Ethik - reformiert!: Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert 9783788731496, 9783788731502, 3788731494

Den reformierten Reformatoren war es ein besonderes Anliegen, nicht nur die Reformation der Lehre festzuhalten. Auch die

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Ethik - reformiert!: Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert
 9783788731496, 9783788731502, 3788731494

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Forschungen zur Reformierten Theologie

Herausgegeben von Marco Hofheinz / Georg Plasger / Michael Weinrich

Band 8 Marco Hofheinz Ethik – reformiert!

Marco Hofheinz

Ethik – reformiert! Studien zur reformierten Reformation und ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-315 0-2

 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau

Für Claudia und Timo Hofheinz mit Jonas, Merle und Lena

Vorwort

Ethik bedarf der Reformation. Reformation bedarf der Ethik. So wie die Ethik die reformierende Kraft des Wortes Gottes benötigt, so wird die Reformation nicht ohne die Reflexion auf das gute und richtige Handeln auskommen. Der reformierten Reformation war die Akzentuierung der reformatio vitae, der Erneuerung des Lebens und nicht nur der Lehre (reformatio doctrinae) durch die erschließende und befreiende Kraft des Wortes Gottes, besonders wichtig. Dafür erwies sich die Unterscheidungskunst theologischer Ethik als unverzichtbar. Insofern überrascht es nicht, dass die erste Ausarbeitung einer selbständigen evangelisch-theologischen Ethik von einem Reformierten, nämlich Lambert Daneau (1530–1595), stammt.1 Fragestellungen der Ethik traten sehr schnell ins Zentrum reformierten Interesses. Immer wieder lag der besondere Akzent auf der „Heiligung“: „Mit der Rechtfertigung aus Glauben allein war die Heiligung des Lebens der Gotteskinder verbunden“.2 Dem Wort Gottes wurde zugetraut, reformierend auf den diversen Betätigungsfeldern von Kirche, Politik, Wirtschaft und Kultur zu wirken. So entwickelte sich reformierte Theologie zu einer Gestaltungskraft der modernen Gesellschaft. Das für reformierte Theologie und Ethik zentrale Zutrauen in die Wirkung des Wortes Gottes verbindet die Reformationszeit mit der sog. Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts.3 Die vorliegenden ethikgeschichtlichen Studien greifen diese Verklammerung auf und fragen nach der Relevanz reformierter Theologie für ethische Urteilsbildung. Die Notwendigkeit von Selbstkritik und schöpferischer Erneuerung in den Krisen der Gegenwart darf dabei nicht ausgeblendet werden. Die Hoffnung, dass eine reformatorische und reformierende Aktivität in Kirche und Gesellschaft von Gottes Wort ausgeht, kann auch heute Menschen beflügeln. Dieser Band widmet sich der (Wieder-)Entdeckung des befreienden Wortes Gottes für die Lebens- und Weltgestaltung im reformierten 1

L. DANEAU, Ethices Christianae libri tres, Genf 1577. Dazu: CH. STROHM, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, AKG 65, Berlin / New York 1996. 2 E. BUSCH, Art. Reformierte Kirche, RGG4 7 (2004), 165–171, 166. 3 U.H.J. KÖRTNER, Theologie des Wortes Gottes. Positionen – Probleme – Perspektiven, Göttingen 2001.

VIII

Vorwort

Protestantismus. Dazu wird eine bunte Palette an Studien zusammengetragen, die ich im Laufe der letzten Jahre erstellt habe. Sie weisen eine recht große Themenbreite auf. Etliche Studien haben Gelegenheitscharakter. Viele von ihnen sind im Zusammenhang der alle zwei Jahre stattfindenden Internationalen Tagung der „Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus“ in der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (JALB) entstanden. Dem Vorstand der Gesellschaft unter den Vorsitzenden Dr. J. Marius J. Lange van Ravenswaay und aktuell Dr. Hans-Georg Ulrichs sei an dieser Stelle sehr herzlich für seine Arbeit gedankt. Für die verlegerische Betreuung dieses Bandes danke ich dem Neukirchener Verlag und insbesondere Herrn Ekkehard Starke, für die Erstellung des Satzes Frau Dorothee Schönau und für die Aufnahme in „unsere“ Reihe „Forschungen zur Reformierten Theologie“ den Kollegen Prof. Dr. Georg Plasger (Siegen) und Prof. Dr. Michael Weinrich (Bochum). Bereits vorhandene Studien habe ich durch eine Reihe neuer Studien ergänzt und zum vorliegenden Band zusammengestellt. Ich konnte sie im Rahmen eines Forschungssemesters erarbeiten, das mir die Universitätsleitung der Leibniz Universität Hannover großzügiger Weise gewährte. Dies ermöglichte mir einen mehrmonatigen Forschungsaufenthalt in den USA, namentlich am Princeton Theological Seminary (New Jersey), der Duke Divinity School (Durham, North Carolina) und an der Drury University in Springfield, Missouri. Ich danke den Freunden Prof. Dr. Darrell L. Guder, Prof. Dr. George Hunsinger (beide Princeton), Prof. Dr. Stanley Hauerwas (Duke) und vor allem Prof. Dr. Peter D. Browning (Drury) für die Organisation meines Forschungsaufenthaltes und die unvergessliche gemeinsame Zeit und Gastfreundschaft. Zur Ausarbeitung dieser Studien wurde mir ein Hardenberg-Fellowship zugesprochen. Dadurch erhielt ich das Privileg, nach meiner Zeit in den USA einen Forschungsaufenthalt in der JALB verbringen zu dürfen. Ich bin dem wissenschaftlichen Vorstand der JALB und namentlich deren Leiter, Dr. J. Marius J. Lange van Ravenswaay, sehr zu Dank verpflichtet. Der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürichs und meiner eigenen Landeskirche, der Evangelisch-reformierten Kirche und insbesondere ihrem Kirchenpräsidenten Dr. Martin Heimbucher, danke ich sehr für einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Für die Fertigstellung des nun vorliegenden Bandes danke ich meinen ehemaligen und aktuellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Abteilung Ev. Theologie des IThRw der Leibniz Universität Hannover, Dr. Kai-Ole Eberhardt, Kristina Gun, Dr. Raphaela J. Meyer zu

Vorwort

IX

Hörste-Bührer, Dr. Frederike van Oorschot und Robert Schnücke, sowie den studentischen Hilfskräften Frau Pia Jüttner, Merle Ziegner und Jan-Philip Tegtmeier und unserer Sekretärin Frau Silvia Hermerding. Sie alle haben mir neben meiner Kollegin Prof. Dr. Monika Fuchs mit ihren Mitarbeitern Jörn Neier, Linda Schwich und Dr. Nina Rothenbusch im Forschungssemester den Rücken frei gehalten. Ein herzlicher Dank geht auch an meinen Vorgänger Prof. Dr. Friedrich Johannsen sowie unseren ehemaligen Dekan und Kollegen Prof. Dr. Dr. Harry Noormann. Meine Arbeit am Forschungsgegenstand ist im Laufe der letzten 20 Jahre in besonderer Weise durch meinen Freund und Siegener Kollegen Prof. Dr. Georg Plasger geprägt worden. Ich verdanke ihm viele Hinweise und Erkenntnisse. Auch meine Lehrer Prof. Dr. Wolfgang Lienemann (Bern) und Prof. Dr. Hans G. Ulrich (Erlangen) erwähne ich im Blick auf die theologische Ethik sowie meinen Göttinger Lehrer Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Eberhard Busch hinsichtlich der reformierten Theologie sehr gerne, nachdrücklich und dankbar. Besonders verbunden weiß ich mich bezüglich des Forschungsgegenstandes auch den Freunden Dr. Margit Ernst-Habib (Ubstadt-Weiher/Hannover), Jens Heckmann (Dortmund), Prof. Dr. Gerard den Hertog (Apeldoorn), Prof. Dr. Frank Mathwig (Bern), Prof. Dr. Michael Weinrich (Bochum), Prof. Dr. Rolf Wischnath (Gütersloh/Paderborn) und Prof. Dr. Matthias Zeindler (Bern). Auch geht ein herzlicher Gruß nach Hildesheim an die Kollegen Prof. Dr. Maren Bienert und Prof. Dr. Carsten Jochum-Bortfeld, mit denen ich u.a. im Rahmen eines gemeinsamen Forschungsprojektes zur Hermeneutik neuerer reformierter Bekenntnisse zusammenarbeite. Schließlich möchte ich meinen Eltern und Schwiegereltern sowie meinen Kindern Daniel, Hanna, Amelie und Jakob und in besonderer Weise meiner Frau Dörte von Herzen danken. Dieser Band ist meinem Bruder Timo und seiner Familie gewidmet: „Nostri non sumus sed domini“4 (J. Calvin). Hannover, im April 2017

4

Inst. (1559), III,7,1.

Marco Hofheinz

Inhalt

Vorwort ........................................................................................... VII Einleitung: Ethik – reformiert! ............................................................ 1 1. „Pass on“ oder: Die Unumgehbarkeit der Tradition Theologische Ethik und der Vorgang der „traditio“ .................. 1 2. Ethica semper reformanda Die Erneuerung der Ethik durch das Wort Gottes ..................... 5 3. Wirkungs-Geschichte Die Prägekraft des reformierten Protestantismus....................... 8 4. Konnektierte Wort-Gottes-Theologie Zur Rezeption reformierter Ethik im 20. Jahrhundert und zur Disposition des vorliegenden Bandes ......................... 12 A. Studien zur Grundlegung der Ethik I. Mit der Tradition zum Aufbruch Die konstitutive Bedeutung der Schrift für die reformierten Bekenntnisse............................................................ 16 1. Einleitende Bemerkungen zum „Verlust des Bekenntnisses“ und zum „Kanon“ reformierter Bekenntnisschriften.................................................................. 16 2. Die Autorität des Bekenntnisses Ein konfessioneller Vergleich zur Bestimmung des Zusammenhangs von Schrift und Bekenntnis nach den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften ................. 19 2.1 Gemeinsamkeiten ............................................................... 21 2.2 Unterschiede....................................................................... 22 3. Charakteristika des Schriftverständnisses nach den reformierten Bekenntnisschriften............................................. 24 3.1 Ein besonderer reformierter Akzent: Der Vorbehalt besserer Einsicht in die Heilige Schrift oder: Die prinzipielle Überbietbarkeit reformierter Bekenntnisaussagen ........................................................... 24 3.2 Text und Kontext nach reformiertem Bekenntnisverständnis ......................................................................... 26

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Inhalt

3.3 Die Bekenntnisökumenizität oder: Die Partikularität in der Universalität des schriftgebundenen Bekenntnisses ...................................... 28 3.4 Konfessorische Existenz heute oder: „Hervorhebung des Bekennens gegenüber dem Bekenntnis“ ....................................................................... 29 3.5 Der eine Gottesbund und die Wertschätzung des Alten Testaments................................................................ 32 4. Fazit ......................................................................................... 34 II. Wie neue Menschen leben Ansätze zu einer Ethik der Identität im Heidelberger Katechismus ................................................................................. 38 1. Einleitung: Mit dem Ende anfangen … ................................... 38 2. Eine Ethik der Dankbarkeit? Zur Frage nach dem Ansatz des Heidelberger Katechismus ............................................................................ 40 3. Die Ethik des Heidelberger Katechismus als Ethik des neuen Menschen ................................................................ 44 4. Die Menschwerdung des Menschen als moralische Subjektwerdung ....................................................................... 49 5. Heiligung: Das „mehr und mehr“ Vom Partialaspekt des progressus ........................................... 56 6. Der identitätsethische Ansatz des Heidelberger Katechismus ............................................................................ 59 III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“ Tugendethische Ansätze bei Johannes Calvin. Ein Beitrag zur ethischen Grundlagendiskussion.......................................... 64 1. Einleitung: Die Renaissance der Tugendethik ....................... 64 2. Calvin und die Tugend ........................................................... 68 2.1 Why „Calvin on virtue“? Eine forschungsgeschichtliche Begründung .................... 68 2.2 Calvins Rezeption der antiken Tugendtradition unter formalen Gesichtspunkten ............................................... 73 2.2.1 Calvins Verzicht auf eine Systematisierung und Katalogisierung der Tugenden................................ 73 2.2.2 Eine höchste Tugend? Calvins Eklektik bei der Hierarchisierung und Kanonisierung von Tugenden ................................................................ 75

Inhalt

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3. Die Rede von Tugenden bei Calvin Eine Spurensuche in den Gattungen seines Œuvres............... 80 3.1 Traktate und Gelegenheitsschriften Calvins .................... 81 3.2 Briefe Calvins .................................................................. 83 4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559) und seinen Bibelkommentaren ................................... 85 4.1 Anthropologische Grundlagen der Tugendlehre .............. 85 4.2 Die teleologische Perspektive Calvins: Die Finalität des Menschen............................................... 92 4.3 Das christliche Leben (vita christiana) als tugendhaftes Leben bei Calvin ......................................... 96 4.3.1 „Gott ähnlich werden“. Die Wiedergeburt als Grundlegung des christlichen, tugendhaften Lebens ..................................................................... 96 4.3.2 Die unio cum Christo und die Heilsökonomie der Tugendvermittlung.......................................... 101 4.3.3 Das tugendvermittelnde Werk des Heiligen Geistes .................................................... 104 4.4 Das christliche Leben als tugendhaftes Leben? Calvins Replik auf Einwände......................................... 107 5. Fazit: Wiederkehr der Tugendethik – bei Calvin? ............... 109 IV. Freiheit zur Nachahmung Problemorientierte Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt reformatorischer Ethik ................................................. 114 1. Welche Freiheit? Einleitende Bemerkung zum theologischen Gebrauch eines schillernden Begriffs ................................................... 114 2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ Die Dialektik des Freiheitsbegriffs Luthers und der vernachlässigte Aspekt der Nachahmung Christi ................ 118 2.1 Die Doppelthese der „Freiheitsschrift“ Luthers ............. 118 2.2 Das Leben in der Freiheit als Leben „in Christus“ und „im Nächsten“ ......................................................... 123 2.3 Das Beispiel (exemplum) Christi bei Luther – oder: Die Freiheit eines Christenmenschen als mimetische Praxis des Lebens mit Gott ............................................ 125 3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“ Das Beispiel (exemplum) Christi in der Theologie Huldrych Zwinglis ............................................................... 133 3.1 „Von der freien Wahl der Speisen“ Das initium der Theologie Zwinglis .............................. 133

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Inhalt

3.2 „Freiheit von …“ – „Freiheit zu …“ Zwinglis beidseitig gemünztes Freiheitsverständnis ..... 138 3.3 Das Vorbild Christi nach Zwingli.................................. 140 3.4 „Die Doppelheit der Bedeutung Christi für uns“ Die elliptische Soteriologie Zwinglis ............................ 144 4. „Wenn wir Gottes Kinder sind, müssen wir auch seine Nachahmer sein“ Die imitatio Christi bei Johannes Calvin .............................. 146 5. „Das Geschenk der Freiheit“ Ein Ausblick in die Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung von Karl Barth ..................................................... 151 5.1 Das Schicksal von sacramentum et exemplum in der Neuzeit ................................................................. 151 5.2 „Kommunikative Freiheit“ Karl Barth und die Neuzeit ............................................. 153 5.3 Schlussbemerkung .......................................................... 158 B. Studien zur Wirtschaftsethik V. Ethik der Erinnerung oder: „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis auf Arthur Richs „Wirtschaftsethik“ ............................................... 161 1. Einleitung: Ethik der Erinnerung und Arthur Richs Vergegenwärtigung von Zwinglis Leitdifferenz ................... 161 2. Der dialektisch-dynamische Zusammenhang „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ bei Zwingli ............................................................................ 164 3. Arthur Richs Zwingli-Interpretation im Kontext seiner Sozialethik............................................................................. 168 4. Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis auf Arthur Richs „Wirtschaftsethik“ ........................................... 173 5. Fazit: Ethik als Reich-Gottes-Erinnerung ............................. 178 VI. Ein „Vaterschaftstest“ Die Weber-These und der sog. „urchristliche Kommunismus“ bei Johannes Calvin ................................................................. 180 1. Einleitung: Calvin, Calvinismus und die sog. Weber-These ........................................................................ 180 2. Die lukanischen Summarien von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde .................................................................... 185

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Inhalt

3. Zwischen den Extremen Calvins Beurteilung des Eigentumverkaufs und der Gütergemeinschaft der Urgemeinde...................................... 186 4. Calvins projektierte „Ordnung“ der „offenen Hand“ für die Notleidenden ............................................................ 191 5. Calvins Abgrenzung gegenüber Wiedertäufern bzw. Libertines ............................................................................. 193 6. „Haben als hätte man nicht“ Der Umgang mit Eigentum nach Calvin ............................. 197 7. Gemeindediakonie Impulse Calvins ................................................................... 199 8. Schlussbemerkung............................................................... 203 VII. Processus und/oder status confessionis? Oder: Kann die Struktur der globalen Ökonomie Anlass eines Bekenntnisses sein? ....................................................... 209 1. Einleitung: Streit um den status confessionis ...................... 209 2. Die Möller-Duchrow-Kontroverse im Zusammenhang der Accra-Erklärung (2004) ................................................ 214 3. „Sorget nicht!“ Die Accra-Erklärung, der Mammondienst, Gottes Ökonomie und die theologische Wirtschaftsethik............... 225 4. Fazit: Die viatorische Pointe der Rede vom processus confessionis ......................................................... 231 C. Studien zur politischen Ethik VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen? Resonanzen reformierter Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg ..................................................................... 236 1. Einführung ......................................................................... 236 2. „Ordnungsrufe“ Über die Formierung reformierter Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg................................................ 239 2.1 „Deichbewachung“ Emil Brunners Friedensethik im Bann der Ordnungen ............................................................ 239 2.2 Frieden, Recht und Schöpfungsordnung Karl Barths „Münsteraner Ethik“ auf Entdeckungsreise ........................................................ 243 2.3 Reinhold Niebuhrs „Christian Realism“ in einer entzauberten Welt torquierter Moral ........................... 249

XVI

Inhalt

3. Fazit: Resonanzen hinkender Friedensethik „after World War 1“ .......................................................... 258 3.1 Nachhinkende Formierung der Friedensethik, wurzelnd in einer erschütterten Theologie.................. 258 3.2 Die Entdeckung der Friedensethik als Themenfeld der Sozialethik ............................................................ 259 3.3 Das Auffinden des (Völker-)Rechtsbezugs der Friedensethik .............................................................. 260 3.4 Konzeptionelle Ingebrauchnahme der Schöpfungsordnung .................................................... 261 3.5 „Pazifistische“ Zielsetzung der friedensethischen Ausführungen ............................................................. 262 IX. Platzanweisung Reinhold Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen .................................................. 263 1. Einführung: Zur Frage nach dem Umgang mit den Historischen Friedenskirchen .............................................. 263 2. Entwicklungslinien im Denken Niebuhrs: Vom liberalen Pazifismus zum christlichen Realismus ......... 266 3. Christologische Prämissen der politischen Ethik R. Niebuhrs .......................................................................... 268 4. „Rest upon illusions about the goodness of man“ Niebuhrs Klassifikation von Pazifismus-Typen .................. 270 5. Normkritik Die normative Funktion des Liebesgebotes Jesu und die internationale Politik als tragischer Handlungskontext ....... 273 6. Selbst- oder Fremdghettoisierung? R. Niebuhr und das Sektenethos der Gewaltlosigkeit .......... 277 7. „Is there or isn’t there a place?“ Zur „Würdigung“ des Friedenszeugnisses der Historischen Friedenskirchen bei R. Niebuhr ...................... 281 8. Abschließende Beurteilung von Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen: Sic et non.............................................................................. 282 X. De munere prophetico Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos vor der „Lessingzeit“ (von Zwingli bis Lampe) .... 288 1. Einleitung .............................................................................. 288 2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition ................... 292

XVII

Inhalt

2.1 Huldrych Zwingli: „Der Hirt“ (1523) ........................... 293 2.2 Heinrich Bullinger: „De prophetae officio“ (1532) ...... 302 3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin: „Institutio Christianae Religionis“ (1559)........................... 309 4. Die Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie: Caspar Olevian und Johann Heinrich Heidegger ................ 320 4.1 Caspar Olevian: „Fester Grund“ (1567) ........................ 321 4.2 Johann Heinrich Heidegger: „Corpus theologiae christianae“ (1700) ........................ 329 5. Das prophetische Amt im reformierten Pietismus Friedrich Adolf Lampe: „Milch der Warheit“ (1720) ......... 335 6. Zusammenfassung ................................................................ 340 XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschaulich neutrale Rechtsstaat.................................................................. 343 1. Einleitung ............................................................................. 343 2. Problembestimmung: Die theokratische Tendenz der Lehre von der Königsherrschaft Christi und das politisch-ethische Denken unter der conditio saecularis .... 345 3. Lösungsmodelle ................................................................... 349 3.1 Das Genfer bzw. „altreformierte“ Modell Johannes Calvins (1509–1564): Selbständige kirchliche Ordnungen zur Entflechtung von Kirche und Staat ...... 350 3.2 Abraham Kuypers (1837–1920) neocalvinistisches Modell der Sphärensouveränität: Die christliche Durchdringung des Staates............................................ 356 3.3 Das Modell „Christengemeinde und Bürgergemeinde“: Karl Barths (1886–1968) säkulares Staatsverständnis ........................................................... 362 4. Schlussbemerkung ................................................................ 368 D. Ausblick XII. Post Barth locutum Reformierte Ethik und ihre Rezeption reformiertreformatorischer Grundentscheidungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ..................................................... 370 1. Einführung: Reformierte Ethik als Ethik der Erinnerung .... 370

XVIII

Inhalt

2. „Jesus Christus als das eine Gebot Gottes“ Die Rezeption der reformiert-reformatorischen Tradition in Walter Krecks „Grundfragen christlicher Ethik“............ 373 2.1 Indikativ und Imperativ ................................................ 373 2.2 Rechtfertigung und Heiligung ...................................... 378 2.3 Lehre von der Königsherrschaft Christi........................ 381 3. Reich-Gottes-Ethik Die Rezeption der reformiert-reformatorischen Tradition in Jürgen Moltmanns „Ethik der Hoffnung“ ....................... 383 3.1 Ethik der Hoffnung als politische Reich-GottesTheologie ...................................................................... 383 3.2 Historische Perspektivierung reformierter Reich-Gottes-Theologie ................................................ 385 3.3 J. Moltmanns Theokratieverständnis ............................ 386 4. „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ Arthur Richs Rezeption der reformiert-reformatorischen Tradition in seiner „Wirtschaftsethik“ ................................ 389 4.1 A. Richs Ansatz und Orientierung ................................ 389 4.2 Zwinglis Dialektik von „göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ nach A. Rich ......................................... 391 4.3 Die Prägekraft der Zwinglischen Dialektik von „göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ für den Gang von A. Richs wirtschaftsethischer Untersuchung ................................................................ 395 5. Fazit: Reformierte Ethik – post Barth locutum ................... 397 Nachweis der Erstveröffentlichungen ............................................. 401 Abkürzungsverzeichnis ................................................................... 403 Personenregister .............................................................................. 405 Bibelstellenregister ......................................................................... 413 Sachregister ..................................................................................... 416

Einleitung: Ethik – reformiert!

1. „Pass on“ oder: Die Unumgehbarkeit der Tradition Theologische Ethik und der Vorgang der „traditio“ Theologiegeschichtliche Studien zur Ethik sind nicht nur von antiquarischem oder musealem Interesse. Ethik lebt von Traditionen. Ethische Fragestellungen zehren von der Überlieferung. Die Renaissance der aristotelischen Strebens- bzw. Tugendethik im Neoaristotelismus der Gegenwart, für die solch unterschiedliche Denkerinnen und Denker wie Alasdair MacIntyre,5 Martha C. Nussbaum und Charles Taylor stehen, belegt dies.6 Auch für christliche Ethik lässt sich der Traditionsbezug nicht ausblenden. Vielmehr dürfte gelten: „Aufgrund ihres Bestehens in konkreten, historisch gewachsenen Gemeinschaften hat jede christliche Praxis und die in ihr eingeschlossene Theologie auch eine konfessionelle Identität, d.h. einen Traditionsbezug.“7 Die Unumgehbarkeit der Tradition für die Ethik ist gemeinschaftsvermittelt.8 Ethik findet nämlich nicht im luftleeren Raum statt. Sie ist zu verstehen „als Darstellung und Kritik des Ethos und der Moral einer Gemeinschaft von Menschen“9. Hinsichtlich der christlichen 5

Zu A. MACINTYRES „rationality of traditions“ vgl. A. FETZER, Tradition im Pluralismus. Alasdair MacIntyre und Karl Barth als Inspiration für christliches Selbstverständnis in der pluralen Gesellschaft, Neukirchen-Vluyn 2002; S. EVERS, Traditionale Hermeneutik. Der Traditionsbegriff Alasdair MacIntyres als Beitrag zur theologischen Hermeneutik, Theologie – Kultur – Hermeneutik 4, Leipzig 2006; J.A. HERDT, Alasdair MacIntyres’s „Rationality of Traditions“ and Tradition-Transcendental Standards of Justification, JR 78 (4/1998), 524–546. 6 Vgl. TH. GUTSCHKER, Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. 7 M. MÜHLING, Systematische Theologie: Ethik. Eine christliche Theorie vorzuziehenden Handelns, UTB 3748, Göttingen 2012, 47. Daraus leitet Mühling (ebd.) berechtigterweise die Konsequenz ab: „Zur Einordnung der konfessionellen Identität sind Kenntnisse und Kompetenzen der Kirchen-, Dogmen- und Theologiegeschichte erforderlich.“ 8 Vgl. dazu die im Anschluss an Karl Barth (KD I/1, 1) vorgenommene Definition von W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 51: „Ethik als christlich-theologische Disziplin ist die wissenschaftliche[n] Selbstprüfung der christlichen Kirche hinsichtlich der ihr eigentümlichen Rede von Gott und den damit gegebenen Grundlagen, Möglichkeiten, Dringlichkeiten und Formen des Handelns und Verhaltens von Menschen in der Weltgesellschaft.“ Dort kursiv. 9 So W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, 14. Kursivierung: M.H. So auch DERS., Philosophische und theologische Ethik im Streit der Fakultäten,

2

Einleitung: Ethik – reformiert!

Ethik geht es dabei um „Kirche“10, und zwar auch in ihrer konfessionellen Ausdifferenzierung: „Das Selbstverständnis der real existierenden Kirchen ist […] durch ihre unterschiedliche, historisch überkommene konfessionelle Herkunft geprägt. Gerade wer daran arbeiten möchte, daß solche traditionalen Bindungen ihren kirchentrennenden Charakter verlieren, muß fragen, ob – und wenn ja wie – sie sich im Zusammenspiel von Glaube und Weltverantwortung heute noch praktisch auswirken. Begründen die konfessionellen Unterschiede notwendige Differenzen im Ergebnis der ethischen Urteilsbildung? Oder sind diese, soweit vorhanden, durch andere Faktoren bedingt?“11

So fragten etwa Wolfgang Huber und Hans-Richard Reuter im Rückblick auf die friedensethische Debatte der 1980er Jahre. Die evangelische Theologie und mit ihr die theologische Ethik ist längst in einer Ära „After Leuenberg“12 angekommen. Es wäre in der Tat verfehlt, sich „auf angeblich unüberwindbare theologische Unterscheidungslehren der beiden protestantischen Konfessionsfamilien“13 zu berufen. Darum kann es gewiss nicht gehen, weder in der innerprotestantischen Ökumene noch in der zwischen den beiden großen „Volkskirchen“.14 Denn Tradition steht nicht einfach für das „Archaische“, also auf der Seite der Vergangenheit, die „überkommen“ ist. Mit solch einer Zuteilung würde das Phänomen der Tradition wohl stark unterschätzt, ja verkannt. Bei der Tradition geht es nämlich nicht einfach um Bestände, die anzueignen, abzuschaffen und/oder zu modernisieren wären: „They [traditions; M.H.] are not static containers of truth but useful aids for communication in the respective contemporary search for an appropriate manner of confessing, teaching and passing on the tradi-

in: F. NÜSSEL (Hg.), Theologische Ethik der Gegenwart. Ein Überblick über zentrale Ansätze und Themen, Tübingen 2009, 13–47, 13. 10 Vgl. dazu M. HOFHEINZ, Wahrnehmen – Urteilen – Prüfen. Explorative Annäherung an eine „selbstdarstellende“ theologische Identitäts- und Gemeindeethik, in: M. HELD / M. ROTH (Hg.), Was ist eine Theologische Ethik?, Berlin / New York 2017, im Erscheinen; M. HOFHEINZ, Urteilen im Raum der Kirche. Theologische Einsichten des sog. „kirchlichen Kommunitarismus“, in: I. SCHOBERTH / CH. WIESINGER (Hg.), Urteilen lernen III – Räume des Urteilens in der Reflexion, in der Schule und in religiöser Bildung, Göttingen 2015, 43–67. 11 W. HUBER / H.-R. REUTER, Friedensethik, Stuttgart 1990, 177. 12 Gemeint ist die „Leuenberger Konkordie“ (1973), in: G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005, 249–258. 13 W. HUBER / H.-R. REUTER, Friedensethik, 183. 14 Überhaupt gilt: „Reformiert“ und „ökumenisch“ sind keineswegs gegensätzliche Begriffe. Vgl. U.H.J. KÖRTNER, Reformiert und ökumenisch. Brennpunkte reformierter Theologie in Geschichte und Gegenwart, STS 7, Innsbruck/Wien 1998.

1. „Pass on“ oder: Die Unumgehbarkeit der Tradition

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tion.“15 In den Blick zu nehmen ist m.E. vielmehr der Vorgang der „traditio“ (von lat. tradere) im Sinne eines nomen actionis, wie ihn der biblische Sprachgebrauch kennt und mit den griechischen Termini paradidonai16 und paralambanein17 pointiert. Bei diesem aktiven Verständnis der Tradition ist primär der Vorgang der Weitergabe von Praktiken, Erzählungen und Bekenntnissen18 im Blick, und zwar jeweils von der älteren Generation an die jüngere Generation, die gleichsam in eine bestimmte Lebensform eingewiesen wird.19 Im rabbinischen Judentum lässt sich dies besonders anschaulich studieren.20 Hans G. Ulrich bemerkt dazu: „Im Vorgang der Traditio geschieht erneut das Empfangen, das Aufnehmen und selbst Erproben. Dahinter bleibt diejenige – weithin wirksame – Beschreibung einer Hermeneutik zurück, die ihr die Aufgabe zuweist, ‚Traditionsbestände‘ für eine ‚Aneignung‘ aufzubereiten. Hier wird verdeckt, was in der Traditio das lebendige Wort ausmacht, was die paradosis ist. Dies ist der Ort einer theologischen Hermeneutik, die in allem Verstehen das ‚Erleiden‘ dessen, was man ‚Sinn‘ nennen mag, im Blick behält.“21

Ein solches Traditionsverständnis hat wohl auch der amerikanische Ethiker Stanley Hauerwas im Blick, wenn er konstatiert: „Christians do not simply study the past, but rather the past continues to be crucial for the present. The past is not ‚back there‘ because it is not even 15

M. WEINRICH, Confessio and Traditio. A Reformed Approach in Dialogue with the Lutheran Tradition, in: J.D. GORT u.a. (Hg.), Crossroad Discourses between Christianity and Culture. FS in Honor of Hendrik M. Vroom on Occasion of his 65th Birthday, Currents of Encounter 38, Amsterdam / New York 2010, 545–562, 558f. 16 F. BÜCHSEL, Art. didōmi ktl., ThWNT 2 (1935), 168–175, bes. 171–175; H. BECK / K. HAACKER, Art. paradidōmi ktl., TBLNT (1997), 754f. 17 Vgl. G. DELLING, Art. lambanō ktl, ThWNT 4 (1942), 5–16, 11–15; B. SIEDE / O. BECKER, Art. lambanō ktl., TBLNT 1 (1997), 589–595, bes. 595. 18 Dies gilt nicht zuletzt auch für die neueren reformierten Bekenntnisse. Vgl. M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Reformiertes Bekennen heute. Bekenntnistexte der Gegenwart von Belhar bis Kappel, Neukirchen-Vluyn 2015. Dazu: M. BIENERT u.a. (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Studien zu ihrer Entstehung und Geltung, Zürich 2017; M. ERNST-HABIB, Reformierte Identität weltweit. Eine Interpretation neuerer Bekenntnisse aus der reformierten Tradition, FSÖTh 158, Göttingen 2017. 19 H.G. ULRICH (Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 200) weist treffend darauf hin, dass Tradition „nicht nur Übergabe, Weitergabe, sondern gegenläufige, querlaufende Gabe [ist], wie das griechische Wort ‚paradosis‘ anzeigt. Was weitergegeben wird, steht ‚para‘ – entgegen und quer zu dem, was nur weitergeht oder fortgesetzt wird.“ 20 Vgl. dazu den Beitrag des amerikanischen Rabbiners M. GOLDBERG, Discipleship: Basing One Life on Another – It’s Not What You Know, It’s Who You Know, in: S. HAUERWAS u.a. (Hg.), Theology Without Foundations. Religious Practice and the Future of Theological Truth, Nashville 1994, 289–304. 21 H.G. ULRICH, Wie Geschöpfe leben, 344.

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Einleitung: Ethik – reformiert!

the past.“22 Der Vorgang des Weiterreichens, des „Überlieferns“ ist ein höchst lebendiger Vorgang. Insofern wird es auch evangelischer Ethik um mehr gehen müssen als eine rückwärtsgewendete Besinnung auf alte Textkomplexe. Ein nach vorne ausgerichtetes Traditionsverständnis mag auch manche Schwierigkeiten23 beheben, die der Protestantismus „traditionell“ mit dem Traditionsprinzip hat.24 Mottohaft zugespitzt, gilt auch für die theologische Ethik: Mit der Tradition zum Aufbruch!25 Tradition meint mithin nicht das Bewahren des Überkommenen oder die unheilvolle Bindung der Gegenwart an eine unselige Vergangenheit. Sie muss keineswegs in einem unüberbrückbaren Gegensatz zum Fortschritt stehen. Der retrospektive Blick schließt die prospektive Orientierung keineswegs aus. Von dem kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges ermordeten französischen Sozialisten, Pazifisten und Förderer der deutsch-französischen Verständigung, Jean Jaurés (1859–1914), stammt der schöne Satz, den Gustav Heinemann gerne zitierte: „Tradition heißt nicht, Asche zu 22

S. HAUERWAS, The Past Matters Theologically. Thinking Tradition, in: D. SARISKY (Hg.), Theologies of Retrieval: An Exploration and Appraisal, Edinburgh 2017, im Erscheinen. 23 M. WEINRICH (Confessio and Traditio, 557) bemerkt zu Recht: „Often, the Protestant use of the word ‘tradition,’ in contrast to the principle of Scripture, also includes a pejorative connotation over against the Roman Catholic understanding of tradition. But in the meantime we have learned that we are always dealing with tradition, otherwise we would have to reconsider everything anew.“ Zugleich weist M. WEINRICH (a.a.O., 558) allerdings auch auf die „Ambivalenz der Tradition“ hin: „[W]e always have to be aware of the unavoidable communication and interaction, but, on the other, it can get in the way of change and renewal and may hold a church active and keep it on the path most familiar to it. This lasting ambivalence has to be faced with a particular critical awareness.“ Der von Weinrich zu Recht konstatierten „Ambivalenz der Tradition“ entsprechen die beiden ersten Kriterien, die B. GERRISH (Tradition in der modernen Welt – Die reformierte Geisteshaltung, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, 19– 38) für eine reformierte Geisteshaltung herausgearbeitet hat: 1. Ehrfurcht vor den Traditionen („Wir sind nicht besser als unsere Väter“); 2. Kritik an den Traditionen („ecclesia reformata semper reformanda“). Vgl. a.a.O., 29–33. 24 Vgl. dazu CH. LINK, Tradition? Eine Lücke in der protestantischen Prinzipienlehre in: J. DENKER u.a. (Hg.), Hören und Lernen in der Schule des NAMENS. Mit der Tradition zum Aufbruch. FS für Bertold Klappert zum 60. Geburtstag, NeukirchenVluyn 1999, 163–175; H.CH. BRENNECKE, Christentum und Tradition. Wieviel Tradition braucht die Kirche?, NELKB 53 (1998), 240–244; M. BEINTKER, Art. Tradition VI. Dogmatisch, TRE 33 (2002), 718–724; D. SCHELLONG, Kritik und Bewahrung christlicher Tradition in der Moderne, in: W. OELMÜLLER (Hg.), Wozu noch Geschichte?, Kritische Information 53, München 1977, 93–118. 25 Vgl. M. HOFHEINZ, Mit der Tradition zum Aufbruch. Die konstitutive Bedeutung der Schrift für die reformierten Bekenntnisse, in: M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung. FS für Michael Weinrich, FRTH 4, Neukirchen-Vluyn 2015, 147–169.

2. Ethica semper reformanda

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bewahren, sondern eine Flamme am Brennen zu halten.“26 Die Flamme am Brennen zu halten, scheint indes gar nicht so einfach zu sein … 2. Ethica semper reformanda Die Erneuerung der Ethik durch das Wort Gottes Das gilt zugespitzt auch für die reformierte Tradition, die in diesem Band näher betrachtet werden soll. Die reformierte Konfessionsfamilie verbindet nicht zuletzt der Vorgang des Überlieferns des Erbes der reformierten Reformatoren. Freilich geht es – wie wir noch sehen werden – nicht um ein Überliefern um des Überlieferns willen, ja nicht einmal um der Reformatoren willen. Es geht vielmehr um das Wort und die größere Ehre Gottes.27 Diese Überzeugung ist für das reformierte Bekenntnis grundlegend. Ein besonderer Akzent liegt dabei seit den Anfängen im 16. Jahrhundert auf der Überlieferung dessen, was man reformatio vitae genannt hat, und damit zumindest indirekt auch der Ethik, wenn man in den Kategorien und Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen denkt: „Der Anspruch Calvins und des Calvinismus, die Reformation der Lehre, wie sie Luther geleistet hat, durch eine Reformation des Lebens zu vollenden, rückte von Anfang an Fragen der Heiligung, der Ethik und der Sozialethik ins Zentrum des Interesses.“28 Die in diesem Band vorgelegten theologiegeschichtlichen Studien beziehen sich in inhaltlicher Hinsicht genau auf diese Akzentuierung. Es geht mir darum, den ethischen Akzent der reformierten Reformation herauszuarbeiten und ihre Rezeption insbesondere im 20. Jahrhundert darzustellen. Dabei möchte ich nicht die dem Calvinismus insbesondere der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vielfach unbesehen zugeschriebene „Konfessionalisierung“ und „Selbstdis26

G. HEINEMANN, Eid und Entscheidung. Gedenkrede des Bundespräsidenten Gustav Heinemann am 19. Juli 1969 in der Gedenkstätte Plötzensee, Berlin, www.20-juli44.de/uploads/tx_redenj2044/pdf/1969_heinemann.pdf (abgerufen: 1.1.2017). 27 Vgl. O. WEBER, Art. Calvinismus, EKL1 1 (1956), 658–664, 662f.: „Was seine Vertreter bewegte, war der aus der Gewißheit der Erwählung erwachsende Drang, für Gottes ‚Ehre‘ in der Kirche und in der Welt einzutreten und Gott die ‚Dankbarkeit‘ zu erzeigen, die ihm als Lobpreis zukommt: ‚Gestaltung‘ wäre das sachentsprechende Wort für das, was dem Calvinismus vorschwebte […]. Gerade die Erwählungslehre hat der Würde des Menschen in Politik, Wirtschaft und Kultur neue Geltung gegeben; sie hat aber zugleich bewirkt, daß das christliche Handeln als zielbestimmt (Reich Gottes!) verstanden wurde.“ 28 CH. STROHM, Art. Calvinismus, Evangelisches Staatslexikon. Neuausgabe, hg. von W. HEUN u.a., Stuttgart 2006, 292–298, 296.

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Einleitung: Ethik – reformiert!

ziplinierung“ aufarbeiten, die nur allzu gern im Anschluss an Max Weber29 als Folge der Prädestinationslehre Johannes Calvins dargestellt wird,30 sondern nach innovativen Impulsen der reformierten Reformatoren selbst fragen. Demnach werden diese bei ihrem eigenen Anspruch behaftet, einen jeweils aktuell relevanten Beitrag zur Transformation von Kirche und Gesellschaft zu leisten. Bereits die Kurzformel „reformiert“ steht für diesen Anspruch, der als Selbstanspruch seinerseits als „Echo“, als Antwort auf das ansprechende Wort Gottes verstanden wird. Die Langversion der Selbstbezeichnung („Reformiert nach Gottes Wort“) bringt diese Überzeugung pointiert zum Ausdruck, mag die implizit darauf verweisende berühmte Formel „ecclesia reformata et semper reformanda“31 selbst auch bei den Reformatoren des 16. Jahrhunderts nicht explizit nachzuweisen sein. In diesem Motto des „Reformiert nach Gottes Wort“ kommt zweierlei zum Ausdruck: „Einmal: Es ist das Wort Gottes, nicht die menschliche Organisations- und Gestaltungslust, das die Kirche erneuert und zur erneuernden Umkehr ruft. Reformation und Erneuerung vollziehen sich im Hören auf das Wort dessen, der der Herr der Kirche ist. Und: Reformation und Erneuerung sind andauernde, die Kirche allezeit begleitende Prozesse; die Reformation geht weiter, begleitet die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeiten als kritischer Schrittmacher zu neuen Stationen, Kontexten, Herausforderungen. Was sich gestern aus guten Gründen bewährt hat, kann heute aus guten Gründen angefragt werden und nach Erneuerung rufen – immer im Hören auf das Wort und im Blick auf den kirchengründenden Ursprung, also nicht deshalb, weil man irgendwelche Modernisierungsbedürfnisse zu befriedigen hätte.“32

Die Formel „ecclesia reformata et semper reformanda“ besagt also zusammengefasst, „daß die Kirche nur in immer neuer Zuwendung zu 29

M. WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/5), in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, 1–206. 30 F.W. GRAF (Vorherbestimmt zu Freiheitsaktivismus. Transformationen des globalen Calvinismus, in: A. REISS / S. WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, 384–391) spricht etwa von einer „Vorherbestimmung zum Freiheitsaktivismus“ (a.a.O., 384) bzw. einem „asketischen Heilsaktivismus“ (a.a.O., 385). 31 Zur Herkunft dieser Formel vgl. E. CAMPI, „Ecclesia semper reformanda“. Metamorphosen einer altehrwürdigen Formel, in: Zwingliana 37 (2010), 1–19; TH. MAHLMANN, „Ecclesia semper reformanda“. Eine historische Aufklärung, in: H. DEUSER u.a. (Hg.), Theologie und Kirchenleitung. FS P. Steinacker zum 60. Geburtstag, Marburg 2003, 55–77; DERS., Ecclesia semper reformanda“. Eine historische Aufklärung. Neue Bearbeitung, in: T. JOHANSSON u.a. (Hg.), Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert. FS B. Hägglund, Berlin / New York 2010, 381–442; DERS., Art. Reformation, HWP 8 (1992), 416– 427, bes. 422. 32 M. BEINTKER, Die Zukunft evangelischer Konfessionen. Die reformierten.upd@te 05.2 (2005), 25–36, 34.

2. Ethica semper reformanda

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ihrem geistlichen Ursprung im Wort Gottes Kirche ist“.33 Das Wort Gottes selbst reformiert. Diese ökumenische34 Überzeugung macht Kern und Stern der reformatorischen Botschaft aus – auch der reformiert-reformatorischen. Das semper reformanda gibt präzise den Richtungssinn (reformiert-)reformatorischer Orientierung an: „Nicht die Rückkehr zu ihrem zeitlichen Ursprung (das wäre die Haltung einer geschichtslosen Nostalgie), sondern jeweils die Rückkehr zu ihrem sachlichen Ursprung im Handeln Gottes wäre dann als die reformatorische Wendung zu begreifen, in der sich die hörende und im Hören erneuerungsfähige Kirche befindet. In diesem Sinne wollten die reformierten Kirchen noch konsequenter Kirchen der Reformation sein als die Kirchen ihrer evangelischen Geschwister. Mit den Lutheranern wollten sie bewußt Kirchen des verkündigten Wortes sein und standen mehr oder minder kritisch zu den Vorgaben kirchlicher Tradition. Mit den Lutheranern lehnten sie die Hierarchie als kirchliches Gestaltungsprinzip ab und schätzten das allgemeine Priestertum aller getauften Glaubenden. Mit den Lutheranern (und darin wirklich getreue Schüler Luthers) fühlten sie sich der befreienden Rechtfertigungsbotschaft verpflichtet und wußten, daß auch die Kirche irren kann und ebenso von der Vergebung lebt wie die, denen sie Vergebung zuspricht. Aber auf der Basis dieser fundamentalen Gemeinsamkeiten mit ihren lutherischen Geschwistern verstärkten sie den Akzent des Reformatorischen. Rein äußerlich erkennt man das daran, daß sie sehr bewußt auf einen Menschennamen in der Konfessionsbezeichnung verzichteten. Sie begriffen und begreifen sich als eine ‚nach Gottes Wort reformierte Kirche‘.“35

Es geht den „Reformierten“ darum, „reformiert zu werden“ – im Sinne jener vom Worte Gottes in seiner transformierenden Kraft ausgehenden permanenten Reformation.36 Auch die „Reformierten“ sind in diesem Sinne nicht einfach „reformiert“, d.h. nicht immer schon erneuert durch das Wort Gottes. Eine angemessene theologische Selbstzuschreibung von „Reformation“ kann – und dies lässt sich m.E. von den Reformatoren lernen – mithin nur dieses „Werden“, dieses fieri betonen, nicht aber ein esse für sich in Anspruch nehmen. Luther betont: „In fieri, non in esse. Interim dum hic iustificamur, nondum est completa. Est in agendo, in fieri, non in actu aut facto, nec in esse.“37

E. BUSCH, Art. Reformierte Kirche, RGG4 7 (2004), 165–171, 165. So auch DERS., Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 17. Zur Frage nach dem die reformierte Kirche Verbindenden vgl. a.a.O., 37–41. 34 Vgl. M. HOFHEINZ, A Good Reason to Celebrate? The Anniversary of the Reformation in 2017, Theology Today 73 (2017), im Erscheinen. 35 M. BEINTKER, Die Zukunft evangelischer Konfession, 33f. 36 Vgl. J. MOLTMANN, Theologia reformata et semper reformanda, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, 157–172, 157. 37 WA 39/I,252,8–15 (Promotionsdisputation von Palladius und Tilemann, 1537). 33

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Einleitung: Ethik – reformiert!

Das Wort Gottes steht hinter diesem „Werden“. So hat Luther etwa im Blick auf die „Freiheit eines Christenmenschen“ betont, dass der für die Freiheit konstitutive Glaube aus der Zusage (promissio) des Wortes Gottes fließt.38 Und ebenso lässt sich im Blick auf den Zürcher Reformator Huldrych Zwingli festhalten: „Der Ansatzpunkt für alle […] Aspekte der Freiheit ist für Zwingli stets die befreiende Freiheit des Gotteswortes.“39 Die Folgen der Wiederentdeckung des befreienden Wortes Gottes für die Lebens- und Weltgestaltung zu klären – dies war den reformierten Reformatoren ein besonderes Anliegen. Sie wollten nicht nur an der Reformation der Lehre (reformatio doctrinae) festhalten.40 Auch und gerade Fragestellungen der Ethik traten damit ins Zentrum ihres Interesses. Reformation bedarf der Ethik, aber Ethik bedarf auch der Reformation, so lässt sich ihre „reformierte“ Überzeugung formelhaft zuspitzen. Diese „doppelte Botschaft“ soll der empathische Titel „Ethik – reformiert!“ dieses Buches zum Ausdruck bringen. 3. Wirkungs-Geschichte Die Prägekraft des reformierten Protestantismus Trotz der titelgebenden Emphase wird man gleichwohl nicht verkennen dürfen: „Reformierte [tun sich] seit jeher und im Allgemeinen schwer, hinter ihre Konfession ein bekräftigendes, gar identitätsbezeugendes Ausrufezeichen zu setzen. Sie können sich weder auf eine Stabilität garantierende Lehrautorität nach römisch-katholischem Muster berufen noch auf einen zumindest beruhigenden Schlussstrich unter die Bekenntnisbildung nach dem Vorbild der lutherischen Kirche. Stattdessen gelten im reformierten Kontext das Priestertum aller Glaubenden und eine zyklisch anschwellende und abebbende Freude am Bekennen. Das ‚semper reformanda‘ stellt sich einer Identitätsfixierung ebenso störrisch in den Weg wie das Motiv des ‚wandernden Gottesvolkes‘.“41

Auch lässt sich schwerlich eine spezifisch „reformierte“ Sonderlehre im engeren Sinne der Konfessionsbezeichnung finden, die als Schlüssel für die theologische Ethik dienen könnte und zugleich identitätssichernd oder gar identitätsstiftend wirkt.42 Dass die potenziellen Kan38 39 40 41

WA 7,34,18 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520). B. HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, XI. Vgl. CH. STROHM, Art. Calvinismus, 296. M.L. FRETTLÖH u.a., Vorwort zur Reihe, in: M.E. HIRZEL (Hg.), Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext, reformiert! Bd. 1, Zürich 2013, 7–8, 7. Ähnlich E. BUSCH, Reformiert, 11f. 42 Vgl. M. HOFHEINZ / M. ZEINDLER, Was heisst eigentlich „reformiert“? Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der reformierten Identität, in: M. HOFHEINZ / M.

3. Wirkungs-Geschichte

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didaten eines solchen „Propriums“ bei Lichte betrachtet ausscheiden, haben gerade reformierte Theologinnen und Theologen in ihrer Luther-Interpretation (oft im Zusammenhang mit Barth-Interpretationen)43 herausgearbeitet. Dies gilt etwa für die ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannten „Topoi“: des syllogismus practicus44, der Erwählung45, der ethischen Bedeutung der Gemeinde46, des Gesetzesverständnisses47 (insbesondere des tertius usus legis48) und der Heiligung49. ZEINDLER (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, 9–20. 43 Zur Luther-Rezeption Barths vgl. E. BUSCH, Barth – ein Porträt in Dialogen. Von Luther bis Benedikt XVI., Zürich 2015, 13–37; und umgekehrt zur Barth-Rezeption im Luthertum vgl. E. MAURER, Barth-Rezeption bei lutherischen Theologen in Deutschland, in: M. LEINER / M. TROWITZSCH (Hg.), Karl Barths Theologie als europäisches Ereignis, Göttingen 2008, 367–386. 44 D. SCHELLONG, Art. Ethik B. Aus ethischer Sicht, NHThG2 2 (1991), 408–417, 409. Fernerhin: DERS., Der „Geist“ der Kapitalismus und der Protestantismus. Eine Max-Weber-Kritik, in: R. FABER / G. PALMER (Hg.), Der Protestantismus. Ideologie, Konfession oder Kultur?, Würzburg 2003, 231–253; DERS., Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“?, Paderborner Universitätsreden 47, Paderborn 1995; DERS., Calvinismus und Kapitalismus. Anmerkungen zur Prädestinationslehre Calvins’, in: H. SCHOLL (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, 74–101. 45 Vgl. W. KRECK zu Luthers Erwählungslehre, in: DERS., Grundentscheidungen in Karl Barths Dogmatik. Zur Diskussion seines Verständnisses von Offenbarung und Erwählung, Neukirchener Studienbücher 11, Neukirchen-Vluyn 1978, 284–299. 46 M. WEINRICH, Eine heilige allgemeine christliche Kirche. Der reformierte Luther, RKZ 126 (1985), 64–70; DERS., Welche Kirche meinen wir? Die Theologie und die verfasste Kirche, in: Bloß ein Amt und keine Meinung? – Kirche, Jabboq 4, Gütersloh 2003, 214–272; E. MECHELS, Kirche und gesellschaftliche Umwelt. Thomas – Luther – Barth, NBST 7, Neukirchen-Vluyn 1990. Zur ethischen Bedeutung der Ekklesiologie für die Theologie in den Niederlanden vgl. G. DEN HERTOG, Christian Social Ethics as a Form of Missionary Ecclesiology in the Dutch Context of the Past Fifty Years, Calvin Theological Journal 49 (2014), 174–185. 47 B. KLAPPERT, Promissio und Bund. Gesetz und Evangelium bei Luther und Barth, FSÖTh 34, Göttingen 1976; DERS., Gesetz und Evangelium oder Evangelium und Gebot?, in: DERS., Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, 166–184. Zum Verhältnis von Evangelium und Gesetz im Reformiertentum vgl. auch E. BUSCH, Reformiert, 99–119. 48 Nach M. WELKER (Elend und Auftrag der nach Gottes Wort reformierten Theologie am Anfang des dritten Jahrtausends, in: DERS. / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, 173–190, 181) hat die reformierte Theologie durch die Lehre vom tertius usus legis dafür gesorgt, „daß die Theologie des Gesetzes auch in der evangelischen Theologie ihren Ort behielt“. 49 G. HUNSINGER, A Tale of Two Simultaneities: Justification and Sanctification in Luther, Calvin, and Barth, in: DERS., Evangelical, Catholic, and Reformed. Doctrinal Essays on Barth and Related Themes, Grand Rapids 2015, 189–215; DERS., What

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Einleitung: Ethik – reformiert!

Diese Topoi sind also eher gesamtreformatorischer Natur als reformierte „Specialissima“. Reformierter Protestantismus wird hier weder Originalitäts- noch Vorgriffsrechte oder sonstige Privilegien beanspruchen können und/oder wollen. Fern solcher Intentionen kann er gleichwohl auf das „Reformierten“ geschenkte Zutrauen auf die reformierende Kraft des Wort Gottes verweisen: Ihm wurde zugetraut, reformierend zu wirken, und zwar auf den diversen Betätigungsfeldern von Kirche, Staat und Gesellschaft, etwa in Kultur50, Wirtschaft und Politik51.52 Darauf hat besonders nachdrücklich Ernst Troeltsch aufmerksam gemacht. Er verweist in seiner Studie „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ (1906) auf die emergierende Wirkung des Calvinismus hinsichtlich der Entwicklung von Staatsform und Verfassung: „[Es] tritt ein spezifisch reformiertes Staatsideal zutage. Bei allen […] Neuordnungen war nämlich die Keimzelle die reformierte presbyteriale und synodale Kirchverfassung mit ihrem Repräsentationssystem. So färbte naturgemäß dieses System auf die Theorie vom neu zu ordnenden Staate ab, auch der Staat mußte repräsentativ aufgebaut und kollegial durch die Vereinigung der in der Wahl emporgehobenen Besten regiert werden.“53

Ähnliches wie für den Bereich der Politik macht Troeltsch für die Wirtschaft geltend: „[Es] zwingt sich uns wieder eine mächtige Wirkung auf, wenn wir uns zu der Entwicklung des wirtschaftlichen Lebens und Denkens wenden. […] Bedeutung hat […] in dieser Sache

Karl Barth Learned from Martin Luther, in: DERS., Disruptive Grace. Studies in the Theology of Karl Barth, Grand Rapids 2000, 279–304. 50 Zum Bereich der Kultur vgl. E. CAMPI u.a. (Hg.), Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, Zürcher Hochschulforum 46, Zürich 2012. 51 Fulminant bemerkt H. SCHOLL, Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 7: „Die Reformation gebiert den homo politicus, damals und heute.“ 52 Vgl. CH. LINKS glänzende, nach politischen, ökonomischen und kulturellen Aspekten ausdifferenzierte Skizze „Calvin und der Calvinismus“, in: DERS., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 283–303. 53 E. TROELTSCH, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1911), in: E. TROELTSCH, Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906–1913), hg. von T. RENDTORFF, Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe Bd. 8, hg. von F.W. GRAF u.a., Berlin / New York 2011, 199–316, 261. Zum Calvinismus-Bild von Troeltsch vgl. CH. STROHM, Nach hundert Jahren. Ernst Troeltsch, der Protestantismus und die Entstehung der modernen Welt, ARG 99 (2008), 6–35; R. BARTH, „Retter des Protestantismus“. Der Calvinismus in der Sicht Ernst Troeltschs, ZNThG 17 (2010), 162–181; M. HOFHEINZ, Johannes Calvins theologische Friedensethik, ThFr 41, Stuttgart 2012, 8–10.

3. Wirkungs-Geschichte

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der Calvinismus. Er ist hier wie in der Politik die dem modernen Leben näherstehende Macht.“54 Der amerikanische Rechtshistoriker John Witte, Jr. hat den frühen Calvinismus als „The Reformation of Rights“ bezeichnet: „Building in part on classical and Christian prototypes, Calvin developed arresting new teachings on authority and liberty, duties and rights, and church and state that have had an enduring influence on Protestant lands. Calvin’s original teachings were periodically challenged by major crises in the West – the French Wars of Religion, the Dutch Revolt, the English Revolution, American colonization, and the American Revolution. In each such crisis moment, a major Calvinist figure emerged – Theodore Beza, Johannes Althusius, John Milton, John Winthrop, John Adams, and others – who modernized Calvin’s teachings and converted them into dramatic new legal and political reforms. This rendered early modern Calvinism one of the driving engines of Western constitutionalism. A number of our bedrock Western understandings of civil and political rights, social and confessional pluralism, federalism and social contract, and more owe a great deal to Calvinist theological and political reforms.“55

Es ist daher keineswegs abwegig, mit Christian Link die Frage zu stellen: „Calvin – Vater der Moderne?“56 Zusammenfassend lässt sich mit K. Barth festhalten, der in seiner frühen Göttinger Vorlesung zur Theologie Calvins nicht ohne einen Schuss Säkularisierungsskepsis notiert: „Der Calvinismus ist der geschichtliche Erfolg der Reformation, weil er ihr Ethos ist. Wer hier Erfolg sagt, der sagt auch Mißerfolg, innere Einbuße, Verweltlichung. Wer Ethos sagt, wer von Gott aus in die Welt schreitet, der kehrt eben damit Gott den Rücken.“57 54

E. TROELTSCH, Die Bedeutung des Protestantismus, 269.271. Zur Entwicklung demokratischer Traditionen im reformierten Protestantismus vgl. J. STAEDTKE, Demokratische Traditionen im westlichen Protestantismus, in: DERS., Reformation und Zeugnis der Kirche. GS, hg. von D. BLAUFUSS, ZBRG 9, Zürich 1978, 281–304. 55 J. WITTE, Jr., The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge 2007, XIf. Vgl. fernerhin zum Einfluss des Calvinismus auf die Rechtsentwicklung CH. STROHM, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 42, Tübingen 2008. Fernerhin: S. BILDHEIM, Calvinistische Staatstheorien. Historische Fallstudien zur Präsenz monarchomachischer Denkstrukturen im Mitteleuropa der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2001. 56 CH. LINK, Calvin – Vater der Moderne? Zur Ethik Calvin, in: DERS., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 261–282. 57 K. BARTH, Die Theologie Calvins 1922, hg. von H. SCHOLL, GA 23, Zürich 1993, 122. K. Barth (a.a.O., 121) kommt in seiner frühen Calvin-Vorlesung zu einem ähnlichen Ergebnis wie Troeltsch: „Calvin und nicht Luther [hat] die Reformation weltund geschichtsfähig gemacht. […] Er war der Schöpfer einer neuen christlichen Soziologie, die so geformt war, dass sie sich mit den anderweitigen Gesellschafts-

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Einleitung: Ethik – reformiert!

4. Konnektierte Wort-Gottes-Theologie Zur Rezeption reformierter Ethik im 20. Jahrhundert und zur Disposition des vorliegenden Bandes Der für reformierte Theologie charakteristische Ruf zur Erneuerung aus dem Wort Gottes als dem dynamischen Ursprungsgeschehen der Kirche verbindet die Reformation mit der sog. Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts. Zur „Krise und Neubesinnung evangelischer Ethik aus dem Evangelium“58 kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Kennzeichnend war das Bemühen, neu mit dem „Anfang anzufangen“59, d.h. sich dem Wort Gottes als initium theologiae stets neu im Hören zuzuwenden. Dies charakterisierte die Denkbewegung. Analog zum reformatorischen Impuls wurde damit auf dem Feld der Ethik das Hauptaugenmerk auf den Zusammenhang theologischer und ethischer Urteilsbildung mit der Evangeliumsbotschaft bzw. auf das Wort Gottes in seiner reformierenden Kraft gerichtet. Nicht nur Karl Barths60 Entdeckung und Neugestaltung der reformierten Theologie ist hier in den Blick zu nehmen, sondern etwa auch die Emil Brunners.61 Das gilt natürlich nicht in derselben Weise für Reinhold Niebuhr, der allerdings ebenfalls der reformierten Tradition zuzurechnen ist und im angelsächsischen Sprachraum der sog. „neoorthodoxy“62 zugerechnet wird.63 prinzipien der durch die Renaissance inaugurierten Neuzeit in fruchtbarer Weise auseinandersetzen, ja an ihrer Hervorbringung und Gestaltung entscheidenden Anteil nehmen konnte.“ 58 D. SCHELLONG, Art. Ethik B, 415. 59 Vgl. zu dieser bekannten Wendung Barths M. HOFHEINZ, „Er ist unser Friede“. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 131f. 60 Vgl. zu Barths Rezeption der reformierten Theologie M. FREUDENBERG, Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie: Forschung und Wissenschaft 36, Berlin 2012, 275– 356; DERS., Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 369– 384; G. PLASGER, „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ Karl Barth und die reformierte Tradition, in: M. BEINTKER u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Zürich 2005, 393–405. 61 M. ZEINDLER, E. Brunner (1889–1966), in: W. LIENEMANN / F. MATHWIG (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, 85–103. 62 Vgl. A.I.C. HERON, Art. Neo-Orthodoxy, in: D.F. WRIGHT u.a. (Hg.), Dictionary of Scottish Church History and Theology, Edinburgh 1993, 622–623; DERS., A Century of Protestant Theology, Philadelphia 1980, 95.132; DERS., The Theme of Salvation on Karl Barths’s Doctrine of Reconciliation, Ex Auditu 5 (1989), 107–122, 108. 63 Reinhold Niebuhr gilt seit langem als einer der bedeutendsten – vielleicht sogar der bedeutendste – amerikanische Theologe seit Jonathan Edwards. Erst in jüngster Zeit ist Niebuhrs Zugehörigkeit zur reformierten Tradition nachgewiesen bzw. demonstriert worden. Vgl. M. ZEINDLER, R. Niebuhr (1892–1971). „Christlicher Rea-

4. Konnektierte Wort-Gottes-Theologie

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Die Rezeption der Reformation geschah damals freilich nicht ungebrochen, will sagen: sie fand nicht unter dem Vorzeichen eines modernitätsvergessenen Konfessionalismus statt. Als Wort-Gottes-Theologe der zweiten Generation und oftmals als „reformierter Lutheraner“64 Bezeichneter bringt es Hans Joachim Iwand auf den Punkt: „Wir werden nicht einfach das Thema der Reformation repetieren können. Dieses Bedenken habe ich gegenüber dem Konfessionalismus, der in Gefahr ist zu meinen, daß er die Entscheidung, die uns heute aufgetragen ist, in den Schützengräben der Reformationszeit durchkämpfen müsse und Bataillone an diesen Punkt dirigiert. Wir sollten diese Rüstung ausziehen, die nicht für uns geeignet ist, auch wenn wir es mit dem Goliath zu tun bekommen. Es gibt noch andere Mittel und Wege Gottes, um uns eine andere Waffe in die Hand zu drücken, die uns besser zu Gesicht steht. Die Lehrer der Kirche können uns helfen, damit wir Bescheid wissen, aber sie können uns den Kampf nicht abnehmen, den wir zu führen gerufen sind.“65

Hier wird ein Konnex zwischen den reformatorischen Impulsen des 16. Jahrhunderts und der Wort-Gottes-Theologie des 20. Jahrhunderts benannt. Die Konnektierung geschieht indes nicht ungeachtet des Einbruchs der Neuzeit und ihrer verlaufsbezogenen Auswirkungen auf die Hauptströmungen evangelischer Ethik in der Moderne.66 Die Verklammerung zwischen der Reformation und der Wort-GottesTheologie des 20. Jahrhunderts greift der vorliegende Band in verschiedenen Studien auf. Diese Konnektierung liegt dem Band auch lismus“ in Zeiten der Krise, in: M. HOFHEINZ / M. ZEINDLER (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, 101–123. 64 Vgl. D. SCHELLONG, Iwand als „reformierter Lutheraner“? Gottes Gerechtigkeit und die Dialektik der Aufklärung, in: G. DEN HERTOG / E. THAIDIGSMANN (Hg.), Nüchternheit und Leidenschaft. FS für Eberhard Lempp zum 65. Geburtstag, Apeldoorn 2010, 221–246. 65 H.J. IWAND, Der moderne Mensch und das Dogma, Nachgelassene Werke Bd. 2: Vorträge und Aufsätze, hg. von D. SCHELLONG / K.G. STECK, München 1966, 91– 105, 100. 66 Mit Blick auf Barth hält etwa D. SCHELLONG (Art. Neuzeitliche Theologien. B. Die evangelische Theologie, NHThG2 3 [1991], 47–62, 57) treffend fest: „Eine Umorientierung brachte das theologische Lebenswerk von K. Barth (1886–1968), das die Bibel wieder unverstellter und unpräparierter wahrnehmen wollte und dem reformatorischen Verständnis der biblischen Botschaft in seinen wesentlichen Teilen neu Recht gab; und das nicht in bloßer Wiederholung des von den Reformatoren Gelehrten, sondern unter Aufarbeitung der neuzeitlichen Theologie, ihrer Hintergründe und ihrer Probleme.“ Schellong (a.a.O., 61) ergänzt: „Barth [forderte] als Aufgabe der Theologie das Bedenken der Botschaft von der freien Gnade Gottes. Indem er so einen sachlichen Ansatzpunkt fand, hielt er sich fern von der Don-Quichotterie einer Wiederherstellung einer Gestalt der Theologie aus der Phase vor der Aufklärung und konnte statt dessen die Anliegen der neuzeitlichen Theologie in eine Sachdiskussion führen – in kritischer Distanz zur neuzeitlichen Entwicklung, statt im Zwang zur Identifizierung damit.“

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Einleitung: Ethik – reformiert!

(unter-)titelgebend zugrunde. Die vorgelegten Studien sind von der Überzeugung getragen, dass (reformiert-)reformatorische Theologie auch heute noch der Beachtung wert, ja für eine sach- und zeitgemäße Ausprägung rechtverstandener Konfessionalität67 unverzichtbar ist. Was es heißt, das gesamte Leben unter die Richtschnur des Wortes Gottes zu stellen, soll in den vorliegenden Studien anhand exemplarischer Themenfelder der Ethik theologiegeschichtlich untersucht werden. Diese ethischen Themenfelder werden durch Tiefenbohrungen zu einzelnen Aspekten bearbeitet. Es geht mir also nicht darum, in diachroner und/oder synchroner Hinsicht flächig ethikgeschichtliche Entwicklungen im reformierten Protestantismus zu rekonstruieren.68 Die reformierte Konfession zeichnet in Geschichte und Gegenwart eine ungleich größere und reichere Pluralität an mannigfaltigen Äußerungen und positionellen und konzeptionellen Ausprägungen aus,69 als sie in einem Band wie diesem abgebildet werden könnte.70 Entsprechend der thematischen Orientierung dieses Bandes wird – wie gesagt – eine Reihe von Tiefenbohrungen oder auch Querschnitten zu den mannigfaltigen ethischen Problemfeldern dargeboten, die im reformierten Protestantismus mehr oder weniger eingehend behandelt wurden. Ob alle hier ausgewählten und behandelten Themen- und Problemfelder „typisch“ für „den“ reformierten Protestantismus waren, wird man nicht zuletzt aufgrund besagter Pluralität infrage stellen können. Dass viele von ihnen situativ und kontextuell im Raum der reformierten Kirchen wichtig wurden, dürfte hingegen unstrittig sein. Insofern könnte vielleicht im Blick auf die vorgelegten Studien von „Brennpunkten“ reformierter Ethik in Geschichte und Gegenwart gesprochen werden. Sie betreffen sowohl die Grundlegung theologischer Ethik mit Themenkomplexen wie Schrift- und Bekenntnisverständnis (Kap. 1), Identität (Kap. 2), Tugend (Kap. 3), Freiheit (Kap. 4), als auch im weitesten Sinne wirtschaftsethische Fragestellungen, wie die nach 67

Vgl. M. HOFHEINZ, Konfessionalität – Theologische Überlegungen zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht im Lichte der Leuenberger Konkordie, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 16 (1/2017), 131–161. 68 Den reformierten Protestantismus berücksichtigen etwa J. ROHLS, Geschichte der Ethik, Tübingen 21999, bes. 301–327; 342–349; CH. FREY, Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, Gütersloh 1989. Vgl. auch CH. STROHM, Art. Calvinismus, 292–298. Fernerhin: P. BENEDICT, Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven 2002. 69 CH. STROHM (Art. Calvinismus, 293) weist darauf hin, dass bereits der Begriff „Calvinismus“ problematisch ist, „als er die Bedeutung Calvins für die Gestaltwerdung des reformierten Protestantismus einseitig betont und die faktisch vorhandene große Pluralität prägender Theologen verunklart“. 70 Zur Pluralität in den reformierten Kirchen vgl. E. BUSCH, Art. Reformierte Kirchen, 167f.; DERS., Reformiert, 9.

4. Konnektierte Wort-Gottes-Theologie

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einer anschlussfähigen Gerechtigkeitskonzeption (Kap. 5), dem Eigentum (Kap. 6) und dem processus und/oder status confessionis im Blick auf Strukturen der globalen Ökonomie (Kap. 7). Schließlich widmet sich umfangtechnisch der größte Teil der Studien der politischen Ethik. Er beginnt mit friedensethischen Einzelstudien zur reformierten Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg (Kap. 8), Reinhold Niebuhrs Rezeption des Friedenszeugnisses der Historischen Friedenskirchen (Kap. 9) und schließt mit Studien zum Verständnis des prophetischen Amtes der Kirche (Kap. 10) und zum Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus (Kap. 11). Einen Ausblick in die Zeit „After Barth“ wagt das abschließende Kapitel zur reformierten Ethik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Kap. 12). Damit schließt sich der Reigen der theologiegeschichtlichen Studien. Solche Studien sind m.E. für die Ethik grundsätzlich unverzichtbar; zumindest dann, wenn man von einem Geschichtsverständnis ausgeht, wonach gilt: „History is a set of stories we tell in order to understand better who we are and the world we’re now in.“71 Hinsichtlich dieses ihres Gegenstandes trifft sich Geschichte mit Ethik. Denn Ethik fragt nicht nur nach der Beurteilung von Handlungen, etwa ob sie etwa gut oder böse sind, gilt doch: „Die Frage, was ich tun soll, handelt tatsächlich davon, was ich bin oder sein soll.“72 Insofern ist Ethik ihrem Wesen nach Identitätsethik: „Die Ethik muss nach der Identität derjenigen, die sich entscheiden, sich verhalten, die handeln, fragen. […] Die Ethik behandelt nicht nur die Frage ‚Was sollen wir tun?‘, sondern auch ‚Wer wollen wir in unserem Tun und Verhalten sein? Und wer können wir darin sein?‘. Das Können jedoch hängt – laut christlichem Glauben – von der Gottesbeziehung und dem darin begründeten Weltverhältnis der Christen ab.“73 Gottesbeziehung und Weltverhältnis – beides in dieser Reihenfolge zu leben, war dem reformierten Protestantismus bleibend wichtig.

71

R. WILLIAMS, Why Study the Past? The Quest for the Historical Church, Grand Rapids 2005, 1. 72 S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. von R. HÜTTER, Evangelium und Ethik Bd. 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 180. 73 Vgl. CH. FREY, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 14.

I. Mit der Tradition zum Aufbruch Die konstitutive Bedeutung der Schrift für das reformierte Bekenntnis Für Michael Weinrich zum 65. Geburtstag am 13.1.2015

1. Einleitende Bemerkungen zum „Verlust des Bekenntnisses“ und zum „Kanon“ reformierter Bekenntnisschriften „Verlust des Bekenntnisses“ – dem Jubilar Michael Weinrich zufolge ist dieses Phänomen ein Indikator für die Krise, in der sich die Kirche gegenwärtig, und zwar nicht nur hierzulande befindet.1 Gemäß Weinrich äußert sich die Krise darin, „daß in unseren Gemeinden und Kirchen mehr und mehr die Bedeutung und der Sinn für das Bekenntnis verloren geht“.2 Weinrich wird sehr persönlich, wenn er als eine Art „Verlustanzeige“ folgende Beobachtung schildert: „Nicht selten habe ich wahrnehmen müssen, daß sich auch und gerade der innerkirchliche Überdruß am Bekenntnis entlädt. Seine Formulierungen stehen für eine gestrige Dogmatik, mit der wir unseren heutigen Glauben nicht mehr ausdrücken können. Die gottesdienstliche Rezitation dieser alten Glaubensformeln wird als sinnfälliger Ausdruck für die Schwerfälligkeit und Lebensfremdheit der Kirche genommen, in der sich ihre ganze Abständigkeit und menschenfeindliche Introvertiertheit zeige.“3

Dieser Schilderung zufolge stellt sich die Frage, wie besagter „Verlust des Bekenntnisses“ zu bewerten ist. Statt vorschnell lauthals in Klagegesänge auszubrechen oder sich stillschweigend in die Larmoyanz introvertierter Ohnmachtserfahrung zurückzuziehen, muss zunächst einmal geklärt werden, ob dieser „Verlust“ tatsächlich deplorabel oder nicht vielmehr zu begrüßen ist. Anders und zugespitzt gefragt: Benötigen wir das Bekenntnis tatsächlich noch? Oder gilt auch hier Luthers „laß fahren dahin, sie haben’s kein‘ Gewinn“?4 M. Weinrich hat treffend auf das eigentliche Problem jener Haltung aufmerksam gemacht, wonach das Bekenntnis zur Last statt Lust geworden ist. Es besteht nach Weinrich darin, dass mit dem Bekenntnis auch die Hilfestellung verkannt und ausgeschlagen wird, die die alten Bekenntnisse für das aktuelle Bekennen des eigenen Glaubens bieten. 1

Diese Krise ist nicht wirklich neu. Bereits Ernst Troeltsch diagnostizierte eine „Bekenntnislosigkeit der ungeheuren Mehrzahl der Kirchenglieder“ (E. TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Band 2, UTB 1812, [Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912] Tübingen 1994, 982). 2 M. WEINRICH, Kirche glauben. Evangelische Annäherung an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998, 175. 3 A.a.O., 176. 4 EG 362,4.

1. Einleitende Bemerkungen zum „Verlust des Bekenntnisses“

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Der Gegenwartsbezug ist für M. Weinrich entscheidend, da der Glaube angesichts heutiger Herausforderungen bekannt werden will. Die wahre Kirche versteht sich ihm zufolge ihrem Wesen nach als bekennende Kirche. Als konfessorische Kirche verharrt sie nicht in rückwärtsgewandtem Konfessionalismus, sondern lässt sich herausrufen und herausfordern. Mit dieser scheinbar traditionsfeindlichen Akzentuierung möchte Weinrich indes nicht bestreiten, „dass die Tradition unschätzbar wertvoll ist auch für unsere gegenwärtigen Versuche, unseren Glauben zu bezeugen, aber nur dann, wenn sie uns gleichzeitig lehrt, dass es auf sie im Entscheidenden nicht ankommt“.5 Demnach besteht die eigentliche Funktion der Tradition darin, über sich selbst hinauszuweisen und sich gerade so selbst in heilsamer Weise zu relativieren. Dieses hermeneutische Grundprinzip der Selbstrelativierung entspricht, wie im Folgenden demonstriert werden soll, exakt dem Schrift- und Bekenntnisverständnis der reformierten Bekenntnisschriften. Sie selbst sind von einer solchen Grundentscheidung geprägt, wie sich insbesondere in ihrem Schriftverständnis widerspiegelt. Ergänzend und vertiefend zu Weinrichs Argumentation und seine Intention explizit aufnehmend, soll also im Folgenden anhand einer knappen Vergegenwärtigung der heutigen Bekenntnisrelevanz versucht werden, wider den Stachel der Konfessionsvergessenheit zu löcken. Dies kann indes nur exemplarisch geschehen und soll hinsichtlich Weinrichs eigener Konfession als reformierter Theologe vollzogen werden, wie sie sich in ihren Bekenntnisschriften darstellt. M. Weinrich selbst beobachtet freilich eine „allgemeine Konfessionsvergessenheit“,6 macht also keineswegs ein spezifisch reformiertes, sondern ein die Konfessionen übergreifendes, gleichsam ökumenisches Phänomen aus, das die reformierte Konfessionsfamilie aber sehr wohl auch betrifft. Es soll im Folgenden, um den thematischen Fokus noch etwas schärfer zu benennen, inhaltlich um die konstitutive Bedeutung der Schrift für das reformierte Bekenntnis gehen. Die Bedeutung von Bekenntnissen lässt sich nämlich nur erschließen, wenn nach der Begründung des Bekenntnisses gefragt wird. Dabei ist der Zusammenhang von Schrift- und Bekenntnisverständnis in den Blick zu nehmen. Das reformierte Bekenntnisverständnis liegt nämlich im Schriftprinzip begründet. Dieser theologische Begründungszusammenhang ist bekenntnishermeneutisch entscheidend und nährt die Hoffnung, dass von seiner Erschließung orientierende Kraft für heutige Bekenntnisbildung und -bindung ausgehen kann und wird. Die folgende Verge5 6

M. WEINRICH, Kirche glauben, 188. Ebd. Hervorhebung von mir, M.H.

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

genwärtigung ist darum zumindest als Versuch zu verstehen, dem Bekenntnisverlust in theologisch verantwortbarer Weise zu begegnen. Bei der Untersuchung der reformierten Bekenntnisschriften muss man freilich ein Mehrfaches bedenken: 1. Reformierterseits gibt es keine autorisierte Sammlung symbolischer Bücher, d.h. keinen abgeschlossenen Bekenntniskanon, der für alle reformierten Kirchen weltweit verbindlich wäre, sondern eine lokale bzw. regionale Vielfalt an Bekenntnissen.7 In den Niederlanden sind z.B. die von Guy de Bray verfasste „Confessio Belgica“ (1561), der „Heidelberger Katechismus“ (1563) und mit Einschränkung die „Dordrechter Lehrsätze“ (1619) als reformiertes Bekenntnis weit verbreitet, in Schottland hingegen die durch John Knox geprägte „Confessio Scotica“ (1560) und die „Westminster Confession“ (1647). In Deutschland ist vor allem der „Heidelberger Katechismus“ als Unterrichtswerk verbreitet, der von Kurfürst Friedrich III. in Auftrag gegeben und dem Heidelberger Theologen und MelanchthonSchüler Zacharias Ursinus ausgeführt wurde. Er sollte lutherische und reformierte Anliegen verbinden. 2. Die Bekenntnisschriften liegen nicht in einem einheitlichen Textgenre vor, sondern vereinen heterogene Gattungen, zu denen insbesondere zählen: „1) Glaubensbekenntnisse im engeren Sinn (Beispiel: Hugenottisches Bekenntnis [Confessio Gallicana] von 1559), 2) Thesen und theologische Erklärungen (Beispiel: Berner Thesen von 1528; Barmer Theologische Erklärung von 1934), 3) Katechismen (Beispiel: Heidelberger Katechismus von 1563) und 4) Kirchenordnungen (Berner Synodus von 1542).“8 3. Die Bekenntnisschriftentradition des Reformiertentums reicht bis in die Gegenwart und zeichnet sich durch jene Unübersichtlichkeit aus, die eine Edition der Reformierten Bekenntnisschriften so schwierig macht.9 Diese Unübersichtlichkeit erfordert im Blick auf die fol7

Grundsätzliche Überlegungen dazu liefert K. BARTH, Wünschbarkeit und Möglichkeit eines allgemeinen reformierten Bekenntnisses, in: DERS., Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von H. FINZE, Karl Barth GA III, Zürich 1990, 604– 643. Zu Barths Bekenntnisverständnis vgl. G. PLASGER, Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000; M. FREUDENBERG, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, NTDH 8, Neukirchen-Vluyn 1997, 217–294; DERS., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Münster 2012, 275–345. 8 M. FREUDENBERG, Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 118. Dort z.T. kursiv. 9 Vgl. H. FAULENBACH, Einleitung, in: E. BUSCH u.a. (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften Bd. 1/1 1523–1534, Neukirchen-Vluyn 2002, 1–67. Fernerhin: J.F.G.

