Auseinandersetzungen um liberale und konservative kirchliche sowie freikirchliche Positionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei. Erst 1895 erklärte die Schweizerische Predigergesellschaft, dass es eine Pflicht der Kirche sei, sich um die Werke der Inneren Mission zu kümmern, und übertrug einer kleinen Kommission die Aufgabe, das weitere Vorgehen zu klären. Ein Jahr später beschloss die Versammlung auf Antrag dieser Kommission, eine ständige „Schweizerische Kommission für kirchliche Liebestätigkeit“ einzusetzen. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK), gegründet im Jahr 1920, lehnte die Übernahme der 69  Bericht (wie Anm. 68), 16–22. 70  Bericht (wie Anm. 68), 19f. 71  Bericht (wie Anm. 68), 20. 72  Bericht (wie Anm. 68), 24. 73  E.[rnst] Rolli, Bernischer Verein für kirchliche Liebestätigkeit, in: Unser Dienst am Bruder. Die Werke der Inneren Mission und Evangelischen Liebestätigkeit in der Schweiz, hg. v. Schweizerischen Verband für Innere Mission und Evangelische Liebestätigkeit, Zürich o.J. [1940], 272–276; O. Winkler, Zürcher Verband für kirchliche Liebestätigkeit, in: Unser Dienst am Bruder, a.a.O., 276f.; W.[ilhelm] Bernoulli, Schweizerischer Verband für Innere Mission und evangelische Liebestätigkeit, in: Handbuch der Reformierten Schweiz, hg. v. Schweizerischen Protestantischen Volksbund, Zürich 1962, 395–397, 396.

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Kommissionsaufgaben ab, so dass die Kommission 1925 aufgelöst wurde. Die Schweizerische reformierte Predigergesellschaft wählte daraufhin eine „Soziale Studienkommission“. 1927 endlich kam es dann zur Gründung des „Schweizerischen Verbandes für Innere Mission und Evangelische Liebestätigkeit“.74 Diese Zusammenführung auf der Bundesebene war mühsam und dauerte lange. Die Institutionen waren an die einzelnen Kirchen gebunden. Die Ausstrahlung in der Schweiz war daher regional beschränkt.

5. Ergebnisse 1. Diakonie in der Schweiz des 19. Jahrhunderts war in den verschiedenen Kantonen sowohl kirchlich als auch gesellschaftlich ganz unterschiedlich situiert. 2. In Bern waren Pfarrerschaft und Kirchgemeinde in die bürgerliche Armenund Krankenfürsorge eingebunden. Von den kirchlichen Amtsträgern wurde das Mitwirken im Rahmen der staatlichen Gesetzgebung erwartet – nach 1857 war dies vor allem das Feld der Dürftigenpflege. Eine dem Kanton gegenüber eigenständige kirchliche Institution mit unabhängigem diakonischem Handeln lässt sich nicht erkennen. 3. In Genf wurde mit den Diakonien eine eigene kirchliche Institution geschaffen. Diese waren sowohl kirchlich als auch finanziell vom Staat unabhängig, banden Laien als Diakone ein und waren in Auswahl und Ausgestaltung des diakonischen Handelns nur dem Konsistorium Rechenschaft schuldig. 4. Sowohl in Bern als auch in Genf tauchten privatrechtlich organisierte Vereine der Wohltätigkeit auf. Sie entsprangen in der Regel privaten Initiativen, waren von Persönlichkeiten aus Kirche und Staat getragen und ordneten sich Kirche und Staat unterschiedlich zu. In Bern wurden private Vereine ganz in die bürgerliche Ordnung eingebunden. 5. Mit Blick auf die Vereine, die der Inneren Mission zuneigten, ist in Bern von kirchlicher Seite eine frühe Offenheit festzustellen. Die institutionelle Organisation sowohl auf kantonaler als auch auf nationaler Ebene verlief zäh. 6. Im 19. Jahrhundert war das diakonische Handeln der Reformierten in der Schweiz sowohl institutionell als auch gesellschaftlich breit angelegt. Diese Vielfalt gehört zur „Diakonie im reformierten Protestantismus“ der Schweiz.

74  Bernoulli (wie Anm. 73), 395f.; ders., Rückblick, in: Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Evangelischen Verbandes für Innere Mission und Diakonie 1927–1977 (Diakonie 77), o.O. u. o.J. [Zürich 1977], 16–21, 18–21.



Schleiermachers Ethik und die Sexualmoral diakonischer Einrichtungen im 19. Jahrhundert von Holger Balder 1. Die Problemstellung Im 19. Jahrhundert entstanden in einer großen Welle der Gründung zahlreiche heute bedeutende diakonische Einrichtungen. Deren Gründung war ein Akt der Inneren Mission. Damit reagierten kirchliche Kreise auf die Gefahren der Entkirchlichung für die Gesellschaft. Industrialisierung, zunehmende Kapitalisierung und die Entstehung von Großstädten und Ballungszentren sowie die Frauenbewegung bedrohten die traditionelle Lebensform des Protestantismus.1 Die „Wiederherstellung der Familien und Hausstände in jeder Beziehung und die Erneuerung und Wiedergeburt aller damit unmittelbar zu verknüpfenden Verhältnisse“ war darum bei Johann Hinrich Wichern (1808–1861) das Hauptziel der Inneren Mission.2 Er gilt als einer der Väter dieser evangelischen Diakonie. Mit der Gründung des „Rauhen Hauses“ bei Hamburg versuchte er verwahrlosten Jugendlichen einen Familienersatz zu bieten. Diese seit den 1830er Jahren erprobte Initiative der „rettenden Liebe“ gab er 1848 auf dem Wittenberger Kirchentag als Appell an Kirche und Christen weiter. Eine Welle von Vereinsgründungen der Inneren Mission und ihrer zentralen Koordinierung ging von dort aus durch den Protestantismus und begründete die evangelische Diakonie.3 1  Auf die protestantische Großstadtkritik als Motiv der Inneren Mission macht aufmerksam: Jens Wietschorke, Urbanität und Mission. Die evangelikale Stadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Jörg Pohlan / Herbert Glasauer / Christine Hannemann / Andreas Pott (Hg.), Jahrbuch StadtRegion 2011/2012, Opladen u.a., 39–59, zum 19. Jh. bes. 41ff.; vgl. Jochen-Christoph Kaiser, Volksmission als gesellschaftliche Sinnstiftung. Der kulturelle Formierungsanspruch der Inneren Mission, in: ders., Evangelische Kirche und sozialer Staat. Diakonie im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Volker Herrmann, Stuttgart 2008, 31–43, bes. 43; vgl. auch Ursula Röper / Carola Jüllig (Hg.), Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, Berlin 1998. 2  Johann Hinrich Wichern, Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche, Hamburg 1849, 7. Zu Wichern und den Anfängen der Inneren Mission vgl. Hans-Martin Gutmann, Der Schatten der Liebe, Johann Hinrich Wichern (1808–1881), in: Inge Mager (Hg.), Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen, Teil 4: Das 19. Jahrhundert (AKGH 27), Hamburg 2013, 297–338; ders., Martin Luthers „christliche Freiheit“ in zentralen Lebenskonflikten heute. Intimität gestalten. Verantwortlich leben. Freiheit realisieren, Berlin 2013, 18–23. 3   Vgl. J. Thomas Hörnig, Kommentierter Datenatlas zur deutschen Sonntagsschulgeschichte und zur Frühgeschichte der Inneren Mission (1867–1878): „Alle Agenten der innern Mission fangen damit ihre Arbeit an [...]“. Teil I: Darstellung und Ergebnisse, Habil. Kirchliche Hochschule Wuppertal-Bethel 2011, bes. 94–96.233ff. Er betont die pietistische Sonntagsschulprägung als Motiv der Inneren Mission.

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Ich möchte zeigen, welche denkstrategisch wichtige Funktion der Weichenstellung der Ethik durch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) dafür zukam, dass die evangelische Kirche in dieser Weise auf die Herausforderungen reagieren konnte.4 In der Entwicklung der Problemstellung zeige ich, warum diese Entwicklung der Gesellschaft für den Protestantismus so bedrohlich erschien, wie der Protestantismus auf diese Herausforderung antwortete und welche Vorklärungen für diese Antwort notwendig waren. In Teil II kann auf dieser Grundlage deutlich werden, welchen Beitrag die Ethik Schleiermachers wissensstrategisch für die Entstehung der Inneren Mission geleistet hat.5 Teil III wird dann in einem kurzen Ausblick die Folgen dieser Verhältnisbestimmung für die im 19. Jahrhundert entstehende Diakonie aufzeigen. 4  Ich biete nicht eine übliche wirkungsgeschichtliche Darstellung, sondern folge den wissenssoziologischen Perspektiven, die ich entwickelt habe in: Holger Balder, Glauben ist Wissen. Soteriologie bei Paulus und Barth in der Perspektive der Wissenstheorie von Alfred Schütz, Neukirchen-Vluyn 2007, Kap. 1. Es geht um die Untersuchung des Wissensvorrates der Evangelischen Kirche im 19. Jh., mit dem sie auf die pragmatischen Herausforderungen ihrer Zeit zur Appräsentation christlichen Heils reagieren konnte. 5  Zur Biographie und Entwicklung seines Werkes vgl. Thomas Lehnerer, Religiöse Individualität. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834), in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1: Aufklärung – Idealismus – Vormärz, Gütersloh 1990; dort findet sich auch eine Darstellung der Entwicklung seiner ethischen Arbeiten. Zu Schleiermachers Einordnung in den reformierten Protestantismus vgl. Jan Rohls, Schleiermachers reformiertes Erbe, in: Harm Klueting / ders. (Hg.), Reformierte Retrospektiven (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 4), Wuppertal 2001. Die klassischen Anfragen an seinen Gesamtentwurf formulierte Barth in seiner kritischen Würdigung: Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. Bd. 2: Geschichte (Siebenstern-Taschenbuch 178), Hamburg 1975, 360–400. – Zur Ethik Schleiermachers allgemein: Marlin E. Miller, Der Übergang. Schleiermachers Theologie des Reiches Gottes im Zusammenhang seines Gesamtdenkens, Gütersloh 1970; Wolfgang H. Pleger, Schleiermachers Philosophie, Göttingen 1988, 12ff. Schleiermacher wirkte nicht nur über veröffentlichte Schriften, sondern auch über seine Vorlesungen. Daher ist auch die Rekonstruktion seiner Ethik-Vorlesung vom Wintersemester 1826/1827 aus Nachschriften bedeutsam: Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher, Christliche Sittenlehre – Einleitung, hg. v. Hermann Peiter, mit einem Nachwort v. Martin Honecker, Stuttgart 1983. Bereits 1835 erschien: Friedrich D.E. Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre, aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse hg. v. Alexander Schweizer, Berlin 1835. – Die unterschiedlichen Ausgaben seiner ethischen Texte gehen parallel mit Schleiermachers Anpassung seiner frühen theologischen Texte an die Herausforderungen der Restaurationszeit; vgl. dazu: Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. 1799/1806/1821. Studienausgabe, hg. v. Niklaus Peter / Frank Bestebreurtje / Anna Büsching, Zürich 2012. – Bereits zwischen 1834 und 1864 entstand eine erste Ausgabe „Sämtliche Werke“ Schleiermachers. Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts ist von der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel (später Akademie der Wissenschaften Göttingen) und der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (später Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften) die umfassende Kritische Gesamtausgabe (KGA) geschäftsführend von Hans-Joachim Birkner und seit 1991 von Hermann Fischer herausgegeben worden, in der auch der Briefwechsel und Vorlesungen umfassend dokumentiert bzw. rekonstruiert werden. – Zur starken Wirkungsgeschichte Schleiermachers aufgrund der Verschränkung von Theologie, Ethik und Pädagogik vgl. Brigitta Fuchs, Friedrich Schleiermacher. Einführung mit pädagogischen Texten, Paderborn 2015, 7ff., bes. 13ff. (Einführung).

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1.1 Die Gefährdung des evangelischen Hauses Evangelischer Glaube wurde klassisch vor allem im Haushalt gelebt.6 Dieser Haushalt war patriarchalisch geordnet.7 Alle Reformatoren erwarteten von den Frauen, dass sie sich freiwillig ihren Männern als Leiter des gesamten Haushalts unterordneten. Seit der Reformation war der Haushalt jedoch zugleich mit hohen Intimitätserwartungen verbunden. Denn die Reformation war in die Zeit der zunehmenden Warenwirtschaft und der Ausbildung des frühneuzeitlichen Staates gefallen. Die damit verbundenen neuen Herausforderungen an die Lebensweise von immer mehr bürgerlichen Männern verstärkte ihre Erwartung, dass sie zu Hause durch Reinlichkeit, Ordnung und Geborgenheit für ihren harten Arbeitsalltag im Beruf gestärkt wurden. Ihre Ehefrauen hatten also nicht nur für die Ernährung der Familie, sondern auch für diese Kraft gebende Geborgenheit und Intimität Sorge zu tragen.8 Für die Zukunftssicherung dieses Haushaltes und davon abhängig auch die Sicherung der tragenden Ordnung von Staat und Gesellschaft war die Kontrolle der weit bis ins 20. Jahrhundert hinein immer prekär bleibenden Gebärfähigkeit der Frau notwendig. Seit der Reformation war darum allein die sexuelle Betätigung in der seit dieser Zeit klar abgegrenzten Ehe legitim. Bereits Martin Luther (1483–1546) hatte am Ende seiner Schrift „Vom ehelichen Leben“ (1522) wirtschaftliche Gründe als Hinderungsgründe für eine Ehe abgewiesen und stattdessen

6  Vgl. zu den Anfängen: Thomas Kaufmann, Ehetheologie im Kontext der frühen Wittenberger Reformation, in: Andreas Holzem / Ines Weber (Hg.), Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, Paderborn u.a. 2008, bes. 285–299; Herman J. Selderhuis, Marriage and Divorce in the Thought of Martin Bucer, Kirksville 1999. 7  Für den ausgebildeten klassischen Protestantismus vgl. Steven Ozment, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe, Cambridge / London 1983, bes. 3–24; ders., Protestants. The Birth of a Revolution, New York 1992, bes. 151–158; Scott Hendrix, Mas­ culinity and Patriarchy in Reformation Germany, in: Journal of the History of Ideas 56/2 (1995); Ute Gerhard, Familie aus der Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit. Anfragen an das christlich-abendländische Eheverständnis, in: ZEE 51 (2007), 267–279; bes. Lyndall Roper, Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a.M. / New York 1995. Die zentrale Bedeutung des Haushaltes für den Protestantismus wird vor allem in der sog. Hausväterliteratur deutlich. Dazu: Julius Hoffmann, Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Haus und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert, Weinheim 1959, und dazu Heinrich Richard Schmidt, „Nothurfft und Hußbruch“. Haus, Gemeinde und Sittenzucht im Reformiertentum, in: Holzem / Weber (wie Anm. 6), 302–328, bes. 306; Gotthardt Frühsorge, Die Begründung der „väterlichen Gesellschaft“ in der europäischen oeconomia christiana. Zur Rolle des Vaters in der „Hausväterliteratur“ des 16. bis 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Hubertus Tellenbach (Hg.), Das Vaterbild im Abendland, Bd. 1, Stuttgart u.a. 1978, 110–123; Rüdiger Schnell, Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte im Mittelalter und frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. / New York 1998, und kritisch dazu: Ute Gause, Die Durchsetzung neuer Männlichkeit? Ehe und Reformation, in: EvTh 73/5 (2013), 326–338. 8  Gutmann (wie Anm. 2).

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mangelnden Glauben und fehlenden Willen zum Fleiß beklagt.9 Armut gilt darum gerade unter Protestanten als selbst verschuldet. So hatte sich durch die daran anschließende Kirchenzucht die Ehe verschärft als Norm durchgesetzt. Und so wie Luther in dieser Schrift die Erziehung der Kinder als wichtigste Aufgabe hervorgehoben hatte, lag es nahe, in der Erziehung der Jugend den wichtigsten Beitrag zur Besserung zu sehen. Wer seinen sexuellen Bedürfnissen nachgehen wollte, musste mit Fleiß und Disziplin einen Haushalt gründen und Verantwortung in der Fürsorge dafür übernehmen: als Mann als treuer Versorger von Frau, Kindern, Gesinde und Schutzbefohlenen, der das Familieneinkommen nicht verschleudert; als Frau durch die freiwillige Unterordnung unter die Autorität des Ehemannes als Haushaltsvorstand und Pflichterfüllung im Haushalt. Die Kontrolle der Sexualität stand darum seit der Reformation im Zentrum der gesamten protestantischen Lebens-, Gesellschafts- und Staatsform. Diese umfassende an den Haushalt gebundene evangelische Lebensgestaltung wurde im 19. Jahrhundert durch den wirtschaftlich-sozialen Wandel bedroht.10 Ihr gegenüber mussten die Verhältnisse der proletarischen Welt als sittliche Verwahrlosung erscheinen. Die Antwort auf diese Herausforderung war die Gründungswelle der Inneren Mission.11 Ebenfalls bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hatten es darum viele Einrichtungen direkt oder indirekt mit den Bemühungen um Stabilisierung und Reetablierung des evangelischen Hauses und darum zentral mit der Kontrolle der Sexualität zu tun.12 9  Martin Luther, Vom ehelichen Leben und andere Schriften über die Ehe, hg. v. Dagmar C.G. Lorenz, Stuttgart 1978. 10  Zu dem sozialen Wandel im Einzelnen vgl. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, bes. 240; ders., Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, bes. 30f.198.220ff.291; ders., Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, bes. 102ff.114.181f.; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution“ 1815–1845/49, München 1987, bes. 17f.284–287; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, München 1995, bes. 9f.543ff. Die Verbindung von Haushalt und politischer Ordnung seit der Reformation ließ der Erhaltung der traditionellen Stellung des Haushalts vor allem auch zur Abwehr der politischen Gefahren seit der Französischen Revolution in der Restaurationszeit große Bedeutung zukommen, so dass es hier zu einem verstärkten Bündnis von Kirche und Staat kam. 11  Damit soll die Innere Mission nicht einseitig rein funktional auf die Bewältigung dieser sozialen Herausforderung zurückgeführt werden. In einer Analyse in der Perspektive der Appräsentation kommen die leitenden Motive von Mitgefühl für die Armen und Leidenden zur Geltung; vgl. z.B. Hörnig (wie Anm. 3). Hier frage ich jedoch nach der strategischen Entwicklung des Wissensvorrates angesichts der sozialen Herausforderungen. 12  Während sich die Innere Mission um die Rettung der Menschen bemühte, die das Haushaltsschema gefährdeten, wurden die unrettbar dem Alkohol und der Sexualität Verfallenen im 19. Jh. entsprechend kriminalisiert: Peter Becker, Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis, Göttingen 2002, bes. Kap. 3, 117ff. zur devianten Sexualität. Hier liegen auch die Anfänge der Sexualwissenschaft; vgl. Volkmar Sigusch / Günter Grau (Hg.), Personenlexikon der Sexualforschung, Frankfurt a.M. 2009, 10ff. (Einleitung).

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Die Bahnhofsmission kümmerte sich zunächst vor allem um die in der Großstadt ankommenden jungen Mädchen vom Land.13 Auch Jungfrauenvereine und Jung-Männer-Vereine trugen dafür Sorge, dass die jungen Leute nicht vor Aufnahme einer Ehe auf die schiefe Bahn gerieten, Pflicht und Ordnung verlernten und sexuell deviant wurden.14 Jugendfürsorgeeinrichtungen, Heime für gefallene Mädchen und Heimerziehung für schwer Erziehbare spielten darum eine große Rolle.15 13  Vgl. Bettina Hitzer, Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914), Köln / Weimar / Wien 2006. 14  Petra Brinkmeier, Weibliche Jugendpflege zwischen Geselligkeit und Sittlichkeit. Zur Geschichte des Verbandes der evangelischen Jungfrauenvereine Deutschlands (1890–1918), Diss. Potsdam 2003, 38ff. Selbst die Entstehung der Kindertageseinrichtungen muss auf diesem Hintergrund verstanden werden: Helge Wasmuth, Kindertageseinrichtungen als Bildungseinrichtungen. Zur Bedeutung von Bildung und Erziehung in der Geschichte der öffentlichen Kleinkinderziehung in Deutschland bis 1945, Diss. Tübingen 2010, Kap. II. 15  Zur Entstehung der Erziehungshilfe vgl. Eckhart Knab, Entwicklung der Erziehungshilfe – vom Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Michael Macsenaere / Klaus Esser / Eckhart Knab / Stephan Hiller (Hg.), Handbuch der Hilfen zur Erziehung, Freiburg i.Br. 2014, 21–26. Zur Geschichte der Jugendfürsorge und Heimerziehung: Carola Kuhlmann / Christian Schrapper, Wie und warum Kinder öffentlich versorgt und erzogen wurden. Zur Geschichte der Erziehungshilfen von der Armenpflege bis zu den Hilfen zur Erziehung: in: Vera Birtsch / Klaus Münstermann / Wolfgang Trede (Hg.), Handbuch der Erziehungshilfen, Münster 2001, 282–328; Jürgen Blandow, Heimerziehung und Jugendwohngemeinschaften, in: ders. / Josef Faltermeier (Hg.), Erziehungshilfen in der Bundesrepublik Deutschland. Stand und Entwicklungen, Frankfurt a.M. 1989, 276–315; Friedrich Franz Röper, Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim, Göttingen 1974; Claudia Heckes / Christian Schrapper, Traditionslinien im Verhältnis Heimerziehung - Gesellschaft. Reformepochen und Restaurierungsphasen, in: Friedhelm Peters (Hg.), Jenseits von Familie und Anstalt. Entwicklungsperspektiven in der Heimerziehung, Bielefeld 1988, 9–27; Richard Günder, Praxis und Methoden der Heimerziehung. Entwicklungen, Veränderungen und Perspektiven der stationären Erziehungshilfe, Freiburg i.Br. 52015, 16ff.; zur Sexualität in Heimen und Wohngruppen dort 287ff. Ein Beispiel aus Lippe bietet: 150 Jahre Grünau. 1849–1999. Vom Rettungshaus zum heilpädagogischen Kinderheim des Evangelischen Johanneswerkes, hg. im Auftrag des Evangelischen Johanneswerk e.V. v. Ronald Hampel / Ulrike Masurek / Bärbel Thau / Kai Pleuser, Bielefeld 1999, 8ff. Zum Magdalenenasyl im Bereich des heutigen Wuppertal vgl. Hans-Walter Schmuhl, Vom Magdalenenasyl zur Fürsorgeerziehungsanstalt. Die Stiftung Bethesda-St. Martin 1855–1945, in: 150 Jahre Stiftung Bethesda-St. Martin, hg. v. Werner Bleidt / Andreas Metzing, Boppard 2006, 11–36. – Auch die Behindertenheime und die Krankenpflege leisteten ihren Beitrag dazu, eine reibungslose Sicherstellung der Haushaltszwecke zu gewährleisten. Behinderung war vor allem dadurch definiert, dass die Behinderten nicht in der Lage waren, verantwortlich in einem Haushalt zu wirken. So wird verständlich, dass ebenfalls bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sexuelle Betätigung darum für behinderte Menschen als unangemessen galt. Die Verhinderung der sexuellen Betätigung behinderter Menschen kann daher nicht nur als eine nebensächliche Aufgabe der Einrichtungen der Behindertenbetreuung angesehen werden. Zur Geschichte der Behindertenbetreuung vgl. Walter Fandrey, Krüppel, Idioten, Irre. Zur Sozialgeschichte behinderter Menschen in Deutschland, Stuttgart 1990. – Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein war auch evangelische Diakonie zentral mit Phänomenen sexueller Unterdrückung verbunden. Ein prominentes Beispiel der Sexualunterdrückung in der Heim­erziehung bietet: Andreas Graf, Lektüre und Onanie. Das Beispiel des jungen Karl May, sein Aufenthalt auf dem Seminar in Plauen (1860/61) und die Früchte der Phantasie,

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1.2 Die Antwort der Inneren Mission Der Protestantismus widmete sich – vor allem von Wichern angestoßen – im 19. Jahrhundert geschlossen und quer zu seinen seit der Aufklärung auseinanderdriftenden rationalistischen und pietistischen Zweigen dieser Aufgabe der Wiederherstellung der Lebensform des evangelischen Haushaltes. Dass sie sich so geschlossen und entschlossen dieser Aufgabe stellte, ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich.16 Der klassische Pietismus war ursprünglich mehr an der Bildung des wahren Glaubens im einzelnen Menschen als an der Stabilisierung des Haushaltes interessiert. Dass nun sogar neue gesellschaftliche Institutionen zu dessen Absicherung geschaffen wurden, war vollkommen neu. Hier konnte sich das traditionell mit einer extrem sexualkritischen Haltung verbundene Verständnis von Glaube, Wiedergeburt und Heiligung des Pietismus in den Herausforderungen der Zeit als Heilmittel anbieten. Die Gründung von Vereinen zur Gestaltung der Gesellschaft war jedoch eigentlich weniger ein Phänomen des frühen Pietismus als ein Grundzug der Aufklärung. Ein nicht unerheblicher Teil des Protestantismus hatte sich bereits früh der Aufklärung geöffnet und war eine nicht unwesentliche Triebkraft der Aufklärung in Deutschland gewesen. Erstaunlich ist darum nicht die evangelische Verbreitung einer aufgeklärten Aktivität zur Verbesserung der Gesellschaft. Erstaunlich ist, dass sich die aufgeklärt-liberalen Kreise ebenfalls zu dieser Aufgabe der Inneren Mission gerufen sahen und dabei mit dem pietistischen Zweig zusammenarbeiten konnten. Erstaunlich ist dieses bürgerlich-aufgeklärte Engagement in der Inneren Mission, weil die Aufklärung mit einer ersten sexuellen Revolution verbunden gewesen war.17 Die Aufklärung hatte die alte Verbindung von Christentum und sozialer Kontrolle aufgebrochen. Zahlreiche wohlhabende Adelige und Bürgerliche waren aus der traditionellen Sexualform des Protestantismus ausgebrochen. Auch Schleiermacher trat in seinen „Vertrauten Briefen über die Lucinde“ wie in Romantikerkreisen üblich für die freie Liebe ein und an anderer Stelle für eine rechtliche Neubelebung des Konkubinates.18 In aufgeklärten Kreisen etablierte sich die sogein: KMG-Nachrichten 119–126 (1999), 84–151. Wie in der katholischen Kirche muss man auch in diesem Klima der Heime, wo stark auf das „Problem Sex“ fokussiert wurde, jedoch Sexualität zugleich nicht gelebt werden konnte, mit Phänomenen sexuellen Missbrauchs rechnen. Systematische Daten zur Heimunterbringung und damit auch zur Fokussierung auf die „sexuelle Verwahrlosung“ als Grund für die Heimunterbringung liegen erst für das 20. Jahrhundert vor: Otti Düchting, Der Lebenserfolg ehemaliger schulentlassener weiblicher Fürsorgezöglinge, Diss. Münster 1952, bes. 110; Hans Bönsch, Der Lebenserfolg der Fürsorgeerziehung bei männlichen Fürsorgezöglingen, Diss. Münster 1953, bes. 62. 16  Zur vielfältigen Reaktion des Bürgertums auf die soziale Herausforderung vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918 (wie Anm. 10), 335ff. 17  Faramerz Dabhoiwala, Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution, Stuttgart 2014. 18  Friedrich D.E. Schleiermacher, Vermischte Gedanken und Einfälle, 1796–1799, in: Hans-Joachim Birkner (Hg.), Friedrich D.E. Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 2, Berlin / New York 1984, 5.

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nannte sexuelle Doppelmoral für Frauen und Männer. Bibel- und Christentumskritik im Namen der moralischen Selbstbestimmung hatten zu solcher Emanzipation von kirchlicher Sozial- und Sexualkontrolle mitgeholfen. Wie kam es dann, dass sich dieser aufgeklärte Protestantismus trotz seiner Verankerung in moralischer Selbstbestimmung mit seinem Engagement in der Inneren Mission zur verstärkten Orientierung am Lebensbild des Haushaltes entschloss? 1.3 Autonomie und Sittlichkeit Die Aufklärung war in ihrer Handhabung der sexualmoralischen Ordnung alles andere als einheitlich. Ein nicht unwesentlicher Teil der wirkmächtigen Aufklärer sah bereits die Gefahren für die Ordnung der Gesellschaft, die von ihrer eigenen Betonung der moralischen Autonomie ausging. Die Gesellschaft ihrer Zeit war noch immer auf den Haushalt als wirtschaftliche Grundlage, als Basis der Anerkennung gesellschaftlicher Autorität und vor allem zur Kontrolle über die weibliche Gebärfähigkeit angewiesen. Die Kontrolle der Sexualität blieb darum bei ihnen wie im klassischen Protestantismus eine zentrale Aufgabe zur Besserung der Gesellschaft. Als Schleiermacher 1810 in Berlin zum Professor avanciert war, band er darum auch nicht länger die Sexualität nur an die Liebe, sondern beide auch an die Ehe.19 Es waren die Aufklärer, die sogar schärfer als zuvor die Protestanten mit ihren Anti-Onanie-Kampagnen die Kultivierung sexueller Erregung grundlegend zu bekämpfen suchten.20 In der Aufgabe der Kontrolle der Sexualität trafen sich Kirche und Aufklärung und innerhalb der Kirche Pietismus und Rationalismus. Besonders in Deutschland bot bereits die frühe Aufklärungstheologie der Neologen das kirchliche Leben in diesem Sinne als vernünftigen Beitrag zum Gemeinwohl an.21 Die Kirche erwies angesichts der Religionskritik der Aufklärung ihre Existenzberechtigung in ihrem Beitrag zur Erhaltung der sittlichen Ordnung. Damit wurde der auf einer angeblich heiligen Ordnung beruhende Restaurationsstaat des 19. Jahrhunderts bereits im protestantischen Denken des 18. Jahrhunderts vorbereitet. An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert kam damit alles darauf an, die evangelische Kirche zum einen als der aufgeklärten Gesellschaft und ihrer Eman­­ zipation verpflichtet zu erweisen und zum anderen zugleich ihren Beitrag zur Sittlichkeit herauszustellen. Die große Aufgabe war damit eine evangelische Klärung 19  Friedrich D.E. Schleiermacher, Die christliche Sitte nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche. Im Zusammenhange dargestellt, hg. v. Ludwig Jonas, Berlin 1884, 337. 20  Thomas W. Laqueur, Die Einsame Lust. Eine Kulturgeschichte der Selbstbefriedigung, Berlin 2008. 21  Zu den Neologen vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Protestantische Theologie und die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders. (wie Anm. 5), 11–54, bes. 16; Ulrich Barth, Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, bes. 224; Albrecht Beutel, Aufklärung in Deutschland (Die Kirche in ihrer Geschichte 4, Lfg. O 2), Göttingen 2006, bes. 249; vgl. auch Reinhard Krause, Die Predigt der späten deutschen Aufklärung (1770–1805) (AzTh II/5), Stuttgart 1965, 52f.

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von moralischer Autonomie und Sittlichkeit und eine Bestätigung der an den Haushalt gebundenen Sexualform. Nur weil dieses Verhältnis zu Beginn des 19. Jahrhunderts wissensstrategisch so weit geklärt war, konnten sich aufgeklärte und pietistische Protestanten im Laufe des 19. Jahrhunderts gemeinsam daranmachen, den Haushalt als die zentrale Lebens- und Sexualform des Protestantismus durch die Schaffung der Einrichtungen der Inneren Mission wieder zu stabilisieren.

2. Schleiermachers Beitrag Einen der wirkmächtigsten Beiträge zu dieser Vorklärung lieferte Schleiermacher.22 Er wirkte als Universitätstheologe und Kirchenpolitiker genau in dieser wichtigen Übergangszeit, als eine solche Vermittlungstheologie gebraucht wurde. Darum wird er auch als der „Kirchenvater“ des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Biographisch stand er konfessionell mit einem Bein fest im reformierten Protestantismus und mit dem anderen im Pietismus der Herrnhuter. Er verband in seinem Lebenslauf die Einflüsse eines bereits aufgeklärten, aber staatlich fest etablierten reformierten Protestantismus, den Einfluss auch in der Sexualform rebellischer romantischer Kreise, an denen er wesentlich beteiligt war und die Erfahrungen seiner Schulzeit mit der gefühlsbetonten, aber sittenstrengen Frömmigkeit der Herrnhuter Pietisten. Alles in seiner Biographie wie in der Aufgabenstellung seiner öffentlichen Ämter drängte zugleich notwendig zu einer Klärung, wie die traditionelle sittliche Ordnung mit der moralischen Autonomie des Bürgers in Einklang gebracht werden könne. Schleiermacher hat sich darum in allen Phasen seines geistigen Schaffens immer wieder neu mit der Ethik beschäftigt, die seit der Aufklärung vor allem dieses Grundproblem zu bearbeiten hatte.23 1812/1813 legte er mit seiner „Ethik“ die gründlichste und mehrfach überarbeitete Ausarbeitung dieser Problemstellung vor.24 2.1 Das Streben nach dem höchsten Gut Auch Immanuel Kant (1724–1804) hatte bereits eine Verbindung von Autonomie und Sittlichkeit geschaffen.25 Wirkliche Freiheit erwies sich bei Kant in der aus 22  Vgl. zur Einordnung Schleiermachers in den Paradigmenwechsel der Moderne: Michael Feil, Die Grundlegung der Ethik bei Friedrich Schleiermacher und Thomas von Aquin, Berlin / New York 2005, 9. 23  Bereits 1803 verfasste Schleiermacher seine „Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre“. 24  Friedrich D.E. Schleiermacher, Ethik (1812/1813) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun hg. u. eingel. v. Hans-Joachim Birkner, Hamburg 1981. 25  Vgl. Christoph Hübenthal, Autonomie als Prinzip. Zur Neubegründung der Moralität bei Kant, in: Georg Essen / Magnus Streit (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005, 95–128; Friedrich Wilhelm Graf / Klaus Tanner, Philosophie des Protestantismus. Immanuel Kant (1724–1804), in: Graf (wie Anm. 5), 86–112.

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vernünftiger Einsicht stammenden Selbstverpflichtung gegenüber dem allgemein notwendigen Gesetz. Dass damit im Gefolge Kants allein die Vernunft zur Basis des gesamten menschlichen Zusammenlebens gemacht wurde, war sowohl den Pietisten wie den Romantikern, mit denen Schleiermacher verbunden war, verdächtig. Die Romantiker waren dabei jedoch auch in dem Sinne Nachfolger Kants, als auch sie auf Freiheit und Selbstbestimmung bestanden. Sie suchten jedoch nach einer erweiterten Grundlage der Moralität im Menschen. Sie identifizierten diese nicht mehr allein mit der Vernunft des Menschen, sondern stießen bei ihrer Suche nach weiteren Grundlagen in der Natur des Menschen auf Religion und Emotion. Neben der vernünftigen Einsicht gibt es noch ein anderes Streben im Menschen nach Sittlichkeit. Dieses findet Schleiermacher in der traditionellen Lehre vom „Streben nach dem höchsten Gut“ wieder.26 Alle seine Entwürfe einer Ethik waren dreiteilig und stellten der Pflichtenlehre immer diese Güterlehre und eine Tugendlehre voran. Die Zielvorstellung des höchsten Gutes half Schleiermacher dabei, Autonomie und Sittlichkeit und die unterschiedlichen Sphären menschlichen Handelns mit­ein­ander zu verbinden. Dieses im Menschen selbst angelegte Streben fand für Schleiermacher seine vollkommene Form in den gesellschaftlichen Zusammenschlüssen wie in der Familie, in der freien Geselligkeit, im Staat, in der Wissenschaft und in der Kirche. Das Leben in diesen Organisationsformen zu gestalten, galt ihm zugleich als Verwirklichung eines im Menschen selbst angelegten Strebens wie der dem Menschen von Gott gesetzten Zielbestimmung. Selbstbestimmung und Erfüllung des von Gott gesetzten Zweckes des Lebens fallen hier in eins. Im Beruf, in der Familie, in der Religion oder auch in der Kunst – in allen Lebensbereichen konnte sich das Handeln nun auf Gott als höchstem Gut ausrichten.27 Die Tugendlehre bildet das Zwischenglied zwischen der Güter- und Pflichtenlehre.28 Aus dem natürlichen Streben nach dem höchsten Gut und dessen Ver26  Ein solcher Entwurf der Ethik als „Güterlehre“ wurde von Schleiermacher in zwei Abhandlungen vor der Berliner Akademie 1827 und 1830 begründet. Er entwickelt diese Ethik im bewussten Gegensatz zu Entwürfen, die ein Handeln als gut oder schlecht bewerten, während er ein Handeln von seinem Ergebnis her (Produkt) bewerten möchte. Friedrich D.E. Schleiermacher, Über den Begriff des höchsten Gutes, erste Abhandlung 17. Mai 1827; zweite Abhandlung 24. Juni 1830, in: Friedrich Schleiermacher’s sämtliche Werke, Abt. 3: Zur Philosophie, Bd. 2, Berlin 1838, 446ff.469ff. Den Entwurf einer Ethik im Anschluss an Schleiermacher ausgehend vom „höchsten Gut“ hat gegenwärtig vor allem Trutz Rendtorff, Ethik. Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Gütersloh 2011, bes. 211f., wieder aufgegriffen. Er verweist auch auf Friedrich D.E. Schleiermacher, Entwürfe zu einem System der Sittenlehre, in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, hg. v. Otto Braun / Johannes Bauer, Neudruck Aalen 21967; vgl. auch Feil (wie Anm. 22), 115ff. 27  Auch vorläufige Verwirklichungen des Reiches Gottes in einer Friedensordnung der Völker, in einem gemeinsamen Wissen und Kultur der Völker, in der Organisation von Handel und Wirtschaft und in freien Glaubensgemeinschaften konnten so von ihm mit dem endgültigen Ziel in Gott zusammen gesehen werden. 28  Zum in allen ethischen Werken Schleiermachers durchgehaltenen dreigliedrigen Aufbau vgl. Pleger (wie Anm. 5), 12f. Zu Schleiermachers Anschauung von Gesellschaft, Staat und Familie vgl. Pleger (wie Anm. 5), Kap. III.

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wirklichung in den Formen menschlicher Gesellschaft ergibt sich der Bedarf, zu ihrer Gestaltung grundlegende Tugenden auszubilden. Die Tugendanforderungen treten also nicht von außen an den Menschen heran. Sie sind nicht nur ein vernünftig einsehbares Gesetz. Sie werden als im Menschen angelegte Entfaltung seines grundlegenden Strebens verstanden.29 Weil das Streben nach gesellschaftlicher Verbindung in ihren elementaren Formen im Menschen angelegt ist, ergeben sich aus dieser Güterlehre in jedem gesellschaftlichen Lebensbereich unterschiedliche Pflichten.30 Diese Ausrichtung seiner Ethik bestimmt auch seine Fassung der Glückseligkeit und darin eingeschlossen der „Lust“.31 Auf der Linie Augustins bestimmte er als Ziel jeglicher „Lust“ generell die absolute Seligkeit als „Gemeinschaft mit Gott“. Darin ist alles Handeln an sein letztes Ziel gelangt und herrscht Bedürfnisfreiheit, weil alle Bedürfnisse in dieser letzten Befriedigung aufgehoben sind. Doch bis zu dieser Vollendung ist unser Handeln immer auf die bis dahin niemals an ihr Ziel gelangende Befriedigung der Bedürfnisse ausgerichtet. Jede vorläufige Bedürfnisbefriedigung verweist als Streben nach Seligkeit auf dieses letzte Ziel. Bereits in seiner romantischen Phase stellte für Schleiermacher jede „blinde Befriedigung“ des Sexualtriebes, die nicht mit Liebe verbunden war, Hurerei dar.32 Mit der für Schleiermacher naturgegebenen Geschlechterdifferenz ist die Ehe für den späteren Schleiermacher als Lebensform bereits ebenso natürlich gegeben. Darum gilt ihm der rohe Geschlechtstrieb als Entfremdung und ist es vernünftig, den Geschlechtstrieb in der Ehe zu befriedigen.33 Da der Geschlechtstrieb natürlich der 29  Grundlegend sind in seiner Ethik von 1812/1813 die Tugenden der Gesinnung: Weisheit und Liebe und darauf aufbauend die Tugenden der Fertigkeit: Besonnenheit und Beharrlichkeit. 30  Nach der Ausgabe seiner Ethik von 1814/1816 fasst er sie als Rechtspflicht, Berufspflicht, Gewissenspflicht und Liebespflicht. 31  Schleiermacher, Die christliche Sitte (wie Anm. 19), 36ff.; vgl. dazu Rendtorff (wie Anm. 26), 217. 32  Friedrich D.E. Schleiermacher, Vermischte Gedanken und Einfälle, 1796–1799, in: Hans-Joachim Birkner (Hg.), Friedrich D.E. Schleiermacher. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 2, Berlin / New York 1984, 5. Wie er diese Bindung von Sexualität an die Liebe als Personzuwendung individualisierter Persönlichkeiten durchhält, zeigt er im „Entwurf eines Systems der Sittenlehre“ (wie Anm. 5), § 260, 261ff. 33  Schleiermacher, Entwurf eines Systems der Sittenlehre (wie Anm. 5), 258. Schleiermacher bezieht in diese biologische Geschlechtskonstruktion ein: Das natürliche Wesen der Frau sei „Receptivität“, das des Mannes „Spontaneität“ (259). Das Gefühl ist für ihn weiblich, die Fantasie männlich. „Aneignung weiblich, Invention männlich“. Die Frau bleibt innerhalb der Sitte, der Mann strebt über sie hinaus. Die Rechtssphäre gilt ihm als männlich, die Anhänglichkeit an Schönheit und Schmuck hingegen als weiblich (265). – Schleiermacher leitet aus der Tatsache, dass an der geschlechtlichen Vereinigung immer nur zwei Personen beteiligt sein können, ab, dass die Monogamie natürlich ist (260). „Polygamie ist nur ein Durchgangszustand von vager Geschlechtsgemeinschaft zur Ehe“ (262). Eine nur „vage und momentane Geschlechtsgemeinschaft“ gilt ihm in § 261 als unsittlich und homosexueller Verkehr als unnatürlich, sie sind Anzeichen nicht abgeschlossener Reifung der Persönlichkeit. Die Familie sieht er als natürlich gegeben und als „ursprüngliche Sphäre frei-

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Erhaltung der Gattung dient, ist die Ehe die vernünftige Form der Befriedigung sexueller Bedürfnisse: „Also wie Liebe gleich Ehe, so Ehe gleich Familie.“ Auch im Bereich der Sexualität zeigte Schleiermacher: Autonomie und Sittlichkeit müssen sich nicht widersprechen, weil jede wahre Bedürfnisbefriedigung bereits im Menschen selbst auf das Ziel der ewigen Seligkeit ausgerichtet ist. 2.2 Der hohe Stellenwert der Pädagogik Wenn die Sittlichkeit so als die eigentliche und wahre Bedürfnisbefriedigung erscheint, die zwar natürlich, jedoch zugleich durch Erziehung erst noch zu entwickeln ist, und sich diese in gesellschaftlichen Tugenden und Pflichten realisiert, kommt der Pädagogik in der Ethik ein hoher Stellenwert zu.34 Wenn es innerhalb der Ethik auch nicht um die praktische Pädagogik geht, so erfordert Schleiermachers Entwicklung der Ethik aus einem Streben des Menschen doch die Entwicklung von Grundzügen der Pädagogik.35 Das positive innere Streben nach Sittlichkeit wird in der Herausbildung einer sittlichen Gesinnung und sittlicher Fertigkeiten unterstützt und die Heranwachsenden dazu andererseits vor schädlichen Einflüssen sowohl aus dem eigenen Inneren wie der Außenwelt bewahrt (Verhüten und Gegenwirken).36 Wie die gesamte protestantische Tradition vor ihm hält Schleiermacher daran fest, dass die Familie als Ort der Erziehung und der Einübung der Achtung von Autorität der wesentliche Ort für diese Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft ist. Schleiermacher forderte jedoch für Jugendliche auch bereits Einrichtungen, die das „Gemeingefühl“ über die Familie hinaus fördern.37 Familie, Schule und Berufsausbildung stellen die entscheidenden Erziehungseinrichtungen dar.

er Geselligkeit“ (265). Die Ehe gilt ihm als unauflöslich, selbst im Fall der Unfruchtbarkeit, da sie eben wesentlich durch die „Wahlanziehung“ und den Vollzug von Geschlechtsverkehr an sich begründet wird (264). 34  Zur Verortung der Pädagogik in der Ethik bei Schleiermacher vgl. Fuchs (wie Anm. 5), 31ff., und dort auch die Texte (39ff.); vgl. auch die ausführlichere Darstellung bei Pleger (wie Anm. 5), 82ff. Der enge Zusammenhang von „Erzeugung und Erziehung“ macht es notwendig, dass die Erziehung nicht dem Staat allein überlassen werden kann, sondern dass wesentliche Teile „mit häuslicher Erziehung“ verbunden sind (Entwurf eines Systems der Sittenlehre [wie Anm. 5], 265). 35  Die genaue Systematik dieser Grundzüge änderte sich bei Schleiermacher im Verlaufe seiner unterschiedlichen Ausarbeitungen immer wieder. 36  Das Kind soll an diesen sittlichen Kräften wachsen, dass es sich mündig mit sich selbst und seiner Außenwelt auseinandersetzen kann. Nur wenn die Entwicklung dieser autonomen sittlichen Gesinnung und die Entwicklung verantwortungsvoller sittlicher Willensakte nicht altersgemäß weit genug voranschreiten, sind Gegenwirkungen wie Missbilligung und physische Gewalt zur Abgewöhnung unerwünschten Verhaltens notwendig. Schleiermacher geht dabei sogar so weit, dass er diesen anfänglich notwendigen Erziehungsstil mit der Dressur von Tieren vergleichen kann. 37  Pleger (wie Anm. 5), 89.

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3. Haushalt, Sittlichkeit und Innere Mission im 19. Jahrhundert Diese Vermittlung von Autonomie und Sittlichkeit, wie sie von den Neologen vorbereitet, von Schleiermacher ausgearbeitet und von seinen Nachfolgern und sogar Gegnern angewendet wurde, ermöglichte es der evangelischen Kirche, sich dem Staat und der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts als legitimer Sachwalter der Sittlichkeit anzubieten. Die Verhältnisbestimmung von Autonomie und Sittlichkeit bestätigte dem Protestantismus seine auf dem Haushalt basierende Lebensform. Die traditionelle Lebensordnung des Protestantismus, die sich vor allem in der Übernahme der Haushaltspflichten und der daran hängenden Sexualdisziplin durch Männer und Frauen erwies, wurde so auch über die Umbrüche von Aufklärung, Revolution und Restauration hinweg bestätigt und musste darum gegenüber den entkirchlichenden Einflüssen mittels der Inneren Mission verteidigt werden. Obwohl Schleiermacher biographisch ursprünglich die freie Liebe in seinem Lebensumfeld erlebte und befürwortete, band er die Sexualität später maßgeblich an Liebe und Ehe und bestätigte den Haushalt, jetzt gefasst als Familie, als protestantische Lebensform. Seine Weichenstellung in Ethik und Pädagogik in der Verbindung von Autonomie und Sittlichkeit ließ diese Regulierung der Sexualität zu einer zentralen Aufgabe der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts werden. Man nahm die überlieferte evangelische Vorstellung von Ehe und Familie auch für die massenhaft in Armut lebende Bevölkerung als verbindliche Ordnung.38 In Übereinstimmung von bürgerlicher und traditionell reformatorischer Perspektive kamen die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Grundlagen dieser Entwicklung nicht in den Blick. Mit seinen grundlegenden ethischen Klärungen hat Schleiermacher dem 19. Jahrhundert den Weg gebahnt, dass die evangelische Kirche in ihrer Inneren Mission geschlossen an ihrem gesellschaftlichen Leitmodell der Familie festhalten konnte. So reagierte der Protestantismus auf die soziale Unsicherheit des Industriezeitalters konservativ mit seiner Inneren Mission.

38  Gutmann (wie Anm. 2).



Die diakonische Arbeit der Free Church of Scotland (ab 1874) und der Church of Scotland (ab 1875) bei ihrer Missionsarbeit im heutigen Malawi bis 1914 von Gerald MacDonald 1. Einführung Die Missionierung Malawis war aus zwei Gründen von zentraler Bedeutung für seine Entwicklung: Erstens war der britische Kolonialstaat außergewöhnlich schwach, und zweitens waren die Einwohner des Gebiets für die Missionstätigkeiten außerordentlich empfänglich. Es waren die Missionsorganisationen – nicht der Kolonialstaat –, die die Entwicklung des Gesundheits- und Bildungswesens in das Nyasaland vorantrieben, und es war das Aufkommen von einheimischen christlichen Gemeinden, die der Gesellschaft eine neue Prägung gab. Die Geschichte der Christianisierung Afrikas ist erstaunlich gut erforscht. Die Missionsgesellschaften der Kolonialmächte haben von Anfang an Berichte und andere relevante Unterlagen sorgfältig gesammelt und aufbewahrt, sodass wir nun über reiches Material aus der Zeit verfügen. Das gilt auch und insbesondere für das Gebiet des heutigen Malawi, das durch die Free Church of Scotland und die Church of Scotland1 missioniert wurde. Aus einheimischer Perspektive sind aber wenige Zeugnisse erhalten, welches zu einer gewissen Einseitigkeit unseres Verständnisses der Geschichte führt. Die wichtigsten Studien erschienen in den letzten 25 Jahren.2 Bei der Missionsarbeit in Zentralafrika Ende des 19. Jahrhunderts haben die unterschiedlichen Konfessionen das Gebiet unter sich aufgeteilt, um das „Wildern” in den Missionsgebieten der anderen zu verhindern. Die Missionsgebiete im heutigen Malawi wurden von den presbyterianischen Kirchen Schottlands missioniert und gingen 1924 in der Church of Central Africa Presbyterian auf, die heute die größte protestantische Kirche Malawis darstellt. Die ehemalige britische Kolonie erlangte 1964 die Unabhängigkeit, und das so genannte Nyasaland wurde in 1  Aus der Spaltung 1843 (Great Disruption) gingen zwei große schottische Kirchen hervor, die Free Church of Scotland und die Church of Scotland. Die erste umfangreiche Beschreibung der Spaltung findet sich bei Robert Buchanan, The Ten Years’ Conflict: Being the History of the Disruption of the Church of Scotland, Bd. 1–2, Glasgow / Edinburgh / London 1849. 2  Harry Langworthy, „Africa for the African“. The Life of Joseph Booth, Blantyre 1996; John McCracken, A History of Malawi 1859–1966, Woodbridge 2012; John Mc­Cracken, New Perspectives on the History of Christianity in Malawi, in: JRA XXIX/4 (1999), 486–493; Andrew Ross, Blantyre Mission and the Making of Modern Malawi, Blantyre 1996; Kenneth Ross (Hg.), Christianity in Malawi: A Source Book, Gweru 1996; Kenneth Ross (Hg.), God, People and Power in Malawi. Democratization in Theological Perspective, Blantyre 1996; Jack Thompson, Christianity in Northern Malawi. Donald Fraser’s Missiona­ry Methods and Ngoni Culture, Leiden 1995.

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Malawi umbenannt. In diesem Artikel geht es um die Anfänge der Missionierung des Nyasalands von ca. 1861 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

2. David Livingstone und die Anfänge der Missionsarbeit im Nyasaland Die Geschichte des modernen Malawi ist mit dem Leben des schottischen Missionars und Afrikaforschers David Livingstone (1813–1873) untrennbar verbunden. Durch seine legendären Expeditionen durch Afrika zwischen 1851 und 1873 hat Livingstone die Aufmerksamkeit der christlichen Kirchen Europas auf den afrikanischen Kontinent gelenkt. Auf seinen Reisen hatte er Zustände vorgefunden, die ihn zutiefst erschütterten, und aus jenen Erfahrungen erfolgte 1857 sein berühmter Appell in Cambridge auf der Versammlung des Universitätssenats, Missionare nach Afrika auszusenden.3 Das Christentum war im afrikanischen Herzland völlig unbekannt, und neben der Verbreitung des Evangeliums hatte Livingstone von Anfang an auch andere Herzensanliegen für Afrika. Er wollte den Afrikanern aus ihrer für ihn so entsetzlichen Armut verhelfen und den florierenden Sklavenhandel bekämpfen, der seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Ostafrika von den SwahiliArabern betrieben wurde.4 1859 erreichte Livingstone auf seiner Forschungsreise den später von ihm sogenannten Nyasa-See, wo er mit seinen eigenen Augen die Sklavenhandelsstation der Araber sah. 1864 besuchte er Kotakota wieder und vermittelte ein Friedensabkommen zwischen dem Sklavenhändler Salim-bin Abdullah5 und den Häuptlingen des Chewa-Stamms, von dem Salim-bin Abdullah seine menschliche Ware bekommen hatte. Es gab aber kein Mittel, das Abkommen durchzusetzen, und Abdullah fuhr mit dem Sklavenhandel fort. Erst nach 1891, als das Nyasaland britisches Protektorat wurde, konnte der Kommissar Sir Harry Johnston (1858–1927)6 endlich 1894 dem Sklavenhandel mit Hilfe einer Truppe von Sikh-Soldaten7 ein Ende bereiten. Abdullah wurde ein Prozess gemacht, und er wurde auf Sansibar inhaftiert.8 3  David Livingstone, Dr. Livingstone’s Cambridge Lectures, Cambridge 1858. 4  Die Intensität, mit der der Sklavenhandel betrieben war, ist erstaunlich. Allein von der Station in Nkhotakota (Kotakota) im Nyasaland wurden in den 1860er Jahren jährlich ca. 20.000 Sklaven über den Nyasa-See verfrachtet und nach einem drei- bis viermonatigen Fußmarsch nach Kilwa (im heutigen Tansania) an der Ostküste anschließend verkauft. McCra­cken, History (wie Anm. 2), 26; http://whc.unesco.org/en/tentativelists/5603 (letzter Abruf: 30.6.2017). 5  Häufig in der Literatur als „Jumbe“ benannt, wobei in der Sprache des TumbukuStamms Jumbe „Häuptling“ bedeutet. Zu Salim-bin Abdullah und seiner Rolle im Sklavenhandel vgl. McCracken, History (wie Anm. 2), 26f.36f.58–60; George Shepperson, The Jumbe of Kota Kota and some Aspects of the History of Islam in British Central Africa, in: Ioan Myrddin Lewis (Hg.), Islam in Tropical Africa, London 1966, 196. 6  Zu Johnston vgl. Roland Oliver, Sir Harry Johnston and the Scramble for Africa, London 1957; Alex Johnston, The Life and Letters of Sir Harry Johnston, London 1929. 7  Die Soldaten wurden aus der indischen Armee abkommandiert; vgl. Benjamin Smith, Art. Malawi: Colonization and Wars of Resistance, 1889–1904, in: Kevin Shillington, Encyclopedia of African History I, New York 2005, 908–910. 8  Shepperson (wie Anm. 5), 196.

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David Livingstone (1813–1873, ca. 1864) (Sammlung Gerald MacDonald)

2.1 Die Universities Mission nach Zentralafrika Die eigentliche Missionsgeschichte Malawis beginnt mit der „Universities Mission to Central Africa“, als die anglikanische Kirche 1861 auf der Insel Likoma im Nyasa-See eine Missionsstation zu gründen versuchte.9 Die Universities Mis9  Zu der Geschichte der Universities Mission to Central Africa vgl. James Tengatenga, The UMCA in Malawi: A History of the Anglican Church, 1861–2010, Zomba 2010; Canon Frank Winspear, A Short History of the Universities Mission to Central Africa, in: The Nyasaland Journal 9/1 (1956), 11–50; Charles Frederick Mackenzie, The History of the Universities Mission to Central Africa, 1859–1896, Westminster 1897.

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sion war die erste Reaktion auf Livingstones „Call to Africa“. Die anglikanische Missionsstation wurde aber schon zwei Jahre später 1863 aufgegeben,10 und 1875 schickte die Free Church of Scotland Missionare ins Nyasagebiet, wo sie eine Mission im Norden am Kap Maclear gründete. Leider erwies sich der Ort für Menschen als unbewohnbar, denn das Gebiet war mit Malaria übertragenden Mücken verseucht.11 Die Mission zog in die Highlands um und nannte die neue Ansiedlung „Livingstonia“ nach Livingstone, der 1873 gestorben war. Im selben Jahr gründete die Church of Scotland eine Mission im Süden des Landes und benannte sie nach dem Geburtsort Livingstones: Blantyre.12 Im Gegensatz zu dem gescheiterten Missionsversuch der Anglikaner waren beide Missionen der schottischen Presbyterianer erfolgreich. Ihre Missionsstationen in Blantyre im Süden des heutigen Malawi und Livingstonia im Norden des Landes existieren noch immer als eigenständige Synoden der Church of Central Africa Presbyterian.

3. Robert Laws (1851–1934) und die Mission in Livingstonia Die Geschichte von Livingstonia ist eng mit dem Namen Robert Laws (1851– 1934)13 von der United Presbyterian Church of Scotland14 verbunden. Laws war Mitglied der ersten Missionsgesandtschaft, die zum Andenken an Livingstone ausgesendet wurde, und er war der einzige ordinierte Missionar in der Gruppe. Außer ihm und dem Marineoffizier, der die Expedition leitete, waren ein Seemann, ein Gärtner, ein Schmied, ein Zimmermann und ein Ingenieur Mitglieder der Forschungsreise. Neben seiner Rolle als ordinierter Missionar war Laws auch Arzt und – wie sein Vater – ausgebildeter Tischler.15 Im Laufe der nächsten Jahre kehrten außer Laws alle Mitglieder der ersten Mission nach Schottland zurück und wurden 10  Zu dem gescheiterten Missionsversuch der UMCA vgl. Owen Chadwick, Mackenzie’s Grave, London 1959; Landeg White, Magomero: Portrait of an African village, Cambridge 1987, 3–70. 11  Rhodes-Livingstone Museum, The occasional Papers of the Rhodes-Livingstone Museum, No. 1–16 in 1 Vol., Manchester 1974, 286. 12  McCracken, History (wie Anm. 2), 44. 13  Zu Laws vgl. Hamish McIntosh, Robert Laws: Servant of Africa, Carberry 1993; William Pringle Livingstone, Laws of Livingtonia: A narrative of missionary adventure and achievement, London 1921; Robert Laws, Reminiscences of Livingstonia, London 1934; John McCracken, Politics and Christianity in Malawi, 1875–1940: The impact of the Li­ vingstonia Mission in the Northern Province, Cambridge 1977. 14  Die United Presbyterian Church of Scotland (1847–1900) wurde 1847 durch die Union der United Secession Church und die Relief Church gegründet. 1900 schloss sich die United Presbyterian Church of Scotland mit der Free Church of Scotland zusammen und formierte die United Free Church of Scotland. 1929 schloss sich die United Free Church of Scotland mit der Church of Scotland zusammen. Die United Presbyterian Church war die drittgrößte Presbyterian Church in Schottland und repräsentierte den linken Flügel des schottischen Reformiertentums. 15  Für eine Diskussion von Livingstones Kolonisierungsplänen, die teilweise von Laws umgesetzt wurden, vgl. Dorothy Helly, Livingstone’s Legacy: Horace Waller and Victorian Mythmaking, Athens (Ohio) 1987, 240–248.