2. Die Autorität des Bekenntnisses

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genden Ausführungen eine Beschränkung, und zwar nicht nur in Gestalt des benannten erkenntnisleitenden Interesses, sondern auch eines spezifischen Gegenstandsbezugs, der durch die Quellenauswahl vorgegeben ist. Ich beziehe mich vor allem auf das zugegebenermaßen sehr schmale, dafür aber in theologischer Hinsicht in besonderer Weise bedeutsame Segment: die reformierten Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts,10 der Blütezeit reformierter Bekenntnisbildung.11 2. Die Autorität des Bekenntnisses Ein konfessioneller Vergleich zur Bestimmung des Zusammenhangs von Schrift und Bekenntnis nach den lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften Womit hängt die Unabgeschlossenheit zusammen, die die reformierte Bekenntnisbildung sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht etwa von der lutherischen unterscheidet? Um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist in der Tat eine theologische Ursache zu benennen, warum die reformierte Bekenntnisbildung keinen in sich abgeschlossenen Bekenntniskanon wie das lutherische Konkordienbuch kennt.12 Die qualitative Differenz zwischen Schrift und Bekenntnis und die GOETERS, Genesis, Formen und Hauptthemen des reformierten Bekenntnisses in Deutschland, in: H. FAULENBACH / W.H. NEUSER (Hg.), Beiträge zur Union und zum reformierten Bekenntnis, UnCo 25, Bielefeld 2005, 285–302. 10 Vgl. dazu einleitend: E. SAXER, Bekenntnis, Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in der reformierten Reformation, in: P. BÜHLER u.a. (Hg.), „Freiheit im Bekenntnis“. Das Glaubensbekenntnis der Kirche in theologischer Perspektive, Zürich / Freiburg i.Br. 2000, 49–73. 11 Um der Lesbarkeit willen, werden diese nicht nach der noch im Erscheinen begriffenen Sammlung E. BUSCH, Bekenntnisschriften, sondern nach der von Georg Plasger und Matthias Freudenberg herausgegebenen Auswahl zitiert (G. PLASGER / M. FREUDENBERG [Hg.], Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, Göttingen 2005). Fernerhin wird auch die bislang noch umfassendste private (nicht kirchenoffizielle) Sammlung Reformierter Bekenntnisschriften herangezogen, die E.F.K. Müller im Jahr 1903 zusammengestellt hat: E.F.K. MÜLLER (Hg.), Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche. In authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register, Leipzig 1903. Im Folgenden abgekürzt: BSRK. 12 Vgl. O. WEBER, Vorerwägungen zu einer neuen Ausgabe reformierter Bekenntnisschriften, in: H. GOLLWITZER / H. TRAUB (Hg.), Hören und Handeln. FS Ernst Wolf, München 1962, (388–398) 390: „Es gibt kein reformiertes corpus doctrinae“ (Hervorhebung im Original). Sämtliche Versuche, ein solches herzustellen, bezeichnet Karl Barth als „epigonenhaftes und im Grunde doch wohl auch unreformiertes Unternehmen […], dem die Lust nach den Fleischtöpfen Ägyptens allzu deutlich auf der Stirn geschrieben stand“. K. BARTH, Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften 1923, hg. von der Karl Barth-Forschungsstelle der Universität Göttingen, Karl Barth GA II: Akademische Werke, Zürich 1998, 26.

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

damit verbundene Aufgabe des immer neuen Hörens auf die Schrift produziert nach reformiertem Verständnis „eine synchrone und diachrone Vielfalt von Bekenntnissen“13 – bis in die Gegenwart hinein.14 Das Wort Gottes, welches die Schrift bezeugt, die Kirche zu hören hat und diese über sich selbst hinausweist, begründet die Relativität des Bekenntnisses und der Kirche. In den „Berner Thesen“ (1528) heißt es entsprechend: „1. Die heilige christliche Kirche, deren einziges Haupt Christus ist, ist aus dem Worte Gottes geboren und hört nicht die Stimme eines Fremden [Joh 10,5]. 2. Die Kirche Christi macht nicht Gesetze und Gebote ohne Gottes Wort. Deshalb binden alle Menschensatzungen, die man Kirchengebote nennt, uns nicht weiter, als sie im göttlichen Wort begründet und geboten sind.“15

Diese grundlegende Aussage hat – wie M. Weinrich zu Recht betont – höchste bekenntnishermeneutische Valenz: „Aus dieser Einsicht in die prinzipielle Relativität der verfassten Kirche ergibt sich für die reformierte Kirche ein spezifischer Umgang mit den von der Kirche formulierten Bekenntnissen. So wie es geschichtlich nicht die vollkommen ihrer Bestimmung entsprechende Kirche geben kann, so kann es auch nicht die vollkommen der Anrede Gottes entsprechende Antwort des Bekenntnisses geben. Deshalb ist in der reformierten Tradition die Bekenntnisbildung nicht nur nicht abgeschlossen, sondern sie gilt auch als unabschließbar. Das ist keine Missachtung der alten Bekenntnisse der Kirche. Diese genießen vielmehr deshalb hohe Wertschätzung, weil sie als theologisch begründete und geschichtlich bewährte Orientierungen und Anleitungen zum eigenen Bekennen dienen. Als solche bleiben sie aber dem eigenen aktuellen Bekennen, das sie der Kirche für die Gegenwart nicht einfach abnehmen können, nachgeordnet.“16

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M.D. WÜTHRICH, Theologische Überlegungen zur reformierten Bekenntnisbildung in der Schweiz, SJKR / ASDE 15 (2010), (37–62) 47. Dort kursiv. 14 Nach der im 17. Jahrhundert, vor allem nach der „Helvetischen Konsensusformel“ (1675) eintretenden „Bekenntnisschwäche“ (K. Barth) kam es im 20. Jahrhundert vor allem in Anschluss an die „Barmer Theologische Erklärung“ (1934) zu einer erstaunlichen Vielzahl von neueren Bekenntnissen aus der reformierten Konfessionsfamilie. Siehe H. MOTTU (Hg.), Confessions de foi réformées contemporaines. Et quelques autres textes de sensibilité protestante, Genf 2000; L. VISCHER (Hg.), Reformiertes Zeugnis heute. Eine Sammlung neuerer Bekenntnistexte aus der reformierten Tradition, Neukirchen-Vluyn 1988, und zur Auslegung derselben: E. BUSCH, Die Nähe der Fernen – Reformierte Bekenntnisse nach 1945, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, 587–606. Vgl. auch E. BUSCH, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 31–48. 15 G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 24. 16 M. WEINRICH, Kirche bekennen. Ökumene in reformierter Perspektive, in: DERS. (Hg.), Einheit bekennen. Auf der Suche nach ökumenischer Verbindlichkeit, Wuppertal 2002, (37–47) 38.

2. Die Autorität des Bekenntnisses

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2.1 Gemeinsamkeiten Damit soll nicht in kontroverstheologischer Manier in Abrede gestellt werden, dass es einen grundlegenden bekenntnishermeneutischen Konsens zwischen Lutheranern und Reformierten gibt. Er besteht in jener reformatorischen Maxime des sola scriptura, wonach allein die Heilige Schrift (und nicht die Tradition!) höchste Autorität genießt.17 Im Sinne eines solo verbo begegnet diese particula exclusiva in bezeichnender Verbundenheit zum solus Christus (Christus als „einziges Haupt“) in der 1. Berner These wieder.18 Sowohl die lutherischen als auch die reformierten Bekenntnisschriften vertreten selbst das Schriftprinzip. Dies hält die „Leuenberger Konkordie“ (1973) zutreffend fest, wenn sie betont, dass trotz aller Gegensätze die Kirchen der Reformation übereinstimmend bekannt haben, „dass Leben und Lehre an der ursprünglichen und reinen Bezeugung des Evangeliums in der Schrift zu messen sei“.19 In der Konkordienformel heißt es bekanntermaßen: „Wir glauben, lehren und bekennen, dass die alleinige Regel und Richtschnur (unicam regulam et normam), nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilt werden sollen (secundum quam omnia dogmata omnesque doctores aestimari et iudicari oporteat), seind allein (nullam omnio aliam esse quam) die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testamentes.“20

Das sola scriptura schließt hier den Gedanken der tota scriptura ein. Analog heißt es im Art. 5 der „Confessio Gallicana“:

17

So auch M. WEINRICH, Confessio and Traditio. A Reformed Approach in Dialogue with the Lutheran Tradition, in: J.D. GORT u.a. (Hg.), Crossroad Discourses between Christianity and Culture. Festschrift in Honor of H.M. Vroom, Currents of Encounter 38, Amsterdam u.a. 2010, (545–562) 545: „There is a broad common ground between the two traditions regarding the uniqueness of the principle of Scripture as the unsurpassable guideline for theological insights and ecclesiastical decisions.“ 18 Zur Überzeugung, dass die particulae exclusivae als Merkmale und zugleich als Kriterien des Reformatorischen angesehen werden können, vgl. M. BEINTKER, Was ist das Reformatorische? Einige systematisch-theologische Erwägungen, ZThK 1000 (2003), (44–63) 50f. Fernerhin: M. WELKER, Die Reformation als geistliche Erneuerung und bleibende Aufgabe in Theologien und Kirchen, EvTh 73 (2013), 166–177. 19 G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 250. 20 BSLK 767,14–19; Epit., Von dem summarischen Begriff. Hervorhebungen im Original. Vgl. fernerhin: „Allein die Heilige Schrift ist Richter, Regel und Richtschnur (sola sacra scripturae iudex, norma et regula).“ BSLK 769,22–23; Epit., Von dem summarischen Begriff.

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

„Und weil es [das in den kanonischen Büchern enthaltene Wort Gottes; M.H.] die Richtschnur der gesamten Wahrheit ist und alles enthält, was zum Dienste Gottes und unserem Heil notwendig ist (Joh 15,11), ist es Menschen nicht erlaubt, ja nicht einmal den Engeln, etwas hinzuzufügen, abzutrennen oder zu verändern. Daraus folgt, dass weder das Alter noch die Gewohnheit, noch die Menge, noch die Menschenweisheit, noch die Urteile, noch die Bestimmungen, noch die Erlasse, noch die Beschlüsse, noch die Konzilien, noch die Visionen, noch die Wunder dieser Heiligen Schrift entgegengesetzt werden dürfen, sondern dass im Gegenteil alles nach ihr geprüft, geordnet und verbessert werden muss.“21

Hier wird einmal mehr deutlich, dass die Heilige Schrift auch der kirchlichen Tradition, etwa den Konzilsbeschlüssen und den Äußerungen der Kirchenväter, als kritischer Maßstab bzw. Prüfkriterium vorgeordnet ist.22 Insofern gehört die Schrift nicht zur Tradition. Vielmehr hat sich die Tradition nach Auffassung der Reformatoren an ihr zu bewähren: „In ihr [der Schrift; M.H.] entdeckten sie die befreiende Kraft von den Bindungen der Tradition. Für ihre Tradition zeichnet die Kirche selbst verantwortlich, der Bibel gegenüber bleibt sie eine Schülerin, die immer wieder zu neuen Entdeckungen geführt wird.“23 M. Weinrich spricht vom „‚extra nos‘ der Bibel“.24 Indes haben die reformierten Kirchen „die Reformation nie als einen Abbruch der kirchlichen Tradition, sondern stets als Rückkehr zum Ursprung der Tradition verstanden. Sie haben darum die altkirchlichen Bekenntnisse und die altkirchlichen Lehrentscheidungen in Sachen der Christologie und der Trinitätslehre aufgenommen und bewahrt. Sie haben die kirchlichen Bekenntnisse jedoch vorbehaltlos und immer an dem Wort Gottes geprüft, wie es in der Heiligen Schrift bezeugt ist.“25

2.2 Unterschiede Nach lutherischem wie reformiertem Bekenntnisverständnis sind die Bekenntnisse der Heiligen Schrift untergeordnet. Beide Konfessionen betonen aber nicht nur die Überordnung der Schrift, sondern auch, 21 22

G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 110f. Zum Verhältnis von Schrift und Tradition vgl. auch Art. 19 der „Confessio Scotica“, in: G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 141f. sowie Art. 2 der „Confessio Helvetica Posterior“ in: a.a.O., 194f. 23 M. WEINRICH, Kirche glauben, 189. 24 M. WEINRICH, Die Bibel legt sich selber aus. Die ökumenische Herausforderung des reformatorischen Schriftprinzips oder vom verheißungsvollen Ärgernis angemessener Bibelauslegung, in: H. FRANKEMÖLLE (Hg.), Die Bibel. Das bekannte Buch – das fremde Buch, Paderborn u.a. 1994, (43–59) 49. 25 J. MOLTMANN, Theologia reformata et semper reformanda, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, (157–172) 161.

2. Die Autorität des Bekenntnisses

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dass Bekenntnisse Glaubenszeugnisse in der jeweiligen Zeit sind. Ein konfessioneller Unterschied zeigt sich freilich in dem (Aus-)Maß der den Bekenntnissen zugebilligten Autorität.26 So heißt es in der Konkordienformel: Die Sammlung der Bekenntnisse ist „die einstimmig angenommene Lehre, die alle unsere Kirchen anerkennen und bejahen und an der, da sie aus Gottes Wort gewonnen ist, alle anderen Schriften zu messen und zu beurteilen sind, ob man sie zu billigen oder zu verwerfen habe“.27 Damit wird hervorgehoben, dass die Autorität der Schrift den Bekenntnisschriften zwar übergeordnet ist, diese aber als die im Konkordienbuch gesammelten Bekenntnisse das, was in der Schrift enthalten ist, richtig und endgültig zusammenfassen, so dass diese selber als Prüfstein gelten können. In der Abgeschlossenheit des Bekenntniskanons manifestiert sich dieser Endgültigkeitscharakter. De facto, nicht de jure kann die zugebilligte Autorität des Bekenntnisses bis hin zu jener Gleichgewichtung von Schrift und Bekenntnis führen, die reformierterseits strictissime ausgeschlossen werden soll. Die reformierten Bekenntnisschriften beharren auf der relativen Autorität der Bekenntnisse, indem sie die territoriale und zeitliche Partikularität, Kontextualität und d.h. immer auch Begrenztheit betonen: Bekenntnisse gelten nicht für alle Zeiten und an allen Orten, sondern können relativiert, degradiert und revidiert werden. Und da es keinen abgeschlossenen Bekenntniskanon gibt, kann ein solcher Bekenntniskanon auch nicht das einigende Band der reformierten Konfessionsfamilie bilden. Die prinzipielle und kategoriale Differenz zwischen Bekenntnis und Heiliger Schrift wird damit reformierterseits stärker akzentuiert als im Luthertum. Die Selbstrelativierung im Hinblick auf die Schrift fällt hier deutlicher aus, zumal nach reformiertem Verständnis die Priorität der Schrift die eigene Relativität dergestalt begründet, dass die Bekenntnisse nach Form und Inhalt ihre Nichtidentität mit der Schrift kenntlich machen müssen. Albrecht Ritschl hat wohl nicht ganz unzutreffend die reformierte Kirche als die Kirche des reformatorischen Formalprinzips,28 d.h. des Schriftprinzips, genannt, worin ihm übrigens Karl Barth zustimmte, „da ihr [der reformierten Kirche; M.H.] Bekenntnis nur Form, Gefäß, Zeuge und 26 Im Blick auf solche konfessionellen Unterschiede will bedacht sein, dass sie nicht nur ein aus Abgrenzungen erwachsendes identitätsstiftendes Potential, sondern auch Potential zum weiterführenden Gespräch besitzen. Vgl. M. FREUDENBERG, Theologie, 5. 27 BSLK 838,10–17; SD, Von dem summarischen Begriff. 28 Vgl. A. RITSCHL, Über die beiden Principien des Protestantismus (1876), in: DERS., Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, Freiburg / Leipzig 1893, 234–247. Vgl. K. BARTH, Die Theologie Calvins 1922. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922, hg. von H. SCHOLL, Karl Barth GA II: Akademische Werke, Zürich 1993, 523.

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

‚Empfangsbestätigung‘ eines in der Schrift offenbarten Inhalts – wie etwa der Rechtfertigungslehre – ist und nur mit dem Inhalt bzw. der Schrift selbst identifiziert werden will“.29 3. Charakteristika des Schriftverständnisses nach den reformierten Bekenntnisschriften 3.1 Ein besonderer reformierter Akzent: Der Vorbehalt besserer Einsicht in die Heilige Schrift oder: Die prinzipielle Überbietbarkeit reformierter Bekenntnisaussagen Beispielhaft sei in puncto Unabgeschlossenheit, Revidierbarkeit, Partikularität und Dynamik der Bekenntnisse auf die Vorrede der „Confessio Scotica“ verwiesen: „[W]enn jemand irgendeinen Artikel oder auch nur einen Satz bemerkt, der dem heiligen Worte Gottes widerstreitet, so möge er uns nach seiner Menschenpflicht und der Liebe, mit der er Christus und seiner Herde anhängt, schriftlich ermahnen. Wenn er das tut, so versprechen wir ihm feierlich, daß wir ihm Bescheid geben werden nach dem, was Gott, d.h. was das Wort der Heiligen Schrift redet, oder daß wir abstellen werden, was er uns als von diesem Wort abweichend nachgewiesen hat.“30

Hier artikuliert sich der Vorbehalt besserer Einsicht in die Heilige Schrift (sog. „Schriftvorbehalt“), der deren überragenden Status expliziert.31 Die Bekenntnisse sind demnach nicht Gotteswort, sondern Schriftzeugnis in Menschenworten. Die Schrift ist zudem die Quelle theologischer Erkenntnis. Die reformierten Bekenntnisse intendieren ihrerseits in allererster Linie Schriftauslegung zu sein. Dies erklärt im Übrigen auch die Fülle der Schriftzitate und Schriftbelege, die sich in den reformierten Bekenntnisschriften finden. Am bekanntesten dürfte die Feststellung in der Vorrede des „Berner Synodus“ (1532)32 sein: „Würde uns aber etwas von unseren Pfarrern 29 30

M. FREUDENBERG, Karl Barth, 239. Zit. nach P. JACOBS (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Neukirchen 1949, 129f. Ähnlich Art. 20 der „Confessio Scotica“, in: G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 142. 31 Vgl. S.C. GUTHRIE, Christian Doctrine, Louisville 21994, 25ff.; J. ROHLS, Theologie reformierter Bekenntnisschriften. Von Zürich bis Barmen, Göttingen 1987, 317f.; L. VISCHER, Das Theologieverständnis der reformierten Bekenntnisse, EvTh 47 (1987), 569–573. 32 Bereits H. Zwingli bemerkt im Art. 12 der „Fidei ratio“: „Wie ich am Anfang gesagt habe, glaube ich dies alles fest, lehre es und verteidige es, nicht mit meinem eigenen Wort, sondern mit den Aussagen des göttlichen Wortes, und verspreche, es nach Gottes Willen auch künftig zu tun, ‚solange der Geist meine Glieder regiert‘. Es

3. Charakteristika des Schriftverständnisses

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oder anderen vorgebracht, das uns näher zu Christus führt und nach Vermögen des Wortes Gottes allgemeiner Freundschaft und christlicher Liebe zuträglicher ist als die jetzt aufgezeichnete Meinung, das wollen wir gern annehmen und dem heiligen Geist seinen Lauf nicht sperren.“33 Ganz entsprechend heißt es in der Vorrede der „Confessio Helvetica Posterior“ (1566): „Vor allem aber bezeugen wir, dass wir immer völlig bereit sind, unsere Darlegungen im allgemeinen und im besonderen auf Verlangen ausführlicher zu erläutern, und endlich denen, die uns aus dem Worte Gottes eines Besseren belehren, nicht ohne Danksagung nachzugeben und Folge zu leisten im Herrn, dem Lob und Ehre gebührt.“34 Zum Abschluss des „Basler Bekenntnisses“ (1534) wird in Art. 12 bekräftigt: „Zuletzt wollen wir dieses unser Bekenntnis dem Urteil göttlicher biblischer Schrift unterwerfen, und uns dabei erboten haben, ob wir aus angeregten heiligen Schriften etwas Besseres berichtet, dass wir jederzeit Gott und seinem heiligen Wort mit großer Dankbarkeit gehorsamen wollen.“35 Aktuelles Bekennen kann nach reformiertem Verständnis auch im Widerspruch zur eigenen, keineswegs vor Irrtümern gefeiten Tradition geschehen und muss sogar als ein solcher Widerspruch geschehen, wenn anders der Vorbehalt besserer Einsicht in die Heilige Schrift geltend zu machen ist. Dem Prozess des fortwährenden Prüfens durch die Gemeinde bzw. Synode sind die gesamte Tradition und Lehre, mithin auch die Bekenntnisse, unterworfen. Es gilt der Grundsatz: „[N]icht weil, sondern sofern das Bekenntnis mit der Schrift übereinstimmen, ist es für die Gemeinde verbindlich.“36 Die reformierte Kirche „rechnet ebenso mit Unzulänglichkeiten und auch Irrtümern in der Tradition wie mit ihren eigenen Unvollkommenheiten. Sie fühlt sich nun nicht dazu berufen, diese Unzulänglichkeiten im Einzelnen auszuforschen, sondern sie blickt in die andere Richtung und fragt nach der gegenwärtigen Tragfähigsei denn, dass jemand – aufgrund der richtig verstandenen Aussagen der wahrhaft heiligen Schriften – etwas anderes ebenso offen und einfach, wie wir es hier getan haben, darlegt und begründet. Es ist nämlich nicht weniger angenehm und willkommen als billig und gerecht, unsere Ansicht der Heiligen Schrift und der Kirche zu unterwerfen, die aus dem Geist gemäß der Schrift urteilt.“ ZWINGLI, Fidei ratio (1530), in: G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 53. 33 Zit. nach Forschungsseminar für Reformationstheologie unter Leitung von G.W. LOCHER (Hg.), Der Berner Synodus von 1532, Edition und Abhandlungen zum Jubiläumsjahr 1982, Bd. 1: Edition, Neukirchen-Vluyn 1984, 26. 34 G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 191. 35 BSRK 100,14–18: „Zu letst wellend wir ditz unser bekanthnus dem urtheyl göttlicher Biblischer schrifft underworffen, und uns darby erbotten haben, ob wir uß angeregten heyligen schrifften etwas bessern berichtet, daß wir yeder zyt, Gott und sinem heiligen wort, mit grosser dancksagung gehorsamen wellend“. 36 E. BUSCH, Nähe, 589. Hervorhebungen im Original.

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

keit, die nicht einfach automatisch vorausgesetzt werden kann, sondern für die sie auch eine Mitverantwortung trägt. Die Tradition ist keine sichere Rückzugsbasis, auf der man im Zweifel allen zu erwartenden Stürmen entgegenblicken kann, sondern sie kann für die Kirche immer nur der durchaus mit manchen Fragezeichen versehene Ausgangspunkt für das je neu abverlangte Wagnis sein, unter den sich verändernden Bedingungen neu und vernehmbar ihr eigenes Wort zu sagen.“37

Es bedarf im Prozess des Prüfens freilich des Nachweises, dass man tatsächlich anhand der Schrift zu besserer Einsicht gekommen ist und darum ältere Bekenntnisaussagen revidieren bzw. überbieten muss. Die Verantwortlichkeit gegenüber diesem Auftrag „wird sich niemals ohne den Rückgriff auf bereits artikulierte Lehre angemessen wahrnehmen lassen, aber sie wird sich ebenso gewiss nicht einfach in der Wiederholung bereits ausformulierter Lehre erschöpfen dürfen“.38 3.2 Text und Kontext nach reformiertem Bekenntnisverständnis Bekenntnisse stellen – und dies ist zweifel- und fraglos zu konzedieren – keineswegs zeitlose Zeugnisse dar, sondern Produkte einer bestimmten Zeit, Situation, Fragestellung und Zielsetzung. Die Kontextualität der Bekenntnisse besagt genau dies.39 Mit K. Barth gesprochen gilt im Blick auf die Bekenntnisse: „Wir, hier, jetzt – bekennen dies!“40 Die relative Autorität des Bekenntnisses besagt indes mehr als ihre Geltung pro tempore et pro loco, zumal das Bekenntnis nicht einfach nur durch seine Kontextualität und damit Partikularität, sondern primär durch das diese bedingende, übergeordnete Wort Gottes relativiert wird. Mit Jürgen Moltmann gesprochen: „Das in der Schrift bezeugte Wort Gottes ernstzunehmen heißt […], nach dem bindenden und befreienden Wort in der gegenwärtigen, eigenen Situation zu fragen. Die Kontextualität der reformierten Bekenntnisschriften und des reformierten Bekennens war immer auf die Textualität des Wortes Gottes in der Schrift bezogen. Der Text macht den Kontext, und der Kontext ist der Kairos des Textes. Dies ist jedenfalls der Einspruch reformierter Theologen 37 38 39

M. WEINRICH, Kirche bekennen, 40. A.a.O., 45. M. Weinrich weist zutreffend darauf hin, dass „[d]ie prinzipielle Offenheit in der Bekenntnisbildung für eine gewollte Flexibilität der Kirche zu je spezifischer Kontextualität steht. Sie trägt dem Faktum Rechnung, dass Bekenntnisse, wenn sie sich nicht in abstrakte Allgemeingültigkeit verflüchtigen wollen, stets nur ‚in einem relativ überschaubaren Raum … von einer konkret verantwortlichen Schar‘ ausgesprochen werden können. Von hier aus begründet sich der Umstand, dass es kein reformiertes Weltbekenntnis gibt.“ A.a.O., 39. 40 K. BARTH, Wünschbarkeit, 616. Hervorhebungen im Original.

3. Charakteristika des Schriftverständnisses

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gegenüber neueren materialistischen, sozialgeschichtlichen und politischen Auffassungen, nach denen der politisch-ökonomische oder der sozialpsychologische Kontext den Text erzeugt und sich in ihm nur seinen ideologischen Überbau schafft.“41

Formelhaft zugespitzt: Der Kontext bildet den Entdeckungszusammenhang des Textes, nicht aber dessen Begründungs- bzw. Konstitutionszusammenhang.42 Im Blick auf den Letztgenannten ist das Wort Gottes von entscheidender Bedeutung. M. Weinrich hat die – bekenntnishermeneutisch äußerst relevante – Notwendigkeit der Differenzierung zwischen geschichtlichen Bedingungszusammenhängen, in denen theologische Aussagen getätigt werden, und den Begründungszusammenhängen, aus denen heraus sie erst angemessen verstanden werden können,43 im Blick auf die Verhältnisbestimmung von Text und Kontext für den ökumenischen Diskurs fruchtbar gemacht und klargestellt: „Text und Kontext stehen ja keineswegs von vornherein in einem harmonischen Verhältnis, sondern sie bilden ein jeweils auszubalancierendes Spannungsverhältnis. Das Verhältnis ist nicht allein durch Akzeptanz und Übernahme geprägt, wenn es nicht unversehens zu einer Umkehrung des Verhältnisses zwischen Text und Kontext kommen soll, in welcher der Kontext zum entscheidenden Text wird, zu dem dann die Theologie ein geistliches Ornament zu liefern hat, wie es insbesondere im Zusammenhang des Nationalismus immer wieder geschehen ist und gegenwärtig in zunehmendem Maße wieder geschieht. Gewiß hat der Kontext durchaus eine eigene theologiebildende Kraft, doch diese kann wohl kaum so durchschlagend sein, daß sie eine verständige Auseinandersetzung mit einem Selbstverständnis aus einem anderen Kontext verunmöglicht. Dort, wo sich die Kontextualität gegen die ökumenische Kommunikabilität sperrt – das ist meine These –, überschreitet sie das ihr einzuräumende sachliche Gewicht und entwickelt sektiererische Tendenzen. Die Kontextualität einer Theologie vermag sich nur dann als angemessen erweisen, wenn sie nicht mit dem Kontext steht und fällt. Das ist eine Bedingung, die mir in ökumenischer Perspektive zwingend erscheint.“44

41 42

J. MOLTMANN, Theologia, 161f. Vgl. zur Unterscheidung zwischen Begründungs- und Entdeckungszusammenhang G. SAUTER, Zugänge zur Dogmatik. Elemente theologischer Urteilsbildung, Göttingen 1998, 243–247; 333–335; M. HOFHEINZ, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitroFertilisation in theologischer Perspektive, EThD 15, Münster 2008, 472–476. 43 Vgl. M. WEINRICH, Ökumene am Ende? Plädoyer für einen neuen Realismus, Neukirchen-Vluyn 1995, 50. 44 A.a.O., 48. Vgl. G. SAUTER, Eschatologische Rationalität, in: DERS., In der Freiheit des Geistes. Theologische Studien, Göttingen 1988, (166–195) 180.

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

3.3 Die Bekenntnisökumenizität oder: Die Partikularität in der Universalität des schriftgebundenen Bekenntnisses Die Rede vom Kontext als Entdeckungszusammenhang des Bekenntnistextes besagt, dass die Bekenntnisse historische Ereignisse sind, Produkte einer Geschichte des Bekennens, das seine jeweilige Vorund Nachgeschichte hat. Die Partikularität der Bekenntnisse ist – abgesehen von ihrer Geltung – bereits mit ihrer Geschichtlichkeit gegeben. Jedoch ist die Zeit- und Ortsbedingtheit der Bekenntnisse „keineswegs ein Mangel, sondern ihr Wesensmerkmal, zumal sie ein konkretes Zeugnis abgeben wollen“.45 Ihre Geschichtlichkeit tut der Verbindlichkeit der Bekenntnisse insofern keinen Abbruch, als dass sie nichtsdestotrotz beanspruchen, eine bestimmte Wahrheit in gültiger Form ausgesprochen zu haben. Bei aller Relativität der Autorität reformierter Bekenntnisse, die aufgrund ihrer territorialen und zeitlichen Partikularität bzw. Kontextualität gegeben ist, verabschieden sie sich nicht von der universalen Reichweite ihrer Aussagen. Denn mit und in ihren Bekenntnissen bekennt die Kirche zugleich ihre Absicht, bei den Bekenntnissätzen bleiben zu wollen. So heißt es etwa in der Vorrede der „Confessio Scotica“: „Und darum ist es unser bestimmter Entschluß, durch den mächtigen Geist eben dieses unseres Herrn Jesus bei dem in den folgenden Artikeln ausgesprochenen Bekenntnis dieses unseres Glaubens zu bleiben.“46 Doch nicht nur in zeitlicher, sondern auch räumlicher Hinsicht haben die Bekenntnisse durchaus universalen Charakter. Der Geltungsbereich der Bekenntnisse ist zwar auf den nationalen und kulturellen Kontext der Bekenntnisentstehung beschränkt. Insofern gelten die Bekenntnisse nicht an allen Orten. Die Vielfalt und das Nebeneinander von (immer wieder neu entstehenden) Bekenntnissen, d.h. ein faktischer Bekenntnispluralismus, kennzeichnet vielmehr den reformierten Protestantismus: „Von einer Insel zur andern grüßt man herüber von Genf nach Zürich, von Basel nach Straßburg.“47 Zugleich wird aber in einem Bekenntnis wie der „Confessio Helvetica Posterior“ ihrem expliziten Anspruch nach für die weltweite Kirche bekannt und betont, „dass wir uns von den heilige Kirchen Deutschlands, Frankreichs und Englands und denen anderer Völker der christlichen Welt nicht durch frevelhafte Spaltung absondern und trennen, sondern mit ihnen im allgemeinen und besondern in diesem Bekennt45

M. FREUDENBERG, Das Verhältnis von Kirche und Staat nach den Reformierten Bekenntnissen des 16. Jahrhunderts, CV XL (3/1998), (228–255) 254. 46 Zit. nach K. BARTH, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre. 20 Vorlesungen (Gifford-Lectures) über das Schottische Bekenntnis von 1560 gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938, Zürich 1938, 11. 47 K. BARTH, Theologie, 19.

3. Charakteristika des Schriftverständnisses

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nis christlicher Wahrheit völlig übereinstimmen und sie selbst mit aufrichtiger Liebe umfassen“.48 Ein solches Bekenntnis ist Ausdrucksform dezidierter Ökumenizität. Da nämlich der Geltungsbereich von Bekenntnisaussagen nicht mit deren Reichweite zusammenfällt,49 diese also voneinander zu unterscheiden sind, kommt es zur Betonung des Anspruchs auf universale Reichweite, und zwar vor breitestem ökumenischen Horizont50 bei gleichzeitiger Betonung relativer Erkenntnis und Partikularität, die sich in Bekenntnissen manifestiert. Die reformierten Bekenntnisse stellen ihrem Anspruch nach mehr als nur Privatbekenntnisse, persönliche Meinung oder Erkenntnis dar. Sie beanspruchen, Einsichten zu vermitteln, die für die Kirche Jesu Christi über das hic et nunc hinaus wegweisend sind. Das reformierte Bekenntnis als geistliches Ereignis drückt mithin Universalität aus – im Bewusstsein der Partikularität!51 Beide Aspekte, Universalität und Partikularität, sind für reformierte Bekenntnishermeneutik konstitutiv. Es wäre also reduktionistisch, nur eine Vielfalt und ein Nebeneinander der Bekenntnisse, mithin einen Bekenntnispluralismus als Kennzeichen des reformierten Protestantismus zu konstatieren. 3.4 Konfessorische Existenz heute oder: „Hervorhebung des Bekennens gegenüber dem Bekenntnis“ Für reformiertes Bekenntnisverständnis ist noch ein weiteres Charakteristikum anzuführen, das sich mit M. Weinrich als „konfessorische Existenz heute“52 oder auch als „Hervorhebung des Bekennens gegenüber dem Bekenntnis“53 bestimmen lässt: „Die reformierten Kir48 49

G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 190f. So SAUTER, Zugänge, 237f.: „Die Reichweite theologischer Aussagen ist so unbegrenzt wie Gottes versöhnendes Handeln. Geltungsbereich theologischer Aussagen ist die Kirche, ohne daß die Reichweite dieser Aussagen dadurch beschnitten würde.“ Dort kursiv. 50 Dies veranschaulicht insbesondere die „Vorrede“ der „Confessio Helvetica Posterior“. Vgl. G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 190f. 51 Dies betont nachdrücklich G. PLASGER, Universality in Particularity. The Ecumenical Meaning of the Reformed Confession, in: E.A.J.G. VAN DER BORGHT u.a. (Hg.), Faith and Ethnicity Vol. 2, Studies in Reformed Theology 7, Zoetermeer 2002, 267–279. So auch G. PLASGER, Die Confessio Augustana als Grundbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland? Anmerkungen und Überlegungen aus reformierter Perspektive, ZThK 105 (2008), (315–331) 321–326. 52 M. WEINRICH, Kirche glauben, 241. 53 M. WEINRICH, Kirche bekennen, 39. So auch L. VISCHER, Bekenntnis und Bekennen in der reformierten Kirche, US 37 (1982), (111–116) 111: „Bekenntnisse, d.h. Texte, die den entscheidenden Inhalt des Evangeliums in einer bestimmten Situation in repräsentativer Weise aussprechen, sind in dieser Perspektive zu verstehen; sie stehen im Dienst des aktuellen Bekennens.“

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

chen verstehen ihre Bekenntnisse aktuell und kontextuell als Antworten des Glaubens auf Herausforderungen der Geschichte. Das Wort Gottes und der Kairos seiner Verkündigung gehören zusammen.“54 Aufs Engste werden Wort Gottes und Verkündigung im Art. 1 der „Confessio Helvetica Posterior“ aneinander gerückt: „Wenn also heute dieses Wort Gottes durch rechtmäßig berufene Prediger in der Kirche verkündigt wird, glauben wir, dass Gottes Wort selbst verkündigt und von den Gläubigen vernommen werde, dass man aber auch kein anderes Wort Gottes erfinden oder vom Himmel her erwarten dürfe: und auch jetzt müssen wir auf das Wort selber achten, das gepredigt wird, und nicht auf den verkündigenden Diener“.55

Der Akzent des „heute“ bzw. „jetzt“ will hier beachtet werden – in Anlehnung an Hebr 3,7f.: „Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht.“ Der Gegenwartbezug, mit dem eine Prävalenz des Bekennens als aktuellem Lebensakt56 gegenüber dem Bekenntnis verbunden ist, erweist sich als entscheidend: „Bekennen vollzieht sich nach diesem Verständnis nicht durch Zitation, sondern in erster Linie im jeweils gegenwärtigen Antworten auf das gehörte Wort Gottes im Horizont der spezifischen Herausforderungen, denen sich die Kirche in ihrer jeweiligen Gegenwart ausgesetzt weiß. Indem das Bekenntnis der Kirche nicht nur nach innen, sondern vor allem auch nach außen gerichtet ist, kommt es entscheidend auf seine Deutlichkeit an. Es geht um eine öffentliche Positionierung der Kirche, mit der sie deutlich zu machen versucht, wo sie steht. Hätte die Kirche im Nationalsozialismus anstelle des Barmer Bekenntnisses (1934) nur das Apostolische Glaubensbekenntnis in Erinnerung gerufen, so wäre es wohl kaum gelungen, verstehbar auf die spezifische Brisanz ihrer konkreten Positionierung aufmerksam zu machen. Gleiches gilt beispielsweise auch für das Bekenntnis von Belhar im Zusammenhang mit 54 55 56

J. MOLTMANN, Theologia, 160. G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 192f. Bereits H.-G. Geyer bemerkte: „Das Bekenntnis des christlichen Glaubens ist in erster Linie und immer ein Lebensakt und nur in zweiter Linie und gelegentlich auch ein Sprechakt – und niemals ein Lehrsatz oder eine Aussage.“ H.-G. GEYER, Thesen zu einer kritisch-systematischen Revision des Begriffs der kirchlichen Lehre, in: DERS., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.TH. GOEBEL u.a., Tübingen 2003, (287–293) 292f. Hervorhebungen im Original. Mit letztgenannter Sequenz zu Lehrsatz und Aussage schießt Geyer freilich über das Ziel hinaus. Zutreffend fährt er allerdings fort: „Der Lebensakt des Bekenntnisses wird in aller Regel nicht mehr sein können als der ehrliche Versuch von Menschen, sich mit ihrem Tun und Lassen in aller Öffentlichkeit so zu dem Gott zu bekennen, der den Frieden und das Leben seiner Menschheit auf dieser Erde will, dass sie ihn mit ihrem Tun und Lassen nicht in aller Öffentlichkeit verspotten, durch ihr Tun und Lassen sein Versprechen nicht Lügen strafen und ihren eigenen Glauben nicht zu einem toten Reflexionsprodukt machen.“ Ebd. Hervorhebungen im Original.

3. Charakteristika des Schriftverständnisses

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dem Rassismus in Südafrika (1982). Die Existenz als bekennende Kirche rangiert über ihrem Selbstbewusstsein als Bekenntniskirche, d.h. ihr konfessorisches Ereignis – ihre bekennende Lebendigkeit – steht über der konfessionellen Identität.“57

Konfessionalität ist in diesem Sinne nach Weinrich dezidiert von Konfessionalismus zu unterscheiden: „Konfessionalität darf nicht vorschnell mit einem reifen Konfessionalismus gleichgesetzt werden, der zu Recht abgelehnt wird. Konfessionalität ist vielmehr eine fundamentale Lebensdimension der Kirche, die sich etwa in der Barmer Theologischen Erklärung oder in den alten Glaubensbekenntnissen artikuliert hat, sich aber weder in ihnen erschöpft noch unlöslich an sie gebunden ist. Kirche ist bekennende Kirche, sie hat einen bestimmten Auftrag, den sie auch zu formulieren wagt, und ist nicht einfach eine gestaltlose und profillose unverbindliche Versammlung von Menschen beliebiger Weltanschauung. Es geht nicht so sehr um das fest formulierte und wie eine Fahne hochzuhaltende Bekenntnis, sondern um das Bekennen als einen fundamentalen Lebensakt der christlichen Gemeinde. Nicht eine konfessionalistische Gemeinde und im Grunde auch keine konfessionelle Kirche sind gemeint, sondern eine konfessorische Kirche, die sich aus dem Vollzug ihrer immer wieder neu zu realisierenden Parteinahme in der Welt erkennbar macht.“58

Im Gefälle dieser Betonung der Prävalenz des Bekennens vor dem Bekenntnis liegt gewiss kein rekonfessionalistisches „Vorwärts in die Vergangenheit“,59 sprich: kein Plädoyer für einen konfessionalistischen Bekenntnispositivismus,60 dem es um ein Bewahren statt Bewähren, um eine retrospektive statt prospektive Inanspruchnahme der Bekenntnistradition geht.61 57

M. WEINRICH, Kirche bekennen, 38. Hervorhebungen im Original. Dokumentiert und eingeleitet wird das sog. „Belhar-Bekenntnis“ (1986) in: G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 269–273. Ein weiteres Beispiel erläutert: M. ERNST, „In Leben und Tod gehören wir Gott …“. Aspekte heutigen Bekennens am Beispiel des Brief Statement of Faith – Presbyterian Church (USA), 1991, in: CH. DAHLING-SANDER u.a. (Hg.), Herausgeforderte Kirche. Anstöße – Wege – Perspektiven. FS E. Busch, Wuppertal 1997, 441–458. 58 M. WEINRICH, Kirche glauben, 183. Hervorhebungen im Original. 59 A.a.O., 244. 60 Zum konfessionalistischen Umgang mit dem Bekenntnis und generell zum Problem des Konfessionalismus vgl. M. WEINRICH, Reformiert ja, Konfessionalismus nein!, RKZ 137 (1996), 544–550; E. BUSCH, Christentum und Konfession, in: M. WEINRICH (Hg.), Einheit bekennen. Auf der Suche nach ökumenischer Verbindlichkeit, Wuppertal 2002, 77–94. 61 Vgl. M. WEINRICH, Kirche bekennen, 142: „Wenn dem Tradieren etwas vorwärts Drängendes fehlt, gerät es unversehens in die Gefahr, musealen Charakter anzunehmen, der zwar in Ehren gehalten werden mag, von dem aber für das Leben der Kirche nichts Substanzielles mehr ausgeht.“ Ähnlich CH. LINK, Zum Thema „Reformierte Identität“, RKZ 134 (1993), (344–350) 349: „Wohl halten sie [die Bekenntnisse;

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

3.5 Der eine Gottesbund und die Wertschätzung des Alten Testaments Die reformierten Bekenntnisschriften haben, um ein weiteres wichtiges Charakteristikum zu nennen, ein positives Verhältnis zum Alten Testament gefunden, wie sich anhand verschiedener thematischer Zusammenhänge zeigen lässt. Zum einen wird, was den Umfang des Kanons betrifft, etwa in Art. 1 der „Confessio Helvetica Posterior“ am Alten Testament als unveräußerlichem Bestand festgehalten und dem Ansinnen etwa einer marcionitischen Ausscheidung generell widersprochen: „Wir glauben und bekennen, dass die kanonischen Schriften der heiligen Propheten und Apostel beider Testamente das wahre Wort Gottes sind, und dass sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen.“62 Das Bekenntnis der „Freien reformierten Synode Barmen“ (1934) greift dies auf: „Die Kirche hört das ein für allemal gesprochene Wort Gottes durch die freie Gnade des Heiligen Geistes in dem doppelten, aber einheitlichen und in seinen beiden Bestandteilen sich gegenseitig bedingenden Zeugnis des Alten und Neuen Testaments, das heißt in dem Zeugnis des Mose und der Propheten von dem kommenden, und in dem Zeugnis der Evangelisten und Apostel von dem gekommenen Jesus Christus.“63

Hier manifestiert sich die entschiedene Ablehnung jener Auffassung, wonach für die christliche Frömmigkeit vorwiegend und/oder ausschließlich das Neue Testament maßgeblich sei, das Alte Testament hingegen zugunsten des Neuen zurückgedrängt oder gar ausgeschieden werden könne. Zum anderen erweist es sich als bezeichnend, dass auch das „Gesetz“ in den reformierten Bekenntnisschriften nicht einfach als nichtig bzw. aufgrund seiner Erfüllung durch Christus für obsolet erklärt wird. So heißt es in Art. 23 der „Confessio Gallicana“: „Wir glauben, dass alle Vorbilder des Gesetzes ihr Ende gefunden haben durch die Ankunft Jesu Christi (Röm 10,4; Gal 3; 4; Kol 2,17). Aber obwohl die Zeremonien nicht mehr in Gebrauch sind, so ist uns nichtsdestoweniger das Wesen und die Wahrheit verblieben in der Person dessen, in dem alle Erfüllung liegt. Überdies müssen wir uns das Gesetz und die Propheten zunutze machen, sowohl um unser Leben zu regeln, als auch um mit den Verheißungen des Evangeliums in Einklang zu sein (2Tim 3,16; 2Petr 1,19; 3,2).“64 M.H.] Entscheidungen des bisher durchschrittenen Weges fest, auch wichtige Erfahrungen im Umgang mit der Bibel, aber nicht, um sie als Norm für spätere Zeiten zu konservieren.“ Fernerhin: M. WEINRICH, Ökumene, 144–148. 62 G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 192. 63 A.a.O., 233f. 64 A.a.O., 117.

3. Charakteristika des Schriftverständnisses

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Die „Confessio Gallicana“ greift zwar auf das Schema „Verheißung und Erfüllung“ zurück, gebraucht es jedoch im Blick auf das alttestamentliche Toraverständnis keineswegs substitutiv bzw. eliminatorisch: „Wesen und Wahrheit“ des Gesetzes sind bewahrt geblieben. Dabei wird das Gesetz Gottes im Übrigen nicht als tötendes Gesetz verstanden, sondern als die gültige Form des Lebens vor Gott. Sinn des Gesetzes ist es demzufolge, uns Wegweisung für das Glaubensleben zu geben. Demnach kann und wird ein Leben im Gesetz Gottes für den Gläubigen Freude statt Qual bedeuten. Mit anderen Worten ist der tertius usus legis als usus in renatis das eigentliche Ziel des Gesetzes. Im Blick auf das Leben der Wiedergeborenen bleiben die Bekenntnisschriften indes realistisch. In Frage 114 des „Heidelberger Katechismus“ heißt es im Blick auf menschliche Heiligungsbemühungen: „Können aber die zu Gott Bekehrten diese Gebote vollkommen halten? Nein, sondern es kommen auch die frömmsten Menschen in diesem Leben über einen geringen Anfang dieses Gehorsams nicht hinaus. Wohl aber beginnen sie, mit fester Absicht nicht nur nach einigen, sondern nach allen Geboten Gottes zu leben.“65 Die Wertschätzung des Alten Testaments hängt nun drittens mit dem Bundesgedanken bzw. der Bundes- oder Föderaltheologie66 zusammen: Es gibt nach Art. 17 der „Confessio Helvetica Posterior“ nur einen Bund. Insofern wird an der Einheit und Ewigkeit des Bundes festgehalten, der auch das AT umgreift. Dieser eine Bund besteht nicht von Natur aus, sondern er ist als Resultat der Erwählung ein Gnadenbund, wie auch in den „Dordrechter Canones“ von 1619 festgehalten wird.67 In der Umdichtung des Ps 105 von Matthias Jorissen „Dank, dank dem Herrn, du Jakobs Same“ heißt es: „Der Bund, der Abrams Hoffnung war, steht jetzt noch da unwandelbar.“68 Die Bundestheologie rückt die reformierten Kirchen an die Seite Israels und des Judentums und hat sie für die theologischen Spielarten 65

A.a.O., 182. Hervorhebung im Original. Zur Auslegung dieser Frage vgl. M. HOFHEINZ, Wie neue Menschen leben. Ansätze zu einer Ethik der Identität im Heidelberger Katechismus, in: M.E. HIRZEL u.a. (Hg.), Der Heidelberger Katechismus – ein reformierter Schlüsseltext, reformiert! 1, Zürich 2013, (145–172) 166f. 66 Vgl. E. BUSCH, Reformiert, 71–97; DERS., Calvins Lehre vom Bund und die Föderaltheologie, in: M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 169–181; J.F.G. GOETERS, Die reformierte Föderaltheologie und ihre rechtsgeschichtlichen Aspekte, in: H. FAULENBACH / W.H. NEUSER (Hg.), Beiträge, 303–314; A.I.C. HERON, Der Gottesbund als Thema reformierter Theologie, in: S. LEKEBUSCH / H.-G. ULRICHS (Hg.), Historische Horizonte. Vorträge der dritten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 5, Wuppertal 2002, 39–65. 67 Erstes Lehrstück, Art. 17. Vgl. G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 228. 68 EG, Psalm 105,4.

34

I. Mit der Tradition zum Aufbruch

einer zutiefst problematischen Enterbungstheorie sensibilisiert: „Gott hat seinen Bund mit Israel nicht gekündigt. Wir beginnen zu erkennen: In Christus sind wir, Menschen aus der Völkerwelt – unser Herkunft nach fern vom Gott Israels und seinem Volk – gewürdigt und berufen zur Teilhabe an der Israel zuerst zugesprochenen Erwählung und zur Gemeinschaft im Gottesbund.“69 4. Fazit Die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts zeugen in all ihrer partikularitätsbedingten Unterschiedlichkeit vom Selbst- und Bekenntnisverständnis der reformierten Kirchen: Sie verstehen den Geltungsanspruch des Bekenntnisses und seiner Aussagen als partikular, deren Reichweite indes als universal. Das Schriftverständnis bildet dabei den hermeneutischen Schlüssel für die inhaltliche wie äußere Ausprägung, sprich: für den Charakter ihrer Bekenntnisse in puncto Unabgeschlossenheit, Revidierbarkeit, Partikularität und Universalität. Die Bekenntnisse weisen darin über sich selbst hinaus. Die Valenz reformierter Bekenntnisaussagen resultiert aus der Referenz auf die Schrift und die sie konstituierende Mitte, von der noch zu sprechen sein wird. Bekenntnisaussagen sind nach reformierter Bekenntnishermeneutik – wie dargelegt wurde – an die Autorität der Schrift gebunden. Das macht sie überprüfbar und revidierbar. Es handelt sich ja „nur“ um „vorläufige, verbesserungs- und ersatzfähige Aufstellungen“.70 Sich selbst verstanden die reformierten Kirchen als genuin reformierte Kirchen und d.h. „nicht als neue Kirchentümer neben der einen, heiligen Kirche […], sondern als deren Glied, aber als Glied einer nach dem Gotteswort der Heiligen Schrift erneuerten Kirche“.71 Das Attribut „reformiert“ bezeichnet demnach nicht nur die bestimmte Konfessionsgruppe der nach Gottes Wort reformierten Kirchen, die im Westfälischen Frieden von Osnabrück (1648) reichsrechtlich als „Religionspartei“ anerkannt wurden, sondern im Sinne der Formel

69

Leitsatz II der Leitsätze des Reformierten Bundes (1990). Zit. nach Moderamen des Reformierten Bundes (Hg.), Wir und die Juden – Israel und die Kirche. Leitsätze in der Begegnung von Juden und Christen. Text und Dokumentation, Bad Bentheim o.J., 19. Vgl. dazu: WEINRICH, Kirche glauben, 208f. Fernerhin: B. KLAPPERT, Miterben der Verheißung. Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog, NBST 25, Neukirchen-Vluyn 2000, 390–406; M. WEINRICH, Ökumene, 149–164. 70 K. BARTH, Theologie, 39. Dort z.T. kursiv. 71 E. BUSCH, Art. Reformierte Kirchen, RGG4 7 (2004), (165–171) 165.

4. Fazit

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„ecclesia reformata semper reformanda“,72 die als cantus firmus reformierten Selbstverständnisses zugleich die Zielrichtung der Reformation angibt,73 eine nota ecclesiae. „Reformiert“ ist bzw. wird die Kirche nur in ihrer immer neuen Zuwendung zu ihrem sie ständig erneuernden geistlichen Ursprung im Wort Gottes. Bei dem Attribut „reformiert“ handelt es sich deshalb um eine nota ecclesiae, weil das immer wieder neu im Schriftzeugnis zu vernehmende Wort Gottes als Movens der permanenten Reformation fungiert.74 Dem entspricht das Traditionsverständnis, wie es sich in den reformierten Bekenntnisschriften widerspiegelt: „Die reformierten Kirchen verstehen die Tradition weniger als einen zu wahrenden Schatz oder einen zu sichernden Bestand, als vielmehr eine Ermutigung und Ermächtigung. Ihr gilt nicht um ihrer selbst willen oder wegen ihres inspirierten Charakters der Respekt der Kirche, sondern weil sie das unverzichtbare und als solches inspirierende Werkzeug auch für das gegenwärtig bestehende Leben der Kirche bereitstellt. Sie wird weniger im Blick zurück als vielmehr im Blick nach vorn wahrgenommen. Der Umgang mit der Tradition ist nicht davon geprägt, diese zu bewahren, sondern der Ton liegt darauf, sie zu bewähren.“75

In diesem Sinne gilt das Motto: Mit der Tradition zum Aufbruch! Was den Zusammenhang von Schrift- und Bekenntnisverständnis betrifft, so veranschaulichen die Bekenntnisschriften, dass eine „Bekenntnisschrift nicht eine Art abschließende Summa der Heiligen Schrift [ist], die als solche Gegenstand unseres Glaubens sein will, sondern ihre Autorität besteht darin, daß sie uns Wegweiser zum Verständnis der Schrift und des in ihr bezeugten Evangeliums ist, so daß nicht die Bekenntnisschrift als solche, auch nicht der Bibelbuchstabe als solcher, sondern der im Zeugnis der Schrift zu uns redende Herr selbst oberster Richter und letzte Autorität ist“.76

Im Anschluss an Schleiermacher und Barth hat Walter Kreck die relative Autorität des Bekenntnisses an der nautischen Metapher von 72

Vgl. M. HOFHEINZ / M. ZEINDLER, Was heisst eigentlich „reformiert“? Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der reformierten Identität und dem vorliegenden Buchprojekt, in: DIES. (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, (9–20) 19f. 73 Vgl. M. FREUDENBERG, Theologie, 16. 74 So auch M. WEINRICH, The Openness and Wordliness of the Church, in: CH. LIENEMANN-PERRIN u.a. (Hg.), Reformed and Ecumenical. On Being Reformed in Ecumenical Encounters, Amsterdam/Atlanta 2000, (1–23) 1–5. Vgl. auch S.C. GUTHRIE, Always Being Reformed. Faith for a Fragmented World, Louisville 1996. 75 M. WEINRICH, Kirche bekennen, 40. Hervorhebungen im Original. 76 W. KRECK, Rechter und falscher Respekt vor dem Bekennen der Väter, in: W. HERRENBRÜCK / U. SMIDT (Hg.), Warum wirst du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, Neukirchen-Vluyn 1965, (67–78) 68.

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I. Mit der Tradition zum Aufbruch

den Tonnen und Bojen im Meer verdeutlicht, „die zu besserer Belehrung die Fahrtrichtung für die Schiffe markieren“.77 Aus der reflektierten Bedeutung der Bekenntnisse lässt sich nun schließen, dass der Verlust des Bekenntnisses eine orientierungslose, um nicht zu sagen tote Kirche zur Folge zu haben droht: Orientierungslos insofern, als dass mit dem Verlust des Bekenntnisses auch der Verlust von dessen kriteriologischer Funktionsweise einhergeht, die in Orientierungslosigkeit mündet; und tot insofern, als dass das Bekenntnis als Ausdruck eines bekennenden Lebensaktes für die konfessorische Lebensdimension der Kirche steht, wenn anders sie als nichtbekennende Kirche tot wäre. Selbstzweckhafte Repristinierung von klassischen Bekenntnissen ist hingegen ein obsoletes Unterfangen. Den Verlust eines solchen letztlich müßigen Unternehmens wird man nicht beklagen müssen, sondern begrüßen dürfen. Ganz und gar anders steht es hingegen mit den Bekenntnissen, die gleichsam als geronnene Tradition der Kirche den Weg in die Zukunft weisen, und zwar präzise darin, dass sie einen unverzichtbaren Zeugendienst leisten. Die eigentliche Valenz der Bekenntnisse besteht in ihrer Exzentrik, d.h. darin, kriteriologisch und instrumentell über sich selbst hinauszuweisen. Gerade darin relativieren sie sich selbst in heilsamer Weise. Ihre deiktische Funktion bezieht sich dabei – mit Frage 1 des Heidelberger Katechismus gesprochen – auf Christus als den „einzige[n] Trost im Leben und im Sterben“.78 Von Christus selbst spricht etwa der Art. 1 des „Bekenntnisses der Karo-BatakKirche“ von 1979 als Mitte der Schrift: „Die Mitte des biblischen Zeugnisses ist Jesus Christus, der Herr und Erlöser der Menschheit (Mt 1,21; Joh 1,1–14; 3,16; 14; 16).“79 Wenn man so will, ist das Formalprinzip der Schrift verbunden mit dem Materialprinzip „Christus allein“.80 Die Verheißungen des Alten Testaments finden – wie wir gesehen haben – in Christus ihre Erfüllung. Sie führen zu seinem Kommen und seiner Versöhnung in Kreuz und Auferstehung hin. Dementsprechend kann Zwingli in seiner Schrift „Fidei ratio“ (1530) das Kommen Christi (vgl. Gal 4,4) und die Hingabe des Sohnes durch den Vater als Versöhnung in Kreuz und Auferstehung als „die Quelle und die Schlagader des Evangeliums“81 bezeichnen. Mitte der Schrift 77

W. KRECK, Was heißt Bekenntnisbindung? (1957), in: DERS., Tradition und Verantwortung. Gesammelte Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 1974, (45–59) 54. 78 G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 154. 79 A.a.O., 261. 80 Genau dies hat P. Opitz auch für J. Calvins Schriftverständnis geltend gemacht (P. OPITZ, Calvins Bibelverständnis, in: G. PLASGER [Hg.], Calvins Theologie – für heute und morgen. Beiträge des Siegener Calvin-Kongresses 2009, SBRThP 1, Wuppertal 2010, [11–27] 18). 81 G. PLASGER / M. FREUDENBERG (Hg.), Bekenntnisschriften, 33.

4. Fazit

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ist demnach nicht das, „was Christum treibet“ (Martin Luther), etwa die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium,82 sondern was er, der lebendige Christus, selbst als freies Subjekt (und nicht als Objekt!) seines Kommens und seiner Versöhnung treibt.83 Auf ihn zu verweisen, bleibt die unabgegoltene Aufgabe der in der Tat ihres Bekennens und im Wort ihres Bekenntnisses Zeugnis gebenden Kirche: „Die Kirche ist bei sich selbst, wenn sie auf den gegenwärtigen und wiederkommenden Christus weist und der Welt in all ihrem Elend den Trost und die Hoffnung verkündigt, die sie sich nicht selbst geben kann. Es kann der Welt nichts Umstürzenderes passieren, als daß sie diesen Trost und diese Hoffnung vernimmt und aus ihnen dann auch zu leben lernt.“84

82

So O. BAYER, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2007, 75. 83 Vgl. P. OPITZ, Bibelverständnis, 19. 84 M. WEINRICH, Zeitgenössische Ökumene. Kontext-theologische Annäherungen an drei Herausforderungen der Gegenwart, RKZ 138 (1997), (559–567) 566. 3

II. Wie neue Menschen leben Ansätze zu einer Ethik der Identität im Heidelberger Katechismus In memoriam Jürgen Fangmeier (1931–2013)

„Allein das ‚extra nos‘ des Heils ist für den Menschen hoffnungsvoll. Es bezeichnet die Zuversicht darauf, daß Christus auf den Menschen zukommt. An die Stelle des auf die Natur blickenden ‚Du sollst‘, das zu Tadel und Resignation führt, tritt in ‚ruhiger und fröhlicher Hoffnung‘ sowie in ‚freier, starker, wirklich offener […] Erwartung‘ um der Aktion Christi willen das ‚Du wirst‘.“1

1. Einleitung: Mit dem Ende anfangen … Wir beginnen mit der Ethik des Heidelberger Katechismus.2 Obwohl wir so, nämlich mit dem abschließenden dritten Teil des Heidelbergers beginnen, tun wir dies sicherlich nicht in der Überzeugung, dass diesem Teil 3 eine Vorrangstellung gegenüber den eher dogmatischen Teilen 1 (Frage 3–11: „Von des Menschen Elend“) und 2 (Frage 12– 85: „Von des Menschen Erlösung“) gebührt. Ich bin auch nicht der Überzeugung, dass die Ethik der Dogmatik grundsätzlich vorgeordnet werden sollte,3 um so etwa den Bedingungen der Moderne genüge zu leisten.4 Nein, eine Verselbständigung der Ethik gegenüber der Dogmatik wäre fatal und würde die theologische Ethik ihrer Begründungszusammenhänge berauben, wie sich nicht zuletzt anhand des Heidelberger Katechismus zeigen lässt. Im Blick auf die folgenden Ausführungen möchte ich zu einem Experiment einladen, nämlich dazu, mit mir den Heidelberger von hinten zu lesen. Keine Angst, es handelt sich um eine seriöse Einladung. 1

J. FANGMEIER, Erziehung in Zeugenschaft. Karl Barth und die Pädagogik, BSHSTh 5, Zürich 1964, 396. Hervorhebung im Original. 2 Der folgende Vortrag, dessen Stil beibehalten wird, fand – anders als ursprünglich geplant – aus organisatorischen Gründen bzw. anderweitigen terminlichen Verpflichtungen nicht am Schluss, sondern zu Beginn der Berner Vortragsreihe zum Heidelberger Katechismus statt. 3 Zur Debatte vgl. einführend: W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 68–76; H. RUDDIES, Ethik als theologisches Problem. Eine theologisch-historische Skizze zur Ethikdebatte im neueren Protestantismus, in: A. VON SCHELIHA / M. SCHRÖDER (Hg.), Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff, Stuttgart u.a. 1998, 249–267. 4 Vgl. T. RENDTORFF, Ethik 1: Grundelemente, Methodologie und Konkretionen einer ethischen Theologie, Stuttgart u.a. 21990, 42ff.

1. Einleitung: Mit dem Ende anfangen …

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Warum? Nun, wenn die Frage 1 des Heidelbergers tatsächlich mit ihrer Betonung, dass wir Jesus Christus gehören, das organisierende Zentrum des Heidelbergers bildet, wie behauptet worden ist,5 dann müsste es sich doch auch an der Peripherie finden lassen. Diese Schlussfolgerung, wonach das Ende gleichsam vom Anfang bestimmt wird, ist naheliegend. Machen wir also die Probe aufs Exempel und gehen in methodischer Hinsicht von dieser Arbeitshypothese aus und fragen, ob sie sich bewahrheiten lässt. Soviel zunächst zur „Versuchsanordnung“.

5

E. Busch spricht in Auseinandersetzung mit O. WEBER, Analytische Theologie. Zum geschichtlichen Standort des Heidelberger Katechismus, in: DERS., Die Treue Gotts in der Geschichte der Kirche. Gesammelte Aufsätze II, BGLRK 29, Neukirchen 1968, 131–146 von der „Summe des Ganzen“: „In dem Sinne könnte man ihn [den Heidelberger; M.H.] wohl ‚analytisch‘ nennen, daß er in allem Weiteren nur eben ausführt und erläutert, was er in Art. 1 schon gesagt hat. Ist der einzige Trost das, was Art. 1 sagt, dann lassen sich aus der Erkenntnis dessen drei Fragen erheben (vgl. Art. 2), die der folgende Katechismus dann in der Tat nacheinander bespricht, um so das in Art. 1 Gesagt im einzelnen zu entfalten: 1. Warum brauche ich diesem mir im voraus angezeigten Trost? Antwort: Darum, weil ich im Elend bin! 2. Wer gibt mir Trost? Antwort: Der Gott, der mich aus dem Elend erlöst! 3. Was bewirkt dieser Trost? Antwort: Dies, daß ich für diese Erlösung diesem Gott dankbar werde!“ E. BUSCH, Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998, 17f. Hervorhebungen im Original.

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II. Wie neue Menschen leben

2. Eine Ethik der Dankbarkeit? Zur Frage nach dem Ansatz des Heidelberger Katechismus Der Heidelberger Katechismus entwickelt eine Ethik der Dankbarkeit. So hält es das kulturelle Gedächtnis fest. Dementsprechend haben viele Interpretinnen und Interpreten versucht, diesem Motiv auf die Spur zu kommen, um gleichsam den ethischen Code des Heidelbergers zu knacken. Die Einordnungs- und Zuordnungsversuche bewegten sich meist im Rahmen der durch Schleiermacher geprägten typologischen Trias aus Tugend-, Pflichten- und Güterethik.6 Bestimmte man die Dankbarkeit als eine Haltung des Menschen, so galt es als ausgemacht, dass der Heidelberger eine Nähe zu einem tugendethischen Konzept aufweist;7 fasste man die Dankbarkeit hingegen als ein Gebot auf, das den Vollzug des Handelns regulieren soll, rückte man den Heidelberger in die Nähe einer Pflichtenethik.8 Schliesslich sprach bereits Kant in der „Metaphysik der Sitten“ von der „Pflicht der Dankbarkeit“.9 Verstand man die Dankbarkeit indes als ein Ziel, das der Christenmensch in seinem Handeln anstreben soll, so platzierte man den Heidelberger in der Nähe einer Güterethik.10 Durchgängig geschah diese Zuschreibung zu den diversen Ethik-Typen unter Verweis auf das Motiv der Dankbarkeit. Ich möchte im Gegenüber zu solchen Einordnungs- und Zuschreibungsversuchen in kritischer Absicht die Frage stellen, ob die Dankbarkeit tatsächlich das Zentralmotiv des Heidelbergers darstellt. Denn 6

Vgl. zu dieser Trias etwa S. ANDERSEN, Einführung in die Ethik, Berlin / New York 22005, 193–195; J. FISCHER u.a., Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer Ethik, Stuttgart 2007, 149–176; M. HAILER, Theologische Ethik, in: E.-M. BECKER / D. HILLER (Hg.), Handbuch Evangelische Theologie. Ein enzyklopädischer Zugang, Tübingen / Basel 2006, (263–300) 281; W. LIENEMANN, Grundinformation, 36–38. 7 Einführend zur Tugendethik aus protestantischer Perspektive: M. HÜTTENHOFF, Tugend und Handlung. Ein Beitrag zur ethischen Grundlagendiskussion, ZThK 97 (2000), 463–487; W. MAASER, Tugendethik. Erwägungen aus evangelischer Sicht, GuL 12 (1997), 148–159; N. SLENCZKA, „Virtutibus nemo male utitur“ (Augustin). Die aristotelische Tradition der Tugendethik und die protestantische Ethik. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis der Unfreiheit des freien Willens, in: H. DEUSER / D. KORSCH (Hg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung der Disziplin, VWGT 23, Gütersloh 2004, 170–192. 8 Zur Pflichtenethik einführend: R. HÜTTER, Freedom and Commandment, in: DERS., Bound to Be Free. Evangelical Catholic Engagements in Ecclesiology, Ethics, and Ecumenism, Grand Rapids 2004, 145–167; W. PANNENBERG, Grundlagen der Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen 1996, 43–51. 9 I. KANT, MdS, A 127. 10 Zur Güterethik vgl. H.-R. REUTER / T. MEIREIS (Hg.), Das Gute und die Güter. Studien zur Güterethik, Münster 2007.

2. Eine Ethik der Dankbarkeit?

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wenn dies gar nicht der Fall sein sollte, dürften solche Bemühungen letztlich müßig sein. Zunächst sei festgehalten: Natürlich ist der dritte Teil des Heidelbergers mit der Überschrift „Von der Dankbarkeit“ versehen. Und in Frage 2, die den Aufriss des Heidelbergers erläutert, heißt es als Antwort auf die Frage: „Was musst du wissen, damit du in diesem Trost selig leben und sterben kannst?“ entsprechend unter „Drittens“: „Wie ich Gott für solche Erlösung soll dankbar sein.“ Der Heidelberger selbst versieht also anhand seiner Gliederungsfestschreibung seinen dritten Teil mit dem Stichwort „Dankbarkeit“. Insofern wird man im Blick auf die Rubrizierung bzw. Charakterisierung des EthikAnsatzes des Heidelbergers als „Ethik der Dankbarkeit“ nicht vorschnell von einem interpretativen Fehlgriff sprechen dürfen. Jedoch macht bereits auf der semantischen Oberfläche ein Blick auf die Wortstatistik stutzig. Im dritten Teil taucht das Motiv der Dankbarkeit nur in drei Fragen auf, nämlich den Fragen 86, 87 und 116, die zugegebenermaßen an exponierten Stellen platziert wurden, und zwar jeweils zu Beginn des gesamten dritten Abschnitts (so die Fragen 86 und 87) und zu Beginn der Unser-Vater-Auslegung (so die Frage 116). Außerhalb des dritten Teiles lässt sich – abgesehen von Frage 2 – nur in zwei Fragen, nämlich den Fragen 28 und 64, das Motiv der Dankbarkeit wiederfinden. Auf die Frage, was uns die Erkenntnis der Schöpfung und Vorsehung nützt, antwortet der Heidelberger in Frage 28: „Gott will damit, dass wir in aller Widerwärtigkeit geduldig, in Glückseligkeit dankbar und auf die Zukunft hin voller Vertrauen zu unserem treuen Gott und Vater sind.“ Das Motiv der Dankbarkeit lässt sich also nicht wegdiskutieren, es tritt aber nicht signifikant gehäuft in Erscheinung – weder innerhalb noch ausserhalb des dritten Teils des Heidelbergers. Abgesehen von diesem gewissermaßen „exegetischen“ Argumentationsstrang möchte ich fragen, ob nicht aus der Bestimmung der Dankbarkeit zum „Kern und Stern der Ethik“ veritable und gravierende Schwierigkeiten resultieren. Man kann etwa kritisch zurückfragen: Ist es denn tatsächlich unmöglich, wie der Heidelberger in Frage 64 behauptet, dass Menschen, die Christus durch wahren Glauben eingepflanzt sind, keine Frucht der Dankbarkeit bringen? Schnell kann es hier zu jenen problematischen Rückkopplungseffekten kommen, die sich auch in Frage 86 widerspiegeln, wo vom Gewisswerden des Glaubens aus den Früchten die Rede ist. Ein solcher Rückschluss würde sich etwa in folgender Aussage manifestieren: „Ich empfinde keine Dankbarkeit und kann infolgedessen nicht nur nicht Frucht der Dankbarkeit bringen, sondern offensichtlich von Gott auch keinen wahren Glauben eingepflanzt bekommen haben.“ Der sog. syllogis-

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II. Wie neue Menschen leben

mus practicus,11 den Max Weber12 einst dem Calvinismus zuordnete, lässt hier in einer eigenen Spielart grüßen. Ein Kollege hat seine zwiespältigen Erfahrungen mit der Dankbarkeit autobiographisch auf den Punkt gebracht: „Wenn wir uns als Kinder in den 1960er Jahren bei Tisch darüber beschwerten, dass uns die Kohlrübensuppe mit Kümmel oder der Graupeneintopf nicht schmeckte, dann hieß es: ‚Seid endlich dankbar! Ihr habt die Zeiten der Not nicht erlebt!‘ Heute, nachdem ich mit meiner Frau selbst zwei Kinder großgezogen habe, kann ich die argumentative Hilflosigkeit meiner Mutter im Umgang mit mäkelnden Kindern viel besser verstehen. Aber mit diesen Holzhammerargumenten wurde eben unterschwellig auch vermittelt, dass Dankbarkeit eine Pflicht sei, die man gefällig abzuleisten habe, auch wenn die erfahrene Wohltat einem nicht gerade schmeckt. In ähnlicher Weise ging es mir als Kind auch mit der ‚Erlösungsdankbarkeit‘. Als Pfarrerkindern war uns Kirchgang unter der Kanzel des Vaters Pflicht. Und oft haben wir gesungen: ‚Nun danket alle Gott ...‘ und andere Dankbarkeitshymnen aus dem Gesangbuch. Aber die Dinge, über die wir dankbar sein sollten, waren mir viel zu groß, zu abstrakt, als dass sich eine freudige oder dankbare Gestimmtheit einstellte. Ich konnte diese großen Themen mit meinem eigenen Leben nicht verknüpfen. Etwas anderes war es mit dem Erlösertod Jesu am Kreuz. Der galt ja auch mir. Wie aber sollte man darüber dankbar sein, dass da ein Mensch für die Sünden der Welt blutete, dass da Christi Leib für mich dahingegeben wurde? Gottes Erlösungswerk hat trotz aller Dankbarkeitsrhetorik bei mir keine dankbare oder sogar freudige Gestimmtheit ausgelöst, sondern eher Scham und schlechtes Gewissen, weil Jesus eben auch für meine Schuld sterben musste. Also habe ich mich auch im Hinblick auf die ‚Erlösungsdankbarkeit‘ eher an die Kohlrübensuppe erinnert, bei der uns unsere Mutter beigebracht hat, dass Dankbarkeit eben nicht nur aus der spontanen Freude entsteht, sondern auch eine Pflicht sei und man auch dankbar sein müsse für etwas, was einem nicht gerade gefällt.“13

Vgl. W. KRECK, Grundfragen der Dogmatik, München 21977, 337f.; D. SCHELLONG, Art. Ethik B. Aus evangelischer Sicht, NHThG 1 (1991), (408–417) 408f. 12 Vgl. M. WEBER, Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, hg. von J. WINCKELMANN, München/Hamburg 1965. Vgl. zu Weber D. SCHELLONG, Calvinismus und Kapitalismus. Anmerkungen zur Prädestinationslehre Calvins, in: H. SCHOLL (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, 74–101; DERS., Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“?, Paderborner Universitätsreden 47, Paderborn 1995. Fernerhin jetzt: W. LIENEMANN, Calvin, Calvinismus, Puritanismus – und Max Weber, in: M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 308–337; DERS., Calvins Wirtschaftsethik, in: M. SALLMANN u.a. (Hg.), Johannes Calvin 1509–2009. Würdigung aus Berner Perspektive, Zürich 2012, 235–258. 13 T. NAUMANN, „Darum will ich dir danken …“ (Ps 18,50). Dankbarkeit als soziale und religiöse Praxis im Alten Testament. Gemeindevortrag vom 25.11.2009 im Gemeindehaus der Martini-Gemeinde in Siegen, unveröffentlichtes Manuskript, 1–11, 2f. 11

2. Eine Ethik der Dankbarkeit?

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Auch J.M. Lochman gibt zu bedenken: „[E]ine forcierte, von außen erwartete und sanktionierte Dankbarkeit ist höchst bedenklich, als Motivation zum ethischen Handeln geradezu kontraproduktiv. Ich kannte in meiner Jugend einen Bettler, der Besuche in den unkirchlichen Häusern denen in bekannt kirchlichen entschieden vorzog, und zwar mit der folgenden Begründung: in den unkirchlichen wird Almosengabe wenigstens nicht von der Pflichtübung frommer Dankbarkeit abhängig gemacht. Das muss uns zu denken geben: Es haben unsere Zeitgenossen durchaus beachtenswerte Gründe, wenn ihnen das Wort Dankbarkeit verdächtig erscheint. (Ähnlich übrigens in ganz säkularen Kontexten: es gab kaum eine wirksamere Methode, den Menschen spontanen ethischen und politischen Einsatz zu verleiden, als ewige Aufrufe politischer Moralisten in den sozialistischen Ländern, man sollte aus Dankbarkeit für dies oder anderes, was die Partei geleistet hatte, eine entsprechende Gegenleistung begeistert vollbringen!).“14

Wenn man diese Statements ernst nimmt, fällt es schwer, Dankbarkeit in theologisch-ethischer Hinsicht positiv zu denken. Wer eine Motivationsethik etabliert sehen möchte,15 bekommt Schwierigkeiten mit dem Dankbarkeitsmotiv, zumal dann, wenn sie sich beharrlich nicht einstellen will. Eine Motivationsethik ohne motivierende Kraft, ohne Movens funktioniert nicht. Angesichts einer solchen „DankbarkeitsRenitenz“ bleibt offensichtlich nur hilflose Ohnmacht. Dankbarkeit lässt sich nicht qua Willensakt selbstinduzieren. Und dies hat, wie protestantischerseits bereits Philipp Melanchthon erkannte,16 mit der 14

J.M. LOCHMAN, Wegweisung der Freiheit. Abriss der Ethik in der Perspektive des Dekalogs, GTB 340, Gütersloh 1979, 28. 15 Kritisch zur Motivationsethik: B. WANNENWETSCH, Wovon handelt die „Materiale Ethik“? Oder: Warum die Ethik der elementaren Lebensformen theologisch unaufgebbar ist, in: A. FRITZSCHE / M. KWIRAN (Hg.), Kirche(n) und Gesellschaft. Ökumenische Sozialethik 3, München 2000, (95–135) bes. 98f. 16 Zur Affektenlehre bei Luther und Melanchthon vgl. vor allem P. BARTMANN, Das Gebot und die Tugend der Liebe. Über den Umgang mit konfliktbezogenen Affekten, Stuttgart u.a. 1998, 185–228; K.-H. ZUR MÜHLEN, Die Affektenlehre im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, in: DERS., Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, hg. von J. BROSSEDER / A. LEXUTT, Göttingen 1996, 101–122; K.-H. ZUR MÜHLEN, Melanchthons Auffassung vom Affekt in den „Loci communes“ von 1521, in: DERS., Reformatorische Prägungen. Studien zur Theologie Martin Luthers und zur Reformationszeit, hg. von A. LEXUTT / V. ORTMANN, Göttingen 2011, 84–95; B. WANNENWETSCH, Affekt und Gebot. Zur ethischen Bedeutung der Leidenschaften im Licht der Theologie Luthers und Melanchthons, in: A. STEIGER (Hg.), Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit Bd. 1, Wiesbaden 2005, 203–215. Zu Luther vgl. fernerhin: M. NICOL, Meditation bei Luther, Göttingen 21991, 82ff.; 127–135; 171–174; F. MILDENBERGER, Biblische Dogmatik. Eine Biblische Theologie in dogmatischer Perspektive Bd. 2: Ökonomie als Theologie, Stuttgart u.a. 1992, 260–272; O. BAYER, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 32007, 167–169.

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II. Wie neue Menschen leben

Funktionsweise menschlicher Affekte zu tun: „Man kann dem Herzen nicht befehlen, einen Affekt hervorzubringen.“17 Erst in den letzten drei Dekaden ist die Bedeutung von Affekten (von lat. afficere: in eine Stimmung versetzen) wie der Dankbarkeit in der Moralphilosophie wiederentdeckt worden. Bereits Aristoteles kommt auf die Affekte als „Leidenschaften“ zu sprechen, die von Lust und Schmerz begleitet sind und so etwas wie Bewegungen der Seele und des Gemüts darstellen. Aristoteles nennt explizit: „Begierde, Zorn, Angst, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid.“18 Von daher verwundert es nicht, dass die „Renaissance der Affekt-Thematik“19 vor allem mit dem sog. Neuaristotelismus und Namen wie Martha C. Nussbaum20 und Alasdair MacIntyre21 verknüpft ist.22 Aber auch Immanuel Kant kann von der Dankbarkeit in seiner „Kritik der Urteilskraft“ als einer der „besondere[n] Gemütsstimmungen zur Pflicht“23 sprechen. Im Übrigen darf man nicht vergessen, dass auch die Stoa in der Antike eine philosophische Affektenlehre entwickelte,24 wenngleich eine solche, die „die Gefahr des Selbstverlustes betonte, mit den Gefühlen weggeschwemmt zu werden“ und die sich deshalb beeilte, die Affekte „der Kontrolle durch die vernünftigen Seelenteile“25 zu unterwerfen.26 3. Die Ethik des Heidelberger Katechismus als Ethik des neuen Menschen Aber vielleicht ist es ja gar nicht so, dass der Heidelberger hier, beim Dankbarkeitsmotiv, seinen Einstieg wählt und ihn im weiteren Duktus seiner ethischen Ausführungen als argumentative Achse etabliert. 17 PH. MELANCHTHON, Loci Communes (1521), I,55: „[…] cordi vero imperare non potest, ut ponat affectum.“ 18 ARISTOTELES, Nikomachische Ethik (NE), 1105 b 21. 19 WANNENWETSCH, Affekt, 203. 20 M.C. NUSSBAUM, Love᾽s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, Oxford 1990; DIES., Upheavals of Thought. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001. 21 A. MACINTYRE, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. von W. RHIEL, Frankfurt a.M. 1997. 22 Neben dem Neoaristotelismus ist freilich auch die sog. kognitive Emotionstheorie zu nennen. Vgl. etwa R.C. ROBERTS, Emotions. An Essay in Aid of Moral Psychology, Cambridge 2003. 23 I. KANT, KdU, A 412. 24 Vgl. einführend: P. BARTMANN, Gebot, 107–109; 129–138; G. BIEN, Grundpositionen der antiken Ethik, in: H. HASTEDT / E. MARTENS (Hg.), Ethik. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1994, 50–81; 71–79. 25 B. WANNENWETSCH, Affekt, 204. 26 Vgl. H. LANDWEER, Art. Gefühl/moral sense, in: M. DÜWELL u.a. (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart/Weimar 2002, 360–365.

3. Die Ethik des Heidelberger Katechismus als Ethik des neuen Menschen

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Um dies zu prüfen, müssen wir uns zunächst einen Überblick verschaffen und kurz betrachten, wie der Kontext aussieht, in dem das Dankbarkeitsmotiv verortet ist. Mein Gliederungsvorschlag hinsichtlich dieses Makrokontextes sieht wie folgt aus: Aufbau des 3. Teils des Heidelberger Katechismus Frage 86–90: Hinführung zur Dekalogauslegung anhand der Leitfrage: Warum sollen und können wir gute Werke tun? Frage 91–113: Dekalogauslegung: Bestimmung der guten Werke nach dem Gesetz Gottes (= Dekalog) Frage 114–115: Appendix: Frage nach der Vollkommenheit des Gebotsgehorsams Frage 116–129: Vom Gebet

Nachdem wir uns nun einen gewissen Überblick über den Makrokontext verschafft haben, gehen wir ins Detail und wenden uns dem Mikrokontext der Frage 86 zu. Sie bildet – metaphorisch gesprochen – so etwas wie das Portal des dritten Teils. Zu Beginn von Teil 3 heißt es in Frage 86: „Da wir nun aus unserm Elend ganz ohne unser Verdienst aus Gnade durch Christus erlöst sind, warum sollen wir gute Werke tun?“ Diese Eingangsfrage hat es in sich. Denn hier wird nicht einfach die metaethische Gretchenfrage gestellt: „Why to be moral?“ Es wird ebenso wenig die christlich-theologische Grundsatzfrage gestellt: „Can Morality be Christian?“27 Sondern es wird unter der Voraussetzung, dass wir bereits durch Christus und nicht etwa durch unsere eigenen Werke erlöst worden sind, nach dem „Warum“ guter Werke gefragt.28 Dementsprechend taucht die bereits in der Fragestellung benannte soteriologische Prämisse in der Antwort wieder auf. Dort heißt es: „Wir sollen gute Werke tun, weil Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, damit wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltat erweisen und er durch uns gepriesen wird.“

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J. MILBANK, Can Morality be Christian?, Studies of Christian Ethics 1 (1995), 45– 59. Übersetzung: Kann Moral christlich sein?, Beiheft zur BZTh 13 (1996), 41–58. 28 Zur Ethik der guten Werke vgl. S. HEUSER, Instrumente des Guten. Konkretionen einer Sozialethik der guten Werke, Stuttgart 2017; DERS., The Public Witness of Good Works. Lutheran Impulses for Political Ethics, Part I–III, Journal of Lutheran Ethics 6 (2006), www.elca.org/jle (01.05.2013).