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durch andere ersetzt. Laws selbst blieb bis zu seinem Tod 1934 Leiter der Mission in Malawi. Sein Renommee als Arzt führte dazu, dass Missionare aus anderen Gebieten Süd- und Zentralafrikas ihn wegen ärztlicher Hilfe aufsuchten. Als die Mission noch im Malariagebiet am Nyasa-See stationiert war, entfernte Laws einen Tumor über dem Auge eines Afrikaners16 – dieses brachte ihm großen Respekt bei seinen schottischen Kollegen und große Bewunderung von den Afrikanern ein. Es war aber nicht in erster Linie sein ärztliches Wirken, das Laws beliebt und berühmt machte. Sein Vermächtnis sind die Schulen,17 die er in Livingstonia gründete. Ihre Absolventen wurden nicht nur einflussreiche Personen in Malawi, sondern sie wirkten auch in benachbarten Ländern als führende Persönlichkeiten in Politik, Kirche und Gesellschaft. Laws wollte, dass in Livingstonia auch eine Universität gegründet werden sollte; sein Traum wurde aber erst 2003 mit der Gründung der Livingstonia Universität realisiert. Die Universität wird von der Church of Central Africa Presbyterian getragen.

4. Die Mission in Blantyre Das andere Zentrum schottischer Missionstätigkeit war Blantyre im Süden Malawis. Nach der Gründung 1873 entwickelte sich die Ansiedlung rasch zu einem Drehkreuz des Handels im südlichen Afrika. Schon 1883 wurde das britische Konsulat dort gegründet, und nur zwei Jahre später erhielt Blantyre die Anerkennung als Gebietskörperschaft (Municipality).18 Bis zum Ersten Weltkrieg kamen Menschen aus ganz Afrika und Südasien nach Blantyre. Dreizehn Jahre später, im Jahr 1889, gründete die Kap Synode der Nederduitse Gereformeerde Kerk Südafrikas eine Missionsstation in Zentral-Malawi.19 Mit der Gründung war ganz Malawi fest in reformierten Händen, und die drei Missionsgebiete existieren noch heute als die drei CCAP-Synoden fort. Livingstone war schon 1857 überzeugt, dass die Öffnung Afrikas für den freien Handel und seine Eingliederung in die Weltwirtschaft eine notwendige Voraussetzung für die Verbreitung des Christentums sei. „The promotion of commerce ought to be specially attended to as this, more speedily than anything else, demolishes the sense of isolation which heathenism engenders, and makes the tribes feel them mutually dependent on, and mutually beneficial to each other [...].20 Mit anderen Worten, sie werden empfänglich gemacht für das Evangelium. Hintergrund dieses Gedankens war der Sklavenhandel, wo ein Stamm Mitglieder eines anderen 16  Agnes Rennick, Church and Medicine: The Role of Medical Missionaries in Malawi 1875–1914, Stirling 2003, 90. 17  McCracken, History (wie Anm. 2), 114f. 18  John Pike, Malawi: A Political and Economic History, London 1969, 77–79. 19  Vgl. hierzu Christoff Martin Pauw, Mission and church in Malawi: The history of the Nkhoma Synod of the Church of Central Africa Presbyterian, 1889–1962, Stellenbosch 1980. 20  David Livingstone, Missionary Travels and Researches in South Africa, London 1857, 28. Zitiert in McCracken, History (wie Anm. 2), 47.

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Alexander Hetherwick (1860–1939) und Robert Laws (1851–1934) (Sammlung Gerald MacDonald)

Stammes gefangen nahm und verkaufte. Die wichtige Rolle, die der Handel spielte, sieht man schon bei der Gründung der Mission an Kap Maclear am Nyasa-See im Oktober 1875. Die Expedition wurde durch eine Gruppe schottischer Indus­ trieller finanziert21 – ein Muster, das sich für die Missionierung Malawis immer wieder wiederholte.22 21  McCracken, History (wie Anm. 2), 27. 22  McCracken, History (wie Anm. 2), 45.

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5. Schulen und Strafen Beide Missionsstationen avancierten zu winzigen „christlichen Staaten“. Ihre Bevölkerung setzte sich zusammen aus Flüchtlingen, geflohenen Sklaven und ortsansässigen Personen, die den Schutz eines Schutzherrn – des ehemaligen Häuptlings – für den Schutz eines anderen Schutzherrn – des Leiters der Missionsstation – eintauschten.23 Dies führte zu Spannungen zwischen der Mission und den Häuptlingen, die Anhänger verloren hatten. Angriffe auf die Missionsstationen blieben nicht aus, und die anfangs paternalistische Haltung der Missionare wurde zunehmend härter. 1878 wurde am Kap Maclear wohl das erste Gefängnis Malawis gebaut, sowohl für männliche als auch weibliche afrikanische Häftlinge.24 Die Bedingungen für die Häftlinge waren sehr hart, und sogar der Schandstock, welcher in Großbritannien längst abgeschafft war, wurde eingeführt. Manche Laien unter den Missionaren peitschten oftmals Straftäter aus, manchmal in Gruppen von bis zu 31 Männern.25 In Blantyre ging es noch schlimmer zu: In den ersten Jahren bekam die Geschäftstüchtigkeit die Oberhand, und junge Handwerker kauften durch dubiose Deals große Landparzellen von den ortsansässigen Häuptlingen. Wenn ihr Grundbesitz bedroht wurde, reagierten die jungen Landbesitzer mit Brutalität, und Männer bekamen routinemäßig 200 Peitschenhiebe. Ein Mann starb an den Folgen der Schläge, und ein weiterer wurde durch ein Erschießungskommando grausam angeschossen, bis ein mitleidender Afrikaner ihn mit seinem Speer aus seinem Elend befreite.26 Die Exzesse in Blantyre wurden endlich beseitigt, indem die jungen Handwerker nach Schottland zurückgeschickt und Versammlungen eingeführt wurden, wo die Missionare und Häuptlinge Differenzen durch Diskussionen zu lösen versuchten.27 Bis 1890, also ein Jahr vor Inkrafttreten des Protektorats, wurde Blantyre als eine „Oase der Zivilisation” bezeichnet, die über gut gefüllte Küchen, Gärten, Zimmermannwerkstätten, Maurerwerkstätten und Wäschereien verfügte. Die Schule hatte außerdem ein Internat, wo Sauberkeit, Zucht und Ordnung herrschten wie nirgendwo sonst in Afrika. Zwischen der Grundsteinlegung 1888 und Fertigstellung 1891 beschäftigte der Bau der St. Michaels- und All Angels Kirchen ca. 2.000 afrikanische Arbeiter jährlich.28 In Livingstonia setzten Laws und seine Missionare ihre Energie auf das Predigen des Evangeliums und den Bau von Schulen. Die ersten Konvertiten verzeichneten sie erst 1889, aber es gab im gleichen Jahr schon über ein Dutzend Schulen

23  McCracken, History (wie Anm. 2), 46. 24  Lucy Bean / Elizabeth van Heyningen (Hg.), The Letters of Jane Elizabeth Waterston 1866–1905, Cape Town 1983, 164. Zitiert in McCracken, History (wie Anm. 2), 46. 25  McCracken, Politics (wie Anm. 13), 62f. 26  Duff MacDonald, Africana: Or the heart of heathen Africa, in: Mission Life, Vol. II, London 1882, 82f. 27  Kenneth Ross (Hg.), Christianity in Malawi: A Source Book, Gweru 1996, 70f. 28  Frederick John Dealtry Lugard, The Rise of Our East African Empire, Vol. I, Edinburgh 1893, 72.

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mit mehr als 1.300 Schülern.29 Das Hauptziel der schulischen Ausbildung in Livingstonia und Blantyre war, die Fertigkeit in der englischen Sprache zu erlangen,30 womit die Schulen offenbar sehr erfolgreich waren. Sie waren so erfolgreich, dass die wachsende Anzahl von englischsprechenden Afrikanern an den Orten europäische Männer anzog, die Jagdführer für die Jagd nach Elfenbein suchten.31 Auf diese Weise verloren die Missionsschulen viele ihrer besten Lehrer. Aber neben Englisch gab es auch Fächer, die der Schule den Charakter einer Berufsschule verliehen. Zu den Unterrichtsfächern zählten Nähen, Zimmern, Mauern und Landwirtschaft. Frauen, die eine Minderzahl bildeten, wurden in häuslichen Kompetenzen geschult. Zwischen 1894 und 1898 wurden in Blantyre die besten Schüler als Diakone und sogar Diakonissen auserkoren und bekamen zusätzlichen Unterricht in Kirchengeschichte, Bibelkritik, Metaphysik sowie Bürgerkunde, englischer Grammatik und Mathematik.32 5.1 Die „Europäisierung“ der Einwohner des Nyasalands: die Overtoun Institution In Nordmalawi brach während der 1890er Jahre ein Streit über die Frage der „Europäisierung“ der Afrikaner aus.33 Die vorherrschende Meinung war, dass neben dem Predigen des Evangeliums, dem Aufbau von Gemeinden und dem Bau von Kirchen auch andere Aspekte der europäischen Zivilisation eingeführt werden müssten. Der Leiter der Universities Mission to Central Africa – der anglikanische Bischof Smythies (1844–1894)34 – vertrat die Minderheitsauffassung, dass zwischen Christianisierung und Europäisierung sehr sorgfältig unterschieden werden müsse. Man wolle den Afrikanern nämlich helfen, eine christliche Zivilisation zu entwickeln, die zu deren eigenen Klima und Umständen passen würde. Sie sollten aber dabei in ihren eigenen gesellschaftlichen und politischen Umständen gelassen werden.35 In Livingstonia war Laws anderer Meinung, und er wollte das Nyasaland nach dem Vorbild Schottlands umwandeln. In der „Overtoun Institution“, gegründet in Khondowe am Ufer des Malawi-Sees, versuchte er, eine Berufsschule zu etablieren, die den besten Berufsschulen Schottlands in nichts nachstehen sollte.36 Dort wurden Lehrlinge im Ingenieurwesen, Telegraphie, dem Zimmerhandwerk, dem Bauwesen, dem Druckereiwesen sowie Medizin und Theologie unterrichtet. Bis 1904 gab es in der Schule 130 Lehrlinge, die jeweils einer fünfjährigen Lehre nachgingen. Bis 1907 29  William Pringle Livingstone, Laws of Livingstonia, London 1921, 246. Zitiert in McCracken, History (wie Anm. 2), 48. 30  McCracken, History (wie Anm. 2), 115. 31  McCracken, History (wie Anm. 2), 50. 32  Andrew Ross, Blantyre Mission and the Making of Modern Malawi, Blantyre 1996, 152f. 33  Vgl. Art. Eurocentrism, in: Thomas Leonard (Hg.), Encyclopedia of the Developing World, ed. Thomas M. Leonard, New York 2006, 634–636, wie auch die dort angeführte Bibliographie. 34  Charles Alan Smythies; vgl. Tengatenga (wie Anm. 9). 35  Gertrude Ward, The Life of Charles Allan Smythies, London 1898, 4. 36  McCracken, History (wie Anm. 2), 112.

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waren es 218, und sie hießen nun „Studenten“. Ein Drittel, also 70 Studierende,37 bereiteten sich aufs Lehramt vor, denn das Land brauchte ja dringend Lehrer. Es gab ein Theologiestudium für künftige Pfarrer. Die Fächer Griechisch, Latein, Englisch, Literatur, Geschichte, Psychologie, Philosophie und Mathematik gehörten alle zum Lehrplan.38 Damit ist deutlich: Die Institution wurde von der Mission ins Leben gerufen und von der Mission verwaltet, und die Protektoratsverwaltung hatte nichts mit der Institution zu tun. So blieb jeder Aspekt der sozialen Entwicklung des Territoriums fest in den Händen der Missio­nare. Die Wirtschaft im Norden Malawis um Livingstonia profitierte wenig von der Ausbildungsstätte und ihren Absolventen. Letztere waren aber unter europäischen Arbeitgebern sehr gefragt, und viele gingen in benachbarte Länder.39 Trotz Laws’ Anspruch, eine erstklassige Bildungsstätte zu errichten, stand die Overtoun In-

Die ersten einheimischen Ordinierten, 14. Mai 1914 (Sammlung Gerald MacDonald) hinten: Alexander Gillon Macalpine (1869–1957), Walter Elmslie (1856–1935), Robert Laws (1851–1934); vorne: Yesaya Zerenje Mwasi (ca. 1870–nach 1940), Hezekiah Tweya (?–1930), Jonathan Chirwa (?–1934) 37  Zum Anteil von Frauen unter den Schülern bzw. Studierenden siehe unten. 38  McCracken, History (wie Anm. 2), 112; vgl. auch McCracken, Politics (wie Anm. 13), 132–156. 39  McCracken, History (wie Anm. 2), 112f.

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stitution gewiss nicht auf dem Niveau einer europäischen Universität, denn die bevorzugte pädagogische Methode war das Auswendiglernen – eine Methode, die im heutigen Malawi noch immer vorherrscht. Nichtsdestotrotz wurden die Studenten dort mit Kompetenzen ausgestattet, die kaum anderswo in Afrika erworben werden konnten. Bis zum Anfang des Ers­ ten Weltkriegs war das britische Bildungswesen in Malawi im Wesentlichen eingeführt. Die Ausbildung war in den Händen der christlichen Missionen, wobei die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben im Mittelpunkt standen mit der Vorbereitung für die Taufe als Ziel. Laws brachte es so zum Ausdruck: „Die Bibel, die Tafel, der Notizblock und Bilder sollten das Mittel des Lernens sein. Das Ziel des Lernens ist die Bibel zu kennen, nicht Kenntnisse über die Bibel zu haben. Zweck und Ziel des Lernens ist, die Bibel im Kämmerchen, im Klassenzimmer und im Dorf anzuwenden.“40 Ein Nebeneffekt von diesem bibelzentrischen Ansatz war die Transkription von Stammesdialekten und die Erschaffung einer Schriftsprache, freilich mit dem Ziel, die Bibel und andere erbauliche Schriften in den Sprachen der Völker verfügbar zu machen. Während 1917 in Blantyre bloß 17 Exemplare der englischen Edition von John Bunyans Pilgrim’s Progress verkauft waren, war das Werk nach seiner Übersetzung in die Tumbuku-Sprache im Jahre 1930 nur wenige Tage nach Erscheinen der Publikation ausverkauft.41 5.2 Die Ausbildung von Frauen Laws „Europäisierung“ der Malawier galt auch dem Status der Frauen. Ein Dorn im Auge von sämtlichen christlichen Missionaren, egal aus welcher Konfession, war die überall in Afrika verbreitete Polygamie. Die Anstrengungen der Missionare gegen die Polygamie trugen aber nur wenig Frucht. Erfolge der Missionare im Kampf gegen sie wurden allerdings selten verzeichnet. Während der 1870er und 1880er Jahre suchten viele Frauen, auch mit ihren Kindern, Zuflucht bei den Missionen, wenn Gewalt zwischen den Stämmen ausbrach. Dort fanden sie tatsächlich die Sicherheit, die sie suchten; aber die Ausbildung, die sie dort bekamen, war darauf gerichtet, sie zu guten Ehefrauen für christliche Ehemänner zu machen. Sie lernten Nähen und Töpfe zu spülen, obgleich Laws zugeben musste, dass niemand Töpfe gründlicher spülen würde als Malawi-Frauen.42 In Blantyre wurden Frauen mit Wäschewaschen und Nähen beschäftigt, und ihre Kinder gingen in die Schule. Für Blantyre haben wir einige Statistiken, was Frauen und Mädchen anbelangt. In den Schulen machten Mädchen zeitweise zwischen 30 und 40% der Schüler aus, aber während der Regenzeit blieben sie meistens zu Hause, um ihren Müttern bei der Feldarbeit zu helfen. An der berühmten Overtoun Institution absolvierten im 40  Robert Laws, Memorandum regarding the Organisation and Development of the Livingstonia Mission, in: The Livingstonia Mission 1875–1900, o.O. o.J. Zitiert in McCra­cken, History (wie Anm. 2), 112f. 41  McCracken, History (wie Anm. 2), 113. 42  Robert Laws, Women’s Work in Livingstonia, Paisley 1886, 8.18–20. Zitiert in McCracken, History (wie Anm. 2), 114.

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Jahre 1900 nur 27 Mädchen von 193 Schülern (14%) das Examen. 1905 waren es fünf von 110 (4,5%), und in den nächsten vier Jahren waren es gar keine. Bis 1914 waren neun von 19 schottischen Lehrern Frauen. Der hohe Prozentsatz an schottischen Frauen spiegelte sich allerdings bei den Einheimischen nicht wider, denn einheimische Frauen waren sehr selten Lehrerinnen. Die Anzahl von einheimischen Lehrern wuchs zwar ständig an, aber bezeichnend für die Nebenrolle, die einheimische Frauen im Erziehungswesen spielten, war es, dass es 1927 bei insgesamt 1.403 Lehrenden nur 13 Lehrerinnen in sämtlichen Schulen Malawis gab.43

Lizzie Stewart (Lebensdaten unbekannt), Margaret Laws (1855–1930) und Schülerinnen Overtoun Institution, ca. 1910 (Sammlung Gerald MacDonald)

6. Die gesundheitliche Versorgung der Einwohnerinnen und Einwohner Die Missionstätigkeiten beider schottischen Stationen konzentrierten sich von Anfang an auf die Ausbreitung des Evangeliums, die Ausbildung der Bevölkerung und die medizinische Versorgung der Bevölkerung. Aber wo die Missionsschulen eine sofortige und recht positive Wirkung auf die Bevölkerung hatten, hatten die medizinischen Anstrengungen der Missionare kaum eine Wirkung.44 Zwischen 1875 und 1900 waren 16 der 70 europäischen Mitarbeiter Ärzte. Der Plan, westliche Heilkunde in die afrikanischen Dörfer zu tragen, ging aber nicht auf. Vielmehr 43  Donald Fraser, Livingstonia, Edinburgh 1915, 86–88; McCracken, Politics (wie Anm. 13), 253; McCracken, History (wie Anm. 2), 114. 44  Abhandlungen über die medizinischen Versorgungsversuche der Missionare in Malawi findet man bei Markku Hokkanen, Medicine and Scottish Missionaries in the Northern Malawi Region, 1875–1930, Lampeter 2007; Rennick (wie Anm. 16); Elspeth King / Michael King, The Story of Medicine and Disease in Malawi: The 150 years since Livingstone, Blantyre 1992.

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waren die Ärzte damit beschäftigt, sich um die Gesundheit ihrer europäischen Kollegen zu kümmern. Wegen der gesundheitsgefährdenden Umgebung war dies eine Sisyphus-Arbeit. Bis 1900 starben allein in Livingstonia 21 Missionare. Die Hauptursache war Malaria. Ganz am Anfang, als die Missionsstation noch am Kap Maclear war, behandelte Laws tropische Geschwüre, zog Zähne und führte kleinere chirurgische Eingriffe aus. Der schwierigste Eingriff war die schon genannte und wohl erfolgreiche mit Chloroform ausgeführte Entfernung eines Tumors über dem Auge eines afrikanischen Patienten.45 Es ist eine traurige Tatsache, dass die Sterblichkeitsrate in Ost- und Zentralafrika bis in die 1920er Jahre hin anstieg – wegen der durch die Europäer eingeschleppten Krankheiten wie z.B. die Rinderpest, Influenza, Tuberkulose und die sogenannte afrikanische Schlafkrankheit.46 Erfolge in der Bekämpfung von Krankheiten bei der einheimischen Bevölkerung verzeichnete man ab ca. 1896, als das erste Krankenhaus Malawis in Blantyre erbaut wurde. Nach dem Bau des Blantyre Mission Hospital folgte 1903 das Livingstone Memorial Hospital im südlichen Malawi und 1911 das David Gordon Memorial Hospital in Livingstonia.47 1901 führte die Blantyre Mission eine Krankenversicherung ein, die vor allem den Wanderarbeitern galt, die z.B. bei dem Bau der Eisenbahnlinie arbeiteten; die Krankenversicherung wurde vom Arbeitgeber bezahlt. Zwischen 1908 und 1914 wurden in Blantyre ca. 400 Patienten jährlich behandelt, aber die anderen Krankenhäuser waren selten ausgelastet. Die einheimische Bevölkerung betrachtete westliche Medizin stets mit Skepsis, und ein europäischer Arzt oder ein Krankenhaus wurde erst dann aufgesucht, wenn der einheimische Heiler nicht mehr weiterhelfen konnte. Dem Blantyre Mission Krankenhaus ist es aber einigermaßen gelungen, einheimische Arbeitskräfte einzuspannen. Bis 1897 waren fünf medizinische Assistenten beschäftigt: Sie verbanden Wunden und Geschwüre, verteilten Medikamente und maßen bei Patienten Fieber.48 1898, nach dem erfolgreichen Abschluss seines Medizinstudiums, eröffnete – als erster einheimischer Arzt in Blantyre – John Gray Kufa49 eine Klinik, und in nur wenigen Monaten behandelte er über 500 Patienten, wobei das Verbinden von Geschwüren, das Öffnen von Abszessen und das Ziehen von Zähnen zu den Eingriffen zählen, die er durchführte.50 In den 1890er Jahren waren die medizinischen Anstrengungen der Kolonialverwaltung ausschließlich auf ihr eigenes Militär und ihr Verwaltungspersonal ausgerichtet. Bis 1908 übernahm die Verwaltung auch die medizinische Verantwortung für europäische Ansiedler und eröffnete Krankenhäuser in Blantyre, Zomba und Fort Johnston; es wurden aber an sämtlichen Standorten nur Europäer be45  Vgl. Anm. 16. 46  McCracken, History (wie Anm. 2), 116f. 47  McCracken, History (wie Anm. 2), 117. 48  McCracken, History (wie Anm. 2), 118. 49  Kufa kam 1890 nach Blantyre und wurde 1894 ordiniert; Brian Morris, An Environmental History of Southern Malawi: Land and People of the Shire, London 2016, 164f.; vgl. auch George Shepperson / Thomas Price, Independent African: John Cilembwe and the Origins, Setting and Significance of the Nyasaland Native Rising of 1915, o.O. 1958, 85. 50  McCracken, History (wie Anm. 2), 118.

Die diakonische Arbeit der Free Church of Scotland ...

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handelt.51 Die Missionsstationen und die Krankenhäuser der Kolonialverwaltung kämpften ohne Erfolg gegen Lepra und Malaria. Der Grund lag darin, dass die Krankheiten noch nicht erforscht waren und kein geeignetes Heilmittel existierte. Erst seit der Einführung von Sulfon in den 1950er Jahren konnte man Lepra effektiv behandeln.52

7. Schluss Versteht man unter dem Begriff Diakonie den Dienst am Menschen, war die Missionierung des Nyasalands ein umfassendes diakonisches Unternehmen. Die üblichen Institutionen, die man mit der Diakonie in Verbindung bringt wie Armenanstalten u.ä., gab es dort freilich nicht. In Malawi war die Bildung das Mittel für die Armenfürsorge, denn alle waren arm und unterernährt. Weder die Kirche noch später die koloniale Verwaltung verfügten über üppige finanzielle Ressourcen. Das einzige Mittel, das man gegen die Armut einsetzen konnte, war die Bildung. Man ginge nicht zu weit, wenn man sämtliche Missionsanstrengungen im Nyasaland im Grunde Armenfürsorge nennen würde, denn die Verbreitung des Evangeliums zielte gegen die „geistliche“ Armut, und die Schulen zielten gegen die intellektuelle Armut. Durch Bildung sollte es den Ureinwohnern möglich gemacht werden, sich aus ihrer Armut zu befreien. Malawi ist ein Sonderfall in Afrika. Der Kolonialstaat, der 1891 gegründet wurde, war außerordentlich schwach. Die Anstrengungen der christlichen Missionen waren dagegen außerordentlich stark. Die ebenfalls starke Empfänglichkeit der einheimischen Bevölkerung für die Christianisierung führte zu einer Kirche reformierter Prägung, die noch heute die größte protestantische Kirche Malawis darstellt – die Church of Central Africa Presbyterian.

51  McCracken, History (wie Anm. 2), 119. 52  McCracken, History (wie Anm. 2), 120.



„In fröhlichem Dienst aufgeopfert“? Der Lebensweg einer reformierten Gemeindeschwester im 20. Jahrhundert von Hans-Georg Ulrichs 1. Einführung „Am wichtigsten“, so las man in reformierten Kontexten im Dezember 1982, sei die Gemeindeschwester oder Diakonisse. Deshalb sei sie innerhalb der Kirchengemeinden auch am bekanntesten. Eine von der EKD verantwortete repräsentative Umfrage „Kirche und Arbeitswelt – Bausteine zur Bestandsaufnahme eines kirchlichen Handlungsfeldes“ sollte die Bekanntheit der Pfarrer/innen in der „Arbeitswelt“ untersuchen, aber die Beschäftigten brachten besonders ihre Wertschätzung der Gemeindeschwester zum Ausdruck – vor den damals noch „Kindergärtnerinnen“ genannten Erzieherinnen, weit vor den abgeschlagenen Pfarramtssekretärinnen und Organisten. Die Betreuung von „Alten und Gebrechlichen“ gehöre – übrigens noch vor „zeitnaher Verkündigung“ und Stellungnahmen zu politischen Fragen – „zu den wichtigsten Aufgaben“ der Kirche.1 Diese Wertschätzung der Gemeindeschwester zu Beginn der 1980er Jahre ist erstaunlich, da just in diesen Jahren das Berufsbild der Gemeindeschwester nach etwa einem Jahrhundert sein Ende fand. Im Folgenden wird ein exemplarischer Bericht über den Werdegang einer Gemeindeschwester gegeben: Schwester Antje. Daran lässt sich demonstrieren: der kirchliche Hintergrund und die soziale Basis diakonischer Berufstätigkeit, Ausbildung und Alltag von Gemeindeschwestern, Überlebensstrategien der Diakonie im „Dritten Reich“, die Situation an der kirchlichen Basis für Diakonissen in der alten Bundesrepublik sowie das systembedingte Ende des Berufsbildes Gemeindeschwester.

2. Herkunft Antje Swart2 wurde am 28. Februar 1915 in Wymeer (Ostfriesland) in eine vielköpfige Familie von Kolonisten und Tagelöhnern hineingeboren. Nach dem Besuch der Volksschule war sie, gerade 14jährig, als Hausmädchen (1929–1931) tätig und erhielt danach eine hauswirtschaftliche Ausbildung (1931–1935). Seit der Konfirmation besuchte sie den Jungmädchenkreis. Antje, so ihr erwecklichen 1  Vgl. Wolfgang Kaltofen, Die Diakonissen sind am beliebtesten, in: RKZ 123 (1982), 310f. Abgedruckt ist die o.g. Studie in epd-dokumentation 52a/1982. 2  Die biographischen Daten basieren auf zwei Akten im Archiv des Diakonissen-Mutterhauses Detmold, beide verzeichnet als Mutterhaus-Buch Nr. 295: Antje Swart, Laufzeit 1934–1965, bzw. Diakonisse Antje Swart, Laufzeit 1934–1981 (im Folgenden zitiert als PA Detmold).

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Kreisen nahestehender Pastor, „hat einen auf das Ewige gerichteten Sinn u[nd] den aufrichtigen Willen, mit Ernst Christin zu sein.“ Sie sei eine regelmäßige Besucherin des Gottesdienstes und des Abendmahls. Auch sittlich konnte der Pfarrer der jungen Frau ein gutes Zeugnis ausstellen: „[I]m Gegensatz zu einem großen Teil der weibl[ichen] Jugend“ verhalte sie sich „stets taktvoll“ gegenüber jungen Männern.3 Aus der kleinen reformierten Gemeinde Wymeer gingen nach Antje Swart im Jahr 1935 auch in den Jahren 1936 und 1937 jeweils ein Mädchen zur Ausbildung nach Detmold, ebenfalls „aus einer wenig begüterten Familie“, und für 1938 seien zwei Mädchen aus der Gemeinde angemeldet.4 Offenbar wurde hier ein Diakonie-affines Umfeld gepflegt, in dem nicht zuletzt der Pfarrer entsprechend agierte. Damit sind bereits zwei wichtige Faktoren genannt: Eine Basis der Diakonie sind die erwecklichen Kreise und Gemeinden der Volkskirche. Und: Gerade für sozial schwache und bildungsferne Schichten, zumal für Mädchen, bot die Diakonie eine interessante Lebens- und Berufsperspektive.

3. Ausbildung und erste Stationen Bekanntlich ist Detmold das einzige reformierte Mutterhaus in Deutschland.5 Durch die kirchlichen Medien, durch Predigten und Mitteilungen der Pfarrer sowie durch Inspektionsreisen von Vorsteher und/oder Oberin war das Mutterhaus in den Gemeinden bekannt.6 Der erste Kontakt zwischen Antje Swart und dem Mutterhaus lief über den Ortspfarrer. „In meiner Gemeinde befindet sich ein junges Mädchen, das gerne Diakonisse werden möchte. Es ist ein treues, liebes Mädchen, das schon seit Jahren in unserem Jungmädchenverein ist.“ Er fragt an, ob sie zum kommenden Herbst (1934) angenommen werden könne. Detmold galt nicht nur als „reformiert“, sondern als ein Haus, das der Bekennenden Kirche nahestand.7 Erst am 22. November 1934 schickt sie einen handschriftlichen Lebenslauf und begründet ihren Wunsch, Diakonisse zu werden: „Da ich im Glauben an den Herrn Jesus Christus 3  So Friedrich Groenewold in einem Fragebogen des Diakonissenhauses Detmold für die Bewerbung von Antje Swart, 7.1.1935 (PA Detmold). 4  Vgl. Brief des Vorsitzenden des Bezirkskirchenrats, Gerd Hesse Goeman (1895–1982), an den Landeskirchenrat vom 30.4.1937, in: LKA Leer 74.1.32: Vereinswesen und Anstalten: verschiedene Diakonissen-Anstalten, Vol. II (1931–1948). 5  Burkhard Meier, Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold. Ein Jahrhundert in Be­richten, Bildern und Dokumenten (Beiträge zur Geschichte der Diakonie in Lippe 1), Detmold 1999, darin: ders., Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold bis zum Jubiläumsjahr 1949. Vorgeschichte, Gründung, Wachstum, 13–282. Die Zeitschrift „Tabea. Mitteilungen aus dem Diakonissenhause in Detmold“ (erschienen wohl 1900–1939) wäre sicher eine interessante Quelle. 6  Vgl. etwa [Wilhelm] J[ürges], „Unsere Stationsreise nach Ostfriesland“ vom Januar 1936, in: Meier (wie Anm. 5), 226 (ursprünglich in: Tabea, Nr. 1 [1936], 2). 7  Martin Albertz / Hermann van Senden, Das Mutterhaus in Detmold – eine Herberge der Bekennenden Kirche, in: RKZ 90 (1949), 213–218 (Wiederabdruck in Meier [wie Anm. 5], 207–210).

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stehe, möchte ich ihm dienen an den Kranken und Elenden, weil ich denke, ihm da mehr dienen zu können.“8 Hier liegt eine Anspielung auf das bekannte Wort Wilhelm Löhes vor: „Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem Herrn in seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich dienen darf.“9 Möglicherweise wurde dieser Satz in den erwecklichen Kontexten kolportiert, oder der Ortspfarrer hat ihr zu dieser Formulierung geraten. Sie wird ihre Bewerbungsunterlagen kaum ganz alleine und ohne Einsicht und Billigung von Eltern und Pastor erstellt haben. So erscheint sie von zwei patriarchalen Systemen – Kirche / Gemeinde in der Person des Pfarrers und von Familie in Person des Vaters – geführt. Sie tritt zum 1. Juli 1935 ins Mutterhaus ein. Antje Swart lebte zunächst von Juli 1935 bis April 1936 in einer Schar anderer junger Frauen10 im Mutterhaus und arbeitete auf der „Siechenstation“, wo etwa vier Dutzend alleinstehender Frauen zu betreuen waren. In den folgenden Jahren wurde sie auf verschiedenen Stationen und Fachabteilungen in Detmold und andernorts eingesetzt, etwa von April bis Juni 1936 im Krankenhaus in Neuenhaus bei Nordhorn. Dann war sie bis Oktober 1936 nahezu fünf Monate wieder zu Hause – auf Bitte des Vaters, da die nierenkranke Mutter vor einer Geburt stand und noch ein weiteres Töchterchen bekam. Umgehend schrieb Oberin Martha Coerper an den Ortspastor, er möge „ein Auge auf Antje haben [...], denn wir machen uns doch etwas Sorge“.11 Offenbar bestand die Gefahr, dass sie sich von den heimatlichen Verhältnissen und dem Pflichtgefühl – oder/und dem familiären Druck, in der Familie helfen zu müssen – bewegen lassen könnte, ihren Weg in Detmold nicht weiterzugehen. Es zerrten also wiederum zwei patriarchale Systeme an ihr: Familie und Mutterhaus. Nach der Rückkehr sollte sie wohl unter besserer Beobachtung bleiben und wurde ab Mitte Oktober wieder in Detmold eingesetzt. Nach weiteren anderthalb Jahren im Kreiskrankenhaus Nordhorn bis April 1939 absolvierte Antje Swart den so genannten „kleinen Kurs“ über vier Monate, eine Art diakonische Grundausbildung,12 und wird dann wieder nach Nordhorn geschickt, wo sie im März 1941 die Prüfung zur staatlich anerkannten Krankenpflegerin absolvierte.13 Ob Antje Swart viel von den politischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen mitbekommen hat, muss wohl offen bleiben. Unübersehbar bot das 8  Handschriftlicher Lebenslauf der Bewerberin Antje Swart, Wymeer, 22.11.1934, in: PA Detmold. 9  Zitiert nach: Wolfgang Maaser / Gerhard K. Schäfer (Hg.), Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2016, 216. 10  Ein hübsches Bild fröhlicher „Backfische“ in Meier (wie Anm. 5), 206, zeigt wohl auch Antje Swart (obere Reihe, 2.v.l.). 11  Brief Martha Coerpers an Friedrich Groenewold, Detmold, 1.7.1936, sowie ein ähnliches Bittschreiben vom 12.8.1936, in: PA Detmold. 12  April bis August 1939, vgl. Tabea, Nr. 2 (April–Juni 1939). 13  Abschrift des Ausweises über die Erlaubnis zur berufsmäßigen Ausübung der Krankenpflege, Osnabrück, 26.3.1941, in: PA Detmold.

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Detmolder Mutterhaus aber der Bekennenden Kirche einen Hort für Tagungen und Sitzungen und war in konkreten Auseinandersetzungen mit dem NS-Staat verstrickt, etwa wenn es um die Entsendung von Schwestern an Orte ging, wo eine NS-Gemeindeschwesternstation errichtet werden sollte.14 Dennoch gingen wohl auch einige Detmolder Schwestern zu den NS-Schwestern über.15 In dieser Zeit – 30. September 1939, also vier Wochen nach Kriegsbeginn – musste sie eine umfangreiche „Ahnentafel“ ausfüllen, also einen „Ariernachweis“ erbringen. Unterschrieben wurde das ausgefüllte Formular auch vom Leiter des Detmolder Diakonissenhauses Pastor Wilhelm Jürges und war mit Angaben aus dem reformierten Pfarramt in Wymeer versehen worden, da die Familie Swart bis zur Urgroßelterngeneration ganz überwiegend aus diesem Dorf stammte. Von einem Widerstand gegen diese Praxis des Rassismus ist nichts bekannt, weder im Mutterhaus noch in der Gemeinde.16 Nach dem Staatsexamen im März 1941 führte Antje Swarts Weg wieder weg von Nordhorn nach Detmold ins Landeskrankenhaus, wo sie zwei weitere Jahre bis 1943 blieb. Im Mutterhaus wurde sie am 3. Dezember 1943 vollgültig in die Schwesternschaft aufgenommen und eingesegnet. Das ihr mitgegebene Bibelwort lautete: „Führet euren Wandel, solange ihr hier wallet, mit Furcht.“ (1. Petr 1,17) Das war vorlaufend wohl als ernsthafte Mahnung zu verstehen – auch das Teil und Ausdruck eines patriarchalen Systems. Das abzulegende Gelübde beinhaltete, den Dienst zu tun „nach den Ordnungen unseres Diakonissenhauses in kindlichem Gehorsam und Vertrauen zu [den] Vorgesetzten“. In der Berufsordnung für die Schwestern konnte die Schwester auch als „Tochter“ des Mutterhauses bezeichnet werden.17 Während Antje Swart vor der Einsegnung nur mit dem Vornamen angeredet und angeschrieben wurde, hieß sie danach „Schwester Antje“.18 Schwester Antje wurde wiederum in der Grafschaft eingesetzt und arbeitete von 1943 bis 1947 im Bentheimer Krankenhaus auf der Männerstation, wo sie kriegsbedingt gewiss viel Elend hat erleben müssen. Dort überstand sie auch das Kriegsende. Dann aber tritt eine Wende in ihrem Leben ein: Hatte sie bis dahin elf Jahre lang als Krankenschwester gearbeitet, sollte sie ab dem 15. Januar 1947 als Gemeindeschwester leben, zunächst für knapp zehn Jahre im lippischen Lage, dann ab 1956 im ostfriesischen Großwolde. Nur wenige Tage vorher schreibt die Oberin 14  Ein Beispiel einer Anklage des Vorstehers im Januar 1937 bietet Meier (wie Anm. 5), 220f., vgl. auch 246 und 261 eine Auflistung aus dem Jahr 1946. 15  Vgl. die Erinnerungen von Schwester Gisela und Schwester Etta, in: Elisabeth Sauermann u.a., „Ein guter Frauenberuf zu seiner Zeit“. Diakonissen des Detmolder Mutterhauses erzählen, hg. v. Frauengeschichtsladen Lippe e.V., Detmold 2004, 28.48. 16  Das Formular findet sich in PA Detmold. 17  Sauermann u.a. (wie Anm. 15), 14.16. Die o.g. Formulierung des Gelübdes galt von 1933 bis 1968, vgl. 86. 18  „Schwester“ bezeichnet also ein Mitglied in der Gemeinschaft der Schwestern. Später wird dieser Begriff als Name für eine im christlichen Glauben dienende Frau dargestellt: Warum „Schwestern“?, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 36 (1956), 4. Hier liegt der Fokus also nicht mehr auf einer – möglicherweise katholisch anmutenden – ausgesonderten Existenzweise, sondern auf der gemeindlich-kirchlichen Funktion des Dienens.

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Martha am 9. Januar 1947 an Schwester Antje, dass sie nach Lage aufbrechen, aber zunächst noch ins Mutterhaus kommen solle. Das „Entsendungsprinzip“ war auch eine Machthandhabe. Die Diakonisse war nicht selbstständig, sondern war vielmehr dem Willen anderer unterworfen19 – und der unberechenbare Wechsel „war oft bitter“.20 Manche Schwestern verstanden die Situation des latenten Interessenskonfliktes zwischen Mutterhaus und Gemeinde, zwischen Oberin und Pastor für eigene Handlungsspielräume zu nutzen.21 Der geforderte und erwiesene Gehorsam gegenüber dem Mutterhaus und der Oberin – der in reformierten Kontexten auch mit Frage 104 des Heidelberger Katechismus, der Auslegung des 5. Gebotes, begründet werden konnte – ließ sich auch als Freiheit gegenüber der Gemeinde und dem Pfarrer nutzen, während man gleichzeitig durch die Entfernung Freiheit gegenüber dem Mutterhaus gewann. Die zahlreichen Inspektionsreisen der Oberin waren ambivalent: Sie dienten der Beziehungspflege zu den Gemeinden und zur Stärkung der Schwestern und doch auch zur Kontrolle. Neben der Oberin kam der Vorsteher und predigte in den Gemeinden, so auch in Großwolde. Das war eine wichtige „Kundenpflege“, denn es ging bei den gemeindlichen „Gestellungsgeldern“ um viel Geld, um die finanzielle Grundlage nicht nur der Arbeit der aktiven Schwestern, sondern des ganzen Systems Mutterhaus. Während über Schwester Antje in den Jahren 1947 bis 1956 in Lage wegen mangelnder Quellen nichts Konkretes mitgeteilt werden kann, sind ihre Jahre im heimatlichen Ostfriesland auf Grund der erhaltenen Dokumente gut zu schildern.22

4. Ein Vierteljahrhundert Dienst in der Gemeinde Die reformierten Gemeinden zwischen Leer und Papenburg – Ihrhove, Großwolde und Ihrenerfeld – hatten ihre gemeindliche Diakonie durch lokale Krankenpflegevereine organisiert, die vertragliche Verbindungen mit Detmold unterhielten und von dort Gemeindeschwestern zugewiesen bekamen. Zwischen den Orten bestanden Kooperationen. Der „Evangelische Gemeindepflegeverein Großwolde und Umgebung“ übertrug diesen Vertrag 1942 an die Kirchengemeinde, so wie es auch in den Nachbarorten passierte – und an zahlreichen anderen Orten, in denen Detmolder Schwestern Dienst taten.23 Grund dafür waren erneute Versuche des NS-Staates und seiner Einrichtungen, kirchliche Schwestern durch NS19  Es wurde „bedingungslos Gehorsam gefordert“, wie sich Schwester Agathe erinnerte, in: Sauermann u.a. (wie Anm. 15), 40. Schwester Gisela bezeichnet die „Akzeptanz des geforderten Gehorsams- bzw. Sendungsprinzips“ als Teil des „persönliche[n] ‚Lebenskampf[es]‘“ (44). 20  So nach der Erinnerung von Schwester Helene, in: Sauermann u.a. (wie Anm. 15), 23. 21  Vgl. Norbert Friedrich, „Man wusste immer erst was, wenn man gerufen wurde“. Die Institution als Schicksal, in: Ute Gause / Cordula Lissner (Hg.), Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft (Historisch-theologische Genderforschung 1), Leipzig 2005, 275–287. 22  Vgl. Archiv der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Großwolde: Akte Schwes­ ternstation / Soziale Dienste e.V. / Diakoniestation WOL [Westoverledingen], Laufzeit 1942–1998 (im Folgenden zitiert als Akte Schwesternstation). 23  Vgl. Meier (wie Anm. 5), 241.

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Schwestern zu ersetzen sowie die bislang noch in freier Trägerschaft befindlichen Pflegestationen zu verstaatlichen. Die Mutterhausleitung riet deshalb: „[D]ie Veränderung“ solle „möglichst wenig in Erscheinung“ treten, da man befürchte, „daß dann vielleicht die öffentlichen Zuschüsse aufhören könnten.“24 Man „verkirchlichte“ also die Stationen, um deren Existenz zu sichern. Im Vertrag zwischen dem Mutterhaus Detmold und der Kirchengemeinde Großwolde25 war geregelt, dass das Mutterhaus Schwestern entsendet und diese jederzeit abberufen kann. „Aufsicht und Schutz“ obliegen dem „Kirchenvorstand“ Großwolde, das „Amt des Beraters“ übernimmt der Vorsitzende des Kirchenrates, der in der Regel der Ortspfarrer ist. Die Gemeinde zahlt für diesen Dienst ein monatliches „Stationsgeld“26 nach Detmold. Die Gemeinde muss für die Wohnung und für Versicherungen aufkommen.27 Während der folgenden Jahrzehnte finanzierten die Gemeinden das Stationsgeld und weitere Kosten der Stationen durch eigene Mittel, durch Kollekten sowie zunehmend durch Zuschüsse vom Landkreis und von Krankenkassen. Unterdeckungen wurden in der Regel von der Landeskirche ausgeglichen. Oberin Martha verfügte im entfernten Lippe, dass Antje Swart von Lage nach Großwolde-Ihrenerfeld wechseln müsse.28 Wenige Tage später zieht sie in ihre ostfriesische Heimat. Bereits nach vier Wochen berichtet sie aus Großwolde, dass sie „hier sehr nett aufgenommen“ worden sei. „[E]s wird mir viel Liebe entgegen gebracht“, beide Pfarrer29 seien „nett“, es würden gute Predigten gehalten und „der Kirchenbesuch ist auch sehr gut. Die Gemeinden sind hier doch weit lebendiger wie in Lage.“ Neben den krankenpflegerischen Diensten „[helfe ich] [i]n beiden Kirchen [...] abwechselnd im Kindergottesdienst.“ Außerdem sänge sie im Kirchenchor mit.30 An den jährlichen Konferenzen in Detmold kann sie in den ersten Jahren kaum teilnehmen; erst in den 1970er Jahren fährt sie regelmäßig nach Detmold und nimmt auch an Fortbildungskursen teil. So ist sie in der Gemeinde oft auf sich allein gestellt. Sie macht viele Krankenvisiten, wobei nicht zuletzt Insulinspritzen verabreicht werden, und wenn weniger Kranke zu versorgen sind, macht sie Haus- und Altenbesuche, kümmert sich um Schwangere und Wöchnerinnen, hält Nachtwachen und wirkt bei Impfungen an Schulen mit. Ausweislich der Zahlen muss die Belastung immens gewesen sein.31 Die Schwester ist mithin 24  Brief des Diakonissenhauses Detmold an Pastor Hermann Züchner (Ihrhove), Detmold, 5.11.1942, in: Akte Schwesternstation. 25  Dies war ein vervielfältigter Mustervertrag mit Datum 5.11.1942, in: Akte Schwes­ ternstation. 26  Gelegentlich heißt es auch „Stationengeld“ oder später „Gestellungsgeld“. 27  Vertrag vom 28.2.1955, in: Akte Schwesternstation. 28  Brief von Waltraud Hammelsbeck an Antje Swart, 2.10.1956, in: PA Detmold. 29  Erich Hamer (1909–1995), Pastor in Großwolde 1951–1977; Gerrit Kemper (1913– 1992), Pastor in Ihrenerfeld 19­52–1978. 30  Brief von Antje Swart an Martha Coerper, 4.11.1956, in: PA Detmold. 31  Vergleichbare Zahlen aller Stationen aus dem Jahr 1948 in Meier (wie Anm. 5), 273. Für Großwolde ist u.a. aktenkundig: 3.909 Hausbesuche bei 266 Kranken (1953), 3.895/256 Kranke (1965), 4.621/238 Kranke (1969), 5.470/203 Kranke (1972), 5.472/184 Kranke (1973), 6.149/161 Kranke (1976), 6.718/175 Kranke (1977), 5.966/170 Kranke (1978), 5.041/149 Kranke (1979).

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nicht nur in der Krankenpflege, sondern auch in der Fürsorge, der Sozialarbeit und der Seelsorge tätig – später auch im Kindergottesdienst. Sie war so etwas wie eine kirchliche Allrounderin und eine „Quartiermanagerin“.32 Gewiss wirkte sie mit ihrer zupackenden Fröhlichkeit auch als ein gutes Pendent zum nüchterneren Barthianer Erich Hamer als Pastor. Waren die alltäglichen Belastungen bereits hoch, so kamen noch extraordinäre hinzu, wie etwa frühe Kindstode oder Suizide, von denen Schwester Antje nach Detmold berichtet. Zwar verwendet sie immer wieder Formulierungen wie „Gott wird es weisen“ oder „ich vertraue, daß Gott es lenkt“ u.a., aber sie scheint doch nicht über den volkskirchlichen Typus hinaus besonders „fromm“ gewesen zu sein. Probleme wurden wohl besprochen – mit dem Pfarrer, brieflich und später auch telefonisch mit der Oberin und dem Vorsteher –, in den Akten bleiben Probleme dagegen im Nebulösen33 – das ist nicht untypisch für eine patriarchale Praxis. Die Untergeordneten sollen ihre Last demütig tragen, Probleme werden nicht transparent und selbstbewusst bearbeitet. Auch systembedingte Konflikte blieben nicht aus, etwa auf Grund der Regelung, dass die Schwestern im Sommer über vier Wochen Vertretungsdienste leisteten, um dort zu helfen, wo es nach Einschätzung der Oberin besonders nötig war, um mit einer befreundeten Schwester zusammenzuarbeiten oder um neue Erfahrungen zu sammeln, etwa in einem Krankenhaus. Dieser Konflikt wurde quasi jährlich exerziert und damit demonstriert, wer eigentlich das „Zugriffsrecht“ auf die Gemeindeschwester hatte. Im Frühsommer 1964 eskalierte dieser Konflikt in Großwolde. Oberin Marga Coerper bat den Kirchenrat darum, „weder in Ihren Gedanken noch im Schriftsatz von einer ‚Kommandierung‘ oder ‚Abkommandierung‘ zu sprechen.“34 Kirchenrat und Pastor machten sich Sorgen um ihre Gesundheit, da Schwester Antje „sich in fröhlichem Dienst unter uns aufopfert“. Selbstbewusst sagte die Schwester Oberin dem Gemeindepfarrer: „Die Gemeindeschwestern brauchen keinen Vormund.“35 „Wir waren im Kirchenrat bis dahin der Meinung gewesen, mit dem Detmolder Mutterhaus36 in einem guten Partnerschaftsverhältnis zu stehen [...]. Kirchenrat hat es auch immer als seine Aufgabe angesehen, wie ein guter Pflegevater für seine Gemeindeschwester zu sorgen und ihr äußerlich und innerlich mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.“ Hier wird ein Loyalitätskonflikt zwischen zwei patriarchalen Systemen deutlich, zwischen Mut32  So Norbert Friedrich, Überforderte Engel? Diakonissen als Gemeindeschwestern im 19. und 20. Jahrhundert, in: Sabine Braunschweig (Hg.), Pflege. Räume, Macht und Alltag, Zürich 2006, 85–94, 90. 33  Vgl. Brief von Wilhelm Bödeker an Antje Swart, 15.10.1957, wo u.a. große „Nöte“ genannt, aber nicht konkret benannt werden; ein Brief von Schwester Antje vom 30.10.1957 ist nicht vollständig vorhanden, sondern nur Blatt 1, wo Anfechtungen und Nöte erwähnt sind, in: PA Detmold. 34  Brief von Martha Coerper an den Kirchenrat Großwolde, 20.6.1964, in: PA Detmold. 35  Brief des Kirchenrates Großwolde an die Leitung des Diakonissenhauses, 9.7.1964, in: PA Detmold. 36  Kursivierungen durch den Verfasser, um den patriarchalen Sprachgebrauch zu markieren.

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terhaus und Gemeinde,37 und natürlich fungierte die Oberin als patriarchal agierender Vormund. Nur Schwester Antje selbst scheint nicht gefragt worden zu sein – jedenfalls ist das nicht aktenkundig geworden. Wahrscheinlich war die Oberin der Überzeugung, die Interessen der Schwestern am besten selbst formulieren und vertreten zu können. In den Erinnerungen von Diakonissen schwang – bei aller Wertschätzung – durchaus Unbehagen mit, wenn vom „strengen Regiment“ gesprochen wurde.38 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gerät Schwester Antje in einen neuerlichen Loyalitätskonflikt, als sie ihre Eltern pflegt. Sie fühlt sich zwischen Familie und Gemeinde bzw. Mutterhaus hin- und hergerissen. „Ich bin recht unglücklich darüber, daß ich meine Gemeinde so im Stich lasse, aber was soll ich machen? [...] Es tut mir leid, daß ich die Gemeinde so schlecht versorge.“39 Sie zeigt große Skrupel, die Alten und Kranken in den Wintermonaten und die Gemeinde in der Adventszeit allein zu lassen.40 Sie fährt mehrmals in der Woche hinüber nach Großwolde, um zu arbeiten, selbst nach Nachtwachen bei der Mutter. Neben moralischen Skrupeln gesellen sich finanzielle Bedenken, wurde doch bei solchen Ausfällen seitens der Gemeinden auch kein Stationsgeld ans Mutterhaus gezahlt. Die Diakonisse musste also noch zusätzlich ein schlechtes Gewissen dem Mutterhaus gegenüber entwickeln. In den 1970er Jahren, einem sozialtechnologischen Jahrzehnt des umfassenden Sozialstaates mit dem gesellschaftlichen Ausgleich innerhalb einer „Verbandsdemokratie“, standen Strukturen, Rechtsverhältnisse und Finanzierung der gemeindlichen Pflege zur Debatte. Diakonissen in einem nicht-lohnsteuerpflichtigen Arbeitsverhältnis wirkten zunehmend anachronistisch. Mit Löhnen und Inflation stieg auch das zu zahlende Stationsgeld im Laufe der 1960er Jahre praktisch bis zu einem durchschnittlichen Monatslohn41 und dann rasant.42 Bis 1972 wurden Abrechnungen etc. noch ehrenamtlich von einem Gemeindeglied vorgenommen. Als dies nicht mehr zu leisten war, übernahm das kirchliche Bezirksrentamt Leer diese professionalisierte Arbeit. Um Professionalisierung bemühten sich zahlrei37  Friedrich (wie Anm. 32), 90, weist daraufhin, dass ein Loyalitätskonflikt zwischen Pfarrer und Mutterhaus in „vielen Berichten [sc. der Gemeindeschwestern] direkt oder indirekt thematisiert wurde“. 38  Schwester Minna: „Regiment von Schwester Martha“, in: Sauermann u.a. (wie Anm. 15), 20; Schwester Etta: „Unter dem strengen Regiment der Oberin Martha Coerper haben wir oft geseufzt“ (48). – Nur mündlich wird auch von dem Phänomen berichtet, dass Gemeindeschwestern – wohl an der autoritären Hierarchie partizipierend – streng den Kranken und Kindern gegenüber agierten. So wurde gelegentlich aus der „Diakonisse“ im gemeindlichen Volksmund die „Hornisse“. 39  Brief von Antje Swart an Waltraud Hammelsbeck, 11.3.1968, in: PA Detmold. 40  Vgl. Briefe von Antje Swart an Waltraud Hammelsbeck, 4. und 24.11.1969, in: PA Detmold. 41  Gestellungsgeld 1970: DM 860,- monatlich / durchschnittlicher Lohn etwas über DM 7.000,-/anno. 42  Gestellungsgeld 1971: DM 1.050,-, 1974 bereits DM 1.850,-, Ende der 70er Jahre um DM 2.500,-, Gestellungsgeld 1980 knapp DM 3.000,- / durchschnittlicher Lohn etwas über DM 15.000,-/anno. Während sich die Löhne also in einem Jahrzehnt verdoppelten, stieg das Gestellungsgeld nahezu um das Vierfache und lag weit über dem Doppelten eines Durchschnittslohnes. Das war in kirchlichen Gremien kaum noch zu plausibilisieren.

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che Akteure, weshalb die Politik neue Rahmenbedingungen zu schaffen genötigt war: Das Land Niedersachsen veröffentlichte 1977 Richtlinien zur Förderung und 1978 Empfehlungen zur Einrichtung von Sozialstationen. Die Einrichtung von größeren und kommunalen Sozial- oder Diakoniestationen43 in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war nicht unumstritten, auch bei den Reformierten gab es durchaus harte Debatten. In der zu Beginn des Jahres 1973 konstituierten Samtgemeinde Westoverledingen forcierte Pastor Lothar Knoch44 aus Ihrhove den Zusammenschluss der bislang vier selbstständigen Schwesternstationen zu einer zentralen Diakoniestation. Er begründete dies mit der Professionalisierung der Arbeit, auch mit der technischen Ausstattung, mit dem Neuansatz der Gesellschaftsdiakonie (Jürgen Moltmann), die nicht mehr patriarchal, sondern demokratisch grundiert sein musste, und mit der auch in anderen Bereichen gut funktionierenden Kooperation von Kirche und Kommune.45 Am 11. April 1977 wurde die Diakoniestation Westoverledingen eröffnet, nicht mehr in einem kirchlichen Gebäude, sondern in der kommunalen Begegnungsstätte am Rathaus. Die Gründung der Sozialstationen wurde von manchen auch als ein Stück „Verstaatlichung“ verstanden. Die Schattenseite der sozialstaatlichen Regelungen und der öffentlichen Finanzierung der flächendeckenden Versorgung mit ambulanter Pflege war eine Ökonomisierung („Dienstleistung statt Hilfe“).46

5. Auflösung der Zugehörigkeit zum Mutterhaus Die Ökonomisierung ihres Arbeitsfeldes erlebte Schwester Antje nicht mehr im aktiven Dienst, auch wenn sie noch wenige Jahre im Rahmen der 1977 gegründeten Dia­ koniestation in der Verbandsgemeinde arbeitete. Sehr viel früher gab es bereits 1973 Überlegungen zur Problematik der Altersvorsorge der Diakonissen. Diese bestand aus Einzahlungen bei der Angestelltenversicherung (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile), der technischen Zusatzkasse Dortmund und dem Mutterhausfonds. Da alles vom Mutterhaus bezahlt wurde, hatte auch das Mutterhaus den Rentenanspruch, nicht die Diakonisse. Das Mutterhaus stellte dafür den Ruhesitz im Mutterhaus, Ausstattung und ein Taschengeld bereit.47 Das Mutterhaus erbat von den Schwestern 43  Vgl. Friedrich (wie Anm. 32), 91f., vgl. auch Abschnitt 2. 44  Über dessen Tätigkeit gibt es einen Bericht: Diddo Wiarda, Tradition und Gegenwart. Drei Jahrzehnte Pfarrdienst in zwei ostfriesischen Gemeinden. Ein Vergleich, in: Ausblicke. Kirchliche Existenz zwischen Verkündigung und Sozialarbeit. Festschrift für Lothar E. Knoch, hg. v. Achim Detmers / Habbo Knoch / Paul-Gerhardt Voget, Hamburg 1995, 33–42. 45  [Lothar Knoch], Warum Diakoniestation?, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 20 (1978). 46  Johannes Göhler, Vielen Kirchengemeinden machen die Sozialstationen Kummer. Das kirchliche Profil droht immer mehr verloren zu gehen, in: Sonntagsblatt für evangelischreformierte Gemeinden, Nr. 24 (1982). – Dagegen ein harscher Leserbrief von Elisabeth Voget-Overeem, in: Sonntagsblatt für evangelisch-reformierte Gemeinden, Nr. 26 (1982), 8. 47  Aktennotiz eines Gesprächs des Rentamts Leer mit dem Mutterhaus, 6.11.1973, in: Akte Schwesternstation. – Es gab wohl während der ganzen 70er Jahre immer wieder rechtlich-formale Differenzen zwischen dem Mutterhaus in Detmold und der Kirchenverwaltung in Leer.