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II. Wie neue Menschen leben

Man beachte, dass hier nicht einfach nur die soteriologische Prämisse mit Verweis auf die Erlösung wiederkehrt, sondern dass zugleich ein Telos dieses Tuns Gottes benannt wird, nämlich die Erneuerung des erlösten, man kann auch sagen: des gerechtfertigten Menschen, und zwar zum Ebenbild Christi. Subjekt dieses erneuernden Tuns ist nicht etwa der Mensch, sondern ist und bleibt weiterhin Gott. Gott wird dementsprechend als Subjekt der Rechtfertigung und der Heiligung verstanden. Und nun erst, nachdem dies klargestellt wurde, kann das Telos menschlichen Tuns in den Blick genommen werden: Es besteht im lebenslangen Dankbarkeitserweis gegenüber Gott für seine Wohltat, wobei dieser Dankbarkeitserweis seinerseits wiederum dem Lobpreis Gottes dient. Der Lobpreis Gottes ist der finale Zweck. In Frage 91 heißt es dementsprechend, dass die guten Werke Gott zur Ehre geschehen. Es geht also zunächst um ein zweifaches Telos der Rechtfertigung: Erstens um die Heiligung als Erneuerungshandeln Gottes an uns Menschen und zweitens um das Handeln des Menschen als Dankbarkeitserweis. Letzteres wird durch Gottes Heiligungshandeln aber nicht nur ermöglicht – nach dem Motto: erst handelt Gott und dann der Mensch. Nein, es steht in Gestalt des Lobpreises bzw. der Ehre Gottes nun seinerseits wiederum unter einem Telos. Insofern nämlich dem Handeln des Menschen mit dem Lobpreis bzw. der Ehre Gottes ein Telos vorgegeben wird, ist sein Handeln ein begleitetes, geleitetes und damit orientiertes Handeln. Hier zeichnet sich so etwas wie eine kleine Ordnung der Zwecke, eine „Teleologie en miniature“ ab. Ich komme darauf, ebenso wie auf die beiden Begriffe „Rechtfertigung“ und „Heiligung“, diese klassischen Topoi, im weiteren Verlauf der Ausführungen nochmals zurück. Doch halten wir zunächst fest: Die Dankbarkeit ist als Motiv eingebunden in diese spezifisch soteriologische Matrix. Dankbarkeit wird also keineswegs isoliert behandelt und nicht einfach als Motivator vorausgesetzt, sondern man kann sie nur im Kontext von Rechtfertigung und vor allem Heiligung recht verstehen. Ohne Beachtung dieser kontextuellen Einbettung gerät man bei der Bestimmung des Ansatzes des Heidelbergers unwillkürlich in die Aporien einer Motivationsethik. Die affektiven Dimensionen der Moral, die motivierend sind, können nicht erzwungen, etwa die Fähigkeit zur Empathie nicht mittels moralischer Regelwerke dekretiert werden.29 29

Vgl. R. ZIMMERMANN, Die Ethico-Ästhetik der Gleichnisse Jesu. Ethik durch literarische Ästhetik am Beispiel der Parabel im Matthäus-Evangelium, in: F.W. HORN / R. ZIMMERMANN (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik / Contexts and Norms of New Testament Ethics 1, Tübingen 2009, (235–265) 241.

3. Die Ethik des Heidelberger Katechismus als Ethik des neuen Menschen

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Weitet man nun wieder den Blickwinkel und betrachtet den weiteren Kontext der Frage 86, so sticht in den Fragen 87–90, die der Auslegung des Dekalogs (Frage 91–113) vorgeschaltet sind, ein Signalwort bzw. ein Gegensatzpaar hervor: Der Begriff „neu“ bzw. das Begriffspaar „alt/neu“. In Frage 88 ist vom „Absterben des alten Menschen“ und dem „Auferstehen des neuen Menschen“ als Erläuterung der Begriffe „Buße“ bzw. „Bekehrung“ die Rede. Das Absterben des „alten Menschen“ wird daraufhin in Frage 89 als „Sich die Sünde von Herzen leid sein lassen und sie je länger je mehr [zu] hassen und [zu] fliehen“ erläutert. Das „Auferstehen des neuen Menschen“ erfährt in Frage 90 eine Definition als „herzliche Freude in Gott durch Christus […] und Lust und Liebe, nach dem Willen Gottes in allen guten Werken zu leben“. Nimmt man noch die bereits erwähnte Frage 86 mit ihrer Betonung der „Erneuerung“ des Menschen zum Ebenbild Christi durch den Heiligen Geist hinzu, so wird eines sehr deutlich: Das Subjekt der Ethik – oder sagen wir vorsichtiger: das Subjekt des Ethos und der Moral, denn Ethik ist ja bereits die Reflexion auf Ethos und Moral hin30 –, wie es der Heidelberger anvisiert, ist der neue bzw. der erneuerte Mensch. Er steht im Zentrum der Ethik des Heidelbergers und prägt dessen Ansatz. Schaut man sich die Ethikentwürfe des 20. Jahrhunderts an, so gibt es einen Entwurf, der genau diese Bestimmung zu seinem Ausgangspunkt gemacht hat. Ich meine die posthum erschienene „Sozialethik“ des Göttinger Theologen Ernst Wolf.31 Dort wird einleitend „Der wirkliche – neue – Mensch als Ziel der ethischen Forderung und als Subjekt des ethischen Handelns“32 bestimmt. Wolf stellt fest: „Wir setzen […] im Unterschied zu anderen Ethiken ein beim Problem des 30 31

Vgl. W. LIENEMANN, Grundinformation, 14ff. Im Bereich der biomedizinischen Ethik wurde dieser Ansatz u.a. aufgegriffen von: S. HEUSER, Die Menschheit bewahren? Eine christologische Reflexion im Anschluss an Jürgen Habermas’ Thesen zur Bioethik, EvTh 64 (2004), 20–36; DERS., Menschenwürde. Eine theologische Erkundung, EThD 8, Münster 2004, bes. 245–268; M. HOFHEINZ, Der neue Mensch. Zur Renaissance der Apokalyptik in der aktuellen biomedizinethischen Debatte, in: B.U. SCHIPPER / G. PLASGER (Hg.), Apokalyptik und kein Ende?, BThS 29, Göttingen 2007, 169–189; im Blick auf die bildungstheoretische Debatte: M. HOFHEINZ, „Ach, bild mich ganz nach Dir“. Zur bildungstheoretischen und urteilspraktischen Relevanz der Gottebenbildlichkeit Jesu Christi für eine narrative Ethik, in: I. SCHOBERTH (Hg.), Urteilen lernen – Grundlegung und Kontexte ethischer Urteilsbildung, Göttingen 2012, 214–230; I. SCHOBERTH, Glauben-lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie, CThM.C 28, Stuttgart 1998, bes. 234f.; DIES., Jesus Christus und die Bildung – Dramaturgisches zum Bildungsverständnis christlicher Religion – christologisch gebildet? Jahrbuch für kirchliche Bildungsarbeit 5 (2011), 29–39. 32 E. WOLF, Sozialethik. Theologische Grundfragen, hg. von TH. STROHM, Göttingen 3 1988, 16.

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II. Wie neue Menschen leben

‚neuen Menschen‘.“33 Dies entspricht exakt dem Ansatz des Heidelberger Katechismus. Nicht der allgemein sittliche Mensch wird hier als Subjekt der Ethik bestimmt, sondern der Mensch, der als neues Geschöpf in Christus wirklicher Mensch ist. Der Heidelberger und Wolf verstehen theologische Ethik damit als Explikation theologischer Anthropologie, wohlgemerkt in einem spezifischen Sinne: Nicht in dem Sinne, dass das Humanum dem Christianum vorgeordnet wird,34 sondern so, dass das, was das Humanum ausmacht,35 durch Christus selbst, den wahren, wirklichen Menschen, erschlossen wird.36 Das Humanum erfährt mit anderen Worten eine christologische Entschlüsselung, sofern Christus nämlich in Anlehnung an das Chalcedonense als verus homo verstanden wird.37 Das Motto dieses Ansatzes bildet das auf Christus bezogene Diktum des Pilatus: Ecce homo – seht, welch ein Mensch (Joh 19,5). Wolf bemerkt dementsprechend: „[E]rst am ecce homo enthüllt sich, was der Mensch ist, und doch immer wieder nicht sein will.“38 Es dürfte kein Geheimnis sein, dass natürlich die Barthsche Theologie hinsichtlich dieser christologischen Grundentscheidungen in der Anthropologie Pate steht. Und so findet sich etwa der Verweis auf das Dankbarkeitsmotiv im Zusammenhang der christologischen Rede vom neuen Menschen auch bei Barth: „Kann und muß man die guten Werke des neuen Menschen gewiß (mit dem Heidelberger Katechismus) als Werke der Dankbarkeit verstehen, so muß man doch die Dankbarkeit, die eucharistia selbst als erstes und grundlegendes, von Gott gegebenes charisma, als Werk seines charis verstehen. Denn unmittelbar die Gabe selbst und als solche: die göttliche Barmherzigkeit und Vergebung, die Gotteskindschaft und ihr nach allen Dimensionen wirksamer Trost […] ist die an den neuen Menschen gerichtete Forderung. Dieser neue 33 34 35

A.a.O., 18. Vgl. W. TRILLHAAS, Ethik, Berlin 21965, 13–17. Vgl. E. WOLF, Peregrinatio II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenregiment und zur Sozialethik, München 1965, 135f.; 138: Das Christianum „ist das radikale Nein zum philosophischen Menschenbild des abendländischen Humanismus, zu seinen Ideen, Idealen und Illusionen; und eben darum läßt dieses Nein wichtige Elemente dieses Menschenbildes durchaus gelten. Es macht das humanum nicht zum profanum. Die Profanisierung des humanum, seine Dehumanisierung überläßt es dem Humanismus selbst. – Man darf also jenes radikale Nein nicht als voreiliges Gericht über die Welt seitens der Kirche mißverstehen. […] Und sie wird von da aus offen sein müssen für alle Elemente der weltimmanenten Humanität, der humanistischen humanitas, wo immer sie begegnen.“ Hervorhebungen im Original. 36 Vgl. E. WOLF, Sozialethik, 16: „[E]s gibt nur eine Möglichkeit zu gültiger Rede über den Menschen, nämlich daß Gott redet. Die Rede Gottes aber heißt Christus.“ Hervorhebungen im Original. 37 Vgl. W. SCHOBERTH, Einführung in die Anthropologie, Darmstadt 2006, 25; 113f.; 129. 38 E. WOLF, Sozialethik, 17; DERS., Peregrinatio II, 133. Hervorhebung im Original.

4. Die Menschwerdung des Menschen als moralische Subjektwerdung

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Mensch lebte gar nicht, wenn er nicht unter dem Anspruch dieser Forderung stünde, wenn er sie sich nicht zu eigen gemacht hätte. Sie ist geradezu sein eigener Lebensanspruch, den er als solchen gar nicht preisgeben und verleugnen kann.“39

Wenn wir diese Sätze lesen, so bemerken wir gewiss: Der Heidelberger hat nicht Barth, sondern Barth hat den Heidelberger gelesen. Es ist mir wichtig zu betonen, dass es sich bei dieser christologischen Lesart nicht um eine Eintragung einer Barthschen theologischen Grundentscheidung in den Heidelberger handelt. Die Frage 86 widerlegt diesen Verdacht, indem sie die Rede von der Erneuerung des Menschen durch den Heiligen Geist explizit auf Christus als das Ebenbild bezieht: „erneuert zu Christi Ebenbild“ – heißt es dort. Damit wird deutlich erkennbar der biblische Sprachgebrauch von Christus als dem Ebenbild Gottes / eikon tou theou (Kol 1,15; 2Kor 4,4 etc.) aufgegriffen. Von Christus her, als wahrem Menschen und wahrem Gott, will die imago Dei und die imago homini verstanden werden und dies wiederum ist gemäß dem Ansatz Wolfs und des Heidelbergers schlechthin konstitutiv für die theologische Ethik. Mit Ernst Wolf gesprochen: „Theologische Ethik ist unter der Wirklichkeit der Rechtfertigung theologische Anthropologie als Begründung der Wirklichkeit des neuen Menschen. Die Bewegung, die am Menschen, ‚mit‘ ihm geschieht, hat das Telos der ‚reformata et perfecta imago Dei‘.“40 4. Die Menschwerdung des Menschen als moralische Subjektwerdung Auch die Rede vom „neuen Menschen“, die der Heidelberger vor allem in den Fragen 88, 89 und 90 entfaltet, entwindet er gleichsam biblischer, näherhin paulinischer Anschauung. Ich erläutere dies kurz: Paulus zufolge gibt es mitten in dieser unerlösten, ihrem Ende entgegeneilenden Welt gemäß der überlappenden Gleichzeitigkeit von altem, sukzessive absterbendem Äon und neuem, bereits begonnenem Äon,41 welche für die Dialektik des „schon jetzt“ und „noch nicht“ 39 40 41

K. BARTH, KD II/2, 776. Hervorhebungen im Original. TH. STROHM, Einführung, in: E. WOLF, Sozialethik, XII. In dieser Zeit bewegt sich auch die theologische Ethik: „[...] in der Differenz zwischen Weltzeit und Neuschöpfung. [...] Es ist die Zeit einer neuen Ethik: eines neuen Lebens mit Gott, die Zeit geschöpflichen Lebens, als die in die Welt einbrechende Zeit.“ H.G. ULRICH, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 441. Dort z.T. kursiv. Vgl. auch DERS., Eschatologie und Ethik. Die theologische Theorie der Ethik in ihrer Beziehung auf die Rede von Gott seit Friedrich Schleiermacher, BeEvTh 104, München 1988, 178.

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II. Wie neue Menschen leben

konstitutiv ist, die neue Schöpfung:42 „Ist jemand in Christus – neue Schöpfung“ (2Kor 5,17; vgl. Jes 65,17–19). Der Apostel entfaltet eine „vision of Christian existence between the times“43: „[T]he new creation is not just a future hope, as in most forms of Jewish apocalyptic thought; rather, the redemptive power of God has already broken into the present time, and the form of this world is already passing away.“44 Paulus sieht in der „neuen Schöpfung“ eine schon gegenwärtige Realität, die er freudig jubelnd begrüßt.45 Der an der neuen Schöpfung teilhabende Mensch ist nach Paulus der wirkliche Mensch. Dieser Bestimmung folgt nicht nur Luther mit seiner Rede vom „inneren Menschen“,46 sondern auch der Heidelberger mit seiner Rede vom „neuen Menschen“. Der Heidelberger artikuliert näherhin den eschatologischen Vorbehalt mit seiner Rede vom Zugleich des Absterbens des alten Menschen und Auferstehens des neuen Menschen (Frage 88).47 Das heißt, wie Gerhard Sauter treffend hervorhebt, dass der neue Mensch einerseits bereits real im Sinne von präsentisch,

42

Vgl. R.B. HAYS, The Moral Vision of the New Testament. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, New York 1996, 20: „[F]or Paul, ktisis (‚creation‘) refers to the whole created order (cf. Rom. 8:8–25). He is proclaiming the apocalyptic message that through the cross God has nullified the kosmos of sin and death and brought a new kosmos into being. That is why Paul can describe himself and his readers as those ‚on whom the ends of ages have met‘ (1 Cor. 10:11). The old age is passing away (cf. 1 Cor. 7:31b), the new age has appeared in Christ, and the church stands at the juncture between them.“ Hervorhebungen im Original. 43 A.a.O., 25. 44 A.a.O., 21. Vgl. U. SCHNELLE, Die Begründung und die Gestalt der Ethik bei Paulus, in: R. GEBAUER / M. MEISER (Hg.), Die bleibende Gegenwart des Evangeliums. FS O. Merk, MThSt 76, Marburg 2003, (109–131) 117f.: „Nicht nur ein neues Seinsverständnis, sondern das neue Sein selbst hat in einem umfassenden Sinn bereits begonnen! [...] Die noch ausstehende Vollendung des Heils schmälert in keiner Weise die Überzeugung, dass der Transfer in das neue Sein bereits wirkmächtig erfolgte, denn das bereits Geschehene und nicht das Ausstehende ist der entscheidende Inhalt des paulinischen Evangeliums.“ Hervorhebungen im Original. 45 V.P. Furnish spricht von einem „exultant cry“ (V.P. FURNISH, II Corinthians, AncB 32 A, Garden City / New York 1984, 333), R.B. Hays von „an exclamatory interjection“ (R.B. HAYS, Vision, 20). 46 Vgl. M. LUTHER, WA 7,20–38 (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520). Dazu: R. HÜTTER, Martin Luther and Johannes Dietenberger on „Good Works“, in: Lutheran Quaterly 6 (1992), (127–152) bes. 134–136; B. WANNENWETSCH, Luther’s Moral Theology, in: D.K. MCKIM (Hg.), The Cambridge Companion to Martin Luther, Cambridge 2003, (120–135) 127f. 47 Vgl. E. WOLF, Sozialethik, 19: „Es ist der neue Mensch als Ergebnis der Menschwerdung des Menschen und zugleich als eschatologisch zu begreifende Wirklichkeit inmitten der verwirklichten Menschlichkeit, der Nichtigkeit der ‚ktisis‘ (Röm 8,20), der Macht der Sünde.“

4. Die Menschwerdung des Menschen als moralische Subjektwerdung

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andererseits noch „auf dem Wege [ist], Christus, dem wahrhaften Ebenbild Gottes, ‚gleichgestaltet‘ zu werden (Röm 8,29)“.48 Es geht tatsächlich um ein Werden, nicht etwa um ein starres Seins, nicht um ein esse, sondern ein fieri.49 So betont es Hans G. Ulrich in seinem Ethikentwurf „Wie Geschöpfe leben“ und er tut dies im Anschluss an seinen Lehrer Ernst Wolf, der bereits von der „Menschwerdung des Menschen“ als dem eigentlichen Gegenstand der Ethik50 sprach: „Der […] ermittelte grundlegende Satz, der zugleich die ganze Anthropologie des stoisch-christlichen abendländischen Humanismus, die Anthropologie des ‚animal rationale et sociabile‘, in Frage stellt, lautet: ‚Die menschliche Existenz ist nicht ein Sein, sondern die Möglichkeit.‘ ‚Das Tier ist, der Gott ist‘, der Mensch ‚ist nicht einmal Mensch, er ist auf dem Wege der Menschwerdung‘. Diese Menschwerdung ist aber nicht eine dem Menschen immanente und somit verfügbare Möglichkeit, sondern empfängt ihr Licht von der biblischen Rede von der Erschaffung des Menschen durch Gott.“51

Dieser reformatorischen Logik eines eschatologischen Realismus folgt der Heidelberger. Und er tut dies auf eine höchst spannende, ja aufregende Weise, indem er eine Frage thematisiert, die wir erst jüngst in den ethischen Diskursen wiederzuentdecken beginnen: Ich meine die Frage nach der moralischen Subjektwerdung.52 Der Heidelberger thematisiert mit der Menschwerdung genau dies: die Frage nach der moralischen Subjektwerdung: Wie lernen wir es, Menschen zu werden, die gute Werke tun?53 Diese Frage erweist sich nicht zuletzt im Blick auf die Moralerziehung als entscheidend. 48

G. SAUTER, Das verborgene Leben. Eine theologische Anthropologie, Gütersloh 2011, 121. Vgl. a.a.O., 122: „Der innere Mensch ist keine innere Stimme, der alles Äußere gleichgültig ist oder die sich gegen Äußerliches wehrt; er hat auch nicht Christi Wort verinnerlicht, ebenso wenig wie Gottes ausgesprochenen Willen. Es ist das ‚Ich‘ des in Christus Lebenden‘, ‚welches hier von seiner Vergangenheit spricht‘: Es wird sich im Lichte Christi als ‚in seinem Leibe Gefangenen‘ der Sünde ‚durchsichtig‘. Und dieses Ich spricht zugleich seine Zukunft an: sein mit Christus verborgenes Leben, aus dem es existiert.“ Die eschatologische Spannung bringt Sauter (a.a.O., 150f.) treffend auf den Punkt, wenn er feststellt: „‚In Christus‘ sind sie, weil sie in seine Geschichte einbezogen wurden, doch was sie hier sein werden, hat sich noch nicht herausgestellt (1Joh 3,2).“ 49 H.G. ULRICH, Geschöpfe, 47; 69; 98; 240; 322f.; 332 u.ö. 50 So auch a.a.O., 48; 261; 282; 305 u.ö. 51 E. WOLF, Sozialethik, 16f. Vgl. DERS., Peregrinatio II, 132. 52 Vgl. etwa J. BUTLER, Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002, Frankfurt a.M. 2003, 144: „Ethik erfordert, dass wir uns eben dort aufs Spiel setzen, in diesen Momenten des Unwissens. Wo das, was uns bedingt und uns vorausliegt, voneinander abweicht, wo in unserer Bereitschaft, anders zu werden, als dieses Subjekt zugrunde zu gehen, unsere Chance liegt, menschlicher zu werden, ein Werden, dessen Notwendigkeit kein Ende kennt.“ Hervorhebung im Original. 53 Vgl. H.G. ULRICH, Geschöpfe, 68f.

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II. Wie neue Menschen leben

Wie bedeutsam diese Frage ist, kann man sich am Gleichnis vom barmherzigen Samariter klarmachen. Es ist vielfach beobachtet worden, dass mit Jesu Verschiebung der Frage des Pharisäers: „Wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,29) zu: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ (Lk 10,36) ein Perspektivwechsel stattfindet: weg vom Objekt und hin zum Subjekt des Helfens. Ruben Zimmermann hebt indes hervor: „Aber das ist nicht alles. Es geht um einen kategorialen Sprung im ethischen System. Die Formulierung lautet genau genommen: tis … plesion … gegonai, die Übersetzung ‚Nächster gewesen‘ (Luther/Einheitsübersetzung) ist eigentlich unpräzise: ginomai heißt: ‚zum Dasein gelangen, zu etwas werden‘, also ‚Wer ist Nächster geworden?‘ Ich verstehe diese Formulierung [mit Ruben Zimmermann; M.H.] so, dass es weniger um die Statusbeschreibung oder die Handlungsweise eines ‚Nächsten-Subjektes‘ als um den Prozess der ‚Nächstenwerdung‘ selbst geht.“54

Die Parabel weist uns somit darauf hin, dass die entscheidende Frage nicht etwa lautet: Was sollen wir als moralische Subjekte tun? Sondern die eigentliche Frage lautet: Wie werden wir Subjekte des guten Handelns? Daraufhin hat die Ethik zu reflektieren. Lassen Sie uns nun genau hinsehen, wie der Heidelberger mit dieser Frage umgeht. Bereits der Aufbau des dritten Teils gibt eine schlüssige Antwort, indem dort der Dekalog ausgelegt und das Unser-Vater55 interpretiert werden. Das heißt: Als neue Menschen und in diesem Sinne als moralische Subjekte zu leben lernen wir, indem wir uns zum einen einüben ins Gelten-Lassen der Gebote Gottes56 und zum anderen indem wir beten57 lernen.58 Auch der in Christus bereits neue 54

R. ZIMMERMANN, Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter). Lk 10,30–35, in: DERS. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, (538–555) 549. Hervorhebungen im Original. Ähnlich B. WANNENWETSCH, „Materiale Ethik“, 120. 55 Vgl. zur Unser-Vater-Auslegung des Heidelbergers G.W. LOCHER, „Das vornehmste Stück der Dankbarkeit“, EvTh 17 (1957), (563–578) 569. Zum Ort des Gebets in der Ethik vgl. auch M. HAILER, Ethik, 295–300. 56 W. Lienemann versteht die „[t]heologisch-kirchliche Ethik als Hilfe zur Einübung einer gemeinschaftlichen Praxis“ bzw. als „Einübung ins Christentum“. Dabei handle es sich „um einen lebenslangen Vorgang, welchen Dietrich Ritschl als ein ‚Hineinschlüpfen in die ‚story‘ des Gottesvolkes‘ bezeichnet hat – also eine teilnehmende Beobachtung und kritisch beobachtende Teilnahme an der befreienden, heilenden, immer wieder gefährlichen und irritierenden Praxis des Gottesvolkes aus Juden und Christen.“ W. LIENEMANN, Grundinformation, 175. 57 Vgl. H.G. ULRICH, Ethik lernen mit dem Vaterunser. Das Gebet als paradigmatische Praxis einer Lebensform, in: E. THAIDIGSMANN / J. VON LÜPKE (Hg.), Denkraum Katechismus. FS Oswald Bayer, Tübingen 2009, 435–448. 58 Vgl. D. BONHOEFFER, Widerstand und Ergebung, DBW 8, hg. von CH. GREMMELS u.a., Gütersloh 1998, 43: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten.“

4. Die Menschwerdung des Menschen als moralische Subjektwerdung

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Mensch muss dies beides noch lernen. Beides gehört zur Praxis der Lebensform des „Seins in Christus“. Der neue Mensch ist zwar bereits in Christus präsent und präsentisch, aber die Vollendung dieses Seins steht noch aus. Sein Sein ist noch im Werden. Am treffendsten hat vielleicht Karl Barth dieses „Sein in Christus“ umschrieben, indem er – wie zuletzt George Hunsinger gezeigt hat – aspektivisch bzw. dialektisch von ihm gesprochen hat, nämlich als zugleich „real, hidden and yet to come“.59 Der neue Mensch ist also noch nicht fertig. Und der Heidelberger erweist sich keineswegs als an fertige Christenmenschen adressiert. Angesprochen ist nicht die societas perfecta, sondern angeredet werden neue als noch der Erneuerung bedürftige Christenmenschen. Die „Wir“, mit denen Frage 86 in der Antwort anhebt, sind die im fieri, also im Werden begriffenen neuen Menschen, die eine Gemeinschaft bilden, ja mehr noch zu einer Gemeinschaft gebildet werden.60 Insofern, aber wirklich nur insofern vertritt der Heidelberger community ethics.61 Diese community ist bei Lichte betrachtet eine Schulgemeinschaft, so etwas wie eine Schulklasse. Will sagen: Auch die neuen Menschen müssen noch zur Schule gehen. Aber sie sind bereits beschulbar. Den Schulweg62 dieser beschulbaren neuen Menschen beschreibt der Heidelberger in seinem dritten Teil. Ja, man wird präziser noch sagen können, dass der Heidelberger selbst als Schulung des neuen Menschen verstanden werden will. Wie schult uns der Heidelberger? Nicht, indem er uns Schläge androht. Der Heidelberger exekutiert keine „schwarze Pädagogik“. So kommt er erst in Frage 91 auf das Gesetz zu sprechen. Erst ganz am Ende der Dekalogsauslegung, nämlich in Frage 115, wird der usus elenchticus, der der Sünde überführende Gebrauch des Gesetzes entfaltet. Der usus politicus taucht auch erst in der Auslegung des 5. Gebots, des Tötungsverbots, in Frage 105 auf. Und auch hier erfolgt keine Drohung mit dem Gesetz, sondern das Gebot Gottes wird auf die Rechtsordnung des funktional interpretierten Staates63 bezogen: 59

Vgl. G. HUNSINGER, How to Read Karl Barth. The Shape of His Theology, Oxford 1990, 124: „The truth of our being in Christ, as Barth understands it, is not only real and hidden; it is also yet to come.“ 60 Vgl. H.G. ULRICH, Geschöpfe, 317. 61 Vgl. R. HÜTTER, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik, Neukirchen-Vluyn 1993; B. WANNENWETSCH, Ecclesiology and Ethics, in: G.C. MEILAENDER / W. WERPEHOWSKI (Hg.), The Oxford Handbook of Theological Ethics, Oxford 2005, 57–73. 62 Vom „Katechismus als Wegbeschreibung“ spricht W. HÄRLE in gleichnamigem Aufsatz, in: THAIDIGSMANN / VON LÜPKE (Hg.), Denkraum, 55–68. 63 So auch E. BUSCH, Freiheit, 266. Vgl. DERS., Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 191–214.

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II. Wie neue Menschen leben

„Darum hat auch der Staat den Auftrag, durch seine Rechtordnung das Töten zu verhindern.“ Grundsätzlich wird man mit Ch. Link festhalten können, dass der Heidelberger in seinem dritten Teil „das Gesetz als evangelische Weisung [versteht], die den Anspruch dieser Erneuerung [zum Ebenbild Christi gemäß Frage 86; M.H.] praktisch werden lässt“.64 Die gesamte Dekalogauslegung des Heidelbergers kann im Sinne des dritten Gesetzesgebrauchs (tertius usus legis), d.h. des sog. usus in renatis, verstanden werden.65 Dies kommt besonders stark in Frage 91 zum Ausdruck, in der davon die Rede ist, dass die guten Werke „nach dem Gesetz Gottes“ geschehen. Es bildet so etwas wie eine Lernhilfe für die Schülerinnen und Schüler. Auf dem Schulweg möchte es gleichsam ausgeschritten werden.66 Deshalb nimmt es in Gestalt der Dekalogsauslegung so breiten Raum im Katechismus ein. Unmittelbar bevor der Heidelberger zum ersten Mal im dritten Teil auf das Gesetz zu sprechen kommt, wirbt er in Frage 90 um die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler, sprich: der neuen Menschen. Und er tut dies als guter Pädagoge, indem er nicht nur kognitive Lernzieldimensionen ins Spiel bringt, sondern auch interaktionelle bzw. soziale und vor allem affektive. In Frage 90 heißt es: „Was heißt Auferstehen des neuen Menschen? Herzliche Freude in Gott durch Christus haben und Lust und Liebe, nach dem Willen Gottes in allen guten Werken zu leben.“ Man beachte die signifikante Terminologie des Emotionalen und Affektiven, die sich in dieser sprachlichen Wendung manifestiert.67 Mit „herzlicher Freude“, mit „Lust und Liebe“ bringt der Heidelberger die Affekte mit ins Spiel. Und er tut gut daran.68 Wir wissen heute aus der Emotionsforschung, was den Verfassern des Heidelbergers

64

CH. LINK, Trost und Gewissheit. Beobachtungen zur Theologie des Heidelberger Katechismus, EvTh 72 (2012), (467–480) 478. 65 Vgl. M. BEINTKER, Der Ansatz der Ethik im Heidelberger Katechismus, (1–11) 10, www.reformiert-info.de/2496-0-0-20-html (17.07.2012). 66 So anschaulich B. WANNENWETSCH, „Walking the torah“. Explorer le champ moral a la lumière des commandements de Dieu, Revue des Sciences Religieuses 82 (2008), 371–387. Fernerhin: B. BROCK, Singing the Ethos of God. On the Place of Christian Ethics in Scripture, Grand Rapids 2007, 76f. 67 Der Heidelberger weiß freilich auch darum, dass Gefühle trügen können, wie Frage 129 zeigt, wo davon die Rede ist, dass Gott mein Gebet „viel gewisser erhört, als ich in meinem Herzen fühle“. 68 Treffend weist W. Lienemann darauf hin, dass „sich die Prozesse der ethischen Einübung, Identitätsfindung und Urteilsbildung keineswegs nur auf der kognitiven Ebene ab[spielen]“. W. LIENEMANN, Grundinformation, 23.

4. Die Menschwerdung des Menschen als moralische Subjektwerdung

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vermutlich eher ihre Intuition verriet, dass nämlich Affekte Gemütserregungen sind, die eine große motivationale Kraft besitzen.69 Das kann man sich wiederum am Gleichnis vom barmherzigen Samariter klarmachen: „Entscheidend ist […] das Berührtwerden, die Anteilnahme im Innersten, wie es plastisch im griechischen Text ausgedrückt wird […]. Das Leid des anderen wird nicht nur reflektiert, sondern ganzheitlich erfahren, erlitten, ist ‚Mit-leid‘ im wahrsten Sinne des Wortes. In dieser Weise wird das Mitleiden-Können zum narrativen Wendepunkt der Parabel […]. Die Kategorie des Nächsten erschließt sich nicht über eine Bestimmung des ‚Nächsten‘ als Adressat oder Objekt meiner Liebesbemühungen, sondern nur indem ich durch mein Mit-leiden selbst zum Nächsten werde.“70

Melanchthon, der – wie bereits erwähnt – betonte, dass man dem Herzen nicht befehlen kann, einen Affekt hervorzubringen, bemerkt nun auch: „Ein Affekt wird nur durch einen Affekt bezwungen.“71 Das heißt: „Aufgeben kann [das Herz] ihn [den Affekt] [nur; M.H.], wenn dieser Affekt, von dem es besetzt ist, von einer heftigeren Leidenschaft überwunden wurde.“72 Und genau dies scheint mir die Logik des Heidelbergers zu sein: Wenn Dankbarkeit sich nicht einstellen will, dann nutzt es nichts, diese appellativ erzwingen zu wollen, sondern dann kann man nur affektive als effektive Gegenimpulse setzen. Durch solche Gegenimpulse ermutigt der Heidelberger seine Leserinnen und Leser zur Menschwerdung, d.h. zum Auf(er)stehen des neuen Menschen. Der Heidelberger fordert demnach nicht einfach unvermittelt zu guten Werken auf. Nein, die „guten Werke“ kommen in Frage 90 in einer sehr beachtenswerten Weise sprachlich-metaphorisch ins Spiel, die an Eph 2,10 anknüpfen dürfte,73 wo vom „Wandeln in guten Werken“

69

Vgl. CH. AMMANN, Emotionen – Seismographen der Bedeutung. Ihre Relevanz für eine christliche Ethik, Forum Systematik 26, Stuttgart 2007. 70 R. ZIMMERMANN, Liebe, 549. Ähnlich B. WANNENWETSCH, Gottesdienst als Lebensform – Ethik für Christenmenschen, Stuttgart u.a. 1997, 238. Vgl. zur MitleidsThematik fernerhin: I.U. DALFERTH / A. HUNZIKER (Hg.), Mitleid. Konkretionen eines strittigen Konzepts, Tübingen 2007, bes. 289–305. 71 MELANCHTHON, Loci communes (1521), I,44: „[…] affectus affectu vincitur.“ Dazu: H.-G. GEYER, Philipp Melanchthon. Ein Geist in der Spannung zwischen Humanismus und Reformation, in: R. WETH (Hg.), Was hat die Kirche zu sagen? Auftrag und Freiheit der Kirche in der politischen Gesellschaft, Neukirchen-Vluyn 1998, (170–187) 183; B. WANNENWETSCH, Affekt, 213–215. 72 MELANCHTHON, Loci communes (1521), I,55: „Ponit autem, cum vehementiori cupidiate victus fuerit hic affectus, quo occupatur.“ 73 Zu Luthers Verständnis von Eph 2,10 vgl. B. WANNENWETSCH, Theology, 129f.

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II. Wie neue Menschen leben

die Rede ist.74 Auch der Heidelberger spricht von einem Leben „in allen guten Werken“. Das heißt, dass die guten Werke nicht als Imperativ, nicht als jene harte Forderung eingeführt werden, die da lautet: „Tut nun endlich gute Werke!“ Nein, die guten Werke erscheinen, wenn man so will, im Kasus des Lokativs. Die guten Werke haben einen Raum und bilden einen Raum, einen Ort, ein Ethos,75 eine Heimat, wo sie zu Hause sind und wo sie aufgefunden werden.76 Diese Heimat ist das Leben „in Gott durch Christus“, wie es in Frage 90 heißt. Frage 91 beschreibt diesen Raum als Raum des wahren Glaubens, insofern die guten Werke „aus wahrem Glauben“ geschehen. Rechtes menschliches Tun und Trachten vollzieht sich immer „raum-gemäß“. Das christliche Leben als Glaubensleben ist der Ort der guten Werke und die guten Werke sind wiederum der Ort, wo sich das christliche Leben realisiert. Die zu diesem christlichen Leben gehörende Lebensform versteht der Heidelberger als „Auferstehung“ (vgl. Kol 2,12; 3,1; Eph 2,6). Wir sehen, dass der Heidelberger im „Klassenraum Katechismus“ so etwas wie eine „kleine Topologie guter Werke“ entwirft. Er ermuntert und ermutigt uns als Leserinnen und Leser, uns in diesem Raum des christlichen Lebens, der der Ort der guten Werke ist, heimisch zu werden, dort zu bleiben, am Unterrichtsgeschehen teilzunehmen und uns dort prägen zu lassen. Er weiß darum, dass es keinen besseren formativen Kontext gibt. 5. Heiligung: Das „mehr und mehr“ Vom Partialaspekt des progressus In diesem Zusammenhang muss nun noch eine Redewendung thematisiert werden, die gehäuft auftritt. Ich meine jenes „mehr und mehr“, das man als „Komparativ der Heiligung“ bezeichnen kann. Am aussagekräftigsten fällt sicherlich Frage 70 aus, in deren Antwort auf die 74

Vgl. E. WOLF, Politia Christi. Das Problem der Sozialethik im Luthertum, in: Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, (214–242) 239: „Die Sozialethik tritt so zuletzt unter den Nenner der ‚guten Werke‘, d.h. sie ist Aufgabe des Glaubensgehorsams in dieser Welt. Auftrag der christlichen Freiheit zu Werken der Heiligung.“ Fernerhin: H.G. ULRICH, Geschöpfe, 461f. 75 M. Heidegger bestimmt den Begriff des „Ethos“ „als Aufenthalt, Ort des Wohnens. Das Wort nennt den offenen Bezirk, worin der Mensch wohnt“ (M. HEIDEGGER, Brief über den Humanismus, in: DERS., Wegmarken, GA 9, Frankfurt a.M. 1975, [313–364] 354). 76 Ch. Link greift die Raum-Metapher auf und akzentuiert treffend, dass das Gebot nach Frage 86 „uns in seinen ideologiefreien Raum stellen [will], statt uns erneut problematischen menschlichen Bindungen zu unterwerfen.“ CH. LINK, Trost, 479. DERS.,

5. Heiligung: Das „mehr und mehr“

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Frage: „Was heißt, mit dem Blut und Geist Christi gewaschen sein?“ der Begriff der „Heiligung“ explizit gebraucht wird: „Es heißt […], durch den Heiligen Geist erneuert und zu einem Glied Christi geheiligt sein, so dass wir je länger je mehr der Sünde absterben und ein Leben führen, das Gott gefällt.“ Auch in Frage 76 ist in der Abendmahlslehre des Heidelbergers davon die Rede, dass wir im Abendmahl „durch den Heiligen Geist, der zugleich in Christus und in uns wohnt, mit seinem verherrlichten Leib mehr und mehr vereinigt werden“. Von einem „mehr und mehr“ der Stärkung im Glauben am Tisch des Herrn spricht auch Frage 81. Im uns primär interessierenden dritten Teil des Heidelbergers klärt Frage 89, dass das Absterben des alten Menschen meint, die Sünde „je länger je mehr“ zu hassen. Ebenfalls betont Frage 115, dass wir anhand der zehn Gebote „unsere sündige Art je länger, je mehr erkennen“ und „je länger, je mehr zum Ebenbild Gottes erneuert werden“.77 Und schließlich wird die zweite Bitte des Unser-Vaters „Dein Reich komme“ in Frage 123 als Bitte um Gottes Wort und Geist gedeutet, auf „dass wir dir [Gott; M.H.] je länger, je mehr gehorchen […], bis die Vollendung deines Reiches kommt“. In allen diesen genannten Belegstellen manifestiert sich die Vorstellung von der Heiligung als einem Wachstum in der Gemeinschaft, in der Vereinigung mit Christus.78 Der Heidelberger nimmt in diesen Passagen deutlich erkennbar den Akzent Johannes Calvins auf,79 der den Topos der Heiligung distinkt wie kein zweiter Reformator artikuliert hat. Calvin betont dabei nachdrücklich den Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung, indem er von der doppelten Gnade [duplex gratia] spricht: „Durch die Gemeinschaft mit ihm [Christus; M.H.] empfangen wir vornehmlich eine doppelte Gnade: Einerseits werden wir durch seine Unschuld mit Gott versöhnt, so daß er jetzt nicht mehr unser Richter ist, sondern wir an ihm unseren gnädigen Vater im Himmel haben, und andererseits werden wir durch seinen Geist geheiligt und trachten nun nach Unschuld und Reinheit des Lebens.“80

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Link weist zu Recht darauf hin, dass das Gebet „uns bis an die Grenze, vor der der Dekalog halt macht [führt], die Bitte um unsere Erneuerung zum Ebenbild Gottes, ‚bis wir das Ziel der Vollkommenheit nach diesem Leben erreichen‘ (Fr. 115)“. A.a.O., 479. 78 Vgl. G. PLASGER, Glauben heute mit dem Heidelberger Katechismus, Göttingen 2012, 169. 79 So auch a.a.O., 98. 80 Inst. (1559), III,11,1.

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II. Wie neue Menschen leben

Während Calvin allerdings die Simultanität81 von Rechtfertigung und Heiligung betont, um so die bleibende Bedeutung der Rechtfertigung für die Heiligung hervorzuheben, denkt der Heidelberger den differenzierten Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung eher im Sinne einer Grund-Folge- und nicht einer Grund-Ziel-Relation, wie Calvin dies tut:82 Dies verrät etwa Frage 1 mit der Akzentuierung des „forthin“ eines Lebens in der Heiligung, das auf die Erlösung folgt. Auch die einleitende Fragestellung zu Frage 86 betont die Erlösung als Grund und das Tun der guten Werke als Folge. Der Princetoner Theologe Daniel L. Migliore bringt die Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung, wie sie sich im Heidelberger findet, auf den Punkt: „If justification by grace through faith is the foundation of the Christian life, sanctification is the process of growth in Christian love. […] Justification is the basis and presupposition of sanctification; sanctification is the aim and consequence of justification.“83 Wilfried Joest pointiert das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung trefflich als Miteinander des „Totalaspektes des Transitus“ und des „Partialaspektes des Progressus“ im Sinne eines „Kommen[s] des Christus zu uns herein“.84 Für Calvin ist indes ebenso wie für den Heidelberger evident, dass Christus nicht nur das Subjekt der Rechtfertigung, sondern zugleich von Rechtfertigung und Heiligung ist. Der Mensch bleibt Objekt der Heiligung, indem Gott verändernd, erneuernd an ihm wirkt. Beide, Calvin und der Heidelberger, sind sich ebenfalls ganz darin einig, dass die sanctificatio keine perfectio meint. Dementsprechend wendet sich der Heidelberger gegen einen sich überhebenden Vollkommenheitswahn in Gestalt mannigfaltiger Hybridisierungen, wenn er in Frage 114 die Möglichkeit eines vollkommenen Gebotsgehorsams vehement negiert: „Nein, sondern es kommen auch die frömmsten Menschen in diesem Leben über einen geringen Anfang dieses Gehorsams nicht hinaus.“ Ebenso hebt auch Calvin die Unvollkommen81

So auch G. HUNSINGER, A Tale of Two Simultaneities. Justification and Sanctification in Calvin and Barth, in: J.C. MCDOWELL / M. HIGTON (Hg.), Conversing with Barth, Ashgate 2004, (68–89) 69: „Justification and sanctification, he [Calvin; M.H.] argued, were given to faith ‚simultaneously‘ (simul). Since the one was never given without the other, the order in which theology presented them was flexible.“ Hervorhebung im Original. 82 Zu Calvin vgl. E. BUSCH, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 46–51; D. SCHÖNBERGER, Gemeinschaft mit Christus. Eine komparative Untersuchung der Heiligungskonzeptionen Johannes Calvins, John Wesleys und Karl Barths, FRTH 2, Neukirchen-Vluyn 2014, 183–190. 83 D. MIGLIORE, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids 32014, 250f. 84 W. JOEST, Gesetz und Freiheit. Das Problem des tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 31951, 98.

6. Der identitätsethische Ansatz des Heidelberger Katechismus

59

heit hervor: Die „meisten leiden unter solcher Schwachheit, daß sie nur wankend und hinkend, ja auf dem Boden kriechend, bescheiden vorankommen“.85 Ohne Zweifel sind diese Aussagen des Heidelbergers zur Heiligung auch ethisch bedeutsam, insofern es in ihnen um jene „Menschwerdung des Menschen“ geht, wie sie bereits in Anlehnung an Ernst Wolf erläutert wurde. In der Heiligung geht es um die „Fassung der Erneuerung als ‚nova creatura en Christo‘ im Licht der Auferstehung“.86 Nochmals Ernst Wolf: „Die Heiligung ist also die Gehorsamstat des Glaubens bzw. des neuen Menschen ‚en Christo‘, worin sich seine pneumatische Neuheit manifestiert, das heißt: worin sich sein Glaube unter Anfechtung bewährt, worin sich die Neuheit des Lebens anfangsweise als Wirklichkeit erweist. Diese Manifestation, diese Bewährung und der Anbruch des neuen Lebens sind zwar in gewissen Grenzen auch erfahrbar, aber in ihrer Eigentümlichkeit, so wie sie aus dem Glauben stammen, wiederum Objekte des Glaubens, da wir im Glauben stehen und noch nicht im Schauen.“87

6. Der identitätsethische Ansatz des Heidelberger Katechismus Ich komme zum Schluss nochmals auf die eingangs kurz aufgegriffene Frage zurück, mit welcher Art von Ethik wir es im Heidelberger zu tun haben. Wenn die Trias von Tugend-, Pflichten- und Güterethik zugrunde gelegt wird, fällt es bereits im Blick auf das Motiv der Dankbarkeit schwer, hier eine eindeutige Zuordnung zu treffen. So scheint es mir nicht abwegig zu sein, den Dankbarkeitsgebrauch im Heidelberger einerseits als tugendethisch zu bestimmen. Ausgerechnet der sog. „Gebotsethiker“ Karl Barth dachte in diese Richtung, wenn er in seiner „Einführung in den Heidelberger Katechismus“ sehr treffend formulierte: „Dankbarkeit ist die Haltung dessen, der aus Gnade lebt und nicht noch einmal in den Abgrund springt, aus dem er gerettet ist.“88 Andererseits hatten wir anhand von Frage 86 beobachtet, dass die Dankbarkeit durchaus als Telos der Erneuerung durch den Heiligen Geist verstanden wird. Es zeichnet sich in dieser Frage so etwas wie eine „kleine Ordnung der Zwecke“ ab. Güterethisches Denken, das ja bekanntlich das Handlungsziel in den Vordergrund rückt, scheint hier 85 86 87 88

Inst. (1559), III,6,5. E. WOLF, Sozialethik, 19. A.a.O., 22. K. BARTH, Einführung in den Heidelberger Katechismus, ThSt 63, Zürich 1960, 20. Vgl. auch M. BEINTKER, Ansatz, 2.

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II. Wie neue Menschen leben

durchaus im Hintergrund zu stehen. Und selbst eine gewisse Nähe zur Pflichtenethik ist nicht ganz von der Hand zu weisen, entfaltet der Heidelberger doch eine Dekalogsauslegung, sprich: eine Gebotsinterpretation unter der Überschrift „Von der Dankbarkeit“. Ich bin aufgrund dieses Befundes zu der Überzeugung gelangt, dass der Ansatz des Heidelbergers nicht exklusiv einem Typus innerhalb der gängigen Trias dieser Ethiktypen zugeordnet werden kann. Als Alternative schlage ich vor, den Begriff der „Identitätsethik“ zur Kennzeichnung des Ethikansatzes des Heidelbergers zu bemühen. Dieser Terminus steht gewissermaßen für einen integrativen Charakter, zumal er argumentative Anleihen bei den drei genannten Typen nicht ausschließt. Wenn ich es richtig sehe, so hat Christofer Frey diesen Begriff erstmals gebraucht und in die Diskussion eingeführt. Zugegebenermaßen hat er es jedoch bei einigen Andeutungen belassen. Ich halte diesen Begriff dennoch für geeignet, um den Ansatz des Heidelbergers zu charakterisieren, denn es geht dort in der Tat um Identitätserschließung. Den Christenmenschen soll ihr Sein als neue Menschen im Sinne jenes fieri erschlossen werden, das für das reformatorische Heiligungsverständnis charakteristisch ist. Die Frage nach der Identität hat der Heidelberger bereits in Frage 1 indirekt behandelt und darauf die Antwort gegeben, dass ich „nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre“. Der Heidelberger folgt hier Johannes Calvin, für den das bekannte Diktum: „nostri non sumus, sed Domini“89 zu einer Art Lebensmotto wurde. Grundsätzlich wird man festhalten können, dass wir nach reformatorischem Verständnis, wie es auch im Heidelberger expliziert wird, unser wahres Selbst „extra nos et in Christo“90 haben. Gerhard Sauter hat in diesem Zusammenhang treffend von der „externen Identität“91 gesprochen. Wenden wir uns von hieraus nochmals dem Problem des Dankbarkeitsmotivs zu. Lässt sich über das bereits gesagte, nämlich die integrative Zuordnung zur Tugend-, Pflichten- und Güterethik hinaus identitätsethisch noch mehr sagen? Ich denke schon. Eine Identitätsethik, sofern sie mit Ernst Wolf die „Menschwerdung des Menschen“ zu ihrem Gegenstand hat, d.h. als Ethik des neuen Menschen verstanden 89

Inst. (1559), III,7,1. Ch. Frey nennt dies das „ethische Prinzip Calvins“ (CH. FREY, Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Gütersloh 1989, 65). 90 M. LUTHER, WA 56,158,9 (Scholion zu Röm 1,1). 91 Vgl. G. SAUTER, Leben, 306; 335. Ch. Frey spricht von „geschenkte[r] Identität“ (CH. FREY, Theologische Ethik. Neukirchener Arbeitsbücher, Neukirchen-Vluyn 1990, 190).

6. Der identitätsethische Ansatz des Heidelberger Katechismus

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wird, geht davon aus, dass es sich bei der Dankbarkeit um die Dankbarkeit des neuen Menschen handelt. Das ist entscheidend. Denn wenn es tatsächlich um die Dankbarkeit des neuen Menschen geht, dann heißt das zugleich, dass es nur bedingt hilfreich ist, über das allgemein-menschliche Phänomen der Dankbarkeit zu philosophieren. Die Dankbarkeit, von der der Heidelberger spricht, ist ein Prädikat des neuen Menschen und nicht der neue Mensch ein Prädikat der Dankbarkeit. Die meisten Interpretationen der Ethik des Heidelbergers aber unterstellen genau dies. Daran kranken viele der herkömmlichen Auslegungen, die sich infolgedessen in die Fallstricke einer Motivationsethik verwickeln. Identitätsethisch können wir indes festhalten: Wenn der neue Mensch noch im Werden, im fieri begriffen ist, dann müssen wir es erst lernen, dankbar zu sein oder besser noch: dankbar zu werden. Danken im Sinne des Heidelbergers ist bedingtes Danken, nämlich ein dadurch bedingtes Danken, dass es durch die Bedingung des eschatologischen Vorbehalts, unter dem das Sein des neuen Menschen steht, konditioniert wird. Man kann vom Danken als einem „eschatologischen Sachverhalt“92 sprechen. Die Einsicht, die sich hier manifestiert, dass nämlich das Danken erlernt werden will und nur im Kontext des Werdens des neuen Menschen erlernt werden kann, spricht sich in der Schlusswendung des bekannten Liedes „Danke“ aus. Sie lautet: „Danke, ach Herr, ich will dir danken, dass ich danken kann.“ Helmut Gollwitzer hat durchaus Recht, wenn er bemerkt, dass diese Schlusszeile „ein sehr unbanaler, sehr wesentlicher Teil eines Dankgebets“93 ist. Denn der Umstand, dass ich danken kann, ist nicht selbstverständlich und kann nicht einfach vorausgesetzt werden: Das Danken im Sinne des DankbarWerdens will erlernt werden. Wie lässt sich eine Identitätsethik noch ein wenig näher und konkreter charakterisieren? Nach Christofer Frey verbirgt sich folgender Leitgedanke hinter dem programmatischen Begriff „Identitätsethik“: Identitätsethik fragt nicht nur nach der Beurteilung von Handlungen,

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M. Beintker erkennt in der Freude einen „eschatologische[n] Sachverhalt“ (M. BEINTKER, Ansatz, 7). 93 H. GOLLWITZER, Vom Danken, in: DERS., Auch das Denken darf dienen. Aufsätze zu Theologie und Geistesgeschichte Bd. 1, hg. von F.-W. MARQUARDT, Helmut Gollwitzer AW 8, München 1988, (196–213) 211. Den Charakter des Dankes im Sinne des Dankbar-Werdens hat Gollwitzer indes, wie mir scheint, noch nicht hinreichend in den Blick genommen, wie seine Bemerkung verrät: „Ich danke nicht nur für sein Werk, sondern sein Werk ist es, dass ich danke“ (ebd.). Im Sinn des bislang Ausgeführten wäre das Dankbar-Werden als Werk Gottes in den Blick zu nehmen.

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II. Wie neue Menschen leben

ob sie etwa gut oder böse sind.94 Überhaupt tritt die Frage, was ich tun soll bzw. wir tun sollen, in den Hintergrund der vorgeordneten Frage nach der Identität des handelnden Subjektes. Stanley Hauerwas bemerkt: „Die Frage, was ich tun soll, handelt tatsächlich davon, was ich bin oder sein soll“.95 Identitätsethik fragt auch nach Christofer Frey: „Wer sind wir, Betroffene und Entscheidende, in unserem gesamten Verhalten?“96 Die Frage nach der Identität ist eine vor-läufige Frage und dies in einem doppelten Sinne: Zum einen geht sie der Frage nach der ethischen Beurteilung von Handlungen voraus. Und zum anderen muss sie – wie bereits gesagt – eschatologisch vorläufig bleiben, solange „noch nicht erschienen ist, was wir sein werden“ (1Joh 3,2). Wie konstituiert sich dann aber Identitätsethik? Sie fokussiert auf den Zusammenhang von Identität und Handlung: „[D]ie Identitätsethik wird nach der Integrität der Lebensführung der von meinen Handlungen und Entscheidungen Betroffenen ebenso fragen wie nach der eigenen Identität.“97 Identitätsethik betont, dass es im Blick auf die Urteilsbildung nicht nur darum geht, die Angemessenheit der Mittel zu prüfen, „sondern vor allem die Identität und Integrität der Subjekte (ob sie nun entscheiden oder ob sie betroffen sind) [zu] berücksichtigen“.98 Bedeutsam wird die Frage, ob es meiner Identität, meinem „Sein in Christus“ (verstanden im Sinne des fieri, des Auferstehens des neuen Menschen und des Absterbens des alten Menschen) entspricht, wenn ich auf diese oder jene Weise handle, hinsichtlich der ethischen Urteilsbildung. Man kann diese Frage als Korrespondenzfrage99 bezeichnen. Über ihren Ertrag für die ethische Urteilsbildung hinaus kann man nach weiteren Merkmalen einer Identitätsethik fragen. Dem Heidelberger zufolge wird eine Identitätsethik zugleich als eine trinitätstheologische Ethik zu konturieren sein, sind doch nach Frage 86 alle Per94

Vgl. CH. FREY, Ethik, 14: „Die Ethik muss nach der Identität derjenigen, die sich entscheiden, sich verhalten, die handeln, fragen. […] Die Ethik behandelt nicht nur die Frage ‚Was sollen wir tun?‘, sondern auch ‚Wer wollen wir in unserem Tun und Verhalten sein? Und wer können wir darin sein?‘.“ Hervorhebungen im Original. 95 S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. von R. HÜTTER, Evangelium und Ethik 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 180. 96 CH. FREY, Konfliktfelder des Lebens. Theologische Studien zur Bioethik, hg. von P. DABROCK / W. MAASER, Göttingen 1998, 150f. 97 A.a.O., 143. 98 CH. FREY, Ethik, 234. 99 Vgl. D. RITSCHL, Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München 1986, 226; DERS., Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung theologischer Grundgedanken, München 21988, 293ff.; 298f.; M. HOFHEINZ, Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, EThD 15, Münster 2008, 424–433.

6. Der identitätsethische Ansatz des Heidelberger Katechismus

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sonen der Trinität an der Identitätskonstruktion des neuen Menschen beteiligt: Der neue Mensch ist „aus Gnade durch Christus erlöst“, „durch seinen Heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild“ und „dankbar gegen Gott“. Ja, man wird sagen können, dass dieser neue Mensch seine wahre Identität dem Zusammenwirken aller drei Personen der Trinität verdankt, die ihn – wie Frage 45 sagt – „schon jetzt erweckt zu einem neuen Leben“. Man wird freilich im Blick auf den ethischen Ansatz des Heidelbergers bescheiden bleiben müssen: So interessant die Moralerziehung, die der Heidelberger intendiert, auch ist, und so verheißungsvoll sein identitätsethischer Ansatz beim neuen Menschen auch klingt, so werden im Katechismus doch nur Konturen, nicht mehr als zarte Umrisse einer weiter zu entwickelnden Ethik ansichtig. Der Heidelberger liefert selbstverständlich keinen ethischen Gesamtentwurf. Und man kann und muss nun natürlich kritisch fragen, ob und wie von dieser Grundlegung einer Identitätsethik aus Schritte zur materialen Ethik vollzogen werden können. Die Gebotsauslegung wäre daraufhin im Einzelnen zu befragen.100 Dies kann hier freilich nicht ausgeführt werden. Dies jedoch haben wir gelernt: Die zentrale Botschaft der Frage 1, dass wir „Jesus Christus gehören“, kehrt auch im dritten, sog. ethischen Teil des Heidelbergers wieder. Jesus Christus zu gehören, meint nichts anderes, als in Christus zu sein – genauer noch: in ihm, dem wahren, neuen Menschen, nun auch zu wahren, neuen Menschen zu werden, sprich: „ihm forthin zu leben“, wie es am Ende der Antwort auf Frage 1 heißt. Dieses Werden (fieri), dieses „ihm forthin zu leben“, ist Werk des Heiligen Geistes, der (nicht nur, aber auch) durch und in unseren Affekten wirkt, indem er uns zu diesem Werden „von Herzen willig und bereit macht“. Wir sehen, dass bereits in Frage 1 die Ethik des neuen Menschen intoniert wird. Der Heidelberger entwirft mithin keine ethikfreie Dogmatik, die damit im Übrigen ihrer Relevanz für das konkrete Leben verlustig ginge. Und er entwirft ebenso wenig eine dogmatikfreie Ethik, die damit ihrer theologischen Inhalte beraubt und gleichsam entkernt würde. Hinsichtlich unseres Experiments heißt dies nun: Der Heidelberger verlässt seine dogmatischen Begründungszusammenhänge nicht in der Ethik. Die Maschen werden nicht nach der Frage 1 fallengelassen, sondern der Heidelberger strickt den Faden weiter. Hier kann, darf und soll auch die theologische Ethik heute anknüpfen. 100

Vgl. G. DEN HERTOG, Die Dekalogauslegung im Heidelberger Katechismus – ein Beitrag zur ethischen Urteilsbildung in der Gegenwart?, in: M. FREUDENBERG / G. PLASGER (Hg.), Erinnerung und Erneuerung. Vorträge der fünften Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 10, Wuppertal 2007, 55–70.

III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“ Tugendethische Ansätze bei Johannes Calvin. Ein Beitrag zur ethischen Grundlagendiskussion J. Marius J. Lange van Ravenswaay zum 65. Geburtstag am 24.5.2017 gewidmet

1. Einleitung: Die Renaissance der Tugendethik Tugenden sind wieder „in“.1 „In der Debatte über die Moral in der Politik zeigt sich nicht nur ein Interesse an der Veröffentlichung von Skandalgeschichten, mit denen sich die Auflage oder die Einschaltquote steigern lässt, und auch nicht nur eine enttäuschte Sehnsucht nach Vorbildern. Vielmehr hat diese Debatte Anteil an einer Gesprächslage, die durch ein neues Interesse an Tugenden geprägt ist. […] In einer überraschenden Wende hat die jüngere ethische Diskussion das Nachdenken über Tugenden wieder belebt.“2 Dieser „Konjunkturverlauf“ spiegelt sich auch in den Theoriediskursen wider. Eine Fülle von „virtue ethics approaches“ zu allen möglichen Ethikbereichen legt von dieser neuen Marktlage Zeugnis ab.3 Betrachtet man die jüngste Geschichte der Entwicklung ethischer Theorien, so gehören in der Tat die Renaissance der Tugendethik und die Rehabilitierung aristotelischer Positionen zu einer der größten Überraschungen im Bereich der Moralphilosophie. Nach und neben einem entscheidenden Anstoß von Elisabeth Anscombe4 ist die Renaissance vor allem mit dem Namen Alasdair MacIntyre und dem sprechenden Titel seines Buches „Der Verlust der Tugend“ verknüpft.5 Bereits der Titel weist aus, dass MacIntyre zufolge der deplorable Zustand der Gegenwart, ihre moralische Krise, mit dem Verlust

1 2

Vgl. P. BAHR, Haltung zeigen. Ein Knigge nicht nur für Christen, Gütersloh 2010. W. HUBER, Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod, München 2013, 204. 3 Vgl. D.C. RUSSEL (Hg.), The Cambridge Companion to Virtue Ethics, Cambridge 2013; R. SANDLER / PH. CAFARO (Hg.), Environmental Virtue Ethics, New York / Oxford 2005. 4 G.E.M. ANSCOMBE, Moderne Moralphilosophie (1958), in: G. GREWENDORF / G. MEGGLE (Hg.), Seminar: Sprache und Ethik. Zur Entwicklung der Metaethik, Frankfurt a.M. 1974, 217–243. 5 A. MACINTYRE, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, übers. v. W. RHIEL, Frankfurt a.M. 21997, insbes. 243–271 („Das Wesen der Tugend“). Vgl. R. HÜTTER, Ethik in Traditionen. Die neo-aristotelische Herausforderung in der philosophischen und theologischen Ethik der USA, VuF 35 (1990), 61–84.

1. Einleitung: Die Renaissance der Tugendethik

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der Tugend ursächlich verbunden ist.6 Genannt werden muss auch der Name Martha C. Nussbaum, die anders als MacIntyre versucht, Universalitätsansprüche im Rahmen einer Lehre von „nicht-relativen“ Tugenden zur Geltung zu bringen.7 Eigentlich dürfte die „Renaissance der Tugendethik“8 nicht überraschen, zumindest dann nicht, wenn man um die Komplementarität der drei handlungsbezogenen Leitaspekte weiß, die den wichtigsten Typen ethischer Theoriebildung zugrunde liegen. Bereits Friedrich Schleiermacher hat zwischen drei Grundformen ethischer Theorien unterschieden.9 Seinem Drei-Formen-Modell zufolge lassen sich Tugenden (als die das Handeln bestimmenden Kräfte oder Fähigkeiten) von Pflichten (den den Handlungsvollzug normierenden Regeln) und Gütern (den im Handeln anzustrebenden Zielen und Zwecken) und dementsprechend Tugend-, Pflicht- und Güterethik voneinander unterscheiden. Während Tugendethik das Augenmerk primär auf die gut handelnde Person und ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Fertigkeiten richtet, bezieht sich Pflichtenethik auf Regeln und Normen (etwa Gesetze, Gebote und Pflichten), die den Vollzug des Handelns in sittlicher Hinsicht regulieren, wohingegen Güterethik den Blick auf die Wirkungen des Handelns und die Ziele lenkt, die Menschen in ihrem Handeln anstreben.10 Daraus resultieren die unterschiedlichen Leitfragen der Tugend-, Pflicht- und Güterethik, nämlich in entsprechender Reihenfolge: Wie müssen wir sein? Was sollen wir tun? Wie wollen wir leben?11 Weil diese Typen ethischer Theoriebildung auf die nicht reduzierbaren Grundelemente des Handelns bezogen sind, ist es nicht verwunderlich, dass eine Reduktion auf einen Typus und damit einen Aspekt 6

A. MACINTYRE (Der Verlust der Tugend, 256) definiert: „Eine Tugend ist eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung uns im allgemeinen in die Lage versetzt, die Güter zu erreichen, die einer Praxis inhärent sind, und deren Fehlen wirksam verhindert, solche Güter zu erreichen.“ 7 Vgl. M.C. NUSSBAUM, Nicht-relative Tugenden. Ein aristotelischer Ansatz, in: dies., Gerechtigkeit oder Das gute Leben, hg. v. H. PAUER-STUDER, Frankfurt a.M. 1999, 227–264. 8 Vgl. A. LUCKNER, Handlungen und Haltungen. Zur Renaissance der Tugendethik, DZPhil 50 (5/2002), 779–796. Vgl. fernerhin die kritische Prüfung der Leistungsfähigkeit der Tugendkategorie von CH. HALBIG, Der Begriff der Tugend und die Grenzen der Tugendethik, Frankfurt a.M. 2013. 9 Vgl. F. SCHLEIERMACHER, Ethik. Allgemeine Einleitung (1816), in: DERS., Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2, Leipzig 21927, 485–557, 550f. Entsprechend bildet die Differenzierung zwischen „goals“ (69–117), „duties“ (117–182) und „virtues“ (185–235) die Disposition von R.W. LOVINS „An Introduction to Christian Ethics“, Nashville 2011. 10 Vgl. H.-R. REUTER, Grundlagen und Methoden der Ethik, in: W. HUBER u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, 9–123, 25. 11 Vgl. ebd.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

der Handlung eben auch als eine solche offenkundig und infolgedessen kritisiert wird. Provoziert durch den Wegfall eines Grundelements des Handelns manifestiert sich ethikgeschichtlich gleichsam der Paradigmenwechsel im Sinne der ewigen Wiederkehr.12 Insofern muss auch die Rückkehr der Tugenden bzw. Wiederkehr der Tugendethik nicht überraschen. Die Schwierigkeiten mit der Pflicht- und Güterethik bzw. deontologischen und konsequentialistischen Ethik bilden dementsprechend den Anlass für die Renaissance der Tugendethik.13 Zugleich ist es geradezu unvermeidlich, dass – salopp formuliert – die Karawane weiterzieht, sobald ein anderes Element in den prominenten Ethikkonzeptionen ins Zentrum gerückt wird. Aus der Zirkelstruktur ergibt sich die eigentlich nicht mehr spannend zu nennende Frage: Welche Rückkehr folgt auf die Rückkehr? Welche Wiederkehr wird durch die Wiederkehr provoziert? In anderer Hinsicht überrascht die Rück- bzw. Wiederkehr der Tugenden indes sehr. Denn mit ihrer Hilfe lassen sich offensichtlich auch gänzlich unmoralische Dinge forcieren: „Wird Tugend ganz auf den Aspekt vortrefflicher Tauglichkeit fixiert, kann sie sogar ganz und gar unmoralischen Unternehmungen nützlich erscheinen. Mit Mut und Fleiß und Loyalität z.B. lässt sich, so gesehen, auch die Effektivität von Raubzügen steigern. Kaum weniger freilich untergräbt den Respekt 12

F. NIETZSCHE (Ecce homo, in: KSA 6, hg. v. G. COLLI / M. MONTINARI, München 1999, 255–374, 335) formuliert den „Ewige-Wiederkunfts-Gedanke[n]“. Dort kursiv. 13 Im Anschluss an M. HÜTTENHOFF (Tugend und Haltung. Ein Beitrag zur ethischen Grundlagendiskussion, ZThK 97 [2000], 463–487) lassen sich diese Schwierigkeiten wie folgt summieren: 1. Pflichten- und Güterethik vermögen die Kontinuität des guten Handelns nicht sicherzustellen, zumindest nicht auf der Ebene der jeweiligen Absichten und Entscheidungen. Tugendethik setzt indes für das gute Handeln Grundhaltungen, die zum Guten disponieren, voraus. Tugenden fördern und stabilisieren indes das gute Handeln (vgl. a.a.O., 465–469); 2. Pflichten- und Güterethik führen in die Diskrepanz zwischen Motiven und Gründen, da das Handeln Gründen folgen kann, die den subjektiven Motiven widersprechen (Beispiel eines Freundes im Krankenhaus, der eben nicht besucht wird, weil es meine Pflicht ist oder ich eine bestimmtes Ziel verfolge, sondern weil er mein Freund ist). Tugendethik geht von guten Handlungen aus, für deren moralische Qualität die Verbindung mit Tugenden (oder anderen zum Guten disponierenden Haltungen wie Freundschaft) konstitutiv ist (vgl. a.a.O., 468–471); 3. Das Problem der Begründung des moralischen Sollens ist im Kontext der säkularen philosophischen Ethik gegeben, da hier kein Gesetzgeber für das Sollen, die Pflicht bzw. die Verpflichtung genannt werden könne (vgl. a.a.O., 471–473). Vgl. auch M. HAILER, Urteilen lernen durch Habitus-Erwerb? Vorüberlegungen zu einer evangelischen Tugendethik, in: I. SCHOBERTH (Hg., Urteilen lernen II. Ästhetische, politische und eschatologische Perspektiven moralischer Urteilsbildung im interdisziplinären Diskurs, Göttingen 2014, 69–88, 70f. G.E.M. ANSCOMBE (Moderne Moralphilosophie, 237) nennt den Gedanke der Selbstgesetzgebung lapidar „absurd“. Vgl. zu den Schwierigkeiten auch M. STOCKER, Die Schizophrenie moderner ethischer Theorien, in: K.P. RIPPE / P. SCHABER (Hg.), Tugendethik, Stuttgart 1998, 19–41.

1. Einleitung: Die Renaissance der Tugendethik

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vor der Tugend, wer sie mit den konventionell-moralischen Verhaltenserwartungen einer Gemeinschaft oder Gesellschaft gleichsetzt. Den Beginn lebendiger Moralität markiert zwar nicht generell (wie etwa in Novalis‘ romantischem Verständnis der Tugend als ‚Gefühl der Kraft‘), aber doch immer wieder gerade dies: dass jemand ‚aus Tugend gegen die Tugend‘ handelt.“14

Ohne zumindest eine „Ambivalenz der Tugend“15 zu konstatieren, wird man diesen Begriff wohl kaum gebrauchen dürfen, es sei denn um den Preis einer unkritischen „Haltung“ zu ihm. Aus theologischer Sicht kommt ein weiteres Bedenken hinzu: Wird etwa der Glaube als Tugend aufgefasst, so droht eine klare Unterscheidung von den Werken zu entfallen, die dem Anliegen reformatorischer Rechtfertigungslehre entspricht.16 Im Protestantismus ging man z.T., wie das Beispiel Karl Holls zeigt, so weit, Luther als Gewährsmann für eine Abkoppelung der Sittlichkeit von jeder Strebensethik zu vereinnahmen. Man sah ihn nur die konsequente Einschärfung der Unbedingtheit von sittlichen Forderungen betreiben.17 Auch wenn sich eine solche Luther-Interpretation insgesamt ohne Zweifel als fehlgeleitet erweist, wird man dennoch konstatieren müssen: Ein aristotelisches Verständnis von Tugend im Sinne einer durch Übung erworbenen und optimierten Haltung (gr. hexis, lat. habitus), durch die ein Mensch kontinuierlich gut handeln kann, stößt bei Luther auf Ablehnung.18 In der „Disputatio contra scholasticam theologiam“ (1517) heißt es bei Luther in der These 38 pointiert entgegen der aristotelischen These von der Vorzüglichkeit und Richtigkeit der Tugend:19 „Es gibt keine moralische Tugend, die ohne Hochmut oder Verzweiflung, d.h. ohne Sünde ist.“20 14

K. EBELING, Art. Tugend, in: K. EBELING / M. GILLNER (Hg.), Ethik-Kompass. 77 Leitbegriffe, Freiburg i.Br. u.a. 2014, 140–141, 140. Vgl. CH. FREY u.a., Repetitorium der Ethik für Studierende der Theologie, Waltrop 21996, 93: „Angesichts der düsteren Erfahrungen mit (scheinbaren) Tugenden – spätestens in der NS-Zeit (die gesellschaftlich-geschichtlichen Gründe dürften früher anzusetzen sein) – kann es nicht darum gehen, alte ‚bürgerliche‘ und private (Sekundär-)Tugenden wie Ordnungsliebe, (Kadaver-)Gehorsam, Pünktlichkeit, Sparsamkeit etc. zu erneuern.“ 15 W. MAASER, Tugendethik. Erwägungen aus evangelischer Sicht, GuL (1997), 148–159, 156. 16 Vgl. U.H.J. KÖRTNER, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 22008, 381. 17 Vgl. zu Holl die Kritik von R. LEONHARDT, Luthers Rearistotelisierung der christlichen Ethik. Plädoyer für eine evangelische Theologie des Glücks, NZSTh 48 (2006), 131–167. 18 Vgl. J. SCHMIDT, „Die höchste Tugend ist: Leiden und Tragen alle Gebrechlichkeit unserer Brüder“. Luthers Tugendethik als Ethik der Wahrnehmung, Luther 86 (2015), 8–21. 19 Vgl. ARISTOTELES, NE II,5 1106b f. 20 WA 1,226,5: „Nulla est virtus moralis sine vel superbia vel tristicia, id est, peccato.“ Vgl. dazu B. HAMM, Lazarus Spengler (1479–1534). Der Nürnberger Ratsschrei-

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

2. Calvin und die Tugend 2.1 Why „Calvin on virtue“? Eine forschungsgeschichtliche Begründung Wenn im Folgenden nun Calvins Rezeption des Tugendbegriffs bzw. seine tugendethischen Erwägungen untersucht werden sollen, so wirft eine Zuwendung zu Calvin in ethikgeschichtlichem bzw. ideengeschichtlichem Zusammenhang zunächst einmal die Frage auf: Warum Calvin? Warum ausgerechnet der Genfer Reformator? Diese Zuwendung erfolgt aus mehreren Gründen: 1. Nach vielen Jahrzehnten der Abgrenzung und Verwerfung gibt es inzwischen einige Untersuchungen, die die Frage nach der Rehabilitierbarkeit der Tugend, ja, nach der Möglichkeit einer evangelischen Tugendethik im Gespräch mit einzelnen Reformatoren diskutieren. Luther21 und Melanchthon22 wurde dabei besondere Aufmerksamkeit zuteil,23 zuletzt aber auch Peter Martyr Vermigli.24 Calvin wurde indes leider bislang ausgespart, was Anlass genug sein dürfte, hier Abhilfe schaffen zu wollen. ber im Spannungsfeld von Humanismus und Reformation, Politik und Glaube, Spätmittelalter und Reformation. NR 25, Tübingen 2004, 69: „Für die Humanisten wie für die scholastischen Theologen war die sittliche Tugend, die virtus moralis, das Letztgültige oder zumindest etwas Letztgültiges im Leben des Menschen, die Treppe empor zum Paradies. Selbst Staupitz spricht noch von der Verdienstlichkeit der Liebe und davon, daß die Erneuerung des irdischen Lebens die de-facto-Bedingungen für die Annahme des Menschen zum ewigen Leben sei.“ Fernerhin: R. SCHWARZ, Fides, spes und caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, AKG 34, Berlin / New York 1962, 379. 21 P. BARTMANN, Das Gebot und die Tugend der Liebe. Über den Umgang mit konfliktbezogenen Affekten, Stuttgart u.a. 1998, 185–213; TH. DIETER, Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, TBT 105, Berlin / New York 2001, 152–175; J. SCHMIDT, „Die höchste Tugend ist: Leiden und Tragen alle Gebrechlichkeit unserer Brüder“. 22 R. SAARINEN, Melanchthons Ethik zwischen Tugend und Begabung, in: H.CH. BRENNECKE / W. SPARN (Hg.), Melanchthon. Zehn Vorträge, Erlanger Forschungen Reihe A. Geisteswissenschaften Bd. 85, Erlangen 1998, 75–94; H. ZIEBRITZKI, Tugend und Affekt: Ansatz, Aufriß und Problematik von Melanchthons Tugendethik, dargestellt anhand der „Ethicae doctrinae elementa“ von 1550, in: G. FRANK (Hg.), Der Theologe Melanchthon. Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5, Stuttgart 2000, 357–373. 23 Vgl. im Blick auf das Luthertum J.D. BIERMANN, A Case for Character: Towards a Lutheran Virtue Ethics, Minneapolis 2014, 65–104; K.L. BLOOMQUIST / J.R. STUMME (Hg.), The Promise of Lutheran Ethics, Minneapolis 1998. 24 Vgl. L. BASCHERA, Tugend und Rechtfertigung. Peter Martyr Vermiglis Kommentar zur Nikomachischen Ethik im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie, ZBRG 26, Zürich 2008.