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eine rechtsverbindliche Abtretung ihrer Rentenansprüche. Am 9. Mai 1976 leistete Antje Swart die Unterschrift und erklärte sich „in allen Punkten“ mit der „Versorgungsordnung“ des Detmolder Mutterhauses „einverstanden“.48 Schwester Antje hat wohl immer gemacht, was Eltern, Pfarrer und Oberin ihr vorgaben. Schwester Antje hatte sich schon „eigne[ ] Gedanken u[nd] Pläne für den Feierabend“ gemacht. Einen Tag vor ihrem Geburtstag kam seitens des Mutterhauses „der Antrag für die Rente, u[nd] zugleich möchte ich unterschreiben, daß ich die Rente nicht für mich haben wollte. Ich war stutzig u[nd] konnte dies nicht unterschreiben. Habe ich es mir doch so ausgedacht, daß ich hier in Ostfriesl[an]d in der Heimat bleiben möchte. Dazu brauche ich Geld, weil ja alles viel teurer geworden ist, kann ich nicht mit 420 DM auskommen. Darum möchte ich bitten, mir so viel Geld für den Lebensunterhalt zu geben, wie ich nötig habe. Ich glaube, daß ich nicht zuviel verlange, habe ich doch schon fast 45 J[ahre] gearbeitet [...]. Vielleicht sind Sie traurig [...], daß ich Ansprüche stelle.“49 Nur zwei Tage später trifft ein Antwortschreiben der Oberin ein: „Zu der Frage der Abtretung der Rente an das Mutterhaus lesen Sie doch bitte noch einmal unsere Versorgungsordnung, mit der Sie sich mit Ihrer Unterschrift am 9.5.1976 ‚in allen Punkten einverstanden‘ erklärt haben [...]. Es ist richtig, Sie haben jahrzehntelang für das Mutterhaus gearbeitet, und das Stationsgeld für Sie ist der gemeinsamen Kasse der Diakonissen zugute gekommen. Dafür hat das Mutterhaus für Ihren Lebensunterhalt gesorgt, die Versicherungsbeiträge gezahlt und Ihnen eine Versorgung bis ans Lebensende zugesichert.“ Bezeichnend für die Machtverhältnisse ist die Formulierung, Schwester Antje habe „für das Mutterhaus gearbeitet“. Bei dem sonst propagierten christlichen Idealismus, in den Bedürftigen für Christus selbst gearbeitet zu haben, ist dies überraschend – oder enthüllend. Den gewährten „Lebensunterhalt“ hier zu nennen, nachdem die Schwester ein ganzes Leben lang in einfachsten Verhältnisse gelebt hatte, ohne einen Pfennig ansparen zu können, ist vermessen. Dass ein Arbeitgeber Rentenbeiträge zu entrichten hat, war eine der Grundlagen des bundesrepublikanischen Rentensystems – und stellte im Übrigen in diesem Fall nur einen kleinen Teil des einkassierten Stationsgelds dar, selbst wenn man Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteil addiert. Die Arbeit der Gemeindeschwestern war in jedem Fall ein gutes Geschäft für das Mutterhaus. Von dort erklärte man: Für den Fall, dass eine Schwester lieber zur Verwandtschaft zöge, gäbe es von Detmold Unterhaltshilfe, die aber geringer als die Rente sei. Wenn sie die volle Rente wolle, müsse sie austreten, womit sie allerdings ihr Gelübde bräche.50 Der Austritt aus der Schwesternschaft war in der Geschichte der Diakonissen tabuisiert; in Kaiserswerth etwa galt in früheren Jahrzehnten ein strenges Umgangsverbot mit Ausgetretenen.51 Am 1. Mai 1981 erklärte Schwester Antje ihren Austritt aus der Gemeinschaft: „Nach langem Überlegen bin ich zu dem Entschluß gekommen, daß ich aus der 48  Das Schreiben liegt vor in PA Detmold. 49  Brief von Antje Swart an Waltraud Hammelsbeck, 6.3.1980, in: PA Detmold. 50  Brief des Diakonissenhauses an Konrad Poets, Pastor in Nordhorn, 14.3.1980, in: Akte Schwesternstation. 51  Vgl. Käthe Rakete, Schwester Käthe Breiding, in: Gause / Lissner (wie Anm. 21), 98–116, 108.

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Mutterhausgemeinschaft ausscheiden möchte. Es ist kein leichter Weg.“ Sie müsse ihre leibliche Schwester unterstützen, und das ginge nicht mit der kleinen Rente, wenn die Abzüge für das Mutterhaus fehlten. „Herzlich möchte ich danken für alle Liebe u[nd] Freude, die ich im Mutterhaus u[nd] der Gemeinschaft erfahren durfte [...], ich weiß, Sie werden traurig sein, es tut mir leid, wenn ich Sie betrübe, aber es geht nicht anders.“52 Natürlich war dies eine Enttäuschung für die Oberin, die gleichwohl tadelnd erklärte: „Daß Sie mit Ihrem Austritt unserer Gemeinschaft und auch unserer gemeinsamen Kasse keinen guten Dienst erweisen, wissen Sie.“53 Schwester Antje war nach einem langen Berufsleben nun keine Diakonisse mehr. Sie wurde noch zum 1. August 1981 als freie Schwester von der Diakoniestation in ein Angestelltenverhältnis übernommen und „nachverrentet“. Zum 1. Oktober 1982 trat sie in den Ruhestand, den sie nicht im Mutterhaus, sondern in der Herkunftsfamilie in Wymeer verlebte. Am Ende ihrer Berufsbiographie und zu Beginn ihres letzten Lebensabschnitts entschied sie sich also gegen die Gemeinschaft der Schwestern, die ihr wohl nach schmerzlichem Abwägen weniger wichtig als die weitere Familie war. Ihre Eltern waren tot, und eigene Kinder und Enkel hatte sie nicht, aber es gab die Geschwister und deren Familien, zu denen sie zurückkehrte. Noch zwei Jahrzehnte erlebte sie ihren Ruhestand in Wymeer und verstarb hochbetagt am 10. März 2003. Schwester Antje hatte bis dahin oft in Gehorsam gehandelt. Bei der Wahl der neuen Verrentungsart und damit beim Austritt aus der Gemeinschaft konnte sie sich auch deshalb von kirchlichen Autoritäten – sei es der landeskirchlichen Rechtsabteilung, dem Diakonischen Werk und/oder dem Pfarrer vor Ort – leiten lassen, weil das Ergebnis ihrem Wunsch entsprach, ihren Lebensabend in der Familie verleben zu können. Zu diesem Wunsch gehörte wohl auch die von ihr empfundene Pflicht, der Familie zu helfen.

6. Schlussbemerkungen Obsolet wurde im Laufe der 1970er und 1980er Jahre nicht die Arbeit, die die Gemeindeschwestern taten, sondern die Art und Weise, wie diese Arbeit organisiert wurde. Mindestens in diesem konkreten Fall der Schwester Antje wurden Krise und Ende durch das Prinzip „alles oder nichts“ durch die Oberin selbst herbeigeführt. Offenbar war man reformunwillig, oder das System war nicht reformierbar, weil zu seinem Wesen ein tiefsitzender Patriarchalismus gehörte. Kirchliche Frauenverbände hatten bereits zur Jahrhundertwende den Fehler gemacht, sich von der emanzipatorischen Frauenbewegung – sei es bürgerlicher oder sei es sozialistischer Provenienz – zu distanzieren, vielmehr hielt man am Frauenbild der Unterordnung fest und stützte so patriarchale Systeme.54 Es war zu kurz geschlossen, wenn die Oberin Waltraud Hammelsbeck Ende der 1990er Jahre zu den Gründen, „daß keine Probeschwestern mehr eingetreten sind“, zählte, „daß es heute innerhalb 52  Brief von Antje Swart an das Mutterhaus Detmold, 1.5.1980, in: PA Detmold. 53  Brief von Waltraud Hammelsbeck an Antje Swart, 5.5.1981, in: PA Detmold. 54  Vgl. Ute Gause, Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protes­ tantischer Perspektive, Tübingen 2006, 203.

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der Kirche so viele Möglichkeiten der Mitarbeit der Frau gibt, ohne sich in eine Lebensgemeinschaft einfügen zu müssen. Auch fällt es manchen jungen Frauen schwer, sich das Leben in einer eingeschlechtlichen Gemeinschaft vorzustellen.“55 Ob rechtzeitige Reformen mit revidierten Wertvorstellungen möglich gewesen wären, um das Ende des Berufsbildes „Diakonisse / Gemeindeschwester“ zu verhindern, steht dahin.

55  Waltraud Hammelsbeck, Das Evangelische Diakonissenhaus Detmold in der zweiten Jahrhunderthälfte. Erinnerungen, Ereignisse, Entwicklungen, in: Meier (wie Anm. 5), 283–360, 313f.



Von der Diakonischen Theologie zur Sozialdiakonie in der Reformierten Kirche in Ungarn von Sándor Fazakas „Arme habt ihr allezeit bei euch!“ (Dtn 15,11–15). Mit diesem biblischen Satz möchte ich keinesfalls nur ein Klagewort oder einen Aufschrei aus Mittel-OstEuropa zu Gehör bringen – auch wenn so ein Seufzen seine Berechtigung hätte, wenn wir die Folgen einer globalisierten Marktwirtschaft, die weiter andauernden wirtschaftlichen Ost-West-Gefälle und die dadurch entstandene neue Migrationswelle innerhalb Europas und Richtung Europa betrachten. Darauf werde ich im Laufe meines Vortags noch zurückkommen. An dieser Stelle möchte ich zunächst dem Genfer Reformator Johannes Calvin das Wort geben. Im Jahr 1555 hielt er nämlich – getragen von dem Grundgedanken „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (vgl. Dtn 15,11) – eine Reihe von Predigten über Dtn 15, in denen er seine Reflexion über Armut und die individuelle und kollektive Verantwortung ihr gegenüber sehr markant vor Augen stellt und die bis heute aktuell sind.1 Der biblische Satz und die Auslegung Calvins dürfen nicht dahingehend miss­ verstanden werden, dass man die Armut fatalistisch und resignativ einfach zur Kenntnis nimmt. Vielmehr geht es hier um einen Aufruf zur Abschaffung von Armut. Armut ist zwar Gottes Geheimnis in der Welt. Aber anstelle der beruhigenden Hinnahme des status quo schickt Gott den Menschen auf den Weg des Glaubens – Armut gibt es, aber nur, um bekämpft zu werden.2 Mit diesem Auftakt leite ich den Grundton meines Vortrags ein, der sich in vier Teile gliedert: (1.) Erstens möchte ich kurz die historischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen in Ungarn erörtern, die den Rahmen der kirchlichen Diakonie bilden. (2.) In einem zweiten Schritt will ich die Möglichkeiten und Grenzen der kirchlichen Verantwortung aus der Perspektive kirchlicher Diakonie klären, um dann (3.) die Grundzüge der „Theologie der dienenden Kirche“ darzustellen. Schließlich (4.) werden die neuen Herausforderungen und nötigen Impulse für die sozialdiakonische Verantwortung der Kirchen in einigen Grundzügen skizziert.

1  Vgl. Predigt über Dtn 15,11–15, in: CO 27, 336−349; Übersetzung: Calvin-Studienausgabe, Bd. 7: Predigten über das Deuteronomium und den 1. Timotheusbrief (1554–1556), hg. v. Eberhard Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 2009, 67–79; vgl. auch Hans Scholl, Hilfe für die Armen. Eine Predigt von Johannes Calvin, in: RKZ 124 (1983), 29–32; Matthias Freudenberg, „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Joh 12,8). Armut als Herausforderung für das kirchliche Handeln im reformierten Protestantismus, in: Martin Böttcher u.a. (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche leiten. FS für Gerrit Noltensmeier, Wuppertal 2005, 93–111, 99. 2  CO 27, 336−349.

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1. Historische, soziale und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Diakonie in Ungarn Nach der politischen Wende 1989/90 befand sich Ungarn, genau wie die meisten anderen Staaten Osteuropas, vor einem langwierigen Wandlungsprozess, in dem sich das Land auf ökonomischer, sozialer und politischer Ebene von einem autoritär-totalitären System zu einer freiheitlichen Demokratie verwandeln sollte. Dieser Prozess verlief aber in den Ländern dieser Region nicht überall gleichmäßig: Erfahrungen mit demokratischen Aufbrüchen aus der eigenen Geschichte (etwa der Volksaufstand 1956 in Ungarn oder der Prager Frühling 1968), der Grad der Menschenrechtsverletzungen und Repressionen in den früheren Regimen, kulturelle Hinterlassenschaften der sozialistischen Systeme, die Reminiszenz der alten und die Unzufriedenheit mit den neu erworbenen gesellschaftlich-politischen Strukturen beeinflussten die Geschwindigkeit und Tiefe der Transformationsprozesse in den einzelnen Staaten.3 Der Übergang von einem totalitären System zu einer freiheitlichen Demokratie lässt sich sowohl in Ungarn als auch in weiteren mittel-osteuropäischen Gesellschaften anhand mehrerer Merkmale charakterisieren.4 Ich möchte nur ein Merkmal herausheben: Der Übergang lässt sich durch die Eröffnung einer starken und fast unbegründeten Zukunftsperspektive für die Bürger charakterisieren. Durch die Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse erhofften sich nicht wenige Bürger die Verbesserung ihrer eigenen materiellen Situation auf das Niveau eines Wohlstands westlicher Art. Innerhalb weniger Jahre erwiesen sich aber diese Erwartungen als unhaltbar. Die Begleiterscheinungen wirtschaftlicher Umwälzungen (wie Arbeitslosigkeit, Kostenexplosion, Inflation, Korruption), das andauernde Wirtschaftsgefälle zwischen den östlichen und westlichen Teilen Europas, das neu entstandene massenhafte soziale Elend und die neuere Migrationswelle in Richtung wohlhabender Gesellschaften haben zu bitteren Enttäuschungen und oft auch zu Nostalgie und Sehnsucht nach der alten sozialen Sicherheit aus der Zeit des Sozialismus geführt. Anscheinend stehen die Erfahrungen in einer Welt nach 1989 gegenüber den erhofften Erwartungen weit zurück. Die Herausbildung einer neuen Gesellschaftsordnung des Landes erwies sich als schwierig. Sozialwissenschaftliche Studien und weitere Analysen weisen dar-

3  Näher ausgeführt: Sándor Fazakas, Protestantische Identität und gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe. Europäische Integration und ‚soziales Europa‘ als Herausforderungen des ungarischen Protestantismus, in: Traugott Jähnichen / Torsten Meireis u.a. (Hg.), Soziales Europa? (Jahrbuch Sozialer Protestantismus 7), Gütersloh 2014, 227−245; vgl. Gert Pickel, Nostalgie oder Problembewusstsein? Demokratisierungshindernisse aus der Bewältigung der Vergangenheit in Osteuropa, in: Siegmar Schmidt / Gert Pickel / Susanne Pickel (Hg.), Amnesie, Amnestie oder Aufarbeitung? Zum Umgang mit autoritären Vergangenheiten und Menschenrechtsverletzungen, Wiesbaden 2009, 129−158. 4  Vgl. Fazakas (wie Anm. 3), 230ff.; Gert Pickel / Detlef Pollack u.a. (Hg.), Osteuropas Bevölkerung auf dem Weg in die Demokratie. Repräsentative Untersuchungen in Ostdeutschland und zehn osteuropäischen Transformationsstaaten, Wiesbaden 2006.

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auf hin, dass Ungarn gerade seinen dritten Modernisierungsversuch erlebt.5 Den ersten wollte der aufgeklärte Besitzadel Mitte des 19. Jahrhunderts durchführen, um das Elend der europäischen Großstädte als Begleiterscheinung des damaligen Kapitalismus zu vermeiden. Die Herausbildung einer dazu nötigen tragenden Schicht, des Bürgertums, kam gerade in Schwung, als die Heere des österreichischen Kaisers und des russischen Zaren und die darauffolgende Terror- und Vergeltungswelle nach der Märzrevolution 1848 diesen Reformbestrebungen ein Ende bereiteten. Der zweite Modernisierungsversuch setzte mit der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie ein, also mit dem Ausgleich 1867 und dem Realismus im politischen Denken. Die Entwicklung war atemberaubend – um die Jahrtausendwende war die Infrastruktur von Budapest auf dem Niveau Berlins. Der Kriegsniederlage im Ersten Weltkrieg und die darauffolgenden Jahre führten aber zu einem vollkommenen Zusammenbruch. Nach dem Zweiten Weltkrieg drängten die So­w­jets ihre politische, gesellschaftliche und ökonomische Struktur Ungarn und den umgebenden Gesellschaften der Region auf. Während der Jahrzehnte des KádárRegimes setzte ein bescheidener Wohlstand ein, aber der Preis dafür war eine katastrophale Verschuldung des Staates und das Aufblühen einer Schattenwirtschaft als Überlebensstrategie der Bevölkerung. Der dritte mit der Wende um 1989/90 einsetzende Modernisierungsversuch litt und leidet immer noch unter dem schweren Erbe früherer Jahrzehnte: Überlebensstrategien, die Suche nach Gesetzeslücken, gegenseitiges Misstrauen, Geheimnisse bezüglich der früheren Zusammenarbeit mit der kommunistischen Staatsmacht und das Auseinanderfallen der öffentlichen und der privaten Sphäre. Was die wirtschaftliche Leistung des Landes angeht, konnte eine tragfähige bürgerliche Mittelschicht noch nicht vollständig herausgebildet werden. Das schwer verschuldete Land, dem eine kapitalstarke Unternehmerschicht fehlt, konnte dem Wettbewerb mit den westlichen Großkonzernen und Investoren nicht standhalten. Nur ganz wenigen ist es gelungen, in der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung Fuß zu fassen; das gilt vor allem für die frühere politische Elite, die ihre ideologisch-politische Macht zur Wirtschaftsmacht konvertiert hatte – eine Tatsache, die bis heute im Land äußerst irritierend wirkt. Und eine weitere Bemerkung: Die süd-mittel-osteuropäischen Länder des heutigen Europa hatten wegen ihrer geopolitischen Lage und der historischen Ereignisse nie die Möglichkeit gehabt, den Status einer Wohlfahrtsgesellschaft und eines Nationalstaates als Ergebnis der Modernitätsentwicklung zu erreichen. Die westeuropäischen Länder konnten geschichtlich gesehen – wie Historiker und Soziologen mit Recht feststellen − durch eine relative Ausgewogenheit der sozialen Sicherheit, der Rechtsstaatlichkeit, der Wirtschaftsinteressen und der Moral ihr Gesellschaftsleben strukturieren. In Mittel- und Osteuropa verlief dieser Prozess umgekehrt, was zum schwierigen Erbe der braunen und nicht zuletzt der roten 5  Vgl. dazu ausführlich Péter Nádas, Der Stand der Dinge. Warum der Versuch einer dritten Modernisierung Ungarns nicht gelungen ist, in: Lettre International 95 (2011), 39−49.

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Diktaturen gehört. Die Erinnerung an die Zeit der Erniedrigung und Entwürdigung bzw. die innere und äußere Zerrüttung, die diese Regime hinterlassen haben, wirken immer noch nach. Und diese negative Entwicklung wird jetzt durch den Unmut gegenüber der Stärkung Europas ergänzt. Aus der Perspektive süd-mittelosteuropäischer Gesellschaften wird das noch durch das sog. Zentrum-PeripherieSyndrom (vgl. Wallerstein-Theorie)6 vertieft: Die starken Staaten im Zentrum Europas sind durch eine unglaublich starke, an der Oberfläche kaum wahrnehmbare nationalstaatliche Identität gekennzeichnet. Sie handeln und agieren aus einem selbstbewussten wirtschaftlichen Interesse heraus, während die Länder an der Peripherie weiterhin als billiger Arbeitsmarkt und zugleich als teurer Absatzmarkt fungieren dürfen. Dieses Wohlstandsgefälle zwischen Zentrum und Peripherie soll – wegen der Monopolisierungsinteressen im Kern – zementiert werden, was eine Erklärung für die anwachsende Migrationswelle der letzten Jahre aus den neuen EU-Mitgliedsländern Richtung Westen ist. Die mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegenden Entwicklungen haben gezeigt, dass die anfängliche enthusiastische Überzeugung, dass ein autoritäres politisches System wie der Kommunismus endgültig der Vergangenheit angehört, einem nüchternen Pragmatismus gewichen ist. Die mittel-ost-europäischen Gesellschaften befinden sich also in einem Zustand zwischen Kontinuität und Abbruch. Zwar bemüht man sich, den institutionellen Rahmen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weiter auszubauen, aber dieses Bestreben wird durch die mangelhafte demokratische Bürgerkultur, andauernde wirtschaftliche Krisensituationen, die Banalität des Politischen, den mangelnden Respekt vor der Meinung des Anderen und den Verlust an Diskurs und Argumentation überschattet. Laut Statistiken ist die Entwicklung bezüglich der Armutsbekämpfung effektiver als während der Jahre unmittelbar nach der Wende. Aber soziale Fragen, Wirtschaftsphilosophien und Debatten über die Rolle des Staates werden nicht als nüchterne fachliche Diskussionen, sondern als Glaubenskriege geführt.

2. Möglichkeiten und Grenzen der kirchlich-diakonischen Verantwortung In den geschichtlichen Umbruch- bzw. Krisensituationen des mittel-osteuropäischen Raumes ist die Rolle der Kirchen bedeutsamer worden. Das zeigte sich nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, zur Zeit des ungarischen Volksaufstandes 1956 und nach der Wende 1989/90. Einerseits findet sich die Kirche in solchen historischen Übergangssituationen vor die Frage gestellt, wie und auf welche Weise sie an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens teilnehmen kann – besonders wenn sie lange Zeit von den sozialen Anliegen zurückgedrängt wurde und nur noch mit dem gottesdienstlichen Leben innerhalb der eigenen Kirchenmauern zu tun gehabt hat. Andererseits stellt die Gesellschaft hohe Erwartungen an die Kirchen. In Ungarn richten sich heute enorm hohe Hilfs- und Orientierungserwartungen an die Kirchen. Dies wird teilweise in einer Rollenzuweisung deutlich, nach 6  Immanuel Wallerstein, Bevezetés a világrendszer-elméletbe [Einleitung in die WeltSystemtheorie], Budapest 2010.

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der die Gesellschaft und die Politik den Kirchen die Verantwortung in sozialen Fragen zuweisen und die Kirchen diese Zuweisung – auf ziemlich unreflektierte Weise − auch annehmen. Kirchliche Diakonie in Ungarn blickt auf eine lange, aber auch ambivalente Geschichte zurück.7 Organisierte diakonische Tätigkeit finden wir bereits im 16. Jahrhundert, aber ausschließlich in Trägerschaft der einzelnen Kirchengemeinden. 1529 wurde ein Heim in Debrecen (Debreceni Ispotály) für die Verpflegung von Alten und Armen der eigenen Gemeinde gegründet. Das mehr als 400 Jahre lang bestehende Haus diente als Modell für weitere Städte und Gemeinden im Land. Verschiedene Heime wurden gebaut, organisierte kirchliche Diakonie wurde gefördert. Die Fürsten und Patrone der Reformierten Kirche haben großzügige Zuschüsse für die Versorgung der Armen, Alten und Waisen gegeben; die Unterstützung von armen, verwaisten, aber begabten Jugendlichen für Studien im In- und Ausland betrachteten sie als strategische Aufgabe. Erst im 19. Jahrhundert öffneten sich die Reformierte Kirche und die ungarische Gesellschaft unter dem Einfluss deutscher, niederländischer und schottischer inner-missionarischer Tätigkeit für Kranken- und Diakonissenhäuser in Ungarn. Die anfangs sehr skeptische und für die eigene kirchliche Tradition als fremd betrachtete Diakonie „westlicher Art“ erlangte nach jahrzehntelanger harter Arbeit Akzeptanz und Anerkennung. So entstanden erste diakonische Vereine wie die Filadelfia – Erster Ungarischer Diakonissenverein (1903)8 oder die Diakonissenanstalt des Frauenbunds Lorántffy Zsuzsanna (1904).9 Die erste kirchliche Anstalt wurde ebenso in Debrecen 1912 gegründet. Unter dem Einfluss der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Veränderungen des 19. Jahrhunderts und dem Gemeinschaftsideal der Aufklärung entstanden auch in Ungarn verschiedene freie Vereine, Gemeinschaften und Verbände als Einrichtungen gegenüber den traditionellen Institutionen. Diese Tendenz ist im Leben der Kirche auch nachzuweisen. Um die Jahrhundertwende bis in die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hat die missionarische und diakonische Aktivität der Kirche nachgelassen; als Träger der missionarischen und diakonischen Arbeit sind nur noch die den Kirchen gegenüberstehenden oder mit den Kirchen konkurrierenden religiösen Vereine und Organisationen zu finden. Die kirchliche Erneuerungsbewegung nach dem Ersten Weltkrieg zielte auf die Integration aller religiösen Aktivitäten unter dem Motto: „Vereine müssen verkirchlicht werden, die ganze Kirche muss Träger der Mission sein.“10 Diakonie sollte also als Dimension der christlichen Kirche und als Lebensäußerung der Gemeinde wahrgenommen werden. Die Reformbestrebungen erzielten aber nicht einfach die Zentralisierung der missionarischen Dienste unter einem Dach − vielmehr neigten die damaligen geistlichen Führer der Reformierten Kirche dazu, 7  Vgl. István Nagy, Diakónia, Nagykőrös 2011, 34−57; Eleonóra Erzsébet Géra, Református karitatív intézmények a magyar fővárosban 1850–1952 [Reformierte karitative Einrichtungen in der ungarischen Hauptstadt 1850−1952], (Diss.) Budapest 2006. 8  Géra (wie Anm. 7), 144ff. 9  Géra (wie Anm. 7), 166ff. 10  László Ravasz, Egyház és egyesület [Kirche und Verein], in: ders., Legyen világosság. Beszédek, írások [Sei Licht. Reden und Schriften], Bd. I, Budapest 1938, 439−458.

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• die Pluralität der diakonischen Arbeit zu fördern, • die Verantwortung für kirchliche Diakonie (Ausbildung, Finanzen) möglichst auszudehnen, • zugleich aber um Rationalität hinsichtlich der neuen Initiativen und Neugründungen zu werben.11 Nach einer kurzen Blütezeit erlebte die organisierte Diakonie auch in Ungarn schwere Verluste während des Zweiten Weltkriegs. Der Neuanfang und Wiederaufbau nach 1945 erwies sich trotz schwieriger finanzieller Nöte als hoffnungsvoll. Die Etablierung des kommunistischen Regimes bereitete dieser Entwicklung ein schmerzhaftes Ende. Die am Anfang unbedeutende kommunistische Partei wurde zu einer alleinherrschenden, alles bestimmenden Kraft und hat in wenigen Jahren erreicht, alle anderen Parteien, Bewegungen und Organisationen aus dem Weg zu räumen. In dieser totalen Welt hatten die Kirchen und kirchlichen Organisationen einschließlich der diakonischen Einrichtungen keinen Platz mehr.12 Das war die Phase der Konfrontation, die erste Phase nach der Machtübernahme der Kommunisten. Die Verfassung garantierte zwar die Religionsfreiheit, weil die kommunistische Gesellschaft sich als ideale Gesellschaft zeigen wollte; gleichzeitig versuchte sie aber die Aktivität der Kirchen zu beschränken, indem sie deren Lebens- und Arbeitsbedingungen unmöglich gemacht hat. So entstand eine Lage, die fast undurchschaubar war, weil es eine sogenannte „Freiheit der Kirchen“ gab, in der die Gottesdienste gehalten werden konnten, der antireligiöse Kampf und die atheistische Propaganda aber immer stärker wurden. Kirchliche Schulen wurden verstaatlicht, kirchliche Organisationen aufgelöst und kirchliche Würdenträger gezwungen, ihr Amt niederzulegen. Die von der kommunistischen Regierung erzwungene Vereinbarung zwischen Kirche und Staat aus dem Jahr 1948 hat zwar die Beibehaltung diakonischer Anstalten vorgesehen, aber für das Einhalten dieser rechtlichen Garantien gab es seitens der Kirche keine Kraft und staatlicherseits keinen Willen. Das Jahr 1951 hat die Auflösung fast aller diakonischen Einrichtungen (bis auf wenige Ausnahmen) und Organisationen mit sich gebracht. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat seit den 50er Jahren ist anders verlaufen als in der ehemaligen DDR. Die kommunistische Kirchenpolitik meinte in Ungarn: Solange Kirche existiert, muss sie für unsere Ziele benutzt werden – innenpolitisch, indem die Kirche die Loyalität der Gemeindeglieder dem Staat gegenüber stärkt; außenpolitisch, indem sie die Glaubwürdigkeit der Regierenden in den Augen des Auslands (vor allem des Westens, auf dem Gebiet der Ökumene) bewirkt. Nicht nur der Staat rechnete aber damit, dass das Zusammenleben mit 11  Vgl. Lajos Szabó, A felügyelői szolgálat teológiája [Theologie des Aufseherdienstes], in: ders., Civil kontroll vagy társszolgálat [Zivilkontrolle oder Gemeinschaftsdienst], Budapest 2000, 30−41. 12  Mehr zu den drei Phasen im Verhältnis von Staat und Kirche in Ungarn bei Sándor Fazakas, Kirche und Staat in Ungarn, in: Michael Beintker / Sándor Fazakas, Öffentliche Relevanz der Reformierten Theologie (Studia Theologica Debrecinensis – Sonderheft), Debrecen 2008, 69−76; vgl. Gusztáv Bölcskei, Aufklärung und Säkularisation als Herausforderung für die Kirchen in Ungarn, in: Karl Christian Felmy (Hg.), Kirchen im Kontext unterschiedlicher Kulturen. Auf dem Weg ins dritte Jahrtausend, Göttingen 1991, 385−392.

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den Kirchen eine relativ kurze, vorübergehende Episode in der Geschichte der neuen Gesellschaft sein würde. Unter anderen Gesichtspunkten dachte man im Allgemeinen auch innerhalb der Kirche ähnlich: Wir müssen nur überleben, das kann nicht mehr lange dauern. Das Zusammenleben erwies sich aber nicht als Provisorium. Die harte Phase der Konfrontation verlief bis zum Volksaufstand im Jahr 1956. Nach der blutigen Niederschlagung der Revolution befand sich die Kirche – die die Vergeltung der Politik und die Retorsionen wegen der kirchlichen Teilnahme an dem Volksaufstand erleiden sollte – wieder in einer Ghetto-Situation (zweite Phase). Die gesellschaftliche Situation dieser Periode war dadurch gekennzeichnet, dass die Gesellschaft in wenigen Jahren alle Krisenerscheinungen erleben musste, die in den westlichen Ländern Europas durch die Industrialisierung und Urbanisierung auf zwei Jahrhunderte verteilt verliefen. Der Zerfall der Gesellschaft, der in der ersten Epoche durch die politische Ideologisierung begonnen hatte, ging in dieser Periode durch das neue Wirtschaftssystem weiter. Der praktische Materialismus breitete sich aus, und diese Lebenseinstellung brauchte die Religion und die Kirche nicht mehr. Die Religionspolitik des Staates war in dieser Periode sehr ambivalent. Einerseits wurde der ideologische Kampf weitergeführt, andererseits wurde im Interesse der Systemstabilisierung versucht, eine offene Konfrontation zu vermeiden. Diese Strategie hat eine Politik der Isolierung der Kirchen mit sich gebracht. Den Kirchen wurde zwar eine bestimmte „innere Freiheit“ gewährt, d.h. sie sollten und konnten ihre Tätigkeit innerhalb der Kirchenmauern, also im Gottesdienst, ausüben, aber sie wurden immer mehr von den gesellschaftlichen Problemen ferngehalten. In der dritten Phase, der „Epoche des Dialogs“, wurde die Instrumentalisierung aus der ersten Phase wieder aufgenommen: Solange Kirche existiert, muss sie für unsere Ziele benutzt werden! In dieser Epoche wird deutlich: Der Weg, den die Gesellschaft betreten hat, hat sichtbare Grenzen. Die Wertekrise, das Fehlen der echten menschlichen Gemeinschaften, die Legitimationskrise des politischen Systems und die unerwünschten Begleitungserscheinungen einer Gesellschaft in Transformation wie der Zerfall der Familie, eine steigende Selbstmordrate, Alkoholismus, sinkende Arbeitsmoral, Jugendkriminalität usw. bieten ein erschr­e­ ckendes Bild. Nach der Strategie der Ghettoisierung versuchte also der Staat, die Religion und die Kirchen in einer neuen Weise zu integrieren und in den Dienst seiner Ziele zu stellen. Ein vorsichtiger Dialog zwischen Christen und Marxisten im Sinne der gemeinsamen progressiven Zielsetzungen (Patriotismus, ethische Normen, Frieden usw.) begann. Ideologische Fragen wurden ausgeklammert und Gemeinsamkeiten gesucht und gegenseitig gelobt. Obwohl der Dialog eine Sache von wenigen (Parteiideologen, Theologen, Kirchenleitern) geblieben ist, hat er positive und zugleich negative Ergebnisse mit sich gebracht. Als positive kann man nennen, dass dadurch eine militante und dogmatische Religionskritik verstummte; im inneren Leben der Kirche entstanden neue Impulse und brachen neue Kräfte auf. Als negative muss man feststellen: Die Kirche wollte, um diesen neuen Erwartungen zu entsprechen, ihre ganze Struktur umstellen, ihre Lehre neu formulieren, sich neu definieren. So entstand in Ungarn eine eigenartige Theolo-

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gie zur Legitimierung der Anpassung: die Diakonische Theologie bzw. die „Theologie der dienenden Kirche“.

3. Grundzüge der „Theologie der dienenden Kirche“ Der Grundgedanke der „Theologie der dienenden Kirche“ geht einerseits auf die eben geschilderte Wiederbelebung der Diakonie und der Inneren Mission und ihre Erfahrungen angesichts des Ausbruchs der sozialen Nöte im 19. Jahrhundert zurück. Andererseits haben die Deutungen der Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs und die Grundeinstellung der protestantischen Kirchen zur politischen Wende im Land nach dem Krieg eine wesentliche Rolle bei der Suche nach kirchlicher Neuorientierung gespielt. In der historischen Katastrophe des verlorenen Kriegs und in der darauffolgenden politischen Wende wurde – laut der pietistisch gefärbten Argumentation damaliger Kirchenführer – „Gottes Urteil, gleichzeitig aber auch seine Barmherzigkeit erfahren. Die alte Gesellschaft ist untergegangen, und die Kirche darf ihre Schuld nicht verheimlichen. Es ist eine Gnade Gottes, daß sie noch weiter wirken kann.“13 Die eigentliche Entfaltung dieser Theologie setzte erst 1948 ein, parallel zu der erzwungenen Vereinbarung zwischen der Kirche und dem kommunistischen Staat. Angestrebt wurde die kirchlich-theologische Umorientierung angesichts der sozialistischen Gesellschaftsordnung des Landes. Die wesentlichen Grundentscheidungen werden erst in der 60er Jahren laut und bauen auf zwei Thesen auf: a) Christus als Herr dient; b) Das Liebesgebot muss zeitgemäß ausgelegt werden. „Damit wird der dienende Christus zur Analogie der dienenden Kirche.“14 Elemér Kocsis, Bischof und früherer Professor für Dogmatik in Debrecen, versucht, die Anfänge und die Entwicklung der „Theologie der dienenden Kirche“ systematisch darzustellen. Er stellt fest, dass der „Dienst“ der Kirche, auch wenn er ein ganz bestimmtes sozialethisches Gewicht hat und eine gesellschaftliche Stellungnahme beinhaltet, von dem christologischen und ekklesiologischen Ansatz der Wort-Gottes-Theologie ausgeht.15 Seine These lautet: „Jesus Christus, Gottes Sohn, Offenbarung Gottes, auf Grund des göttlichen Liebesgesetzes, dient auch, wenn er selbst Herr ist.“16 In diesen Dienst wird auch die Kirche − unter Bezug-

13  Vilmos Vajta, Die diakonische Theologie im Gesellschaftssystem Ungarns, Frank­furt a.M. 1987, 13; vgl. Albert Bereczky, Két ítélet között. Időszerű próféciák [Zwischen zwei Urteilen. Aktuelle Prophetien], Bd. I−II, Budapest 1947. Näher ausgeführt bei Sándor Fazakas, „Új egyház felé?“ A második világháború utáni egyházi megújulás ekkléziológiai konzekvenciái [„Für eine neue Kirche?“ Ekklesiologische Konsequenzen der kirchlichen Erneuerungsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg], Debrecen 2000. 14  Vajta, Die diakonische Theologie (wie Anm. 13), 16. 15  Elemér Kocsis, Teológiai gondolkodás egyházunkban [Das theologische Denken in unserer Kirche], in: Tibor Bartha (Hg.), Tanulmányok a Magyarországi Református Egyház történetéből 1867–1978 [Studien aus der Geschichte der Reformierten Kirche in Ungarn 1867−1978] (Studia et Acta Ecclesiastica 5), Budapest 1983, 563−599, 567. 16  Ebd.

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nahme auf Karl Barth17 – als „vollkommene Gestalt der erwählten Gemeinde“ mit einbezogen, um „Spiegel des Erbarmens Gottes“18 zu sein. Kocsis hält die Erwählung der Gemeinde und die Teilnahme der Kirche am Versöhnungswerk Christi für den hermeneutischen Schlüssel der „Theologie der dienenden Kirche“. Ziel des Dienstes ist der endgültige Friede der Menschheit und die gottgewollte materielle, geistlich-geistige und moralische Ordnung der Welt.19 Diese Entscheidung bedeute zugleich – so weiter Kocsis – ein neues Ethos, das hervorgebracht und gestärkt wird durch eine „zeitgemäße Erklärung des Liebesgebotes Christi“20. Dieses Liebesgebot macht den Menschen aufgeschlossen für alle Probleme der Welt in dem Bewusstsein, dass es keine ein für alle Mal gültigen Normen und Ordnungen gibt. Diese Liebe befähigt die Kirche, Grenzen zu überschreiten, nämlich aus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische Gesellschaft. Ein anderer Theoretiker, Benő Békefi, versucht die Prämissen der „Theologie der dienenden Kirche“ aus der Natur Christ abzuleiten, wenn er den Dienst der Kirche als Werk des diakonos Christus, als Teil der Diakonie Jesu Christi und als aktuellstes Handeln des dreieinigen Gottes zu begreifen und zu proklamieren versucht.21 Diese Methode – von István Bogárdi-Szabó als selektive Christologie22 bezeichnet – hätte nicht die Zustimmung, sondern eher die Kritik Barths hervorrufen können, weil nach Barth die christologische Begründung des Dienstes der Gemeinde den totus Christus nicht aufgeben darf. Christus und seine Gemeinde kann Barth nicht in der Weise zusammensehen, wie es die Theoretiker der „Theologie der dienenden Kirche“ versucht haben. Nach Barth hat die Diakonie zeichenhaften Charakter: In ihr hat die Gemeinde „Gelegenheit, wenigstens zeichenhaft den kosmischen Charakter der in Jesus Christus geschehenen Versöhnung [...] sichtbar zu machen“23. Die der theoretischen Darstellung der „Theologie der dienenden Kirche“ entsprechenden sozialethischen Entscheidungen finden ihren Niederschlag in folgenden Erkenntnissen, wie Vilmos Vajta nach Kocsis zusammenfassen kann: • Die Kirche erkennt die Berechtigung und moralische Überlegenheit der sozialistischen Revolution in Ungarn an, weil diese Revolution die brennenden Fragen der Menschen lösen kann. • Das Recht auf Privateigentum und damit die Ethik des Eigentums wird zuguns­ 17  Über die kontextbezogene bzw. instrumentalisierte Rezeptionsgeschichte der Theologie Barths in Ungarn vgl. u.a. Sándor Fazakas, Links- und Rechtsbarthianer in der reformierten Kirche Ungarns, in: Martin Leiner / Michael Trowitzsch (Hg.), Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, 228−235. 18  Karl Barth, KD II/2, 231−235. 19  Kocsis (wie Anm. 15), 576. 20  Ebd. 21  Benő Békefi, Diakóniánk, mint Jézus Krisztus diakóniája [Unsere Diakonie als Teil der Diakonie Jesu Christi], in: Református Egyház 18 (1951), 4−6. 22  István Bogárdi-Szabó, Egyházvezetés és teológia a Magyarországi Református Egyházban 1948 és 1989 között [Kirchenleitung und Theologie in der Reformierten Kirche Ungarns zwischen 1948 und 1989], Debrecen 1995, 94. 23  Barth, KD IV/3, 1022.

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ten des Kollektivs aufgegeben und damit die Vergesellschaftung des Kapitals, der Industrie und der Landwirtschaft kirchlich gerechtfertigt. • Der alte nationalistische Patriotismus wird aufgegeben und der neue sozialistische Patriotismus gefördert. • Die Friedensfrage, Abrüstung und friedliche Koexistenz der Völker bekommen vorrangige Bedeutung.24 Noch bedenklicher ist, wie leitende ungarische Theologen die Bestimmung dieser Theologie ansehen: Die Theologie des Dienens hätte demnach die Besonderheit, dass Dienen die positive Zusammenarbeit mit den Marxisten und die aktive Teilnahme am Aufbau der sozialistischen Gesellschaft bedeute.25 Als kritische Bedenken gegenüber der Diakonischen Theologie wurden schon in den 80er Jahren exegetische, systematische und historische Einwände formuliert, vor allem aus der Reihe lutherischer Theologen. Die „Theologie der dienenden Kirche“ bzw. die Diakonische Theologie hat den Anspruch erhoben, als schriftgemäße Theologie zu gelten. Als exegetischer Einwand wird aber beanstandet, dass ausschließlich der diakonos-Titel Christi in Mittelpunkt steht und weder die zentralen christologischen Hoheitstitel und noch das dreifache Amt Christi nach den Fragen 31 und 32 des Heidelberger Katechismus beachtet werden. Später wird zwar der einseitige diakonos-Christus (wahrscheinlich als Antwort auf die kritischen Einwände) durch die Dialektik kyrios-diakonos ersetzt – mit der Forderung, die Kirchen täten gut daran, wenn sie sich auf die Person Jesu als den kyrios-diakonos konzentrierten, weil die Rechtfertigung sich durch den kyrios ereignet, vor allem durch die „Diakonie des kyrios“26. Aber weiterhin bleibt das Problem akut: In Bezug auf die Rahmengeschichte aus Mt 20,28 und Mk 10,45ff. („Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zur Bezahlung für viele“) wird das Erlösungswerk Christi durch sein Leiden und seinen Tod ausgeblendet zugunsten des Beispiels Jesu. Der Hauptakzent liegt also auf den sichtbaren weltlichen Taten Jesu – nach seinem Beispiel – und auf den Taten seiner Kirche. Mit Recht fragt ein Kritiker aus der 80er Jahren, István Gémes: „Hätte nicht Luther seiner Zeit dies als heimtückische und raffinierte Form der ‚Werkgerechtigkeit‘ zurückgewiesen?“27 Diese Beispielhaftigkeit führt aber zu einer weiteren Konsequenz: Bedeutet die Diakonie der Kirche die Anteilnahme und Weiterführung der Diakonie Jesu, dann führt diese Treue der Nachfolge Jesu zu einer Selbstaufgabe der Kirche. So wie der Gehorsam Jesu in seinem Dienst zu seiner Selbstaufgabe im Tod am Kreuz geführt hat, hat die Kirche keinen anderen Weg, als die totale selbstvergessene Sendung in die Welt zu leisten bis zu der Zeit, 24  Vgl. Vajta, Die diakonische Theologie (wie Anm. 13), 16f. 25  So etwa Károly Pröhle, Theologieprofessor der Evangelisch-Lutherische Kirche, zitiert nach Vilmos Vajta, Umstrittene Theologie der Diakonie, in: Lutherische Monatshefte 22 (1983), 114−119, 114. 26  Vgl. Zoltán Káldy, Jesus Christus – Herr und Diener, in: LM 27 (1977), 14−26, 22. 27  István Gémes, Párbeszédkísérlet a „diakóniai teológiával” [Ein Gesprächsversuch mit der diakonischen Theologie, übers. v. Pál Gémes], in: Koinonia 26 (1980), 1−11, 6; vgl. Vajta, Die diakonische Theologie (wie Anm. 13), 45.

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in der es keine Kirche mehr geben wird. Ist diese These nicht die Adaption der marxistisch-leninistischen These – fragt wieder Bogárdi-Szabó – über das Absterben der Religion im christlichen Gewand?28 Aus systematisch-theologischer Sicht werden weitere Probleme im Zusammenhang mit der Frage der Ekklesiologie laut. Beide um die „Theologie der dienenden Kirche“ miteinander rivalisierenden Kirchen, die Lutherische und die Reformierte Kirche – genauer gesagt: deren kirchenleitende Persönlichkeiten als höchste theologische Autoritäten – sind der Meinung: Die reformatorische Lehre über die Kirche muss weitergeschrieben werden. Die Reformatoren hätten nämlich – so die Begründung − wegen ihrer Polemik gegen die Deformation der mittelalterlichen Kirche keine Zeit oder Möglichkeit mehr gehabt, die ekklesiologischen Konsequenzen richtig auszuarbeiten.29 Auf diese Weise werden zum einen – bei den Lutheranern − die klassischen notae ecclesiae durch die „Theologie der dienenden Kirche“ erweitert: Diakonie – besonders in ihrer erweiterten, sozialethischen, die ganze Gesellschaft und Menschheit umfassenden Form – wird als Kennzeichen der Kirche der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung als gleichrangig zugeordnet. Diakonie bzw. Liebestätigkeit wird nicht als Frucht des vom Evangelium geweckten Glaubens und der Liebe angesehen, sondern als eine eigenständige, der Verkündigung gleichgestellte Aufgabe der Kirche verstanden. Ein prominenter Vertreter der Diakonischen Theologie, der lutherische Bischof und ab 1984 Vorsitzende des Lutherischen Weltbundes Zoltán Káldy, betont immer wieder: Die Kirche, die nur das Evangelium verkündet, ist keine Kirche.30 Die Definition der Confessio Augustana über die Kirche müsse mit der Ausübung der Diakonie ergänzt werden.31 Mit Recht stellt Vajta fest: „Diese falsche Theologie macht keinen Unterschied zwischen dem Werk Gottes und Werk des Menschen, sondern sie vermengt und stellt beides als gleichrangig dar.“32 Keine Frage, für die Kirche genüge es nicht, nur als gottesdienstliche Gemeinschaft Zeugnis abzulegen. Sie bedürfe der Ergänzung durch eine soziale, wirtschaftliche, politische Existenz, genannt Diakonie. Trotzdem liegt der Verdacht nahe, dass in der Diakonischen Theologie Kriterien für die Existenz der Kirche nicht dem Evangelium entnommen, sondern aus dem sozialpolitischen Sosein der Gesellschaft unkritisch übernommen werden. In der Reformierten Kirche – unter der Wortführung des leitenden Bischofs Tibor Bartha – versuchte man, in der Abendmahlslehre einen neuen Akzent zu setzen: Im Abendmahl erlebt der gläubige Mensch und die Gemeinde eine Wandlung, eine Metamorphose. Sie wird zu Christi Leib, und auf diese Weise hat sie Anteil an Christi Erlösungswerk im Sinne eines processus redemptionis. Das heißt, der Akzent verschiebt sich von Christus auf die die Transformation erlebende und 28  Vgl. Bogárdi-Szabó (wie Anm. 22), 100. 29  Bogárdi-Szabó (wie Anm. 22), 137ff.; vgl. Tibor Bartha, A keresztyén szolgálat teológiai összefüggései [Theologische Zusammenhänge des christlichen Dienstes], in: Theologiai Szemle [Theologische Rundschau] 16 (1973), 9. 30  Vgl. Vajta, Die diakonische Theologie (wie Anm. 13), 50. 31  Vgl. Zoltán Káldy, zitiert nach Vajta, Die diakonische Theologie (wie Anm. 13), 53. 32  Vajta, Die diakonische Theologie (wie Anm. 13), 50.

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ihrer Sendung bewusst gemachten Gemeinde. Eucharistie wird auf diese Weise zu einem Sakrament der Diakonie.33 Aus historisch-kirchengeschichtlicher Sicht wird zu Recht angemerkt, dass die Diakonische Theologie versucht, ihren Totalanspruch auch im Bereich der Kirchengeschichtsschreibung durchzusetzen. Gewisse Entscheidungen und Ereignisse in der Geschichte der eigenen Kirche wurden umgedeutet und ins Licht bzw. ins Interesse der neuen theologischen Richtlinien gestellt. Die neue Methode sollte die Angleichung an die sozialistische Geschichtsschreibung ermöglichen und das Gesamtbild der Entwicklung der Konfessionen, der Kirchen und einer christlichen Kultur in Ungarn festschreiben, um dann den durch den Sozialismus bewirkten „großen Umbruch“ im Staat und in der Kirche feiern und diesen Umbruch als richtungsweisend bejahen zu können.34 Diese „Theologie der dienenden Kirche“ bzw. die Diakonische Theologie im Gesellschaftssystem Ungarns während des real existierenden Sozialismus vor der Wende 1989/90 ist – wie oben skizzenhaft geschildert − mehr Experiment als Ergebnis und kann einer wissenschaftlichen Prüfung nicht standhalten. Folge dieses Experiments war aber eine geistliche und geistige Verunsicherung unter den Pastoren und Gemeindegliedern bezüglich der diakonischen Dimension und des Auftrags ihrer Kirche.

4. Neue Herausforderungen und bleibende Ansichten Nach der Wende 1989/90 konnte die Kirche ihre Infrastruktur für die kirchliche Diakonie und das kirchliche Bildungswesen neu aufbauen, teilweise mit Hilfe staatlicher Mittel (z.B. mit Entschädigungsmitteln für vom kommunistischen Staat enteignete kirchliche Immobilien) bzw. durch Bewerbung um öffentliche Gelder oder mit Unterstützung kirchlicher Hilfsorganisationen aus Westeuropa. Sozialdiakonische Einrichtungen und Projekte in kirchlicher Trägerschaft haben bis heute einen guten Ruf. Die Präsenz kirchlicher Dienstleitungen im Sozialbereich, im Pflegebereich und in der Armenfürsorge sowie in der Integration der sozialen und ethnischen Minderheiten (z.B. unter der Sinti- und Romabevölkerung) erfreut sich einer hohen Akzeptanz und Anerkennung. In vielen Ortschaften agiert die Kirche mit Hilfe ihrer Einrichtungen sogar als Arbeitgeber oder Wirtschaftsfaktor. Aber auch wenn kirchliche Diakonie einige Tausende von Alten und Kranken, geistig bzw. körperlich Behinderten, Drogen- und Alkoholabhängigen erreicht, zeichnet sich die Tendenz ab: Die Krise der modernen Gesellschaft, die vielfältigen Opfer der wirtschaftlichen Integration und die drückende Last einer Vergangenheit unter der Diktatur führt auch zu einer fragwürdigen Verlagerung allein auf die soziale Arbeit. Hauptgewicht kirchlicher Aktivität scheint von der Verkündigung und der kirchlich-seelsorgerlichen Arbeit auf das Feld der sozialen Dienstleistungen überzugehen. Die Einsicht, dass die Diakonie eines der wichtigsten Kommunikationsmittel für die Botschaft der Kirche sein kann, wächst nicht 33  Bogárdi-Szabó (wie Anm. 22), 143ff. 34  Vgl. Vajta, Die diakonische Theologie (wie Anm. 13), 56−71.

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nur in kirchlichen Kreisen. Umso dringlicher meldet sich die Forderung, die bisherige Tätigkeit und die Erfahrungen nach 1990 kritisch zu prüfen. Theologie und Kirche ist es angeraten, auf bestimmte Fragen und Krisensymptome kritisch und selbstkritisch einzugehen und die sich aus der sozialdiakonischen Tätigkeit ergebenden Fragen theologisch zu reflektieren. 4.1 Politische Vereinnahmung vermeiden Wie schon erwähnt, steigt die Erwartung und Akzeptanz kirchlicher Diakonie in breiten Kreisen der Öffentlichkeit, und eine Kooperation der Kirchen in sozialpartnerschaftlichen Beziehungen mit den weiteren Akteuren der Gesellschaft ist unentbehrlich. Selbst der moderne Staat kann und darf eine sozial engagierte Kirche als Verbündete betrachten, ohne dabei den Anspruch auf die eigene weltanschauliche Neutralität und Laizität aufgeben zu müssen. Das Problem in Ungarn besteht heute darin, dass der Staat sich als christlicher Staat zu definieren versucht und weltanschaulich nicht neutral bleiben will. Der Staat versucht also angeblich, christliche Normen mit politischen Mitteln durchzusetzen – und die Kirchen nehmen die ihnen zugewiesene Rolle als gesellschaftliche Kräfte ziemlich unkritisch und unreflektiert wahr. Aber auch wenn die Politik die historischen Kirchen als Verbündete betrachten will und in bestimmten Bereichen (z.B. im sozialen Dienstleistungssektor und in der Vermittlung ethischer Kompetenzen usw.) als Partner behandelt und ihren Dienst in der Gesellschaft dotiert, darf die Frage nicht übergangen werden: Wie christlich sind das Land und die Gesellschaft überhaupt? Bezeichnet sich eine politische Partei oder die Regierung als „christlich“ und sieht sich in der historischen Rolle des Verteidigers des christlichen Abendlandes, des Verteidigers einer christlichen Kultur und Gesellschaft in Ungarn und Europa und stößt diese kollektive Selbstbehauptung in breiten Kreisen der Gesellschaft auf Akzeptanz (wie es im Fall eines Referendums und bei den Wahlen quittiert werden kann), dann darf diese Beobachtung nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um ein weltanschauliches Ressentiment handelt. Sowohl in der Vorstellung der sich als christlich bezeichnenden politischen Elite als auch bei ihren potenziellen Wählern steht die christliche Weltanschauung immer noch einer angeblich liberalen, laizistischen und sozialistisch-kommunistischen Ideologie gegenüber. Selbst die Kirchen stehen der christlichen Identität der jeweiligen Machthaber oder der politischen Elite eher mit Sympathie, aber auch ziemlich unkritisch gegenüber. Sie vergessen dabei, dass es hier um mehr geht als um eine metaphysisch fundierte Ideologie. Sie vergessen schnell, dass der Glaube an Gott anders und mehr ist als eine Bindung an eine religiöse Weltanschauung, dass Gott in Jesus Christus mit jedem Einzelnen eine besondere, persönliche und einmalige Geschichte hat und dass diese Geschichte bzw. Hinwendung Gottes zu den Menschen nicht bloß eine sittliche Weltordnung errichtet, sondern ganz persönliche Hingabe und Verantwortung von den Menschen verlangt. 4.2 Ekklesiologische Konsequenzen bedenken Auch wenn sozialdiakonische Einrichtungen bzw. Projekte in kirchlicher Trägerschaft und eine wachsende Präsenz kirchlicher Dienstleitungen im Sozialbereich

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sich einer hohen Akzeptanz und eines guten Rufs erfreuen, und auch wenn die Kirche mit Hilfe ihrer Einrichtungen sogar zu einem wichtigen Arbeitgeber oder Wirtschaftsfaktor geworden ist, muss man die nüchterne Realität hinnehmen: Diese Aktivität der Kirche hat nicht zu einem entsprechenden und anfangs erhofften Wachstum der Mitgliedschaftszahlen oder zu einer Wiederbelebung der Gemeindeaktivität vor Ort geführt. Alltagserfahrungen und demoskopische Untersuchungen belegen die Tatsache, dass die Wiederkehr der Religiosität und Spiritualität in der Gesellschaft nicht mit einem entsprechenden Interesse für die verfasste Kirche zusammenfällt, dass Religion weiterhin in den Privatbereich gehört und dass die Botschaft der Kirche als unverbindlich wahrgenommen wird. Was für eine Perspektive bietet sich hier? Bleibt die Diakonie weiterhin eine Funktion der Kirche (auch bei einer schrumpfenden Mitgliederzahl), oder wird die Diakonie selber zu einer eigenständigen Gestalt als Kirche? Oder werden die heutigen Erfahrungen mit den organisatorisch und wirtschaftlich zweifelsohne plausiblen Strukturen durch soziale Dienstleistungen der Kirche bzw. der Kirchengemeinden nicht wieder zu dem selbsttrügerischen und falschen pseudo-theologischen Urteil der Diakonischen Theologie führen, dass ohne Diakonie eine Kirche keine Kirche mehr sei? Es bleibt weiterhin eine theologisch zu klärende Frage, welche Rolle die durch gelebte Diakonie bewirkten Solidaritäts- und Gemeinschaftserfahrungen für den Gestaltungsauftrag der christlichen Kirche bezüglich ihrer institutionellorganisatorischen Gestalt künftig haben könnten. 4.3 Diakonie als Qualitätsmerkmal kirchlicher Tätigkeit konzipieren Wie schon angedeutet, hat der Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur freien Marktwirtschaft rasch zu massenhaftem sozialem Elend und zu bitteren Enttäuschungen geführt. Aber auch der aktuelle und andauernde marktwirtschaftliche Handlungsdruck führt zu einer Kostenexplosion im sozialen Bereich. Das drängt die kirchliche soziale Arbeit unvermeidlich in die Richtung einer ständigen Rationalisierung, Institutionalisierung, Professionalisierung und Ökonomisierung. Aber dadurch besteht die Gefahr, dass das Zeugnis des Glaubens und der kirchliche Dienstcharakter der Diakonie verlorengehen. Selbstverständlich sind sozialpolitische Normen und unternehmerische Instrumente in der Gestaltung der institutionalisierten Diakonie unumgänglich. Aber wie einst Sándor Joó – Theoretiker kirchlicher Diakonie vor der kommunistischen Diktatur – mit Recht feststellen konnte: Diakonie ist nicht einfach eine moralische Aufgabe der Einzelnen oder die humanitäre Hilfe einer Gruppe, nicht einmal Wohltätigkeit einzelner Christen, sondern Funktion der Kirche.35 „Sie ist historisch aus der Liebestätigkeit der christlichen Gemeinde herausgewachsen und nicht aus dem sozialstaatlichen Subsidiaritätsprinzip.“36 Soziale Arbeit ist also noch keine Diakonie.

35  Vgl. Sándor Joó, Református Diakonátus [Das reformierte Diakonat], Budapest 1939, 28−36. 36  Tamás Dizseri, Intézményes diakóniánk szükségessége és lehetőségei [Notwendigkeit und Möglichkeiten der organisierten Diakonie], in: Théma 3 (2001/2–3), 37−42, 40.