2. Calvin und die Tugend

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2. Dass eine Hinwendung zu Calvin in tugendethischem Interesse bereits a priori lohnend erscheint, dürfte damit zu tun haben, dass der Genfer Reformator – wie zuletzt David Steinmetz gezeigt hat – „die Auseinandersetzung mit der griechisch-römischen Philosophie als einen wesentlichen Teil seiner theologischen Arbeit“25 betrachtete, und zwar indem er sie – gemäß seinem Selbstverständnis – als „Schüler der Schrift“26 (discipulus scripturae) „konsequent an der Botschaft des Evangeliums“27 prüfte. Von daher ist es vor dem Hintergrund reformatorischen Schrift- und Selbstverständnisses interessant, wie das Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit der antiken Tugendtradition aussah. Dabei soll und kann hier freilich nicht seine Rezeption der Klassiker, etwa von Platon, Aristoteles und den Stoikern, die ja alle je auf ihre Weise eine Tugend- bzw. Strebensethik vertreten haben,28 im Mittelpunkt stehen, sondern tatsächlich seine eigene, am biblischen Zeugnis entlang entwickelte Interpretation des Tugendbegriffs. Dass Calvin die klassische Philosophie29 insgesamt als Gabe 25

D. STEINMETZ, Calvin as Biblical Interpreter among the Ancient Philosophers, EvTh 69 (2009), 123–132, 123. Vgl. DERS., Calvin in Context, New York / Oxford 1995; DERS., John Calvin as an Interpreter of the Bible, in: D.K. MCKIM (Hg.), Calvin and the Bible, Cambridge 2006, 282–291. 26 Inst. (1559), I,6,2. 27 D. STEINMETZ, Calvin as Biblical Interpreter, 123. 28 H. KRÄMER (Integrative Ethik, Frankfurt a.M. 1995, 10) weist darauf hin: „Die gesamte antike Ethik war […] ausschließlich Strebensethik in dem Sinne, daß es primär um das gelingende Leben des Einzelnen ging, alles weitere erhielt seine Rechtfertigung nur dadurch, daß es in den Dienst dieses Letztziels gestellt wurde.“ 29 Vgl. Calvins Äußerungen zur Philosophie in Inst. (1559), II,2,2f. und vor allem II,2,15: „Wollen wir sagen, die Philosophen seien in ihrer feinen Beobachtung und kunstvollen Beschreibung der Natur (in exquisita ista naturae contemplatione, tum artificiosa descriptione) blind gewesen? […] Eine solchen Undanks sollten wir uns schämen; sind doch selbst die heidnischen Dichter nicht darein verfallen: sie haben erklärt, Philosophie und Gesetzgebung und alle schönen Künste seinen Lehren der Götter (deorum inventa esse)! Es sind also selbst diese Menschen, die doch die Schrift ‚natürliche Menschen‘ nennt, offensichtlich in der Erforschung der niedrigeren Dinge bis zu diesem Grade scharfsichtig und erkenntnisfähig. An solchen Beispielen sollen wir lernen, wieviel Gutes der Herr uns Menschen übriggelassen hat (quot naturae humanae bona Dominus reliquerit), nachdem wir freilich des wahren Guten verlustig gegangen sind (postquam vero bono spoliata est)!“ Calvins grenzt sich indes gegenüber dem Vertrauen der Philosophen in die ungebrochenen Fähigkeiten der menschlichen Vernunft und gegenüber der von ihnen behaupteten Willensfreiheit ab: „Die Philosophen sind sich völlig einig in der Meinung, im Gemüt habe die Vernunft ihren Sitz, und diese leuchte wie eine Fackel allen Entschlüssen voran und lenke den Willen wie ein König. Denn die Vernunft sei derart von göttlichem Licht erfüllt (luce divina perfusam esse), dass sie am besten zu raten, und von so hervorragender Kraft, dass sie am besten zu befehlen vermöge. Die Sinnlichkeit (sensus) sei dagegen mit Faulheit und Blindheit behaftet, dass sie allezeit am Boden krieche und sich mit groben Dingen abgebe, sich aber niemals zu wahrer Einsicht zu erheben vermöchte. Die Begehrkraft (appetitus) werde, wenn sie tatsäch-

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

Gottes sieht, die in Dankbarkeit aufgenommen werden müsse, ist seit längerem in der Calvinforschung bekannt.30 3. Einer der bedeutendsten Protagonisten einer theologischen Tugendethik in der Gegenwart, der US-amerikanische Theologe Stanley Hauerwas, hatte bereits vor vielen Jahren auf die Schlüsselrolle verwiesen, die Calvins Heiligungslehre hinsichtlich der Ausprägung einer theologischen Tugendethik spielen könnte. Hauerwas stellt fest, dass es Calvin bei der Heiligung nicht um ein ethisches Programm für gute Dispositionen und Handlungen gehe, sondern vielmehr um das Ergebnis einer „Gleichformung“ des Selbst mit Gottes Handeln.31 In jüngster Zeit hat Jennifer A. Herdt im angelsächsischen Diskurskontext mit ihrem vielbeachteten tugendethischen Plädoyer „Putting On Virtue“ eine stark an Erasmus angelehnte Kritik an einer die Dauerhaftigkeit praktischer Orientierung und ein Wachstum des moralischen Menschen nicht gewährleistenden reformatorischen Sicht entfaltet.32 lich der Vernunft Gehorsam leiste und sich nicht etwa von der Sinnlichkeit unterjochen lasse, zum Trachten nach der Tugend geführt (ad studium virtutum ferri), sie gehe dann auf dem rechten Wege und werde in eigentlichen Willen umgebildet. Begebe sie sich indessen in die Knechtschaft der Sinnlichkeit, so werde sie von ihr verderbt und zerrüttet und entarte zur bloßen Lust“ (Inst. [1559], II,2,2). Vgl. auch Inst. (1559), II,1,3: „Denn der Mensch meint nach dem Urteil des Fleisches, er hätte sich dann gar wohl erforscht, wenn er im Vertrauen auf seinen Verstand und seine Unverdorbenheit kühn wird, sich dem Dienste der Tugend hingibt (incitat ad virtutis officia), den Lastern den Krieg erklärt und so versucht, mit ganzem Eifer dem Schönen und Erhabenen nachzustreben.“ Die von Calvin als Prämisse der Tugendlehre verstandene Willensfreiheit, wie sie von den Philosophen behauptet werde, teilt er nicht: „Aber das ist doch für die Philosophen ganz außer allem Streit, daß Tugend und Laster in unserer Gewalt stünden (virtutes et vitia in nostra esse potestate).“ So Inst. (1559), II,2,3. Zu Calvins Ablehnung der Vorstellung, dass die Tugend aus der Entscheidung des freien Willens hervorgehe, siehe auch Inst. (1559), II,5,2. Fernerhin: II,2,1; II,2,26. Vgl. dazu: A. LEXUTT, Dass der freie Wille nichts sei. Beispiele reformierter Interpretation eines zentralen lutherischen Topos, in: I. DINGEL / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin und Calvinismus. Europäische Perspektiven, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte Beiheft 84, Göttingen 2011, 347–365. 30 So D. STEINMETZ, Calvin as Biblical Interpreter, 123. Fernerhin: CH.E. PARTEE, Calvin and Classical Philosophy, Studies in the History of Christian Thought 14, Leiden 1977; G. BABELOTZKY, Platonische Bilder und Gedankengänge in Calvins Lehre vom Menschen, VIEGM 83, Wiesbaden 1977; I. WERNER, Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit, Neukirchen-Vluyn 1999. 31 S. HAUERWAS, Character and the Christian Life. A Study in Theological Ethics (1975), Notre Dame 2001 (Reprint), 191: „Sanctification is not a recommended ethical program of good dispositions and actions but rather the effect of the confirmation of the self to God’s act.“ 32 Vgl. J.A. HERDT, Putting On Virtue. The Legacy of the Splendid Vices, Chicago/ London 2008. Zur Diskussion vgl. S. OVERMYER, Saint Thomas Aquinas’s Pagan

2. Calvin und die Tugend

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Diese zielt namentlich auf Luther ab,33 wobei Herdt auch Calvins Heiligungskonzept skeptisch gegenüber zu stehen, ihm aber doch ein gewisses Vermittlungspotential zuzuschreiben scheint, ohne dies jedoch ausführlicher zu entfalten.34 4. Darüber hinaus ist in der Calvinforschung folgendes bedenkenswerte Phänomen zu beobachten: Obwohl insbesondere im angelsächsischen Raum in der letzten Dekade erhebliche Kraftanstrengungen auf die Exploration der unio cum Christo („union with Christ“)35 als Zentralmotiv der Theologie Calvins verwandt wurden und einige bereits vollmundig von einer „New Perspective on Calvin“ sprechen,36 wurde dabei die Tugendthematik, obwohl sie bei Calvin durchaus in diesem Zusammenhang verortet ist, weitestgehend übersehen bzw. übergangen.37 Nicht einmal die tugendethische Fragestellung als solche scheint hier im Blick zu sein. Von der älteren Calvin-Forschung wird z.T. sogar eine grundsätzliche Oppositionsstellung zu aller Tugendlehre behauptet.38 Über die Ursachen dieser Frontstellung muss Virtues? Putting the Question to Jennifer Herdt’s Putting On Virtue, JRE 41 (4/2013), 669–687; D.F. WEAVER, Double Agents. Persons and Moral Change in Jennifer Herdt’s Putting on Virtue, JRE 41 (4/2013), 710–726. 33 Vgl. J.A. HERDT, Putting On Virtue, 173–196. Fernerhin: J.A. HERDT, Virtue’s Semblance: Erasmus and Luther on Pagan Virtue and the Christian Life, JSCE 25 (2/2005), 137–162. 34 Vgl. zu Calvin J.A. HERDT, Putting On Virtue, 198–202. Fernerhin: DIES., Calvin’s Legacy for Contemporary Reformed Natural Law, SJT 67 (4/2014), 414–435. 35 Vgl. u.a. J.T. BILLINGS, Calvin, Participation, and the Gift: The Activity of Believers in Union With Christ, Oxford 2007; J. CANLIS, Calvin’s Ladder: A Spiritual Theology of Ascent and Ascension, Grand Rapids 2010; J.T. BILLINGS / I.J. HESSELINK (Hg.), Calvin’s Theology and Its Reception. Disputes, Developments, and New Possibilities, Louisville 2012. 36 TH.L. WENGER, The New Perspective on Calvin. Responding to Recent Calvin Interpretations, JETS 50 (2/2007), 311–328. Dazu: M. JOHNSON, New or Nuanced Perspective on Calvin? A Reply to Thomas Wenger, JETS 51 (3/2008), 543–558, sowie: TH.L. WENGER, Theological Spectacles and a Paradigm of Centrality. A Reply to Marcus Johnson, JETS 51 (3/2008), 559–572. 37 Eine rühmliche Ausnahme bildet: A. VARMA, Sin, Grace, and Virtue in Calvin: A Matrix for Dogmatic Consideration, SBET 28 (2/2010), 177–194; DERS., Fitting Participation. From the Holy Trinity to Christian Virtue, in: M.J. THATE u.a. (Hg.), „In Christ“ in Paul, WUNT II/384, Tübingen 2014, 477–501. Vgl. auch: D. SCHÖNBERGER, Gemeinschaft mit Christus. Eine komparative Untersuchung der Heiligungskonzeptionen Johannes Calvins, John Wesleys und Karl Barths, FRTH 2, Neukirchen-Vluyn 2014, 235–238. 38 So etwa W. KOLFHAUS, Das christliche Leben nach Johannes Calvin, BGLRK 7, Neukirchen-Vluyn 1949, 518: „Von aller Tugendlehre bleibt Calvins Ethik durch den alles umfassenden Unterschied getrennt, daß wir nicht mehr in unserer Tüchtigkeit das Ziel sehen, aus dem wir die Normen für unser Verhalten empfangen, sondern daß wir unsere Tüchtigkeit zum Mittel machen, mit dem wir Gott in seiner Gemeinde

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

man angesichts kontroverstheologischer Abgrenzungsbemühungen zum römischen Katholizismus nicht lange spekulieren, jedenfalls gehört dieses mehr oder weniger intentionale Übersehen oder Übergehen zu den Eigentümlichkeiten der Calvin-Forschung, die m.E. einer Korrektur bedarf. 5. Wenn bisher der Bezug zwischen Calvin und der Tugendthematik hergestellt wurde, so geschah dies keineswegs in schmeichelnder Absicht. Der Historiker Volker Reinhardt hat explizit von der „Tyrannei der Tugend“ gesprochen und die Reformation in Genf dementsprechend dargestellt.39 Interessanterweise beginnt Theodor Beza, Calvins Nachfolger in Genf, seine zumeist hagiographisch eingeschätzte Vita Calvini (1575) mit der süffisanten apologetischen Bemerkung, dass es keinen kürzeren Weg in die Katastrophe geben würde, als die Tugend zu preisen. Und es sei äußerst töricht, sich freiwillig ins Übel zu stürzen, wenn dies mit bloßem Schweigen vermieden werden könne. Wenn indes die Gottlosen es nicht einmal erlaubten, dass irgendeine Art von Tugend straffrei verkündet würde, was dürften diejenigen schon erwarten, deren Berufung es sei, den Glauben zu verkünden, der doch einer höheren Ordnung angehöre als die Tugend?40 Trotz aller Unterschiedlichkeit in der Bewertung Calvins ist sowohl bei Reinhardt als auch Beza der Bezug, der zwischen den beiden „Größen“, Calvin und Tugendthematik, hergestellt wird, zwar nicht unbedingt als der des „duo infernale“, aber doch keineswegs als „glücklich“ zu charakterisieren.

dienen.“ Kursivierung: M.H. Vgl. auch a.a.O., 511: „[D]iese Ethik [bleibt] allem Eudämonismus fern.“ 39 V. REINHARDT, Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009. Vgl. dazu TH. KAUFMANN, Rezension zu: Volker Reinhardt, Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009, in: HSoz-Kult, 20.10.2009, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-12763 (abgerufen am 23.12.2016). Zum Hintergrund: S.M. MANETSCH, Holy Terror or Pastoral Care? Church Discipline in Calvin’s Geneva, 1542–1596, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin – Saint oder Sinner? Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 51, Tübingen 2010, 283–306. 40 CO 21,119 (Ioannis Calvini Vita): „Vix enim ullum est brevius ad omnem calamitatem compendium, quam virtutem laudasse: extremae vero dementiae fuerit, quod malum possis vel uno silentio redimere, id ultro tibi accersere. Quod si ne virtutem quidem ullam impune praedicare patiuntur scelerati, quid iis exspectandum superius, praedicare propositum est?“ Vgl. I. BACKUS, The Beza/Colladon Lives of Calvin and the Calvinist Concept of Sainthood, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin – Saint or Sinner? Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 51, Tübingen 2010, 7–21.

2. Calvin und die Tugend

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2.2 Calvins Rezeption der antiken Tugendtradition unter formalen Gesichtspunkten 2.2.1 Calvins Verzicht auf eine Systematisierung und Katalogisierung der Tugenden Calvin knüpft an die antike Tugendethik im vorreformatorischen Christentum an. Diesbezüglich galt es bislang als ausgemacht: „Calvin rejected the virtue ethics of the Greek philosophers“.41 In der Tat fällt auf, dass Calvin sich anders als die großen mittelalterlichen Ethiksysteme nicht an Aristoteles anlehnt und auch dessen Tugendbestimmung keineswegs folgt.42 Die aristotelische Unterscheidung etwa in die Tugendarten der dianoetischen und ethischen Tugenden rezipiert Calvin nicht.43 Auch Platons wirkmächtiges Viererschema der Kardinaltugenden Einsicht bzw. Klugheit (sophia), Tapferkeit (andreia), Besonnenheit (sōphrosynē) und Gerechtigkeit (dikaiosynē), welches dieser gemäß seinem hierarchischen Menschenbild auf die drei Seelenteile (Kopf, Brust und Leib bzw. rationaler [logistikon], vegetativer [thymoeides] und animalischer Seelenteil [epithymētikon]) bezog und den drei Ständen im Staat analogisierte (Lehrstand [archontes], Wehrstand [phylakes] und Nährstand [dēmiourgoi]),44 übernimmt er nicht. Ebenso wird auch die Erweiterung der vier Kardinaltugenden um die drei theologischen Tugenden Glaube (fides), Hoffnung (spes) und Liebe (caritas) zu einem Siebenerschema, wie sie in der Scholastik erfolgte und bei Thomas von Aquin ihren Höhepunkt fand, von Calvin nicht vorgenommen. Allein schon aus formalen Gründen scheint das oben genannte Urteil (Ablehnung der Tugendethik durch Calvin) durchaus evident zu sein. Auf inhaltlicher Ebene zeigt sich indes, dass Calvin die antike Tradition durchaus rezipierte, vor allem vermittelt über Augustin45, der auf formaler Ebene sowohl das Viererschema der Kardinaltugenden als 41

J.H. VAN WYK, What are the Key Characteristics of a Christian Life? A Comparison of the Ethics of Calvin to that of Augustine and their Relevance Today, In die Skriflig 44 (3/2010), 47–69, 47. 42 Vgl. ARISTOTELES, NE II,5, 1106a: „Die Tugend des Menschen ist jene feste Grundhaltung, von der aus [der Handelnde] tüchtig wird und die ihm eigentümliche Leistung in vollkommener Weise zustande bringt.“ 43 Vgl. ARISTOTELES, NE II,1, 1103a: „Die Tugend ist also von doppelter Art, ethisch und verstandesmäßig. Die verstandesmäßige Tugend entsteht und wächst zum größeren Teil durch Belehrung; darum bedarf sie der Erfahrung und der Zeit. Die ethische dagegen ergibt sich aus der Gewohnheit.“ 44 Vgl. PLATON, Politeia, 427a–445e. 45 Zur Augustin-Rezeption Calvins vgl. J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY, Augustinus totus noster. Das Augustinverständnis Johannes Calvins, FKDG 45, Göttingen 1990; A.N.S. LANE, Calvin, in: V.H. DRECOLL (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 622–627.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

auch das Dreierschema der theologischen Tugenden verwendete.46 Calvins Rezeption soll in der weiteren Untersuchung noch näher dargestellt werden. Wie sich noch zeigen wird, ist es vor allem die von Augustin postulierte Untauglichkeit der Tugenden zur Erlangung des wahren Glücks, die Calvin positiv rezipiert. Ebenso wie Augustin lehnt auch Calvin sowohl die Auffassung, dass das wahre Glück ein bereits in diesem Leben zu erreichendes Gut sei, entschieden ab, als auch die Vorstellung, dass es sich um ein vom Menschen aus eigener Kraft zu erreichendes Gut handelt. Calvin ist, wie zunächst festgehalten werden soll, von Augustins Grundsatzkritik der philosophischen Tugendlehre und seiner Betonung des menschlichen Angewiesenseins auf die Gnade Gottes zu Erlangung des Glücks in Gestalt des jenseitigen Heils stark geprägt. Im Folgenden soll nun, vor allen weiteren inhaltlichen Näherbestimmungen, zunächst das Augenmerk auf jene formalen Gesichtspunkte gerichtet werden, warum Calvin weder einen schematisierten Tugendkatalog noch eine sonstige fixe Tugendsystematik entfaltet. Diesen Verzicht begründet Calvin in seinem Hauptwerk, der „Institutio“ (1559), direkt zu Beginn seiner Behandlung des christlichen Lebens (vita Christiana), explizit und nennt dabei folgende drei Argumente: 1. Das Argument der generationenübergreifenden Arbeitsteilung in der Gemeinschaft der Gläubigen bzw. das Argument der Wiederholungsvermeidung: Calvin setzt eine gewisse Arbeitsteilung in der Theologiegeschichte voraus und verweist auf die geleistete tugendethische Arbeit der Kirchenväter: „Ich habe nun aber nicht die Absicht, die Lebensunterweisung (vitae institutionem), die ich jetzt vorzutragen im Sinne habe, soweit auszudehnen, daß sie auch noch die besondere Behandlung der einzelnen Tugenden mit einschlösse (peculiariter singulas prosequatur virtutes) und auch ausgedehnte Ermahnungen dazu enthielte. Das kann man aus den Schriften anderer, vor allem aus den Predigten der Kirchenväter (ex veterum homiliis) entnehmen.“47 Calvin dürfte hier vor allem Augustin vor Augen gehabt haben. 46 47

Vgl. vor allem AUGUSTIN, De civitate Dei 19,4. Inst. (1559), III,6,1. Zugleich hält Calvin aber auch fest, „daß die Kirchenväter dem Menschen mehr Trachten nach der Tugend (ad virtutis studium) zugestanden haben, als es der Wahrheit entspricht“ (Inst. [1559], II,2,4). Zugleich wendet Calvin ein: „[A]ber als Zielpunkt und Absicht schwebte ihnen doch vor, den Menschen ganz und gar vom Vertrauen auf seine eigene Kraft (a virtutis suae) abzubringen und ihn zu lehren, daß alle seine Stärke in Gott allein liege.“ So Inst. (1559), II,2,9. Zu Calvins Verhältnis zu den Kirchenvätern vgl. I. BACKUS, Calvin und die Kirchenväter, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 126–137; D. STEINMETZ, Calvin in Context, 122–140.

2. Calvin und die Tugend

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2. Das rhetorisch-stilistische Argument: Calvin verweist auf seine Liebe zur Kürze (brevitas)48: „Wir sehen ja auch, wie weitläufig die Mahnreden der Alten (veterum paraeneses) auseinanderfließen, wenn sie sich (auch) nur auf die einzelnen Tugenden (de singulis tantum virtutibus) beziehen. Dabei herrscht aber keineswegs ein übertriebener Wortreichtum. Es ist eben so: Wenn man sich vorgenommen hat, irgendeine Tugend in einer Rede recht zu preisen (quamcunque virtutem commendare oratione propositum sit), dann drängt die Fülle des Stoffes von selbst zu einer solchen Breite des Stils hin, daß man meint, man hätte seine Sache nicht nach Gebühr dargestellt, wenn man nicht viel gesagt hätte! […] Ich liebe von Natur die Kürze ([a]mo natura brevitatem).“49

3. Das bibeldidaktische Argument: Calvin beruft sich auf die der Schrift eigene Didaktik, die er pneumatologisch durch das „Lehramt des Heiligen Geistes“ fundiert sieht: „Wie aber die Philosophen bestimmte Grenzen für Recht und Ehrbarkeit kennen und von da her alle einzelnen Pflichten und die ganze Schar von Tugenden ableiten (totumque virtutum chorum deducunt), – so hat auch die Schrift in dieser Hinsicht ihre Ordnung, ja, sie läßt die herrlichste Einteilung (pulcherrimam oeconomiam) walten, die viel sicherer ist als alles, was die Philosophen hier bieten. Es besteht nur ein Unterschied: Die Philosophen waren ehrgeizige Leute und haben sich deshalb mit großem Fleiß um eine ausgesuchte Klarheit der Anordnung (exquisitam dispositionis perspicuitatem) bemüht, um auf diese Weise die Gewandtheit ihres Geistes an den Tag zu legen; der Heilige Geist dagegen treib sein Lehramt ohne Künstelei (sine affectatione docebat), und deshalb hat er die geordnete Darstellungsweise nicht so scharf und unentwegt innegehalten.“50

2.2.2 Eine höchste Tugend? Calvins Eklektik bei der Hierarchisierung und Kanonisierung von Tugenden Was nun die Auswahl der einzelnen Tugenden betrifft, so entwirft Calvin keinen festen Tugendenkanon und auch keine strenge Tugendsystematik,51 sondern er behandelt die Tugenden vor allem in der 48

Zur perspicua brevitas vgl. A. HUIJGEN, Divine Accommodation in John Calvin’s Theology. Analysis and Assessment, RHT 16, Göttingen 2014, 108f.; 226. 49 Inst. (1559), III,6,1. 50 Inst. (1559), III,6,1. 51 W. KRECK (Die Eigenart der Theologie Calvins, in: J. MOLTMANN [Hg.]. CalvinStudien 1959, Neukirchen-Vluyn 1960, 26–42, 29; 41) bemerkt: „Seine [Calvins] Theologie ist kein am Schreibtisch ausgeklügeltes System, sondern im steten Kampf, in Angriff und Abwehr gewonnen. […] wir können ihn nicht in ein System zwängen, und wir würden ihn nicht verstanden haben, wenn wir ihn imitieren wollten. Er wollte ein Prediger und Lehrer des Wortes Gottes sein, das nicht eine lernbare Theorie ist, sondern eine Wirklichkeit, Gottes Kraft, die rettend und verpflichtend, lösend und bindend in unser Leben greift.“

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

kontroverstheologischen Auseinandersetzung mit den Altgläubigen. Zudem kann er sich als Schrifttheologe der diversen biblischen Tugendkataloge52 bedienen, wie insbesondere in seinen Kommentaren deutlich wird.53 Calvin lädt gleichsam dazu ein, nicht einfach überkommene Kataloge zu übernehmen, sondern neue Tugenden zu bedenken. Sein Verhältnis zu den antiken und mittelalterlichen (scholastischen) Tugendidealen bleibt insofern zwiespältig, als er sie durchaus im Lichte des biblischen Zeugnisses infrage stellen kann. So wendet er sich gegen bestimmte Vorstellungen einer sakramentalen Formierung von Tugenden, konkret gegen die „Papisten“, die „schwatzen […] in der Firmung werde dem Menschen ein stärkerer Zuwachs an Tugenden zugeeignet als in der Taufe“.54 Im Zusammenhang der Zölibatsdiskussion verweist Calvin ausdrücklich darauf, dass Paulus „unter den Tugenden eines Bischofs“ (inter Episcopi virtutes)55 auch die Ehe nenne. Auch sieht Calvin „die immer neu und ohne Maß hergesungenen Lobsprüche über die Jungfräulichkeit, die soweit gingen, daß man allgemein der Überzeugung war, es gäbe keine andere Tugend (nulla alia virtus)“56, kritisch. Auch die s.E. falschen Vorstellungen über das Fasten als eine „unter d[en] vornehmsten Tugenden (inter praecipuas virtutes)“57 lehnt er ab. Fragt man danach, welche Tugenden Calvin in aller Eklektik nun konkret benennt, so tritt eine ganze Reihe von Begriffen in Erscheinung, Meistgenannt werden die Liebe (caritas), die Demut (humilitas), die Bescheidenheit (modestia), die Selbstverleugnung (sui abnegatio), die Mäßigung (temperantia), die Geduld (patientia) und die Ehrfurcht (timor). Natürlich können diese hier nicht in extenso (einschließlich der ihnen entsprechenden Wortfelder) analysiert und entfaltet, wohl aber mithilfe einiger erläuternder Zitate Calvins benannt werden. Wie wenig Calvin die Tugenden systematisiert hat, zeigt sich etwa darin, dass er unterschiedliche Tugenden konkurrierend hierarchisieren kann und nahezu von allen oben genannten Tugenden als der jeweils höchsten Tugend sprechen kann. Dazu sei im Folgenden 52

Vgl. zu den Tugendkatalogen des Neuen Testaments M. MAYORDOMO, Möglichkeiten und Grenzen einer neutestamentlich orientierten Tugendethik, ThZ 3/64 (2008), 213–257, 244–246; F.W. HORN, Tugendlehre im Neuen Testament? Eine Problemanzeige, in: DERS. u.a. (Hg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut – Leben – Leib –Tugend. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik Bd. IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 417–431, 423f. 53 Vgl. z.B. seine Kommentierung von Gal 5,22. Nach THOMAS VON AQUIN (STh I–II, q. 68–70) wird das Tugendideal christlichen Lebens durch die sieben Gaben des Heiligen Geistes vollendet. 54 Inst. (1559), IV,19,11. 55 Inst. (1559), IV,12,24. 56 Inst. (1559), IV,12,27. 57 Inst. (1559), IV,12,19.

2. Calvin und die Tugend

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eine kleine, im Wesentlichen aus Calvin-Zitaten bestehende Synopse der einzelnen jeweils priorisierten Tugenden (a–h) zusammengestellt: a) Die Liebe (caritas) Mit Kol 3,14 identifiziert Calvin die Liebe58 als „das Band der Vollkommenheit“ (vinculum perfectionis). Er betont zugleich – in augustinischer Tradition stehend59 –, „daß in ihr [der Liebe] der Chor aller Tugenden zusammenklingt (virtutum omnium chorum sub ea contineri); denn sie ist wahrlich die Richtschnur für das ganze Leben und für alle Handlungen. Was sich nicht nach ihr richtet, ist ein Laster (vitiosum est), wie sehr es auch glänzen möge“.60 b) Die Demut (humilitas) Zugleich behauptet Calvin von der Demut61: „Die Demut steht allen Tugenden voran, aber solange wir von unserer Kraft überzeugt sind, fehlt uns jede Frömmigkeit und Gottesfurcht“.62 Was meint Demut? Calvin beruft sich auf Augustin, der „nun aber unter Demut nicht etwa dies versteht (humilitatem non intelligit), daß ein Mensch im Bewußtsein einiger Tugend (aliquantae virtutis) sich von Hochmut und Aufgeblasenheit zurückhält, sondern, wie er an anderer Stelle erklärt, vielmehr die Gewißheit des Menschen, so zu sein, daß er nur in der Demut eine Zuflucht (in humilitate refugium) finden kann. So sagt er [Augustin]: ‚Niemand soll sich schmeicheln; er ist von sich selber ein Satan, das, wodurch er selig wird, hat er allein von Gott. Was hast du nämlich von dir selber anders als Sünde? Nimm dir die Sünde ([t]olle tibi peccatum), die dir gehört; denn die Gerechtigkeit ist Gottes Geschenk (nam iustitia Dei est)‘.“63 58

Zur Liebe bei Calvin vgl. W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 283–294. 59 Zur Liebe bei Augustin vgl. einführend P. BARTMANN, Das Gebot, 143–157; J. BOWLIN, Augustine Counting Virtues, Augustianian Studies 41 (1/2010), 277–300; TH. PAPROTNY, Die philosophischen Verführer. Nachdenken über die Liebe, Darmstadt 2006, 88–97. 60 CO 52,123 (Komm. Kol 3,14). 61 Zur Demut bei Calvin vgl. W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 295–312; E. ZEMMRICH, Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs, EThD 4, Münster 2006, 132. 62 CO 37,438 (Komm Jes. 66,2). Vgl. Inst. (1559), II,1,1: „[W]erden wir des [unseres jämmerlichen Zustandes nach Adams Fall] inne, so fällt aller Ruhm (gloria), alle Selbstsicherheit (fiducia) dahin, und wir gelangen tief beschämt zu rechter Demut (nos pudore obrutos vere humiliet).“ 63 Inst. (1559), II,2,11. Zur Missbräuchlichkeit dieser Tugend bemerkt Calvin in seiner Antwort an Kardinal Sadolet (1539): „Was mit dieser eigensinnigen und rücksichtslosen Demut (contumaci praefractaque humilitate), die Gottes Majestät verächtlich macht (despecta Dei maiestate), dafür aber zu Menschen aufblickt und sie

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

c) Die Bescheidenheit (modestia) In einer Predigt zu 1Sam 25,14–28 bemerkt Calvin: „Bescheidenheit und Demut sind das Salz, durch das die übrigen Tugenden erst schmackhaft werden“.64 Calvin alterniert das Begriffspaar „Bescheidenheit und Demut“ zu „Bescheidenheit und Nüchternheit“ als höchsten Tugenden in demselben Predigtzyklus auch dahingehend, dass er bemerkt: „Die höchste Tugend (virtus longe [...] superior) ist es, wenn uns keine Ehre der Welt veranlaßt, Nüchternheit und Bescheidenheit zu vergessen (a sobrietate et modestia potest dimovere), sondern uns gerade dadurch zur Bescheidenheit mahnen zu lassen“.65 d) Die Selbstverleugnung (sui abnegatio) Ein wiederum anderslautender tugendbezogener Superlativ bezieht sich auf die Selbstverleugnung (abnegatio nostri)66: „Das vornehmste Opfer (praecipuum sacrificium), das von uns gefordert wird, ist die Verleugnung unser selbst (nostri abnegatio).“67 Wie diese möglich sei, diese Frage beantwortet Calvin mit Verweis auf die Weisung durch die Schrift und die Hinwendung zu Gott: „Wenn uns nämlich verehrt? Hinweg mit den leeren Namen von Tugenden (inanes virtutum tituli), die man sich zur Bemäntelung seiner Laster verschafft (ad obtegenda vitia accersuntur)! Laßt uns ohne Schönfärberei vorbringen, worum es wirklich geht: Die Demut (humilitas), die wir meinen, muß, vom untersten aufsteigend (ab infimo exorsa), jedermann seinem Rang entsprechend verehren, und zwar so, daß sie der Kirche die höchste Würde und Hochachtung erzeigt (ecclesiae summam dignationem observantiamque deferat), sie zuletzt aber gleichwohl Christus, dem Haupt der Kirche (ecclesiae caput), zurückerstattet; der Gehorsam (obedientia), den wir meinen, muß uns zu solchem Hören auf Vorgesetzte und Vorfahren sammeln, daß die einzige Richtschnur all unseres Wollens gleichwohl Gottes Wort bleibt (ut omnia tamen obsequia ad unicam verbi Dei regulam exigat); die Kirche schließlich, die wir meinen, muß ihre größte Sorge (supremae curae) darein setzen, in ernsthafter Demut zu Gottes Wort aufzublicken (religiosa humilitate suspicere verbum Dei) und sich unter dem Gehorsam gegen das Wort zu halten.“ CStA I/2,395. 64 CO 30,541 (Predigt 1Sam 25,14–28): „Necessaria itaque est modestia et humilitas qua reliquae omnes virtutes, ut ita dicam, condiantur.“ 65 CO 30,198 (Predigt 1Sam 17,12–27). 66 Vgl. zur Selbstverleugnung G.H. HAAS, Ethik und Kirchenzucht, in: H.J. SELDERHUIS, Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 326–338, 327f.; 335f.; D. SCHÖNBERGER, Gemeinschaft mit Christus, 229–234; A. THIEL, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium, Neukirchen-Vluyn 1999, 311–318. 67 CO 45,647 (Komm. Mk 12,43). Calvin spricht sich nachdrücklich für die Selbstverleugnung und Selbstvergessenheit in der Hingabe an Gott aus: „[D]as ist ein großer Fortschritt (profectus), wenn wir uns selber schier vergessen (nostri paene obliti), jedenfalls alle Rücksichtnahme auf uns hintanstellen und uns anstrengen, all unseren Eifer (studium nostrum) getreulich auf Gott und seine Befehle (mandatis) zu richten.“ Inst. (1559), III,7,2.

2. Calvin und die Tugend

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die Schrift die Weisung gibt (iubet Scriptura), die private Rücksicht auf uns selber aufzugeben, so tilgt sie damit nicht allein die Habgier (cupiditatem), die Machsucht (potentiae affectationem) und das Streben nach Gust bei den Menschen (hominum gratiam) aus unseren Herzen – nein, sie entwurzelt auch die Ehrsucht (ambitionem), alles Hängen am menschlichen Ruhm (gloriae humanae appetitum) und andere, verborgenere Pestilenz (aliasque secretiores pestes) dieser Art! […] wer es gelernt hat, bei allem, was er auszurichten hat, auf Gott zu schauen, der wird dadurch zugleich von allen unnützen Gedanken (ab omni vana cogitatione) abgewendet.“68 Gutes tun, heißt nach Calvin eben vor allem Selbstverleugnung.69 e) Die Mäßigung (temperantia) Calvin kann schließlich in seinem Römerbriefkommentar (1540) auch die Mäßigung (moderatio)70 als die „entscheidende Tugend der Gläubigen (praecipua fidelium virtus)“71 prädizieren, wobei er nicht etwa aristotelisch die Mitte (mesotēs) zwischen zwei Extremen avisiert, sondern eine Vermeidung von Hindernissen, sich Gott ganz hinzugeben und ungeheuchelte Buße zu tun.72 f) Der Gehorsam (obedientia) Doch damit nicht genug, kann Calvin auch den Gehorsam (obedientia)73 gegen Gott mit Augustin „die Mutter und Wächterin aller Tugend (matrem custodemque virtutum omnium)“74 nennen. Angesichts des menschlichen Ungehorsams werde die negative Gerichtsaussicht für den Sünder offenbar, zumal ein Zusammenhang zwischen Gericht und Tugend bestehe: „Tugenden haben bei ihm Belohnung zu erwarten (reposita virtutibus apud se praemia).“75 68

Inst. (1559), III,7,2. Calvin (ebd.) bemerkt in diesem Zusammenhang weiter: „Man zeige mir doch, wenn man kann, einen Menschen, der anderen umsonst Gutes tun wollte (gratis exercere bonitate, inter homines velit) – ohne sich nach dem Gebot des Herrn selbst verleugnet zu haben (qui nisi sibi, iuxta Domini mandatum, renuntiarit)! Denn wer von dieser Gesinnung (hoc sensu) nicht beherrscht wird, der hat zum wenigsten das Lob im Auge, wenn er den Weg der Tugend geht (virtutem sequuti sunt)!“ 69 Inst. (1559), III,7,2. 70 Vgl. zur Mäßigung A. THIEL, In der Schule Gottes, 234–239; W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 319–327. 71 CStA 5/2,647. 72 So D. SCHÖNBERGER, Gemeinschaft mit Christus, 235f. D. SCHÖNBERGER (a.a.O., 236ff.) entfaltet einen kurzen Vergleich mit Aristoteles. 73 Vgl. zum Gehorsam als Tugend bei Calvin W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 266–283. 74 Inst. (1559), II,8,5. 75 Inst. (1559), II,8,4.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

g) Die Geduld (patientia) Calvin nennt des Weiteren die Geduld (patientia)76 eine Tugend: „Wenn der Herr den Seinen Trübsal schickt, so hat er dabei auch noch einen anderen Zweck im Auge: er will ihre Geduld erproben (ipsorum patientiam exploret) und sie zum Gehorsam erziehen (ad obedientiam eos erudiat).“77 Der pädagogische Aspekt des Tugendverständnisses Calvins kommt hier deutlich zum Tragen: „Gott tut […] durchaus recht daran, wenn er seinen Gläubigen Ursache gibt, die Tugenden zu erwecken (virtutes contulit), die er ihnen hat zuteil werden lassen – damit sie nicht im Dunklen verborgen bleibe oder gar unnütz daliegen und verderben. Ist es aber so, dann besteht für die Trübsal der Heiligen (sanctorum afflictiones), ohne die ja ihre Geduld nichts wäre (nulla foret eorum patientia), eine sehr gewichtige Ursache.“78 h) Die Ehrfurcht (timor) Schließlich erwägt Calvin auch, der Furcht bzw. genauer: der Ehrfurcht Gottes (timor Dei) einen besonderen Status zuzusprechen,79 insbesondere da sie die Buße80 als Wirkung hervorrufe: „Die Furcht Gottes ist der Anfang der Buße (timor Dei poenitentiae principium est).“81 Der entfaltete Katalog höchster Tugenden zeigt in seiner Varianzbreite (a–h), wie wenig Interesse Calvin an einer systematischen Klassifikation von Tugenden hatte. Eine gewisse Eklektik und ein Verzicht auf Kanonisierung der Tugenden bestätigen sich angesichts der widersprüchlichen Hierarchisierung einschließlich der mangelnden systematischen Verknüpfung der einzelnen Tugenden. 3. Die Rede von Tugenden bei Calvin Eine Spurensuche in den Gattungen seines Œuvres Immer wieder rekurriert Calvin auf Tugenden, gebraucht das Vokabular der Tugendsprache und stellt tugendethische Erwägungen an. 76

Vgl. zur Geduld bei Calvin vgl. W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 319–322. 77 Inst. (1559), III,8,4. Zur pädagogischen Denkungsart Calvin vgl. die Problematisierung in: M. HOFHEINZ, Johannes Calvins theologische Friedensethik, 74–76; E.M. FABER, Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, Neukirchen-Vluyn 1999, 169–177. 78 Inst. (1559), III,8,4. 79 So Inst. (1559) III,3,2. 80 Zur Buße bei Calvin vgl. D. SCHÖNBERGER, Gemeinschaft mit Christus, 209–218. 81 So Inst. (1559), III,3,7. Vgl. W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 312–319.

3. Die Rede von Tugenden bei Calvin

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Dies ist charakteristisch für sein gesamtes Schrifttum und überrascht zunächst insofern nicht, als dass ein popularphilosophisches TugendWissen seit der Antike weit verbreitet war. Calvin konnte es bei seinen Hörerinnen und Hörern, Leserinnen und Lesern voraussetzen. Alle literarischen Genera des Werkes Calvins sind – wie im Folgenden kurz anhand weniger Beispiele demonstriert werden soll – davon betroffen: a) die Traktate und Gelegenheitsschriften; b) der umfangreiche Briefwechsel Calvins; c) schließlich die „Institutio“ und seine Kommentare zu den biblischen Büchern einschließlich seiner Predigten. Für diese letzte Kategorie wird in Kap. 4, in dem es darum geht, den Tugendbegriff im theologischen Begründungszusammenhang Calvins weiter zu entfalten, eine Rekonstruktion der tugendethischen Ansätze bei Calvin geboten. 3.1 Traktate und Gelegenheitsschriften Calvins Im Widmungsschreiben zur Erstausgabe der „Institutio“ (1536) an den französischen König Franz I. macht Calvin deutlich, dass Tugenden nicht als Vorzüge zu verstehen sind, die der Mensch im Sinne von guten Werken erwirbt. Dies ist grundlegend für Calvins Tugendverständnis und kann kaum stark genug betont werden. Rechtverstanden handelt es sich bei Tugenden vielmehr um Gaben Gottes, die er dem Menschen als Geschenke zukommen lässt: „[W]as entspricht dem Glauben besser und genauer als die Erkenntnis ([q]uid enim melius atque aptius fidei convenit), daß wir aller Tugenden entblößt sind (nos omni virtute nudos), damit Gott uns bekleide (ut a Deo vestiamur)?“82 Den Gegnern der französischen Protestanten (Hugenotten) wirft Calvin dementsprechend vor: „[S]ie können es nicht ertragen, daß Lob und Ruhm (laudem ac gloriam) für alles Gute (omnis boni), für alle Tugend (virtutis), Gerechtigkeit (iustitiae) und Weisheit (sapientiae) vollständig auf Gottes Seite gehören (apud Deum residere).“83 Calvin greift den Entwicklungs- bzw. Fortschrittsgedanken hinsichtlich der Lebensführung seiner Glaubensgeschwister positiv auf, ohne ihn hier durch ein Verdienstdenken diskreditiert zu sehen: „Auch sind die Fortschritte, die wir durch Gottes Gnade im Evangelium gemacht haben (in Evangelio profecimus), nicht so erfolglos geblieben, daß unser Leben diesen Verleumdern nicht ein Beispiel (exemplum) an Keuschheit (castitatis), Güte (benignitatis), Mitleid (misericordiae), Selbstbeherrschung (continentiae), Geduld (patientiae), Bescheidenheit (modestiae) und jeder anderen Tugend (virtutis cuiusvis) geben könnte.“84 82 83 84

CStA I/1,73. CStA I/1,75. CStA I/1,105.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

In seiner Auseinandersetzung mit dem Trienter Konzil, den Acta Synodi Tridentinae (1547),85 wirft Calvin den Trienter Konzilsvätern dementsprechend vor, das „Wachstum der Gerechtigkeit“ (incrementa iustitiae) verdienstlich zu interpretieren und beruft sich dabei auf Augustin: „Im elften Kapitel, wo sie ‚das Wachstum der Gerechtigkeit‘ beschreiben, bringen sie die freignädige Zurechnung der Gerechtigkeit (gratuitam iustitiae imputationem) nicht nur mit den Verdiensten der Werke (operum meritis) durcheinander,86 sondern vertreiben sie nahezu. Die Worte lauten: Die Gläubigen wachsen in der Gerechtigkeit in guten Werken ([c]rescere fideles in iustitia bonis operibus) ‚durch die Beachtung der Gebote Gottes und der Kirche‘ und werden von daher ‚noch mehr gerechtfertigt‘ (magisque inde iustificari). Wenn sie wenigstens die Einschränkung Augustins gebrauchten: ‚Die Gerechtigkeit der Gläubigen ([i]ustitiam fidelium) besteht, solange sie in der Welt leben, mehr in der Vergebung der Sünden als in der Vollendung der Tugenden (quam perfectione virtutum).‘ Jedoch lehrt er, daß man sich keineswegs auf die Gerechtigkeit der Werke (operum iustitia), die er mit Geringschätzung nennt, von irgendeiner Seite stützen darf.“87

An diesem Zitat wird deutlich, dass sich der Tugendbegriff und die reformatorische Rechtfertigungslehre, auf die Calvin mit der Ablehnung des meritum-Gedankens im Zusammenhang der freignädigen Zurechnung der Gerechtigkeit anspielt, in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. Dies wird noch näher zu explorieren sein. Zunächst sei schlicht festgehalten, dass es auch Calvin – wie Luther88 – 85

Zu Calvins Rezeption des Trienter Konzils vgl. R.W. HOLDER, Of Councils, Traditions, and Scripture. John Calvin’s Antidote to the Council of Trent, in: H.J. SELDERHUIS / A. HUIJGEN (Hg.), Calvinus Pastor Ecclesiae. Papers of the Eleventh International Congress on Calvin research, RHT 39, Göttingen 2016, 305–317. Vgl. zur Rechtfertigungslehre Calvins auf dem Hintergrund des Konzils M. BEINTKER, Calvins Beitrag zur ökumenischen Verständigung in der Rechtfertigungslehre, in: A. BIRMELÉ / W. THÖNISSEN (Hg.), Johannes Calvin ökumenisch gelesen, Paderborn / Leipzig 2012, 9–35. 86 Vgl. zu Calvins Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Verdienst-Denken CH. RAITH II, After Merit. John Calvin’s Theology of Works and Rewards, R5AS 34, Göttingen 2016. 87 CStA 3,173. Das Augustin-Zitat findet sich in: DERS., De civitate Dei 19,27. Ähnlich lautet Calvins Vorwurf an Andreas Osiander. Vgl. Inst. (1559), III,6,6; III,11,14. Zur Auseinandersetzung mit Osiander vgl. W. NIESEL, Calvin wider Osianders Rechtfertigungslehre, KZG 46 (1928), 410–430; T. STADTLAND, Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin, BGLRK 32, Neukirchen-Vluyn 1972, 96–106; J. CANLIS, Calvin, Osiander and Participation in God, IJST 6 (2/2004), 169–184. 88 Vgl. zu Luthers Verhältnisbestimmung von Rechtfertigungsglaube und Tugendlehre vgl. M. HÜTTENHOFF, Tugend und Haltung, 481–485; N. SLENCZKA, „Virtutibus nemo male utitur“ (Augustin). Die aristotelische Tradition der Tugendethik und die protestantische Ethik. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis der Unfreiheit des freien Willens, in: H. DEUSER / D. KORSCH (Hg.), Systematische Theologie heute. Zur Selbstverständigung einer Disziplin, WWGT 23, Gütersloh 2004, 170–192, 179–181.

3. Die Rede von Tugenden bei Calvin

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um diejenige Gerechtigkeit geht, die Gott allein aus Gnade (sola gratia) dem Menschen zuspricht. 3.2 Briefe Calvins Calvin greift auch in seinen Briefen immer wieder auf die Tugendbegrifflichkeit zurück. Um auch hier nun weniges exemplarisch zu nennen: Nach offenkundigen verbalen Entgleisungen Martin Luthers gegenüber den reformierten Reformatoren bittet Calvin in einem Brief an seinen Zürcher Freund und Kollegen Heinrich Bullinger diesen um Rücksicht –, und zwar unter Verweis auf Luthers Temperament: „Wenn er [Luther] mich den Teufel schölte, ich würde ihm doch die Ehre antun, ihn für einen ganz hervorragenden Knecht Gottes zu halten, der freilich auch an großen Fehlern (magnis vitiis) leidet, wie er an herrlichen Tugenden (eximiis virtutibus) reich ist. Hätte er sich doch bemüht, sein stürmisches Wesen besser im Zaum zu halten, mit dem er überall herausplatzt.“89 Hier ist der Tugendbegriff eindeutig positiv konnotiert. Oder im Blick auf Spannungen zwischen Straßburg und Zürich schreibt Calvin an Bullinger über deren Straßburger Kollegen Martin Bucer: „[I]ch bitte Dich, lieber Bullinger, mit welchem Recht sollten wir uns von Butzer fernhalten […]? Ich will jetzt nicht die seltenen und vielen Tugenden (virtutes et raras et permultas) preisen, durch die Butzer sich auszeichnet, nur so viel will ich sagen: Ich täte der Kirche Gottes schweres Unrecht, wollte ich ihn hassen oder verachten; ganz zu schweigen von seinem Verdienst um mich persönlich.“90 Nicht nur im Blick auf und im Gespräch mit weiteren Reformatoren, sondern auch in der Korrespondenz mit vielen europäischen Herrscherfamilien bemüht Calvin immer wieder den Tugendbegriff. Die Kategorie der Tugend wird von ihm offenkundig auch auf das öffentliche Leben bezogen. So spricht er von „königlichen Tugenden“ (regias virtutes)91 und verweist auf den König David, der gelobt, „[e]in Vorbild in solchen Tugenden (quarum virtutem exemplar) […] sein 89

SCHWARZ 1,285 (CO 11,774); Brief vom 25.11.1544; zu Luther vgl. auch den Brief an Prof. Martin Sidemann in Erfurt von 14.3.1555; SCHWARZ 2,764. Zum Briefwechsel mit Bullinger siehe A.I.C. HERON, Calvin an Bullinger 1536–1549, in: M. FREUDENBERG (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 1, Wuppertal 1999, 49–69. 90 SCHWARZ 2,423 (CO 12,729); Brief vom 26.6.1548. Ähnlich äußert sich Calvin bezüglich Melanchthon (vgl. SCHWARZ 2,608; Brief an den Rat von Genf vom 6.10.1552). Zum Verhältnis von Calvin und Bucer vgl. M. DE KROON, Martin Bucer und Johannes Calvin. Reformatorische Perspektiven, Göttingen 1991. 91 Inst. (1559), IV,20,10.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

zu wollen“92, indem er für das gemeinsame Wohlergehen und den gemeinsamen Frieden aller sorgt. Für die Realisierung dieser Tugenden stehe ihm Ehre zu, selbst wenn in seinem Herzen „die Sorge um Billigkeit und Recht (aequi iustique cura) erkalten“93 sollte.94 Mag sich in Calvins recht umstandslosem Rekurs auf Tugenden in seiner Korrespondenz mentalitätsgeschichtlich so etwas wie ein Sitten- und Zeitgemälde widerspiegeln, so ist dieser Umstand doch insofern aussagekräftig, als dass Calvin diese konventionelle Redeweise von Tugenden keineswegs aus theologischen oder sonstigen Bedenken heraus ablehnt, sondern gebraucht. In seinem Brief an den englischen Lordprotektor und Förderer des Protestantismus Eduard Seymour, Herzog von Somerset, mahnt Calvin etwa nach dessen Absetzung: „[E]s [ist] eine so schwere Tugend, unsere Leidenschaften zu überwinden (cest une vertu si difficile de surmonter noz passions), und zwar so weit, daß wir Böses mit Gutem vergelten können, daß wir nie genug dazu ermahnt werden können.“95 An John Gray, den Onkel der enthaupteten „Neuntagekönigin“ Jane Gray, schreibt er nach dessen Entlassung aus dem Tower: „[D]er Herr hat Dich nicht für kurze Zeit in hartem Kampf geübt, damit Du Deinen hohen Mut beweisest; sondern damit Du auch nach dem Fall, in dem Dein großes, glänzendes Glück zusammenbrach, den übrigen Abschnitt Deines Lebensberufs ruhig und gleichmütig durchwallest. Er wollte Dich an das Gebot gewöhnen, das uns Paulus durch sein Beispiel vorschreibt [Phil. 4,12], nämlich zu lernen, ebensowohl niedrig als hoch zu sein. Wenn Du nun auch in dieser Tugend, so selten und schwer sie ist, Fortschritte machst (rarior et magis difficilis est haec virtus, si ea profeceris), so ist dadurch alles reichlich aufgewogen, was Du beim Schiffbruch Deines Glücks verloren hast.“96 92 93 94 95 96

Inst. (1559), IV,20,9. Inst. (1559), IV,20,9. Vgl. auch Inst. (1559), IV,20,22. SCHWARZ 2,512 (CO 13,529); Brief aus dem Februar 1550. SCHWARZ 2,723 (CO 15,309); Brief vom 13.11.1554. Vgl. auch die Briefe an Eduard VI, König von England (Brief vom 4.7.1552 [SCHWARZ 2,601]; Brief vom 12.3.1553 [SCHWARZ 2,631]), an König Sigismund August von Polen (Brief vom 5.12.1554 [SCHWARZ 2,729]), an den Grafen Georg von Württemberg und Montbéliard (Brief vom 2.5.1557 [SCHWARZ 3,887]), an den Kronprinz Erich von Schweden (Brief vom 26.2.1559 [SCHWARZ 3,1003]), Antoine de Bourbon, König von Navarra (Brief vom Mai 1561 [SCHWARZ 3,1123]), James Stuart, den Sohn Jakobs V. und Bruder Maria Stuarts (Brief vom 11.7.1561 [SCHWARZ 3,1128]), Jeanne d‘Albert, Königin von Navarra (Brief vom 20.2.1563 [SCHWARZ 3,1215; 1217]), Antoine de Croy, Prinz de St.-Porcien (Brief vom 8.5.1563 [SCHWARZ 3,1230]), Leonor, Herzog de Longueville (Brief vom 26.5.1559 [SCHWARZ 3,1020]) und Herzogin Renata von Ferrara (Brief vom 24.1.1564 [SCHWARZ 3,1273f.] und Brief vom 4.4.1564 [SCHWARZ 3,1277]), um nur einige zu nennen. Vgl. auch A.I.C. HERON, Calvins Korrespondenz mit England in der Regierungszeit Edwards VI. (1547–1553), in: M. FREUDENBERG / J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY (Hg.), Calvin und seine Wirkungen. Vorträge der 7.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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Dieser Brief ist insofern hochinteressant, als dass hier der Gedanke von Fortschritten im Blick auf Tugenden klar und deutlich artikuliert wird. Auch darauf wird zurückzukommen sein, wenn im Folgenden der theologische Begründungszusammenhang der tugendethischen Ansätze Calvins rekonstruiert werden soll. 4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559) und seinen Bibelkommentaren 4.1 Anthropologische Grundlagen der Tugendlehre Dass eine Tugendlehre jedweder Couleur nicht ohne anthropologische Prämissen auskommen kann, dürfte evident sein. In ihr manifestiert sich unweigerlich ein bestimmtes Menschenbild. Bereits die großen Tugendkonzeptionen der griechisch-römischen Antike gingen bei der Verknüpfung von Tugend und Glück von bestimmten Annahmen aus, wie das um des eigenen Glücks (gr. eudaimonia, lat. felicitas) willen angestrebte Gutsein realisiert werden kann:97 Dazu bedarf es bestimmter Voraussetzungen, um jene kognitiven und emotionalen Fähigkeiten und Kräfte auszubilden, die eine tugendhafte Lebenshaltung kennzeichnen. Etwa die durch Belehrung erlangten Verstandestugenden (auch dianoetische Tugenden genannt) sowie die durch Gewohnheit als Erkenntnis der Mitte (mesotēs)98 gewonnenen Charaktertugenden (auch ethische Tugenden genannt), zwischen denen Aristoteles unterscheidet, ruhen gleichsam auf bestimmten Grundlagen, d.h. einem vorausgesetzten Menschenbild.99 In ähnlicher Weise ließe sich das für Platon mit seinem hierarchischen Menschenbild geltend machen, wonach die Vernunft die Führung unten den Seelenkräften innehat. Platons Tugendlehre ist nämlich an seine Ideenlehre und damit an die Vorstellung von der Vernunft als Leiterin der Seelenkräfte rückgebunden. So sorgt die TuEmder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 13, Neukirchen-Vluyn 2009, 147–161. 97 Nach ARISTOTELES (NE I,6, 1097b) ist etwa die Glückseligkeit „das höchste Gut“, das durch Handeln erreicht werden kann. 98 Vgl. ARISTOTELES, NE II,5ff. (1106a ff.). 99 ARISTOTELES (vgl. NE I,6, 1097b–1098a) fragt etwas nach der besonderen Tätigkeit (ergon) des Menschen im Unterschied zum Tier: „Welche mag sie nun sein? Das Leben offenbar nicht, denn dies besitzen auch die Pflanzen, wir suchen aber das dem Menschen Eigentümliche. Das Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszuscheiden. Es würde darauf das Leben der Wahrnehmung folgen, aber auch dieses ist gemeinsam dem Pferd und Rind und allen Tieren überhaupt. Es bleibt also das Leben in der Betätigung des vernunftbegabten Teiles übrig.“

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gend der Gerechtigkeit für die Harmonie dieser Seelenkräfte und die Ordnung im politischen Gemeinwesen.100 Dass die anthropologischen Grundlagen in der Regel in tugendethischen Konzeptionen recht optimistisch eingeschätzt wurden, dürfte wenig überraschen, zumal ja nicht nur von der grundsätzlichen Möglichkeit ausgegangen wird, das Richtige zu tun, sondern dieses Tun auch zu erlernen: Der Tugendhafte „tut das Richtige habituell, d.h. gewohnheitsmäßig und dauerhaft“101. Bei Aristoteles heißt es: „Die Tugenden […] erwerben wir, indem wir sie zuerst ausüben, wie es auch für die sonstigen Fertigkeiten gilt. Denn was wir über das Lernen zu tun fähig werden sollen, das lernen wir eben, indem wir es tun: durch Bauen werden wir Baumeister und durch Kitharaspielen Kitharisten. Ebenso werden wir gerecht, indem wir gerecht handeln, besonnen durch besonnenes, tapfer durch tapferes Handeln.“102

Dass sich für reformatorische Theologie daraus im Blick auf ihr Sündenverständnis im Sinne einer grundsätzlichen Selbstbezogenheit und Trennung von Gott Widerspruch ergibt, dürfte wenig überraschen. Dieser Widerspruch artikuliert und manifestiert sich bei Calvin, wenn er gegenüber einer Überschätzung natürlicher menschlicher Fähigkeiten von der „verderbten Natur der Menschen“ (corrupta hominis natura)103 spricht: „Es bleibt also dabei, daß die Menschen nicht etwa bloß durch böse Gewohnheit so geworden sind (non praevae duntaxat consuetudinis vitio tales esse homines), wie sie hier beschrieben werden, sondern auch durch die Verderbnis der Natur (sed naturae quoque pravitate).“104 Der Einfluss von Gewohnheiten auf das Werden von Menschen wird damit keineswegs ausgeschlossen, allerdings die biblisch mit dem Stichwort „Sünde“ umschriebene wesenhafte Qualität des Menschseins in Rechnung gestellt. Calvin beruft sich ausdrücklich auf Röm 3,10–13, wenn er fortfährt: „Sonst hätte die Beweisführung des Apostels keinen festen Grund; denn er will ja zeigen, daß der Menschen nur von Gottes Barmherzigkeit Heil erwarten kann ([n]ullam esse homini salutem nisi a Domini misericordia), weil er ja in sich selber verloren und trostlos dahingegen ist (quia in se perditus est et deploratus).“105

100 101

Vgl. PLATON, Politeia, 369b ff. CH. HORN, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998, 113. 102 ARISTOTELES, NE II,1,1103a. 103 Überschrift Inst. (1559), II,3. 104 Inst. (1559), II,3,2. 105 Inst. (1559), II,3,2.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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Unter dieser Zielperspektive106 der in Gottes Barmherzigkeit gründenden Heilserwartung steht das, was Calvin über den Menschen und seine Tugenden sagt. Es ist diese Zielperspektive, die Calvin pauschal bei „den“ Philosophen (Plural!) vermisst und von denen er sich darum abgrenzt: „Wenn uns die Philosophen eine ganz ausgezeichnete Ermahnung zur Tugend geben wollen ([i]illi, dum ad virtutem egregie volunt adhortari), dann tragen sie uns doch nichts anderes als den Satz vor, wir sollten der Natur gemäß leben (nihil aliud afferunt quam ut naturae convenienter vivamus).“107

Gleichsam ernüchtert stellt Calvin fest: „Wenn diese [die Philosophen] die Tugend preisen wollen (qui in commendatione virtutis), so kommen sie doch nie über die natürliche Würde des Menschen hinaus (nunquam supra ominis naturalem dignitatem conscendunt)!“108 Calvin hält demgegenüber ein „Mißtrauen gegen die eigene Tugend (propriae virtutis diffidentia)“109 grundsätzlich für angezeigt. Damit setzt sich Calvin – wie er sich durchaus bewusst ist – dem Vorwurf aus, mit der Verderbnis der menschlichen Natur eine pessimistische Anthropologie zu vertreten, die dazu unfähig sei, nicht nur nicht kulturelle und gesellschaftliche Fortschritte, sondern auch in106

Vgl. dazu die Thesen 32 und 33 von Luthers „Disputatio de homine“ von 1536 (WA 39/1,176,33–37), in der diese Zielperspektive geradezu als die Definition des Menschen erscheint: „[These 32] Paulus fasst in Röm.3,28: ‚Wir erachten, dass der Mensch durch Glauben unter Absehen von den Werken gerecht wird‘ in Kürze die Definition des Menschen dahin zusammen, dass der Mensch durch Glauben gerechtfertigt werde.“ (Paulus Rom. 3: Arbitramur hominem iustificari fide absque operibus, breviter hominis definitionem colligit, dicens, Hominem iustificari fide.) [These 33] Wer vom Menschen sagt, er müsse gerechtfertigt werden, der behauptet gewiss, dass er Sünder und Ungerechter und deshalb vor Gott schuldig, jedoch durch Gnade zu retten sei. (Certe, qui iustificandum dicit peccatorum et iniustum, ac ita reum coram Deo asserit, sed per gratiam salvandum.)“ Zit. nach der Übersetzung von G. EBELING, in: Martin Luther. Ausgewählte Schriften, Bd. 2: Erneuerung von Frömmigkeit und Theologie, hg. v. K. BORNKAMM / G. EBELING, Frankfurt a.M. 1982, 296f. Siehe dazu W. JOEST, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 347–351; G. EBELING, Lutherstudien Bd. II: Disputatio de homine. Teil 3. Die theologische Definition des Menschen. Kommentar zu These 20–40, Tübingen 1989, 404–430; H. DEMBOWSKI, Martin Luthers Disputatio de Homine von 1536, in: DERS., Wahrer Gott und wahrer Friede. Aufsätze und Vorträge zwischen Ost und West, hg. v. H. FALCKE / H. SCHRÖER, Leipzig 1995, 394–414, 400ff. 107 Inst. (1559), III,6,3. Vgl. ARISTOTELES, NE II,1, 1103a: „Die Tugenden sind also weder von Natur noch gegen die Natur. Wir sind vielmehr von Natur dazu gebildet, sie aufzunehmen, aber vollendet werden sie durch die Gewöhnung. Ferner bei allem, was wir von Natur haben, bringen wir zunächst die entsprechenden Fähigkeiten mit und entwickeln später die Tätigkeit.“ 108 Inst. (1559), III,6,3. 109 Inst. (1559), II,8,3.

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nerhalb des persönlichen Nahbereichs eigene Tugendhaftigkeit im Verhalten zu würdigen. Der Vorwurf lässt sich in die Konterfrage transformieren: Gibt es nicht eine Fülle von Gegenbeispielen, von tugendhaften Menschen, die dies widerlegen? Calvin greift diese Frage explizit auf und thematisiert den Einwand, dass es zu allen Zeiten Menschen gegeben habe, „die unter Leitung ihrer natürlichen Anlagen ihr Leben lang nach der Tugend sich ausstreckten (qui natura duce ad virtutem tota vita intenti essent)!“110 Gleichsam Anschauungsmaterial liefernd verweist Calvin auf das Beispiel des „vorbildlichen“ römischen Politikers und Feldherrn Camillus (446–365 v.Chr.): „Ich gestehe […]: Die herrlichen Eigenschaften (speciosae dotes) die Camillus besaß, waren Gottes Geschenk (Dei fuisse dona) und sind, wenn man sie an sich betrachtet, mit vollem Recht des Lobes (iure commendabiles) wert.“111 Freilich sei der Rückschluss von solcher Tugendhaftigkeit auf eine „natürliche Rechtschaffenheit (naturalis probitatis)“112, eine gleichsam unkorrumpierte Natur des Camillus nicht statthaft: „[G]erade weil solche Tugendhaftigkeit aus der total korrumpierten Natur ganz und gar nicht ableitbar ist, deshalb sind diese Tugenden nicht als besondere Gnadengaben Gottes (speciales Dei gratiae) – nicht als communes naturae dotes – zu begreifen.“113 Ausdrücklich verweist Calvin darauf: „Es handelt sich bei jenen Vorzügen (etwa des Camillus) nicht um natürliche Gaben (communes naturae dotes), sondern um besondere Gnadengaben Gottes (speciales Dei gratiae), die er in mannigfaltiger Weise nach bestimmter Ordnung auch ungläubigen Menschen zuteilwerden läßt (profanis alioqui hominibus dispensat).“114 Mit Augustin, auf den sich Calvin wieder einmal explizit beruft,115 hält er fest: „Wenn ein natürlicher Mensch sich durch solche Makellosigkeit der Sitten hervorgetan hat (si homo animalis tali morum integritate praestitit), so fehlt gewiß der Natur nicht eine gewisse Fähigkeit, nach der Tugend zu trachten (non deesse utique naturae ad virtutis studium facultatem).“116 Freilich bleibt es bei einem „Trugbild der Tugend (virtutis imago)“117, die

110 111 112 113

Inst. (1559), II,3,3. Inst. (1559), II,3,4. Inst. (1559), II,3,4. W. KRUSCHE, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, FKDG 7, Göttingen 1957, 119f. 114 Inst. (1559), II,3,4. 115 Zu Augustins Verhältnisbestimmung von „heidnischen“ und christlichen Tugenden vgl. J.R. BOWLIN, Tolerance Among the Virtues, Princeton/Oxford 2016, 52–57. 116 Inst. (1559), II,3,4. 117 Inst. (1559), II,3,4.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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Anteil „an dem allgemeinen Zustand menschlicher Verderbnis (sub universali humanae pravitatis conditione)“118 hat. Entscheidend ist nun, dass Calvin die Gottesbeziehung ins Spiel bringt und versucht, die Anthropozentrik der Fragestellung hin zu einer Theozentrik zu öffnen.119 Über den Menschen und sein Vermögen, wie es sich in Tugenden niederschlägt, lässt sich Calvin zufolge nur im Lichte des Handelns Gottes am Menschen sprechen. Diese Theozentrik der Perspektive liegt gewissermaßen quer zur Frage, ob eine pessimistische oder eher optimistische Anthropologie vertreten wird, sofern diese beiden gleichermaßen einer anthropozentrischen Perspektive entspringen. Genau diese wird bei Calvin indes gebrochen, d.h. die anthropologische Fragestellung in einer Art „refraiming“ als Frage theologischer Anthropologie entfaltet. In diesem neugewonnenen (Referenz-)Rahmen theologischer Anthropologie konzediert Calvin durchaus, „daß die Gnade Gottes (gratiae Dei) auch innerhalb dieser Zerstörung der Natur (inter illam naturae corruptionem) doch noch Raum hat; freilich wirkt sie nicht reinigend (purget), sondern innerlich hemmend (intus cohibeat).“120 Hier wird also Gottes providentielles Handeln im Sinne einer „Hemmung“ ins Spiel gebracht. Was aber meint Hemmung im Unterschied zu Reinigung? Calvin erläutert: „Gott [legt] in seiner Vorsehung (providentia) der Natur Zügel an (naturae perversitatem refraenat), damit sie nicht zur (vollen) Wirkung hervorbreche (ne in actum erumpat); aber inwendig macht er sie nicht rein.“121 Die Gnade wirkt „nicht regenerierend, sondern lediglich cohibitiv“.122 Calvin kann eine gewisse Ausprägung von Tugenden bezeichnenderweise auch bei ungläubigen Menschen als Gottes Gaben würdigen, wie er am Beispiel diverser römischer Cäsaren des ersten nachchristlichen Jahrhunderts verdeutlicht: „Zunächst leugne ich nicht, daß alle hervorragenden Gaben (egregiae dotes), die man an den Ungläubigen sehen kann, Gottes Geschenke sind (esse Dei dona). Ich bin auch von dem Urteil des gesunden Menschenverstandes nicht so weit entfernt, daß ich etwa behaupten wollte, zwischen der Gerechtigkeit (iustitiam), Mäßigkeit (moderationem) und Billigkeit (aequitatem) eines Titus und Trajan und der Wüterei (rabiem), Maßlosigkeit (intemperiem) und 118 119

Inst. (1559), II,3,4. Zur Anthropologie Calvins vgl. die klassische Studie Zur Anthropologie vgl. TH.F. TORRANCE, Calvins Lehre vom Menschen, Zollikon-Zürich 1951; CH. LINK, Humanität in reformatorischer Perspektive. Zum Menschenbild Calvins, in: M. GRAF u.a. (Hg.), „Was ist der Mensch?“ Theologische Anthropologie im interdisziplinären Kontext. FS Wolfgang Lienemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2004, 163–174. 120 Inst. (1559), II,3,3. 121 Inst. (1559), II,3,3. 122 W. KRUSCHE, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, 119.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

Grausamkeit (saevitiam) eines Caligula, eines Nero oder Domitian, zwischen den widerwärtigen Gelüsten eines Tiberius (obscoenas Tiberii libidines) und der Enthaltsamkeit (continentiam) des Vespasian in diesem Punkt und […] zwischen der Beachtung von Recht und Gesetzen (iuris legumque observationem) und deren Verachtung (contemptum) sei kein Unterschied.“123

Mit Augustin kann Calvin auch, diese höchst ambivalente Reihe der römischen Cäsaren mit römischen „Helden“ der römischen Republik konterkarierend, „solche Männer wie Fabricius, Scipio und Cato bei ihren herrlichen Taten (in illis suis praeclaris facinoribus)“124 rühmen,125 freilich nicht ohne die Perversion ihrer Taten zu benennen, die dazu führe, dass ihre Werke nicht in einem theologischen Vollsinn zu den Tugenden gerechnet werden können. Denn dafür sei die Zielrichtung der Taten, mit anderen Worten: die Gottesrelation, entscheidend: „Ihre Werke sind also durch die Unreinigkeit ihres Herzens (ab ipsa cordis impuritate) gewissermaßen von ihrem Ursprung her verdorben (a sua origine, corrupta sint) und können deshalb ebensowenig zu den Tugenden gerechnet werden (non magis inter virtutes ponenda erunt), wie die Laster (vitia), die um ihrer Verwandtschaft oder Ähnlichkeit mit der Tugend (affinitatem ac similitudinem virtutis) willen die Menschen zu täuschen pflegen. Kurz, wenn wir bedenken, daß alles rechte Tun seinen steten Zweck (recti finem) in dem Dienst hat, der Gott zu leisten ist (ut Deo serviatur), so verliert damit alles, was in andere Richtung geht, billigerweise die Bezeichnung als ‚rechtes Tun‘ (merito amittit recti nomen).“126

Calvins Argumentation erinnert stark an Luthers prägnantes Diktum: „Was nicht im Dienst steht, steht im Raub“127 – der Ehre Gottes, wie Calvin ergänzen würde. Hinsichtlich des verkehrten Zieles der Taten spricht Calvin mit Augustin von Sünde, die mit anderen Worten in der verfehlten Gottesbeziehung besteht, zumal Gott selbst das Ziel menschlichen Handelns darstellen soll. Dieses zielbezogene, menschliches Handeln ausrichtende Wollen umschreibt nach Calvin nichts anderes als den Glauben an Gott. Ohne diesen Glauben verkehre sich alles, wenngleich ein Gabenempfang auch auf Seiten ungläu123 124

Inst. (1559), III,14,2. Inst. (1559), III,14,3. Catos weisheitlichem Diktum stimmt Calvin ausdrücklich zu: „[W]er sich groß um seine äußere Zier mühe, der mühe sich eben sehr wenig um die Tugend (virtutis).“ Inst. (1559 ), III,10,4. 125 Vgl. zu dieser Beispielreihe auch CO 50,255 (Komm. Gal 5,22). 126 Inst. (1559), III,14,3. Zur „Verhätschelung“ der Laster als Tugenden vgl. auch Inst. (1559), III,7,4: „Unsere Laster, von den wir so viele haben, verstecken wir mit Fleiß vor den anderen und machen uns selber schmeichlerisch vor, sie seien geringfügig und unerheblich, ja, wir hätscheln sie gar noch als Tugenden (pro virtutibus osculamur)!“ 127 WA 12,470 (Predigt über Lk 19,29–34, 1523).

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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biger Menschen zu konzedieren sei. Freilich gilt nach Calvin: „[D]ie Tugenden eines Curius, Fabricius, Cato und Scipio und Fabius [werden] als vorzüglich lediglich in der Einschätzung nach den Maßstäben der bürgerlichen Gerechtigkeit (civili tantum aestimatione) gewertet.“128 Wirkliche Tugend gibt es nur bei Menschen, bei denen das Herz durch den Glauben als Gabe Gottes neu geworden ist. Den Gabenempfang umschreibt Calvin wiederum in einer für reformatorische Theologie signifikanten Terminologie des Passiven mit der bildhauerischen Metapher des „Einmeißelns“: „Deshalb hat auch der Herr solche Unterscheidung zwischen ehrbaren und schnöden Taten (distinctionem inter honesta et turpia facinora) jedem einzelnen ins Herz eingemeißelt (insculpsit), und er bekräftigt sie auch noch oft durch die Art, wie seine Vorsehung sich auswirkt (nämlich Gut und Böse verteilt). Wir sehen doch, wie er Leute, die unter den Menschen nach Tugend trachten (qui inter homines virtutem colunt), mit vielen Segnungen des gegenwärtigen Lebens verfolgt. Nicht etwa, daß dieses äußerliche Bild der Tugend (externa illa virtutis imago) seine Wohltat im mindesten verdiente. Nein, es gefällt ihm, auf die Art zu beweisen, wie herzlich er die wahre Gerechtigkeit liebt, daß er auch die äußerliche und erheuchelte nicht ohne zeitliche Belohnung bleiben läßt. Daraus folgt, was wir eben anerkannt haben, nämlich, daß all solche Tugenden oder besser Abbilder von Tugenden Gottes Gaben sind (Dei esse dona qualescunque istas virtutes aut virtutum potius imagines) – denn es verdient kein Ding irgendwelches Lob (quando nihil est ullo modo laudabile), das nicht von ihm herkommt (quod non ab ipso profisciscatur).“129

Sehr drastisch formuliert Calvin – die gabentheologische Pointe von 1Kor 4,7 („Was hast Du, das Du nicht empfangen hast?“) gleichsam auf die Tugendethik applizierend – in einer Predigt zum Buch Hiob: „Gott zieht uns ganz nackt aus und läßt kein einziges Tröpflein von Tugend an uns übrig, außer der, die wir von ihm empfangen.“130 Die Abgrenzung gegenüber jeglicher Form von Werkgerechtigkeit wird hier deutlich. Ein Verdienstdenken, das Tugenden einem solchen Verständnis einordnet, will Calvin definitiv ausgeschlossen wissen: „Gewiß werden solche Tugenden, die uns mit ihrem eitlen Schimmer täuschen (virtutes quae inani specie nos decipiunt), im öffentlichen Empfinden und im allgemeinen Urteil der Menschen Lob ernten, aber vor dem himmlischen Richterstuhl (apud caeleste vero tribunal) werden sie keinen Wert haben (nullius erunt pretii), vermöge dessen der Mensch sich etwa die Gerechtigkeit verdienen könnte (ad iustitiam promerendam).“131

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W. KRUSCHE, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, 120. Inst. (1559), III,14,2. CO 35,358 (Predigt zu Hi 38,1–4). Inst. (1559), II,3,4.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

Wie sich noch zeigen wird, ist damit aber keineswegs pauschal jegliche Spielart von Tugendethik ausgeschlossen. 4.2 Die teleologische Perspektive Calvins: Die Finalität des Menschen Tugendethik kommt nicht ohne Zielbestimmung aus. Tugend ist immer mit Glück bzw. dem höchsten Gut, der eudaimonia, verknüpft. Dies ist bereits für die antike Tradition konstitutiv. Das Gutsein wird um des eigenen Glücks willen angestrebt, das allgemein bzw. verallgemeinernd als das gelingende Leben identifizieren werden kann. Eine Korrektur der antiken Tradition trat mit Augustin ein, der das höchste Gut als Gott bestimmte. Auf dem Hintergrund der bereits genannten Theozentrik überrascht die Feststellung nicht, dass sich Calvin in dieser augustinischen Tradition bewegte. Zugleich gelangte der Genfer Reformator aber zu ganz eigenen Bestimmungen, was die Justierung des teleologischen Referenzrahmens tugendethischen Denkens betrifft, wie im Folgenden nachgezeichnet werden soll. Auch Calvin fragt nach dem Zweck, nach der Finalität des Menschen: „Was sollte es auch für einen Zweck haben, uns aus der Bosheit und Befleckung (nequitia et pollutione) dieser Welt, in die wir gänzlich versunken waren (demersi eramus), herauszureißen, wenn wir uns nun erlauben wollten, uns in jener Bosheit und Befleckung unser ganzes Leben lang herumzuwälzen (tota vita in illis volutari)?“132 Gefordert ist, dass wir „uns jenes Ziel [der „evangelischen Vollkommenheit“ (evangelica perfectio); M.H.] vor Augen stellen (scopus ille ante oculus praefigatur) und nach ihm allein unser Trachten richten (ad quem solum dirigatur studium nostrum). Es soll uns jenes Zielzeichen gesetzt sein ([p]raestituatur meta illa), nach dem all unsere Anspannung, all unser Rennen sich ausrichten soll (ad quam et enitamur et contendamus).“133 Was die Finalität des Menschen bedeutet, lässt sich am besten am Begriff der Ehre Gottes zeigen, der bei Calvin zu einem Zentralbegriff seiner Theologie avanciert.134 Christian Link spricht gar vom 132 133 134

Inst. (1559), III,6,2. Inst. (1559), III,6,5. Vgl. dazu G. PLASGER, Erkenntnis und Ehre Gottes. Überlegungen zum Verhältnis von zwei zentralen Begriffen bei Johannes Calvin, in: J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, 103–110; M. ZEINDLER, Gott die Ehre geben. Wider die Funktionalisierung des Glaubens, in: G. P LASGER (Hg.), Calvins Theologie für heute und morgen. Beiträge des Siegener Calvin-Kongresses 2009, Wuppertal 2010, 209–217; E. BUSCH, Dei Gloria – Gottes Herrlichkeit, in: DERS., Zusammenleben geboren. Johannes Calvin – Studien zu seiner Theologie, Zürich 2016, 165–174.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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„Nerv reformierter Theologie und Frömmigkeit“135. Calvin gebraucht im Lateinischen in der Regel den Begriff gloria, weniger den Begriff honor, wenn er von der Ehre Gottes spricht.136 Wenn er etwa die Schöpfung als den „Darstellungsraum der Herrlichkeit Gottes“137 (theatrum gloriae Dei) identifiziert,138 so gibt er zugleich mit der Ehre Gottes (gloria Dei) den Zielpunkt der Schöpfung an, auf den auch der Mensch bezogen ist: „Damit rückt die Schöpfung geradezu programmatisch unter eine Perspektive, die Calvin über die immanente Einrichtung und Ordnung des Kosmos hinaus auf ein letztes Ziel zu blicken nötigt: auf die Verherrlichung Gottes durch seine Kreaturen. So intensiv er sich als Exeget mit der Auslegung des Sechstagewerkes oder den Problemen der Kosmologie befasst hat: die Frage nach dem Zweck und dem Ziel der geschaffenen Welt bleibt der bestimmende theologische Aspekt.“139 An diesem ausgeprägten schöpfungstheologischen „Finalismus“140 partizipiert auch die Anthropologie Calvins. Die eigentliche Finalursache der gloria Dei integriert auch den Menschen in das zweckhafte Schöpfungsgeschehen: „Der Mensch wird auf ein Ziel außerhalb seiner selbst verwiesen.“141 Dementsprechend beginnt der „Genfer Katechismus“ (1545) mit der Frage: „Was ist der Sinn (finis) des menschlichen Lebens?“142 Diese Frage nach der Finalität wird mit der Auskunft beantwortet, dass Gott „uns ja dazu geschaffen und in diese Welt gestellt [hat], um in uns verherrlicht zu werden (quo glorificetur 135 CH. LINK, Streitbare Theologie. Was ist für Kirche und Theologie heute von Calvin zu lernen?, EvTh 69 (2009), 101–122, 110. 136 So auch M. ZEINDLER, Gott die Ehre geben, 213; E. BUSCH, Dei Gloria, 165. Vgl. auch G. PLASGER, Erkenntnis und Ehre Gottes, 103f. 137 Inst. (1559), I,5,5. 138 Vgl. dazu CH. LINK, Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, HST 7/1, Gütersloh 1991, 126–133; DERS., Die Welt als Schauplatz der Herrlichkeit Gottes. Die Entscheidungen der Schöpfungslehre Calvins, in: DERS., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 101–122; E.-M. FABER, Symphonie von Gott und Mensch, 74–85. 139 CH. LINK, Die Finalität des Menschen. Zur Perspektive der Anthropologie Calvins, in: DERS., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, 123–144, 124. 140 F. WENDEL, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, NeukirchenVluyn 1968, 146. 141 CH. LINK, Die Finalität des Menschen, 124. 142 CStA 2,17. Treffend kommentiert CHR. LINK, Die Finalität des Menschen, 127: „Nur von diesem Ziel her ist der Mensch zu begreifen. Was ihm an Gaben mit seiner Erschaffung verliehen ist, kommt daher keinen Augenblick als ein bestand in Frage, der in sich selbst sinnvoll wäre, sondern ist von vornherein teleologisch ausgerichtet. Dem ‚qualis‘ seiner natürlichen Ausstattung korrespondiert ein ‚quorsum‘, ein wohin?, wozu?, zu welchem Zweck?“ Ähnlich E. BUSCH, Glauben bekennen, in: DERS., Zum Zusammenleben geboren. Johannes Calvin – Studien zu seiner Theologie, Zürich 2016, 37–48, 41.

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in nobis). So ist es nichts als recht und billig, daß unser Leben, dessen Ursprung er ist, wiederum seiner Verherrlichung diene (in eius gloriam referri).“143 Die wahre und rechte Erkenntnis Gottes bestehe dementsprechend in derjenigen, „bei welcher ihm die angemessene und geschuldete Ehre erwiesen wird (exhibeatur honor)“.144 „Das eigentliche Endziel“ des uns erwählenden Tuns Gottes sei nicht unser Eigenlob, sondern „die Verherrlichung Gottes (gloria Dei summus est finis)“145: „Gottes Herrlichkeit wird dann am höchsten unter uns veranschaulicht (illustratur in nobis Dei gloria), wenn wir nichts mehr als Gefäße seiner Barmherzigkeit sind.“146 E. Busch kommentiert: „Damit wird deutlich, dass wohl Gott, Gott allein an jenem Ziel im Zentrum und als die Mitte aller Geschöpfe sichtbar werden wird, aber Gott nicht ohne sie, nicht ohne uns: Gott als der, der nicht über seine Geschöpfe, über seine Kinder hinweggeht, sondern sie aufnimmt und in sich hineinnimmt, sie birgt, sie hält und trägt.“147

Calvin macht also Ernst mit der Bestimmung, „dass die glorificatio Dei, die Verherrlichung Gottes, das summum bonum des Menschen ist. Man hebe die Bestimmung des Menschen zur Ausrichtung auf Gott und seine Glorie auf, und man hat die Menschlichkeit des Menschen aufgehoben.“148 Dieser Humanitätsbezug gilt nun auch in tugendethischer Hinsicht. Die Finalität bestimmt durch das uns vorgesetzte Telos sozusagen von vorn her neu die Ausrichtung des Handelns. Das Gutsein, das um des höchsten Guts (summum bonum) willen angestrebt wird, will gleichsam im Ausstrecken nach ihm eingeübt werden, wobei dies nicht ohne Schau bzw. das Trachten nach dem zukünftigen Leben (meditatio futurae vitae)149 geschehen kann.150 „Gott hat uns im An143 144 145 146 147 148 149

CStA 2,17. CStA 2,17. CO 51,147 (Komm. Eph 1,4). CO 51,152 (Komm. Eph 1,11). E. BUSCH, Dei Gloria, 173. E. BUSCH, Glauben bekennen, 41. Vgl. zur meditatio futurae vitae einführend: G. PLASGER, Calvins lebensbejahende Eschatologie, in: M. FREUDENBERG / J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY (Hg.), Calvin und seine Wirkungen. Vorträge der 7. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 13, Neukirchen-Vluyn 2009, 81–96; G. DEN HERTOG, Warum die Niederlande bei Calvin gelandet sind, und worin er ihnen noch immer voraus ist, in: DERS. / E. THAIDIGSMANN (Hg.), Nüchternheit und Leidenschaft. Festgabe für Eberhard Lempp zum 65. Geburtstag, Apeldoorn 2010, 103–121, bes. 114–120; F. FERRARIO, Meditatio futurae vitae. Eine spirituelle Herausforderung für Kirche und Gesellschaft?, in: M. WEINRICH / U. MÖLLER (Hg.), Calvin heute. Impulse der reformierten Theologie für die Zukunft der Kirche, Neukirchen-Vluyn 2009, 213–223. 150 Treffend bemerkt CH. LINK, Die Finalität des Menschen, 125f.: Der zum Trachten nach dem himmlischen Leben (meditatio futurae vitae) geschaffene Menschen

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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fang zu seinem Bilde geschaffen, um unsere Seele zum Eifer in rechten Tun (ad virtutis studium) und zum Trachten nach dem ewigen Leben (ad aeterna vitae meditationem) zu erwecken, so müssen wir […] dies erkennen: wir sind mit Vernunft (ratio) und Verstand (intelligentia) begabt, um in einem heiligen und ehrbaren Leben uns nach vorgestreckten Ziel der seligen Unsterblichkeit auszustrecken!“151 Hier wird deutlich, dass der teleologische Grundzug der Theologie Calvin (tugend-)ethisch höchst bedeutsam ist, zumal die über das irdische Leben hinausreichende Hoffnung handlungsleitend hineinwirkt in das irdische Leben: „Die Auferstehungshoffnung treibt uns, Gutes zu wirken und dabei nicht müde zu werden (spes recurrectionis facit ne defatigemur bene agendo).“152 Was die Erreichung des Telos betrifft, so grenzt sich Calvin von einem Leistungsgedanken ab, der s.E. die philosophische Tugendlehre dominiert. Finalismus und Perfektionismus bilden keine theologischen Synonyme. Das Streben nach perfectio sei irrig,153 sofern sich der Appell an das menschliche Leistungsvermögen richte, da er notwendig in ein Scheitern hinein münde:154 „Ich stelle die Forderung nach einer ‚evangelischen Vollkommenheit‘ (Evangelica perfectio) nicht mit solcher Härte, daß ich einen Menschen, der sie noch nicht erreicht hat, deshalb nicht als Christen anerkennen würde. Denn in solchem Falle würden ja alle Menschen von der Kirche ausgeschlossen (ab Ecclesia excluderentur); ist doch kein einziger zu finden, der von jenem Ziel nicht noch gar weit entfernt wäre; viele aber sind noch recht wenig vorwärtsgekommen (progressi sunt), und doch hätten sie es nicht verdient, daß man sie ausschlösse.“155 „ist das zielbezogene Wesen, das man nur von seiner Finalität her wirklich versteht. Die Gewöhnung an ‚die beständige Betrachtung (meditatio) der seligen Auferstehung‘ (Inst. III,25,1) ist der Schlüssel, der uns das Verständnis des Evangeliums und des in ihm beschlossenen Bildes vom Menschen, seiner Größe und seines Elends, öffnet. Man muss den Weg von seiner anfänglichen Erschaffung zum Partner Gottes über seine Entfremdung (alienatio) vom Ursprung und deren Aufhebung durch Jesus Christus bis hin zu seiner endgültigen Vollendung in der Auferweckung der Toten ganz ausschreiten, um den Horizont zu gewinnen, in den Calvin seine anthropologischen Aussagen einzeichnet.“ 151 Inst. (1559) II,1,1. 152 CO 49,565 (Komm. 1Kor 15,58). 153 An die französische Gemeinde von Poitiers schreibt Calvin am 20.2.1555: „Vor allem, liebe Brüder, hütet Euch vor Satans List, wenn solche Leute Euch von Vervollkommnung im Leben (de perfection de vie) sprechen. Denn sie wollen damit die Gnade unseres Herrn Jesus zunichte machen und die Menschen glauben machen, sie bedürften der Vergebung ihrer Sünden nicht mehr, wie Erdenlebens zu seufzen unter der Last ihrer Fehler und zu erkennen, wieviel Tadelnswertes noch an ihnen ist.“ SCHWARZ 2,756 (CO 15,445). 154 Vgl. CO 43,431 (Komm. Mi 7,18): „Mehr als rasende Schwärmer sind die, die sich Vollkommenheit zuschreiben (plus quam furiosos esse nebulones istos, qui sibi arrogant perfectionem).“ 155 Inst. (1559), III,6,5. Zum Vollkommenheitswahn vgl. auch Inst. (1559), III,3,14.

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Positiv bezieht sich Calvin auf ein Diktum Augustins, das eine entschiedene Abgrenzung vom Vollkommenheitswahn markiert: „Die Gerechtigkeit der Heiligen ([s]anctorum iustitia) besteht in dieser Welt eher in der Vergebung der Sünden als in der Vollkommenheit der Tugenden (quam perfectione virtutum).“156 Wenn man den Heiligen den Titel der Vollkommenheit zukommen lassen wolle, so dürfe man dies nur mit den ins Paradoxon gekleideten Worten Augustins tun: „Wenn wir die Tugend der Frommen vollkommen nennen, so gehört zu dieser Vollkommenheit auch die aufrichtige und demütige Erkenntnis unserer Unvollkommenheit!“157 Denn nicht einmal der heilige Erzvater Jakob sei „mit solcher Tugend ausgerüstet“ (ea fuisse virtute praeditum)158, dass er sich damit ein Vorrecht der Erwählung erworben hätte. Im Gegenteil: „[A]lles, was in den Menschen als Tugend sichtbar wird (quicquid virtutis in hominibus apparet), [ist] die Wirkung der Erwählung“159. Es gelte dabei zu beachten, dass die Erwählten „nicht nach der Art ihrer Tugenden abgesondert werden (non distingui qualitate suarum virtutum), sondern auf Grund des himmlischen Beschlusses (sed caelesti decreto)“.160 Die Erwählung bildet nicht die causa finalis des tugendhaften Lebens, sondern umgekehrt. 4.3 Das christliche Leben (vita christiana) als tugendhaftes Leben bei Calvin 4.3.1 „Gott ähnlich werden“. Die Wiedergeburt als Grundlegung des christlichen, tugendhaften Lebens Im letzten Abschnitt war von der Verherrlichung und der Ehre Gottes als dem Ziel des menschlichen Daseins die Rede. Vom Christenleben gilt, dass es nicht ziellos stets im Werden ist.161 Es fehlt nach Calvin „das wichtigste Stück aller Rechtschaffenheit (praecipua pars rectitudinis), wo nicht der Eifer (studium) vorhanden ist, Gottes Ehre zu verherrlichen (illustrandae Dei gloriae) – und der mangelt allen, die Gott nicht durch seinen Geist wiedergeboren hat (omnes quos Spiritu suo non regenuit)!“162 156 157

AUGUSTIN, De civitate Dei XIX,27, zit. nach Inst. (1559), III,11,22. AUGUSTIN, An Bonifacius III,7,19, zit. nach Inst. (1559), III,17,15. – Lateinisch: „Perfectam, inquit, sanctorum virtutem quum nominamus, ad ipsam perfectionem pertinet etiam imperfectionis tum inveritate tum in humilitate cognitio.“ 158 Inst. (1559), III,21,5. Vgl. auch III,22,1 und insbes. III,22,4. 159 Inst. (1559), III,22,2. 160 Inst. (1559), III,22,7. 161 Vgl. W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 187. 162 Inst. (1559), II,3,4.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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Wie aber verhält es sich mit den Wiedergeborenen?163 Die Konditionierung der Formulierung zeigt an, dass diese Frage für Calvin tugendethisch entscheidend ist, denn sie zielt auf das moralische Subjekt ab, das durch Tugendhaftigkeit gekennzeichnet ist. Tugenden leben nach Calvin davon, dass Gott dem Menschen „aus lauter Gnaden mit seiner Güte zuvorkommt (gratuita sua benignitate illum praevenire)“164, ihn zu einem „neuen Geschöpf“ macht.165 Wahrhaft tugendhafte Menschen sind neue Menschen als von Gott neugemachten Geschöpfen. „[D]er ‚neue Mensch‘ (novus homo) [ist] der durch den Geist Christi zum Gehorsam der Gerechtigkeit umgestaltete (reformatus est in oboedientiam iustitiae) oder die durch den gleichen Geist zur wahren Vollkommenheit wiederhergestellte Natur (natura in veram integritatem restituta per eundem spiritum).“166 Dieses Zuvorkommen der Neuschöpfung bildet nach Calvin die Bedingung der Möglichkeit des tugendhaften christlichen Lebens. Calvin gebraucht nicht ohne Grund im Zusammenhang der Rede von der zuvorkommenden Gnade (gratia praeveniens) die Metapher von der Wiedergeburt: „Wer von uns will es denn für sich in Anspruch nehmen, er habe Gott mit seiner Gerechtigkeit angereizt (sua iustitia Deum provocasse) – wo doch unser erstes Vermögen zum rechten Tun (prima nostra ad bene agendum potentia) erst aus der Wiedergeburt fließt (ex regeneratione fluat)? Denn wie wir von Natur beschaffen sind – so ist es leichter, aus einem Stein Öl herauszupressen (ex lapide oleum), als aus uns ein gutes Werk (quam ex nobis opus bonum exprimetur)!“167

In diesem Zusammenhang spricht Calvin auch von der Wiedergeburt als der Erneuerung bzw. als der Wiederherstellung von Gottes Ebenbild168 in uns, die „in unserer Trägheit (tarditas nostra) viel Ansporn und Hilfe nötig hat (multis […] stimulis quam adminiculis opus ha163

Vgl. M. HOFHEINZ, Wiedergeburt? Erwägungen zur dogmatischen Revision eines diskreditierten Begriffs, ZThK 109 (2012), 46–67. 164 Inst. (1559), III,14.5. 165 Cf. Inst. (1559), III,14,5: „[N]ovam creaturam facere“. 166 CO 52,121 (Komm. Kol 3,9). 167 Inst. (1559), III,14,5. 168 Zur Gottebenbildlichkeit bei Calvin vgl. H.H. ESSER, Zur Anthropologie Calvins. Menschenwürde – Imago Dei zwischen humanistischem und theologischem Ansatz, in: H.-G. GEYER u.a. (Hg.), „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Aufsätze für Hans-Joachim Kraus zum 65. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 1983, 269–281; E.-M. FABER, Symphonie von Gott und Mensch, 106–117; A.I.C. HERON, Homo Peccator and the Imago Dei According to Calvin, in: C.D. KETTLER / T.H. SPEIDELL (Hg.), Incarnational Ministry. The Presence of Christ in Church, Society and Family. Essays in Honor of Ray S. Anderson, Colorado Springs (Colorado) 1990, 32–57; J. VAN VLIET, Children of God. The Imago Dei in John Calvin and His Context, RHT 11, Göttingen 2009.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

bet)“.169 Diese Hilfestellung für das christliche Leben können nach Calvin Tugenden leisten. Sie gehören zu einem Leben „in Christus“ dazu und können von ihm nicht abstrahiert werden. Im „Kleinen Abendmahlstraktat“ (1541) stellt Calvin etwa fest: „In Christus ist lauter Keuschheit, Güte, Nüchternheit, Wahrheit, Demut und andere ähnliche Tugenden. Wenn wir denn seine Glieder sein sollen, dann muß alle Unzucht, Hochmut, Unmäßigkeit, Lüge, Stolz und ähnliche Laster fern von uns sein.“170 Als Zielursache der Wiedergebort kann Calvin die Gottähnlichkeit des Menschen bestimmen, die ihrerseits wiederum eine Funktion des summum bonum der Ehre Gottes (gloria Dei) bildet: „Das Ziel unserer Wiedergeburt ist (quis finis sit regenerationis nostrae): wir werden Gott ähnlich (Deo reddamur similes), und sein Ruhm strahlt an uns zurück (in nobis reluceat eius gloria)[,] so daß der Mensch gleichsam als Spiegel die Weisheit, Gerechtigkeit und Güte Gottes darstellt (ita ut home sapientiam Dei, iustitiam et bonitatem quasi speculum repraesentet).“171

Die von Calvin gebrauchte Spiegelmetapher umschreibt diese Verweisungszusammenhänge als Reflektionsverhältnis: Im Spiegel des wiedergeborenen, gottähnlichen Menschen werden gebrochen Gottes Eigenschaften und zugleich die Würde des Menschen sichtbar.172 Inwiefern ist nun die Wiedergeburt für die Tugenden konstitutiv? Sie umschreibt nichts anderes als das paulinische „In Christus“, die unio cum Christo des neuen Menschen. Die Tugenden nun, mögen sie auch ansatzweise bei Ungläubigen ausgeprägt sein, setzen nach Calvin das „In Christus“ bzw. die unio cum Christo, zu der der Glaube gehört,173 voraus: „Um das Leben richtig zu gestalten, müssen Glaube und Frömmigkeit (fides ac religio) das Fundament sein; fehlt dieses Fundament, so sind alle übrigen Tugenden nichts als ein Rauch (fumi

169 170

Inst. (1559), III,6,1. CStA I/2,461: „Puis qu’en Christ il n’y a que chasteté, benignité, sobrieté, verité, humilité, et toutes telle vertus: si nous voullons estre ses membres, il fault que toute paillardise, haultesse, intemperance, mensonge, orgueil et semblables vices soient loing de nous.“ 171 CO 52,121 (Komm. Kol 3,10). 172 Vgl. zur Spiegelmetapher ausführlich C. VAN DER KOOI, As in a Mirror. John Calvin and Karl Barth on Knowing God, Leiden / Boston 2005. 173 Vgl. M. WEINRICH, Gott die Ehre geben – Johannes Calvin und die Wahrhaftigkeit des christlichen Lebens, in: R.K. WÜSTENBERG (Hg.), „Nimm und lies!“ Theologische Quereinstiege für Neugierige, Gütersloh 2008, 126–144, 139: „Der Glaube, durch den der Mensch von Gott in Beschlag genommen wird, führt zur Wiedergeburt des Menschen, die ihm Buße und christliches Leben ermöglicht (Heiligung), durch die er Gott seine Loyalität erweist (Glaube ist nicht nur ein Akt des Fürwahrhaltens, sondern bezeichnet im Sinne des Alten Testaments ein Treueverhältnis).“

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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sunt reliquae omnes virtutes).“174 Es darf festgehalten werden: „Calvin sieht im Glauben nicht eine einzelne, für sich stehende Tugend, die den Menschen vollkommen macht. Vielmehr wirkt der Glaube durch alle Tugenden und Werke hindurch, d.h. alle Werke tragen vom Glauben her ihre eigentümliche Bestimmtheit an sich.“175 An die französische Gemeinde von Poitiers schreibt Calvin: „Es macht sich ja nach außen recht gut, die Tugend zu preisen, aber wenn man den Glauben dahinten läßt und den Verkehr mit Gott, so heißt das, die Ordnung der Dinge umdrehen und den Pflug vor die Ochsen spannen.“176 Man mag in dieser agrarischen Metapher den Widerspruch Calvins zum scholastischen, genauer: thomanischen Grundsatz: „Die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern setzt sie voraus und vollendet sie (gratia non tollit, sed supponit et perficit naturam)“177 wiedererkennen, insofern sich der Glaube nach Calvin der Gnade verdankt und Calvin die Tugenden in ihrer philosophischen Konzipierung als auf die Natur bezogen versteht. Zugleich weist Calvin mit diesem Zitat einer rechtverstandenen Tugendlehre gleichsam ihren eigentlichen systematischen Ort zu. Sie gehört in die Lehre vom christlichen Leben hinein. Sie ist, mit anderen Worten, ein Topos der Heiligung178: „[O]hne Gemeinschaft mit Christus [gibt es] keine Heiligung.“179 Die Heiligung wiederum vollzieht sich nach Calvin nicht ohne die Ausprägung von Tugenden, so dass sich „theological virtue as a fitting and important reality that follows one’s gracious union with Christ“180 durchaus bezeichnen lässt. Gleichsam en passant entwirft Calvin in seiner Darstellung des christlichen Lebens, seinem Traktat über die vita christiana, eine Topologie christlicher Tugendlehre. Indem Calvin die Tugenden nicht nur als Gaben Gottes zu verstehen lehrt, sondern sie zugleich in der Lehre von der Heiligung verortet, folgt er konsequent seiner eigenen theologischen Grundentscheidung, wonach Gott nicht nur Subjekt der 174 175 176

CO 48,223 (Komm. Apg 10,2). W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 73. SCHWARZ 2,756 (CO 15,445: „Ce sont belles couvertures de magnifier les vertuz: mais si on laisse la foy derriere avec linvocation du nom de Dieu, cest bien pervertir tout ordre, et mettre la charrue devant les boeufz.“); Brief vom 20.2.1555 an die Gemeinde von Poitiers. 177 THOMAS VON AQUIN, STh I. q. 1, 8 ad 2; I, q. 2, 2 ad 1. 178 Vgl. CH. LINK, Humanität in reformatorischer Perspektive, 171: „Wer dieses Ziel vor Augen hat, wer in dieser Weise der letzten Zukunft entgegengeht, sieht sich aufgerufen, die Gaben zu realisieren, mit denen er ausgestattet ist; […] es geht auch hier zuletzt um das für Calvin so zentrale Thema der Heiligung.“ 179 Inst. (1559), III,14,4: „[S]ine Christi communicatione nulla est sanctificatio.“ Vgl. W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 249f.: „Der Christus tut die guten Werke, weil Christus in ihm wohnt und durch ihn wirkt.“ Dort kursiv. 180 A. VARMA, Fitting Participation, 479.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

Rechtfertigung, sondern auch der Heiligung des Menschen ist.181 Im Zusammenhang „De vita christiana“ kann Calvin dementsprechend auch von der Wiedergeburt sprechen: „Im Leben der Gläubigen soll ein Gleichklang (symmetria), ein Zusammenstimmen (consensus) zwischen Gottes Gerechtigkeit und ihrem eigenen Gehorsam (inter Dei iustitiam et eorum obsequium) stattfinden. Das ist der eigentliche Zweck der Wiedergeburt ([s]copum regenerationis).“182

Wie kann es indes zu dieser Symphonie zwischen Gott und Mensch kommen? Calvin befindet sich in einer besonderen theoriegeschichtlichen Situation. Er „sieht sich vor die Notwendigkeit gestellt, einerseits – gegenüber Luther – die Heiligung eigenständig zu thematisieren: Der Glaubende bedarf des Gezogenwerdens durch die Weisung (usus tertius legis). Andererseits ist der Glaube – im Gegenüber zur römisch-katholischen Auffassung – nicht in sich unvollständig, so dass er erst in tätiger Liebe zur Entfaltung kommen würde (fides caritate formata).“183 Calvin verweist in dieser Situation einmal mehr als Schrifttheologe auf das Zeugnis der Heiligen Schrift: „Sie gibt uns nicht allein die Vorschrift, unser Leben auf Gott zu richten (vitam nostram ad Deum […] referre), der sein Geber (authorem) ist und dem es verpflichtet ist, sondern sie lehrt uns auch, daß wir dem wahren Ursprung und dem wahren Gesetz unserer Erschaffung (vera creationis nostrae origine ac lege) gegenüber entartet sind, und setzt dann hinzu, daß uns Christus, durch den wir bei Gott wieder in Gnaden angenommen sind, als Beispiel vor Augen gestellt ist (nobis propositum esse exemplar), dessen Gestalt wir in unserem Leben zur Abbildung bringen müssen (cuius formam in vita nostra exprimamus). Was kann man Wirksameres (efficacius) suchen als dies Eine?“184

Calvin argumentiert hier indes nicht rein vorbildchristologisch, wie es zunächst scheinen könnte. Von Christus kann er erst dann als exemplum reden, nachdem er zuvor auf das sacramentum der Versöhnung verwiesen hat: 181

Vgl. zu Calvins Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung, die sich bekanntermaßen nicht einfach als Ursache-Folge-Struktur verstehen lässt, u.a. E. BUSCH, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2007, 46–51; D. SCHÖNBERGER, Gemeinschaft mit Christus, 183– 192; T. STADTLAND, Rechtfertigung und Heiligung bei Calvin; C.P. VENEMA, Accepted and Renewed in Christ. The „Twofold Grace of God“ and the Interpretation of Calvin’s Theology, RHT 2, Göttingen 2007, 132–149; F. WENDEL, Calvin, 225f. 182 Inst. (1559), III,6,1. Vgl. zu diesem Symphonie-Motiv E.-M. FABER, Symphonie von Gott und Mensch. 183 R.K. WÜSTENBERG, Wachstum im Glauben? Eine Analyse der Rede vom „Fortschreiten“ in Calvins Institutio, NZSTh 46 (2004), 264–279, 267. 184 Inst. (1559), III,6,3.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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„Wie Gott, unser Vater, sich in seinem Christus selber mit uns versöhnt hat (nos sibi in Christo suo conciliavit), so hat er uns auch in ihm das Ebenbild vorgezeichnet (in eo nobis imaginem signasse), nach dem wir nach seinem Willen gestaltet werden sollen (ad quam nos conformari velit) (Röm 6,18).“185

Es geht dabei – wie der Infinitiv Passiv confirmari im Zitat zeigt – um die passive Konstituierung im Sinne des Gestaltet- bzw. GeformtWerdens nach seinem, d.h. Christi Ebenbild. Gott bleibt Subjekt auch dieses Vorgangs, der sich mit Calvin als Heiligung umschreiben lässt. Die imitatio Christi ist für Calvin nicht ohne confirmatio – oder auch transfirmatio – zu verstehen, wobei letztere Calvin zufolge durch den Heiligen Geist geschieht: „Imitatio follows upon transformation as an important element in virtue formation, but the key movement for the development […] is the latter.“186 4.3.2 Die unio cum Christo und die Heilsökonomie der Tugendvermittlung Dementsprechend wird die unio cum Christo von Calvin pneumatologisch pointiert: „Solange Christus außer uns bleibt und wir von ihm getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit gelitten und getan hat, für uns ohne Nutzen und gar ohne jeden Belang! Soll er uns also zuteil werden lassen, was er vom Vater empfangen hat, so muß er unser Eigentum werden und in uns Wohnung nehmen. […] denn durch sie [die Wirksamkeit des Geistes; M.H.] kommt es dazu, daß wir Christus und alle seine Güter genießen. […] der Heilige Geist ist das Band (Spiritum sanctum vinculum esse), durch das uns Christus wirksam mit sich verbindet(efficaciter devincit Christus).“187

Dieses hoch bedeutsame und von der sog. „New Perspective on Calvin“ in den Vordergrund der Calvin-Interpretation gerückte Zitat ist auf eine trinitätstheologisch gefasste Heilsökonomie hin transparent, die das Wirken von Vater, Sohn und Heiligem Geist umfasst. Dementsprechend kommentiert Calvin die Rede von Tugenden als „Frucht des Geistes“ in Gal 5,22: Der Apostel zeigt, „daß alle Tugenden und ehrenhaften Gedanken und Regungen aus dem Geist kommen (omnes virtutes, honestos et bene compositos affectus a spiritu prodire docet), d.h. aus der Gnade Gottes und der durch Christus erfahrenen Erneuerung (hoc est, a gratia Dei et renovatione, quam habemus a Christo)“.188 Die Tugenden verdanken ihre Abkunft nicht einfach nur dem Heiligen Geist, sondern sind Bestandteil einer von Gott, dem Vater, ausgehenden, umfassenden Heilsökonomie. 185 186 187 188

Inst. (1559), III,6,3. A. VARMA, Fitting Participation, 484. Inst. (1559), III,1,1. Dort z.T. kursiv. CO 50,255 (Komm. Gal 5,22).

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

Dem korrespondiert, dass Calvin interessanterweise auch von „Tugenden Gottes“ (Dei virtutes) sprechen kann.189 Darauf hat vor vielen Jahren bereits der Calvin-Forscher Karl Reuter hingewiesen – freilich im Blick auf die Eigenschaftslehre Calvins: „Weil Calvin vorwiegend Macht, Willen und Tätigkeit Gottes bezeugt, darum genügt ihm die Lehre von den Eigenschaften Gottes nicht. Statt dessen spricht er von ‚Tugenden‘ und meint damit die Erweisungen der eminent sittlichen Tüchtigkeiten oder Machtvollkommenheiten Gottes. Es handelt sich also nicht um Attribute des göttlichen Seins, die man durch die ‚frostigen Spekulationen‘ des diskursiven Denkens gewinnt. Calvin verzichtet […] darauf, ‚in verwegener Neugier Gottes Wesen zu durchstöbern‘, und will statt dessen Gott in seinen Werken ‚erschauen‘. Nach Calvin macht sich uns Gott […] von sich aus selbst aus durch seine Tugenden bekannt, setzt sich so mit uns in Verbindung und wird uns vertraut.“190

Bereits zu Beginn der „Institutio“ konstatiert Calvin: „[N]ur in dem Herrn [ist] das wahre Licht der Weisheit, wirkliche Kraft und Tugend (solidam virtutem), unermeßlicher Reichtum an allem Gut und reine Gerechtigkeit zu finden“191. Die Tugenden Gottes haben nach Calvin im Blick auf die menschlichen Tugenden geradezu elenchtische Funktion: „[W]enn wir einmal anfangen, unsere Gedanken auf Gott emporzurichten, wenn wir bedenken, was er für ein Gott sei, wenn wir die strenge Vollkommenheit seiner Gerechtigkeit, Weisheit und Tugend (exacta iustitiae, sapientiae, virtutis eius perfectio) erwägen, der wir doch gleichförmig sein sollten (conformari nos oportet) – so wird uns das, was uns zuvor unter dem trügerischen Gewand der Gerechtigkeit anglänzte, zur fürchterlichsten Ungerechtigkeit; was uns als Weisheit wundersam Eindruck machte, wird grausig als schlimmste Narrheit offenbar, was die Maske der Tugend (virtutis faciem) an sich trug, wird als jämmerlichste Untüchtigkeit (miserrima impotentia) erfunden!“192

189

Auch der niederländische Theologe K.H. MISKOTTE (vgl. DERS., Biblisches ABC. Wider das unbiblische Bibellesen, Neukirchen-Vluyn 1976, 55–57) hat von den Eigenschaften Gottes als „Tugenden“ (niederländisch „deugden“) gesprochen, ohne sich dabei m.W. auf Calvin zu berufen. Vgl. G. PLASGER, Freude an der Lehre. Überlegungen zum einheitsstiftenden Moment und zur Vielfalt der Lehre im Anschluß an Kornelis Heiko Miskotte, in: CH. DAHLING-SANDER u.a. (Hg.), Herausgeforderte Kirche. Anstöße, Wege, Perspektiven. Eberhard Busch zum 60. Geburtstag, Wuppertal 1997, 49–63, 56. 190 K. REUTER, Das Grundverständnis der Theologie Calvins. Unter Einbeziehung ihrer geschichtlichen Abhängigkeiten, BGLRK 15, Neukirchen-Vluyn 1963, 154f. Als Belegstellen verweist K. REUTER auf: Inst. (1559) I,1,2; I,2,1; I,5,8f.; I,15,6. 191 Inst. (1559), I,1,1. 192 Inst. (1559), I,1,2. Siehe auch II,1,5.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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In ihrer elenchtischen Funktion erweist sich die Tugenden Gottes als integraler Bestandteil seiner trinitarischen Heilsökonomie. Die trinitarische Heilsökonomie der Tugend („economy of virtue“193) schließt ausgehend vom Vater auch die Tugendvermittlung des Sohnes ein, wobei Calvin freilich hinsichtlich der Rede von „Tugenden Christi“ bisweilen stark restringiert, um die Einkehr eines Verdienstgedankens in die Christologie abzuwehren. So fragt Calvin suggestiv: „Er [Christus] wird aus dem Samen Davids als sterblicher Mensch empfangen – mit was für Tugenden soll er es nun nach ihrer Meinung verdient haben (quibus virtutibus promeritum fuisse), daß er bereits im Mutterleibe zum Haupt der Engel, zum eingeborenen Sohne Gottes (unigenitus Dei filius), zum Ebenbild und zur Herrlichkeit des Vaters (imago et gloria Patris), zum Licht (lux), zur Gerechtigkeit (iustitia) und zum Heil der Welt (salus mundi) wurde?“194 Gleichwohl kann Calvin vom Übergang der Tugenden Christi an den „neuen Menschen“ sprechen, die aus der Einpflanzung in Christus bzw. seinen Tod (Röm 8,5) resultiert: „Einpflanzung [in Christus] bedeutet nicht nur eine Gleichförmigkeit mit einem Vorbild (non exempli tantum conformitatem designat), sondern eine geheimnisvolle Verbindung (arcanam coniunctionem), durch welche wir mit ihm derart zusammenwachsen (coaluimus), dass er uns mit seinem Geist ernährt und so seine Tugend in uns übergehen lässt (eius virtutem in nos transfundat).“195 Schließlich ist auch der Heilige Geist in die Tugendvermittlung involviert, und zwar nach Calvin in entscheidender Weise, wobei Calvin – dies dürfte bereits deutlich geworden sein – keineswegs den Entwurf einer vagabundierende Geistlehre zum tugendethischen Fundament avancieren lässt. Der tugendvermittelnde Geist ist der Geist Christi, der „nicht nur in uns lebt und sich regt, sondern mit seiner Lebenskraft uns auch Leben schafft (quia vivifact nos suo vigore), bis er nach dem Erlöschen unseres sterblichen Fleisches uns endlich vollkommen erneuert (perfecte demum renovet)“.196 Konsequent trinitätstheologisch denkend, weist Calvin darauf hin, dass „der Heilige Geist ohne Unterschied (promiscue) bald Geist Gottes, des Vaters, bald Geist Christi genannt wird. Und das nicht nur, weil seine ganze Fülle (tota illius plenitudo) auf Christus als unseren Mittler und unser Haupt (meditator noster […] et caput) ausgegossen ist, damit von ihm her auf jeden von uns sein Teil herabfließe, sondern auch dersel193

Vgl. A. VARMA, Fitting Participation, 485: „[U]nion with Christ is necessary condition and invitation for fitting participation in the economy of virtue.“ Siehe auch a.a.O., 483; 498f. 194 Inst. (1559), III,22,1. 195 CStA 5/1,307 (Komm. Röm 6,5). 196 CStA 5/2,399 (Komm. Röm 8,10).

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

be Geist dem Vater und dem Sohn gemeinsam zugehört (idem Spiritus Patris et Filii communis est), die ja eines Wesens sind und dieselbe ewige Gottheit (eadem aeterna Deitas) besitzen.“197 4.3.3 Das tugendvermittelnde Werk des Heiligen Geistes Wie nun ist dieses tugendvermittelnde Werk des Heiligen Geistes als Geist des Vaters und des Sohnes näherhin zu verstehen? Calvin betont, dass der Heilige Geist „nicht nur den Geist mit dem angezündeten Licht der Wahrheit erleuchtet, sondern den ganzen Menschen umgestaltet (sed totum hominem transformat)“.198 Der Heilige Geist ist für Calvin der eigentliche effector transformationis. Wirklich Erneuerung geschieht nur durch ihn, so dass Calvin schlussfolgert, dass dort, wo der Heilige Geist nicht erneuert, auch keine wahre Erneuerung stattfindet. Anders gesagt: „Wirkliche Tugend gibt es nur bei Menschen, bei denen das Herz neu geworden ist und also nur als Frucht des den Glauben schenkenden neumachenden Geistes Jesu Christi.“199 Da aber der Geist der Geist Jesu ist, heißt dies nach Calvin in der Übertragung auf die Geistherrschaft im Menschen: „Menschen, in denen der Geist nicht regiert ([i]n quibus non regnat Spiritus), gehören Christus nicht an (illi ad Christum non pertinent).“200 In Röm 8,9 sieht Calvin, dass Paulus die Gemeinde zu dem Wagnis ermuntert „wahrzunehmen, dass der Geist Christi in uns wohnt (Christi Spiritum in nobis habitantem agnoscere)“.201 Dies besagt nach Calvin nichts Anderes, als dass ihnen die unio cum Christo gleichsam zugesprochen wird. Im Blick auf dieselbe lässt sich hinsichtlich ihrer pneumatologischen Pointierung, die Calvin sehr am Herzen liegt, mit A. Varma festhalten: „[O]ur union is Spirit-union, and it is on account of the nature of this union that Calvin calls the Holy Spirit ‚not only the beginning or source‘ of the benefits of Christ and gifts of God in believers, ‘but also the author,’ for apart from the Spirit who completes the economy of virtue, the befits of Christ, including his holiness, remain apart from us. The Spirit joins the Christian to Christ and his manifestation of divine holiness in the flesh and enacts transformation in the Christian, enabling her to participate actively in the life of Christ and grow in holiness. That is, the life of Christian enactment of virtue is in Christ by the Spirit.“202

197 198 199 200 201 202

CStA 5/2,397ff. (Komm. Röm 8,9). CO 52,121 (Komm. Kol 3,10). W. KRUSCHE, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, 120. CStA 5/2,397 (Komm. Röm 8,9). CStA 5/2,397 (Komm. Röm 8,9). A. VARMA, Fitting Participation, 485.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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Wie aber lässt sich der Modus des heiligenden Wirkens des Geistes Christi im Menschen nach Calvin verstehen und beschreiben? Calvin hält zunächst fest, dass das, was uns von Gott her in Christus durch den Heiligen Geist zuteilwird, nicht nur den totalen und endgültigen Akt der Rechtfertigung einschließt, sondern auch das prozessuale und anfängliche Geschehen203 der Heiligung.204 Dementsprechend beziehen sich die von Calvin ins einer Beschreibung der vita christiana205 zur Umschreibung der Heiligung bevorzugt gebrauchten Begriffe „Fortschritt“ (progressus), „Fortschreiten“ (profectus) und „mehr und mehr“ (magis ac magis)206 auf den Themenkomplex der Heiligung. Sie werden von Calvin u.a. als „Absterben des alten Menschen“ (mortificatio sui)207 und „Lebendigmachung“ (vivificatio in spiritu)208, sowie „Selbstverleugnung“ (abnegatio nostri)209, „Tragen des Kreuzes“ (tolerantia crucis)210 und „Trachten nach dem zukünftigen Leben“ (meditatio futurae vitae)211 beschrieben wird. Alle diese Begriffe, die man als die „Hauptmerkmale christlichen Lebens“212 kennzeichnen kann, lassen sich gleichsam als Tugenden verstehen. In tugendethischer Hinsicht ist Calvins Rede vom Wachstum und vom Fortschritt von besonderem Interesse, nicht zuletzt hinsichtlich des tugendethischen Anliegens der Stetigkeit im Verhalten und Handeln. Calvin bremst gleichsam die Erwartungen und erweist darauf, dass der „Fortschritt“ jeweils denkbar gering ausfällt, bis wir endlich in die vollkommene Gemeinschaft mit Gott aufgenommen werden – Calvin spricht anschaulich von einem Wanken und Hinken, ja auf dem Boden Kriechen.213 Ermutigend und tröstend hält er dennoch fest: 203

Vgl. Inst. (1559), III,11,11: „Denn dies [die Umgestaltung zu neuen Leben (reformantur in vitae novitatem)] fängt Gott in seinen Auserwählten (in electis) an, er führt es auch während ihres ganzen Lebenslaufs allmählich (paulatim), zuweilen auch langsam (lente), weiter – aber stets so, daß sie vor seinem Richterstuhl des Todesurteils schuldig sind! Die Rechtfertigung geschieht aber nicht teilweise (non ex parte), sondern vielmehr so, daß die Gläubigen, gleichsam mit Christi Reinheit bekleidet (quasi Christi puritate induti), freien Herzens im Himmel erscheinen!“ 204 Vgl. R.K. WÜSTENBERG, Wachstum im Glauben?, 266; W. KRUSCHE, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, 281. 205 Vgl. dazu die schöne überblicksartige Darstellung des christlichen Lebens als Christusgemeinschaft im Glauben von D. SCHÖNBERGER, Gemeinschaft mit Christus, 192–240. Fernerhin: R.C. ZACHMAN, „Deny Yourself and Take up Your Cross“: John Calvin on the Christian Life, IJST 11 (4/2009), 466–482. 206 Inst. (1559), III,2,19. 207 Vgl. Inst. (1559), III,3,3.8. 208 Vgl. Inst. (1559), III,3,3.8. 209 Vgl. Inst. (1559), III,7. 210 Vgl. Inst. (1559), III,8. 211 Vgl. Inst. (1559), III,9f. 212 G.H. HAAS, Ethik und Kirchenzucht, 327. 213 Siehe Inst. (1559), III,6,5. Vgl. R.K. WÜSTENBERG, Wachstum im Glauben?, 272: „Manch fortschrittsoptimistische Schwärmerei weist der Reformator in die

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

„Niemandes Weg wird so unglücklich (infoeliciter) sein, daß er nicht alle Tage ein Stücklein hinter sich bringen könnte. Wir wollen aber nicht aufhören, danach zu streben, daß wir auf dem Wege des Herrn beständig etwas weiterkommen (in via Domini proficiamus), wollen auch bei der Geringfügigkeit des Fortschrittes nicht den Mut sinken lassen (neque successus tenuitatem desperemus). […] Wir wollen nur in aufrichtiger Einfalt auf unser Ziel schauen (syncera modo simplicitate in scopum nostrum respiciamus) und nach dem Zielzeichen uns ausstrecken (ad metam aspiremus).“214

Die Erneuerung, die der Heilige Geist wirkt, vollzieht sich also als sukzessiver Prozess, ist dabei aber nicht so zu verstehen, dass aus Sündern in einem allmählichen Wachstumsprozess wirkliche Heilige würden.215 Nach Calvin gibt es zwar ein faktisches und allmähliches Wachstum in der Heiligung, freilich in dem Sinne, dass sich der Heilige Geist immer mehr im Menschen durchsetzt: „In der lucta christiana [christlichen Kampf] geht es […] nicht darum, daß der Geist zur Herrschaft kommt – das ist bereits entschieden in der Einung mit Christus, in der die Gabe des spiritus regenerationis einbeschlossen ist –, sondern darum, daß er seine Herrschaft durchsetzt. Der Kampf gleicht einem langsamen, aber stetigen Vorwärtsdringen in den Raum des grundsätzlich entmächtigten, aber immer noch gefährlichen Gegners, der Schritt um Schritt weichen muß und dem Meter um Meter Boden abgerungen wird. Das kommt in der quantitativen Begrifflichkeit, deren Calvin sich zur Beschreibung dieses Sachverhalts bedient, besonders gut zum Ausdruck: Der Heilige Geist bemächtigt sich nicht sogleich in einem alles dessen, was uns gehört (omnes nostri partes), sondern es bleiben reliquiae (bzw. ein residuum carnis)“.216 Zutreffend spricht sich M. Beintker in seiner Calvin-Interpretation dafür aus, „Worte wie ‚Wachstum‘ und ‚Prozeß‘ nicht naiv mit der Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung [zu] verbinden […]. Denn bei diesem Prozeß kann es sehr abrupt zugehen, kommt es zu Turbulenzen und Sprüngen, kann man immer wieder auf die Anfänge zurückgeworfen werden. Deshalb kann man nicht scharf genug die Vollkommenheit der Rechtfertigung betonen […]. Die Dynamiken geistlichen Wachstums lassen sich keinesfalls mit sanft ansteigenden Kurven vergleichen. Eher haben wir es mit konzentrischen Wellenbewegungen zu tun, die auf die unio cum Christo zentriert sind und von dieser Mitte her pulsieren.“217 Schranken.“ Ähnlich W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 180. 214 Inst. (1559), III,6,5. 215 So auch R.K. WÜSTENBERG, Wachstum im Glauben?, 274f. Fernerhin: M. BEINTKER, Calvins Denken in Relationen Calvins Denken in Relationen, ZThK 99 (2002), 109–129, 125; W. NIESEL, Die Theologie Calvins, EETh 6, München 21957, 129. 216 W. KRUSCHE, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, 283. 217 M. BEINTKER, Calvins Denken in Relationen, 127.

4. Ansätze zu einer Tugendlehre in Calvins „Institutio“ (1559)

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4.4 Das christliche Leben als tugendhaftes Leben? Calvins Replik auf Einwände Ein recht grundsätzlicher und durchaus naheliegender Einwand gegen Calvins Rekonstruktion des christlichen Lebens als tugendhaftes Leben könnte nun dahingehend formuliert werden, dass Calvin zwar sicherlich in tugendethisch anschlussfähiger Weise von Wachstum und Erneuerung spreche, seine Fixierung auf die Heiligung als Gabe aber jeglichen Versuch von Tugend im Sinne eines kultivierten Habitus zu sprechen unterminieren. Das menschliche Subjekt, das doch die Stetigkeit im Verhalten und Handeln auspräge, werde damit aber negiert.218 Mit diesem Einwand wird also erkennbar die Frage nach dem Anteil des Menschen an der Tugend bzw. dem tugendhaften Verhalten und Handeln gestellt. Calvin waren diese Einwände nicht fremd und wenn er sich mit ihnen auseinandersetzt, so bemüht er stets geradezu reflexhaft das biblische Zeugnis. So verweist er etwas auf Phil 2,12f.: „Schaffet, daß ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern; denn Gott ist’s, der da wirket beides, das Wollen und das Vollbringen.“ Calvin kommentiert: „Er [Paulus] schreibt ihnen [den Philippern; M.H.] hier einen Anteil am Wirken zu, damit sie nicht dem Fleisch in seiner Faulheit Raum geben; aber er gebietet ihnen zugleich Furcht und Zittern und demütigt sie so, daß sie daran denken: dies, was sie selbst zu tun geheißen werden, ist eigentlich Gottes eigenes Werk (proprium esse Dei opus). Er erklärt also ausdrücklich, daß die Gläubigen sozusagen passiv tätig sind (passive [ut ita loquar] agere fideles), da ihnen ja das Vermögen zum Handeln vom Himmel her eingesenkt wird (suggeritur facultas), damit sie sich selbst gar nichts anmaßen! Wenn uns ferner Petrus ermahnt, ‚im Glauben Tugend darzureichen‘ (in fide virtutem) (2Petr 1,5), so schreibt er uns damit nicht das Vermögen zu, sozusagen von uns aus selbständig neben Gott die zweite Rolle im Handeln zu übernehmen (non concedit nobis secundas partes quasi separatim quicquam agamus), sondern er will uns nur aus der Bequemlichkeit des Fleisches aufstören, in der oft selbst der Glaube erstickt wird. Die gleiche Absicht hat auch das Wort des Paulus: ‚Den Geist dämpfet nicht‘ (1Thess 5,19), […] denn eben dieser Eifer (ipsa sedulitas), den Paulus verlangt, kommt nur von Gott (nonnisi a Deo est)! (2Kor 7,1).“219 Entscheidend dürfte für Calvins Argumentation sein, welches Subjekt er in den Blick nimmt.220 Er spricht nicht einfach abstrakt vom Men218

Der Tendenz nach ist dies etwa der Vorwurf, den J.A. HERDT (Putting On Virtue, 198–202) an Calvin adressiert. Vgl. auch O.H. PESCH, Die Theologie der Tugenden und die theologischen Tugenden, Conc(D) 23 (1987), 233–245. 219 Inst. (1559), II,5,11. Vgl. CO 52,31ff. (Komm. Phil 2,13). 220 Treffend bemerkt M. BEINTKER (Calvins Denken in Relationen, 125f.): „Wer durch die Wiedergeburt geführt worden ist, wird verändert. Calvin hat das dialek-

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

schen im Allgemeinen, sondern dezidiert von „den Gläubigen“. Ihren Anteil am Wirken negiert er keineswegs, erläutert aber, dass es sich gleichsam um den neuen Menschen handelt, der seine Identität im rechtfertigenden und heiligenden Handeln Gottes geschenkt bekommen hat, der also – anders gesagt – „in Christus“ bzw. „im Geist“ ist. Die Gläubigen sind insofern passiv tätig, als dass ihr Handlungsvermögen nicht einfach nur „extern“ konstituiert ist, sondern insofern zugleich „intern“, als dass der Geist Gottes bzw. Christi bereits Wohnung in ihnen genommen hat.221 Gleichwohl ist ihr Wachstum keineswegs zu einem Ende gelangt, sondern steht unter eschatologischem Vorbehalt. Von diesem Subjekt, d.h. dem Menschen „in Christus“ bzw. „im Geist“, verstanden gleichsam als verus homo, spricht Calvin als tugendhaftem Menschen. Und exakt diesen hat er im Blick, wenn er feststellt: „Lebendigmachung (vivificatio) bedeutet […] das eifrige Trachten nach einem heiligen und frommen Leben (sancte pieque vivendi studium), wie es aus der Wiedergeburt erwächst (oritur ex renanscentia), es besagt also soviel, als wenn es hieße: der Mensch stirbt sich selber, um Gott zu leben.“222 Präzise von diesem Subjekt spricht Calvin auch dann, wenn er vom freien Menschen spricht: „[W]enn wir Gott dienen, schmälert jenes nicht unsere Freiheit. Im Gegenteil, wenn wir so große Wohltaten Christi genießen wollen, ist zukünftig nichts erlaubt, außer auf die Förderung der Ehre Gottes bedacht zu sein.“223 Der Gott die Ehre gebende Mensch ist nach Calvin der wahrhaft freie Mensch. Die Ehre Gottes und das menschliche Ehrerweisen richten sich keineswegs gegen die Freiheit, ja Humanität des Menschen, sondern bringt diese erst in rechter Weise zur Gel-

tische Arrangement mit der Sünde, das fromme Treten auf der Stelle, entschieden abgelehnt. Die Einung mit Christus führt auch zu einem von ihm gewirkten Fortschreiten in der Heiligung. Das ist niemals unser Verdienst! Aber der Dynamik unserer Erneuerung, der schrittweisen Abtötung des alten Menschen und der schrittweisen vivificatio seines neuen Seins, sollen wir nicht widerstreben. Wenn wir Christus gehören, hat die Sünde ihre Vormachtstellung über uns verloren – auch wenn wir weiterhin von ihr geplagt werden, hat sie doch aufgehört, über uns zu herrschen.“ 221 Insofern trifft die Bemerkung J.T. BILLINGS’ (Calvin, Participation, and Gift, 48) von der Ingebrauchnahme des menschlichen Vermögens keineswegs Calvins Verständnis: „In sanctification, all of the human faculties are, in fact, utilized – but if one views humanity as fundamentally related to God, indeed as truly flourishing only in union with God, then one must not speak of a good human action in separation from God’s action.“ 222 Inst. (1559), III,3,3. 223 CStA 5/1,341 (Komm. Röm 7,4): „Nec vero id libertati nostrae derogat, si Deo servimus. Imo si volumus tanto Christi beneficio frui, posthac non licet nisi de promovenda Dei gloria cogitare, cuius causa nos Christi assumpsit.“

5. Fazit: Wiederkehr der Tugendethik – bei Calvin?

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tung: „Wo Gott erkannt wird, kommt auch die Menschlichkeit zur Ehre.“224 Dieses erneuerte Subjekt ist in seiner Tugendhaftigkeit gefragt und zu tugendhaften Handeln aufgerufen: „[E]s geht nicht im entferntesten an (minime convenit), Christus von uns oder uns von ihm zu trennen, sondern wir müssen mit beiden Händen die Gemeinschaft festhalten, in der er sich mit uns geeint hat (nobis agglutinavit societatem). So lehrt uns der Apostel: ‚Der Leib ist zwar tot um der Sünde willen, der Geist Christi aber, der in euch wohnt, der ist Leben um der Gerechtigkeit willen‘ (Röm 8,10).“225 Mit A. Varma lässt sich summierend festhalten: „The priority of God’s action does not negate human action but rather is the context of virtuous human action. Just as God’s holiness grounds and effects holiness – via Incarnation and Spirit-union – in those whom the Father has called to himself, so also God’s own action grounds and effects action in those who are called by the name of the Incarnate Son. Human action directed by the Spirit in this way is a ‘flourishing’ action that grows in likeness to God’s own action, and it is precisely this sort of action that is able to be called excellent, that is, virtuous. The Christian who consistently and faithfully thinks and acts in this flourishing way is the person who is said to be virtuous.“226

5. Fazit: Wiederkehr der Tugendethik – bei Calvin? Zu Anfang war von einer „Renaissance der Tugendethik“ in der Moralphilosophie die Rede. Dass das Handeln des Menschen – will man es nicht aktualistisch reduzieren – von „Stetigkeiten“227, einem Repertoire von Verhaltensmustern, geprägt ist und man nicht immer wieder neu entscheiden und im ethischen Urteil jeweils ab ovo anfangen muss, ist in der „Renaissance der Tugendethik“ zu Recht betont worden. Das tugendethische Grundmotiv der Stetigkeit hat auch in der Gegenwart zu denken gegeben. Wer wollte etwa E. Tugendhats Votum widersprechen: „[N]ich nur bestimmte Handlungen […], sondern Haltungen sind wünschenswert?“228 Und wer wollte ernsthaft, d.h. mit guten Gründen, gegen das Urteil W. Lienemanns opponieren: „Tugendethik erweist sich bei näherer Betrachtung als notwendige 224

CO 38,388 (Komm. Jer 22,16): „Ubi cognoscitur Deus, etiam colitur humanitas.“ Dazu: M. HOFHEINZ, Johannes Calvins theologische Friedensethik, 58f. 225 Inst. (1559), III,2,24. 226 A. VARMA, Fitting Participation, 486. 227 Von „Stetigkeit“ spricht auch G.W.F. HEGEL (u.a. DERS., Grundlinien der Philosophie des Rechts, Theorie-Werkausgabe, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1976, 300). 228 E. TUGENDHAT, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 41997, 227.

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III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

Ergänzung fast aller Ethikkonzepte, sofern diese daran interessiert sind, das, was sie lehren, im Leben von Menschen dauerhaft zu verankern, zu ‚habitualisieren‘“?229 Auch Calvin hätte hier sicherlich nicht protestiert. Doch partizipiert Calvin damit bereits an der Wiederkehr der Tugendethik? Um diese zugleich anachronistische wie spekulative Frage abschließend sachgemäß zu beantworten, sei festgehalten, dass hier recht differenziert geurteilt werden muss. Bei Calvin findet sich keine ausgeprägte Tugendlehre in dem Sinne, dass er zu einer durchreflektierten Klassifikation von Tugenden gelangt. Die einzelnen Tugenden wirken, wie gezeigt wurde, prima facie wie frei flottierende Versatzstücke, die unsystematisiert über sein Oeuvre verteilt sind. Bei Lichte betrachtet, werden sie jedoch theologisch konsequent dem Topos der Heiligung zugeordnet. Anders als etwa Paulus macht Calvin auch expliziten Gebrauch von der Kategorie, genauer dem Lexem der Tugend (lat. virtus), so dass seine Lehre nicht nur – mit E.T. Charry – als „conducive to virtue“230 oder als „aretegenic“231 beschrieben werden kann. Seine Ausführungen zum christlichen Leben lassen bis in die Terminologie hinein, d.h. explizit tugendethische Erwägungen bzw. tugendethische Verankerung erkennen. Überzogen wäre es indes zu behaupten, dass für Calvin die Tugend der zentrale Topos für seine Lehre vom christlichen Leben ist. Calvin wäre zweifellos sofort bereit gewesen, den subalternen Rang seiner tugendethischen Ausführungen einzugestehen. Der eher periphere, wenngleich keineswegs belanglose Charakter seiner im Anspruch also eher bescheidenden, Unvollständigkeit und Kürze konzedierenden Ausführungen zur Tugend entsprechen dem, was er selbst zu Beginn seiner Ausführungen im Blick auf das christliche Leben sagt: „Mir soll es übrig genug sein, wenn ich den Weg zeige (methodum ostendero), auf dem ein frommer Mann zum rechten Ausrichtungspunkt für die Gestaltung seines Lebens geführt werden kann (vir pius ad rectum constituendae vitae scopum deducantur).“232 Ich ziehe es daher vor, von tugendethischen Ansätzen bei Calvin statt von der Tugendethik Calvins zu sprechen, so als wäre sein ethischer Ansatz mit dieser typologischen Zuordnung hinreichend gekennzeichnet. Eine ausgeführte spezifisch reformatorische Tugendethik findet man bei Calvin nicht. Gleichwohl hat der Genfer Reformator 229 230

W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, 141. So E.T. CHARRY, By the Renewing of Your Minds: The Pastoral Function of Christian Doctrine, New York 1997, 19. 231 A.a.O., 199. Bei diesem Neologismus, den die Princetoner Theologin einführt, handelt es sich um ein Kompositum aus den griechischen Begriffen aretē (Tugend) und gennaō (zeugen, gebären, hervorbringen). 232 Inst. (1559), III,6,1.

5. Fazit: Wiederkehr der Tugendethik – bei Calvin?

111

einige rekonstruierbare Umrisse einer theologischen Tugendlehre entworfen, die zugleich wichtige tugendethische Implikationen enthält. Diese Annäherungen sind m.E. bereits beachtlich. Entgegen dem langlebigen Vorurteil, dass reformatorische Theologie per se im Widerspruch zur Tugendethik stehe und eine Ausprägung einer solchen verhindere, hat Calvin mit seinen Ansätzen durchaus einen protestantischen Zugang zur Tugendethik freigelegt. Er eröffnet einen konzeptionellen Raum für eine pneumatologische und zugleich trinitätstheologisch verantwortete Tugendlehre und liefert wichtige Grundlagen für ein nichthabituelles Tugendkonzept, genauer: für ein Tugendkonzept mit einem spezifischen bzw. differenzierten Habitusverständnis. Diese missverständliche Bemerkung bedarf einer abschließenden Erläuterung: Man mag Calvins Ausführungen in vielerlei Hinsicht als Kontrastfolie etwa zu den so bedeutenden und rezeptionsgeschichtlich so wirkungsvollen Entwürfen abendländischer Ethik von Platon, Aristoteles oder Thomas von Aquin ansehen. Und in mancherlei Hinsicht bricht Calvin sicherlich mit ihnen. Dass Tugenden, etwa die von Thomas von Aquin genannten virtutes theologicae (Glaube, Liebe und Hoffnung), zu einem durch die Gnade Gottes eingegebenen (infusae) und kooperativ vom Menschen erworbenen Habitus werden, diesen Gedanken lehnt Calvin ab, zumal er hier den alten Menschen am Werk sieht. Das „Prae“ des allein gnadengewirkten Glaubens werde durch die habitualisierte Liebe als Werk des Menschen infrage gestellt: „Here is no santification – and thus no virtue – apart from Christ and the benefits that proceed from him.“233 Calvin verneint entschieden, „daß wir etwa durch das Verdienst unserer Heiligkeit (non quia sanctitatis merito) in die Gemeinschaft mit Gott gelangten“.234 Die bis heute kontroverstheologisch umstrittene Formel von der fides caritate formata kann Calvin nicht mitsprechen, wenngleich sich schwerlich nachweisen lässt, dass das thomanische System direkter Gegenstand seiner reformatorischen Auseinandersetzung war: „[W]enn man auch zugibt, daß die Liebe die Gerechtigkeit ist, dann behaupten die Papisten trotzdem vergeblich und kindlich, daß wir durch die Liebe gerechtfertigt werden. Denn wo kann man die vollkommene Liebe finden? Wir behaupten die Rechtfertigung des Menschen aus Glauben allein nicht deshalb, weil die Beachtung des Gesetzes keine Gerechtigkeit ist, sondern weil wir alle Übertreter des Gesetzes sind und, beraubt der eigenen Gerechtigkeit, gezwungen sind, die Gerechtigkeit von Christus zu leihen. Daher

233 234

A. VARMA, Sin, Grace, and Virtue in Calvin, 185f. Inst. (1559), III,6,2.

112

III. „Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“

bleibt allein die Gerechtigkeit des Glaubens übrig, weil die Liebe niemals vollkommen ist.“235

Calvin hält an der reformatorischen Einsicht fest, dass der Mensch nicht mit seinem Werk Gottes Liebe zu gewinnen vermag, sondern sich von Gottes rechtfertigender und heiligender Gnade ganz beschenken lassen darf. Der Glaube wird bei Calvin nicht zu einem habituellen Glauben, der vom Menschen als Subjekt durch Werke geübt und verstärkt werden muss. Vielmehr lebt der Glaube ex Christi participatione.236 Calvin interpretiert ihn als Grundvollzug eines geheiligten Daseins, das sich in der unio cum Christo vom Geist Gottes bzw. Christi empfängt, erneuert lässt und Gott darin die Ehre gibt. Calvin sieht den Wiedergeborenen durch das heiligende Handeln des Geistes Gottes befreit von habituell zu steigernden Tugendidealen, die immer wieder hinter dieses Handeln Gottes an ihm zurückfallen. Mit anderen Worten: „Calvin weiß nichts von einer uns eignenden Gnadenhabitualität, so daß wir erhoben wären über unseren noch nicht glaubenden und der Gnade teilhaftigen Nächsten.“237 Zugleich ist der Wiedergeborene nach Calvin durch das heiligende Handeln des Geistes Gottes nicht nur befreit von, sondern auch befreit zu einem tugendhaften Handeln, das aus dessen Kraft bzw. der Kraft des von ihm erneuerten Selbst lebt. Anders gesagt: „Calvins reformatorische Kritik am Habitus-Charakter der kirchlich propagierten richtete sich nicht gegen diesen Aspekt [der Habitualisierung], sondern gegen dessen Verselbständigung im Sinne heilswirksamer frommer Leistungen des (später sich gar als autonom verstehenden) Subjekts. Gegen eine vom Menschen aus eigener Kraft, zu eigener Vollkommenheit entwickelter virtus (im Sinne eines festen habitus) richtete sich die Kritik.“238

Von Calvin lässt sich in diesem Sinne lernen, dass es für evangelische Ethik keinen Grund gibt, das Thema Tugend zu meiden, wenn betont wird, dass der Geist Gottes vor aller Selbstbestimmung auf das Gute hin ausrichtet und dem Handelns des Menschen insofern keine 235

CO 52,123 (Komm. Kol 3,14): „Verum illo concesso, caritatem esse iustitiam: frustra et pueriliter inde contendunt, nos caritate iustificari. Ubi enim reperietur perfecta caritas? Nos autem non ideo dicimus iustificari homines sola fide, quia legis observatio non sit iustitia: sed potius quod, quum omnes simus transgressores legis, destituti propria iustitia, cogimur a Christo iustitiam mutuari. Sola igitur fidei iustitia superest, quia nusquam perfecta est caritas.“ 236 Vgl. zu diesem Glaubensverständnis Calvins P. OPITZ, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 235–245. 237 W. KOLFHAUS, Vom christlichen Leben nach Johannes Calvin, 67. 238 W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, 141.

5. Fazit: Wiederkehr der Tugendethik – bei Calvin?

113

Heilswirksamkeit zugesprochen wird.239 Die Antwort auf die Ausgangsfrage, ob Calvin an der „Renaissance der Tugendethik“ partizipiert, kann mithin nur „Jein“ oder besser: „Ja, aber mit Einschränkung“ lauten. Noch genauer und mit inhaltlicher Präzisierung gesagt: In der Rekonstruktion der tugendethischen Ansätzen Calvins lässt sich in der Tat durchaus so etwas wie eine überraschende Wiederkehr der Tugendethik erleben – allerdings unter reformatorischem Vorzeichen.

239

Vgl. H.-R. REUTER, Tugend, in: R. ANSELM / U.H.J. KÖRTNER (Hg.), Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015, 204–211, 208.

IV. Freiheit zur Nachahmung Problemorientierte Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt reformatorischer Ethik Für Gerard C. den Hertog zum Eintritt in den Ruhestand

1. Welche Freiheit? Einleitende Bemerkung zum theologischen Gebrauch eines schillernden Begriffs Der Begriff „Freiheit“ bildet zweifellos einen Grundbegriff der Reformation. Aus dem Selbstverständnis des Protestantismus scheint der Freiheitsbegriff nicht wegzudenken, es sei denn, man wolle den Protestantismus gleichsam entkernen und seines Zentrums berauben. Bereits Luther berief sich auf die Freiheit und fasste mit seiner sozialethisch grundlegenden „Freiheitsschrift“ (1520) die „ganze Summa eines christlichen Lebens“1 unter diesen Begriff. Sein Freund Philipp Melanchthon stand dem in Nichts nach und pointierte in seinen Loci: „Postremo, libertas est christianismus“ – „überhaupt, Christentum ist Freiheit“2. Und auch Johannes Calvin nannte die christliche Freiheit „den Hauptinhalt der Lehre des Evangeliums“3. Markiert die Reformation mit diesem Fanfarenstoß der Freiheit nicht den Beginn der Neuzeit?4 Gerhard Ebeling zumindest bestimmt Freiheit „als Grundwort und Grundwert der Neuzeit“5. Sind reformatorisches und neuzeitliches Freiheitsverständnis nicht unmittelbar anschlussfähig, ja prinzipiell identisch? Nicht wenige Theologen/innen der Gegenwart vertreten mutatis mutandis eine Konvergenztheorie, die von einem harmonischen Verhältnis zwischen reformatorischem und neuzeitlichem Freiheitsruf ausgehen. Das reformatorische Zeug1 2

WA 7,11,9–10 (Sendschreiben an Papst Leo X., 1520). PH. MELANCHTHON, Loci communes. 1521, in: DERS., Werke in Auswahl, Bd. II/1, hg. von R. STUPPERICH, Gütersloh 21978, (15–185) 145,31f. 3 Inst. (1559), III,19,1. 4 Zu der Frage, ob die Reformatoren der Neuzeit zuzuordnen sind, vgl. die kritische Stimme von H. DEMBOWSKI, Martin Luther, in: DERS., Wahrer Gott und wahrer Friede. Aufsätze und Vorträge zwischen Ost und West, hg. von H. FALCKE / H. SCHRÖER, Leipzig 1995, 378–393, 392: „Luther gehört nicht zur Neuzeit. Er steht zwischen Mittelalter und Neuzeit in der Zeit der Verheißung Gottes, die er radikal ernst nimmt.“ Als weitere kritische Stimme zu dieser Frage vgl. V. LEPPIN, Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016. 5 G. EBELING, Der kontroverse Grund der Freiheit. Zum Gegensatz von LutherEnthusiasmus und Luther-Fremdheit in der Neuzeit, in: B. MOELLER (Hg.), Luther in der Neuzeit, Gütersloh 1983, (9–33) 17.

1. Welche Freiheit?

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nis wird als „Initialzündung für die Freiheitsgeschichte der Neuzeit“6 betrachtet. „In der Entdeckung der glaubenden Subjektivität gegen die Fremdbestimmung durch kirchliche Autorität habe gerade die Reformation den Grund für die Kehre des menschlichen Subjekts in seine Autonomie und Emanzipationsfähigkeit gelegt.“7 Vom Problem der Frage, wie sich Freiheit und Neuzeit zueinander verhalten, hin zu der Frage, ob und wie der Begriff Freiheit spezifiziert werden müsste: Von Johann Gottlieb Fichte stammt das berühmte Diktum: „Jesus und Luther, heilige Schutzgeister der Freiheit, die ihr in den Tagen eurer Erniedrigung mit Riesenkraft in den Fesseln der Menschheit herumbrachtet und sie zerkniket, wohin ihr grifft, seht herab aus höhern Sphären auf eure Nachkommenschaft und freut euch der schon aufgegangenen, der schon im Winde wogenden Saat: bald wird der Dritte [sc. Immanuel Kant; M.H.], der euer Werk vollendete, der die letzte stärkste Fessel der Menschheit zerbrach, ohne daß sie, ohne dasß vielleicht er selbst es wußte, zu euch versammelt werden.“8

Kritisch gegenüber einer solchen Freiheitsemphase hat vor vielen Jahren bereits Hans-Georg Geyer eingewandt: „Wie andere emphatische Begriffe, denen als Begriffen des Selbstbewußtseins der Charakter des Appells einwohnt, gehört ‚Freiheit‘ zu jenen Worten, deren Sinn sich zunehmend verschleiert. Der maßlose Gebrauch des Wortes Freiheit erregt den fatalen Verdacht des Mißbrauchs und der Sinnentleerung. Was läßt sich bei diesem Wort überhaupt noch denken?“9

In dem Gedicht „Trotz allem“ schreibt der Schriftsteller Günter Grass in seinem Lyrikband „Eintagsfliegen“ über sein Land: „Liebreich gelobtes Land, / dem das Wort Freiheit leergelöffelt / und leichtgewichtig zur Hülse wurde.“10 6

M. BEINTKER, Das reformatorische Zeugnis von der Freiheit heute. Ist das Reden von der Freiheit eine Möglichkeit, die Bedeutung der Rechtfertigungslehre zu erschließen?, in: DERS., Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt. Theologische Erkundungen, Tübingen 1998, (49–65) 55. 7 Ebd. 8 J.G. FICHTE, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution, in: DERS., Werke 1, Fichte GA der Bayerischen Akademie der Wissenschaften I/1, Stuttgart 1964, (193–404) 255. Zu Fichte vgl. H.-G. GEYER, Norm und Freiheit (1967), in: DERS., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.TH. GOEBEL u.a., Tübingen 2003, 306–331. 9 GEYER, Norm und Freiheit, 306. Zu Geyers Freiheitsverständnis vgl. G. DEN HERTOG, Die Freiheit Gottes und die Befreiung des Menschen in der politischsozialen Ethik H.-G. Geyers, in: K. VON BREMEN (Hg.), Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße Hans-Georg Geyers, Schwerte 2007, 87–111. 10 G. GRASS, Trotz allem, in: DERS., Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte, Göttingen 2012, 49.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

Was ist und was meint „Freiheit“? Vor allem: „Welche Freiheit ist gemeint?“11 Der deutsche Journalist Matthias Drobinski schrieb vor wenigen Wochen in der „Süddeutschen Zeitung“: „In Deutschland gibt es, ausgerechnet in einer Zeit der vielfältig bedrohten Freiheit, eine merkwürdige Banalisierung des Freiheitsbegriffs: Freiheit ist, an 365 Tagen im Jahr Party machen zu können. Freiheit ist, jederzeit in einem Geschäft einkaufen gehen zu können, gerne noch am Karfreitag, wenn man nicht gerade zum Tanz beim Bund für Geistesfreiheit muss. Für diese Freiheit also wird gekämpft, bis hin zum Bundesverfassungsgericht.“12

Doch: Ist diese Freiheit im Sinne der Befreiung von allen „Limits“ des „Shoppens“ und der „Party“ wirkliche Freiheit? Drobinski spricht im Blick auf ein solches Freiheitsverständnis von einer Banalisierung des Freiheitsbegriffs. In der Tat muss die Frage gestellt werden, ob ein solches Freiheitsverständnis nicht das unumgängliche Resultat einer „modernen“ Reduzierung des Freiheitsbegriffs darstellt, und zwar im Sinne eines negativen Freiheitsbegriffs,13 also Freiheit verstanden als „Freiheit von …“.14 Der russisch-britische politische Philosoph und Ideengeschichtler jüdischer Abstammung Isaiah Berlin hat in seinem wohl bekanntesten Aufsatz „Zwei Freiheitsbegriffe“15 (1958) die Unterscheidung zwischen negativer und positiver Freiheit geprägt. Seitdem ist sie zum fixen Referenzpunkt der politiktheoretischen Debatte avanciert. Im Anschluss an Thomas Hobbes und Jeremy Bentham bezeichnet Berlin als negative Freiheit die Abwesenheit von äußeren Hindernissen 11

W. HUBER, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, NBST 4, Neukirchen-Vluyn 21985, 208. Die Kursivierung stammt von mir. So auch O. BAYER, Zweierlei Freiheit Reformatorisches und neuzeitliches Verständnis: eine notwendige Unterscheidung, Zeitzeichen 2 (2012), (16–19) 19: „Die Gretchenfrage lautet also: welche Freiheit?“ 12 M. DROBINSKI, Kollektive Ruhelosigkeit, SZ vom 1. Dez. 2016, Nr. 278. 13 CHARLES TAYLOR (Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, übers. von H. Kocyba, Frankfurt a.M. 1988, bes. 118–145 [Kap. 3: „Der Irrtum der negativen Freiheit“]) zufolge besteht ein Grundproblem zeitgenössischer Ethik darin, dass dieser negative Freiheitsbegriff die Berücksichtigung der Willkürfreiheit des einzelnen einfordert, den Schutz der Integrität von Gemeinschaftsbeziehungen hingegen ausblendet. Vgl. auch H. ROSA, Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor, Frankfurt a.M. 1998, 181–194. 14 W. HUBER (Freiheit, in: R. ANSELM / U.H.J. KÖRTNER [Hg.], Evangelische Ethik kompakt. Basiswissen in Grundbegriffen, Gütersloh 2015, [41–47] 41) bemerkt treffend: „Die schwere Bestimmbarkeit des Begriffs der Freiheit zeigt sich darin, dass Lexika häufig zu einer negativen Definition Zuflucht nehmen und Freiheit als die Abwesenheit von Zwang verstehen. Doch eine solche rein negative Bestimmung reicht nicht aus. Offenkundig ist Freiheit nicht als ‚Freiheit von ...‘, sondern auch als ‚Freiheit zu …‘ zu verstehen.“ 15 I. BERLIN, Freiheit. Vier Versuche, Frankfurt a.M. 2006, 197–256.

1. Welche Freiheit?

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bei der Umsetzung eigener Ziele.16 „Negativ“ ist dieser Freiheitsbegriff insofern, als dass es sich um eine „Freiheit von etwas“ handelt, d.h. frei ist man nur, wenn man frei von äußeren Zwängen, Einmischungen und Restriktionen handelt.17 Als „negativ“ lässt sich dieser Freiheitsbegriff freilich noch in einer weiteren Hinsicht bezeichnen, nämlich im Kontrast einer positiven inhaltlichen Bestimmung der Freiheit. Der Freiheitsbegriff muss gleichsam in seiner Ausfüllung unbestimmt bleiben, da der einzelne sonst hinsichtlich seiner Zielsetzung und seines Fähigkeitserwerbs begrenzt würde. So verbindet sich mit dem negativen Freiheitsbegriff ein rigoroser kultureller Pluralismus, der den Individuen die Wahl ihrer Handlungsziele vollständig selbst überlassen will. Man kann und muss wohl diese Auffassung mit Axel Honneth als in sich widersprüchlich qualifizieren, insofern der negative Freiheitsbegriff mit dem kulturellen Pluralismus insofern konfligiert (Honneth spricht von der „ungelösten Spannung in der politischen Philosophie Isaiah Berlins“18), als dass letzterer die positive Bestimmung einer kulturellen Zugehörigkeit, nämlich ein positives Recht auf Teilhabe impliziert. Doch mir geht es weniger um die sozialphilosophische Debatte als um die von Berlin dargebotene Typologie, die m.E. auch eine wichtige Heuristik für ein tragfähiges theologisches Freiheitsverständnis liefert. Ein solches zu entwickeln, dazu hat die Reformation, haben – wie ich im Folgenden demonstrieren möchte – Martin Luther, aber nicht nur er, sondern auch die reformierten Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin, einen entscheidenden Beitrag geleistet. Mir geht es darum, den von ihnen profilierten positiven Freiheitsbegriff herauszuarbeiten. Zweifel daran, dass dieser Freiheitsbegriff nicht notwendigerweise mit einem neuzeitlichen Freiheitsbegriff koinzidiert, beschleichen einen, wenn man etwa Calvins pointierte Aussage aus seinem „Römerbriefkommentar“ (1541) berücksichtigt: „[W]enn wir Gott dienen, schmälert jenes nicht unsere Freiheit. Im Gegenteil, wenn wir so große Wohltaten Christi genießen wollen, ist zukünftig nichts erlaubt, außer auf die Förderung der Ehre Gottes bedacht zu sein.“19 Freiheit und Dienst schließen sich Calvin zufolge 16

Vgl. a.a.O., 208: „Die Verteidigung der Freiheit widmet sich dem ‚negativen‘ Ziel, Einmischung abzuwehren.“ 17 Vgl. a.a.O., 207. 18 A. HONNETH, Zwischen negativer Freiheit und kultureller Zugehörigkeit. Eine ungelöste Spannung in der politischen Philosophie Isaiah Berlins, in: DERS., Das Andere der Gerechtigkeit. Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 2000, 310–327. 19 CStA 5/1,341 (Komm. Röm 7,4): „Nec vero id libertati nostrae derogat, si Deo servimus. Imo si volumus tanto Christi beneficio frui, posthac non licet nisi de promovenda Dei gloria cogitare, cuius causa nos Christi assumpsit.“

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IV. Freiheit zur Nachahmung

keineswegs aus: Deo servire summa libertas – Gott dienen ist höchste Freiheit. Mit einem neuzeitlichen Autonomieverständnis wird dieses Diktum ohne weiteres wohl kaum in Übereinstimmung zu bringen sein. Denn der Dienst Gottes (Gen. subiectivus wie Gen. obiectivus) steht ohne Zweifel eher für Heteronomie, also Fremdbestimmung, als für Autonomie. Zudem wird Freiheit von Calvin nicht negativ, sondern positiv verstanden, als „Freiheit zu …“, konkret eben zum Gottesdienst. Isaiah Berlin bemerkt: „Es ist nämlich diese ‚positive‘ Freiheitsauffassung – Freiheit nicht von, sondern Freiheit zu etwas, Freiheit, eine bestimmte vorgeschriebene Form von Leben zu führen.“20 Berlin verweist eher beiläufig auf die religiöse Wurzel des negativen Freiheitsbegriffs, die „in entwickelter Form kaum weiter zurückreicht als bis in die Renaissance oder die Reformationszeit“.21 Der Reformator Calvin weist mit seinem Diktum darauf hin, dass ein substantielles theologisches Freiheitsverständnis nicht von dem Geschehen abstrahieren kann, das im Freiheitserwerb von Kreuz und Auferstehung für uns geschehen ist. Überhaupt geht es den Reformatoren nicht einfach allgemein um Freiheit, sondern – um mit dem Titel von Luthers „Freiheitsschrift“ zu sprechen – präzise um die „Freiheit eines Christenmenschen“. Sie, die Freiheit eines Christenmenschen, ist „das Thema, die Urmelodie der Reformation, die […] stets verbunden war mit einer beachtlichen Sensibilität gegenüber dem Humanum“.22 2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ Die Dialektik des Freiheitsbegriffs Luthers und der vernachlässigte Aspekt der Nachahmung Christi 2.1 Die Doppelthese der „Freiheitsschrift“ Luthers Luthers „Freiheitsschrift“ ist bereits mehrfach als Bezugspunkt des Freiheitsdiskurses genannt worden und dies aus gutem Grund, denn sein „Tractatus de libertate christiana“23 (1520) „ist zweifellos der 20 21

I. BERLIN, Zwei Freiheitsbegriffe, 210. Hervorhebungen im Original. A.a.O., 209. Für Berlin (a.a.O., 313) steht indes auch fest: „Der christliche (oder jüdische oder moslemische) Glaube an die absolute Autorität göttlicher oder natürlicher Gesetze oder an die Gleichheit aller Menschen im Angesicht Gottes ist etwas ganz anderes als der Glaube an die Freiheit, das eigene Leben so zu leben, wie man es für richtig hält.“ 22 H. SCHOLL, Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 7. 23 Deutscher Text: WA 7,20–38; lateinischer Text: WA 7,49–73. Im Folgenden wird die „Freiheitsschrift“ zitiert nach M. LUTHER, Von der Freiheit eines Christenmen-

2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

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Schlüsseltext christlicher Ethik in der reformatorischen Tradition“24. Er soll im Folgenden einer kurzen Relektüre unterzogen werden. Es handelt sich um einen „überaus kunstvoll komponierte[n] Text, der in das Zentrum reformatorischer Ethik führt“.25 Nach Wolfgang Lienemann lässt er sich – wie folgt – gliedern: „Teil I: Vom inneren Menschen (1–18) 1 Die Generalthese des paulinischen Doppelsatzes 1Kor 9,16. 2–5 Dem „inneren“ Menschen (in seiner leiblich-seelischen Ganzheit) hilft nicht sein eigenes Tun, sondern allein das Wort Gottes, das Evangelium. 6–7 Das Wort Gottes ist die Verkündigung Jesu Christi. 8–9 Abgrenzung von jeglicher ‚Gesetzes‘-Frömmigkeit. 10–12 Die ‚Seele‘ (anima, das ‚Herz‘) ist der Ort der wirksamen Verwandlung des Menschen (10: Origines; 12: Vereinigung, Wechsel und Streit – das selige commercium). 13–18 Vergewisserung (allgemeines Königtum und Priestertum; ‚geistliche‘ wesentliche Gleichheit) und Abgrenzungen (gegen römische äußerliche Unterscheidungen). Teil II. Vom äußeren Menschen (19–30) 19–20 Selbstverständliche Notwendigkeit guter Werke. 21–25 Werke im allgemeinen und gegenüber sich selbst. 26–29 Werke gegenüber dem ‚Nächsten‘. 30 Schluss.“26

Der Traktat Luthers wird eröffnet mit der berühmten Doppelthese: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller schen (1520), in: K. BORNKAMM / G. EBELING (Hg.), Martin Luther. Ausgewählte Werke. Bd. 1: Aufbruch zur Reformation, Frankfurt a.M. 1982, 238–263. In Klammern wird jeweils Luthers Zählung der (insgesamt 30) Abschnitte in Klammern (Abschnitt xx) angefügt. Zum Entdeckungszusammenhang von Luthers „Freiheitsschrift“, zu ihren beiden Fassungen und ihrem Aufbau siehe CH. DAHLING-SANDER, Zur Freiheit befreit. Das theologische Verständnis von Freiheit und Befreiung nach Martin Luther, Huldrych Zwingli, James H. Cone und Gustavo Gutiérrez, Frankfurt a.M. 2003, 21–39; R. RIEGER, Von der Freiheit eines Christenmenschen. De libertate christiana, Kommentare zu Schriften Luthers Bd. 1, Tübingen 2007, 1–36. 24 R. HÜTTER, Welche Freiheit? Wessen Gebot? Die Zukunft lutherischer Ethik in Kirche und Öffentlichkeit, in: W. SCHOBERTH / I. SCHOBERTH (Hg.), Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung. FS Hans G. Ulrich, EThD 5, hg. von M. HEIMBACH-STEINS u.a., Münster u.a. 2002, (165–182) 172. 25 W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 91. 26 A.a.O., 92. Hervorhebungen im Original. Eine ungleich detailliertere, minutiöse Gliederung hat R. RIEGER (Von der Freiheit eines Christenmenschen, 12–15) vorgelegt.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

Dinge und jedermann untertan.“27 Auch hier werden, wie im eingangs bemühten Zitat Calvins, Freiheit und Dienstbarkeit in einen Zusammenhang gestellt. Luther versteht seine gesamte Schrift als Auslegung dieser Doppelthese. Er betont einerseits, „daß ein Christenmensch durch den Glauben so hoch über alle Dinge erhoben wird, daß er geistlich ein Herr aller Dinge wird; denn es kann ihm kein Ding zur Seligkeit schaden“.28 Zugleich hält Luther fest: „Wer nicht an Christus glaubt, dem dient kein Ding zugute; er ist ein Knecht aller Dinge, muß sich an allen Dingen ärgern.“29 Reinhard Hütter hat vor einigen Jahren auf das traurige wirkungsgeschichtliche Schicksal der Doppelthese aufmerksam gemacht: „The sad story of this formula is, however, that the dialectic has not been maintained. The first half was emphasized and its second half forgotten, which led to the late-modern notion of the moral autocracy of the independent self. Or its second half was emphasized and its first half forgotten, which led to the notorious notion of Christian obedience. A third error was to dichotomize the two statements: freedom for the ‘inner’ spiritual life and uncritical acceptance of all that constitutes ‘outer’ political and economic life. Anything less than the whole radical dialectic is a fatal mistake. What Luther says in two consecutive sentences – which cannot be said in one – is the one dynamic of the Christian life in faith, a life in union with Christ as part of his body. Insofar as we become one with Christ in faith, this dialectic of freedom in faith and service in love expresses God’s own freedom in love.“30

Man kann die traurige Geschichte dieser Dialektik auch so zusammenfassen, dass entweder der Freiheitsbegriff auf einen negativen oder positiven Freiheitsbegriff reduziert wurde, auf eine „Freiheit von …“ oder eine „Freiheit zu …“, oder dass beide Aspekte zwar berücksichtigt, aber dichotomisiert wurden, so dass eine falsch verstandene Zweireiche-Lehre die Folge war. Im Blick auf das Verhältnis zur Neuzeit scheint mir das erste Missverständnis virulent zu sein, weshalb ich – ohne die beiden anderen Gefahren zu ignorieren – den zweiten Teil der Schrift, die dem „äußeren Menschen“ gewidmet ist, fokussieren möchte. Dabei gilt es freilich, den Zusammenhang mit dem ersten Teil, der dem „inneren Menschen“31 27 28 29 30

LUTHER, Von der Freiheit, 239 (Abschnitt 1). A.a.O., 248 (Abschnitt 15). A.a.O., 249 (Abschnitt 16). R. HÜTTER, The Twofold Center of Lutheran Ethics. Christian Freedom and God’s Commandments, in: K.L. BLOOMQUIST / J.R. STUMME (Hg.), The Promise of Lutheran Ethics, Minneapolis 1998, (31–54; 179–192) 41. 31 Zur Unterscheidung von innerem und äußerem Menschen bei Luther vgl. R. HÜTTER, Martin Luther and Johannes Dietenberger on „Good Works“, Lutheran Quarterly 6/2 (1992), (127–152) 134–136; E. JÜNGEL, Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, KT 30, München 1978, 116–120; K.-

2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

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gewidmet ist,32 nicht aus dem Blick zu verlieren. Der zweite Teil ist indes für die theologische Ethik von besonderer Relevanz. Während Luther nämlich im ersten Teil Ursprung und Grund der Freiheit darlegt, kommt er im zweiten Teil nun auf die Folgen der christlichen Freiheit zu sprechen. Es geht dort, mit anderen Worten, um die „Frucht“ des Geschehens, die Luther mit Hilfe der Figur des „fröhlichen Wechsels“ als Heilsgeschehen zwischen Gott und Mensch, Christus und der „Seele“ umschreibt. Luther selbst gebraucht die Metapher von der „Frucht“, um die Folgen der Freiheit in Anlehnung an das Gleichnis vom Baum und den Früchten aus der Bergpredigt (Mt 7,17–20) zu umschreiben: „Gute Werke machen nimmermehr einen guten frommen Mann, sondern ein guter frommer Mann macht gute fromm Werke. […] So daß allewege die Person zuvor gut und fromm sein muß vor allen guten Werken, und gute Werke folgen und gehen aus von der frommen, guten Person. Ebenso wie Christus sagt: ‚Ein böser Baum trägt keine gute Frucht. Ein guter Baum trägt keine böse Frucht.‘ (Matth.7,18) Nun ist es offenbar so: Die Früchte tragen nicht den Baum, so wachsen auch die Bäume nicht auf den Früchten, sondern umgekehrt, die Bäume tragen die Früchte. […] So ist klar, dass allein der Glaube aus lauter Gnade, durch Christus und sein Wort, die Person genügend fromm und selig macht und dass kein Werk, kein Gebot einem Christen zur Seligkeit not ist; dass er vielmehr von allen Geboten frei ist und aus lauterer Freiheit alles umsonst tut, was er tut, in nichts damit seinen Nutzen oder seine Seligkeit sucht“33.