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Um die Existenzberechtigung der kirchlichen Verkündigung und der wissenschaftlichen Theologie als Qualitätssicherungsmittel zu beweisen, möchte ich wieder Calvin das Wort geben. Er betrachtet die Problematik aus individualethischer und sozialethischer Sicht. Auf individualethischer Ebene sieht Calvin den Sinn der Armutsfrage darin, dass Gott Arme und Reiche zugleich in seine Schule nimmt. Er spricht nicht im Allgemeinen über die Armen, sondern über „[d]ein[en] Arme[n], dein[en] Bedürftige[n], der im Lande weilt“37. Gott könnte ja die Armut aus der Welt schaffen – er tut es aber nicht, weil er unseren Glauben prüfen will. Die göttliche Prüfung geht im Fall des Reichen so vor, dass der Reiche erkennen soll: Gott fordert im Armen seine – des Reichen – Solidarität und Liebe heraus. Dieser müsse sich mit seinem Reichtum Gott gegenüber dankbar verhalten und sich davor hüten, seinen Reichtum als Machtinstrument gegen seinen Nächsten einzusetzen. Umgekehrt wird aber auch der Arme einer Prüfung unterzogen: Wird er sein Geschick in Geduld annehmen? Oder versucht er, seine Lage durch Raub und Betrug zu lindern? Die beiden werden also in eine von Gott verbundene und aneinander gebundene Gemeinschaft einbezogen – eine Gemeinschaft, in der Geben und Empfangen, Teilgeben und Teilhaben, Begegnung und Kommunikation die Dimension dieser Co-Existenz als „geistliches Wunder“ bilden.38 Auf sozialethischer Ebene bringt Calvin die praktischen Konsequenzen dieser Gemeinschaft zur Geltung: Anstelle des Bettelns sollen Armenhäuser, Waisenhäuser und Spitäler eingerichtet werden, was in Genf schon seit 1535 geschah. Selbst für die christliche Gemeinde unterstreicht Calvin die Gleichberechtigung des Dia­ konats unter den vier Ämtern der Pfarrer, Doktoren, Ältesten und Diakone, weil nach ihm die rechte Kirche ohne Diakonie nicht auskommen kann. Calvin sieht aber auch die Gefahr einer Institutionalisierung39 christlicher Diakonie: Wenn Dia­konie nicht vom richtigen Geist getragen wird, verflacht sie zur mechanischen Suppenausteilung: „Man dient den Menschen mit Suppe und vergisst darüber Gott“40. Er sagt nichts gegen die Armensuppe, vielmehr will er die geistliche Dimension dieser Arbeit unterstreichen. 4.4 Sich den aktuellen Herausforderungen stellen: die Flüchtlingsproblematik Dass von Gewalt, Hunger und Not bedrängte Menschen schutzbedürftig sind und die Aufnahme der aus existenzieller Bedrängnis fliehenden Flüchtlinge ein Gebot der Humanität und der christlichen Verantwortung sei, bestimmt den Grundton fast aller kirchlichen Verlautbarungen.41 Die von den Flüchtlingswellen betroffe37  CO 27, 342; Übersetzung: Calvin-Studienausgabe, Bd. 7 (wie Anm. 1), 72; vgl. Scholl (wie Anm. 1), 29–32. 38  Vgl. Albrecht Thiel, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium, Neukirchen-Vluyn 1999, 266−287. 39  Über die Bestrebungen Calvins gegen die Institutionalisierungsgefahren der Diakonie und gegen die Verobjektivierung der Armutsfrage vgl. Hans Scholl, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, in: RKZ 124 (1983), 64–73, 68. 40  CO 53, 290. 41  Vgl. u.a. die gemeinsame Erklärung der leitenden Geistlichen der 20 evangelischen Landeskirchen in Deutschland zur Flüchtlingssituation, https://www.ekd.de/

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nen Länder – auf eigene Lösungsmethoden zurückgeworfen − sind durch ein weites Spektrum und zugleich durch eine Ambiguität zwischen professionell gestalteten Hilfsinitiativen bzw. Flüchtlingshilfe einerseits und Angst vor Überforderung bzw. Härte in der Asylpolitik oder der Dichtmachung von Grenzen andererseits gekennzeichnet. Evangelische Kirchen Europas sind auch gefragt, und es liegt kein Zweifel darin, dass kirchliche Diakonie, Hilfswerke, Freiwillige, Haupt- und Ehrenamtliche sich im Dauereinsatz befinden. Doch die Frage lässt sich nicht umgehen: Kann die evangelische Kirche und Theologie in der zugespitzten Lage angesichts der in der Öffentlichkeit geführten Debatte um politische und kulturelle Identität, um Moral, Verantwortung oder europäische Werte die eigene Stimme finden, oder wiederholt sie alte und neue Klischees auf unreflektierte Weise? Und in wieweit können kirchliche Verlautbarungen, Stellungnahmen und konkret handgreifbare Hilfsaktionen den ethischen Anforderungen gerecht werden, nämlich Hilfe für die Notbedürftigen zu gewähren, Orientierung zur rechten Zeit zu geben, zugleich aber Realitätsbezogenheit, Kompetenz und Sachlichkeit zu bezeugen? Meines Erachtens bleibt – über die konkreten sozialen Hilfsleistungen hinaus – die Deutung und Analyse der Zusammenhänge, die zur Migrationswelle geführt haben, eine bleibende Aufgabe kirchlich-theologischer Reflexionen für und vor der Auswahl kirchlicher Handlungsoptionen, wenn man den Prozess des künftigen Zusammenlebens gestalten und nicht nur erleiden will. Komplexe Ursachen und Folgen erfordern komplexe und komplementäre Maßnahmen in der Bewältigung der Krise. Unter anderem sind die bisherigen Ergebnissen der Integrationsforschung oder der Sicherheitspolitik zu berücksichtigen. Die Aufnahme von Fremden oder die Begegnungen mit anderen Kulturen und Religionen müssen theologisch angegangen und weiter thematisiert werden. Die Erfahrungen mit der eigenen Migrations- und Integrationsgeschichte (z.B. nach dem Zweiten Weltkrieg und in der Zeit der kommunistischen Diktaturen) dürfen dabei nicht ausgeklammert werden.42

5. Schlussfolgerung Angesichts der eben geschilderten Entwicklungen und Herausforderungen ist daran zu erinnern, dass die Verantwortung der Kirche für eine Kultur des Helfens pm157_2015_gemeinsame_erklaerung_zur_fluechtlingssituation.htm (Abruf: 6.7.2017), und die gemeinsame Stellungnahme der ungarischsprachigen reformierten Kirchen im Karpatenbecken: Statement of the General Convent on the European Migration Crisis, http:// www.reformatus.hu/mutat/statement-of-the-general-convent-on-the-european-migrationcrisis (Abruf: 6.7.2017); vgl. Sándor Fazakas, Ihr seid auch Fremdlinge gewesen: Kirchliche Stellungnahmen auf dem Prüfstand, in: ZEE 60 (2016/1), 4−9. 42  Chancen und Möglichkeiten der protestantischen Kirchen in Europa werden zur Zeit kontrovers diskutiert. Sachbezogenheit theologischer Reflexionen und Argumente werden oft durch emotionale oder moralisierende Töne erschwert; vgl. Ulrich H.J. Körtner, Mehr Verantwortung, weniger Gesinnung. In der Flüchtlingsfrage weichen die Kirchen wichtigen Fragen aus, in: Zeitzeichen 17 (2016/2), 8−10. Zu den Reaktionen vgl. Zeitzeichen 17 (2016/3), 8−11; (2016/4), 8−11; (2016/6), 8−11.

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bzw. eine Kultur der Barmherzigkeit in den europäischen Staaten nicht relativiert werden kann. Die Kirchen sind vor die Aufgabe gestellt, die Prozesse auf Grund des biblischen und theologischen Reflexionspotenzials zu bemessen. Denn nur eine gründliche und sachkundige Analyse politisch-wirtschaftlicher Vorgänge und eine tiefe Erkenntnis biblischer Glaubensinhalte werden zu der Kompetenz führen, die zeitgebundenen und politisch instrumentalisierten Identitätsmuster kritisch zu prüfen und alternative Gestaltungsmöglichkeiten für das gesellschaftliche Zusammenleben anzubieten. Es ist zu wünschen, dass die Kirchen nicht einfach mit ihren Beiträgen die sozialen Folgen der europäischen gesellschaftlichen Umbruchs­ prozesse oder die neu entstehenden Notlagen wirtschaftlicher Umwälzungen auf globaler Ebene begleiten oder darauf reagieren, sondern selbst die Initiative ergreifen: Statt eines reaktiven Verhaltens sollten sie neue Themen und die Entwicklung innovativer Lösungsmethoden anstoßen und fördern.



Diakonisches Profil zwischen theologischem Anspruch und diakonischer Alltagspraxis Eine Bestandsaufnahme von Beate Hofmann 1. Einleitung „Seid Ihr anders als die anderen?“ Diese Frage richten Nutzer, Mitarbeitende, Kir­ chenvertreter, Kostenträger und Öffentlichkeit an diakonische Einrichtungen. Sie fragen nach der Erkennbarkeit von Diakonie und definieren diese meist im Modus der Unterscheidbarkeit, in der Suche nach exklusiven Merkmalen. Die Profilfrage zwingt diakonisch Verantwortliche, darüber nachzudenken, ob und inwiefern sich ihre Einrichtungen von anderen sozialen Einrichtungen im Bereich der Sozial­ wirtschaft unterscheiden und wie sie diesen Unterschied beschreiben, fördern und erfahrbar machen können. Die Profilfrage beschäftigt diakonische Einrichtungen verstärkt seit gut 20 Jah­ ren, mal im Modus der Selbstbehauptung, mal im Modus der Selbstvergewisse­ rung.1 Die Profilfrage ist für die Diakoniewissenschaft als kontextueller, anwen­ dungsbezogener Wissenschaft keine Frage, die abstrakt im Sinne einer theologisch möglichst tragfähigen Begründung oder Herleitung diskutiert werden könnte. Sie wird in der Diakoniewissenschaft in einem konkreten sozialpolitischen Kontext diskutiert, der die Rahmenbedingungen für eine Profilierung von Diakonie dik­ tiert. Ich möchte daher in meinem Vortrag zuerst diesen Kontext beschreiben, in dem sich die Frage nach dem diakonischen Profil heute stellt, und deren Auswir­ kungen auf die Fragestellung benennen, dann exemplarisch verschiedene theolo­ gische Modelle der Bearbeitung skizzieren und aktuelle Versuche zur Umsetzung im diakonischen Alltag vorstellen, um am Ende die Herausforderungen, Aporien und bleibenden Fragen zu bündeln. Ich verzichte auf eine historisch orientierte Entwicklung der Profildiskussion und sortiere eher positionell. Unter Diakonie verstehe ich im Folgenden vorrangig die unternehmerisch organisierte Diakonie, also nicht die individuelle, gemeindliche oder verbandliche Diakonie. Unterneh­ merische Diakonie existiert heute in Form von Vereinen, Stiftungen, gemeinnüt­ zigen Gesellschaften oder Körperschaften öffentlichen Rechts neben der verfassten Kirche. Sie hat derzeit etwa doppelt so viele Mitarbeitende wie die verfasste Kirche und ein Vielfaches an Budget.2 1  Gerhard K. Schäfer, Diakonische Profile in der Sozialen Arbeit; in: Volker Herrmann / Martin Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 2006, 82. 2  Vgl. z.B. https://info.diakonie.de/infothek/veroeffentlichungen/typ/Statistik/ [letzte Über­prüfung: 30.03.2017]; vgl. auch https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/zahlen_und_ fakten_2016.pdf, 30f.

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2. Herkunft und aktueller Kontext der Frage nach dem diakonischen Profil Früher war die Frage nach dem diakonischen Profil scheinbar ganz einfach zu be­ antworten. Typisch Diakonie, das waren die Diakonissen als Menschen, die mit ihrer Lebensform, ihrer Glaubenshaltung und ihrer Dienstbereitschaft diakoni­ sches Ethos personifiziert verkörperten und zum Inbegriff des Unterschieds wur­ den. Doch schon in den 1960er Jahren nahm die Zahl der Diakonissen dramatisch ab; die besondere Lebensform fungierte nicht mehr als gesellschaftliche Voraus­ setzung, um einen sozialen Beruf zu ergreifen. Gleichzeitig stieg die Nachfrage nach Mitarbeitenden in der Diakonie durch den Einbau diakonischer Arbeit in die Sozialgesetzgebung und in die Strukturen des deutschen Wohlfahrtsstaates. Diakonie erlebte eine große Expansion ihrer Arbeitsmöglichkeiten und Arbeitsfel­ der. Nicht gemeinschaftlich gebundene Mitarbeitende wurden angestellt, soziale Berufe professionalisiert, Leitungsstrukturen verändert, indem aus patriarchalen Familienmodellen funktionale Strukturen mit klaren, aber auch klar begrenzten Zuständigkeiten entwickelt wurden. Die Mitgliedschaft in einer christlichen, möglichst der evangelischen Kirche als Voraussetzung der Mitarbeit in der Diakonie war ein Versuch, das christliche Profil der diakonischen Arbeit abzusichern, ohne in individuelle Glaubensprüfungsver­ fahren einsteigen zu müssen; sie wurde weitgehend – wenn auch grummelnd – akzeptiert und praktiziert. Zwei Entwicklungen haben diese „Lösung“ der Profilfrage weiter herausge­ fordert. Zum einen wurden nach 1989 viele Einrichtungen, die in der DDR in staatlicher Hand waren, von diakonischen Trägern übernommen. Damit war die Kirchenmitgliedschaft als Arbeitsvoraussetzung nicht mehr zu halten. Denn es fu­ sionierten Einrichtungen, die sich früher durch eine klare Opposition gegen die DDR auszeichneten und für viele Mitarbeitende eine wichtige Nische in der sozia­ listischen Gesellschaft boten, mit Einrichtungen, die als Volkswohlfahrt, als öffent­ liche Krankenhäuser oder gar als Erziehungseinrichtungen Teil des SED-Systems gewesen waren. In vielen dieser diakonischen Einrichtungen entstand für die Mit­ arbeitenden die Frage: „Was will der neue Träger von uns? Müssen wir uns jetzt alle taufen lassen, um unseren Arbeitsplatz zu behalten?“ Und die Verantwortlichen in den Einrichtungen standen vor der Frage: „Wie führen wir nicht kirchlich sozia­ lisierte Mitarbeitende an das, was Diakonie ausmacht, heran?“ Diese Frage stellt sich inzwischen auch in Westdeutschland deutlicher, weil durch die wachsende Säkularisierung und die Pluralisierung religiöser Weltsichten die Zahl der nicht kirchlich sozialisierten Mitarbeitenden und Nutzer diakonischer Angebote massiv steigt. Das hat zu einer Vielzahl diakonischer Bildungsangebote geführt, in denen die Frage nach dem, was Diakonie diakonisch macht, bearbeitet und operationali­ siert wird.3 Auch ich selbst bin als Fortbildungsleiterin eines großen diakonischen 3  Ein Beispiel ist der Profiltest von Lars Charbonnier und Martin Horstmann, online ver­fügbar unter https://diakonisch.files.wordpress.com/2013/11/diakonieprofiltest.pdf [letz­­te Übe­rprüfung: 31.05.2017]; vgl. dazu auch Veronika Drews-Galle / Beate Hofmann, Dia­

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Trägers in Bayern auf diese Frage gestoßen worden und habe nach handhabbaren Antworten gesucht. Die zweite, für die Diakonie in ganz Deutschland fundamentale Veränderung begann mit der Einführung der Pflegeversicherung 1995. Damit verbunden war die Öffnung der Pflege für private Anbieter und vor allem die schrittweise Umstel­ lung der Finanzierung der gesamten sozialen Arbeit von Kostendeckung zu Leis­ tungsfinanzierung. Während früher eine diakonische Einrichtung dem Kostenträ­ ger sagen konnte, welchen Bedarf sie zur Finanzierung der Arbeit hat, und dieser Bedarf gedeckt wurde, werden jetzt für bestimmte soziale Dienstleistungen feste Pauschalen vereinbart oder Aufträge ausgeschrieben, z.B. in der Flüchtlingshilfe oder in der Eingliederungshilfe, und wer das günstigste Angebot macht, bekommt den Zuschlag. Dadurch steht Diakonie im Wettbewerb mit anderen Anbietern; es gibt klar definierte Leistungskataloge, in denen Seelsorge, eine Kapelle, ein theo­ logischer Vorstand oder religiöse Rituale oder geistliche Bildungsangebote für die Mitarbeiterschaft nicht vorgesehen sind und nicht finanziert werden. Umgekehrt gibt es Arbeitsfelder wie die Pflege, wo potenzielle Nutzer oder ihre Angehörigen sehr genau überlegen, in welcher Einrichtung sie oder ihre Angehö­ rigen ihren Lebensabend verbringen möchten. Sie erwarten als (meist zumindest einen Eigenbeitrag) zahlende Kundschaft optimale Versorgung zu möglichst güns­ tigen Konditionen. Aus der Hilfe wird so eine Dienstleistung, auf die Menschen ein Recht haben und bei deren Inanspruchnahme sie die Wahl aus einer Vielzahl von Anbietern haben.4 Auch das führte verstärkt zu der Frage: „Inwieweit seid Ihr in der Diakonie denn anders als eine Einrichtung der Arbeiterwohlfahrt oder eines privaten Trägers? Was habt Ihr denn zu bieten, was die anderen nicht haben?“ Für diakonische Einrichtungen hat das zu einer spürbaren Ökonomisierung geführt. Neben die Frage: „Was braucht der Mensch hier gerade?“ tritt die Frage: „Inwieweit kann ich diesen Bedarf finanzieren?“ Organisationsstrukturen und Ab­ läufe müssen möglichst effizient gestaltet werden, um die Arbeit mit der knappen Personaldecke leisten zu können. Aus dem Verwaltungsleiter wurde der Finanzvor­ stand, der häufig die wichtigste Figur in diakonischen Leitungsgremien ist. Ein­ richtungen, die die neuen Finanzierungsbedingungen nicht rechtzeitig beachtet haben, gerieten häufig in finanzielle Schieflage und mussten schließen oder finanz­ kräftigere Träger suchen. Das hat zu einer Konzentration der Träger geführt, z.B. im Bereich der ambulanten Pflege, aber auch im Bereich der Krankenhäuser. Die Frage „Seid Ihr anders als die anderen?“ mutiert vielerorts zu der Frage: „Inwieweit können wir überhaupt anders als die anderen sein, und wie können wir das finanzieren?“ Mitglieder der Leitungsgremien diakonischer Einrichtungen stehen vor der Herausforderung, multirational zu entscheiden. Sie müssen ökonomischen, fachli­ konische Bildung, in: Thorsten Moos (Hg.), Diakonische Kultur, Stuttgart 2017. Vgl. auch „Horizonte des Glaubens erkunden“, hg. v. der Diakonie Deutschland, Berlin 2013. 4  Vgl. Niklas Luhmann, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: Hans-Uwe Otto / Siegfried Schneider (Hg.), Gesellschaftliche Perspektiven der Sozialar­ beit, Bd. 1, Neuwied / Berlin 1973, 21–43.

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chen und theologischen Logiken gerecht werden, weil sie hybride Organisationen leiten, die gleichzeitig Teil des Sozialstaates, eines Sozialmarktes und der Zivilge­ sellschaft sind. Das Miteinander dieser Logiken kann funktionieren, es kann aber auch zu massiven Reibungen führen.5 Diese Verortung in der Gesellschaft hat auch Konsequenzen für das Verhältnis zur verfassten Kirche. Denn Kirche bewegt sich in einem etwas anderen Segment unserer Gesellschaft, auch wenn der Wettbewerb der Weltanschauungen und die Folgen wachsender Organisationsförmigkeit auch in der Kirche spürbarer werden. Diese Systemdifferenz wird im Dialog zwischen verfasster Kirche und organisierter Diakonie häufig übersehen oder gar negiert. Es gibt im Moment ein paar Themenfelder, an denen die wachsende Systemdif­ ferenz zwischen Diakonie und Kirche ausgetragen wird. Eines ist das Arbeitsrecht, vor allem die Tarifpolitik, wo sich immer mehr zeigt, dass Tarife, die für die Lan­ deskirchen als gebührenfinanzierte, quasibürokratische Organisationen vereinbart werden, im leistungsorientierten Wettbewerb der Diakonie nicht funktionieren. Das zweite Themenfeld, auf dem derzeit zwischen Diakonie und Kirche dis­ kutiert wird, ist die Frage der Anforderungen an die Mitarbeiterschaft, sprich die Frage: Müssen Mitarbeitende in der Diakonie Kirchenmitglieder sein? Dass das nicht mehr durchgängig realisierbar ist, ist auch in den kirchlichen Entscheidungs­ gremien angekommen. Die EKD hat darum seit 1. Januar 2017 eine neue sog. Loyalitätsrichtlinie, in der sie die Anforderungen vorsichtig lockert und zugleich den kirchlichen und diakonischen Anstellungsträgern die „Verantwortung für die evangelische Prägung in den Arbeitsvollzügen, den geistlichen Angeboten und der Organisation ihrer Dienststelle oder Einrichtung“ zuweist.6 Damit liegt die Fra­ ge nach dem Profil als Frage nach der evangelischen Prägung oder evangelischen Identität wieder verstärkt auf dem Tisch. Denn Profil ist das, was von der Identität nach außen sichtbar wird. Derzeit zeichnet sich noch eine weitere Entwicklung ab: Durch den demo­ grafischen Wandel steigt der Bedarf an Fachkräften in der Pflege, und gleichzei­ tig sinkt die Zahl potenzieller Mitarbeitender. Und die, die noch in der Pflege arbeiten wollen, können sich aussuchen, wo sie arbeiten möchten. Es gibt nicht nur einen Wettbewerb um Kunden und Auftraggeber, sondern verstärkt auch um Mitarbeitende. Arbeitgeberattraktivität und Mitarbeiterbindung werden plötz­ lich zu wichtigen Konzepten diakonischer Unternehmensstrategie. „Was bietet Ihr, was ich woanders nicht finde?“ lautet die neue Variante der Profilfrage. Und dabei, so zeigen erste Studien,7 geht es nicht vorrangig ums Geld, auch wenn Mitarbeitende erwarten, dass sie so bezahlt werden, dass sie davon leben und eine Familie ernähren können. Aber es geht auch um Sinnhaftigkeit der Arbeit, um Werteorientierung, um Gesunderhaltung, um Entwicklungsmöglichkeiten 5  Vgl. Kuno Schedler / Johannes Rüegg-Stürm, Multirationales Management, Bern 2013. 6  Loyalitätsrichtlinie § 2,2, online verfügbar: http://www.kirchenrecht-bremen.de/ pdf/13928.pdf [letzte Überprüfung: 30.03.2017]. 7  Vgl. Udo Polenske, Mitarbeiterbindung in der Diakonie, Baden-Baden 2017.

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durch Förderung im Rahmen der Personalentwicklung und um eine gute Mit­ arbeiterpflege. Es ist diese Gemengelage, in der sich theologische Konzepte diakonischer Profilierung bewähren müssen. Und die Vertreter diakonischer Theologie in Lei­ tungsgremien erleben vielerorts eine wachsende Marginalisierung theologischer Denkmuster bzw. eine deutliche Infragestellung ihrer Relevanz. Brauchen wir eine solche theologische Verankerung und Profilierung der Diakonie überhaupt noch, ist dann die Fragestellung, in der Ökonomie als selbstverständlicher Rah­ men akzeptiert wird, während die Theologie als „nice to have“, aber nicht mehr „need to have“, in der diakonischen Unternehmensführung wahrgenommen wird.

3. Modelle theologischer Profilbildung in der Diakonie Seit Mitte der 1990er Jahre wird in der Diakoniewissenschaft in wachsender In­ tensität über diakonisches Profil diskutiert. Dabei hat auch eine Rolle gespielt, dass die Untersuchungen des australischen Theologen John Collins zur Bedeutung des Begriffs Diakonie die traditionelle Deutung als Dienst und Hingabe etwas auf den Kopf gestellt hat. Diakonie ist nach Collins Beauftragung, sie ist ein kommunika­ tives, nicht ein helfendes Geschehen.8 Dieser Diskurs hat neu nach der theologi­ schen Verortung und Bedeutung von Diakonie fragen lassen. Die vorhandenen diakoniewissenschaftlichen Positionen zum diakonischen Profil lassen sich grob in zwei Lager teilen: Da gibt es die, die aus unterschiedlichen Gründen ein „diakonisches Proprium“ ablehnen und der Profilfrage die Legitimi­ tät entziehen, und es gibt die, die Differenzkriterien entwickeln und theologisch begründen oder organisational gestalten, ohne sich intensiv mit der Herleitung aufzuhalten. Dabei spielen ganz unterschiedliche Fragen eine Rolle: • Inwiefern ist diakonisches Handeln Verkündigung bzw. Kommunikation des Evangeliums? • Welche Rolle spielt eine religiöse Motivation der Mitarbeitenden in der Diako­ nie für diakonisches Handeln? • Welche Rolle spielt das Verhältnis zur Kirche? • Was braucht es, um eine Handlung als diakonisch zu qualifizieren? Die Diskussion wird auf vielen Ebenen geführt: im Verhältnis zu anderen Trägern, zur Kirche, zu Mitarbeitenden und zu Nutzern; sie tangiert Fragen der Anthropo­ logie, Christologie, Soteriologie, Ekklesiologie, der Eschatologie und der Ethik. Die vorhandenen Entwürfe lassen sich danach gruppieren, ob sie sich auf die theo­ logische Begründung oder Ableitung diakonischen Profils konzentrieren, oder auf 8  Vgl. John N. Collins, Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources, New York / Oxford 1990; Hans-Jürgen Benedict, Beruht der Anspruch der evangelischen Diakonie auf einer Missinterpretation der antiken Quellen? John N. Collins Untersuchung „Diakonia“, in: Volker Herrmann / Martin Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik, Bd. 1, Neukir­ chen-Vluyn 2006, 117–133; Anni Hentschel, Diakonia im Neuen Testament, Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, Tübingen 2007.

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die Beschreibung der theologisch konturierten Dimensionen des diakonischen Pro­ fils oder auf Versuche der organisationalen Gestaltung. Eine klassische theologische Herleitung diakonischen Profils bietet z.B. Eugen Gerstenmaier, der Gründer des Evangelischen Hilfswerkes; er sah den Unterschied von Diakonie zu sozialer Arbeit im Charakter der Hilfebeziehung:9 „In der Wohl­ fahrt gibt es einen, der Gutes tut, und einen, der nimmt. In der Diakonie sind wir eine Bruder- und Schwesternschaft, die füreinander da ist, wir sind Gebende und Nehmende zugleich.“10 Aus dem Kontrast von Kirche und Welt wird hier eine qua­ litative Differenz abgeleitet: Diakonie wird zum Modell eines Gott entsprechenden Zusammenlebens, zur Antizipation des Reiches Gottes. Helfendes Handeln wird so zum Symbol der Hoffnung auf das Reich Gottes, sagt Gerhard Schäfer.11 Solche Begründungsmuster werden in der Diakoniewissenschaft inzwischen radikal infrage gestellt: Wie wird eine solchermaßen begründete Diakonie an­ schlussfähig an Human- und Sozialwissenschaften? Inwieweit ist dieser Anspruch noch von der Praxis gedeckt? Hans-Jürgen Benedict12 kritisiert, dass in solchen theologischen Begründungsmustern etwas theologisiert werde, das sich allgemein menschlich begründen lasse, das an eine säkulare Mitarbeiterschaft nicht mehr vermittelbar sei und durch zu anspruchsvolle Leitbilder überfordere. Die neueste Kritik solcher Herleitungen diakonischen Profils kommt von Heinz Rüegger und Christoph Sigrist. In ihrem 2011 erschienen Buch „Diako­ nie – eine Einführung“13 haben die beiden Schweizer Diakoniewissenschaftler die radikalste Position bzw. Dekonstruktion zu Fragen des diakonischen Profils vorge­ legt. Sie sehen in den Versuchen, diakonisches Handeln christologisch, soteriolo­ gisch oder eschatologisch zu begründen, eine Überhöhung des Hilfeanspruchs, die sie für nicht sachgemäß halten. Ausgehend von einer schöpfungstheologischen Be­ gründung des „Helfens als etwas, das von Gott, dem Schöpfer her allen Menschen als moralischer Anspruch und als Möglichkeit spezifisch menschlichen Verhaltens gegeben ist“14, erteilen sie einer „religiösen Aufladung“ menschlicher Hilfe eine Absage. Dazu verweisen sie auf die zentralen biblischen Texte vom barmherzigen Samariter (Lk 10) und vom Weltgericht (Mt 25), in denen jeweils gerade nicht explizit religiöse Motive das Hilfehandeln begründen und trotzdem von Jesus als vorbildlich beschrieben werden. Diakonie geschieht, indem wir helfen. Damit werde die Diakonie von einer „unrealistischen, theologisch völlig überladenen Trä­ gerideologie“ befreit.15 Im Verhältnis zur Kirche beschreiben sie zwar Diakonie als 9  Eugen Gerstenmaier, Bleibende Aufgabe und neue Wege in der Arbeit des Hilfswer­ kes. Vortrag am 30.8.1949, in: Konferenz der Hauptgeschäftsführer, Wolfbrunnen 29./ 31.8.1949, ADW, ZBB 56, Stuttgart 1949, 3. 10  Dieser Satz hat auch Eingang in das Leitbild der Diakonie Deutschland gefunden. Online verfügbar: http://www.ekd.de/EKD-Texte/herz_mund_tat_leben_1998_anhang. html [letzte Überprüfung: 30.03.2017]. 11  Schäfer (wie Anm. 1), 90. 12  Benedict (wie Anm. 8), 117.129–133. 13  Heinz Rüegger / Christoph Sigrist, Diakonie – eine Einführung, Zürich 2011. 14  Rüegger / Sigrist (wie Anm. 13), 146. 15  Rüegger / Sigrist (wie Anm. 13), 160.

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Grundfunktion der Kirche, lehnen aber die Idee einer explizit christlichen oder kirchlichen Identität diakonischer Arbeit ab, weil es nicht um das Kirchesein der Kirche, sondern um die Erbringung von Dienstleistungen gehe.16 Aus ihrer Sicht gilt: Diakonie sei nicht Verkündigung, denn in der Diakonie gehe es nicht um die Gewinnung von Menschen für den christlichen Glauben.17 Wohl auch in der Konsequenz dieser Position wurde der evangelische Wohl­ fahrtsverband in der Schweiz aufgelöst. Ob hier auch ein anderes, typisch refor­ miertes Verhältnis von Christengemeinde zu Bürgergemeinde zum Ausdruck kommt, wäre genauer zu untersuchen. Zumindest ist der Ansatz von Rüegger und Sigrist in Deutschland vielfältig kritisiert worden. Johannes Eurich18 moniert, dass mit der Aufgabe konfessioneller Einrichtungen des Hilfehandelns der Stellenwert religiöser Gemeinschaften für die Ausbildung von Moralität unterminiert werde. Dagegen argumentiert er pragmatisch: „Dieses [diakonische Profil] besteht im Ausweis der spezifischen Leistungen, die ein sozi­ alwirtschaftliches Unternehmen auf der Grundlage seiner weltanschaulichen Ori­ entierung erbringt. D.h., [...] das, was in der Spannung zwischen ökonomischen Anforderungen und christlichen Grundlagen auszubalancieren ist, als Profil so zu gestalten, dass die christliche Dimension gewahrt und erkennbar bleibt.“19 Und er fragt kritisch zurück: „Dem gegenüber sieht sich [...] Diakonie als allgemeinmenschliches Hilfe-Handeln der Rückfrage gegenüber, ob denn tatsächlich alles helfende Handeln – ohne Bezug zu zugrundeliegenden Motivationen – immer gleich ist, so als ob Menschenbilder und damit verbundene ethische Überzeugun­ gen keinerlei Einfluss auf Hilfsakte hätten.“20 Auch Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie in Deutschland,21 kritisiert die Aus­ blendung der Genese des christlichen Begründungszusammenhangs der Diakonie, würdigt aber den Versuch, Profil nicht durch Abwertung der anderen oder Über­ beanspruchung der Helfenden zu entwickeln. Während Rüegger und Sigrist aus der Schöpfungstheologie heraus die Ar­ gumentation für ein spezifisch diakonisches Profil kritisieren, unternimmt der Bonner Praktische Theologe Eberhardt Hauschildt einen ekklesiologisch bzw. praktisch-theologisch begründeten Versuch: Er unterscheidet in der Tradition Schleiermachers darstellendes und wirksames Handeln und ordnet die Diakonie dem wirksamen Handeln zu. In seinem viel zitierten Aufsatz „Wider die Identi­ fikation von Diakonie und Kirche“22 lehnt Hauschildt es ab, diakonisches Han­ deln auch mit dem Anspruch eines religiös darstellenden Handelns zu befrachten 16  Rüegger / Sigrist (wie Anm. 13), 182. 17  Rüegger / Sigrist (wie Anm. 13), 183f. 18  Johannes Eurich, Profillose Diakonie? Zur Diskussion um die Begründung diakoni­ schen Handelns, in: Glaube und Lernen 29 (2014), 33–43. 19  Eurich (wie Anm. 18), 35. 20  Eurich (wie Anm. 18), 36. 21  Ulrich Lilie, Art. Profil, diakonisches, in: Norbert Friedrich u.a. (Hg.), Diakonie-Lexi­ kon, Göttingen 2016, 349–351, 349. 22  Eberhard Hauschildt, Wider die Identifikation von Diakonie und Kirche. Skizze vom Nutzen einer veränderten Verhältnisbestimmung, in: PTh 89 (2000), 411–415.