Der Folgecharakter der guten Werke34 als Früchte des Glaubens wird hier von Luther anschaulich umschrieben. Die guten Werke sind als Früchte des Glaubens Ausdruck der Freiheit des Christenmenschen, einer Freiheit, die Luther im ersten Teil seines Traktats als negative Freiheit beschreibt, nämlich als „Freiheit vom Gesetz“ in seiner Heilsfunktion, ja als Freiheit „von allen Dingen“35, die zum vermeintlichen Heilserwerb herangezogen werden müssten, um das Heil zu H. ZUR MÜHLEN, Innerer und äußerer Mensch. Eine theologische Grundunterscheidung bei Martin Luther, GuL 4 (1989), 143–151. 32 Der erste Teil handelt – in M. LUTHERS (Von der Freiheit, 251 [Abschnitt 19]) eigenen Worten – „von dem innerlichen Menschen, von seiner Freiheit und der Hauptgerechtigkeit […], der keines Gesetzes noch guter Werke bedarf, die ja eher schädlich sind, wenn jemand sich vermessen wollte, durch sie gerechtfertigt zu werden“. 33 A.a.O., 254f. (Abschnitt 23). 34 Man kann nicht mit Werken die Gebote Gottes erfüllen. Die Erfüllung geschieht vor allen Werken durch den Glauben und die Werke folgen der Erfüllung. So LUTHER, a.a.O., 247 (Abschnitt 13). 35 A.a.O., 249 (Abschnitt 16): Im Blick auf den Glauben und nicht die Werke gilt, daß „ein Christenmensch frei ist von allen Dingen und über alle Dinge, so daß er keiner guten Werke dazu bedarf, damit er fromm und selig sei, sondern der Glaube bringt es ihm alles im Überfluß.“

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IV. Freiheit zur Nachahmung

erarbeiten. Im zweiten Teil entfaltet Luther dann die positive Freiheit als Freiheit zu guten Werken.36 Im ersten Teil heißt es zusammenfassend: „So sehen wir, daß ein Christenmensch an dem Glauben genug hat; er bedarf keines Werkes, damit er fromm sei. Bedarf er denn keines Werkes mehr, so ist er gewiß entbunden von allen Geboten und Gesetzen. Ist er entbunden, so ist er gewiß frei. Das ist die christliche Freiheit, der einzige Glaube, der da macht, nicht daß wir müßig gehen oder übel tun möchten, sondern daß wir keines Werkes zur Frommheit und um Seligkeit zu erlangen bedürfen.“37

Gute Werke sind demnach als Heilswegs ausgeschlossen38 – genau dies besagt die negative Freiheit als Freiheit vom Gesetz.39 Zugleich sind die guten Werke „Frucht“ der Freiheit, Ausdruck ihres Gebrauchs – genau dies besagt die positive Freiheit als Freiheit zu guten Werken. Oder anders, nämlich unter Fokussierung auf den Glauben, formuliert: Da allein der Glaube gerecht macht,40 bedarf es keiner guten Werke um das Gesetz zu erfüllen. Der Glaube mündet aber als Ausdruck der Freiheit und in Gestalt der Liebe in gute Werke um des Nächsten willen. Die guten Werke kennzeichnen als Folgen der Freiheit und als Gestalt der (Nächsten-)Liebe das christliche Leben.

36

Treffend HÜTTER, Martin Luther and Johannes Dietenberger, 146: „The Christian existence both liberates from and for works.“ 37 LUTHER, Von der Freiheit, 244 (Abschnitt 10). 38 So LUTHER, a.a.O., 253 (Abschnitt 21): „Aber diese Werke dürfen nicht geschehen in der Absicht, daß dadurch der Mensch vor Gott fromm werde.“ 39 Zum Gesetzesverständnis Luther vgl. G. LINDBECKs (Martin Luther und der rabbinische Geist, NZSTh 40 [1998], 40–65) aufschlussreiche Untersuchung, die gezeigt hat, dass der Katechet Luther Evangelium und Gesetz in gewisser Weise – bei allem materialen Differenzen – analog zur rabbinischen Unterscheidung von Haggada und Halacha gebraucht. Mancherlei Parallelen lassen sich auch zur Luther-Auslegung von P.L. LEHMANN (Sollen wir die Gebote „halten“?, in: M. BEINTKER u.a. [Hg.], Rechtfertigung und Erfahrung. FS Gerhard Sauter zum 60. Geburtstag, Gütersloh 1995, 328–341) ziehen. 40 LUTHER, Von der Freiheit, 242 (Abschnitt 8): „[A]llein der Glaube ohne alle Werke [macht] fromm, frei und selig“; a.a.O., 242 (Abschnitt 7): „Der Glaube, in dem kurz die Erfüllung aller Gebote besteht, wird alle die überfließend rechtfertigen, die ihn haben, so daß sie nichts mehr bedürfen, damit sie gerecht und fromm seien.“ Luther (a.a.O., 246 [Abschnitt 13]) betont, daß der Glaube „alle Gebote erfüllt und ohne alle anderen Werke fromm macht“; a.a.O., 247 (Abschnitt 13): Das erste Gebot zu erfüllen und Gott zu ehren, „tun aber nicht gute Werke, sondern allein der Glaube des Herzens. Darum ist er allein die Gerechtigkeit des Menschen und die Erfüllung aller Gebote. Denn wer das erste Hauptgebot erfüllt, der erfüllt gewiß und leicht auch alle anderen Gebote.“

2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

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2.2 Das Leben in der Freiheit als Leben „in Christus“ und „im Nächsten“ Das Leben christlicher Freiheit wird als Leben im Glauben und in der Liebe beschrieben. Wie aber sieht dieses Christenleben genauer aus? Wie gestaltet es sich? Es zeichnet sich, zusammengefasst gesagt, zugleich durch eine relationale41 und exzentrische42 Konstitution aus.43 Es ist zugleich ein Leben „in Christus“ und „im Nächsten“. Luther summiert dementsprechend: „Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, daß ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.“44 Auf motivationaler bzw. intentionaler Ebene ist die vita christiana nach Luther durch Selbstlosigkeit und reine Zweckgebundenheit an das Wohl des Nächsten gekennzeichnet: „Denn der Mensch lebt nicht allein in seinem Leibe, sondern auch unter anderen Menschen auf Erden. Darum kann er ihnen gegenüber nicht ohne Werke sein; er muß ja mit ihnen zu reden und zu schaffen haben, wiewohl ihm von diesen Werken zur Frommheit und Seligkeit keines not ist. Darum soll seine Absicht in allen Werken frei und nur dahin gerichtet sein, daß er anderen Leuten damit diene und nützlich sei, nichts anderes sich vor Augen stellen als das, was den anderen nötig ist. Das heißt dann ein wahrhaftiges Christenleben, und da geht der Glaube mit Lust und Liebe ins Werk.“45

Der Absicht nach sollen die Werke frei bzw. um des Nächsten willen erfolgen.46 Anders gesagt, haben die guten Werke Luther zufolge eine konsekutive und keine finale Grundausrichtung.47 Eine solche Selbstlosigkeit, ja Selbstvergessenheit48, ein solcher Altruismus ist nach Luther nur aufgrund der exzentrischen Konstitution 41

A.a.O., 258 (Abschnitt 26): „Nun wollen wir noch von den Werken reden, die er gegenüber anderen Menschen tut.“ 42 Zum exzentrischen Charakter des Person-Seins vgl. W. JOEST, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 232–274. 43 So auch BAYER, Zweierlei Freiheit, 17. 44 LUTHER, Von der Freiheit, 263 (Abschnitt 30). 45 A.a.O., 258 (Abschnitt 26). 46 An anderer Stelle kann LUTHER (a.a.O., 253 [Abschnitt 21]) auch formulieren: „[D]och sind die Werke nicht das rechte Gut, wodurch er fromm und gerecht vor Gott ist; sondern er tue sie aus freier Liebe umsonst, um Gott zu gefallen.“ 47 So W. JOEST, Gesetz und Freiheit. Das Problem des Tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, Göttingen 41968, 32. 48 Vgl. zur Selbstvergessenheit E. MAURER, Selbstvergessenheit, in: M. BEINTKER u.a. (Hg.), Rechtfertigung und Erfahrung. FS Gerhard Sauter zum 60. Geburtstag, Gütersloh 1995, 168–184. Der Dialektik der Selbstvergessenheit ist die gesamte Studie von E. MAURER (Der Mensch im Geist. Untersuchungen zur Anthropologie bei Hegel und Luther, BEvTh 116, Gütersloh 1996) gewidmet.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

„in Christus“ möglich. Luther verweist auf das Leben in Christus nach Gal 2,20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“49 Es geht Luther um die Neukonstitution der Person,50 die der Glaube macht (fides facit personam): „[W]er gute Werke tun will, der muß nicht bei den Werken anfangen, sondern bei der Person, die die Werke tun soll. Die Person aber macht niemand gut als allein der Glaube, und niemand macht sie böse als allein der Unglaube.“51 Luther versteht diese Neukonstitution der Person als restitutio ad integrum:52 Der gläubige Mensch wird durch seinen Glauben erneut ins Paradies gesetzt und ist „von neuem geschaffen“53. In dieser Auskunft besteht zugleich die Antwort auf die Ausgangsfrage bzw. den imaginierten Einwand („Müßiggang“) im zweiten Teil der „Freiheitsschrift“: „Hier wollen wir allen denen antworten, die sich über die vorige Rede ärgern und zu sprechen pflegen: Ei, wenn denn der Glaube alle Dinge ist und allein gilt, um uns genügend fromm zu machen, warum sind dann die guten Werke geboten? So wollen wir guter Dinge sein und nichts tun.“54 Luther entgegnet dieser Haltung: „Nein, lieber Mensch, nicht so. Es wäre wohl so, wenn du durch und durch ein innerlicher Mensch und ganz geistlich und innerlich geworden wärst, was aber bis an den jüngsten Tag nicht geschieht.“55 Luther führt als Argument gegen besagte Haltung an, dass sie qua innerem Menschen funktionieren würde, aber deshalb unstimmig sei, weil der Mensch eben innerer und äußerer Mensch und eben nur „der innerliche Mensch […] mit Gott eins“56 sei. Die eigentliche Funktion der Werke bezieht sich auf den äußeren Menschen, der „doch noch in diesem leiblichen Leben auf Erden [ist] und […] seinen eigenen Leib regieren und mit Leuten umgehen“57 muß: „Da heben nun die Werke an; hier kann er nicht müßig gehen; da muß fürwahr der Leib mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßigen Zucht getrieben und geübt werden, damit er dem innerlichen Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde, ihn nicht hindere noch ihm widerstrebe, wie seine Art

49 50 51 52 53 54 55 56 57

Vgl. LUTHER, Von der Freiheit, 259 (Abschnitt 27). Zum Personbegriff Luthers vgl. JOEST, Ontologie der Person bei Luther. LUTHER, Von der Freiheit, 256 (Abschnitt 24). Vgl. dazu HÜTTER, The Twofold Center of Lutheran Ethics, 42ff. LUTHER, Von der Freiheit, 254 (Abschnitt 22). A.a.O., 251 (Abschnitt 19). Ebd. (Abschnitt 19). A.a.O., 252 (Abschnitt 20). Ebd. (Abschnitt 20).

2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

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ist, wenn er nicht gezwungen wird.“58 Durch Zügelung mittels Werken soll der äußere gleichsam auf den Kurs des glaubenden inneren Menschen gebracht, d.h. jener diesem gleichförmig werden. 2.3 Das Beispiel (exemplum) Christi bei Luther – oder: Die Freiheit eines Christenmenschen als mimetische Praxis des Lebens mit Gott Wie wir gesehen haben, betont Luther, dass gute Werke keinen Menschen gut und gerecht machen,59 wohl aber, dass ein guter Mensch – wie der gute Baum die guten Früchte – gute Werke „mit innerer Notwendigkeit“ hervorbringt. Wenn dem so ist, so fragt man sich allerdings, warum Luther so beharrlich auf das Beispiel Christi verweist. Das wäre doch gar nicht nötig, wenn es diesen beschriebenen Zusammenhang vom Baum und den Früchten tatsächlich gäbe, so möchte man einwenden. M.E. gilt es, diesen oft übersehenen Bezugspunkt des Beispiels Christi in Luthers „Freiheitsschrift“ in Erinnerung zu rufen. Er scheint mir jedenfalls wenig bekannt, ja meisthin in seiner Bedeutung für die Auslegung der „Freiheitsschrift“ übersehen und/oder nicht verstanden worden zu sein.60 Luther verweist aber eben nicht nur auf den Umstand, „daß alle Werke dem Nächsten zugute ausgerichtet sein sollen, weil jeder für sich selbst an seinem Glauben genug hat und alle Werke und das Leben ihm überlassen sind, seinem Nächsten damit aus freier Liebe zu dienen“.61 Prononciert führt Luther hingegen für das Dienen aus freier Liebe „Christus [als] Exempel“62 an und zitiert den Übergang zum Hymnus im Philipperbrief, wo es u.a. heißt: „Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht“ (Phil 2,5). Geht es darum, dass – wie Luther sagt – der Gläubige „nicht müßig gehe und seinen Leib bearbeite und bewahre“63, dann erweist sich offensichtlich das Beispiel Christi als hilfreich und sinnvoll, um die „in Christus“ neugewonnene Freiheit gestalten zu können. Der Glau58 59

Ebd. (Abschnitt 20). Vgl. ARISTOTELES, NE II,1, 1103a: „Ebenso werden wir gerecht, indem wir gerecht handeln, besonnen durch besonnenes, tapfer durch tapferes Handeln.“ 60 Rühmliche Ausnahmen bilden H.TH. GOEBEL, Vom freien Wählen Gottes und des Menschen. Interpretationsübungen zur „Analogie“ nach Karl Barths Lehre von der Erwählung und Bedenken ihrer Folgen für die Kirchliche Dogmatik, FPT 9, Frankfurt a.M. 1990, 292–299; JÜNGEL, Zur Freiheit eines Christenmenschen, 100–115; RIEGER, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 287–296. 61 LUTHER, Von der Freiheit, 259 (Abschnitt 26). 62 Ebd. (Abschnitt 26). 63 A.a.O., 254 (Abschnitt 22).

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IV. Freiheit zur Nachahmung

be wird das Exempel dankbar aufgreifen und die Freiheit diese Veranschaulichung, damit sie Gestalt im Leben des Christenmenschen gewinnt. Die Freiheit des Lebens in Christus schlägt dieses Beispiel nicht aus. Genauer noch wird man sagen müssen: Der äußere Mensch schlägt das Beispiel nicht aus. Während nämlich der innere Mensch bereits Gott gleichförmig ist („[i]nterior enim homo conformis deo“64), muss der äußere dies noch werden: „Und wie die Konformität des inwendigen Menschen mit Gott durch das Sein Jesu Christi und sein Amt sacramentaliter vermittelt ist, so wird Jesus Christus als Exempel maßgebend, wenn der äußere Mensch dem inneren und durch dessen Vermittlung letztlich ebenfalls Gott konform werden soll.“65 Es geht also um ein doppeltes Entsprechungsverhältnis: Wie der innere Mensch bereits Gott entspricht, so soll der äußere nun auch dem inneren Menschen entsprechen.66 Bezüglich der Konformität des äußeren Menschen mit Gott erweist sich freilich ein allzu kühner Optimismus als deplatziert. Es geht um einen Prozess, der „bis an den Jüngsten Tag“67 nicht abgeschlossen werden kann. Die Fortschritte dabei können nach Luther nur gering sein: „Es ist und bleibt auf Erden nur ein Anfangen und Zunehmen.“68 Bei der Ingebrauchnahme des dabei behilflichen Exempels handelt es sich wohlgemerkt nicht etwa um die Preisgabe der Freiheit zugunsten eines sklavischen Kopismus, sondern vielmehr um die Bewährung der Freiheit. Gerade um des Nächsten willen wird der Glaube zur Optimierung seines Dienstes als qualifizierte Hilfe das Beispiel aufgreifen und gebrauchen: „Und obwohl er [sc. der Christenmensch; M.H.] nun ganz frei ist, will er sich doch willig zu einem Diener machen, seinem Nächsten zu helfen, mit ihm verfahren und handeln, wie Gott mit ihm durch Christus gehandelt hat, und das alles umsonst.“69 Deshalb scheut Luther nicht davor zurück, immer wieder die Vergleichspartikel „wie“ zu bemühen, die auf Christi Person und Werk als Vergleichspunkt, wenn man so will als analogans, verweist. Um hier einige Belege zu nennen, seien folgende einschlägige Zitate Luthers angeführt: Wir „sollen […] so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat, durch den Leib und seine Werke nichts anderes tun als dem Nächsten helfen“.70 Oder: Ich soll „meinem Nächsten gegenüber auch ein Christ werden, so wie Christus es mir geworden 64 65 66 67 68 69 70

WA 7,58,20 (De libertate christiana, 1520). Kursivierung im Original. JÜNGEL, Zur Freiheit eines Christenmenschen, 102. Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 103. Luther, Von der Freiheit, 251 (Abschnitt 19). Ebd. (Abschnitt 19). A.a.O., 259 (Abschnitt 27). A.a.O., 260 (Abschnitt 27).

2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

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ist, und nichts mehr tun als das, wovon ich sehe, daß es ihm not, nützlich und selig ist“.71 Und auch der Metapher vom Fließen der Güter Gottes bzw. vom sich fortsetzenden und potenzierenden Gütertausch, „aus einem in den anderen“,72 um allgemein zu werden, legt Luther den Entsprechungsgedanken zugrunde: „Aus Christus fließen sie [die Güter Gottes; M.H.] in uns; der hat sich unser in seinem Leben angenommen, als wäre er das gewesen, was wir sind. Aus uns sollen sie in die fließen, die ihrer bedürfen, und das so sehr, daß ich auch meinen Glauben und meine Gerechtigkeit für meinen Nächsten vor Gott einsetzen muß, um seine Sünde zu decken, auf mich zu nehmen und nicht anders zu tun, als wären sie meine eigenen, eben wie Christus uns allen getan hat.“73

Hans-Georg Geyer hat diesen Gedanken Luthers folgendermaßen zusammengefasst: „Sich selbst gewissermaßen überflüssig geworden, vermag (das Leben des Christenmenschen) reiner Überfluß für die Menschen um ihn zu werden.“74 Geyer interpretiert Luthers „Flussmetapher“ in Anlehnung an die paulinische Überflussmetapher75 des 2. Korintherbriefes (vgl. 2Kor 8,7; 9,8 u.ö.)76 freilich in einer nicht ganz unbedenklichen Weise. „Sich selbst überflüssig geworden“ – heißt das nicht auch zumindest in der Selbstreflexion bzw. im Selbstbewusstsein „jetzt überflüssig zu sein“, also „nicht mehr gebraucht zu werden“? In welchem Sinne ist also der Christenmensch „überflüssig“? Luther zufolge ist er es wohl nicht in des Wortes doppelter Bedeutung. „Überflüssig“ ist der Christenmensch strikt im paulinischen Sinne. Weil die Gnade Gottes eine stetig überfließende (gr. perisseuein) ist, weil dieser „spill over“-Effekt nicht aufhört und die Quelle der Gnade nicht versiegt, deshalb ist auch der Christenmensch in seiner „vermittelnden“, seiner „Gefäß“-Funktion77 niemals überflüs71 72 73 74

Ebd. (Abschnitt 27). A.a.O., 263 (Abschnitt 29). Ebd. (Abschnitt 29). H.-G. GEYER, zit. nach H. RUDDIES, Hans-Georg Geyer – Leben und Werk. Ein Portrait in Perspektive, in: K. VON BREMEN (Hg.), Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße Hans-Georg Geyers, Schwerte 2007, (9–24) 23. 75 Vgl. zum paulinischen Hintergrund M. HOFHEINZ, Whose Gift? Which Love? Das story-Konzept als Typ narrativer theologischer Ethik in der transplantationsmedizinisch-ethischen Debatte zur Lebendspende von Organen, in: M. COORS / M. HOFHEINZ (Hg.), „Die Moral von der Geschicht‘ …“. Ethik und Erzählung in Medizin und Pflege, Leipzig 2016, (149–184) 166–170. 76 Vgl. U. SCHMIDT, „Nicht vergeblich empfangen“! Eine Untersuchung zum 2. Korintherbrief als Beitrag zur Frage nach der paulinischen Einschätzung des Handelns, BWANT 162, Stuttgart 2004, 141–145. 77 Luther kann auch metaphorisch von der „Rohr“-Funktion des Christenmenschen sprechen: „Glauben und Liebe, durch welche der Mensch zwischen Gott und seinen

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IV. Freiheit zur Nachahmung

sig. Er wird gebraucht. Ohne ihn würde die Wechselseitigkeit des „alter alterius Christus“78, d.h. dem anderen ein Christus werden, zerbrechen. So nimmt Gott den Christenmenschen in den Dienst. Und so realisiert sich Freiheit – Freiheit im Leben mit Gott und dem Nächsten. Der Mensch braucht sich nicht mehr um sein eigenes Heil, seine eigene Wahrheit und Wesentlichkeit zu sorgen, sondern er bekommt Kopf, Herz und Hand von Gott gefüllt für die Einlösung dieser Freiheit im Leben mit Gott, das zugleich ein Leben in der Welt mit dem Nächsten ist. Freiheit bleibt nicht unbestimmt, sondern meint die mimetische Praxis dieses Lebens mit Gott.79 Damit sind wir wieder beim Nachahmungsmotiv: Luther kann aber nicht nur Christus80 als Beispiel nennen. Er nennt auch – wiederum in gewisser Weise dem Apostel Paulus folgend, der zur Nachahmung seiner Person als indirekte Form der Nachahmung Christo auffordert (vgl. 1Kor 11,1: „Folgt meinem Beispiel wie ich dem Beispiel Christi!“)81 – Maria und Timotheus als Beispiele.82 Alle diese von Luther Nächsten gesetzt wird, sind ein Mittel, das von oben empfängt und nach unten wieder ausgibt, wie ein Gefäß oder Rohr, durch welches der Brunnen göttlicher Güter ohne Unterlass in andere Leute fließen soll.“ WA 10/I/1,100,9–13 (Kirchenpostille, 1522). 78 WA 7,66,35 (Tractatus de libertate christiana, 1520). 79 Zum Begriff der „mimetischen Praxis“ vgl. H.-G. GEYER, Wahre Kirche? Betrachtungen über die Möglichkeit der Wahrheit einer christlichen Kirche, in: DERS., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.TH. GOEBEL u.a., Tübingen 2003, 227– 256. Dazu: CH. LINK, Mimetische Praxis: Hans-Georg Geyers Überlegungen zur Wahrheitsfähigkeit der Kirche, in: K. VON BREMEN (Hg.), Gott und Freiheit. Theologische Denkanstöße Hans-Georg Geyers, Schwerte 2007, 133–147; G. NEVEN, The Time That Remains: Hans-Georg Geyer in the Intellectual Debate about a Central Question in the Twentieth Century, in: B.L. MCCORMACK / K.J. BENDER (Hg.), Theology as Conversation. The Significance of Dialogue in Historical and Contemporary Theology. A Festschrift for Daniel L. Migliore, Grand Rapids / Cambridge 2009, (67–81) bes. 74f.; H. RUDDIES, Ethik als theologisches Problem. Eine theologischhistorische Skizze zur Ethikdebatte im neueren Protestantismus, in: A. VON SCHELIHA / M. SCHRÖDER (Hg.), Das protestantische Prinzip. Historische und systematische Studien zum Protestantismusbegriff. FS Hermann Fischer, Stuttgart u.a. 1998, (249– 267) 266. 80 Vgl. LUTHER, Von der Freiheit, 261 (Abschnitt 28); unter Berufung auf die Tempelgroschen-Perikope (Mt 17,24–27). 81 Auch Zwingli und Calvin berufen sich auf Paulus, der auch auf sein eigenes Beispiel verweisen kann: „Seid meine Nachfolger …“ (1Kor 11,1). Vgl. etwa ZwS II, 233 (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523): „Wenn wir also die Heiligen ehren wollen, sollen wir tun, was sie getan haben: unser Kreuz auf uns nehmen und Christus nachfolgen.“ Calvin kommentiert: „Dabei ist zweierlei zu beachten: erstens, daß der Apostel anderen nichts vorschreibt, was er nicht sich selber zumutet, zweitens, daß er sich und allen anderen Christus als das eine rechte Beispiel hinstellt. Wir sollen daraus lernen, daß wir nur soweit Menschen und ihrem Beispiel folgen sollen, als sie zu Christus als dem Urbild hinzuführen.“ CO 49,472 (Komm. 1Kor 11,1). 82 Vgl. LUTHER, Von der Freiheit, 260. Timotheus nennt Luther als Beispiel, weil jener sich um der schwachen Nächsten willen beschneiden lässt. Im Übrigen ist

2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

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angeführten Beispiele sind Beispiele für „freie Dienste, den anderen zu Willen und zur Besserung“.83 Sie erfolgen, „um den anderen Exempel zu geben, auch so zu tun, die auch dessen bedürfen, ihren Leib zu zwingen“.84 Indes warnt und mahnt Luther: „Doch allezeit sollen sie sich vorsehen, daß man sich nicht vornehme, dadurch fromm und selig zu werden. Das ist allein des Glaubens Vermögen.“85 Mit dem Motiv der Freiheit zur Nachahmung bin ich nun beim Leitgedanken meiner Ausführungen angelangt. Dieses Motiv ist in Luthers Ausführungen fest verankert und folgt der Logik des irreversiblen Verhältnisses von sacramentum et exemplum.86 Christus ist beides, aber präzise in dieser Reihenfolge. In seinem Galaterbriefkommentar (1519) bemerkt Luther: „Non imitatio fecit filios, sed filiati fecit imitatores“ – „Nicht die Nachahmung macht zu Söhnen, sondern das Sohnwerden macht zu Nachahmern.“87 Wie Luther stets betonte, ist Christus zunächst und primär sacramentum und erst daraufhin auch exemplum.88 Anders formuliert: Eine recht verstandene, ethisch belastbare Vorbildchristologie lässt sich daran erkennen, dass sie einer inklusiv verstandenen Stellvertretungschristologie nachgeordnet ist.89 gerade Timotheus ein Beispiel dafür, dass Luther keineswegs einen kruden Antinomismus vertrat. Ansonsten hätte er den bleibend unbeschnittenen Titus als Beispiel nennen müssen. 83 A.a.O., 261 (Abschnitt 28). 84 Ebd. (Abschnitt 28). 85 Ebd. (Abschnitt 28). 86 E. JÜNGEL (Das Opfer Jesu als Sacramentum et Exemplum. Was bedeutet das Opfer Christi für den Beitrag der Kirchen zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung?, in: DERS., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, BEvTh 107, München 1990, 261–282) hat diese christologische Leitdifferenz in Anlehnung an Luther profiliert. E. JÜNGEL (a.a.O., 265) zufolge ist es für das Selbstverständnis der christlichen Theologie entscheidend, „ob sie die Geschichte Jesu Christi nur ethisch als ein Beispiel rechten menschlichen Verhaltens, nur als exemplum, oder aber darüber hinaus und dem zuvor als eine das menschliche Sein effektiv verändernde Geschichte, als sacramentum, begreift“. Vgl. auch U. ASENDORF, Die Theologie Martin Luthers nach seinen Predigten, Göttingen 1988, 75–79. 87 WA 2,518,16 (Galaterkommentar, 1519). Dazu G. BAUSENHART, Rechtfertigung – Der Mensch vor Gott. Aus Anlass der „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, Regnum 34 (1999), (61–71) 68. 88 Vgl. WA 10/I/1,11–12 (Kirchenpostille, 1522): „Das Hauptstück und Grund des Evangelii ist, dass du Christum zuvor, ehe du ihn zum Exempel fassest, aufnimmst und erkennst als eine Gabe und Geschenk, das dir von Gott gegeben und dein eigen ist.“ Geringfügig modernisiert. Vgl. dazu O. BAYER, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, (57f.) 75. 89 JÜNGEL (Opfer, 264; vgl. auch a.a.O., 268) bringt die theologische Notwendigkeit, „dem Verständnis Jesu Christi als exemplum die Bedeutung Jesu Christi als sacramentum vor[zu]ordnen und über[zu]ordnen“, auf den Begriff.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

Die Stellvertretung, die Luther als „fröhlichen Wechsel“ umschreibt, ermöglicht, anders gesagt, erst die Nachfolge, nicht umgekehrt! Unter dieser „Inferioritätsprämisse“ ist die Ethik als Nachfolgeethik in konzeptioneller Hinsicht tragfähig. Der Grundsatz der Nächstenliebe ist im Sinne Luthers als Implikat einer solchen Nachfolgeethik zu verstehen, die beim Sein der neuen Kreatur „in Christus“ ansetzt. Die Nächstenliebe90 vollzieht sich nach Luther als Dienst des durch den Tausch mit Christus Freien in äußerer Entsprechung zu eben diesem Tausch, der für das Wollen des Christenmenschen konstitutiv ist. Die Nächstenliebe wird nämlich bei Luther christologisch rückgebunden an Person und Werk Jesu Christi. Christus als sacramentum befreit im Geschehen des „fröhliche[n] Wechsel[s] und Streit[s]“91 ohne unser Zutun zur Nächstenliebe. „[D]erselbe Jesus Christus will, wenn er ohne unser Zutun als sacramentum gewirkt hat, nun eben auch als exemplum zur Geltung kommen, indem er den befreiten Menschen in die Nachfolge ruft.“92 Summa summarum: Das Motiv der Freiheit zur Nachahmung dient bei Luther „der Begründung der Zuwendung des Christen zu seinen Mitmenschen durch das Vorbild Christi, dem der Christ folgen kann, insofern er der Wohltaten Christi teilhaftig geworden ist. Die Vorbildhaftigkeit Christi für den Christen erwächst aus dem Sein Christi für uns. Die Ethik wird also christologisch begründet.“93 Zwei Exkurse Exkurs 1: Die Herkunft des Motivs sacramentum et exemplum Die Vorstellung von sacramentum et exemplum rührt von Augustin her. Es handelt sich um ein „augustinisches Thema“94. Den (frühesten) Beleg liefert eine Randbemerkung Luthers zu Augustin, De trinitate 4,3,95 in der Luther Augustins Darlegung zusammenfasst und zugleich pointiert: „Die Kreuzigung ist ‚sacramentum‘, weil sie so das Kreuz der Buße bezeichnet, in welcher die Seele der Sünde abstirbt; sie ist ‚exemplum‘, weil sie auffordert, für die Wahrheit den 90

Treffend stellt H.-G. GEYER (zit. nach GOEBEL, Vom freien Wählen Gottes, 295) mit Blick auf Luthers Verständnis der Nächstenliebe fest: „[A]ngewendet auf die Liebe zum Nächsten in seiner Not zum Zwecke seiner Einstimmung in die Gottesliebe […], haben die bona opera die Funktion von zeichenhafter Entsprechung zur offensiven überwindenden Liebe Jesu Christi.“ 91 Vgl. LUTHER, Von der Freiheit, 246 (Abschnitt 12). 92 JÜNGEL, Freiheit, 104. Hervorhebungen im Original. 93 RIEGER, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 296. 94 E. ISERLOH, Sacramentum et exemplum. Ein augustinisches Thema lutherischer Theologie (1965), in: DERS., Kirche – Ereignis und Institution. Aufsätze und Vorträge Bd. 2: Geschichte und Theologie der Reformation, Münster 1985, 107–124. 95 Vgl. AUGUSTIN, De trinitate IV, c. 3 n. 6 (= CChSL Bd. L, 167).

2. „Von der Freiheit eines Christenmenschen“

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Leib dem Tode oder dem Kreuz darzubieten.“96 Mag man diese Stelle auch im Sinne einer vorreformatorischen Theologie Luthers deuten,97 so wird man doch nicht verkennen dürfen, dass – wie vor allem der römisch-katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh98 gezeigt hat – Luther die augustinische Doppelformel zeitlebens und nicht nur in einer vorreformatorischen Phase gebrauchte. Freilich hat Luther die augustinische Behandlung der Formel selbständig abgewandelt: „Augustin hatte eine zweifache Auferstehung unterschieden, nämlich die Auferstehung von der Sünde zu einem neuen Leben sowie die Auferstehung vom leiblichen Tode, und dabei gesagt, Christus sei mit einer einmaligen Auferstehung ‚sacramentum et exemplum‘ für unsere doppelte Auferstehung.“99 Luther hat den Gedanken dahingehend modifiziert, dass er feststellt: „Christus kann für den Menschen nur dann auch Vorbild sein, wenn er zunächst Sakrament ist“100, was aber heißt: „Sein Tod soll sich in mir verwirklichen und ich soll mit ihm sterben, bevor ich ihm nachahmen kann.“101 Bei allen Transformationen, die die Interpretation dieses Motivs im Verlauf der theologischen Entwicklung Luthers erfuhr,102 wird man festhalten können, dass es ihm stets um den Zusammenhang zwischen der Zueignung des Heils durch göttliches Handeln und eines diesem nachfolgenden menschlichen Handeln geht: „Ihr wisst, dass Paulus meistens zwei Dinge zu verbinden pflegt, wie es auch Petrus tut (1Petr 2,19). Zuerst, dass Christus für uns gestorben ist und uns erlöst 96

WA 9,18,19–22 (Randbemerkung Luthers zu Augustin, De trinitate, um 1509): „Crucifixio Christi est sacramentum, quia significat sic crucem poenitentiae in qua moritur anima peccato; est Exemplum, quia hortatur pro veritate corpus morti offerer vel cruci.“ 97 So etwa E. BIZER, Die Entdeckung des Sakraments durch Luther, EvTh 17 (1957), (64–90) bes. 66–69. Vgl. zur Interpretation fernerhin: B. LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 58f.; R. SCHWARZ, Fides, spes und caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, AKG 34, Berlin / New York 1962, 69–72. 98 Vgl. ISERLOH, Sacramentum et exemplum. 99 LOHSE, Luthers Theologie, 239. 100 Ebd. 101 M. LIENHARD, Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1980, 21. 102 Die Entwicklung wird – abgesehen von E. ISERLOH – nachgezeichnet von W. JETTER, Die Taufe beim jungen Luther. Eine Untersuchung über das Werden der reformatorischen Sakraments- und Taufanschauung, BHTh 18, Tübingen 1954, 142– 159; M. LIENHARD, Martin Luthers christologisches Zeugnis, 21; 31; 64–68; 79f. Fernerhin unter besonderer Berücksichtigung der Hebräerbriefvorlesung (1517/18): H.-M. GUTMANN, Intimität gestalten, in: DERS., Martin Luthers „christliche Freiheit“ in zentralen Lebenskonflikten heute, Berlin 2013, 90–114; DERS., Über Liebe und Herrschaft. Luthers Verständnis von Intimität und Autorität im Kontext des Zivilisationsprozesses, GTA 47, Göttingen 1991, 93ff.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

hat durch sein Blut, um sich ein heiliges Volk zu reinigen. Und so stellt er uns Christus zuerst vor als Gabe und Sakrament. Sodann stellen sie Christus als Beispiel vor, d.h. dass wir Nachahmer sein sollten der guten Werke.“103 Exkurs 2: Emst Wolfs Würdigung des Nachahmungsaspekts der Nachfolgeethik Luthers Einer der wenigen Lutherexegeten, die sich dem von mir hervorgehobenen Aspekt der Freiheit zur Nachahmung gewidmet haben, war Ernst Wolf.104 Wolf hebt treffend hervor, dass Luther in der Freiheitschrift dem Ansatz nach eine ausgesprochene Nachfolgeethik entwickelt und diese wiederum als Sozialethik konzipiert. Zugleich grenzt Wolf diese Nachfolgeethik aber von der imitatio-Frömmigkeit ab: „Luther hat, besonders deutlich in seinem Traktat ‚De libertate christiana‘, eine ausgesprochen Nachfolge-Ethik wesentlich als Sozialethik entwickelt. Und zwar gerade unter Ablehnung der imiatio-Frömmigkeit. In seiner Auslegung von Phil. 2,5f. verlangt er dementsprechend von dem im Glauben gerechtfertigten Christenmenschen die Selbsterniedrigung in und auf Grund seiner neu geschenkten Freiheit. Diese Selbsterniedrigung zum Dienst ist das notwendige Wirksamwerden des Glaubens. Luther kommt dabei bekanntlich zu der kühnen Konsequenz: ‚Dabo itaque me quendam Christum‘ – ‚so gebe ich mich selbst wie einen gewissen Christus‘, also gleichsam wie Christus, ja, als einen Christus – ‚proximo meo‘, ‚meinem Nächsten‘. ‚So wie Christus sich mir dargegeben hat: so werde ich nichts in diesem Leben tun, außer dem, von dem ich sehe, daß es meinem Nächsten nützlich, förderlich und heilsam sein wird, zumal ich durch den Glauben an allen Gütern in Christus überreich bin‘.“105

So nachdrücklich ich Wolfs Charakterisierung des Ansatzes Luthers als Nachfolgeethik unterstreichen möchte, so vorsichtig und zurückhaltend bin ich doch hinsichtlich seiner resoluten Abgrenzung gegenüber der imitatio-Frömmigkeit. Sicherlich hat Luther die ererbte Frömmigkeit, namentlich die mystische Tradition, mancherlei Trans-

103

WA 39/I,462,14–463,2 (Die zweite Disputation gegen die Antinomer vom 12. Januar 1538). 104 E. WOLF (Die Christusverkündigung bei Luther, in: DERS., Peregrinatio. Studien zur reformatorischen Theologie und zum Kirchenproblem, München 1954, [30–80] 72ff.) hat gezeigt, dass der Exempel-Gedanke für Luthers Christusverkündigung konstitutiv ist. Zur Auslegung der „Imitatio Christi“ bei WOLF vgl. auch R. HÜTTER, Evangelische Ethik als kirchliches Zeugnis. Interpretationen zu Schlüsselfragen theologischer Ethik in der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 1993, 207–211. 105 E. WOLF, Königsherrschaft Christi und lutherische Zwei-Reiche-Lehre, in: DERS., Peregrinatio Bd. II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, (207–229) 225. Hervorhebungen im Original.

3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“

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formationen unterzogen.106 Gleichwohl sind Kontinuitäten erhalten geblieben. So treten auch in der „Freiheitsschrift“ durchaus Parallelen in Erscheinung, insbesondere was den Aspekt des Einübens betrifft. So betont Luther in Bezug auf das Gleichförmigkeit-Werden des äußeren zum inneren Menschen: „Es ist und bleibt auf Erden nur ein Anfangen und Zunehmen.“107 Wir bleiben auf Erden nach Luther „in diesem leiblichen Leben“: „[D]a muß fürwahr der Leib mit Fasten, Wachen, Arbeiten und mit aller mäßigen Zucht getrieben und geübt werden, damit er dem innerlichen Menschen und dem Glauben gehorsam und gleichförmig werde.“108 Wenn man so will, tritt hier bei Luther der Sache nach ein theologischer Topos in Erscheinung, der später im reformierten Protestantismus besondere Bedeutung erlangte, nämlich der der Heiligung. Dazu passt die Betonung der Reinigung durch Luther: Die guten Werke „dürfen nur in der Absicht geschehen, daß der Leib gehorsam und in seinen bösen Lüsten gereinigt werde und daß das Auge nur auf die böse Lüste sehe, um sie auszutreiben“.109 Dazu passt auch die Betonung, dass der Gläubige die guten Werke „zusätzlich übt“110. 3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“ Das Beispiel (exemplum) Christi in der Theologie Huldrych Zwinglis 3.1 „Von der freien Wahl der Speisen“. Das initium der Theologie Zwinglis Freiheit bildet zweifellos auch einen Schlüsselbegriff in der Theologie des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli.111 Berndt Hamm hat gar von „Zwinglis Reformation der Freiheit“ gesprochen und mit dem Freiheitsbegriff die entscheidende Zielsetzung seiner Reformation 106

Vgl. u.a. H.A. OBERMAN, Simul gemitus et raptus: Luther und die Mystik (1967), in: DERS., Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, 45–89; K.-H. ZUR MÜHLEN, Mystik des Wortes. Über die Bedeutung des mystischen Denkens für Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, in: DERS., Reformatorisches Profil. Studien zum Weg Martin Luthers und der Reformation, hg. von J. BROSSEDER / A. LEXUTT, Göttingen 1996, 66–85; V. LEPPIN, Die fremde Reformation, bes. 117–138. 107 LUTHER, Von der Freiheit, 251 (Abschnitt 19). 108 A.a.O., 252 (Abschnitt 20). 109 A.a.O., 253 (Abschnitt 21). 110 Ebd. (Abschnitt 21). 111 Die Schriften Zwinglis werden im Folgenden zit. nach: Huldrych Zwingli Schriften I–IV, hg. von TH. BRUNNSCHWEILER / S. LUTZ, Zürich 1995 (= ZwS).

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IV. Freiheit zur Nachahmung

pointiert.112 Bereits die Initialzündung der Zürcher Reformation, das berühmte Zürcher Wurstessen im März 1522, kann als eine Zeichenhandlung der Freiheit verstanden werden. Zwingli jedenfalls hat es so verstanden.113 Er wohnte im Hause des Buchdruckers Christoph Froschauer während der Fastenzeit dem Verzehr von Würsten durch Angestellte des Druckers bei. Zwingli aß zwar nicht mit, duldete aber und rechtfertigte diesen Aufsehenerregenden „Freiheitsakt“ zwei Wochen später in einer Predigt. Diese „Freiheitspredigt“ arbeitete er zu der Schrift „Die freie Wahl der Speisen“ aus,114 die kurz nach Ostern 1522 erschien und als „erste eindeutig reformatorische Schrift“115 Zwinglis in die Reformations- und Theologiegeschichte einging.116 Oftmals hat man Zwinglis „Freiheitsschrift“ mit Luthers „Freiheitsschrift“ verglichen,117 die Zwingli offenbar kannte.118 Gottfried W. Locher etwa bemerkt: 112

B. HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, XI: „Freiheit ist bei Zwingli in noch dominierenderem Maße als bei Luther ein zentraler Begriff des reformatorischen Programms, sicher ein Schlüsselbegriff seiner Theologie und vielleicht sogar der Begriff, von dem aus man die entscheidende Zielsetzung seiner Reformation am besten in den Blick bekommt und die innere Verknüpfung der verschiedenen theologischen Linien am deutlichsten erkennt.“ 113 Zwingli kommt auch später immer wieder auf die „Freiheit der Speisen“ und damit implizit auch auf das einschneidende Erlebnis des Zürcher Wurstessens zu sprechen. Vgl. etwa ZwS III, 426f. (Kommentar, 1525). 114 Zu den Entdeckungszusammenhängen von Zwinglis „Freiheitsschrift“ vgl. DAHLING-SANDER, Zur Freiheit befreit, 100–118. 115 G.W. LOCHER, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen / Zürich 1979, 98. 116 K. BARTH (Die Theologie Zwinglis. Vorlesung Göttingen Wintersemester 1922/23, Karl Barth Gesamtausgabe, Abt. II, Zürich 2004, 136f.) würdigt diese Schrift mit den Worten: „Zwinglis literarische Art wird gerade bei dieser seiner ersten überlieferten theologischen Schrift recht deutlich: es ist ein verständiges und einleuchtendes, ganz auf die Sache gerichtetes Reden, tiefste Wahrheiten Luthers und die Gründe und Gegengründe des gemeinen Mannes in nächster Nachbarschaft, ein frommer, warmer Ton, aber Alles ein wenig plan, über dem Ganzen als Pathos ein herzliches Verständnis für die wirkliche Lage des Menschen und ein starkes Drängen: Gott muß zu seiner Ehre kommen.“ Zur Zwingli-Vorlesung Barths vgl. M. FREUDENBERG, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, NTDH 8, Neukirchen-Vluyn 1997, 161–216; DERS., „... und Zwingli vor mir wie eine überhängende Wand“. Karl Barths Wahrnehmung der Theologie Huldrych Zwinglis in seiner Göttinger Vorlesung von 1922/23, Zwingliana 33 (2006), 5–27. 117 Vgl. etwa DAHLING-SANDER, Zur Freiheit befreit, 172–184. 118 So U. GÄBLER, Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, München 1983, 53: „Ob sich Zwingli mit seiner Freiheitsschrift an Luthers Traktat ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘, den er kannte, anlehnte, läßt sich nicht sagen.“ Zwingli hat im Blick auf Luther immer seine Selbstständigkeit bzw. Abhängigkeit von Christus betont: „[I]ch habe die Lehre Christi nicht von Luther gelernt, sondern aus dem Wort Gottes selbst. Wenn Luther Christus predigt, macht er

3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“

135

„Die paulinische Gnadenlehre mit ihrer Verwerfung allen Heilsstrebens aus menschlicher Anstrengung wird tatsächlich in beiden Schriften als die Befreiung des Glaubenden begriffen. In beiden Schriften wird das Handeln von der dankbar-gehorsamen Person her, nicht legalistisch oder institutionell bewertet: der Baum macht die Früchte gut, nicht umgekehrt. Es gilt aber zugleich die typische Differenz in der Frontrichtung zu beachten: Bei Luther ist die Zeremonienfrage von untergeordneter Bedeutung, und die christliche Freiheit wird – Folge der individualistischen Fragestellung – auf den ‚inneren‘ Menschen bezogen. Zwingli hat die Gemeinde im Auge, wodurch sich gerade an den Zeremonien die Entscheidungsfrage erheben kann. Dieselbe lautet: Regiert das Evangelium oder ein Menschengebot? Vor dieser Frage verliert (erstaunlich genug bei einem Humanisten) der Unterschied zwischen äußerlich und innerlich jede Bedeutung.“119

Berndt Hamm hat eindringlich vor einem Vergleich beider „Freiheitsschriften“ und den aus diesem gezogenen Schlussfolgerungen gewarnt, da beide, situativ bzw. kontextuell bedingt, auf anderen theologischen Ebenen argumentieren. Zwingli intendiert mit seiner „Freiheitsschrift“ anders als Luther keine „zusammenfassende Wesensbetrachtung von Freiheit“120: „Zwingli will in einer thematisch eng begrenzten Konfliktsituation klärend Stellung beziehen, und nur innerhalb dieser Grenzen verwendet er den Freiheitsbegriff.“121 Gleichwohl lässt sich festhalten, dass Zwinglis „Freiheitspredigt“ zu einem „Paradigma für den Umgang mit menschlichen Regeln und Ansprüchen schlechthin“122 wurde. Zwingli wendet sich in seiner Schrift der Leitfrage zu, ob man sich als Christenmensch an willkürlich auferlegte Fastenvorschriften bindasselbe wie ich, obgleich durch ihn – gottlob – unzählbar viel mehr Menschen zu Gott geführt werden als durch mich und andere, denn Gott ihr Maß größer oder kleiner zuteil, wie er will. Dennoch will ich keinen anderen Namen tragen als den meines Hauptmanns Christus. Sein Kämpfer bin ich, und er wird mir den Dienst und den Sold zuteilen, die ihm angemessen erscheinen.“ ZwS II, 177f. (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523). Zur Rezeption von Luthers „Freiheitsschrift“ vgl. R. SCHWARZ, Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ im Spiegel der ersten Kritiken, Lutherjahrbuch 68 (2001), 47–76. 119 G.W. LOCHER, Die Zwinglische Reformation, 98. Im Blick auf Luther hält JÜNGEL (Zur Freiheit eines Christenmenschen, 108) dem Individualismus-Vorwurf, den auch Locher erhebt, entgegen: „Keinen Individualismus des christlichen Lebens, sondern der sozietären Struktur der vita christiana redet Luther das Wort. Und diese soll wiederum nach dem Exempel Christi gestaltet werden, so daß wir aus dem ihm zu verdankenden Überfluß des Lebens unseres inneren Menschen ‚frei, fröhlich und umsonst‘ tun, was Gott wohlgefällt.“ 120 HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, 4. 121 Ebd. 122 M. FREUDENBERG, Zum Antworten geschaffen. Anmerkungen zur Freiheit christlichen Lebens in reformierter Perspektive, in: J. V. LÜPKE (Hg.), Gott – Natur – Freiheit. Theologische und naturwissenschaftliche Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 2008, (147–162) 148.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

den dürfe. Seine mit einem klaren „Nein“ ausfallende Antwort fasst er selbst in einem hier als gekürztes Zitat wiedergegebenen ZehnpunkteProgramm123 zusammen. Zwingli versteht diese Punkte ausdrücklich als Vorschläge, möchte also die neue Freiheit nicht durch autoritäre Vorschriften (Dekrete) des Verstehens und der Interpretation konterkarieren: „[I]ch lasse jeden über diese meine Vorschläge frei urteilen. Denen aber, die nach christlicher Freiheit dürsten, wollte ich die Vorschläge doch mindestens vorgetragen haben.“124 Zwinglis 10-Punkte-Katalog in „Von der freien Wahl der Speisen“ „I. Was eindeutig die göttliche Wahrheit anbelangt, nämlich den Glauben und Gottes Gebote, dürfen keine Kompromisse gemacht und darf nicht nachgegeben werden, gleichgültig, ob man daran Anstoß nehme oder nicht […]. II. Die uns Menschen von Gott gegebenen Freiheiten, in Bezug auf Speisevorschriften und andere ähnliche Dinge, sollen alle im Blick auf Gott und im Blick auf die Mitmenschen sorgfältig abgewogen werden. III. Ist davon die Rede, daß Gott uns von allen belastenden Vorschriften befreit und erlöst hat, und wir frei sind, dann darf man um der Wahrheit und des Glaubens willen nicht nachgeben. Paulus sagt: ‚Alles ist mir erlaubt‘ [1. Kor 6,12]. Man soll die Freiheit aber auch nicht als Freipaß für Böses mißbrauchen. IV. Wenn aber dein Nächster daran Anstoß nimmt, wenn du von deiner Freiheit Gebrauch machst, dann sollst du ihn nicht grundlos in Schwierigkeiten oder Versuchung bringen. Nur wenn er den Grund deiner Freiheit erkennt, wird er nicht mehr Anstoß nehmen, es sei denn, er wolle dir vorsätzlich übel. […] V. Vielmehr sollst du deinem Nächsten in freundlicher Weise den Glauben erklären und ihm sagen, daß auch er alles essen dürfe und er dann frei sei. Römer 15,1: ‚Wir, die im Glauben Stärkeren, sollen uns der im Glauben Schwachen annehmen,‘ will sagen: wir sollen ihnen helfen und sie unterweisen. VI. Hilft allerdings alle Rücksichtnahme nichts, dann tue, was Christus Matthäus 15,14 sagt: ‚Laß sie sein, wie sie sind!‘ VII. Du aber, mache von deiner Freiheit Gebrauch, vor allem wenn es ohne öffentlichen Aufruhr abgeht, wie Paulus den Titus nicht hat beschneiden lassen, Galater 2,3.

123 ZwS I, 61f. (Die freie Wahl der Speisen, 1522). Vgl. auch als Zusammenfassung ZwS II, 408f. (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523). 124 ZwS I, 73 (Die freie Wahl der Speisen, 1522).

3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“

137

VIII. Führt es aber zu öffentlichem Aufruhr, dann verzichte darauf, von deiner Freiheit Gebrauch zu machen, wie Paulus den Timotheus hat beschneiden lassen, Apostelgeschichte 16,3. IX. Nie aber laß davon ab, so viel und gut du kannst, den Schwachen den Glauben zu erklären, bis sie zur rechten Erkenntnis gekommen sind. Die Zahl der im Glauben Starken muß so groß werden, daß niemand mehr, oder jedenfalls nur mehr eine sehr kleine Zahl, an der christlichen Freiheit Anstoß nimmt. X. In gleicher Weise ist mit den sogenannten Mitteldingen umzugehen, die an und für sich weder gut noch böse sind, wie das Essen von Fleisch oder das Arbeiten an Feiertagen“125.

Sicherlich ist Zwinglis „Freiheitsschrift“ mit ihrer eng begrenzten Zielsetzung in der Tat nicht tragfähig genug für Aussagen über Unterschiede zwischen Zwinglis und Luthers Freiheitsverständnis.126 Aber es zeigt sich doch ein Grundzug der Theologie Zwinglis, nämlich die mit der Freiheitsthematik eng zusammenhängende Autoritätsfrage:127 Woran haben sich die Christenmenschen in ihrem Leben zu orientieren? Welchen Ansprüchen sind sie in öffentlichen wie privaten Fragen Gehorsam schuldig? Dass Zwingli den alleinigen Maßstab in der Heiligen Schrift sieht, also das Schriftprinzip zum Schlüssel für seine Beurteilung der Fastenvorschriften macht, wird in seinem Zehnpunkte-Katalog – nicht zuletzt im Dauerrekurs auf die Bibel (vor allem Paulus und die Beschneidungsfrage) – deutlich erkennbar. Im Folgenden kann es nicht darum gehen, Zwinglis gesamtes Freiheitsverständnis nach einer eingehenden Begriffsuntersuchung im Detail zu präsentieren und dabei alle Aspekte zu erfassen und zu berücksichtigen. Eine solche Darstellung hat Berndt Hamm vorgelegt. Hamm geht systematisch statt historisch-genetisch vor und hat drei Zentren der sachlichen Denkbewegung Zwinglis in seiner eingehenden Analyse ermittelt: a) die souveräne und befreiende Freiheit Gottes, seines Wortes und Geistes; b) Jesus Christus als Gewährung der Freiheit; c) die Freiheit des Menschen als die Gewissensfreiheit eines neuen Vertrauens.128 Zusammengefasst: „Gott ist die Quelle der Freiheit, Christus als Gottmensch ist der Mittler der Freiheit, der Mensch

125 126 127

A.a.O., 61–63 (Die freie Wahl der Speisen, 1522). So HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, 6. Vgl. M. FREUDENBERG, Ulrich Zwingli (1484–1531), in: DERS., Theologische Köpfe aus 20 Jahrhunderten. Christliche Denker im Porträt, Neukirchen-Vluyn 2014, (93–106) 97. 128 Vgl. HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, 7. Diesem Schema folgt auch DAHLING-SANDER (Zur Freiheit befreit, 123–136) in seiner Zwingli-Interpretation.

138

IV. Freiheit zur Nachahmung

ist der Empfänger der Freiheit.“129 Hamm lässt dabei allerdings einen wichtigen Gesichtspunkt des Freiheitsverständnisses bzw. eine wichtige theologische Ortsbestimmung der Freiheitsthematik bei Zwingli außer Acht, nämlich den der Freiheit zur Nachahmung. Dieses Motiv wurde – wie wir gesehen haben – auch bereits bei Luther sichtbar. 3.2 „Freiheit von …“ – „Freiheit zu …“ Zwinglis beidseitig gemünztes Freiheitsverständnis Freiheit wird von Zwingli, ebenso wie von Luther, zunächst verstanden als negative Freiheit, als „Freiheit von…“, bei Zwingli konkret: als Freiheit von den Fastenvorschriften der Altgläubigen. Sobald man aber den Gegenstand der Abgrenzung bei Zwingli und Luther näher bestimmen möchte, tritt eine gewisse Differenz in Erscheinung. Selbst wenn man bei beiden eine „Freiheit vom Gesetz“ befürwortet sieht, so kann diese Gemeinsamkeit doch nicht den Unterschied kaschieren, der sich hinter dieser Größe „Gesetz“ verbirgt. Peter Opitz hat diese Differenz auf den Punkt gebracht: „Während Luther die christliche Freiheit versteht als Befreitsein davon, durch das Tun der göttlichen Gebote das Heil zu erlangen, zielt Zwinglis Freiheitsverständnis stärker auf das Befreitsein von durch Menschen verordneten religiösen Lasten und kirchlich auferlegten Geboten zur Erlangung des Heils.“130 „Befreiung vom Gesetz“ meint bei Zwingli – Ulrich Gäbler zufolge – ein Dreifaches: „1. Priesterlicher Pomp und kirchliche Pracht werden abgeschafft. 2. Päpstliche Lehre und Ordnungen, die beanspruchen, das Heil zu sichern (wie Fastengebote, Ablaß, Meßstiftungen), gelten nicht mehr. 3. Der in Gott vertrauende und gelassene Mensch ist auch frei von der Strafe für Sünde.“131 129

HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, 7. E. BUSCH (Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998, V) hat das Zwinglische Motto „Der Freiheit zugetan“ wie folgt interpretiert: „Und das ist das Evangelium: daß Gott seine Freiheit einsetzt, um dem Menschen ‚günstig‘ zu sein, um ihm ‚rechte Gunst zu erweisen‘. Darum ist er der Freiheit so zugetan, daß er dem Menschen seinerseits Freiheit gönnt und gibt. Doch richtet sich dieses Evangelium an einen Menschen, der nicht frei ist. Er wird es, indem ihn Gott befreit. Er wird es so wie jener im Grab Befindliche, dem Jesus mit lauter Stimme zurief: ‚Lazarus, komm heraus!‘ Und der an Füßen und Händen Gebundene und des Augenlichts Beraubte ‚kam heraus‘ (Joh. 11,43f.). So wird der Mensch der Freiheit und ihrem rechten Gebrauch ‚zugetan‘.“ 130 P. OPITZ, Ulrich Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015, 26. Ähnlich heißt es bei GÄBLER, Huldrych Zwingli, 53: „Spricht aber der Wittenberger von der Freiheit eines Christen vom Gesetz überhaupt, so bezieht Zwingli diese Entlassung allein auf menschliche Gebote und Ordnungen. Das Evangelium birgt das Gesetz Gottes, welches selbstverständlich zu halten ist.“ 131 GÄBLER, Huldrych Zwingli, 75.

3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“

139

Zwinglis Freiheitverständnis geht indes mitnichten in diesen Abgrenzungen eines negativen Freiheitsbegriffs auf. Auch ein positiver Freiheitsbegriff tritt mit der evangelischen Predigt sichtbar in Erscheinung. Dass Zwingli auch die positive Freiheit als Gestaltungsfreiheit vor Augen hat, wird spätestens dann evident, wenn er in seiner „Freiheitsschrift“ die „Summe“ formuliert: „Willst du gerne Fasten, dann tue es! Willst du dabei auf Fleisch verzichten, dann iß auch kein Fleisch! Laß mir dabei aber dem Christen die freie Wahl!“132 Freiheit wird hier als Wahlfreiheit verstanden,133 wobei eine Wahl zwischen Verzicht und Gebrauch anvisiert ist. Es geht bei der Wahlfreiheit auch um „Freiheit zu …“, nicht nur „Freiheit von …“. Wiederum hat Peter Opitz treffend beobachtet: „Christen haben die Freiheit zu fasten oder nicht zu fasten – beides kann Gottesdienst sein. Keines davon ist heilsnotwendig, und keine menschliche Instanz, auch keine kirchliche, hat das Recht, dem freien Christenmenschen Fasten- und andere religiöse Vorschriften zu machen. Was hier als ‚Freiheit von …‘ formuliert ist, ist für Zwingli in einer ganz bestimmten ‚Freiheit zu …‘ begründet: Es ist die Freiheit, den ‚leichten Weg zur Gnade Gottes durch Christus‘ zu gehen, im vertrauensvollen Hören auf den Christus, der die Menschen zu sich selbst ruft, und ihnen ‚Ruhe‘ zu geben verspricht. Auf Christus ‚hören‘ oder ‚zu ihm gehen‘ meint nichts anderes als auf Christus allein vertrauen – und damit frei sein von allen zweifelhaften irdischen Heilswegen, Heilsmitteln und Heilsmittlern.“134

„Freiheit von …“ und „Freiheit zu …“ werden als die beiden Seiten der einen Münze sichtbar, die die Währung der Zwinglischen Theologie ausmacht. Die Dialektik beider Freiheitsbegriffe hat der Zwingli-Forscher Gottfried W. Locher in einen lapidaren Satz gepackt, der These und Antithese zugleich zur Sprache bringt: „Der Gehorsam gegenüber Christus […] macht von menschlichen Ansprüchen frei.“135 Freiheit zum Gehorsam Christi bedeutet zugleich Freiheit von falschen menschlichen Ansprüchen! Oder wiederum Peter Opitz: „Vertrauendes Glauben und gehorsames Tun des göttlichen Willens sind für Zwingli zwei Seiten derselben Münze. Beides fliesst aus der Erkenntnis des einen Christus und beides ist Ausdruck der einen Liebe zu Gott, wie sie der wahren Erkenntnis Gottes von selber entspringt. Liebe kann allerdings nur in freiwilliges Tun münden. Sie ist etwas grundlegend Anderes als die Forderung nach Einhaltung kirchlicher Vorschriften um des eigenen Seelenheils willen. Das ‚sanfte Joch‘, das Jesus in Mt 11,29 meint, ist ein solches Tun aus Liebe.“136 132 133 134 135 136

ZwS I, 39 (Die freie Wahl der Speisen, 1522). Vgl. a.a.O., 35 (Die freie Wahl der Speisen, 1522). OPITZ, Ulrich Zwingli, 26. Hervorhebung im Original. LOCHER, Die Zwinglische Reformation, 98. OPITZ, Ulrich Zwingli, 27.

140

IV. Freiheit zur Nachahmung

Zwingli grenzt sein Freiheitsverständnis indes ab von einem – wie er es nennt –„schurkischen Freiheitswahn“137. Gemeint ist hierbei ein Libertinismus, der keinerlei Grenzen kennt.138 Evangelische Freiheit hat nach Zwingli hingegen nichts zu tun mit einer „Freiheit, wo jeder tut, was ihn gelüstet“139. Zwingli betont demgegenüber, es sei zwar „ein sicheres Zeichen des Glaubens, wenn einer in göttlicher Freiheit weiß […], daß ihm jederzeit alle Speisen zu essen erlaubt sind“140. Christsein heiße aber nicht: Leben wie ich will! Zwingli greift dieses Motto eines tabulosen Antinomismus bewusst auf, um ihm entgegen zu halten: „Nun kann aber nur derjenige als ein Christ gelten, der schon jetzt sich selbst und der Welt abgestorben ist [vgl. Gal 2,19–20; 6,14; M.H.] und auf dem Wege Gottes, das heißt: in der Art und nach der Vorschrift des Christus lebt.“141 3.3 Das Vorbild Christi nach Zwingli Auch Zwingli beruft sich auf das Vorbild Christi. Immer wieder rekurriert er auf das mimetische Motiv, wenn es um Fragestellungen der individual- und sozialethischen Lebensorientierung geht. Zwingli avisiert nichts anderes an als „ein neues Leben, das nach dem Vorbild Christi gestaltet werden soll“.142 Ein solches Leben kennzeichne die Gotteskindschaft: „Christsein heißt nichts anderes, als ein Kind Gottes mit Christus und durch Christus zu sein […], so daß ein Kind Gottes nichts anderes ist als Gottes vornehmste und liebste Hausgenossenschaft, die nach dem Willen des himmlischen Vaters, und damit nach dem Vorbild des Christus lebt.“143 „Nach der einen Seite“ – so Locher – zieht Zwingli die Linie, „die unsere Gotteskindschaft bezeichnet, sofern sie erworben und verbürgt ist durch den einen natürlichen Gottessohn; nach der andern diejenige, welche unser Leben als Gotteskind beschreibt“.144 Auch erziehungspädagogische und pastoraltheologische Fragestellungen sind durchaus bei Zwingli hinsichtlich der Orientierungsfunktion des Vorbildes Christi im Blick. So empfiehlt Zwingli, dass auch 137

ZwS I, 424 (Wer Ursache zum Aufruhr gibt, 1524). Vgl. auch ZwS II, 367 (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523). 138 Treffend bemerkt FREUDENBERG, Huldrych Zwingli, 97: „Zwingli [markiert] die Grenze christlicher Freiheit, die in der Person des Nächsten, der sich den kirchlichen Geboten noch verpflichtet sieht, gegeben ist: Es gilt, auf ihn Rücksicht zu nehmen und die eigene Freiheit nicht zum Machtmittel gegen andere in Anspruch zu nehmen.“ 139 ZwS III, 408 (Kommentar, 1525). 140 ZwS I, 424 (Wer Ursache zum Aufruhr gibt, 1524). 141 A.a.O., 341 (Wer Ursache zum Aufruhr gibt, 1524). 142 ZwS III, 247 (Kommentar, 1525). 143 ZwS I, 341 (Wer Ursache zum Aufruhr gibt, 1524). 144 LOCHER, Die Theologie Huldrych Zwinglis, 35.

3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“

141

Jugendliche Christus nachahmen sollen.145 Oder auch „Der Hirt“, d.h. ein Christenmensch in gemeindeleitender Funktion, ist nach Zwingli gut beraten nach Christi Vorbild seinen Dienst auszurichten.146 Vor allem bezüglich seiner eigenen Lehre beruft sich Zwingli immer wieder auf das Beispiel Christi, so etwa bei umstrittenen sakramentaltheologischen Fragestellungen,147 die Taufe148 und Abendmahl betreffen.149 Im Schlusswort des „Commentarius“ heißt es programmatisch: „Dazu also ist Christus gesandt, um die Verzweiflung des Geistes, die […] aus der Zuchtlosigkeit des Fleisches erwächst, gänzlich zu beseitigten und uns das Vorbild für unser Leben zu geben. Denn diese beiden Sachen prägt uns Christus überall ein: daß wir durch ihn erlöst sind und daß die, die durch ihn erlöst wurden, nach seinem Vorbild leben sollen. […] Wir müssen also, wie wir an die Erlösung glauben, uns auch befleißigen, unser Leben zu ändern. Demnach ist derjenige ein Christ, der allein auf den einen und wahren Gott vertraut, der seiner Barmherzigkeit durch seinen Sohn Christus, Gott von Gott, sicher ist, der sich nach seinem Vorbild gestaltet, täglich stirbt [vgl. 1Kor 15,31; M.H.], sich täglich verleugnet, darauf allein bedacht, nichts zu tun, was seinen Gott beleidigen könnte. […] Ein Kampf ist darum das christliche Leben, scharf und gefährlich – wer zu kämpfen aufhört, tut es zu seinem eigenen Nachteil. Umgekehrt ist das Christenleben auch ein unaufhörlicher Sieg; wer hier kämpft, siegt, sofern er von Christus, dem Haupt, nicht abfällt.“150

Hinsichtlich der Betonung des Vorbildes Christi bemerkt W. Peter Stephens:

145 146

Siehe ZwS I, 230f.; 240 (Wie Jugendliche aus gutem Haus zu erziehen sind, 1523). Siehe ZwS I, 255; 259; 263; 265; 298; 304 (Der Hirt, 1524). Siehe zu dieser wichtigen Schrift Zwinglis H. SCHOLL, Das Pfarramt und Pfarrerbild bei Ulrich Zwingli, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 33–71. 147 Zum Sakramentsbegriff bei Zwingli vgl. G. P LASGER, Das Sakrament als „widergedächtnis“. Einige Aspekte zum Verständnis von Taufe und Abendmahl bei Zwingli, in: H. KLUETING / J. ROHLS (Hg.), Reformierte Retrospektiven, EBzrP 4, Wuppertal 2001, 105–113; J. VOIGTLÄNDER, Ein Fest der Befreiung. Huldrych Zwinglis Abendmahlslehre, Neukirchen-Vluyn 2013. 148 Hinsichtlich der Taufe des Johannes und der Taufe Christi betont Zwingli im „Commentarius“: „Johannes lehrte, also, daß man das Leben bessern und nach dem Vorbild Christi formen müsse, zu dem er führte, und er predigte, daß Christus unsere Hoffnung ist; Christus lehrte dasselbe, denn was sonst verlangt die ganze Lehre Christi als ein neues Leben, das nach dem Willen Gottes gestaltet wird und unerschütterlich auf Christus vertraut?“ ZwS III, 247 (Kommentar, 1525). 149 Vgl. a.a.O., 254 (Kommentar, 1525). 150 A.a.O., 450 (Kommentar, 1525). Zur Selbstverleugnung vgl. auch a.a.O., 169 (Kommentar, 1525); zur Radikalität der unmittelbaren und nicht zurückschauenden Nachfolge vgl. a.a.O., 147 (Kommentar, 1525).

142

IV. Freiheit zur Nachahmung

„Im Vergleich zu Luther legte Zwingli z.B. ein stärkeres Gewicht auf die Rolle Christi als Lehrer und Vorbild. Wahrscheinlich rührt das vom Einfluss des Erasmus her. Damit soll nicht bestritten werden, dass auch er [sc. Zwingli; M.H.] Christus zunächst als Erlöser und Sohn Gottes verstand. Aber sein Christusbild wurde geprägt und gewann Farbe durch die Funktion Christi als Lehrer und Vorbild. Dabei hatte Zwingli nicht, wie man erwarten könnte, den Menschen Jesus im Blick, sondern den Sohn Gottes. Er setzte überhaupt einen starken Akzent auf das Gottsein Christi.“151

Es kann in der Tat kein Zweifel bestehen, dass das in humanistischen Kreisen so herausgehobene Vorbild Christi auch einen elementaren Bestandteil in Zwinglis reformatorischer Theologie bildet.152 Das Leben eines Christen soll nach dem Vorbild Christi gestaltet werden, so betont Zwingli nachdrücklich, wobei er die vita christiana „durchwegs als das Werk Christi oder des Geistes im Christenmenschen dar[stellt]“.153 Die Parallelität zu Luther und der christologischen Leitfigur des Zusammenhangs von sacramentum et exemplum ist hier mit Händen zu greifen, wenngleich ihr – anders als bei Luther – nicht die Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Menschen zugrunde liegt. Auch gebraucht Zwingli im Blick auf diesen Zusammenhang nicht den Sakramentsbegriff, den er für das „Widergedächtnis“ reserviert, der freilich den Aspekt der Selbstvergegenwärtigung Christi einschließt.154 Der Berner Altmeister der Zwingli-Exegese, Gottfried W. Locher, hält fest, „daß dieses Verständnis Jesu als Führer, Vorbild, ja Erzieher nach Zwingli keineswegs falsch, sondern ganz richtig ist. Vom Wort Jesu als Lehre, von seinem Leben als Vorbild spricht er viel. Aber“ – so Locher, der eine dezidierte Abgrenzung gegenüber einer Vereinnahmung Zwinglis zugunsten liberaltheologischer Jesulogien vornimmt, – „er wäre nicht einverstanden mit den modernen Leuten, für welche Jesus nur noch Lehrer und Vorbild ist. Nach Zwingli hat er nur darum als Lehrer und als Vorbild für uns verpflichtende Autorität, weil er noch anderes, noch mehr ist: nämlich Gottes Sohn und unser Erlöser“.155 Nochmals Locher in seiner entschiedenen Abwehrbewegung: 151

P. STEPHENS, Zwingli. Einführung in sein Denken, Zürich 1997, 65. Zum Einfluss des Erasmus vgl. bes. G.W. LOCHER, Zwingli und Erasmus, Zwingliana 13 (1969), 37–61. 152 Vgl. STEPHENS, Zwingli, 90. 153 Ebd., 90. 154 Dies hat PLASGER (Das Sakrament als „widergedächtnis“, 105–113) gezeigt. 155 G.W. LOCHER, „Christus unser Hauptmann“. Ein Stück der Verkündigung Huldrych Zwinglis in seinem kulturgeschichtlichen Zusammenhang, in: DERS., Huldrych Zwingli in neuer Sicht. Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation, Zürich/Stuttgart 1969, (55–74) 59f.

3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“

143

„Diese Betrachtungsweise, die zur Inanspruchnahme des Zwinglinamens für die moderne liberale Theologie geführt hat […], abstrahiert jene Mahnungen nämlich von der hinter ihnen stehenden, in ihnen sich auswirkenden Christologie, und die Abstraktion kann angesichts der von Zwinglis Hand geschriebenen Texte nicht aufrecht erhalten werden. Jene Mahnungen bekommen nämlich […] ihr Gewicht und ihre verpflichtende Kraft erst daher, dass für Zwingli Christus immer der filius dei ist, die zweite Person der Trinität.“156

Zwingli ist nach Locher „unter allen Reformatoren derjenige, welcher am einseitigsten und stärksten den Nachdruck auf die Gottheit Christi legt“.157 Exkurs: Christus als Hauptmann. Gottfried W. Lochers Interpretation eines Gleichnisses Zwinglis Locher hat mit seiner Auslegung „Christus als Hauptmann“158 ein Kabinettstückchen kulturgeschichtlicher Zwingli-Exegese vorgelegt. Er hat beobachtet, dass Zwingli in christologischen Begründungszusammenhängen gerne die Metapher „Christus als Hauptmann“ bemüht. Locher kann sich dabei u.a. auf den Leitsatz des 6. Artikels von Zwinglis „Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel“ (1523) berufen: „Denn Christus Jesus ist der Führer und Hauptmann, von Gott dem ganzen menschlichen Geschlecht verheißen und auch gewährt. Dieser Artikel ist ein tragendes Fundament […]. Wenn Christus Jesus nämlich dem menschlichen Geschlecht als Hauptmann und Führer verheißen wurde, ist sein Werk, seine Lehre und sein Leben notwendigerweise über alle menschliche Beurteilung erhaben, so daß auch sein Name – d.h. seine Macht, Ehre und Kraft – über allen Namen ist, wie Paulus im Philipperbrief 2,9 sagt.“159

So gruselig, ja unerträglich sich für uns heute insbesondere die Führer-Terminologie anhören mag, so zeigt uns der kirchenkampferfahrene G.W. Locher hingegen, dass die Bezugsgröße Zwinglis keineswegs einen ominösen Führerkult darstellt, sondern biblische Quellen – nicht zuletzt die Metaphorik von der „Waffenrüste Gottes“ (Eph 6,11–17).160 Locher summiert: „Was die angeführten Worte vom ‚houptmann‘ Christus betrifft, so bezeichnet dieser Ausdruck mit seinem militärischen Vergleich bei Zwingli keineswegs einen humanistischen Vorbild- oder einen idealistischen Führerbegriff. 156

G.W. LOCHER, Die Theologie Huldrych Zwinglis im Lichte seiner Christologie. Erster Teil: Die Gotteslehre, SDGST 1, Zürich 1952, 18. Hervorhebung im Original. 157 A.a.O., 20. Hervorhebung im Original. Vgl. a.a.O., 25f. 158 LOCHER, „Christus unser Hauptmann“, 55–74. 159 ZwS II, 59 (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523). 160 Vgl. dazu N. NEUMANN, Die πανοπλία Gottes. Eph 6,11–17 als Reflexion der Belagerung einer Stadt, ZNW 106 (2015), 40–64.

144

IV. Freiheit zur Nachahmung

Der Terminus enthält kein allgemeines ethisches Prinzip, sondern eine spezielle Mahnung im Zusammenhang der Nachfolge Christi: er fordert immer zur letzten Selbstverleugnung, zur Todesbereitschaft für das Bekenntnis zum Evangelium auf, welche die einzige Entsprechung im Verhalten des Jüngers zur Selbsthingabe des Meisters sein kann. […] Hebr 12,2 ‚Houptmann‘ ist er, weil er auf Grund seiner Lebenshingabe Macht über unser Leben und Blut hat, weil er den Einsatz des Lebens in seinem Kampf verlangt.“161

Zwingli sieht durchaus keinen Widerspruch darin, Christus zugleich als standfesten162 Hauptmann und als Beispiel der Friedfertigkeit163 anzuführen. Insofern wäre zu überlegen, ob dem Metapherngebrauch bei Zwingli nicht so etwas wie die Strategie eines invertierten Bellizismus zugrunde liegt, der Martyriumsbereitschaft einschließt.164 Locher sieht hier einen versöhnungstheologischen Zusammenhang. Er versteht die Versöhnung – das sacramentum in Luthers Terminologie – als Ermöglichungsgrund der Nachahmung – des exemplum in Luthers Terminologie: „Die Versöhnung aber, die er uns erworben hat, macht uns frei zu dem Dienst, der im Vertrauen auf seine Führung […] und im Gehorsam gegen seinen Willen unser ganzes Dasein durchdringt. Mit seinem Tod erwarb er das Recht auf unser Leben. Zwinglis hat das, wie wir wissen, in seinen Predigten mit der Bezeichnung Christi als unsers Hauptmanns beschrieben.“165

3.4 „Die Doppelheit der Bedeutung Christi für uns“166 Die elliptische Soteriologie Zwinglis Das Motiv der Freiheit zur Nachahmung ist bei Zwingli eingezeichnet in eine elliptisch figurierte Auffassung der soteriologischen Bedeutung Christi. Den einen Brennpunkt der Ellipse bildet die Versöhnung Christi und den anderen sein Vorbild. Zwingli versucht so, Einseitigkeiten des Kreisens nur um einen Brennpunkt zu vermeiden: Weder 161 162

LOCHER, Die Theologie Huldrych Zwinglis, 19. Hervorhebung im Original. Zur Tugend der Standfestigkeit vgl. ZwS IV, 85 (Die letzte Berner Predigt, 1528): „Darum richten wir den Blick auf unsern Herrn Jesus Christus, der uns die Stadthaftigkeit in Taten und Worten vor Augen geführt und gelehrt hat: Er ist standhaft geblieben ‚bis zum Tod am Kreuz‘ [Phil 2,8].“ 163 ZwS II, 485 (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523). 164 Vgl. etwa ZwS I, 192 (Göttliche und menschliche Gerechtigkeit, 1523): „Sobald nun die Fürsten etwas gebieten, was gegen die göttliche Wahrheit streitet oder diese verbietet, so sollen die, die dem Worte Gottes Glauben schenken, eher den Tod erleiden als davon abweichen. Wenn sie das nicht tun, sind sie auch nicht Nachfolger Christi.“ Vgl. fernerhin: ZwS I, 283 (Der Hirt, 1524); ZwS II, 409 (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523). 165 G.W. LOCHER, Im Geist und in der Wahrheit. Die reformatorische Wendung im Gottesdienst zu Zürich, in: DERS., Huldrych Zwingli in neuer Sicht. Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation, Zürich / Stuttgart 1969, (21–54) 31f. 166 LOCHER, Die Theologie Huldrych Zwinglis, 36.

3. „Von der Freiheit Gebrauch machen“

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eine lebensferne Dogmatisierung, noch eine gnadenlose Ethisierung dieses christologischen wie christopraktischen Zusammenhangs sind intendiert.167 Der Akzent liegt also gleichsam auf beiden Brennpunkten, wobei der Brennpunkt der Versöhnung – wie gesagt – dem der Vorbildlichkeit Christi vorgeordnet ist. Das Kreuz („Holz“) ist und bleibt für Zwingli conditio sine qua non der Freiheit, mit anderen Worten: schlechthin freiheitsermöglichend: „Durch ein Holz sind wir der Freiheit wiedergegeben worden, weil Christus alles eher ertragen wollte, als daß wir unglücklich wären.“168 Glücklich zu leben, erfordert indes nach Zwingli die ermöglichte Freiheit im Sinne der Freiheit zur Nachahmung zu gebrauchen. Im „Commentarius“ hält Zwingli fest: „Die Schriften aller Apostel sind voll von dieser Überzeugung, nämlich daß christliche Religion nichts anderes ist als eine feste Hoffnung auf Gott durch Jesus Christus und als ein unschuldiges Leben spes in deum per Christum Jesum et innocens vita ad exemplum Christi, soweit er es verleiht, in der Nachfolge Christi.“169 Zwingli erläutert die Christiana religio hier anhand von deren beiden Zentralbegriffen: a) der Hoffnung auf Gott durch Christus und b) eines neuen Lebens nach dem Beispiel Christi. Wiederum tritt der doppelte Brennpunkt der Ellipse in Erscheinung, der so typisch für Zwinglis Theologie ist: „Denn diese zwei [Punkte] hämmert Christus überall ein: nämlich den Loskauf durch ihn und daß die, welche dadurch losgekauft worden sind, jetzt nach seinem Beispiel leben müssen.“170 167

Anschaulich wird diese Doppelpoligkeit etwa anhand des Opferverständnisses Zwinglis, wenn dieser schreibt: „So also, wie Christus um unsertwillen sich selbst in alles Leiden hingab, sollen auch wir uns um seinetwillen hingeben und alle Leiden ertragen. ‚Ihm nachfolgen‘ bedeutet: so zu handeln, wie er handelt. Wenn du also Gott etwas opfern willst, so bring ihm deinen Hochmut zum Opfer, verachte deinen Namen, deine Habe und deine Seele, sowohl im Sinne von ‚dich selbst‘ als auch im Sinne von ‚das Sterben und den Willen deines Geistes‘; denn der Wille und der Geist des Menschen sind hochmütig. Dies alles mußte ich einleitend sagen, damit jedermann verstehe, was das Wort ‚Opfer‘ im Grunde bedeutet, und daß es das höchste Opfer ist, wenn der Mensch sich selbst opfert. Es kann auch niemand einen Menschen opfern, als dieser sich selber. Daher kann auch niemand Christus opfern, als dieser sich selber; und dies hat er bloß einmal getan. So ist notwendigerweise auch das, was wir täglich tun, nicht ein Opfer, sondern eine zuverlässige Vergegenwärtigung, des einmal geleisteten Opfers Christi.“ ZwS II, 154f. (Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel, 1523). Zu Zwinglis Annahmen bei der sog. „Satisfaktionslehre“ Anselms von Canterbury vgl. G. PLASGER, Die Not-Wendigkeit der Gerechtigkeit. Eine Interpretation zu „Cur Deus homo“ von Anselm von Canterbury, BGPhMA.NF 38, Münster 1993, 27–30. 168 ZwS III, 118 (Kommentar, 1525). 169 A.a.O., 150 (Kommentar, 1525). 170 M. SALLMANN, Zwischen Gott und Mensch. Huldrych Zwinglis theologischer Denkweg im De vera et falsa religione commentarius (1525), BHTh 108, Tübingen 1999, 232; 239. Vgl. auch a.a.O., 175; 177.

146

IV. Freiheit zur Nachahmung

Es handelt sich um einen „elementare[n] Grundgedanken“171 in Zwinglis gesamtem Denken und Reden vom Heil bzw. vom Christus pro nobis:172 „In Christus erlöst er [Gott; M.H.] den Menschen, vergibt ihm die Sünden und bietet ihm ein Vorbild zur Lebensgestaltung. Die Vergegenwärtigung des ‚Heilsgeschehens‘ in Christus stärkt die Hoffnung des Gläubigen, in seinem Kampf schließlich doch zu siegen und das neue Leben zu erhalten. Das ‚Heilsgeschehen‘ wirkt sich für den Menschen auf das tägliche Leben aus, so daß er durch stetige Wachsamkeit der Buße das neue Leben in Schuldlosigkeit bewahrt. Nicht allein das Handeln Gottes am Menschen ist das ‚Heilsgeschehen‘, sondern auch das daraus folgende Leben des Gläubigen.“173

Oder, um noch einmal Gottfried W. Locher sprechen zu lassen: Das Heil besteht nach Zwingli darin, „dass er [Christus; M.H.] uns von Gott geschenkt sei als pignus gratiae einerseits und als exemplar vitae andererseits; in ihm ist die Einheit von Glaube und Leben verkörpert; Dogmatik und Ethik sind Eins. […] So kann es auch nicht wundernehmen, dass der Begriff ‚Evangelium‘ als die Zusammenfassung jener beiden Hauptelemente und entscheidenden Linien des Christuszeugnisses erscheint“.174

4. „Wenn wir Gottes Kinder sind, müssen wir auch seine Nachahmer sein“ Die imitatio Christi bei Johannes Calvin Nicht nur bei Luther und Zwingli begegnet uns im Freiheitsverständnis das gemeinsame Motiv der Freiheit zur Nachahmung, sondern auch eine Generation später in markanter Weise bei Johannes Calvin.175 Calvin betont, dass die Christen „zu einem Wandel in der Frei171 172

A.a.O., 240. LOCHER, Die Theologie Huldrych Zwinglis, 37f.: „Durch Christus gibt es Gewissheit, durch Christus gibt es Gehorsam nach Seinem verpflichtenden Vorbild. Dass dieser Christus somit nicht nur ein Gegenstand unsers Denkens, unsers Fürwahrhaltens oder auch unsers Fühlens oder unserer Religiösität bleibe, sondern dass er eingehe in unsere Existenz, indem dieselbe an- und aufgenommen wird von Seiner gnädigen Vergebung; dazu betont Zwingli ebenso energisch wie Luther das Christus pro nobis.“ 173 SALLMANN, Zwischen Gott und Mensch, 241. 174 LOCHER, Die Theologie Huldrych Zwinglis, 34f. Hervorhebungen im Original. So auch H.R. LAVATER, ZwS I, 444: „Für Zwinglis Theologie grundlegend: Christus, das vollkommene Vorbild des Lebens und das Pfand der Gnade, verkörpert die Einheit von Leben und Glauben, von Ethik und Dogmatik.“ 175 Der folgenden Darstellung des Freiheitsverständnisses Calvins wird vor allem sein Hauptwerk, die „Institutio Christianae Religionis“, zugrunde gelegt. Die Zitation erfolgt nach der Ausgabe: J. CALVIN, Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb. von O. WEBER, im Auftrag des Refor-

4. „Wenn wir Gottes Kinder sind, müssen wir auch seine Nachahmer sein“

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heit der Kinder Gottes gerufen“176 sind. Auch Calvin geht es – wie in den beiden Reformatoren der ersten Stunde – um das Zugleich von „Freiheit vom Gesetz und um die Heiligung im Glauben“.177 Wolfgang Lienemann hat im Blick auf Calvin darauf hingewiesen: „Das Verständnis der Freiheit eines Christenmenschen nimmt in der Architektur der ‚Institutio‘ einen zentralen Platz ein: Es wurzelt in Calvins Verständnis von Person und Werk Jesu Christi und unterstreicht die Einheit von Rechtfertigung und Heiligung.“178 Lienemann zufolge lässt dieser Abschnitt „Von der christlichen Freiheit“ in der „Institutio“ wie folgt gliedern: Struktur des Abschnittes De libertate christiana „1. Abschnitt (19,1–8): Grund und Wesen christlicher Freiheit (1) Die Freiheit vom Gesetz hat ihren Grund in der Freiheit, zu der Christus befreit hat (Gal 3). (2) Ein wahrhaft freies Gewissen kann nur ‚aus freien Stücken‘ und ‚im Glauben‘ dem Willen Gottes gehorsam sein. (3) In ‚Mitteldingen‘ (adiaphora) gilt der freie Gebrauch aller Dinge aus der Freiheit gegenüber den Dingen und im Geiste der Dankbarkeit (Speisen, Zeremonien). 2. Abschnitt (19,9–16): Betätigung der christlichen Freiheit (1) Die christliche Freiheit darf nicht missbraucht werden; a) zu Schlemmerei und Üppigkeit b) zur Kränkung und Verletzung der Schwachen (2) Das Maß im Gebrauch der christlichen Freiheit im Nutzen der/des Nächsten (19,12) (3) Die Grenze der gebotenen Rücksichtnahme liegt in der ‚Reinheit des Glaubens‘

mierten Bundes bearb. und neu hg. von M. FREUDENBERG, Neukirchen-Vluyn 2008. Zum Freiheitsverständnis Calvins vgl. E.-M. FABER, Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, Neukirchen-Vluyn 1999, 422–431; M. FREUDENBERG, Vorsehung und Freiheit. Calvins Freiheitsverständnis am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit den Libertinern, in: DERS., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen reformierter Theologie, Theologie. Forschung und Wissenschaft Bd. 36, Münster 2012, 39–52; DERS., Bewährte Freiheit. Beobachtungen zu Calvins Freiheitsverständnis, seinen Voraussetzungen und seinen Nachwirkungen, in: H.J. SELDERHUIS u.a. (Hg.), Calvinismus in den Auseinandersetzungen des frühen konfessionellen Zeitalters, RHT 23, Göttingen 2013, 97–112. 176 W. NIESEL, Die Theologie Calvins, München 21957, 140. 177 LOCHER, Die Theologie Huldrych Zwinglis, 38. 178 LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, 100. Lienemann (a.a.O., 103) hat auch in anschaulicher Weise die Struktur des Abschnittes De libertate christiana (Inst. [1559], III,19) analysiert und präsentiert.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

(4) Christus selbst wird verraten, wenn das Gewissen erneut Menschensatzungen unterworfen wird. (5) Der Unterscheidung der ‚zwei Regimente unter den Menschen‘ (double regime en l’homme) – geistlich (spirituel) und bürgerlich (politique ou civil) – dient dazu, die christliche Freiheit des Herzens (‚innerer Mensch‘, anima, l’ame interieur) und die Gebote und den Gehorsam in den ‚bürgerlichen‘ Angelegenheiten nicht durcheinander zu bringen. (Calvin spricht auch von une Royaume spirituel und l’autre Civil ou politique.)“179

Calvin nimmt die Impulse Luthers und Zwinglis auf und verbindet sie, wie es für sein gesamtreformatorisches und ökumenisches Anliegen charakteristisch ist, in kreativer Weise. Darauf hat zuletzt Hans Scholl hingewiesen: „Calvin fasst in Inst III 19 die gesamtreformatorische Rechtfertigungslehre zusammen als Lehre von der christlichen Freiheit: Ersteinmal nennt er den Schwer- und Kernpunkt Luthers – Rechtfertigung als Freiheit vom Gesetz als Heilsweg – (Inst. III, 19,2) und dann das Anliegen Zwinglis – Rechtfertigung als Freiheit von den Mitteldingen –, das sich besonders gegen die mittelalterlichen Kirchenbräuche und die Knechtung der Menschen durch sie wandte (Inst. III 19,7f). Calvin berücksichtigt beide Aspekte sehr lebhaft.“180

Entscheidend ist im Abschnitt „De libertate christiana“ der Hinweis in auf die Heiligung: „Das ganze Leben der Christen soll gewissermaßen ein Trachten nach Frömmigkeit sein; denn der Christ ist zur Heiligung berufen! (Eph. 1,4; 1. Thess. 4,3). Das Amt des Gesetzes besteht nun darin, ihn an seine Verpflichtung zu mahnen und ihn so zu eifrigem Ringen um Heiligung und Unschuld anzuspornen.“181 Diese Aussage ist in mehrfacher Hinsicht theologisch hoch bedeutsam: Zum einen insofern, als dass mit der Heiligung das theologische Profil der Gestalt positiver Freiheit umschrieben wird. Zum anderen tritt hier ein Gesetzesverständnis in Erscheinung, wonach das Gesetz primär als anspornendes Gesetz und damit als Funktion der Freiheit zu verstehen ist. Der scheinbar unvermittelbare Widerspruch zwischen Freiheit und Gesetz wird hier als aufgehoben betrachtet. Beide Größen schließen einander keineswegs aus. Der sog. tertius usus legis als usus in renatis ist als Mittel der Freiheitsgestaltung auf dem Weg der Heiligung zu verstehen.182 Calvin spricht von einem doppelten 179

LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, 103. Hervorhebungen im Original. 180 H. SCHOLL, Calvin als Seelsorger, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, (93–134) 130. 181 Inst. (1559), III,19,2. 182 Vgl. Inst. (1559), II,7,12–17.

4. „Wenn wir Gottes Kinder sind, müssen wir auch seine Nachahmer sein“

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Nutzen des Gesetzes in den Gläubigen: „Denn es ist (1.) für sie das beste Werkzeug, durch das sie von Tag zu Tag besser lernen, was des Herrn Wille ist, nach dem sie ja verlangen, und durch das sie auch in solcher Erkenntnis gefestigt werden. […] Wir bedürfen aber nicht nur der Belehrung, sondern auch (2.) der Ermahnung.“183 Calvin fragt suggestiv bzw. rhetorisch: „Gibt es eine bessere Mahnung zur Heiligkeit, als wenn wir hören, daß sich Christus selber als unser Vorbild hinstellt, dessen Fußstapfen wir nachwandeln sollen?“184 Freilich: Die Vorstellung, dass „wir also auch die Gerechtigkeit nicht anders überkommen, als weil er [Christus; M.H.] uns als Vorbild gesetzt wäre, dem wir nachahmen sollten“,185 nennt Calvin „eine unerträgliche Gotteslästerung“.186 Denn: „Es ist doch außer allem Streit, daß Christi Gerechtigkeit durch Gemeinschaft mit ihm die unsere wird und uns das Leben schenkt.“187 Der meritorische Charakter der Nachahmung wird demnach auch von Calvin entschieden bestritten.188 In Analogie zur „Freiheitsschrift“ Luthers, die Calvin kannte,189 heißt es: „Es ist ein einzigartiger Beweis für die höchste Liebe gewesen, daß Christus sich gewissermaßen vergessen und das eigene Leben nicht geschont hat, um uns vom Tode loszukaufen. Wenn wir dieser Wohltat teilhaftig sein wollen, gehört es sich, daß wir den Nächsten gegenüber ähnlich gesinnt sind.“190 Ebenso wie Luther und Zwingli argumentiert Calvin jedoch keineswegs rein vorbildchristologisch, wie es zunächst scheinen könnte. Eine imitationsethische Legitimation etwa des Fastens lehnt Calvin ebenfalls entschieden ab.191 In seiner Kommentierung von 1Petr 2,21 („Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen“) heißt es bei Calvin:

183 184 185 186 187 188

Inst. (1559), II,7,12. Inst. (1559), III,16,3. Inst. (1559), II,1,6. Ebd. Ebd. So auch F. WENDEL, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 1968, 219: „Calvin greift […] das klassische Thema der imitatio Christi auf. Er nimmt ihm aber den verdienstlichen Charakter, den es im mittelalterlichen Denken besaß.“ 189 So W. LIENEMANN, Calvins Wirtschaftsethik, in: M. SALLMANN u.a. (Hg.), Johannes Calvin 1509–2009. Würdigung aus Berner Perspektive, Zürich 2012, (235– 258) 242. Vgl. W. VAN’T SPIJKER, Calvin. Biographie und Theologie, KIG 3/J2, Göttingen 2001, 212–214. 190 CO 51,214 (Komm. Eph 5,2). 191 Vgl. Inst. (1559), IV,12,20. Siehe auch Inst. (1559), IV,18,8.

150

IV. Freiheit zur Nachahmung

„[W]enn von der Nachfolge Christi die Rede ist, muß man unterscheiden, was es eigentlich ist, das uns an ihm als Vorbild aufgestellt wird. Christus ist trockenen Fußes über das Meer gewandelt, hat Aussätzige geheilt, Tote erweckt, Blinden das Gesicht wiedergegeben: wollten wir das gleiche versuchen, so wäre dies eine verkehrte Nachahmung. Denn als er die Zeichen seiner Macht sehen ließ, wollte er uns kein Vorbild zur Nachfolge geben. Ein solches Mißverständnis war es auch, wenn man Christi vierzigtägiges Fasten leichthin als Vorbild ausstellte.“192

Überhaupt gilt Calvin zufolge: „[D]er Herr hat vieles getan, was nach seinem Willen kein Vorbild für uns sein sollte.“193 Sehr wohl kann Calvin jedoch auch von Christus als exemplum sprechen, was für Calvin heißt: „Die Schrift hat uns als Beispiel Christus vor Augen gestellt, dessen Gestalt wir in unserem Leben zur Abbildung bringen müssen.“194 Calvin hält fest, „daß wir, wenn wir Kinder Gottes sind, seine Nachahmer sein müssen. Auch Christus spricht es ja offen aus, auf keine andre Weise würden wir Kinder Gottes sein, als wenn wir auch Unwürdigen Wohltaten erweisen (Matth. 5,43–48). Nachdem uns Paulus Gott zur Nachahmung vor Augen gestellt hat, tut er dasselbe mit Christus; denn er ist unser wahres Vorbild. Mit der gleichen Liebe, sagt er, umfaßt euch gegenseitig, mit der uns Christus umfaßt hat; denn was wir an Christus wahrnehmen, ist für uns die rechte Richtschnur“.195

Zur christlichen Freiheit gehört auch nach Calvin das, was Ernst Wolf „schöpferische Nachfolge“196 genannt hat. Ihr Kriterium besteht nach 192

CO 55,249 (Komm. 1Petr 2,21). Ähnlich lautet Calvins Kommentar zur Fußwaschungsperikope: „Bemerkenswert ist […] der Hinweis Christi, er habe ein Beispiel gegeben. Es wäre nämlich falsch, alle seine Taten unterschiedslos nachzuahmen. Die Papisten rühmen sich, nach Christi Beispiel das vierzigtätige Fasten zu halten. Man hätte aber darauf achten müssen, ob er ein Beispiel geben wollte, nach dem seine Jünger sich richten sollten. Davon liest man jedoch nichts. Jedes Jahr nehmen sie eine theatermäßige Fußwaschung vor. Mit dieser nichtigen Zeremonie meinen sie, ihre Pflicht getan zu haben; ihre Brüder dann zu verachten, daraus machen sie sich kein Gewissen. Sicherlich aber befiehlt Christus hier kein jährlich zu wiederholende Handlung, sondern heißt uns das ganze Leben bereit sind, den Brüdern die Füße zu waschen.“ CO 47,309f. (Komm. Joh 13,14f.). 193 Inst. (1559), IV,19,29. 194 Inst. (1559), III,6,3. Vgl. dazu D. SCHELLONG, Calvins Auslegung der Synoptischen Evangelien, FGLP 38, München 1969, 189f. 195 CO 51,213f. (Komm. Eph 5,1). 196 E. WOLF, Schöpferische Nachfolge?, in: DERS., Peregrinatio Bd. II. Studien zur reformatorischen Theologie, zum Kirchenrecht und zur Sozialethik, München 1965, 230–241. Vgl. auch DERS., Sozialethik, Theologische Grundfragen, UTB 1516, Göttingen 31988, 148–160. Dazu: M. HOFHEINZ, Bildung als ethisches Lernen anhand von kritisch-gebrochenen Vorbildern. Ein Gespräch mit Dietrich Bonhoeffer, in: M. HOFHEINZ / H. NOORMANN (Hg.), Bildung im Horizont von Religion. FS Friedrich Johannsen zum 70. Geburtstag, Stuttgart 2014, 80–105.

5. „Das Geschenk der Freiheit“

151

Calvin darin, dass sie zu Christus hinführt: „Das müssen wir beachten: Wir sollen keinem Menschen folgen, der uns nicht zu Christus hinführt. Die Mahnung bedeutet für die Korinther, daß sie nach dem Vorbild des Paulus allem anderen, menschlichem Ruhm und menschlicher Glückseligkeit absagen und ganz Christus gehorchen sollen.“197 Von Christus sei aber erst dann als exemplum zu reden, nachdem er zuvor als sacramentum zur Sprache gebracht wurde: „Wie Gott, unser Vater, sich in seinem Christus selber mit uns versöhnt hat, so hat er uns auch in ihm das Ebenbild vorgezeichnet, nach dem wir nach seinem Willen gestaltet werden sollen (ad quam nos conformari velit) (Röm 6,18).“198 Es geht dabei – wie der Infinitiv Passiv confirmari im Zitat zeigt – um die passive Konstituierung im Sinne des Gestaltetbzw. Geformt-Werdens nach seinem, d.h. Christi, Ebenbild. Gott bleibt Subjekt auch dieses Vorgangs, den Calvin als Heiligung umschreibt. Die imitatio Christi ist für Calvin nicht ohne confirmatio – oder auch transfirmatio – zu verstehen, wobei letztere Calvin zufolge durch den Heiligen Geist geschieht. 5. „Das Geschenk der Freiheit“ Ein Ausblick in die Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung von Karl Barth 5.1 Das Schicksal von sacramentum et exemplum in der Neuzeit Abschließend sei nun ein kurzer Ausblick in die Neuzeit gewagt. In ihr fungierte der schillernde Begriff der Freiheit als eine Leitidee. Demgegenüber stellt der Aspekt der Freiheit zur Nachahmung bereits eine Zuspitzung oder – negativ formuliert – eine Engführung dar, die diesem Begriff den Glanz raubt.199 Freiheit zur Nachahmung – dieses Motiv konnte zwar gerettet werden, freilich nur um den Preis der „Entzauberung des christologischen Dogmas“200, das ja in erkennba197 198 199

CO 49,374 (Komm. 1Kor 4,16). Inst. (1559), III,6,3. D. SCHELLONG (Art. Ethik B. Aus evangelischer Sicht, NHThG2 2 [1991], [408– 417] 413) hebt hervor, „daß in der Neuzeit die allgemeine Geltung der christl. Doktrinen an ihr Ende gekommen war und der Wirklichkeitsbezug der christl. Ethik neu gefunden werden mußte“. 200 J. ROHLS, Mensch versus Gott – Die Entzauberung des christologischen Dogmas, in: L. MÖDL u.a. (Hg.), Das Wesen des Christentums, Münchener Theologische Forschungen 1, Göttingen 2003, 231–257. Die Begriffsbildung „Entzauberung des christologischen Dogmas“ ist m.E. nicht unproblematisch. Sie nimmt Anleihe bei M. WEBERS (Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, hg. von J. WINCKELMANN, Siebenstern-Taschenbuch 53/54, München/Hamburg 1965, 123) Rede von der „Entzauberung der Welt“ als religionsgeschichtlichem Prozess, der mit der „altjüdi-

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IV. Freiheit zur Nachahmung

rer Weise den Hintergrund der sacramentum-exemplum-Distinktion bildet. Ohne eine Betonung der Gottheit Christi ist auch der Sakraments-Begriff nicht zu haben. Alle drei Reformatoren sind sich darin einig, wie wir gesehen haben. Eben dies wurde allerdings anhebend mit der Kritik der beiden Sozzinis, Lelio und Fausto Sozzini, Onkel und Neffe, in ihrer Kritik am Dogma von Chalcedon in Frage gestellt. Bei beiden manifestiert sich eine Kritik der Zweinaturenlehre, die Gotthold Ephraim Lessing 200 Jahre später auf den Punkt gebracht hat. In Lessings Nachlass hat sich u.a. das Fragment „Die Religion Christi“ gefunden, in dem es heißt: „Ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem. Daß er wahrer Mensch gewesen, wenn er es überhaupt gewesen; daß er nie aufgehört hat, Mensch zu sein; das ist ausgemacht.“201 Die sacramentum-exemplum-Formel wird gleichsam aufgesprengt und in Erscheinung tritt der seiner göttlichen Natur entkleidete und zugleich in seiner Vorbildlichkeit vergöttlichte divinus homo. Die sacramentum-exemplum-Formel wurde also nicht einfach kupiert, indem man mit der Gottheit Christi flugs auch das sacramentum abschnitt. Christus wird zwar als exemplum verstanden, zeichnet sich aber als Mensch durch besondere moralische Vorzüge wie vollkommene Heiligkeit und Sündlosigkeit aus: „Die Sozinianer haben der Kritik, die in der Neuzeit an der Zweinaturenlehre von Chalcedon geübt wurde, den eigentlichen Impuls verliehen. Sie waren es, die jenes Arsenal anlegten, aus dem Kritiker wie Spinoza, Locke, die Deisten und Neologen ihre Waffen holten. Wenn Spinoza erklärte, die Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur in der Person Christi sei genauso unmöglich wie dies, daß ein Kreis die Natur eines Vierecks annehme, so war das letztlich ein sozinianisches Argument“202 – insbesondere in der Berufung auf die gesunde Vernunft (sana ratio).203

schen Prophetie einsetzte und, im Verein mit dem hellenischen wissenschaftlichen Denken, alle magischen Mittel der Heilssuche als Aberglaube und Frevel verwarf“. Vgl. auch DERS., Wissenschaft als Beruf (1919), in: Max Weber Schriften 1894– 1922, hg. von D. KAESLER, Stuttgart 2002, (474–511) 488; 501. Der Begriffsbildung inhäriert also – wenn man so will – die Unterstellung, dass der Zweinaturenlehre eine magische Denkungsart zugrunde liege. 201 G.E. LESSING, Die Religion Christi, in: DERS., Gesammelte Werke Bd. 8: Philosophische und theologische Schriften II, hg. von P. RILLA, Berlin/Weimar 21968, (9– 16) 9. Hervorhebung im Original. 202 Vgl. ROHLS, Mensch versus Gott, 244. 203 Zur neuzeitlichen Christologie vgl. den luziden Aufsatz von G. HUNSINGER, Salvator Mundi: Three Types of Christology, in: DERS., Evangelical, Catholic, and Reformed. Doctrinal Essays on Barth and Related Themes, Grand Rapids / Cambridge 2015, 126–145.

5. „Das Geschenk der Freiheit“

153

Man mag hier weitere theoriegeschichtliche Stationen benennen, nach Lessings Rede von Christus als „de[m] erste[n] zuverlässige[n], praktische[n] Lehrer der Unsterblichkeit der Seele“204 etwa von Kants „Religionsschrift“ und seiner Lehre vom Sohn Gottes als „Ideal der moralisch vollkommenen Menschheit“205, über Schleiermachers Jesus als Urbild des frommen religiösen Menschen206 bis hin zu Harnacks Menschen Jesus und seiner Predigt in den drei Kreisen von dem moralischen Gottesreich, dem liebenden Vatergott und dem unendlichen Wert der Menschenseele.207 Es dauerte jedenfalls einige Jahrhunderte, bis man den Gedanken der Freiheit zur Nachahmung wieder anknüpfend an die Reformatoren in einer Christologie verankerte, die mit dem ewigen Sohn Gottes beginnt und den Inkarnationsgedanken erneuerte, wie das etwa bei Karl Barth geschah. 5.2 „Kommunikative Freiheit“ Karl Barth und die Neuzeit Ohne Barths Rezeption hier im Detail rekonstruieren zu können,208 möchte ich hier doch zumindest darauf hinweisen, dass sich von Barth lernen lässt, den reformatorischen ebenso wie den neuzeitlichen Impuls aufzunehmen, ohne beide unkritisch im Sinne der eingangs 204

G.E. LESSING, Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: DERS., Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, Stuttgart 1980, 21 (§ 21). Dort z.T. kursiv. D. SCHELLONG (Art. Neuzeitliche Theologien. B. Die evangelische Theologie, NHThG2 3 [1991], [47–62] 58) hat offensichtlich Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“ im Blick, wenn er als ein neuzeitliches Charakteristikum in der protestantischen Theologie Charakteristikum festhält: „Die Besonderheit Jesu wird darin erblickt, daß er die Religion auf eine höhere Stufe gehoben habe, als das Judentum sie erreicht hatte. […] Das Judentum wird als äußerliche, juridische, knechtische und partikulare Religion interpretiert, die von Jesus durch eine innerliche, gewissensorientierte, freie und allgemein-menschliche Religion überboten worden sei. Was man vom Christentum abstreifen möchte und wobei man sich nicht gerne vom aufgeklärten Bürgertum behaften lassen will, das stellt man als jüdischen Rest hin, auf den das Christentum verzichten könne. So ist die Absetzung gegenüber dem Judentum Grundbestandteil neuzeitlicher Theologie.“ 205 I. KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793; 21794), in: W. WEISCHEDEL (Hg.), Immanuel Kant. Werke in zehn Bde. (Bd. 7: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie Zweiter Teil), Darmstadt 51983, (645–879) 711 (B 75). Vgl. DERS., Metaphysik der Sitten (1797; 21798), in: W. WEISCHEDEL (Hg.), Immanuel Kant. Werke in zehn Bde. (Bd. 7: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie Zweiter Teil), Darmstadt 51983, 309–634, B 73ff. 206 Vgl. F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. 2 Bde., Auf Grund der zweiten Aufl. und krit. Prüfung des Textes neu hg. und mit einer Einl., Erläuterungen und Reg. versehen von M. REDEKER, Berlin 71960, 34–43 (§ 93). 207 Vgl. A. V. HARNACK, Das Wesen des Christentums, Siebenstern-Taschenbuch 27, München / Hamburg 1964, 42–56. 208 Vgl. HOFHEINZ, „Er ist unser Friede“, bes. 149–162.

154

IV. Freiheit zur Nachahmung

genannten Konvergenztheorie in eins zu setzen. Auch eine solche Konvergenztheorie kann eine theoriegeschichtlich geschickt getarnte Form von „Reformations-Bashing“ darstellen. Man hat bisweilen den Eindruck, dass die mühevollen Versuche, reformatorischer WortGottes-Theologie Neuzeitlichkeit und Modernetauglichkeit anzudemonstrieren, eine solch camouflierte Form des „Bashings“ darstellt. Doch weder ein Reformations- noch ein Neuzeit-„Bashing“, sei es camoufliert oder mit offenem Visier vorgetragen, scheint mir wirklich hilfreich zu sein. Mir ist also weder daran gelegen, den schillernden Freiheitsbegriff der Neuzeit kurzerhand zu taufen, wie es in der deutschsprachigen Theologie insbesondere im Reformationsjubiläumszusammenhang209 sehr beliebt zu sein scheint, noch ihn einfach unkritisch mit grobschlächtigen Antinomismus-Vorwürfen zu überziehen. Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Neuzeit unter Rezeption des vorgestellten reformatorischen Gedankens der Freiheit zur Nachahmung geschieht etwa in Barths Vortrag mit dem programmatischen Titel „Das Geschenk der Freiheit. Grundlegung evangelischer Ethik“ (1953). Barth legt ihm drei Thesen zugrunde, die er nacheinander entfaltet: 1. „Gottes eigene Freiheit ist die Souveränität der Gnade, in der er sich selbst für den Menschen erwählt und entscheidet, und also ganz und gar als Gott des Menschen der Herr ist. 2. Die dem Menschen geschenkte Freiheit ist die Freudigkeit, in der er Gottes Erwählung nachvollziehen und also als Mensch Gottes sein Geschöpf, sein Bundesgenosse, sein Kind sein darf. 3. Evangelische Ethik heißt Besinnung auf das dem Menschen in und mit dem Geschenk dieser Freiheit von Gott gebotene Tun.“210

Es geht Barth also um dreierlei: zum einen um Gottes eigene Freiheit (1), zum anderen um die dem Menschen geschenkte Freiheit (2) und drittens um die Folgerung aus dieser Doppelthese im Blick auf die Frage nach der Begründung evangelischer Ethik (3). Barth gebraucht den Freiheitsbegriff – wenn man so will – als einen „kritischen Vermittlungsbegriff“211 hin zur Neuzeit. Er zeigt, dass das göttliche Geschenk der Freiheit an den Menschen nicht nur als nega-

209

M. HOFHEINZ, A Good Reason to Celebrate? The Anniversary of the Reformation in 2017, in: Theology Today 73 (2017), im Erscheinen. 210 K. BARTH, Das Geschenk der Freiheit. Grundlegung evangelischer Ethik (1953), in: H.G. ULRICH (Hg.), Freiheit im Leben mit Gott. Texte zur Tradition evangelischer Ethik, ThB 86, München 1993, (336–362) 336. Hervorhebungen im Original. 211 BAYER, Zweierlei Freiheit, 16.

5. „Das Geschenk der Freiheit“

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tiv-emanzipatorische Freiheit (als „Freiheit von“212) im Sinne von Abgrenzungsfreiheit, sondern auch und primär positiv als Gestaltungsfreiheit zu verstehen ist. Ja, mehr noch: Die „Freiheit zu …“ ist auch nach Barth zugleich Freiheit für den Mitmenschen, für den Nächsten, wie Luther und die reformierten Reformatoren festhalten. Der jüngst verstorbene Berliner Philosoph Michael Theunissen hat dafür den Begriff der „kommunikativen Freiheit“ ursprünglich in Auseinandersetzung mit der Hegelschen Logik geprägt. Er wurde dann in der theologischen Ethik von Heinz-Eduard Tödt rezipiert und geradezu schulbildend verwandt,213 um das zu umschreiben, was bereits Barth in seinem Vortrag als „Freiheit zu und für“214 bestimmt. Das Geschenk der Freiheit gründet in Gottes eigener Freiheit, die ihrem Wesen nach selbst „kommunikative Freiheit“ ist. Michael Theunissen definiert: „Kommunikative Freiheit bedeutet, daß der eine den anderen nicht als Grenze, sondern als die Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen Selbstverwirklichung erfährt.“215 Zu dieser Bestimmung mag man aus alteritätstheoretischer Sicht mancherlei sagen. Mir kommt es hier darauf an, Barths Gedankengang zunächst einmal zu skizzieren: Weil und insofern des Menschen geschöpfliche Freiheit ganz in der Freiheit Gottes gründet, ist Gottes Freiheit nach Barth „das Maß aller Freiheit“216. Anhand dieses Maß(stab)es der Freiheit Gottes, die die Quelle aller menschlichen Freiheit ist, kann die Freiheit des Menschen als wahre Freiheit be212 213

BARTH, Das Geschenk der Freiheit, 336. Zur theologischen Rezeption dieses Terminus vgl. u.a. W. HUBER, Der Protestantismus und die Ambivalenz der Moderne, in: H.G. ULRICH (Hg.), Freiheit im Leben mit Gott. Texte zur Tradition evangelischer Ethik, ThB 86, München 1993, (227–256) 251; H.E. TÖDT, Art. Freiheit, 3EKL 1 (1986), (1353–1359,) 1358, und im Anschluss an beide H. BEDFORD-STROHM, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, ÖTh 11, Gütersloh 1999, bes. 359–460. Vgl. auch H.G. ULRICH (Art. Freiheit, Ev. Soziallexikon. Neuausgabe, hg. von M. HONECKER u.a., Stuttgart u.a. 2001, [505–511] 508), der „kommunikative Freiheit“ trefflich als die Realisierung von „Freiheit im inhaltlich bestimmten Zusammenleben“, als „eine Lebensform der Koexistenz und der Proexistenz, eine Lebensform des Miteinander und des FürAndere [...], eine solche die in der ausdrücklichen Koexistenz und Proexistenz besteht, und nicht auf allgemeinen Übereinkünften beruht“ (DERS., Heiliger Geist und Lebensform, in: W. BRÄNDLE / R. STOLINA [Hg.], Geist und Kirche. FS Eckhart Lessing, Frankfurt u.a. 1995, [55–78] 76), beschreibt und das kommunikative Freiheitsverständnis mit dem liberalen Freiheitsverständnis kontrastiert, wonach Freiheit die „Freiheit von Einzelnen [meint; M.H.], die ihre Grenzen an dem je andren findet oder an einer umgreifenden Ordnung, innerhalb deren jeder Mensch den ihm zukommenden Freiheitsspielraum haben soll“. DERS., Art. Freiheit, 508. 214 BARTH, Das Geschenk der Freiheit, 339. Hervorhebungen im Original. 215 M. THEUNISSEN, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a.M. 1978, 46. 216 BARTH, Das Geschenk der Freiheit, 338.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

stimmt, d.h. auf die Übereinstimmung im Verhältnis zur Freiheit Gottes hin überprüft werden: „Frei wird und ist er [der Mensch; M.H.], indem er sich selbst in Übereinstimmung mit der Freiheit Gottes wählt, entscheidet und entschließt.“217 Zwischen Gottes Freiheit und der Freiheit des Menschen etabliert Barth damit ein ethisch relevantes Entsprechungsverhältnis, das in dialektischer Zuordnung sowohl die Gebrochenheit als auch die Widerspruchslosigkeit zwischen menschlicher und göttlicher Freiheit betont.218 Das Werk der Freiheit Gottes und das Werk der Freiheit des Menschen fallen weder zusammen, so dass man sie verwechseln könnte,219 noch stehen sie zueinander in einem Gegensatz.220 Der rechte Gebrauch der geschenkten Freiheit sieht nach Barth nun so aus, dass es zur Nachahmung kommt. Nachahmung meint nach Barth Freiheit, zumal verstanden als die Freudigkeit des Nachvollzug von Gottes Erwählung, wie sie für die Gotteskindschaft, das Geschöpfund Bundesgenossen-Sein des Menschen charakteristisch ist: „[S]ie [die Freudigkeit; M.H.] besteht in nichts Geringerem als darin […], daß der Mensch in seiner ganzen unüberbrückbaren Verschiedenheit und Entfernung von Gott dessen Nachahmer werden und sein darf!“221 Auch bei Barth ist, wie in der reformatorischen Tradition, der Nachahmungsbegriff hier durchaus positiv besetzt. Er wird als Interpretament des Analogiebegriffs in seiner ethischen Abzweckung, also als Interpretament der analogia operationis gebraucht.222 In ethischer Hinsicht bedeutet dieses Entsprechungsverhältnis im Blick auf den Menschen die Befreiung von einem blinden Optionalismus als Spielart eines ethischen Indifferentismus, der gegenüber der Vielfalt an Wahlmöglichkeiten kapituliert: „Es kann [...] des Menschen Freiheit [sc. in Entsprechung zur Freiheit Gottes; M.H.] doch wohl nur sekundär und nachträglich die Freiheit von irgendwelchen Beschränkungen und Bedrohungen – sie muß primär eine ‚Freiheit für‘ sein.“223 Diese 217 218

A.a.O., 343. Hervorhebungen im Original. So M. WEINRICH, Christus als Zeitgenosse. Von der Gegenwart der Parusie Jesu Christi, in: DERS., Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie, FSÖTh 139, Göttingen 2013, (102–137) 120. 219 Vgl. BARTH, Das Geschenk der Freiheit, 341. 220 Vgl. a.a.O., 344. 221 A.a.O., 345. 222 Vgl. HOFHEINZ, „Er ist unser Friede“, 341. 223 BARTH, Das Geschenk der Freiheit, 345. Hervorhebungen im Original. Hinsichtlich des paulinischen Freiheitsverständnisses bemerkt M. KONRADT (Die Christonomie der Freiheit. Zu Paulus’ Entfaltung seines ethischen Ansatzes in Gal 5,13–6,10, Early Christianity 1 [2010], [60–81] 69), „dass es nicht genügt, Freiheit monoperspektivisch als Freiheit von etwas in den Blick zu nehmen“.

5. „Das Geschenk der Freiheit“

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Priorisierung ist entscheidend. Der Mensch wird frei für seinen Mitmenschen in Entsprechung zur und dank der Menschfreundlichkeit Gottes (Tit 3,4),224 die ihn aus seiner reinen Ich-Bezogenheit225 zur Mitmenschlichkeit und einem Leben mit Gott befreit. Freiheit ist für Barth zentral die Freiheit im Leben mit Gott und den Mitmenschen.226 Damit ist Freiheit keine unbestimmte Offenheit und Ungebundenheit, wie es ein libertinistisches Freiheitsverständnis nahelegt, sondern eine durch die Freiheit Gottes heilsam bestimmte und begrenzte Freiheit: 224

Nach BARTH (Das Geschenk der Freiheit, 344) wird der Mensch erst durch das Geschenk der Freiheit zur Mitmenschlichkeit befreit: „Indem ihm Gott Freiheit schenkt, wird er auch und zuerst frei dazu, nicht mehr, aber auch nicht weniger als eben menschlich zu sein.“ 225 Vgl. J.G. FICHTE, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), in: DERS. (Hg.), Johann Gottlieb Fichte’s sämmtliche Werke VI. Dritte Abtheilung. Populärphilosophische Schriften. Erster Bd.: Zur Politik und Moral, Berlin 1845, 291–346, 296: „Der Mensch soll seyn, was er ist, schlechthin darum, weil er ist, d.h. alles was er ist, soll sein reines Ich, auf seine blosse Ichheit bezogen werden; alles, was er ist, soll er schlechthin darum seyn, weil er ein Ich ist; und was er nicht seyn kann, weil er ein Ich ist, soll er überhaupt gar nicht seyn.“ Diese IchBezogenheit Fichtes ist nach dem geistesgeschichtlichen Urteil K. BARTHS (Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 51985, 319f.) die Ursache dafür, dass Novalis „über Fichte hinaus das Nicht-Ich als Du verstanden wissen [wollte]. Ihm fehlte bei Fichte eben die Liebe. Die Liebe versteht das Nicht-Ich als Du, indem sie es als geliebtes und liebendes Du versteht.“ In seiner Wissenschaftslehre von 1794 führt J.G. FICHTE (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794), PhB 246, Hamburg 1956, 144) zwar aus, dass eine Synthesis von Ich und Nicht-Ich vollzogen wird, die statt von der begrifflichen Reflexion von der Anschauung geleistet wird, doch vollzieht sich diese Synthese so, dass das Ich als absolutes und nicht als durch das Nicht-Ich begrenzte Ich „als Eins und als Alles, allein übrig bleiben [muss; M.H.].“ BARTH (Das Geschenk der Freiheit, 344) setzt antithetisch dagegen: Des Menschen Freiheit „kann nicht wohl als des Menschen Freiheit zu seiner Selbstbehauptung, Selbsterhaltung, Selbstrechtfertigung, Selbsterrettung – und wäre sie die seines Selbst in dessen höchster Eigentlichkeit – verstanden werden.“ 226 Vgl. H.G. ULRICHS (Art. Freiheit, 507; Ethische Rechenschaft als Praxis der Freiheit. Bemerkungen zu „Norm und Erfahrung“ in der Ethik, ZEE 37 [1993], [46– 58] 52; Einführung: Die „Freiheit der Kinder Gottes“ – Freiheit in der Geschöpflichkeit. Zur Tradition evangelischer Ethik, in: DERS. [Hg.], Freiheit im Leben mit Gott. Texte zur Tradition christlicher Ethik, ThB 86, Gütersloh 1993, [9–40] 15; Heiliger Geist und Lebensform, 77) Definition der „Freiheit als Leben mit Gott“. Der Erlanger Ethiker unterscheidet in hilfreicher Weise zwischen „solchen Ansätzen, die die christliche Freiheit als die Freiheit ‚des Menschen‘ und seine Befreiung zu begreifen suchen, und solchen, in denen deutlich bleibt, daß ‚Freiheit‘ in einem ausdrücklich Leben mit Gott besteht, in dem sich die Befreiung vollzieht. Zu diesem Leben mit Gott gehört das Gebet, das Hören des Wortes Gottes, die Hinwendung zum Nächsten und die darin beschlossene ethische Rechenschaft. Der Christ ist aufgefordert, dies alles zu tun. Darin findet er seine Freiheit vor. Darin besteht die Konkretheit seiner Freiheit“ (DERS., Ethische Rechenschaft als Praxis der Freiheit, 53). Nach allem, was bislang ausgeführt wurde, dürfte hinreichend deutlich geworden sein, dass Barths Freiheitsverständnis nach dieser „Typologie“ dem letztgenannten „Typ“ zuzuordnen ist.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

„Die dem Menschen geschenkte Freiheit ist Freiheit in dem […] durch Gottes eigene Freiheit abgesteckten Raum, nicht anders.“227 Der Mensch wird in Gestalt seiner Freiheit im Leben mit Gott und seinen Mitmenschen aus seiner Einsamkeit herausgerissen, die die Signatur des in Permanenz latent kriegerischen, weil einsamen Menschen trägt. Einsame Existenz ist nach Barth inhumane Existenz, die den Keim des Unfriedens in sich trägt. „In Gottes eigener Freiheit ist [hingegen; M.H.] Frieden“228, so dass Gott mit dem Geschenk der Freiheit zugleich diesen Frieden schenkt. 5.3 Schlussbemerkung Gegenüber einem primär negativen Freiheitsverständnis, das die wahre Freiheit als Befreiung von jeglicher Heteronomie versteht, also als „Freiheit […] zu sich selbst, als Vermögen individueller Selbstverwirklichung“,229 muss das Barthsche Freiheitsverständnis tatsächlich als Gefährdung erscheinen. Insofern wird man Christian Link zustimmen können: „Barth [hat] das Freiheitsbewußtsein der Neuzeit, ihre ‚Autonomie‘, wie kein anderer in die Schranken gewiesen.“230 In die Schranken gewiesen, aber nicht einfach negiert, so möchte ich ergänzen. Denn dass der neuzeitliche Freiheitsbegriff ausschließlich in einem negativen Freiheitsbegriffs aufgeht, Freiheit also als bloße 227 228 229

BARTH, Das Geschenk der Freiheit, 345. A.a.O., 338. M. THEUNISSEN, Ho aitōn lambanei. Der Gebetsglaube Jesu und die Zeitlichkeit des Christseins, in: B. CASPER u.a. (Hg.), Jesus. Ort der Erfahrung Gottes. FS Bernhard Welte, Freiburg i.Br. u.a. 1976, (13–68) 16. THEUNISSEN (ebd.) kennzeichnet das neuzeitliche Freiheitsverständnis wie folgt: „Die neuzeitliche Philosophie betrachtet die Freiheit in einer auf charakteristische Weise verkürzenden Perspektive. Zunächst einmal schaltet sie die reale gesellschaftliche Freiheit weithin ab. Sodann engt sie die Freiheit des einzelnen in der Regel auf einen Aspekt ein, auf den sie sich auch dort beschränkt, wo sie auf die Freiheit aller einzelnen und in diesem Sinne auf gesellschaftliche bedacht ist. Sie begreift Freiheit fast ausschließlich als Freiheit des Menschen zu sich selbst, als Vermögen individueller Selbstverwirklichung.“ 230 CH. LINK, Schöpfung. Schöpfungstheologie in reformatorischer Tradition, HST 7/1, Gütersloh 1991, 329. H.E. TÖDT (Karl Barths Ethik. Widerspruch und Korrektur zum neuzeitlichen Freiheitsverständnis. Vortrag auf der Leuenberg-Tagung [Juli 1981], unveröffentlichtes Manuskript, [1–44] 18) gibt dieser Würdigung in zugespitzter Weise eine dezidiert gegen Trutz Rendtorffs Barth-Interpretation gerichtete Stoßrichtung: „Es darf nicht überraschen, wenn man diesen [sc. von M. Theunissen dargestellten; M.H.] unkommunikativen Autonomie- und Freiheitsbegriff als typisch neuzeitlichen Barth unterstellt und wenn man annimmt, daß Barth ihn radikalisiert auf Gott übertragen habe, daß dann im Ergebnis jene Vorstellungen von einer zwanghaften Herrscher-Freiheit Gottes herauskommen […]. Hier handelt es sich offensichtlich um die traditionelle Verengung der Frage nach dem Selbstsein, die Theunissen aufgezeigt hat. Im Gegenzug dazu wird es nötig sein, auch Freiheit kommunikativ zu fassen.“

5. „Das Geschenk der Freiheit“

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Abgrenzungsfreiheit verstanden wurde, dieser Vorwurf scheint mir allzu undifferenziert zu sein. Er wird etwa der Theoriehöhe des Kantschen Freiheitsbegriffs in keiner Weise gerecht. Gewiss tat man sich in der Neuzeit leichter, „all das zur Sprache zu bringen, was einer Vorstellung von Freiheit entgegensteht, als das, was ihr spezifisches Wesen ausmacht“.231 Bei Kant aber wird deutlich, dass die Freiheit notwendiges Implikat des moralischen Gesetzes ist. Nach Kants transzendentalphilosophischer Zuordnung erweist sich eine Erkenntnis der Freiheit ohne das Gesetz und ein Sein des Gesetzes ohne Freiheit als unmöglich: „[D]ie Freiheit [ist] die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit.“232 Der Mensch wird durch das Sittengesetz zu dem Eingeständnis gebracht, „daß er etwas kann, darum, weil er bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre“.233 Kant insistiert darauf, dass das „Du sollst“ des moralischen Gesetzes keine Fremdbestimmung ist und dass insofern in seiner Moralphilosophie alles andere als eine antinomistische Pointe vorliegt. In der Korrelation von Gebot und Freiheit als Grundlage der Explikation einer Gebotsethik als Freiheitsethik treffen sich Barth und Kant bei Lichte betrachtet in gewisser Weise, auch wenn diese Korrelation nach einem „modernen“ Verständnis von Freiheit im Sinne von Autonomie ultimativ oxymorontisch anmuten mag. Das Freiheitspathos jedenfalls verbindet: Kant mit Barth und beide wiederum mit den Reformatoren, auch wenn man die Neuzeit sicherlich nicht einfach zur Ära der Verwirklichung reformatorischer Freiheitslehre stilisieren darf. Heutige Theologie wird ihrer Aufgabe nach durchaus in die reformatorische Freiheitslehre einstimmen dürfen, sollte dabei aber das Motiv der Freiheit zur Nachahmung und die Bestimmung der Freiheit als mimetische Praxis des Lebens mit Gott nicht ausblenden. Diesen „Anschluss“ an die Reformation mögen manche als „neoorthodox“ empfinden.234 Sei’s drum, möchte man meinen und wird doch viel231

M. WEINRICH, Zur Freiheit befreit. Vorüberlegungen zum systematisch-theologischen Orientierungshorizonts eines christlichen Freiheitsverständnisses, in: H.-R. REUTER u.a. (Hg.), Freiheit verantworten. FS für Wolfgang Huber zum 60. Geburtstag, Gütersloh 2002, (90–101) 91. 232 I. KANT, Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: DERS., Werke in Zehn Bänden, Bd. 6 (Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie Erster Teil), Darmstadt 5 1983, (103–302) 108 (A 5 [Anm.]). 233 A.a.O., 138 (A 54). 234 Zum insbesondere im angelsächsischen Sprachraum populären Vorwurf der Neo-Orthodoxie vgl. B.L. MCCORMACK, Theologische Dialektik und kritischer Realismus. Entstehung und Entwicklung von Karl Barths Theologie 1909–1936, übers. von M. GOCKEL, Zürich 2006, 44–48.

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IV. Freiheit zur Nachahmung

leicht mit dem deutsch-amerikanischen Theologen Hans W. Frei (Yale) präzisieren dürfen: Wenn schon unbedingt „orthodoxy“, dann doch bitte nicht „neoorthodoxy“, sondern „generous orthodoxy“.235 Generös, weitherzig wäre eine genuin „generous orthodoxy“ darin, dass sie von einem Gott Zeugnis gibt, der dem Mensch seine Freiheit gönnt. In seiner „Göttlichen Ermahnung der Schweizer“ (1522) schreibt Zwingli: „Gott ist dem Freiheitsdrang gewogen“236 – Er ist der Freiheit zugetan. Er gönnt sie uns.

235

Zit. nach G. HUNSINGER, Social Witness in Generous Orthodoxy: The New Presbyterian „Study Catechism“, in: DERS., Conversational Theology. Essays on Ecumenical, Postliberal, and Political Themes, with Special Reference to Karl Barth, London u.a. 2015, (204–232) 207. 236 ZwS I, 86 (Göttliche Ermahnung der Schweizer, 1522).

V. Ethik der Erinnerung oder: „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis auf Arthur Richs „Wirtschaftsethik“

1. Einleitung: Ethik der Erinnerung und Arthur Richs Vergegenwärtigung von Zwinglis Leitdifferenz „Erinnert. Verdrängt. Verehrt. Was ist Reformierten heilig?“ So lautet der Tagungsschwerpunkt. Wer so fragt, fragt nach dem Gegenstand der Erinnerung. Was wird der Erinnerung für wert erachtet? Es geht zunächst darum den Befund dessen zu erheben, was de facto erinnert wird. Das kann immer nur exemplarisch geschehen.1 Im Blick auf die reformierte Ethik möchte ich mich im Folgenden Arthur Rich (1910– 1992) zuwenden und danach fragen, ob es ethische Grundentscheidungen im Bereich der reformierten Reformation gibt, die er als erinnerungs-, vielleicht sogar verehrungswürdig erachtet. Ich tue dies in der Hoffnung, dass sich bei Rich nicht nur eine solche Grundentscheidung ermitteln lässt, sondern dass Rich auch begründet, warum er diese Grundentscheidung für wegweisend erachtet. Eine solche Begründung könnte auch für heutige Zeit wegweisend sein und eine Antwort auf die weiterführende Frage bilden, was uns Reformierten in normativer Hinsicht heilig sein sollte. Rich gilt als einer der bedeutendsten evangelischen Sozialethiker des 20. Jahrhunderts und „unbestritten als der bedeutendste[] Wirtschaftsethiker im Bereich der deutschsprachigen evangelischen Ethik“.2 Er lehrte von 1954 bis 1976 als Nachfolger Emil Brunners (1889–1966) in Zürich. Der Zürcher Ethiker hat einen zweibändigen Wirtschaftsethik-Entwurf vorgelegt. Bevor er in dessen zweitem Band mit dem Untertitel „Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht“ (1990) die materialethischen Bestimmungen der Wirtschaft entfaltet, etwa den Sinn der Wirtschaft, die Besonderheit der Industriewirtschaft, die Wirtschaftszwecke und die Maximenbildung am Beispiel der Systemfrage, widmet er sich in Band eins (1984) den „Grundlagen in theologischer Perspektive“ – so der Unter1 Vgl. zu weiteren ethischen Entwürfen reformierter Provenienz Kap. 12 („Post Barth locutum. Reformierte Ethik und ihre Rezeption reformiert-reformatorischer Grundentscheidungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“) dieses Bandes. 2 J. FISCHER, Humanität aus Glaube, Hoffnung, Liebe. Überlegungen zur Konzeption einer evangelischen Sozialethik im Anschluss an Arthur Rich, ThZ 56 (2000), (149–164) 149.

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V. Ethik der Erinnerung

titel. Es ist offenkundig, dass er vielfältige Anstöße verbindet, etwa aus dem religiösen Sozialismus, der dialektischen Theologie und der Existentialphilosophie. So bemerkt Christofer Frey: „Arthur Rich hat den ersten Teil seiner Wirtschaftsethik vorgelegt, in dem seine Lebensarbeit zusammenfließt: seine Teilhabe am religiösen Sozialismus, sein Studium Pascals (hintergründig, aber dem Kundigen deutlich) und die Erfahrung mit der Industrie; in ihr begann er einst seinen beruflichen Weg.“3 Ergänzend sind darüber hinaus vor allem auch die Einflüsse der normativen Sozialwissenschaft Gerhard Weissers (1898–1989) und die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls (1921– 2002) zu nennen.4 Im Sinne der bereits formulierten Ausgangsfrage wäre indes zu klären, ob Rich über diese offenkundigen Einflüsse hinaus genuin reformiert-reformatorische Grundentscheidungen rezipierte. Meines Erachtens ist dies der Fall: Huldrych Zwinglis (1484–1531) dynamisch-dialektische Zuordnung „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“5 in gleichnamiger Schrift bildet – so meine These – mit Niklas Luhmann (1927–1998) gesprochen, so etwas wie die Leitdifferenz von Richs wirtschaftsethischem Entwurf: „Leitdifferenzen sind Unterscheidungen, die die Informationsverarbeitungsmöglichkeiten der Theorie [oder des Systems; M.H.] steuern.“6 In Richs sozialethischer Theoriebildung gibt es eine solche Leitdifferenz, die er sich von Zwingli vorgeben lässt. Dem soll im Folgenden genauer nachgegangen werden. Die Beschäftigung mit Zwingli war für Rich zeitlebens prägend. Bereits am Beginn der akademischen Vita Richs stehen „Die Anfänge der Theologie Huldrych Zwinglis“7 – so der Titel von Richs einschlägiger Zürcher Dissertation, die in der Zwingliforschung und insbeson-

3 CH. FREY, Buchbesprechung „Arthur Rich: Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive“, ZEE 29 (1985), (465–474) 465. 4 Vgl. A. RICH, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Gütersloh 31987, 95–100; 207–217. 5 H. ZWINGLI, Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, in: Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke (= Z), Bd. 2 (= CR 89), hg. von E. EGLI u.a., Leipzig 1908, 458– 525. Zit. im Folgenden nach: Huldrych Zwingli Schriften I, hg. von TH. BRUNNSCHWEILER / S. LUTZ, Zürich 1995, 155–213 (Übersetzung: E. SAXER). 6 N. LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1987, 19. Vgl. a.a.O., 57: „Alle Selektion setzt Einschränkungen (constraints) voraus. Eine Leitdifferenz arrangiert diese Einschränkungen, etwa unter dem Gesichtspunkt brauchbar/unbrauchbar, ohne die Auswahl selbst festzulegen. Differenz determiniert nicht was, wohl aber daß seligiert werden muß.“ 7 A. RICH, Die Anfänge der Theologie Huldrych Zwinglis, QAGSP 6, Zürich 1949. Der Dissertation ging unmittelbar die Studie DERS., Zwinglis Weg zur Reformation, Zwingliana 8 (1948), 511–535, voraus.

1. Einleitung: Ethik der Erinnerung

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dere der Diskussion um die „reformatorische Entdeckung Zwinglis“8 bis heute ein Standardwerk darstellt.9 Freilich kommt Rich dort nicht über die frühreformatorische Phase in Zwinglis Lehrentwicklung hinaus und behandelt die sozialethischen und politischen Aspekte der frühzwinglischen Theologie auch nur ganz am Rande.10 Zwar hatte Rich – wie sein Biograph Walter Wolf (*1930) bemerkt – ursprünglich „die Absicht, Zwinglis politische Ethik im Kontrast zu Martin Luthers (1483–1546) Zwei-Reiche-Lehre darzustellen. Doch ergaben Vorstudien, dass das Thema zu weit gefasst war.“11 Rich nahm die Fäden gut 20 Jahre später wieder auf – inzwischen längst als Leiter des Sozialethischen Instituts in Zürich akademisch etabliert und mit sozialethischen Fragestellungen, insbesondere der nach einer „Christliche[n] Existenz in der industriellen Welt“12 beschäftigt. Die im ökumenischen Kontext kontrovers diskutierte „Theologie der Revolution“13 bildete Ende der 1960er Jahre gleichsam Richs (Wie8

Vgl. zur Diskussion u.a. M. BRECHT, Zwingli als Schüler Luthers. Zu seiner theologischen Entwicklung 1518–1522, ZKG 96 (1985), 301–319; U. GÄBLER, Huldrych Zwingli. Eine Einführung in seine Leben und Werk, München 1983, 46–49; J.F.G. GOETERS, Zwingli und Luther, in: K. SCHÄFERDIEK (Hg.), Martin Luther im Spiegel heutiger Wissenschaft, Studium Universale 4, Bonn 1985, 119–141; W.E. MEYER, Huldrych Zwinglis Eschatologie. Reformatorische Wende, Theologie und Geschichtsbild des Zürcher Reformators im Lichte seines eschatologischen Ansatzes, Zürich 1987, 31–37; W.H. NEUSER, Die reformatorische Wende bei Zwingli, Neukirchen-Vluyn 1977, bes. 38–89; TH.M. SCHNEIDER, Der Mensch als „Gefäss Gottes“ – Huldrych Zwinglis Gebetsleid in der Pest und die Frage nach seiner reformatorischen Wende, Zwingliana 35 (2008), 5–21; G. ZIMMERMANN, Der Durchbruch zur Reformation nach dem Zeugnis Ulrich Zwinglis vom Jahr 1523, Zwingliana 17 (1986), 97–120. 9 Emidio Campi platziert Rich in der Reihe derjenigen Zwingliforscher, von denen „[e]ntscheidende Impulse kamen in der 2. Hälfte des 20. Jh.“. E. CAMPI, Art. Zwingli, Ulrich, RGG4 8 (2005), (1945–1955) 1954. 10 Vgl. A. RICH, Anfänge, 59–64. 11 W. WOLF, Für eine sozial verantwortbare Marktwirtschaft. Der Wirtschaftsethiker Arthur Rich, Zürich 2009, 33. 12 A. RICH, Christliche Existenz in der industriellen Welt. Eine Einführung in die sozialethischen Grundfragen der industriellen Arbeitswelt, VISE 1, Zürich/Stuttgart 1957. 13 Vgl. E. FEIL / R. WETH (Hg.), Diskussion zur „Theologie der Revolution“. Mit einer Einleitung, einem Dokumententeil und einer Bibliographie zum Thema, München/Mainz 1969. Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund vgl. A. SCHILLING, Revolution, Exil und Befreiung. Der Boom des lateinamerikanischen Protestantismus in der internationalen Ökumene in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen 2016; fernerhin: DIES., Lateinamerikanische Existenz in ökumenischer Begegnung. Richard Shaull und Rubem Alves als reformierte Wegbereiter der Befreiungstheologie, in: M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung. FS Michael Weinrich zum 65. Geburtstag, FRTH 4, Neukirchen-Vluyn 2015, 319–331; A. STRÜMPFEL, „Theologie der Hoffnung – Theologie der Revolution – Theologie der Befreiung“. Zur Politisierung der Theologie in den „langen sechziger Jahren“ in globaler Perspektive, in: K. FITSCHEN u.a. (Hg.), Die Politisierung des Protes-

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V. Ethik der Erinnerung

der-)Entdeckungszusammenhang der Sozialethik Zwinglis. Rich betont im Zwingli-Jubiläumsjahr 1969, dass „bereits Huldrych Zwingli erkannt“ habe, dass „das [Liebes-]Gebot Jesu revolutionär“ wirkt, „[s]obald Liebe zum krités gesellschaftlicher Strukturen wird“.14 Nochmals Rich: „Als religiös-kirchlicher Reformator ist Huldrych Zwingli für jedermann ein Begriff. Daß er aber, und zwar aus dem Zentrum seines reformatorischen Glaubens und Handelns, auch zu den frühesten und größten Pionieren der Gesellschaftsethik zählt, ist weniger bekannt. Und doch liegt gerade darin seine eigentliche, geschichtlich leider nur zu wenig zur Wirksamkeit gelangte Originalität.“15

2. Der dialektisch-dynamische Zusammenhang „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ bei Zwingli Um zu verstehen, wie Rich Zwingli versteht, ist es zunächst einmal nötig, einen Blick auf die für Rich sozialethisch zentrale Schrift Zwinglis „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“16 (1523) zu werfen, die „als grundlegendes Dokument nicht nur einer reformierten Sozialethik, sondern der christlich-ethischen Begründung überhaupt angesprochen werden muß“.17 In diesem Werk entfaltet tantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre, Göttingen 2011, 150–167. 14 A. RICH, Revolution als theologisches Problem, in: FEIL/WETH (Hg.), Diskussion, (133–158) 152. 15 A. RICH, Huldrych Zwingli – ein Pionier der Gesellschaftsethik. Zum ZwingliJubiläum 1969, KBRS 125 (1969), (2–3) 2. 16 An neuerer Literatur zur Interpretation dieser Schrift vgl. u.a. U. GÄBLER, Zwingli, 71f.; 87–90; B. HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, 111–117; G.W. LOCHER, Zwingli und die schweizerische Reformation, KIG 3, Göttingen 1982, 25f.; H. SCHOLL, Seelsorge und Politik bei Ulrich Zwingli, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, (11–31) 20–27; W.P. STEPHENS, Zwingli. Einführung in sein Denken, übers. von K. BREDULL GERSCHWILER, Zürich 1997, 173–178; W.P. STEPHENS, The Theology of Huldrych Zwingli, Oxford 1986, 282–309; P. WINZELER, Zwinglis sozialökonomische Gerechtigkeitslehre, Zwingliana 19 (1992), 427–444. 17 E. SAXER, Einleitung, in: Huldrych Zwingli Schriften I, hg. von TH. BRUNNSCHWEILER / S. LUTZ, Zürich 1995, (157f.) 158. Gottfried W. Locher nennt das Buch Zwinglis „eine der besten Abhandlungen der ganzen Kirchengeschichte“ (G.W. LOCHER, Zwinglis Politik – Gründe und Ziele, ThZ 36 [1980], [84–102] 91). Vgl. P. WINZELER, Art. Von götlicher und menschlicher grechtigheit, wie die zemen sehind und standind, in: M. ECKERT u.a. (Hg.), Lexikon der theologischen Werke, Stuttgart 2003, 795f.: „Zwinglis dialektisch-dynamische Lehre von Gottes Vorsehung und sozialer Fürsorge, Rechtfertigung und Recht, Kirche und Staat gehört zu den bedeutendsten Entwürfen zur Sozialethik bis in die Neuzeit und den Religiösen

2. Der dialektisch-dynamische Zusammenhang

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Zwingli, was er am 24. Juni 1523 gepredigt hatte – „zwei Tage, nachdem eine Abordnung aus verschiedenen Gemeinden sich mit dem Rat getroffen hatte, um strittige Fragen zu erörtern, darunter die Bezahlung des Zehnten“.18 Ausgehend vom „suum cuique tribuens“, also der antiken Definition von Gerechtigkeit, wie sie sich beispielsweise bei Aristoteles (384–322 v.Chr.) findet,19 führt Zwingli die Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit ein. Die göttliche Gerechtigkeit ist im Unterschied zur armseligen, elenden und lahmen menschlichen Gerechtigkeit unversehrt und erhaben wie Gott über den Menschen, ja Gott selbst ist die Gerechtigkeit. Sie richtet sich auf den inneren Menschen, während die menschliche Gerechtigkeit den äußeren Menschen, sein äußeres Leben in der menschlichen Gemeinschaft und unter der weltlichen Staatsgewalt betrifft. Die göttliche Gerechtigkeit entspricht durchaus dem urchristlichen Liebesideal einer Gemeinschaft ohne Eigentum, Zins und Gewalt, wie sie die Bergpredigt voraussetzt.20 Doch das Gesetz21 dieser göttlichen Gerechtigkeit kann nach Zwingli niemand erfüllen, da Gott allein gut ist (vgl. Mt 19,17). Dieses Gesetz ist aber bereits durch Christus stellvertretend erfüllt und die göttliche, durch Gnade gerecht machende und im Glauben empfangene Gerechtigkeit dem Menschen von Gott durch seinen Sohn geschenkt worden.22 Das heißt nicht, dass Sozialismus.“ Auch Gäbler rechnet Zwinglis Schrift „zu den eindrücklichsten sozialethischen Zeugnissen der Reformation“. U. GÄBLER, Zwingli, 71f. 18 W.P. STEPHENS, Einführung, 173. 19 ARISTOTELES, Rhetorik I,9. 20 Treffend G.W. LOCHER, Huldrych Zwingli in neuer Sicht. Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation, Stuttgart 1969, 163: Zwinglis „gebrochene Gerechtigkeit [ist] ein Ausdruck des erhaltenden und heilenden Willens Gottes: sie schafft den Rahmen dafür, daß der Christ nach der höheren Gerechtigkeit der Bergpredigt streben kann.“ 21 Treffend U. GÄBLER, Huldrych Zwinglis politische Theologie, in: M. FREUDENBERG / G. PLASGER (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge zur achten Emder Tagung der Gesellschaft für reformierten Protestantismus, EBzrP 14, Neukirchen-Vluyn 2011, (9–25) 16: „Zwinglis Betonung des Gesellschaftlichen gegenüber dem Individuellen ist mit seiner Auffassung vom Gesetz verknüpft. Das Gesetz nimmt in seiner Verkündigung eine zentrale Rolle ein, wobei eine Differenzierung von Gesetz und Evangelium, wie sie bei Luther dominiert, keine Rolle spielt. Nach Zwingli zielen Gesetz wie Evangelium auf die Verbesserung der Sitten, insofern unterscheiden sie sich nicht: das ‚Gesetz ist nichts als der ewige Wille Gottes‘.“ Vgl. a.a.O., 20. So auch M. SALLMANN, Zwischen Gott und Mensch. Huldrych Zwinglis theologischer Denkweg im De vera et falso religione commentarius (1525), BHTh 108, Tübingen 1999, 199f.; 246f. So im Übrigen auch A. RICH, Zwingli als sozialpolitischer Denker, Zwingliana 13 (1969), (67–89) 72. 22 H. SCHOLL, Seelsorge, 22: „Nun weiss Zwingli so gut wie Luther, dass diese [göttliche; M.H.] Gerechtigkeit nur geschenkte Gerechtigkeit sein kann und diese Liebe schlicht das bare Wunder ist. Die erste Aufgabe des Seelsorgers, des Hirten, ist

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V. Ethik der Erinnerung

das Gesetz der göttlichen Gerechtigkeit damit außer Kraft gesetzt wäre. Im Gegenteil ist die Forderung nach Vollkommenheit: „Ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48), weiterhin gültig; freilich nicht als Werk zum vermeintlichen Erwerb der Rechtfertigung, sondern als ein von Gott gewirktes Heranwachsen und ihm „je länger je mehr“23 Gleichgestaltet-Werden in der Heiligung. Auch das Gesetz der menschlichen Gerechtigkeit ist keineswegs abgetan. Das wäre fatal. Denn es wurde als chaosbändigendes und anarchieverhinderndes Präventiv durch die göttliche Vorsehung als deren Instrument gegeben. Die menschliche Gerechtigkeit geht mit der Gewalt und der obrigkeitlichen Befugnis zu zwingen einher, damit dem Bösen gewehrt und das ordentliche und rechtmäßige menschliche Zusammenleben erhalten bleibt. Die menschliche Gerechtigkeit, die von der Obrigkeit als ordentlicher weltlicher Staatsgewalt und nicht etwa von der Geistlichkeit ausgeübt wird, erfreut sich nach Zwingli auch und gerade christlicher Wertschätzung durch die Gemeinde, die der Obrigkeit aufgrund ihrer Aufgabe in der Regel gehorcht und nicht zuwiderhandelt:24 „[D]amit trotz allem das menschliche Zusammenleben erhalten bleiben und beschützt werden könne, [hat Gott; M.H.] Wächter eingesetzt, die ernstlich darauf achten sollen, daß nicht auch noch der letzte Zipfel der armseligen menschlichen Gerechtigkeit weggerissen werde. Diese Wächter sind die gesetzmäßige Obrigkeit, die aber eben diejenige ist, welche das Schwert trägt, d.h. die wir die weltliche Obrigkeit nennen. Ihr Amt ist es, alle Dinge nach dem göttlichen Gebot zu führen, wenn es uns schon nicht möglich ist, nach dem göttlichen Willen zu leben. Darum soll sie alles, wofür weder im göttlichen Wort oder Gebot noch in der menschlichen Gerechtigkeit eine Begründung gefunden werden kann, abschaffen und als falsch, unrechtmäßig und ungerecht auch nach menschlicher Gerechtigkeit behandeln.“25

Zwingli weiß: „Wer in der faktisch vorliegenden Welt des Eigentums, der Gewalt und der Sünde nur mit der göttlichen Gerechtigkeit argumentieren und leben will, der verkennt, dass diese uns entgangen ist. Nicht entgangen ist uns in der Gnade Gottes die menschliche Gerechtigkeit, die Gabe des Rechtes, der Gebote: Du sollst nicht stehlen, nicht lügen, nicht töten usw.!“26 es darum, diese Gerechtigkeit zu predigen, von diesem Geschenk zu reden, dem Menschen das Evangelium zu verkünden.“ 23 H. ZWINGLI, Gerechtigkeit, 166. Vgl. auch a.a.O., 182; 210f. 24 Zum Widerstandsrecht bei Zwingli vgl. CH. STROHM, Art. Widerstandsrecht II. Reformation und Neuzeit, TRE 35 (2003), (750–767) 753. 25 H. ZWINGLI, Gerechtigkeit, 209f. 26 H. SCHOLL, Seelsorge, 25. Auch nach Rich besteht die Abweichung der „Radikalen“ von Zwingli darin, „daß sie nicht im rechten Sinn zu unterscheiden wissen zwischen evangelischer Forderung und bürgerlichem Gesetz, zwischen ‚göttlicher‘ und

2. Der dialektisch-dynamische Zusammenhang

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Die menschliche Gerechtigkeit beruht nach Zwingli auf dem „Gebot der Natur“,27 also dem Naturrecht, das Zwingli als Gebot der Nächstenliebe im Sinne der „goldenen Regel“, d.h. des Reziprozitätsgrundsatzes interpretiert. „Dieses Gesetz“ – so Zwingli – „macht Christus mit der Liebe süß.“28 Dieser Süßung, die gleichsam durch die göttliche Gerechtigkeit erfolgt, hat nach Zwingli die Obrigkeit zu entsprechen. Diese soll also mit ihrer menschlichen Gerechtigkeit der göttlichen Gerechtigkeit so nah wie möglich kommen. Letztere hat mithin orientierende Funktion. Es geht um das Programm einer Approximation. Die göttliche bildet den Maßstab der menschlichen Gerechtigkeit. Von daher können Zinsmissbrauch und Belastungen der Bauern29 durch überzogene Abgaben von Zwingli scharf kritisiert werden: „Die Alternative, Zins oder kein Zins, ist also falsch wie die Alternative göttliche oder menschliche Gerechtigkeit. In dieser gefallenen Welt heisst der Weg verantwortbarer Sozialethik: göttliche und menschliche Gerechtigkeit, wobei der menschlichen Gerechtigkeit durch die göttliche ständig Richtung und Tendenz angegeben werden muss.“30 Deshalb solle die göttliche Gerechtigkeit gepredigt und verkündigt werden. Mit ihr ginge auch ihre orientierende Funktion für die Obrigkeit verloren. Auch würde das Wort Gottes eingeschränkt auf einen Bereich der Innerlichkeit und damit ausgeklammert aus dem Bereich staatlichen Handelns, in dem vermeintliche Eigengesetzlichkeiten gelten: „Deshalb sind diejenigen, welche meinen, man solle das Wort Gottes nur in dem Rahmen predigen, welchen die menschliche Gerechtigkeit der Obrigkeit zulasse, nicht wirklich gläubig. Denn dergestalt würde die göttliche Gerechtigkeit verblassen, und alle Menschen würden sich mit der lahmen menschlichen Gerechtigkeit begnügen. So würde aus der ganzen Gerechtigkeit nichts anderes als eine Heuchelei.“31

‚menschlicher‘ Gerechtigkeit. Denn würden sie das tun, sie könnten nicht die göttliche Gerechtigkeit in einem direkten Sinne an die Stelle der menschlichen setzen wollen. […] Die ‚Radikalen‘ verkennen das ‚Noch-nicht‘“ (A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 76f.). 27 H. ZWINGLI, Gerechtigkeit, 180. 28 A.a.O., 181. 29 Zu den Bauern vgl. P. BLICKLE, Das göttliche Recht der Bauern und die göttliche Gerechtigkeit der Reformatoren, AKuG 68 (1986), 351–369. 30 H. SCHOLL, Seelsorge, 26. So auch A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 79. Hervorhebung im Original. 31 H. ZWINGLI, Gerechtigkeit, 183.

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V. Ethik der Erinnerung

Göttliche und menschliche Gerechtigkeit nach Huldrych Zwingli (1523)

G.G. muss gepredigt und verkündigt werden.

Göttliche Gerechtigkeit unversehrte Gerechtigkeit; vollkommene Übereinstimmung mit dem Willen Gottes Liebesgebot (Doppelgebot) Entspricht dem urchristlichen Liebesideal eines Gemeinwesens ohne Eigentum, Zins, Staatsgewalt, das durch Bergpredigt allen Christen geboten ist. Das Gesetz der göttlichen Gerechtigkeit kann niemand erfüllen, da Gott selbst die unversehrte göttliche Gerechtigkeit ist. Richtet sich auf den inneren Menschen (z.B. „Begehren“ als dessen Handlung)

Menschliche Gerechtigkeit arme, elende, lahme, „pesthafte“ Gerechtigkeit Goldene Regel Wird von der Staatsgewalt ausgeführt, die Verbrechen bestraft, ohne die Herzen beurteilen zu können; verhindert Chaos und Anarchie. Das Gesetz der m. G. muss von jedermann erfüllt werden, da es den Nächsten schützt. Auch Christen müssen Zins zahlen, Privateigentum achten. Richtet sich auf den äußeren Menschen (z.B. „Stehlen“ als dessen Handlung)

M.G. soll g.G. so nah wie möglich kommen (Maßstab, Orientierung), d.h. u.a. die Armen beschützen, den Zins begrenzen.

3. Arthur Richs Zwingli-Interpretation im Kontext seiner Sozialethik Betrachtet man Richs Interpretation der Schrift Zwinglis in zahlreichen kleineren und größeren Aufsätzen,32 so fällt auf, dass er immer der Logik eines tertium datur folgt. Anders gesagt: Rich kontextualisiert Zwingli in der Weise, dass er ihn zwischen Thomas Müntzer 32

Siehe A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 67–89; DERS., Zwingli, 2–3; DERS., Die Reformation als politisches Ereignis, Kirchenbote, Schaffhausen 1 (1980), 3–5; DERS., Göttliche und menschliche Gerechtigkeit. Reformation als religiöses und sozialpolitisches Anliegen, Entschluss. Zeitschrift für Praxis und Theologie 11 (1984), 14–18.

3. Arthur Richs Zwingli-Interpretation im Kontext seiner Sozialethik

169

(1489–1525) und Luther bzw. den Bauern und Luther als zwei Extremen positioniert. Zwinglis Position wird als eine media via33 zwischen Skylla und Charybdis präsentiert. Dieser keineswegs bequeme, billige Mittelweg34 Zwinglis ist nach Rich dadurch gekennzeichnet, dass er eine große Synthetisierungsleistung darstellt, als deren Resultat am Ende ein in sich differenzierter Zusammenhang steht: „Er [Zwingli; M.H.] hat vereinigt, was man gewöhnlich trennt, ohne die Politik im Glauben oder den Glauben in der Politik aufgehen zu lassen.“35 Während sich für die Bauern beide Größen decken und sie „die göttliche Gerechtigkeit zu einem sozialpolitischen Programm“36 stilisieren würden, bestehe bei Luther die Gefahr, sie auseinander zu reißen. Demgegenüber wählt Zwingli nach Rich einen „dritten Weg“37 bzw. „anderen Weg“.38 Im Blick auf Zwingli ist das Spektrum der Gegnerschaft im Sommer 1523 in und um Zürich – wie Ernst Saxer (*1936) geltend macht – durchaus breiter als Rich suggeriert: „Zwingli führt […] in seiner Predigt und späteren Schriften einen Mehrfrontenkampf. Er wendet sich a) gegen die katholischen Traditionalisten, die an der päpstlichen Autorität und an den katholischen Ordnungen festhalten wollten, b) gegen die sogenannten ‚Radikalen‘, die ohne Rücksicht auf die Folgen mit Berufung auf den göttlichen Willen die Abschaffung aller menschlich-gesetzlichen Ordnungen forderten, c) gegen die ‚Etablierten‘ (Rich), die zwar in Glaubensdingen der Predigt des Evangeliums zustimmten, dem Wort Gottes jedoch keine Kritik an wirtschaftlichen Ordnungen oder staatlichen Kompetenzen einräumen wollten. Zugleich verfolgt er die Absichten, d) die ihm als Pflicht erscheinende Begründung von Ordnung und Kritik aus dem Evangelium zu liefern, e) sich selbst zu rechtfertigen und f) den mächtigen Stadtstaat Bern, dessen Aristokratie der Reformation vorläufig größenteils nicht gewogen war, nicht zu vergrämen und für die Reformation als Stütze zu gewinnen.“39

Im Unterscheid zu diesem weiten Panorama wählt Rich mit der Metapher des dritten Weges bewusst eine enggeführte textstrukturelle bzw. textpragmatische Strategie. Sofern textstrukturelle Merkmale 33 34

A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 87. Vgl. a.a.O., 87f.: „Es gibt da letztlich nur den mühsamen, steinigen und anfechtungsvollen Weg der immerwährenden, bußfertigen Wandlung des Menschen als Person wie als Gesellschaft auf das Absolute hin.“ 35 A.a.O., 68. 36 A. RICH, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit, 15. 37 A. RICH, Zwingli, 2. 38 A. RICH, Reformation, 4. 39 E. SAXER, Einleitung, 157. Zu den Hintergründen der Schrift Zwinglis vgl. fernerhin: U. GÄBLER, Zwingli, 87f. Zu den „Etablierten“ vgl. A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 80.

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V. Ethik der Erinnerung

von textpragmatischen Komponenten abhängig sind, also von Verwendungssituationen, zumal Texte als intentionale kommunikative Handlungen zu verstehen sind, dürfte in Richs Fall der Kontext einer Diskussion um die „Theologie der Revolution“ Bedeutsamkeit entfalten. Rich bringt Zwinglis Modell zugleich gegen die radikalen Revolutionäre wie die „Reaktion“ der 1960er und 70er Jahre in Stellung und wagt dann auch recht unvermittelt, den direkten Gegenwartsbezug herzustellen: „[W]en Zwingli heute zu den eigentlichen Aufrührern rechnen müßte [–] [es] sind diejenigen, die Macht haben, ihre Macht jedoch im eigenen, sei es persönlichen oder klassenmäßigen Interesse mißbrauchen, so andere unterdrücken, ausnutzen und ihren Zielen gefügig machen. Dieser Aufruhr von oben führt zum Aufruhr von unten als dessen unvermeidliche Reaktion.“40 Wenn man so will, entfaltet Rich Zwinglis Modell als „[e]ine konservative Gedankenführung mit dauernder progressiver Sprengkraft“.41 Mit der dialektischen Verhältnisbestimmung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit ist also nicht nur der Leitgedanke Zwinglis, sondern auch der Rich’schen Sozialethik formuliert. Im Blick auf die „Revolutionsdebatte“ mag man diese Position als „revisionistisch“ oder „reformistisch“ etikettieren. Rich selbst spricht von einer „konstruktiven Revolution“, die zwischen „einer wirklichkeitsfremden Utopie und einer zukunftslosen Reaktion“42 lokalisiert ist: „Auf ihn [Zwingli; M.H.] heute hören heißt, statt über Revolutionäre und Rebellen zu lamentieren, jene andere, konstruktive Revolution in Gang setzen, die Gesellschaft und Welt nicht zerstören, aber von innen her strukturell umbauen will, damit es, im Dienst eines mitmenschlichen Daseins, zu einer gerechteren Verteilung der Lebenschancen für die einzelnen Menschen wie für die verschiedenen Gesellschaftsgruppen und Volksgemeinschaften kommen kann.“43

Richs Abgrenzung gegenüber Luther ist also Implikat seiner textpragmatischen Strategie des tertium datur. So betont Rich, dass Zwingli zwar ebenso wie Luther die im mittelalterlichen Rechtsdenken übliche Unterordnung des weltlichen unter das geistliche Regiment bestreitet, dass Zwingli aber anders als Luther nicht an einer 40

A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 78. Vgl. DERS., Göttliche und menschliche Gerechtigkeit, 16f. 41 G.W. LOCHER, Politik, 91. Ähnlich W.P. STEPHENS, Zwingli, 176: „Zwingli [erscheint] radikal, indem er die göttliche Gerechtigkeit als Massstab betrachtet, an dem alles gemessen wird, Soziales wie Persönliches. […] Doch in seinem politischen Verhalten schwingt die menschliche Gerechtigkeit obenauf, nicht die göttliche, was bedeutet, dass Zwingli in der Praxis konservativer ist als seine radikalen Gegner.“ 42 A. RICH, Göttliche und menschliche Gerechtigkeit, 16. 43 A. RICH, Zwingli, 3.