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und formuliert zugespitzt: „Diakonische Arbeit muss in ihrem wirkenden Han­ deln nicht selber gleichzeitig sofort nach der Darstellung, dem Expliziten schielen. Wirkendes Handeln ist implizit, nicht so eindeutig; evangelische, katholische und staatliche Operationen im Krankenhaus sind nicht unterscheidbar; es gibt kein ‚evangelisches Poabwischen‘. Diakonische Arbeit hat vielmehr Teil am Huma­ num zwischenmenschlicher Zuwendung. Es ist kein Manko an Kirchlichkeit und Christlichkeit, sondern Strukturmerkmal ausdifferenzierten wirksamen Handelns, dass Diakonie in ihrer Arbeit nicht gleichzeitig explizites Bekenntnis sein kann.“23 Für Hauschildt ist der Streit um diakonisches Profil bzw. Proprium in der Aus­ einandersetzung zwischen Kirche und freier Diakonie verortet. In einem neueren Aufsatz24 stellt er seine Argumentation – wie Rüegger / Sigrist – auch in einen schöpfungstheologischen Zusammenhang: Helfen habe seinen Wert in sich selbst, es sei Teil der guten Schöpfung Gottes und sorge dafür, dass Menschen in einen Zustand kommen, wie Gott ihn will.25 Zur Gruppe der Autoren, die sich mit theologischen Begründungsfragen des diakonischen Profils auseinandersetzen, gehört auch der katholische Theologe Herbert Haslinger. In seinem Beitrag zur „Frage nach dem Proprium kirchlicher Diakonie“26 kommt er aus einer ganz anderen Tradition, nämlich von einer Re­ zeption des jüdischen Philosophen Emanuel Lévinas her, zu einer Kritik an dia­ konischen Profilierungsbemühungen. Er lehnt den Gedanken einer zusätzlichen Qualifizierung helfenden Handelns durch christliche Aspekte ab, weil aus seiner Sicht Hilfe nur dann Hilfe ist, wenn sie in der Nachfolge Christi sich radikal auf den Anderen und seine Bedürfnisse einlässt, sich ihm bedingungslos zuwendet: „Nimmt man die Unendlichkeit Gottes und die von ihm herrührende Weisung zur unbedingten Verantwortung, d.h. zur Verantwortung für den Anderen, die keine Bindung an Bedingungen erlaubt, bis in die letzte Konsequenz ernst, dann ist auch die Einforderung eines ‚spezifisch Christlichen‘ in der Diakonie eine Verletzung der Würde des anderen, notleidenden Menschen, insofern sie das egologische Be­ dürfnis der Behauptung des eigenen Denkens der Verantwortung für den Anderen überordnet.“27 Entsprechend definiert er als Aufgabe und Qualität von Diakonie: „Der Mensch als Mensch ist das Anliegen der Diakonie (und auch das Spezifische der Diakonie). Die Bewahrung seiner Würde, die Befreiung aus Not, bzw. die Eröffnung von Lebensmöglichkeiten, die Freisetzung aus einem unterdrückten zu einem geglückten Leben machen die christliche Qualität der Diakonie aus.“28 Wie Hauschildt lehnt Haslinger eine explizit religiöse Deutung / ein religiöses Add-on als Kriterium für Diakonizität des Hilfehandelns ab. „Diakonie nach dem 23  Hauschildt, Wider die Identifikation (wie Anm. 22), 415. 24  Eberhard Hauschildt, Anschlussfähigkeit und Proprium von „Diakonie“. Zwischen Fachlichkeit, Ethik und Theologie, in: Glaube und Lernen 29 (2014), 44–62. 25  Hauschildt, Anschlussfähigkeit (wie Anm. 24), 56. 26  Herbert Haslinger, Die Frage nach dem Proprium kirchlicher Diakonie, in: Herrmann / Horstmann (wie Anm. 1), 160–174; weitergeführt in: Herbert Haslinger, Diakonie. Grundlage für die soziale Arbeit der Kirche, Paderborn 2009. 27  Haslinger, Frage (wie Anm. 26), 167. 28  Haslinger, Frage (wie Anm. 26), 168.

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Vorbild Jesu Christi besteht in der Zuwendung zum notleidenden Menschen und wird nicht erst als Diakonie konstituiert durch das begleitende Reden über Gott oder durch den krampfhaften Nachweis der diakonischen Praxis als einer christli­ chen Praxis. Diakonie ist Verwirklichung des Christlichen.“29 Dabei verzichtet Haslinger im Unterschied zur Rüegger / Sigrist aber nicht auf eine theologische Qualifizierung der Diakonie, ganz im Gegenteil: Die Begegnung mit dem Armen wird als Ort der Offenbarung Gottes wahrgenommen; das unter­ scheide von profaner Hilfe, so Haslinger. Aber diese Form der Gottesbegegnung geschehe nicht nur in christlichen Einrichtungen, sie könne in jedem Engagement geschehen; spezifisch sei, dass dies von den Handelnden als Ort der Offenbarung Gottes erkannt und reflektiert werde. Für Haslinger wird Diakonie demnach zur Diakonie durch die Haltung des Helfenden. Die Offenbarungsdimension ist freilich etwas, das nicht für alle Hel­ fenden eine relevante Betrachtungsweise ihres Handelns darstellt, sondern eine glaubende Perspektive voraussetzt, was Haslinger selbst durch die Wortwahl „Seel­ sorger“ markiert: „Diakonie ist [...] unverkürztes Sakrament der Liebe Gottes“; sie ereignet sich, wenn der Seelsorger beginnt, „mit den Augen des Glaubens auf den anderen zu schauen“ und sucht, „was Gott selber ihm durch diesen Menschen sagen will“, und lässt den Anderen „mehr Mensch sein.“30 Die Frage nach dem Diakonischen wird bei Haslinger nicht zu einem von außen überprüfbaren An­ spruch an andere, sondern zum Prüfkriterium der Qualität der eigenen Haltung, die aber im Unterschied zu Rüegger / Sigrist und Hauschildt radikal theologisch bestimmt ist. Das Stichwort der Qualität nimmt auch der in Wien lehrende systematische Theologe Ulrich Körtner auf. In einem Beitrag zu „Diakonie zwischen Qualität, christlichem Selbstverständnis und Wirtschaftlichkeit“ aus dem Jahr 2010 argu­ mentiert Körtner ausgehend vom Begriff der Güte Gottes für ein besonderes dia­ konisches Profil. „Kritischer Maßstab für den Begriff der Qualität in der Diakonie ist freilich nicht unsere eigene menschliche Güte, an der es nur zu oft mangelt, sondern die Güte Gottes, der sich uns Menschen und insbesondere den Hilfsbe­ dürftigen, den Armen und Notleidenden vorbehaltlos zuwendet. Indem wir von der Güte Gottes sprechen, gewinnen wir einen Begriff von Qualität, der nicht not­ wendigerweise im Widerspruch zur ökonomischen Sachgerechtigkeit steht, sich aber nicht ökonomisch verrechnen lässt, sondern einen Überschuss hat, an dem diakonische Arbeit auch unter heutigen sozialpolitischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen festzuhalten hat, will sie nicht ihr Profil und damit ihre Da­ seinsberechtigung verlieren.“31 Dabei will er das Ethos der Güte und des Helfens nicht exklusiv christlich begründen, sieht aber ein solches Ethos, das zum diakoni­ schen Handeln motiviert, im Duktus des Neuen Testaments. Und er argumentiert für die Relevanz einer christlich begründeten Kultur des Helfens als Basis einer 29  Haslinger, Frage (wie Anm. 26), 170. 30  Haslinger, Frage (wie Anm. 26), 172f. 31  Ulrich H.J. Körtner, Diakonie im Spannungsfeld zwischen Qualität, christlichem Selbstverständnis und Wirtschaftlichkeit; in: Wege zum Menschen 62 (2010), 164.

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säkularen Gesellschaft gerade angesichts drängender utilitaristischer Argumenta­ tionen im Bereich der Ökomomisierung des Lebens.32 Die besondere Dimension diakonischer Arbeit im Kontext von zu vergütender Dienstleistung sieht Körtner in Anlehnung an die Enzyklika „Deus Caritas est“ von Benedikt XVI. in der Di­ mension der liebevollen persönlichen Zuwendung: „Es gibt keine gerechte Staats­ ordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. [...] Die Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein materia­ listisches Menschenbild, den Aberglauben, der Mensch lebe ‚nur vom Brot‘“, so Benedikt XVI. Körtner sieht die Verantwortung der Diakonie nicht nur in der För­ derung zivilgesellschaftlicher diakonischer Initiativen, die „Spontaneität und Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden“, sondern auch in der Forderung an den Staat, Barmherzigkeit zu zeigen und auch unter den eigenen Mitarbeitenden wie in der Gesellschaft ein Klima der Mitmenschlichkeit zu fördern.33 Ähnlich argumentiert auch das Papier „Perspektiven der Diakonie im gesell­ schaftlichen Wandel“, das unter Federführung des damaligen Vorstands der Dia­ konie im Rheinland, Uwe Becker, 2011 entstand. Dort wird das Proprium nicht in der Differenz gegenüber Dritten, sondern als Möglichkeit zur Umsetzung und Organisation der Arbeit nach eigenen ethischen Kriterien bestimmt.34 Becker unterscheidet Handlung, Deutungshorizont und Kontext diakonischen Handelns. Das Bemühen um den Deutungshorizont des Handelns sei für die Dia­ konie verpflichtend, „um die explizite Dimension sowohl durch organisationale ‚weiche‘ Aspekte, aber auch im direkten ‚Dienst am Menschen‘ zum Ausdruck zu bringen“35 sowie durch die Bindung an die Gemeinde. Konstitutiv sei auch der Kontext, der rahmensetzend sei und sich in einem besonderen Arbeitsrecht zeige, das den Gedanken der Dienstgemeinschaft zum Ausdruck bringe, sowie in der Aufgabe der „anwaltschaftlichen Parteinahme“.36 Diesen Pfad, die Profilierung der Diakonie nicht im Hilfehandeln selbst, son­ dern in seiner Deutung zu verankern, verfolgt auch der systematische Theologe Thorsten Moos. In seinem Beitrag „Kirche bei Bedarf“ von 2013 formuliert er als Kriterien für Diakonizität: Das Handeln solle an professionellen Maßstäben aus­ gerichtet sein, müsse sich aber trotzdem als Handeln im Glauben, als Liebe verste­ hen lassen.37 Kommunikationsstrukturen diakonischer Organisationen müssten so gestaltet sein, dass eine Diskussion über etwaige Widersprüche von Glauben und Organisationsvollzügen in der Organisation selbst geführt werden könne.38 Damit eine solche „Ansprechbarkeit auf das Diakonische“ im Programm, in der Kommu­ 32  Körtner (wie Anm. 31), 166. 33  Körtner (wie Anm. 31), 167. 34  Uwe Becker (Hg.), Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel, Neukir­ chen-Vluyn 2011, 23. 35  Ebd. 36  Becker (wie Anm. 34), 24. 37  Thorsten Moos, Kirche bei Bedarf. Zum Verhältnis von Diakonie und Kirche aus theo­ logischer Sicht, in: ZEvKR 58 (2013), 273. 38  Moos (wie Anm. 37), 274.

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nikationsstruktur und beim Personal gewährleistet sei und bei Bedarf aktualisiert werden könne, fordert Moos entsprechende diakonische Bildung. Damit wird die Frage nach dem spezifisch Diakonischen von der Hand­ lungsebene in die Deutungs- und Reflexionsebene verlagert, aus einer material beschriebenen wird eine reflexive Differenz. Konkret heißt das: In der Diakonie wird grundsätzlich nicht anders gepflegt oder beraten oder begleitet, es gelten die gleichen fachlichen Standards wie woanders, aber es wird anders darüber nachge­ dacht. Und das kann durchaus Rückwirkungen auf die Qualität der Dienstleistung und vor allem auf die Haltung der Mitarbeitenden im Umgang mit den Aporien des Hilfehandelns angesichts der Ökonomisierung sozialen Hilfehandelns haben.39 Zusammenfassend lässt sich festhalten: In den Ansätzen, die für ein besonderes diakonisches Profil argumentieren und versuchen, es zu beschreiben, geschieht das mit Verweis auf drei bzw. vier Dimensionen, die Rainer Wettreck und Veronika Drews-Galle in ihrem Beitrag „Diakonie als Vertrauensmarke gestalten“ 2013 for­ muliert und im Menschenbild der Diakonie verortet haben:40 die ethisch-wertbe­ zogene, die existentiell-beziehungsorientierte, die spirituell-sinnbezogene und die – von Ulf Liedke41 ergänzte – menschenrechtlich-anwaltschaftliche Dimension.

4. Konzepte diakonischen Profils im Alltagshandeln diakonischer Organisationen – die strukturelle Ausformung des Profils Nun hat sich die Diakoniewissenschaft in den letzten Jahren in der Arbeit am diakonischen Profil nicht nur auf Fragen der theologischen Begründung und Her­ leitung konzentriert, sondern auch nach der organisationalen Umsetzung bzw. Ge­ staltung dieses Profils gefragt. Das ist auch die Herkunft meines eigenen Zugangs zu dieser Frage: Als Fortbildungsleiterin in einem diakonischen Unternehmen mit Diakonissentradition war ich verantwortlich für die „diakonische Profilierung“. Dabei war die Existenz dieses – vor allem spirituell konturierten – Profils voraus­ gesetzt; es ging vor allem um die Frage, wie dieses Profil für Nutzer und Mitarbei­ tende sichtbar und erfahrbar werden könnte. Dabei war evident, dass die häufig vorzufindenden Verweise auf Andacht, Kapelle und Seelsorge zu kurz griffen. Eine „Präambelprofilierung“42 bliebe an der Oberfläche und hätte lediglich Alibifunk­ tion. Auf der Suche nach einem Konzept, das die Prägung des Alltagshandelns der 39  So habe ich bei einer Diskussion mit leitenden Ärzten eines diakonischen Kranken­ hauses erlebt, dass einer der Ärzte sagte: „Sind wir nicht eigentlich erst dann ein diakoni­ sches Krankenhaus, wenn wir uns um die kümmern, um die sich sonst niemand kümmert, z.B. Menschen behandeln, die nicht versichert sind?“ Sein Impuls löste eine intensive Dis­ kussion über Möglichkeiten und Grenzen und schon vorhandene Praxis in diesem Bereich aus. Genau dieser Umgang mit dem diakonischen Anspruch macht aus meiner Sicht das diakonische Profil unter den skizzierten Kontextbedingungen aus. 40  Rainer Wettreck / Veronika Drews-Galle, Diakonie als Vertrauensmarke stärken, in: PrTh 48 (2013), 231–251. 41  Ulf Liedke, Profil als Prozess. Grundzüge eines diakonischen Profildialogs, in: PTh 104 (2015), 3–21. 42  Schäfer (wie Anm. 1), 82.

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Organisation erfasst, wurde ich beim Konzept der Organisationskultur fündig, die „den Geist des Hauses“, das, was typisch für die Organisation ist, zu erfassen sucht. Dem Ansatz von Edgar Schein folgend verstehe ich Organisationskultur als „ein Muster gemeinsamer Grundprämissen, das die Gruppe [bzw. Organisation] bei der Bewältigung ihrer Probleme externer Anpassung und interner Integration erlernt hat, das sich bewährt hat und somit als bindend gilt; und das daher an neue Mitglieder als rational und emotional korrekter Ansatz für den Umgang mit Problemen weitergegeben wird.“43 Unternehmenskultur entwickelt sich aus den Erfahrungen einer Organisation heraus. Sie verknüpft Weltsichten, handlungsleitende Werte und Alltagspraktiken einer Organisation. Daher sind ihre Elemente unterschiedlich gut sichtbar und fassbar. Der Managementforscher Johannes Rüegg-Stürm bezeichnet Unterneh­ menskultur als Organisationsgrammatik44 mit latenten und sichtbaren Dimensi­ onen. Das bringt die oft unbewusste, aber vertraute „Sprachstruktur“ von Unter­ nehmenskultur gut auf den Punkt und charakterisiert aus meiner Sicht das, was die Loyalitätsrichtlinie45 als „evangelische Prägung“ benennt. Und der Terminus Organisationsgrammatik impliziert schon, dass sich Unternehmenskultur nicht einfach von einzelnen steuern oder verändern lässt, denn sie ist etwas kollektiv Gewachsenes und Entwickeltes, das aber durchaus lebendig und dynamisch ist und gefördert werden kann. Die verschiedenen Dimensionen von Unternehmenskultur, die mit den oben benannten Dimensionen des diakonischen Profils korrespondieren, kommen im Bild der „diakonischen Wasserlilie“46 zum Ausdruck. Aus der Wurzel, der aus dem christlichen Glauben als theologischer und anthropologischer Basis abgeleiteten Sicht auf den Menschen, die Welt, Zeit und Raum und Gott, werden explizierte Werte (ethische Verankerung) formuliert (Leitbild, Führungsgrundsätze), die wie­ derum in Artefakten wie spirituellen Ritualen, Raumgestaltung, Gestaltung der Kommunikation zum Ausdruck kommen. Unternehmenskulturelle Schlüsselmomente liegen in der Gestaltung von un­ terschiedlichen Schwellensituationen in der Beziehung zu den Nutzern der Or­ ganisation, in der Begleitung der Mitarbeitenden in ihrer Organisationsbiografie (Bewerbung, Stellenantritt, Jubiläen, Verabschiedung), in der Gestaltung von Mit­ arbeitergemeinschaft (Betriebsausflug, Weihnachtsfeier, Geburtstage) und in der Wahrnehmung von Räumen und Zeiten.47 Die Funktion von Unternehmenskultur für die Organisation liegt sehr nahe bei der Funktion der Selbstbeschreibungen von Organisationsidentität: Sie identi­ fizieren relevante Handlungen und Entscheidungen, lenken Handeln und bieten

43  Edgar H. Schein, Unternehmenskultur. Ein Handbuch für Führungskräfte, Frankfurt a . M . / New York 1995, 25. 44  Johannes Rüegg-Stürm, Das neue St. Galler Management-Modell, Bern / Stuttgart / Wien 22003, 56. 45  Vgl. Anm. 6. 46  Vgl. Beate Hofmann, Diakonische Unternehmenskultur, Stuttgart 22010, 15. 47  Vgl. dazu ausführlich Hofmann (wie Anm. 46).

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damit Sicherheit, Komplexitätsreduktion und Orientierung.48 Unternehmens­ kultur und Organisationsidentität stehen in einer engen Beziehung zueinander, sind aber nicht identisch. Identität bringt zum Ausdruck, was in der Kultur ge­ lebt wird.49 Darum sehe ich die Kernaufgabe diakonischer Identitätsbildung und Identitätssicherung darin, ein gemeinsames Selbstverständnis zu entwickeln, das in der unternehmenskulturellen Praxis verankert ist und an neue Mitarbeitende weitergegeben wird als adäquates Verhalten nach dem Motto: „So wird das bei uns gemacht“ oder auch: „Wer hier dazu gehören will, sollte sich so und so verhalten“. Manches davon ist implizit im Blick auf die religiöse Dimension und inklu­ siv: gute Führung und Mitarbeiterpflege und eine Vertrauenskultur finden sich auch in anderen sozialen Organisationen; anderes ist exklusiv und häufig auch religiös explizit, z.B. die spirituelle Begleitung von Schwellen für die Nutzer wie für die Mitarbeitenden (Sterbekultur, Gestaltung von Anfangssituationen), aber auch die Präsenz diakonischer Gemeinschaften und christlicher Symbole in Raum und Jahreszeit, die bewusste Gestaltung einer Unterbrechungskultur durch An­ dachten, Lesen der Tageslosung zu Beginn von Sitzungen, Pausengestaltung), so­ wie die Gestaltung von zeitlichen und örtlichen Räumen für die Bewältigung von Fragmentarität und Grenzerfahrungen (Verabschiedung von Gestorbenen, Erinne­ rungskultur, Supervision). Eine besondere Rolle gewinnt die zivilgesellschaftliche Einbindung durch die Zusammenarbeit mit Ehrenamtlichen und Gemeinden, was die Chancen einer Vernetzung im Sozialraum erhöht. Derzeit untersuchen wir in einem deutschlandweit angelegten Forschungs­ projekt die Merkmale diakonischer Unternehmenskultur und die Relevanz dieser Merkmale für die Mitarbeitenden und für die Nutzer diakonischer Angebote.50 Einen ähnlichen Ansatz, der noch stärker auf Organisationsentwicklung orientiert ist, bietet der Profildialog des Dresdner Diakoniewissenschaftlers Ulf Liedke.51 Er entwickelt ausgehend von einer aus St. Gallen kommenden Analy­ sematrix für das Management von Organisationen und inspiriert vom „Index für Inklusion“52Ansatzpunkte für die Entwicklung diakonischen Profils durch Orga­ nisationsentwicklung. Ausgangspunkt ist dabei die Erkenntnis, dass diakonisches Profil nur im Plural besteht53 und in jeder Einrichtung individuell zu entwickeln ist. Der Profildialog bietet Impulse, um einen einrichtungsbezogenen Kommuni­ kationsprozess zu gestalten, in dem Strategie, Struktur, Prozessorganisation, Unter­ 48  Nikodemus Herger, Vertrauen und Organisationskommunikation. Identität-MarkeImage-Reputation, Wiesbaden 2006, 86; Sackmann definiert vier zentrale Funktionen von Unternehmenskultur: Sie schafft Stabilität und Kontinuität, ermöglicht Komplexitätsre­ duktion, dient der Sinngebung und gibt Orientierung. Vgl. Sonja Sackmann, Unterneh­ menskultur erkennen, entwickeln, verändern, Neuwied 2002, 39. 49  Rick Vogel / Nina Katrin Hansen, Organisationale Identität. Bibliometrische Dis­ kursanalyse und Ausblick auf einen praxisthoretischen Zugang. Diskussionspapier des Schwerpunktes Unternehmensführung am Fachbereich BWL der Universität Hamburg Nr. 03/2010, 10. 50  Vgl. www.diakoniewissenschaft-idm.de/unternehmenskultur. 51  Liedke (wie Anm. 41). 52  http://www.eenet.org.uk/resources/docs/Index%20German.pdf. 53  Liedke (wie Anm. 41), 7.

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nehmenskultur und Umweltbeziehungen im Blick auf Profilindikatoren diskutiert werden. Die Indikatoren regen zu einer Reflexion der vier benannten Profildimen­ sionen (ethisch-wertbezogen, existentiell-beziehungsorientiert, spirituell-sinnbe­ zogen und menschenrechtlich-anwaltschaftlich) an und lassen Spielraum für den „diakonischen Eigensinn des jeweiligen Trägers“.54

5. Fazit: Herausforderungen und Aporien der Profildiskussion – bleibende Fragen Die Diskussion um das diakonische Profil hat uns in der Diakoniewissenschaft gelehrt, dass die Argumentation für ein diakonisches Profil weder andere Anbieter abqualifizieren noch Mitarbeitende überfordern darf und von ihnen nicht implizit erwarten darf, dass sie „bessere Menschen“ sind oder dass sie über ihre arbeitsrecht­ lich festgesetzte Arbeitszeit hinaus Hilfe leisten. Der verantwortliche Umgang mit den begrenzten Ressourcen, auch den begrenzten personellen Kräften, die Ausein­ an­dersetzung mit der Fülle der Erwartungen und Hilfebedarfe und notwendige Prioritätensetzung gehören in vielen Bereichen diakonischer Arbeit dazu. Diako­ nische Profilierung muss hier realistische Angebote machen, statt Unmögliches zu fordern. Statt im Modus der Forderung treten neue Profilierungsversuche eher im Mo­ dus der Förderung auf: Diakonische Einrichtungen haben mit ihrer christlichen Tradition Potenziale, die bei der Bewältigung diakonischer Aufgaben helfen kön­ nen, weil sie Sinn, Gemeinschaft und Deutungshilfe im Umgang mit Grenzen und mit Fragmentarität bieten. Das lässt sich möglicherweise weniger im Sinne von Abgrenzen, sondern eher als Vertiefung sozialen Handelns verstehen.55 Eine Grundproblematik aller diakonischen Profilierungsarbeit ist der Balan­ ceakt zwischen der Versuchung, das Spezifikum zu materialisieren und möglichst gut zu konkretisieren, oder es so weit zu generalisieren, dass es diffundiert und in allen Lebensvollzügen der Organisation enthalten ist. Das Bemühen, diakonisches Profil „handhabbar“ zu machen, sollte nicht in die Abarbeitung von Checklisten münden, sich aber auch nicht in Allgemeinplätze verflüchtigen. Ein zentraler Diskussionspunkt ist die Rolle der Kommunikation des Evangeli­ ums in der Diakonie: Wie explizit muss das geschehen, damit Diakonie diakonisch ist, wie implizit darf es bleiben? Ist Hilfehandeln im Raum der Diakonie bereits Kommunikation des Evangeliums durch die Tat, oder braucht das eine zusätzliche, nach außen erkennbare und kommunizierte Deutung? In der Forschungsarbeit zum diakonischen Profil zeigt sich, dass im Bemühen um Unterscheidbarkeit häufig nur das als „diakonisch“ beschrieben wird, was ex­ klusiv und (vermeintlich oder tatsächlich) nur bei der Diakonie zu finden ist. Das 54  Liedke (wie Anm. 41), 20. In eine ähnliche Richtung der organisationalen Entwicklung des diakonischen Profils gehen auch die Überlegungen des Brüsseler Kreises, vgl. HannsStephan Haas / Dierk Starnitzke (Hg.), Diversität und Identität. Konfessionsbindung und Überzeugungspluralismus in caritativen und diakonischen Unternehmen, Stuttgart 2015. 55  Schäfer (wie Anm. 1), 82.

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ist allerdings problematisch. Denn viele Elemente eines christlichen Hilfeethos ha­ ben Eingang in – säkularisierte – fachliche Standards sozialen Handelns gefunden, z.B. Werte wie Respekt, Achtung der Würde und Individualität. Sie nicht als dia­ konisch zu bezeichnen, weil sie auch bei anderen Trägern im Leitbild stehen, würde zentrale Aspekte diakonischen Handelns eliminieren und die breite Wirkung einer christlichen Kultur des Helfens in unserer Gesellschaft negieren. Diakonie hat vie­ les mit anderen sozialen Organisationen gemeinsam, weil sich moderne Pflege und Standards der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen im Horizont der Diakonie und aus ihrem Wertekanon heraus entwickelt haben. Ihr Ethos ist säkularisiertes christliches Ethos, dessen Beachtung selbstverständlich auch zur Diakonie gehört und sie auszeichnet, auch wenn sie das nicht von anderen unterscheidet. Die Frage der Differenz zeigt sich darum – wenn überhaupt – weniger in den formulierten Werten, sondern eher in deren Implementierung bzw. Inkulturation im Alltags­ handeln der Organisation und im Bemühen um ihre kontinuierliche Reflexion. Diese Reflexion organisational abzusichern und zu fördern, ist die Aufgabe diako­ nischer Unternehmensleitung.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Balder, Holger; Dr. theol.; Pfarrer der Ev.-ref. Kirchengemeinde Rysum. Fazakas, Sándor; Dr. theol.; Professor für Systematische Theologie und Sozialethik an der Reformierten Theologischen Universität Debrecen/Ungarn und ao. Professor an der Reformierten Theologischen Fakultät der Babeş-Bolyai Universität in ClujNapoca/Rumänien. Hamburger, Martin; Dr. theol.; Pfarrer und Direktor der Diakonie Wuppertal. Hammer, Georg-Hinrich; Dr. theol.; Vorstand em. der Diakonischen Stiftung Frie­ de­horst Bremen. Hofheinz, Marco; Dr. theol.; Professor für Systematische Theologie im Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz-Universität Hannover. Hofmann, Beate; Dr. theol.; Professorin für Diakoniewissenschaft und Dia­ko­nie­ ma­nagement im IDM der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Kuhn, Thomas K.; Dr. theol.; Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Locher, Gottfried Wilhelm; Dr. theol.; Präsident des Rats des Schweizerischen Evan­ gelischen Kirchenbundes (SEK) und Präsident des Rats der Gemeinschaft Evan­ gelischer Kirchen in Europa (GEKE). Lückel, Ulf; Dr. theol.; ev. Theologe und Kirchenhistoriker mit einem Lehrauftrag an der Universität Siegen. MacDonald, Gerald; Dr. theol.; ev. Theologe und Kirchenhistoriker mit Lehr­auf­ trä­gen an der Teofilo Kisanji Universität Mbeya/Tansania (Gastprofessur) und am Ev. Fachseminar für Altenpflege in Essen. Sallmann, Martin; Dr. theol.; Professor für Neuere Kirchengeschichte an der Theo­ lo­gischen Fakultät der Universität Bern. Thees, Frauke; Lehrerin in Emden und Fachleiterin für Ev. Religion am Stu­di­en­ seminar für das Lehramt an Gymnasien in Leer. Ulrichs, Hans-Georg; Dr. phil.; Pfarrer der Universitätsgemeinde Heidelberg und Stu­dierendenpfarrer. Wenzel, Gerhard; Dr. theol.; Pfarrer der Ev. Kirchengemeinde Köln-Rath-Ostheim.