3. Arthur Richs Zwingli-Interpretation im Kontext seiner Sozialethik

171

klaren Grenzziehung zwischen politia und ecclesia interessiert ist, ja nicht sein kann, da das Reich Gottes nicht nur ein inwendiges, unsichtbares, sondern auch ein äußerliches Reich sei. Rich44 zitiert aus Zwinglis Brief vom 4. Mai 1528, in dem er seinem von Luthers Konzentration auf die Innerlichkeit durchaus beeindruckten Freund Ambrosius Blarer (1492–1564) in Konstanz erklärt, dass das Reich Gottes auch äußerlich sei – „regnum Christi est etiam externum“.45 Dieses betonte etiam meint in der Tat „eine Korrektur an einer rein statisch verstandenen und gehandhabten Zwei-Reiche-Lehre im Einflussbereich Luthers. Das etiam externum bei Zwingli meint aber nicht eine Veräusserlichung des Evangeliums, sondern sagt, dass Christi Reich nicht nur in den Herzen, sondern auch in der Welt seine Wirkung haben will.“46 Rich betont, den Verlauf seines Mittelweges präzisierend, „wie sehr das im geschehenden Wort schon jetzt wirkende Reich Gottes von Zwingli als eine die Welt verändernde Macht verstanden ist. Deshalb konnte er sich mit der Lehre von den beiden Reichen im Sinn des deutschen Reformators nicht befreunden. Und insofern steht er in der Kontroverse zwischen Luther und den aufrührerischen Bauern diesen näher als jenem.“47 Zwingli entwirft, wie Rich hervorhebt, kontrastierend zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre,48 ein neues, eigenständiges Modell eines in sich 44 45

Vgl. A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 71. Z IX,454,13f. Vgl. dazu die Übersetzung und Kommentierung des Briefes durch H.R. LAVATER, Regnum Christi etiam externum – Huldrych Zwinglis Brief vom 4. Mai 1528 an Ambrosius Blarer in Konstanz, in: Zwingliana 15 (1981), 338–381. 46 H. SCHOLL, Seelsorge, 23. 47 A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 71. 48 Gäbler würdigt Richs Zwingli-Interpretation wie folgt: „Meinte man bis in die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts hinein, hier den Politiker Zwingli am Werk sehen zu können, der sich den sozialen Verhältnissen gegenüber konservativ verhält (Leonhard von Muralt), setzt sich langsam die theologische Würdigung der Schrift durch. Sie ist vor allem durch Arthur Rich vorangetrieben worden. Danach macht Zwingli in Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit auf die sozialethische Verantwortung des Christen beziehungsweise der Kirche aufmerksam.“ U. GÄBLER, Zwingli, 72. Hervorhebung im Original. Vgl. auch DERS., Huldrych Zwingli im 20. Jahrhundert. Forschungsbericht und annotierte Bibliographie 1897–1972, Zürich 1975, 97: „Entschieden fördert Arthur Rich die Erhellung von Zwinglis Auffassung von der Gemeinschaft. In historisch wie systematisch überzeugender Weise wird das sozialpolitische Denken von der Lehre vom Wort Gottes her interpretiert. Diese Beweisführung könnte vielleicht dadurch noch erhärtet werden, daß die Unterschiede zu Luther, die Rich zu recht markiert, obwohl er die Zwei-Reiche-Lehre zu statisch interpretieren dürfte, eben in dieser Auffassung vom Worte Gottes gesucht würden. In der Wortlehre sind die Differenzen zwischen den beiden allerdings größer, als Rich anzunehmen scheint.“ In der Tat arbeitet Rich die Zentralität des Wortes Gottes heraus (vgl. RICH, Sozialpolitischer Denker, bes. 70). Über diese Zentralität besteht inzwischen in der Zwingli-Forschung ein Konsens. Vgl. auch G.W. LOCHER, Politik, 91: „Gottes Wort setzt den Massstab. Nur Gottes Wort erlöst und verwandelt. Die

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V. Ethik der Erinnerung

differenzierten kirchlich-politischen Zusammenhangs, in dem kirchliche und politische Ordnung einander nicht als eigengesetzliche Bereiche gegenübertreten, sondern – auch wenn sie sich voneinander unterscheiden – in gegenseitiger Zuordnung auf das göttliche Gebot bezogen bleiben.49 Rich hält hinsichtlich des Verhältnisses von Zwinglis Modell zur Zwei-Reiche-Lehre fest: „Er denkt nicht lutherisch, weil seine theologischen Voraussetzungen in eine andere Richtung weisen als die ‚Lehre von den beiden Reichen‘. Absolutes und Relatives, göttliches und weltliches Reich sind zwar auch für ihn zu unterscheiden, aber nicht in einer Weise, die die Welt des Staates und der Gesellschaft herauslösen würde aus dem Forderungsbereich des Evangeliums von der göttlichen Gerechtigkeit. Diese Forderung bleibt bestehen, nicht nur an den Menschen als einzelne Person, sondern auch an den Menschen als Staat und Gesellschaft. Das drückt sich darin aus, daß die menschliche Gerechtigkeit, die das politisch-gesellschaftliche Leben regelt, nicht ihre eigenen, sei es natur- oder vernunftrechtlich begründete Normen hat, noch auch positivistisch ihre eigene Norm sein kann. Die menschliche Gerechtigkeit hat vielmehr an der göttlichen in der heiligen Schrift enthüllten Gerechtigkeit ihre Norm, oder aber sie ist nicht wirklich menschliche Gerechtigkeit. Dergestalt bleibt das Weltreich auf das Gottesreich, die menschliche Gerechtigkeit auf die göttliche bezogen.“50

Deshalb hat die christliche Gemeinde nach Rich auch über das weltliche Leben und Zusammenleben der Menschen zu wachen, wie auch umgekehrt die Obrigkeit in ihrer gesetzgeberischen und richterlichen Funktion danach trachten soll, der göttlichen Gerechtigkeit „möglichst gleichförmig“51 zu werden. In sozialethischer Hinsicht bedeutet das aber keineswegs eine Geringschätzung des Relativen und Vorletzten, mithin der menschlichen Gerechtigkeit. An die Stelle der absoluten Kritik des Relativen wie bei den Bauern tritt bei Zwingli die relative Kritik am Absoluten. Nochmals Rich: „Sozialpolitisch hat dies jetzt zur Folge, daß bei Zwingli an die Stelle einer absoluten Kritik des Relativen bzw. der gesellschaftlichen Rechtsverhältnisse, wie er sie vorfand, eine relative Kritik der Gesellschaft und ihrer Einrichtungen im Horizont des Absoluten tritt. Das verbindet sich mit einer Relativierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse. Anders gesagt: Der Reformator läßt Staat und Gesellschaft mit ihrer bloß menschlichen Gerechtigkeit gelten; aber nur relativ, nicht absolut. Absolut gilt allein die göttliche Gerechtigkeit.“52 Rechtsordnung kann und soll nur den Auswuchs der Sünde zum Untermenschentum eindämmen.“ Sowie H. SCHOLL, Seelsorge, 22. 49 Ähnlich E. CAMPI, Zwingli, 1953. 50 A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 82f. 51 A.a.O., 84. Ähnlich E. CAMPI, Zwingli, 1953. 52 A. RICH, Sozialpolitischer Denker, 83.

4. Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis

173

4. Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis auf Arthur Richs „Wirtschaftsethik“ Der „dritte Weg“ avanciert zu einer Leitmetapher Richs, die seinen eigenen wirtschaftsethischen Standpunkt trefflich umschreibt. Zwingli wird zu einer Spiegelfigur Richs. Er hat nicht einfach nur maieutische, sondern präziser noch: katalysatorische Funktion, und zwar im wörtlichen Sinne des griechischen katalysis: Zwinglis Verhältnisbestimmung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit löst den unausgeglichenen Konflikt zwischen den Radikalen und den Konservativen, Revolution und Reaktion, Elitarismus und Egalitarismus, Kapitalismus und Sozialismus, freier Marktwirtschaft und Zentralverwaltungswirtschaft, zugleich aber auch zwischen Richs wirtschaftswissenschaftlicher Expertise und seinem religiös-sozialistischem Erbe als Schüler von Leonhard Ragaz (1868–1945) auf. In welch starkem Maße Zwinglis „Entdeckung der sozialethischen Verantwortung des Christen“53 auch Richs Entdeckung ist, wird im ersten Band seiner „Wirtschaftsethik“ deutlich. Rich unternimmt dort die Suche nach dem „Menschengerechten“, womit er die sozialethische Aufgabe umschreibt, der auch die Wirtschaftsethik unterworfen ist. Rich entwickelt drei Ebenen der sozialethischen Argumentation.54 Die erste Ebene ist die „der fundamentalen Erfahrungsgewißheit vom Humanen“.55 Rich benennt diese mit der Trias aus „Glaube, Hoffnung, Liebe“ (1Kor 13,13) als „Grundkategorien humaner Existenz“.56 Es geht Rich dabei nicht um einen spezifisch christlichen, sondern einen „allgemeinmenschlichen Erfahrungshorizont, […] also keineswegs um esoterische Worte, die in ihrer Aussagesubstanz nur für den Christen vernehmbar wären. Vielmehr spricht sich in ihnen etwas aus, was mögliche Erfahrung eines jeden Menschen ist. Man kann mithin auch außerhalb der christlichen Erfahrungsgewißheit dahin gelangen, in Glauben, Hoffnung, Liebe unabdingliche Existentialien menschlicher Existenz zu sehen“.57

Korreliert man Richs Ausführungen zur ersten Ebene mit Zwinglis Modell von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, so wird man 53 54

A.a.O., 88. Hans-Balz Peter weist darauf hin, dass Rich erstmalig 1960 in seinem Aufsatz: A. RICH, Die institutionelle Ordnung der Gesellschaft als theologisches Problem, ZEE 3 (1960), 233–244, eine „Dreistufigkeit der Normativität“ herausgearbeitet hat. H.-B. PETER, Arthur Rich (1910–1992), in: W. LIENEMANN / F. MATHWIG (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, (149– 177) 162. 55 A. RICH, Wirtschaftsethik, 170. 56 Ebd. 57 Ebd.

174

V. Ethik der Erinnerung

zunächst feststellen können, dass Rich zwar beansprucht, auf dieser Ebene bereits auf der Suche nach dem Menschengerechten zu sein, dass aber die göttliche Gerechtigkeit die eigentliche Dominante auf dieser Ebene ist. Im Sinne der göttlichen Gerechtigkeit vollzieht nämlich Rich in theologischer Perspektive die Bestimmung der begrifflichen Trias „Glaube, Hoffnung, Liebe“, indem er den Glauben als „Erfahrung von Auferstehung“,58 die Hoffnung als Warten auf den adventus, „das Kommen des Reiches dessen, der im Gekreuzigten und Auferstandenen gehandelt hat“,59 und die Liebe im Sinne der Agape-Liebe als „Widerfahrnis, Gabe Gottes, die dem Glaubenden und Hoffenden zum treibenden Gebot wird“,60 bestimmt. Diese dezidiert christliche Bestimmung reibt sich freilich mit der Behauptung des allgemeinmenschlichen Erfahrungshorizonts im Sinne von Existentialien: „Es wird nicht genügend geklärt, wie sich allgemeinmenschliches Erfahrungswissen und theologisches Verständnis zueinander verhalten.“61 Hinsichtlich der Interferenz zwischen beiden findet eher ein Kurzschluss statt, als dass sie einer klaren Verhältnisbestimmung zugeführt wird. Insbesondere von Zwinglis Vorgehen in seiner Schrift her stellt sich die Frage, ob Rich nicht vorschnell zu einer Vermittlungslogik von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit greift. „Vorschnell“ meint hier: noch bevor das wirklich expliziert wurde, was die göttliche Gerechtigkeit eigentlich ausmacht. Wenn aber die göttliche Gerechtigkeit als solche (und nicht bereits vermittelt mit der menschlichen Gerechtigkeit) nicht expliziert wird, kann sie auch ihre orientierende und normierende Kraft nicht entfalten. Deshalb insistiert Zwingli, wie wir gesehen haben, so nachdrücklich auf Predigt und Verkündigung der göttlichen Gerechtigkeit. Genau dies war Zwinglis Vorgehen und Anliegen, von dem Rich in der Entfaltung seiner „Wirtschaftsethik“ stärker hätte lernen können. Erst in einem zweiten Schritt wären beide, göttliche und menschliche Gerechtigkeit, aufeinander zu beziehen. Rich aber scheint mir den zweiten vor dem ersten Schritt zu machen, setzt also mithin zu früh beim „Menschengerechten“ ein. Zwingli zufolge ist nämlich nicht nur das „Sachgerechte“ am „Menschengerechten“ zu prüfen,62 wie Rich festhält, sondern auch das „Menschengerechte“ an der „göttlichen Gerechtigkeit“. Auf der Grundlage des Menschengerechten, das Rich als Humanität aus Glaube, Hoffnung, Liebe versteht, mithin als bestimmte „Erfah58 59 60 61 62

A.a.O., 121. A.a.O., 124. A.a.O., 125. J. WIEBERING, Rez. Arthur Rich, Wirtschaftsethik, ThLZ 111 (1986), (471–472) 472. Vgl. A. RICH, Wirtschaftsethik, 81.

4. Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis

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rung menschlicher Existenz, wie sie sich im Christuszeugnis des Neuen Testaments authentisch widerspiegelt“63, führt nun Rich aus, dass diesen fundamentalen Existentialien bestimmte Kriterien eignen, „die in ihrem Zusammenspiel normative Anhaltspunkte für das in der gesellschaftlichen Gerechtigkeit zu konkretisierende Menschengerechte ergeben“.64 Rich benennt sieben Kriterien für das Menschengerechte, bleibt aber bezüglich der Kriterienanzahl bewusst vage,65 da dem Wandel der geschichtlichen Welt mittels dynamischer Kriterien Rechnung getragen werden müsse. Als Kriterien für das „Menschengerechte“ benennt Rich:66 1. Geschöpflichkeit (betrifft das menschliche Selbstverständnis in der vertikalen Perspektive, und zwar die ontologische Differenz und personale Korrespondenz von Gott und Mensch als die beiden „Konstituentien der Humanität“67), 2. kritische Distanz (betrifft das menschliche Verständnis der Welt, von der nicht das Gute zu erwarten ist), 3. relative Rezeption (betrifft ebenfalls das Verständnis der Welt, in der das relativ Bessere erstrebt werden soll), 4. Relationalität (dies besagt: die Relativierung der eigenen Erkenntnisperspektive verhindert die Verabsolutierung bestimmter Werte), 5. Mitmenschlichkeit inklusive Selbstachtung (betrifft das menschliche Selbstverständnis in sozialer und individueller Perspektive), 6. Mitgeschöpflichkeit (meint die Ökologizität und betrifft das Verhältnis zur Natur), 7. Partizipation (meint Teilhabe und Teilgabe in sozialstruktureller Hinsicht). 63 64 65

A.a.O., 172. Ebd. Besonnen und umsichtig urteilt T. JÄHNICHEN, Wirtschaftsethik. Konstellationen – Verantwortungsebenen – Handlungsfelder, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 3, Stuttgart 2008, 95: „Was Rich dennoch nur andeutungsweise leistet, ist eine Priorisierung der entwickelten Kriterien. Es wird weder zwischen den formalen und den materialen Kriterien eine Zuordnung hergestellt, noch werden Rangordnungen oder mögliche Konflikte zwischen den Kriterien, etwa zwischen dem der Mitgeschöpflichkeit und dem der Partizipation thematisiert. Dadurch bleibt die Kriteriologie Richs offen und in gewisser Weise vage, was jedoch auf der anderen Seite ermöglicht, differenziert auf wandelnde Situationen einzugehen, so dass die Kennzeichnung dieses Ansatzes als ‚kriteriale Situationsethik‘ treffend ist.“ Diese Kennzeichnung stammt von TH. STROHM, Arthur Richs Bedeutung für die Wirtschafts- und Sozialethik. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Arthur Rich, ZEE 34 (1990), (192–197) 193. 66 Vgl. zu den einzelnen Kriterien A. RICH, Wirtschaftsethik, 173–200 sowie die luzide Zusammenfassung bei H.-B. PETER, Rich, 167f. Fernerhin: S. EDEL, Gemeinwohl in der wirtschaftsethischen Konzeption von Arthur Rich, in: J. FETZER / J. GERLACH (Hg.), Gemeinwohl – mehr als gut gemeint? Klärungen und Anstöße, Gütersloh 1998, (70–77) 71ff. Susanne Edel hat eine gründliche Untersuchung zu Richs „Wirtschaftsethik“ vorgelegt (vgl. S. EDEL, Wirtschaftsethik im Dialog. Der Beitrag Arthur Richs zur Verständigung zwischen Theologie und Ökonomik, AzTh 88, Stuttgart 1998). Sie widmet sich auch kurz der Zwingli-Interpretation Richs (vgl. a.a.O., 175–181). 67 A. RICH, Wirtschaftsethik, 175.

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V. Ethik der Erinnerung

Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Kriterien bemerkt Rich: Sie „ermöglichen keinen operationablen Begriff, da die hoffende Liebe des Glaubens und die gesellschaftliche Gerechtigkeit nie kongruent sind, weisen aber auf die (mögliche) Bedeutung der christlich geprägten Grundaxiome für eine allgemeine Ethik“68 hin. Die „ethischen Kriterien sind keinesfalls Endpunkt, sondern Ausgangspunkt wirtschaftsethischer Reflexion, heuristische Prinzipien für die Suche danach, was konkreten Menschen in konkreten Situationen gerecht wird“.69 Auf der dritten Ebene gelangt Rich zu einem vorläufigen Resultat, nämlich zu Handlungsorientierungen, die im Rich’schen Sprachgebrauch „Maximen“ heißen. Diese dritte Ebene repräsentiert die eigentliche Vermittlungsebene. Maximen sind bei Rich operationale, kritische Normen. „Mittlere Axiome“70 nennt Rich sie auch. Die Maximen vermitteln „das zu sollende Menschengerechte (Geltung) mit dem Situations- und Sachgerechten (Faktizität) derart […], dass sie ethische Orientierung und Urteile in konkreten Sachfragen ermöglichen. Maximen im Sinne von Rich (anders als bei I. Kant) sind somit gleichzeitig normativ-präskriptiv und explikativ verortet, aber inhaltlich nicht (allein) theologisch bestimmt, sondern durch allgemeine, vernunftgemässe Argumentation und Einsicht. Die Maximen, denen nur eine bedingte und relative Geltung zukommen kann, sind nicht aus den Kriterien deduzierbar, sondern auf dem Weg eines iterativen Orientierungsprozesses zu erarbeiten“.71

Gemeint ist mit diesem Orientierungsprozess ein Urteilsfindungsverfahren in fünf Schritten,72 das 1. den Problemaufweis, 2. die Sich68

W.E. MÜLLER, Argumentationsmodelle der Ethik. Positionen philosophischer, katholischer und evangelischer Ethik, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 1, Stuttgart 2003, 37. 69 S. EDEL, Gemeinwohl, 73. 70 Vgl. A. RICH, Wirtschaftsethik, 222–224. Fernerhin: H.-J. KOSMAHL, Ethik in Ökumene und Mission. Das Problem der „Mittleren Axiome“ bei J.H. Oldham und in der christlichen Sozialethik, FSÖTh 23, Göttingen 1970; F. MATHWIG, Konfliktfall Bibel – Wie kommt die Bibel in die ethische Praxis?, in: M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Wie kommt die Bibel in die Ethik? Beiträge zu einer Grundfrage theologischer Ethik, Zürich 2011, (285–322) 295–299; D. RITSCHL, Kleines Plädoyer für J. H. Oldhams „Mittlere Axiome“. Zum Ausblenden der Letztbegründung ethischer Sätze, in: W. SCHOBERTH / I. SCHOBERTH (Hg.), Kirche – Ethik – Öffentlichkeit. Christliche Ethik in der Herausforderung. FS Hans G. Ulrich zum 60. Geburtstag, EThD 5, Münster 2002, 183–189 (= D. RITSCHL, Bildersprache und Argumente. Theologische Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 2008, 321–328); J.H. YODER, Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, ZEE 6 (1962), 166–181; DERS., The Christian Witness to the State, Eugene 1997, 33; 35–44; 71–73. 71 H.-B. PETER, Rich, 163f. 72 Vgl. A. RICH, Wirtschaftsethik, 224–228.

4. Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis

177

tung bestehender oder postulierter Gestaltungskonzepte, 3. die normenkritischen Klärungen, 4. die Bestimmung von Richtpunkten und 5. die kritische Prüfung umfasst. Rich stützt den Geltungsanspruch der Maximen als Vorletztes und Relatives auf Zwinglis Dialektik von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit. Durch ein Maßnehmen am Absoluten, d.h. der göttlichen Gerechtigkeit, ist das Relative, Vorletzte, sprich: sind die Maximen, veränderbar: „Geltende Ordnungen, die in ihren Auswirkungen gegen das Menschengerechte verstoßen, das sich an der absoluten Forderung der Liebe orientiert, sind derart zu verändern, dass sie unter den gegebenen Bedingungen dem Anspruch der göttlichen Gerechtigkeit so weit wie möglich entsprechen.“73 Durch die Kriterien des Menschengerechten (Ebene zwei) ist nach Rich „normativ zur Geltung [zu] bringen, was Gott im Kommen seines Reiches will“.74 Doch die Orientierungskraft des Reich-Gottes-Gedankens hebt nach Rich nicht die Reflexion auf das Sachgemäße auf und dispensiert auch nicht die ökonomische Rationalität. Denn alle Änderungen, die am Reich Gottes Maß nehmen, verbleiben im Raum des Relativen, d.h. der menschlichen Gerechtigkeit. Hier sind die Sozialethik und mit ihr die Wirtschaftsethik angesiedelt: „Als christliche Sozialethik will diese eschatologisch ausgerichtete Ethik keine politisch erzwingbaren Ziele verwirklichen, denn sie erwartet die Neuschöpfung von Gott. In dieser Welt des Relativen oder Vorletzten kann es keine absoluten Lösungen geben, da das Absolute, die von Gott herkommende Wirklichkeit, außerhalb menschlicher Möglichkeiten steht.“75

73 74 75

A.a.O., 230. W.E. MÜLLER, Argumentationsmodelle, 238. Ebd.

178

V. Ethik der Erinnerung

5. Fazit: Ethik als Reich-Gottes-Erinnerung Richs Ethik ist – wie wir gesehen haben – durch einen „existentialeschatologischen Ansatz“76 gekennzeichnet. Dem Reich-Gottes-Gedanken kommt entscheidende Valenz zu. Er versucht ihm anhand der Zwingli’schen Leitdifferenz von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit Rechnung zu tragen. Ob Rich dies letztlich gelingt, muss hier nicht entschieden werden. Ich selbst habe gewisse Zweifel benannt. Nach Theodor Strohm (*1933) hat Rich die sozialethische Kraft von Zwinglis reformatorischer Theologie „wie keiner vor ihm“77 herausgearbeitet. Man wird Rich konzedieren müssen, dass er Zwinglis theologische Argumentationsbasis niemals gänzlich aus den Augen verliert, mithin eine am Absoluten orientierte Ethik für die Welt des Relativen entwickelt, die das zur Geltung zu bringen bemüht ist, was Gott im Kommen seines Reiches will. Der Anspruch des Absoluten, „das Gott im 76 77

A. RICH, Wirtschaftsethik, 162. TH. STROHM, Bedeutung, 193.

5. Fazit: Ethik als Reich-Gottes-Erinnerung

179

Kommen seines Reiches will, [bleibt; M.H.] als gesellschaftliches Potential stets gegenwärtig“.78 Jedoch nicht so, dass die Realisierung des Reiches Gottes als Absolutes auf Erden beansprucht oder auch nur intendiert würde. Es geht Rich um eine Erinnerung an das Reich Gottes. Eine solche Ethik der Erinnerung vollzieht sich nach Rich im Modus der Realisierung menschlicher statt göttlicher Gerechtigkeit, die gleichwohl am Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit Maß nimmt. Im Sinne von Barmen V, wonach die Kirche den Auftrag hat, an Gottes Reich, Gebot und Gerechtigkeit zu erinnern, hätte Richs Erinnerung an das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit insbesondere auf Ebene eins präziser bzw. unvermittelter ausfallen können. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Richs wirtschaftsethischem Entwurf insgesamt um eine luzide Sozialethik der Erinnerung an Gottes Reich. Bei Lichte betrachtet, veranschaulicht sie: Rich hat nicht zuletzt von Zwingli gelernt, dass „gesellschaftliche Gestaltung zur Verantwortung des Glaubens gehör[t]“.79 Rich selbst bringt seine Schülerschaft zum Ausdruck, wenn er betont: Für die eschatologisch ausgerichtete Humanität aus Glauben, Hoffnung und Liebe gilt, dass „nie das Relative, das Unvollkommene, also die bloß menschliche Gerechtigkeit das Letzte [ist; M.H.], sondern allein das Reich Gottes. Sie kann darum nicht anders als im Relativen auf die göttliche Gerechtigkeit aus sein. Und in diesem Aussein, das sich in der kritischen Distanz zu allem Bestehenden bekunden muß, wird sie ein hoffnungsmächtiges Potential entwickeln, das inständig über den Status quo hinaus nach einer besseren menschlichen Gerechtigkeit trachtet, freilich immer darum wissend, daß auch die allenfalls bessere menschliche Gerechtigkeit am absoluten Maßstab der göttlichen gemessen, nie bestehen kann. Allein, solche Humanität wird diesen eschatologischen Vorbehalt nicht dazu mißbrauchen, Besseres, nur weil auch es unvollkommen ist, politisch zu disqualifizieren. Sie wird es ganz im Gegenteil kraft des Kriteriums der relativen Rezeption als Relatives politisch am Relativen messen und es gelten lassen, falls es verhältnismäßig einen Gewinn in Richtung auf mehr Menschlichkeit in der Gesellschaft zu erbringen vermag. So hat es auch Zwingli in seiner Zeit gehalten; und er ist darin auch noch heute vorbildlich.“80

78 79 80

A. RICH, Wirtschaftsethik, 166. G.W. LOCHER, Politik, 102. A. RICH, Wirtschaftsethik, 242.

VI. Ein „Vaterschaftstest“ Die Weber-These und der sog. „urchristliche Kommunismus“ bei Johannes Calvin Für Hans Scholl in Dankbarkeit

1. Einleitung: Calvin, Calvinismus und die sog. Weber-These Zu den wohl zugleich wirkmächtigsten und abenteuerlichsten Thesen der jüngeren Geistesgeschichte gehört der Max Weber zugeschriebene Befund,1 wonach der „Calvinismus“ durch seine innerweltliche Askese2 Vater des modernen Kapitalismus ist. „In das Bildungsbewußtsein des neuzeitlichen Menschen ist die Zusammengehörigkeit von Calvinismus und bürgerlich-kommerziell-kapitalistischer Gesinnung im Sinne einer innerlich-sachlichen Verbindung ebenso als feststehendes Faktum aufgenommen worden wie die entsprechende Zusammengehörigkeit von Luthertum und Fürstengesinnung.“3 Weber hat in „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“4 1

W. LIENEMANN (Calvin, Calvinismus, Puritanismus – und Max Weber, in: M. HOFHEINZ u.a. [Hg.], Calvins Erbe. Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, [308–337] 308) weist darauf hin, dass es die WeberThese nie gegeben hat und sich die Suche nach ihr gewissermaßen als Suche nach einem „Einhorn“ darstellt. 2 Vgl. W. SCHLUCHTERS (Religiöse Wurzeln frühkapitalistischer Arbeitsethik. Webers These in der Kritik, in: E. CAMPI u.a. [Hg.], Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, Zürcher Hochschulforum 46, Zürich 2012, [195–219] 208) Vergleich von Typen christlicher Askese. 3 M. GEIGER, Calvin, Calvinismus, Kapitalismus, in: DERS. (Hg.), Gottesreich und Menschenreich. FS für E. Staehelin, Basel / Stuttgart 1969, (231–286) 257. 4 M. WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus / Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus. Schriften 1904–1920, hg. von W. SCHLUCHTER in Zusammenarbeit mit U. BUBE, Max Weber Gesamtausgabe (= MWG) I/18, Tübingen 2016. Aus der Fülle der Sekundärliteratur vgl. H. LÜTHY, Variationen über ein Thema von Max Weber: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: DERS., In Gegenwart und Geschichte. Historische Essays, Köln/Berlin 1967, 39–160; M. GEIGER, Calvin, Calvinismus, Kapitalismus, 231–286; A.E. MCGRATH, A Life of John Calvin. A Study of the Shaping of Western Culture, Oxford/Cambridge 1990, 219–254; D. SCHELLONG, Calvinismus und Kapitalismus. Anmerkungen zur Prädestinationslehre Calvins, in: H. SCHOLL (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, 74–101; DERS., Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“?, Paderborner Universitätsreden 47, Paderborn 1995; H. LEHMANN, Max Webers „Protestantische Ethik“. Beiträge aus der Sicht eines Historikers, Göttingen 1996; U.H.J. KÖRTNER, Reformiert und ökumenisch. Brennpunkte reformierter Theologie in Geschichte und Gegenwart, STS 7, Innsbruck/Wien 1998,

1. Einleitung: Calvin, Calvinismus und die sog. Weber-These

181

(1904/05) „einen geradezu tollkühnen wissenschaftlichen Versuch“5 der Erklärung für dessen Entstehung vorgelegt, der seitdem die Gemüter bewegt.6 Zur Wirkungsgeschichte der Weber zugeschriebenen These gehört, dass der Calvinismus rasch mit Calvin identifiziert wurde, d.h. Calvin anstelle des Calvinismus sehr schnell zum „Vater des modernen Kapitalismus“ avancierte. Weber selbst weist indes ausdrücklich darauf hin, „daß wir hier [in seiner Studie; M.H.] nicht die persönlichen Ansichten Calvins, sondern den Calvinismus betrachten, und auch diesen in derjenigen Gestalt, zu welcher er sich Ende des 16. und im 17. Jahrhundert in den großen Gebieten seines beherrschenden Einflusses, die zugleich Träger kapitalistischer Kultur waren, entwickelt hat“.7 Man mag diese Bemerkung Webers als „rein salvatorische Formel“8 betrachten, da Weber sich durchaus, wenn auch „nicht so sehr“9 auf Calvin bezieht. Ein Problembewusstsein dafür, dass Calvin und Calvinismus nicht einfach über einen Kamm zu scheren sind, war bei Weber freilich vorhanden: „Calvinismus [ist] mit der Stellungnahme Calvins selbst nicht identisch.“10

80–97; H.H. ESSER, Die Aktualität der Sozialethik, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, 421–443; E. JÜNGEL, Gewinn im Himmel und auf Erden. Theologische Bemerkungen zum Streben nach Gewinn, in: DERS., Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit, Theologische Erörterung IV, Tübingen 2000, 231–251; U.H.J. KÖRTNER, Calvinismus und Kapitalismus, in: M.E. HIRZEL / M. SALLMANN (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag, Zürich 2008, 201–217; CHR. LINK, Calvin – Vater der Moderne? Zur Ethik Calvins, in: DERS., Prädestination und Erwählung. CalvinStudien, Neukirchen-Vluyn 2009, 261–282; LIENEMANN, Calvin, Calvinismus, Puritanismus – und Max Weber, 308–337; SCHLUCHTER, Religiöse Wurzeln frühkapitalistischer Arbeitsethik, 195–219. 5 H. LEHMANN, Die Weber-These im 20. Jahrhundert, in: A. REISS / S. WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes A Lasco Bibliothek Emden, Dresden 2009, (378–383) 378. 6 Webers Schrift, „welche die Kulturbedeutung der Religion im Prozess der Herausbildung der okzidentalen Rationalität und deren Konsequenzen für wirtschaftliches Handeln analysiert“, bildet „[d]as klassische Beispiel einer deskriptiven wirtschaftsethischen Analyse“. So T. JÄHNICHEN, Wirtschaftsethik. Konstellationen – Verantwortungsebenen – Handlungsfelder, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 3, Stuttgart 2008, 17. 7 WEBER, Protestantische Ethik, 267. Dort z.T. kursiv. 8 LIENEMANN, Calvin, Calvinismus, Puritanismus – und Max Weber, 327. 9 KÖRTNER, Calvinismus und Kapitalismus, 206. 10 M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von J. WINCKELMANN, Tübingen 51972, 718.

182

VI. Ein „Vaterschaftstest“

Insofern stellt der folgende Beitrag, der sich Calvin selbst zuwendet, durchaus einen Beitrag zur Diskussion der sog. Weber-These dar. Freilich handelt es sich eher um einen „indirekten“ Beitrag, und zwar aus einem mehrfachen Grund: zum einen eben aufgrund der eher indirekten Bezugnahme Webers auf Calvin, zum andern aber auch, weil die „Überprüfung“ der Weberʼschen These methodisch eher indirekt erfolgt. Diese Bemerkung bedarf der Erläuterung. Die entfaltete Untersuchung basiert auf folgender Hypothese: Wenn Calvin tatsächlich der „Vater des modernen Kapitalismus“ ist,11 dann muss sich dies auch in seinem Umgang mit den Vertretern eines gewissermaßen vormodernen Antikapitalismus widerspiegeln –, und zwar in Gestalt einer Ablehnung. Als solche antikapitalistischen Vertreter wurden in der Christentumsgeschichte vielfach die ersten Christen der sog. „Jerusalemer Urgemeinde“ identifiziert, die mit ihrer Praxis von Gütergemeinschaft einen „christlichen Urkommunismus“12 vertreten hätten. Allein schon dieser Verdacht wirkte provozierend. Versuche einer Nachahmung hat es durchaus immer wieder gegeben.13 Allerdings ist die Christentumsgeschichte auf das Ganze hin betrachtet „voll von Beispielen, die beredt aufzuzeigen versucht[en], dass diese Praxis der Urgemeinschaft als singulär und nur unter den Bedingungen einer Hochspannung eschatologischer Erwartung als plausibel zu betrachten ist“.14

11

Im Experiment tun wir gewissermaßen in bewusst anachronistischer Weise so, als wäre Calvin Kapitalist bzw. Wegbereiter des Kapitalismus. 12 Nach M. LEUTZSCH (Erinnerung an die Gütergemeinschaft. Über Sozialismus und Bibel, in: R. FABER [Hg.], Sozialismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg 1994, [77–94] 78) hat sich seit Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts die Anwendung des Begriffs „Kommunismus“ auf die urchristliche Gütergemeinschaft eingestellt. Zum urchristlichen Kommunismus und seiner systematisch-theologischen Rezeption vgl. H.-J. KRAUS, Aktualität des „urchristlichen Kommunismus“?, in: H.-G. GEYER (Hg.), Freispruch und Freiheit. Theologische Aufsätze für Walter Kreck zum 65. Geburtstag, München 1973, 306–327; J. MOLTMANN, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, 178–180; M. VOLF, Von der Ausgrenzung zur Umarmung: Versöhnendes Handeln als Ausdruck christlicher Identität, Marburg 2012, 302–309. 13 Vgl. H.-J. GOERTZ (Hg.), Alles gehört allen. Das Experiment Gütergemeinschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, Beck’sche Schwarze Reihe 289, München 1984. Speziell zu den sog. „Bruderhöfen“ M. HOFHEINZ, „Franziskus in Kniebundhosen“. Der christliche Pazifismus Eberhard Arnolds als Tatzeugnis gemeinsamen Lebens, in: DERS. / F. VAN OORSCHOT (Hg.), Christlich-theologischer Pazifismus im 20. Jahrhundert, Studien zur Friedensethik 56, Münster / Baden-Baden 2016, 67–92. 14 T. JÄHNICHEN, „Kein Auskommen, keine Rücklagen?“ – Anfragen an das „Armutsideal“ der Jesusbewegung, in: K. SCHIFFNER u.a. (Hg.), Fragen wider die Antworten. FS Jürgen Ebach, Gütersloh 2010, (433–445) 442.

1. Einleitung: Calvin, Calvinismus und die sog. Weber-These

183

Calvins Rezeption dieses „urchristlichen Kommunismus“ soll im Folgenden auf der Grundlage seiner Kommentierung der lukanischen Summarien zur urchristlichen Gütergemeinschaft den Untersuchungsgegenstand bilden15, und zwar anhand der erkenntnisleitenden Fragestellung, ob sich Calvin in seiner Auseinandersetzung mit diesem Phänomen tatsächlich durch eine klare Ablehnung hervortut. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre zumindest ein Beleg dafür gefunden, dass die Ausgangsthese („Calvin ist der Vater des Kapitalismus“) unzutreffend ist. Die Beweisführung hätte insofern indirekten Charakter, als gezeigt würde, dass das Gegenteil nicht zutrifft. Betrachtet man diese Beweistechnik formal, so lässt sich die gebrauchte Schlussfigur als reductio ad absurdum identifizieren, die eben auch unter der Bezeichnung „indirekter Beweis“ oder „Widerspruchsbeweis“ bekannt ist. Eine Aussage wird widerlegt, indem man demonstriert, dass ein logischer Widerspruch aus der Ausgangsthese, hier der sog. Weber-These, folgt. Es geht – wenn man so will – um einen „Vaterschaftstest“ nach den Regeln der klassischen, zweiwertigen Logik, in der jede Aussage entweder wahr oder falsch ist und in der – wie gesagt – mit der Widerlegung des Gegenteils einer Aussage die Wahrheit der getroffenen Aussage bewiesen wird. Diese Form des Umgangs mit der sog. Weber-These partizipiert indirekt an dem, was H. Lehmann als „pedantische Kasuistik“16 einer Überprüfung der Ergebnisse Webers an möglichen weiteren einschlä15

Vgl. CALVIN, CO 26,58; 94–97. Zitiert wird Calvins Kommentar zur Apostelgeschichte nach der Übersetzung von E.F.K. MÜLLER: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift in deutscher Übersetzung, Bd. 11: Die Apostelgeschichte, Neukirchen o.J., 59–60; 92–94. Herangezogen werden auch Calvins Predigten zu beiden Textkomplexen, und zwar die Predigt vom 2. Februar 1550 zu Apg 2,43–45 (SC 8,46-54) und vom 1. Juni 1550 zu Apg 4,32–37 (SC 8,113–120). Eine deutsche Übersetzung liegt leider noch immer nicht vor. Vgl. aber J. CALVIN, Sermons on the Acts of the Apostles Chapters 1–7. Forty-four Sermons Delivered in Geneva Between 25 August 1549 and 11 January 1511, translated into English by R.R. MCGREGOR, Carlisle/PA 2008, 67–79; 177–188. Dazu: W.H.TH. MOEHN, „God Calls Us to His Service“. The Relation Between God and His Audience in Calvin’s Sermons on Acts, Genf 2001; D.F. WRIGHT, Calvin’s Commentary and Sermons on Acts 1–7: A Comparison, in: D. FOXGROVER (Hg.), Calvin, Beza and Later Calvinism. Papers Presented at the 15th Colloquium of the Calvin Studies Society April 7–9, 2006, Grand Rapids 2006, 290–306. Vgl. zu Calvins Predigten im Allgemeinen: T.H.L. PARKER, Calvin’s Preaching, Louisville/KY 1992. Die Zitation der „Institutio Christianae Religionis“ erfolgt nach der Ausgabe: CALVIN, Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb. von O. WEBER, im Auftrag des Reformierten Bundes bearb. und neu hg. von M. FREUDENBERG, Neukirchen-Vluyn 2008. 16 LEHMANN, Die Weber-These im 20. Jahrhundert, 380.

184

VI. Ein „Vaterschaftstest“

gigen Fällen bezeichnet hat. Als „pedantisch“, also übertrieben genau, lässt sich meine Vorgehensweise in der Tat insofern charakterisieren, als es mir um ein kleines Detail und nicht etwa eine flächige Darstellung der Wirtschaftsethik Calvins geht, die – auch nur zu skizzieren – im Blick auf die breite Quellenlage mehr als eine Herausforderung darstellen würde.17 Bereits die wiederum nur in Ausschnitten untersuchten Predigten Calvins über das Deuteronomium18 lassen diese Schwierigkeit erkennen.19 Die Prädestinationslehre, die nach Weber den „dogmatischen Hintergrund der puritanischen Sittlichkeit im Sinne methodisch rationalisierter ethischer Lebensführung“20 bildet, und auch die Frage nach der certitudo salutis,21 die durch den syllogismus practicus beantwortet wird, werden hier ausgeklammert.

17

Vgl. A. BIELER, La pensée économique et sociale de Calvin, Genf 1961 (in engl. Übersetzung: DERS., Calvin’s Economic and Social Thought, hg. von E. DOMMEN, übersetzt von J. GREIG, Geneva 2005); E. BUSCH, A General Overview of the Reception of Calvin’s Social and Economic Thought, in: E. DOMMEN / J.D. BRATT (Hg.), John Calvin Rediscovered. The Impact of His Social and Economic Thought, London/Louisville 2007, 67–75; M. FREUDENBERG, Geld und gute Worte. Zu den Grundlagen und Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik, in: DERS., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie: Forschung und Wissenschaft Bd. 36, Berlin 2012, 115–136; T. JÄHNICHEN, Die Ethik Calvins und der „Geist des Kapitalismus“ – Zur Wirtschaftsethik des Genfer Reformators, in: DERS. u.a. (Hg.), Calvin entdecken. Wirkungsgeschichte – Theologie – Sozialethik, Zeitansagen Bd. 6, Münster 2011, 163–176; E.A. MCKEE, The Character and Significance of John Calvin’s Teaching on Social and Economic Issues, in: E. DOMMEN / J.D. BRATT (Hg.), John Calvin Rediscovered. The Impact of His Social and Economic Thought, London / Louisville 2007, 3–24; W. LIENEMANN, Calvins Wirtschaftsethik, in: M. SALLMANN u.a. (Hg.), Johannes Calvin 1509–2009. Würdigungen aus Berner Perspektive, Zürich 2012, 235–258; A. THIEL, Die Sünde Tyrus’. Calvins Auseinandersetzung mit den Wirtschaftsgiganten seiner Zeit, in: T.K. KUHN / H.-G. ULRICHS (Hg.), Reformierter Protestantismus vor den Herausforderungen der Neuzeit, EBzrP 11, Wuppertal 2008, 123–133. 18 Vgl. die selektive Übersetzung von 11 Predigten über einzelne Abschnitte des Deuteronomiums in: CALVIN, CStA 7,19–191. 19 Vgl. A. THIEL, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium, Neukirchen-Vluyn 1999; DERS., Erziehung zur Freiheit. Calvins Predigtpraxis in Genf am Beispiel der Predigten zum Deuteronomium, in: S. LEKEBUSCH / H.-G. ULRICHS (Hg.), Historische Horizonte. Vorträge der dritten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 5, Wuppertal 2002, 147–157. 20 WEBER, Protestantische Ethik, 339. „[U]m jene Selbstgewißheit zu erlangen, [wurde] als hervorragendstes Mittel rastlose Berufsarbeit eingeschärft. Sie und sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes.“ A.a.O., 303. Dort z.T. kursiv. 21 A.a.O., 299.

2. Die lukanischen Summarien von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde

185

2. Die lukanischen Summarien von der Gütergemeinschaft der Urgemeinde Bei dem Gegenstand der Untersuchung handelt es sich – wie gesagt – um den sog. „urchristlichen Kommunismus“, wie er in zwei lukanischen Summarien der Apostelgeschichte geschildert wird, hinter denen wahrscheinlich eine von Lukas überarbeitete vorlukanische Überlieferung steht.22 Die vita communis der Urgemeinde wird dort wie folgt geschildert: „Alle Glaubenden aber hielten zusammen und hatten alles gemeinsam; Güter und Besitz verkauften sie und gaben von dem Erlös jedem so viel, wie er nötig hatte“ (Apg 2,44f.; Zürcher Bibel). „Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besass, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam. Und mit grosser Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung des Herrn Jesus, und grosse Gnade ruhte auf ihnen allen. Ja, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt, denn die, welche Land oder Häuser besassen, verkauften, was sie hatten, und brachten den Erlös des Verkauften und legten ihn den Aposteln zu Füssen; und es wurde einem jeden zuteil, was er nötig hatte. Josef aber, der von den Aposteln den Beinamen Barnabas erhalten hatte, das heisst ‚Sohn des Trostes‘, ein Levit, der aus Zypern stammte und einen Acker besass, verkaufte ihn, brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füssen“ (Apg 4,32–37; Zürcher Bibel).

In beiden Summarien manifestiert sich die „Schilderung des idealen Lebens der Urgemeinde“.23 Mit wenigen Worten wird festgehalten, „daß sich um die Mitte des gemeinsamen Gottesdienstes eine neue, durch Geschwisterlichkeit, Eintracht und Bereitschaft zum Besitzverzicht gekennzeichnete Sozialgestalt entwickelt“.24 Exegetisch ist man sich hinsichtlich der Beurteilung des vom Miteinander gelebter Solidarität bis hin zur Gütergemeinschaft geprägten Bildes des Lukas recht einig: „Zwar ist dies gewiss ein idealisiertes Bild, das Lukas seinen Leserinnen und Lesern als leuchtendes Vorbild vor Augen malt, um sie zu einer ähnlichen Praxis zu motivieren, und er greift dafür auch auf jüdische und griechische Sozialutopien zurück. Doch lässt sich in der idealisierenden Darstellung durchaus ein historischer Kern eines innergemeindlichen Güteraustauschs erkennen.“25 Die Naherwartung in der Frühzeit der Gemeinde spricht durchaus für eine

Vgl. J. ROLOFF, Die Apostelgeschichte, NTD 5, Göttingen 21988, 89–91. J. ROLOFF, Die Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993, 208. Ebd. S. BIEBERSTEIN, Gemeinde, Kirche, Amt, in: L. BORMANN (Hg.), Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, (197–222) 202.

22 23 24 25

186

VI. Ein „Vaterschaftstest“

gewisse Historizität dieser Episode des frühen Christentums.26 Der urchristliche Liebeskommunismus erscheint keineswegs singulär, wenn man ihn beispielsweise um des ekklesiologischen Interesses willen mit den Essener-Berichten Philos oder den Originaltexten von Qumran vergleicht.27 3. Zwischen den Extremen Calvins Beurteilung des Eigentumverkaufs und der Gütergemeinschaft der Urgemeinde Was den Ideal(isierungs)charakter der Schilderung des Lukas betrifft, so bemerkte bereits Calvin: „Der bisherige Bericht des Lukas könnte den Schein erwecken, als wären die damals unter Christi Namen gesammelten Leute mehr Engel als Menschen gewesen. Denn es ist eine unglaubliche Tugend (incredibilis erat virtus), daß die Reichen zur Unterstützung der Armen nicht bloß Geld, sondern sogar Grundbesitz drangaben.“28 Calvin versteht diese Tugend als Liebe – insofern scheint der Begriff „Liebeskommunismus“, den Calvin freilich nicht explizit gebraucht, nicht vollkommen deplatziert zu sein. Indes handelt es sich nach Calvin um eine spezifische Ausprägung der Liebe, nämlich um die brüderliche Liebe (fraterno amore)29, die nicht eine beliebige oder allgemeine Personengruppe, sondern vielmehr „die Gläubigen“ untereinander verband. Im Blick auf diese bemerkt Calvin, dass „sie dann mit der Tat [sc. die Liebe bezeugten; M.H.], indem die Reichen ihr Eigentum verkauften, um die Armen zu unterstützen“.30 Calvin spricht explizit von einem „einzigartigen Beweis der Liebe (singulare exemplum caritatis)“,31 der zugunsten der Armenfürsorge erfolgte.32 Hier deutet sich bereits an, dass Calvin kei26

So z.B. P. STUHLMACHER, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 21997, 204. 27 Vgl. ebd.: „In der griechischen und hellenistisch-jüdischen Literatur finden sich enge Parallelen zu der von Lukas beschriebenen urchristlichen Gütergemeinschaft. Sie gilt schon in Platons ‚Kritias‘ als Idealgemeinschaft der (versunkenen) Frühzeit, und in derselben idealtypischen Weise schildern Philo und Josephus ihren griechischen Lesern das Leben der Essener, deren Originalschriften in Gestalt der sog. Damaskusschrift und der Texte aus den Höhlen von Qumran auf uns gekommen sind.“ 28 CALVIN, Komm. Apg 5,1, 95. 29 CALVIN, Komm. Apg 2,44, 59. 30 CALVIN, Komm. Apg 2,45, 59. So auch CALVIN, Komm. Apg 4,32, 93: „[D]ie Gläubigen [pflegten] die Liebe mit äußerer Tat (charitatem externis officiis coluerint).“ 31 CALVIN, Komm. Apg 2,44, 59. 32 Zur Armenfürsorge nach Calvin vgl. E. BUSCH, Das Recht der Armen, in: DERS., Zum Zusammenleben geboren. Johannes Calvin – Studien zu seiner Theologie, Zürich 2016, 125–136; R.M. KINGDON, Social Welfare in Calvin’s Geneva, in: R.C. GAMBLE (Hg.), Calvin’s Work in Geneva: Articles on Calvin and Calvinism Vol. 3,

3. Zwischen den Extremen

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neswegs eine Aufgabe des Privatbesitzes anvisiert, sondern die lukanische Schilderung mit Blick auf die Armenfürsorge auslegt. An die Rezipienten seines Kommentars zur Apostelgeschichte gerichtet bemerkt Calvin: „Diesen einzigartigen Beweis der Liebe berichtet Lukas, um uns die Pflicht einzuprägen, daß wir mit unserm Überfluß den Mangel der Brüder zu lindern haben (nostra abundantia sublevandum esse fratrum inopiam).“33 Diese Liebe bestimmt Calvin als „die Frucht, die aus der inneren Einigkeit der Herzen (sincero cordis affectu) erwächst“.34 Calvin grenzt die von Herzen kommende Liebe dabei von einem Nutzenkalkül ab: „Eine äußere Guttätigkeit (externa beneficentia), die nicht von Herzen (ex corde) kommt, würde ja auch vor Gott nichts gelten. Weiter deutet Lukas an, daß man die Einigkeit pflegte, ohne an den eigenen Nutzen (propriae utilitatis) zu denken; denn wenn die Reichen freiwillig (liberaliter) das Ihre dahingaben, suchten sie nichts weniger als Gewinn.“35 Der Eigennutz ist nach Calvin der falsche Umgang mit Besitz und Reichtum, da sich diese bleibend Gott verdanken und der Haushalterschaft des Menschen nur deshalb anvertraut sind, um diese den Bedürftigen zukommen zu lassen.36 Calvin betont, dass wir das, was uns von Gott anvertraut ist, nicht zurückhalten dürfen, so als sei es inzwischen unser Besitz geworden.37 Großzügigkeit gegenüber dem in Not geratenen Nächsten entspreche der treuhänderisch übermittelten göttlichen Gabe.38 Den Vorteil des Nächsten zu suchen, so lautet nach Calvin das menschlicher Selbstergebenheit und menschlichem Selbstinteresse39 widersprechende göttliche Gebot.40 New York / London 1992, 22–41; H. SCHOLL, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ 124 (1983), 64–73; G.K. SCHÄFER, Diakone als „Sachwalter der Armen“ – Zur Diakonie bei Calvin, in: T. JÄHNICHEN u.a. (Hg.), Calvin entdecken. Wirkungsgeschichte – Theologie – Sozialethik, Zeitansage Bd. 6, Münster 2011, 185–189. 33 CALVIN, Komm. Apg 2,44, 59f. 34 CALVIN, Komm. Apg 4,32, 93. 35 Ebd. 36 CALVIN, SC 8,53 (Predigt zu Apg 2,43–45): „Et quand nostre Seigneur permet que l’ung abonde plus en biens que l’aultre, c’est afin d’en eslargir à ceulx qui en ont deffault.“ 37 CALVIN, SC 8,118 (Predigt zu Apg 4,32–37): „[…] que nous ne pensions point retenir à nous, comme nostre propre, ce que Dieu nous a donné pour le dispenser aux aultres.“ 38 Ebd.: „[M]ais il fault que nous congnoissions que Dieu ne nous a donné ce que nous avons entre mains, sinon afin d’en eslargir à ceulx qui en ont necessité.“ 39 Vgl. CALVIN, SC 8,120 (Predigt zu Apg 4,32–37): „Car au lieu que nous sommes trop adonnez à nousmesmed, il fault que nous congnoissions que nostre Seigneur ne nous a point mys en ce monde pour nousmesmes, mais qu’il fault que nous procurions lebien de noz prochains entant qu’en nous est.“

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VI. Ein „Vaterschaftstest“

Der rechte Ansatz für den christlich-moralischen Umgang mit äußerem Besitz ist für Calvin liebesethischer Natur: „Es beginnt mit der Einmütigkeit der Herzen und geht über in die Bereitschaft zu brüderlicher Hilfe, die deren Frucht ist. Für Calvin gehört auf Grund der Schrift ganz wesentlich zum Leben der Gemeinde als Gemeinschaft der Heiligen, daß wir, wenn wir mehr als andere haben, diesen ihr Los durch unsere Hilfe erleichtern.“41 Calvin grenzt den Umgang mit Besitz gegenüber zwei Extremen (duo extrema) ab, die er als Abwege kennzeichnet: (1) „Viele verschließen unter dem Vorwand der sozialen Ordnung (politiae praetextu) ihren Besitz bei sich, entziehen sich den Armen und halten sich schon für mehr als gerecht, wenn sie nur den andern nicht berauben.“42 Dieses Extrem lässt sich als güterindividualistischer Abweg identifizieren.43 Zugleich weist er starke ordnungstheologische Charakterzüge auf, ja, bei Lichte betrachtet wird ein strukturkonservatives Argument aufgeboten, das Calvin als armenfeindlich qualifiziert, nämlich der Vorwand einer Wahrung der in Gefahr geratenen bürgerlichen Ordnung. Diesen Vorwand, die bürgerliche Ordnung werde zerstört, bezeichnet Calvin als Verrat an den Armen und als Diebstahl. Als zweites Extrem, das einem christlich-moralischen Umgang mit äußerem Besitz widerspricht, benennt Calvin folgendes: (2) „Andere fallen in den entgegengesetzten Irrtum (in diversum errorem) und wollen alles durcheinander mengen (omnia confusa).“44 Auch dieses Extrem steht nach Calvin für ein Missverständnis des lukanischen Textes. Calvin interpretiert dieses Missverständnis der Sache nach als „christlichen Kommunismus“ bzw. „kommunistische[ ] Verwirrung“.45 In diesem Zusammenhang kann Calvin dann betonen, dass es keineswegs darum gehen könne, die Ordnung mehr oder weniger mut-

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CALVIN, SC 8,117 (Predigt zu Apg 4,32–37): „C’est que nous ne soyons point adonnez à nousmesmes, mais que nous procurions le bien et le proffict de noz prochains en tant qu’en nous sera, comme aussy nostre Seigneur nous le commande par sa Loy.“ 41 W. BALKE, Calvin und die Täufer. Evangelium oder religiöser Humanismus, übersetzt von H. QUISTORP, Minden 1985, 216. Vgl. zur „Gemeinschaft der Heiligen“ auch CALVIN, Inst. (1559), IV,1,3. 42 CALVIN, Komm. Apg 2,44, 60. 43 Auch BALKE (Calvin und die Täufer, 216) spricht von einem „reine[n] Güterindividualismus“ und BIÉLER (La pensée économique et sociale de Calvin, 354) von „individualisme“. 44 CALVIN, Komm. Apg 2,44, 60. 45 BALKE, Calvin und die Täufer, 216. So auch BIELER, La pensée économique et sociale de Calvin, 354.

3. Zwischen den Extremen

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willig zu zerstören.46 Der Frage, wen Calvin hier als Gegner vor Augen hat, werden wir gleich noch näher nachgehen. Zunächst aber ist noch zu klären, wofür Calvin selbst eigentlich in positiv-konstruktiver Weise optiert und votiert. Calvin lehrt, dass man sich vor den beiden oben genannten Extremen hüten soll. Er steuert „die rechte Mitte des Weges der Kirche zwischen wirtschaftlichem Kommunismus und Individualismus“47 an. Dem entspricht Calvins Beschreibung der vita christiana als peregrinatio in seiner „Institutio“. Die Pilgerschaft des Christenmenschen verläuft, so führt Calvin dort aus, als Weg zwischen den Extremen einer allzu großen Enge und Weite: „Wir müssen also Maß halten ([m]odum ergo tenere oportet), um jene Mittel [sc. des gegenwärtigen Lebens; M.H.] mit einem reinen Gewissen zur Notdurft (ad necessitatem) oder auch zum Genuß zu verwenden.“48 Die falsche Enge besteht Calvin zufolge in einer Engherzigkeit des Gebrauchs irdischer Güter (nur „zur Notdurft“49) und die falsche Weite in der Ausschweifung („Schwelgerei des Fleisches im Gebrauch der äußeren Dinge [in rerum externarum usu carnis intemperies]“50). Vergleicht man Webers Calvinismus-Charakterisierung mit Calvin, so fällt auf, dass dieser sich gerade gegen das wendet, was innerweltliche Askese ausmacht, nämlich eine Reduktion auf die „Notdurft“: „Unter ‚Notdurft‘ (necessitas) verstehen sie [namentlich von Calvin nicht näher identifizierte Asketen; M.H.], der Mensch solle sich alles dessen enthalten, was er entbehren kann.“51 Nach ihrer Meinung sei „außer Brot und Wasser“52 kaum etwas erlaubt. Weber zufolge wendet sich die innerweltliche Askese „mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes“.53 Sie baue die Welt in „ein stahlhartes Gehäuse“54 um, da ein „genussfrohes Ausruhen auf weltlichem Besitz“55 verboten sei, ja der Distanzierung von der Welt durch Selbst46

CALVIN, SC 8,118 (Predigt zu Apg 4,32–37): „Car sainct Luc ne veult point icy introduyre une confusion, et qu’il n’y ait plus de police, mais il declare qu’il ne nous fault point tellement manger nostre bien apart, que nous voyons cependant noz prochains morir de faim aupres de nous, et que nous ne leur subvenions pas.“ 47 BALKE, Calvin und die Täufer, 216. 48 CALVIN, Inst. (1559), III,10,1. 49 CALVIN, Inst. (1559), III,10,1; III,10,3. 50 CALVIN, Inst. (1559), III,10,1. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 WEBER, Protestantische Ethik, 463. Dort z.T. kursiv. 54 A.a.O., 487. 55 SCHLUCHTER, Religiöse Wurzeln, 208.

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VI. Ein „Vaterschaftstest“

disziplinierung und „Rationalisierung der Lebensführung“56 stracks entgegenstehe. Das, was Weber „innerweltliche Askese“ nennt, erscheint bei Calvin unter dem Verdikt eines Extrems, das der Genfer Reformator ablehnt. Insofern war Calvin gewiss kein Vertreter innerweltlicher Askese. Seine Freiheitslehre, die auch den Gebrauch der äußeren Dinge des Lebens betrifft (in rebus externis libertas),57 „atmet Lebensfreude und eine fast franziskanische Unbekümmertheit. Sie kann sich an den Farben der Welt freuen und an einem guten Glas Wein.“58 Recht harsch fordert Calvin: „[F]ort mit jener unmenschlichen Philosophie (inhumana illa philosophia), die uns die Kreaturen nur zur Notdurft (nullum nisi necessarium) will brauchen lassen und damit einer erlaubten Frucht der göttlichen Wohltätigkeit beraubt, auch nur da zur Geltung kommen kann, wo sie einem Menschen alle Sinne weggenommen und ihm zum Klotz gemacht hat (in stipitem redegerit).“59 Stattdessen erinnert Calvins Argumentationsstrategie zum einen an die aristotelische Mesotes-Lehre, die die Wahl der „goldenen Mitte“ (mesotēs)60 im Sinne eines Austarierens zwischen den Extremen anvisiert, und an die von Aristoteles hochgehaltene ethische Tugend der „Besonnenheit“ (sōphrosynē).61 Zum anderen vermag Calvin Assoziationen an das heutige Modell der sozialen Marktwirtschaft zu wecken, insofern es zumindest in der sog. „ordoliberalen Tradition“ (Freiburger Schule) um ein Mittleres zwischen freier Marktwirtschaft (nach der sog. „neoliberalen Tradition“) und staatlicher Planwirtschaft (nach der sog. „marktkritischen Tradition“) geht.62 Bevor man Calvin allerdings vollmundig zum „Vater der sozialen Marktwirtschaft“ statt zum „Vater des Kapitalismus Weberʼscher Vorstellung“ erklärt, sollte man beachten, dass Calvin keineswegs ein bestimmtes wirtschafts- oder auch gesellschaftspolitisches Programm zur Organisation der Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaatlichkeit vertrat.63 Auch darauf wird noch zurückzukommen sein. 56 57 58

WEBER, Protestantische Ethik, 410. Dort z.T. kursiv. CALVIN, Inst. (1559), III,10,4. H. SCHOLL, Calvin als Seelsorger, in: ders., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, (93–134) 130. Siehe CALVIN, Inst. (1559), III,19,9: „Es ist nirgendwo untersagt, zu lachen oder sich zu sättigen oder neue Besitztümer mit dem alten, erhabenen zu verbinden oder zum Klang der Musik sich zu erfreuen oder Wein zu trinken.“ 59 CALVIN, Inst. (1559), III,10,3. 60 Vgl. ARISTOTELES, NE II, 1106a ff. 61 Vgl. ARISTOTELES, NE II–VII, 1105–1145a. 62 Zur sozialen Marktwirtschaft vgl. H. BEDFORD-STROHM u.a. (Hg.), Zauberformel Soziale Marktwirtschaft? Jahrbuch Sozialer Protestantismus Bd. 4, Gütersloh 2010. 63 Zur Wohlfahrtsstaatlichkeit in europäischer Perspektive vgl. K. GABRIEL u.a. (Hg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen –

4. Calvins projektierte „Ordnung“ der „offenen Hand“ für die Notleidenden

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4. Calvins projektierte „Ordnung“ der „offenen Hand“ für die Notleidenden Was schwebte Calvin vor? Als Bibeltheologe bzw. als „Schüler der Schrift“64 (discipulus scripturae) hat er den Anspruch, nicht nur seine eigenen Präferenzen zu artikulieren, sondern dem biblischen Zeugnis,65 hier: der lukanischen Botschaft, zu entsprechen und eine strikte Orientierung an der Bibel zur Anwendung kommen zu lassen.66 Ob er allerdings der Gefahr von „Retrojektionen“ standhaft widerstehen konnte, ist eine andere, sicherlich nicht unberechtigte Frage, die zu prüfen wäre. Die für Calvin entscheidende Frage lautet indes: „Was aber sagt Lukas ([q]uid autem Lucas)?“67 Calvin führt aus: „Nach seinem [sc. Lukas; M.H.] Bericht war ohne Zweifel eine getrennte Ordnung (distinctum ordinem), da man ja bei der Verteilung (in distributione) eine Auswahl traf. Das Wort: die Gläubigen hielten alle Dinge gemein – deutet doch nicht auf eine Beseitigung des Privateigentums, sondern nur auf eine Verwendung, wie sie alsbald beschrieben wird (V. 45); sie teilten aus unter alle, nach-dem jedermann not war. Es wurden also die Armen (pauperes) unterstützt.“68

Die „Ordnung“, die Lukas nach Calvin anvisiert, ist „eine gleichsam gemischte Ordnung, in der jedes Glied für seinen Besitz verantwortlich ist und doch ein Bewußtsein dafür hat, mit seinem Hab und Gut den Anderen, die es nötig haben, zu helfen. Mit dem materiellen Reichtum ist es nicht anders als mit dem geistlichen. Er ist ganz persönlich und zugleich auch wesentlich gemeinsam.“69 Es geht Lukas Calvin zufolge um Hilfe, die kontextuell und situativ angemessen geleistet wird. Sie soll, mit anderen Worten, selektiv im Sinne von bedarfsorientiert und notbezogen erfolgen: „Die Bereitschaft zur gegenseitigen wirtschaftlichen Hilfe muß vom Kontext aus verstanden werden. Es ging und geht in der christlichen Gemeinde, die den Geist der Liebe empfangen hat, um brüderliche Hilfe allen Konflikte, Tübingen 2013; W. LIENEMANN, Die Zukunft des Sozialstaates aus christlicher Perspektive, oder: Der Beitrag der Kirchen zu einer europäischen Sozialkultur, in: CHR. SIGRIST (Hg.), Diakonie und Ökonomie. Orientierungen im Europa des Wandels, Zürich 2006, 55–84. 64 CALVIN, Inst. (1559), I,6,2. 65 WEBER (Protestantische Ethik, 335) spricht hinsichtlich der Calvinʼschen Wirkungsgeschichte von einer „‚Bibliokratie‘ des Calvinismus“. 66 Vgl. JÄHNICHEN, Die Ethik Calvins und der „Geist des Kapitalismus“, 165. 67 CALVIN, Komm. Apg 2,44, 60. 68 Ebd. 69 BALKE, Calvin und die Täufer, 216.

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VI. Ein „Vaterschaftstest“

denen gegenüber, die in Not sind.“70 Der Zweck und die Zielprojektion der Jerusalemer Urgemeinde besteht Calvin zufolge darin, „daß niemand Mangel haben soll[ ] (ut nemo egeret)“.71 Calvin erläutert das notbezogene Bedarfsprinzip (l’exigence de la necessité),72 wie es von der Jerusalemer Urgemeinde handlungsorientierend vertreten worden sei: „So ist die Meinung nicht, daß alle Gläubigen ihr ganzes Eigentum verkauften (non intelligit fideles vendidisse quidquid habuerint), sondern nur, daß dies nach Bedarf geschah (sed quantum exigebat necessitas). Insbesondere sollen wir dieser Mitteilung die rühmliche Tatsache entnehmen, daß die Reichen nicht bloß aus dem Jahresertrag ihrer Äcker Unterstützung gaben, sondern in großer Freigiebigkeit (fuisse liberales) nicht einmal der Äcker selbst schonten. Dies aber konnte geschehen, auch wenn sie sich nicht gänzlich beraubten, sondern ihre Einkünfte nur teilweise minderten.“73

Es geht also nach Calvin nicht um eine absolute Selbstenteignung.74 Auch ein kollektiver Zwang habe nicht geherrscht. Was die Praktizierung eines Gerechtigkeitsgrundsatzes betrifft, weist Calvin darauf hin, dass keine gleichmäßige Verteilung erfolgt sei: „Es wurde also nicht eine gleichmäßige Verteilung der Güter vorgenommen ([n]on ergo aequalis fuit bonorum partitio), vielmehr teilte man in überlegter Weise aus (sed moderata dispensatio), so daß niemand seine Dürftigkeit über die Maßen drückte (ne quis egestate ultra modum premeretur).“75 Legt man das aristotelische Gerechtigkeitskonzept zugrunde, so wird man im terminologischen Anschluss an Thomas von Aquin sagen können,76 dass die iustitia particularis distributiva (austeilende bzw. 70 71 72

Ebd. CALVIN, Komm. Apg 4,34, 94. CALVIN, CO 7,219 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). Vgl. auch CALVIN, SC 8,118 (Predigt zu Apg 4,32–37): „Voilà doc comme il n’y avoit point ung amas de tous les biens et une confusion pour en prandre par où on eust voulu, mais on regardoit où il y avoit necessité pour y subvenir, et en deppartoit on à ung chacun selon ce qui luy estoit necessaire.“ 73 CALVIN, Komm. Apg 4,34, 93f. 74 Calvin unterstreicht freilich die Freiwilligkeit der Zuwendung zu den in Not geratenen Hilfsbedürftigen: „Mais il veult signifier en somme (par ce qu’il dict que toutes choses estoient communes entr’eulx), que ceulx qui avoient abondance pour subvenir à leurs prochains, vendoient plustost du leur, que de veoir avoir indigence aux enfans de Dieu. Vray est qu’il ne veult pas presser ceulx qui ont abondance, de se despouiller de leurs biens pour faire aulmosnes, mais il veult dire qu’ilz doibvent prester la nourriture à ceulx qui n’ont de quoy vivre.“ CALVIN, SC 8,53 (Predigt zu Apg 2,43–45). 75 CALVIN, Komm. Apg 4,35, 94. 76 Vgl. ARISTOTELES, NE V, 1129a–1138b; THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II–II, q. 58.

5. Calvins Abgrenzung gegenüber Wiedertäufern bzw. Libertines

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zuteilende Gerechtigkeit)77 in der Verteilung der Güter des Gemeinwesens in dem Sinne „proportional“ eingeübt wurde, dass man nach Bedürfnissen bzw. konkreter Not fragte.78 Insofern wird das sachliche Problem bzw. die mit der austeilenden Gerechtigkeit einhergehende Frage beantwortet,79 welche Verteilungsregel aufgestellt werden muss.80 Es ging Calvin um eine solidarische Ausrichtung von Gerechtigkeit, die den „Vorrang für die Armen“81 und Bedürftigen einräumte, um den einzelnen Gliedern ein gelingendes Leben in der Gemeinschaft der Urgemeinde zu ermöglichen.82 Calvin spricht anschaulich von der „offenen Hand“ (la main ouverte)83 für die Notleidenden. 5. Calvins Abgrenzung gegenüber Wiedertäufern bzw. Libertines Gegen wen grenzt sich Calvin sozusagen nach „links“ ab? Welche konkreten Gegner auf dem „linken Flügel der Reformation“84 hat der Genfer Reformator vor Augen? Anders als etwa Ernst Troeltsch in 77

Zur neuzeitlichen Entwicklung der Gerechtigkeitsvorstellungen vgl. einführend W. MAASER, Lehrbuch Ethik. Grundlagen, Problemfelder und Perspektiven, Weinheim/München 2010, 54–57. 78 Vgl. CALVIN, SC 8,118 (Predigt zu Apg 4,32–37): „Ainsi donc voilà comme il nous fault considerer que les biens de ce monde ne sont tellement propres de ceulx qui les possedent, qu’il ne faille qu’ilz en communicquent à ceulx qu’ilz congnoissent en avoir necessité, et selon la faculté que Dieu leur en a donnée.“ 79 Zum Wesen und zur Reichweite distributiver Gerechtigkeit vgl. CH. TAYLOR, Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, übersetzt von H. KOCYBA, Frankfurt a.M. 1988, 145–187. 80 Vgl. W. LIENEMANN, Gerechtigkeit, Ökumenische Studienhefte 3 (= BenshH 75), Göttingen 1995, 16. 81 Zum „Vorrang der Armen“ vgl. H. BEDFORD-STROHM, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit, Gütersloh 1993, 294–298. 82 LIENEMANN (Gerechtigkeit, 16) stellt fest: „Vergleicht man diese [sc. die aristotelische; M.H.] Gerechtigkeitsanschauung mit derjenigen der biblischen Überlieferungen, so steht das Konzept der distributiven Gerechtigkeit zweifellos der Rechtsfindungsformel der Goldenen Regel nahe. Nicht jedoch hat hier das Eintreten für die Schwachen einen festen Platz; Barmherzigkeit im Sinne einer Erbarmungspflicht ist kein notwendiges Element des philosophischen und juristischen Gerechtigkeitsbegriffs, sondern allenfalls dessen freiwillig-philanthropische Ergänzung. Das – wenn man so sagen darf – Athener und das Jerusalemer Modell berühren sich gleichwohl darin, daß auch dem Konzept der Verteilungsgerechtigkeit ein egalitärer Grundzug eigen ist; dieser endet aber dort, wo keine Leistungen mehr verglichen und getauscht werden können, sondern Gaben ohne Gegenleistung ins Spiel kommen. Dieser Grundzug jüdisch-christlicher Caritas hat deshalb die außerchristlich heidnische Welt der Spätantike mit Staunen, Ablehnung und Bewunderung erfüllt.“ 83 CALVIN, CO 7,217 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 84 H. FAST (Hg.), Klassiker des Protestantismus Bd. 4: Der linke Flügel der Reformation, Bremen 1962.

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VI. Ein „Vaterschaftstest“

seinen „Soziallehren“ mit der einschlägigen Trias „Kirche, Sekte und Mystik“85 behauptet, stehen nicht die Vertreter des Typus „Sekte“ für das urchristliche Ideal,86 sondern Calvin beansprucht dasselbe im Sinne der biblischen Darstellung für die eigene Position. Die eigene (Genfer) Gemeinde und Kirche stehe in der Tradition der Jerusalemer Urgemeinde, wenn man nur deren Praxis entsprechend dem biblischen Zeugnis nicht missverstehe. Ein solches Missverständnis manifestiere sich hingegen auf Seiten von „Schwärmern“ (spiritus fanaticos): „Weil aber manche Schwärmer an eine Gütergemeinschaft denken, die alle sozialen Ordnungen auflösen würde, so bedarf diese Aussage einer gesunden Auslegung. Welchen Aufruhr haben in unserer Zeit die Wiedertäufer (Anabaptistae) angerichtet, die es zur notwendigen Ordnung der Kirche rechneten, daß man allen Privatbesitz auf einen gemeinsamen Haufen warf, aus welchem dann unterschiedslos allen das Nötige zufließen sollte!“87

Auch wenn Calvin in seinem Kommentar zur Apostelgeschichte allgemein von den „Wiedertäufern“ spricht, dürfte er doch bei Lichte betrachtet nicht einfach undifferenziert das allgemeine und durchaus heterogene Phänomen „Täufertum“ im Blick haben, sondern vor allem die aus reformatorischer Sichtweise geistesverwandte Strömung der sog. „Libertiner“.88 Dies geht aus der Streitschrift „Contre la secte phantastique et furieuse des libertins qui se nomment spirituelz“ (1545)89 hervor.90 In deren 21. Kapitel widmet sich Calvin der Inter85

Vgl. E. TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), UTB 1812, ND Tübingen 1994, 967–986. 86 TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 677: „Die Sekte hatte im Verfolg der urchristlichen Ideale bisher den Versuch einer grundsätzlich christlichen Organisation der Gesellschaft gemacht. Aber sie hatte als Sekte sich eben damit aus der allgemeinen bürgerlich-rechtlichen Gesellschaft herausgestellt.“ 87 CALVIN, Komm. Apg 2,44, 60. So auch CALVIN, SC 8,52 (Predigt zu Apg 2,43– 45): „Il y a l’aultre extremité, assçavoir que plusieurs fantasticques ont voulu dire que tout estoit commun. Or l’intention du sainct Esprit n’est point telle. Et pourtant il nous fault regarder comment cecy se doibt entendre. En premier lieu il ne fault point penser que les choses fussent là mises en ung monceau comme pour en pandre par où il eust semblé bon à ung chacun, mais le tout estoit dispersé par bon esgard, comme nous voirrons puis après que la charge en estoit donné aux apostres. Les riches vendoient plustost leurs terres et possessions et apportoient l’argent aux apostres, que de souffrir aulcun avoir indigence.“ Wie W.H.TH. MOEHN („God Calls Us to His Service“, 137) gezeigt hat, finden sich in den Predigten Calvin zu den lukanischen Summarien zur Gütergemeinschaft „traces of libertine heresies“. 88 Vgl. MOEHN, „God Calls Us to His Service“, 141. 89 CALVIN, CO 7,145–248 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 90 Zur Theologie dieser Streitschrift vgl. A. VERHEY / R.G. WILKIE, Calvin’s Treatise „Against the Libertines“, in: R.C. GAMBLE (Hg.), Calvin’s Opponents, New York / London 1992, (190–219) 198–205; M. FREUDENBERG, Vorsehung und Freiheit. Cal-

5. Calvins Abgrenzung gegenüber Wiedertäufern bzw. Libertines

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pretation der Gläubigengemeinschaft durch die Libertiner (libertins spirituels) in der Absicht, diese zu widerlegen, und thematisiert dabei eingehend das zweite lukanische Summarium zur urchristlichen Gütergemeinschaft (Apg 4,32–37), auf das sich die Libertiner ihrerseits berufen würden.91 Die Strömung der Libertiner, die leider „fast ausschließlich aus der Schilderung Calvins, ihres ausgesprochenen Gegners, bekannt“92 ist, lässt sich seiner Darstellung nach wie folgt charakterisieren: „Bei der von Calvin angegriffenen Gruppierung handelt es sich um Anhänger Quintins (Quintinistes) im französischsprachigen Raum, die eine spekulative, pantheistisch und deterministisch geprägte Spiritualität pflegten und deren Ethik antinomistische […] Züge trug.“93 Calvins Kritik an den Libertinern fällt „deutlich schärfer“94 aus als etwa die am Schleitheimer Täufertum.95 Sie ist „vom scharfen Ton situationsgebundener Polemik geprägt“.96 Calvin erhebt den Vorwurf „diabolischer Täuschung“, von erzielter „Verwirrung“ und „schrecklicher Wegelagerei“.97 Der Genfer Reformator sieht in den Libertinern eine anarchistische Sekte, die eine undifferenzierte Verdammung aller staatlichen Machtbefugnisse und faktischen Machtaus-

vins Freiheitsverständnis am Beispiel seiner Auseinandersetzung mit den Libertinern, in: DERS., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen reformierter Theologie, Theologie. Forschung und Wissenschaft Bd. 36, Münster 2012, (39–52) 40–44. 91 Vgl. CALVIN, CO 7,217–220 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 92 G.W. LOCHER, Einleitung, in: CALVIN, CStA 4, (235–247) 236. Vgl. zur Schwierigkeit, die Libertiner historisch zu identifizieren und zur daraus resultierenden Debatte in der Calvinforschung B.W. FARLEY, Introduction, in: J. CALVIN, Treatises Against the Anabaptists and Against the Libertines, übersetzt u. hg. von B.W. FARLEY, Grand Rapids 1982, 162–173; W. NIESEL, Calvin und die Libertiner, ZKG 48 (1929), 58–74; A. VERHEY / R.G. WILKIE, Calvin’s Treatise „Against the Libertines“, 191–197; M.G.K. VAN VEEN, Calvin und seine Gegner, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (155–164) 158f. 93 LOCHER, Einleitung, 240. Vgl. auch FREUDENBERG, Vorsehung und Freiheit, 42–44. 94 W. BALKE, Calvin und die Täufer, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (147–155) 150. 95 Vgl. die Streitschrift „Briève Instruction pour armer tous bons fideles contres les erreurs de la secte commune des anabaptistes“ (CALVIN, CO 7,45–152). Dazu: HOFHEINZ, Johannes Calvins theologische Friedensethik, 102–123. 96 LOCHER, Einleitung, 235. So auch FREUDENBERG, Vorsehung und Freiheit, 41; MOEHN, „God Calls Us to His Service“, 141. 97 Vgl. CALVIN, CO 7,220 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545): „Apprenons doc de conioindre la communion qu’nt les fideles entre eux quant aux biens, avec ordre et police, et par consequent de reiecter et avoir en abomination ceste resverie diabolique, de vouloir mesler tous les biens en confus, pour introduire non seulement un labyrinthe au monde: mais un brigandage horrible: comme chacun le peut concevoir: et se verroit plus clairement par experience.“

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VI. Ein „Vaterschaftstest“

übung vertritt.98 In ihrem Fanatismus würden sie irrtümlich die urchristliche Gütergemeinschaft für sich reklamieren, dabei aber die Zuneigung zum Nächsten (affection de charitè)99 und den „wahren Spiegel christlicher Liebe“ (vray miroir de la dilection Chrestienne),100 den die lukanische Schilderung darstelle, pervertieren, indem sie die Aufhebung der Besitz- und Eigentumsverhältnisses propagierten.101 Immer wieder platziert Calvin den Vorwurf der Konfusion (confusion).102 Sie würde notwendigerweise mit der Forderung nach einem Besitzverzicht für Christenmenschen einhergehen. Calvin spricht diesbezüglich von einem doppelten Fehler (qu‘ilz failent doublement),103 den die Libertiner in ihrer Berufung auf die lukanische Schilderung begehen würden. Zum einen habe Lukas keineswegs behauptet, dass jeder sein Besitz verkauft habe, und zum anderen auch nicht, dass diejenigen, welche dies getan hätten, allen Besitz verkauft hätten.104 Die Libertiner würden mit textlichen Interpolationen arbeiten, die ihrer freien Phantasie entspringen, und dabei eine Fülle von Gegenbeispielen aus der Apostelgeschichte übersehen. Calvin verweist abgesehen von Josef Barnabas (Apg 4,36) namentlich auf Tabitha (Apg 9,36), Simon den Gerber (Apg 10,6), Maria, die Mutter des Johannes Markus (Apg 12,2), die Purpurhändlerin Lydia (Apg 16,15) und schließlich Philemon, den Adressaten des gleichnamigen Paulusbriefes.105 Alle diese Personen haben nach der Erzählung der Apostelgeschichte ihren Besitz behalten und werden Calvin zufolge gleichwohl als Glaubensvorbilder (les plus parfaictz entre les Chrestiens)106 dargestellt, was nicht der Fall sein dürfte, wenn Lukas

98

In seinem Jesaja-Kommentar adressiert J. CALVIN (Auslegung des Propheten Jesaja 1, 83) die „Schwärmer“ (fanaticos homines) als solche, „die das Recht des Schwertes und alle Polizei und staatliche Ordnung aus der Welt zu schaffen trachten.“ – DERS., CO 36,83 (Komm. Jes 3,4): „[…] qui ius gladii omnemque politiam et ordinem e mundo exterminare conantur.“ Vgl. dazu: HOFHEINZ, Johannes Calvins theologische Friedensethik, 109–111. 99 CALVIN, CO 7,217 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). Vgl. H. SCHOLL, Reformation und Politik. Politische Ethik bei Luther, Calvin und den Frühhugenotten, Stuttgart u.a. 1976, 66: „Die Totalität der reformatorischen Freiheit besteht nicht im gewissermaßen leeren Raum der Zügellosigkeit, sondern in der Tatsache, daß neben dem in Christus befreiten Menschen der Mitmensch steht. Praxis christlicher Freiheit artikuliert sich nicht in Eigenliebe, sondern in Nächstenliebe.“ 100 CALVIN, CO 7,218 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 101 Vgl. ebd.: „Car ilz insistent sur ce poinct, que nul ne doit rien avoir de propre.“ 102 Vgl. ebd. 103 Ebd. 104 Vgl. ebd. 105 Vgl. a.a.O., 218f. 106 A.a.O., 219.

6. „Haben als hätte man nicht“

197

tatsächlich die radikale Besitzlosigkeit hätte befürworten wollen.107 Dies sei indes keineswegs der Fall, wie die Libertiner irrtümlich unterstellen würden. 6. „Haben als hätte man nicht“ Der Umgang mit Eigentum nach Calvin Die Frage nach einem im Vergleich zu den Libertinern alternativen christlich-moralischen Umgang mit Privatbesitz und Eigentum108 steht für Calvin im Raum. Wie bereits ausgeführt wird die Frage: „[H]ebt die Gemeinsamkeit, die Lukas hier rühmt, den Privatbesitz auf (tollit oeconomiam)[?]“,109 von Calvin eindeutig negativ beantwortet.110111 Gütergemeinschaft im Sinne des Besitzverkaufs ist Calvin zufolge die Ausnahme von der Regel, den Privatbesitz zu behalten: „Diese Gütergemeinschaft ist nicht von allen ohne Ausnahme gepflegt worden. Der Zusammenhang lässt ersehen, daß es viele gab, die ihren Besitz nicht anrührten.“112 Calvin unterscheidet zwischen (höchst partieller) Gütergemeinschaft und (vollständiger) Gütergemeinschaft, wie er am Beispiel des Josef Barnabas verdeutlicht: 107

Vgl. ebd.: „Et toutesfois il n’y avoit point une communion de biens confuse entre eux.“ 108 Zum Umgang mit Eigentum nach Calvin vgl. BIELER, La pensée économique et sociale de Calvin, 351–357; F. DERMANGE, Calvin’s View of Property: A Duty Rather Than a Right, in: E. DOMMEN / J.D. BRATT (Hg.), John Calvin Rediscovered. The Impact of His Social and Economic Thought, London / Louisville 2007, 33–52; H.H. ESSER, Der Eigentumsbegriff Calvins angesichts der Einführung der neuen Geldwirtschaft, in: W.H. NEUSER / B.G. ARMSTRONG (Hg.), Calvinus Sincerioris Religionis Vindex: Calvin as Protector of the Purer Religion, Sixteenth Century Essays & Studies 36, Kirksville/MO 1997, 139–161; JÄHNICHEN, Die Ethik Calvins, 170f.; G.W. LOCHER, Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, Zürich 1962, 36–55. 109 CALVIN, Komm. Apg 2,45, 60. 110 Calvin beruft sich auf Gegenbeispiele zu einer Gütergemeinschaft im Sinne einer vollständigen Kollektivierung und benennt namentlich mit Ananias und Josef zwei solche Gegenbeispiele: „Das ergibt sich vollends deutlich aus dem späteren Bericht ([Apg] 4,36; 5,1), wo aus den Tausenden von Gläubigen nur zwei genannt werden, die ihre Besitztümer (possessiones) verkauften. Wir schließen daraus, daß die Gütergemeinschaft nur eine Hilfe für die gegenwärtige Not bedeutete (non aliter collata in medium bona fuisse, nisi ut praesenti inopiae succurrerent).“ Ebd. 111 Ebd. Dabei handelt es sich um Josef, von den Aposteln Barnabas genannt (vgl. Apg 4,36), und Ananias (vgl. Apg 5,1). 112 CALVIN, Komm. Apg 4,33, 93: „Quanquam universalis est loquutio, non tamen plus valet quam indefinita. Et certe probabile est fuisse multos qui possessiones suas non attigerint: idque ex contextu potest colligi.“ CALVIN, CO 26,95.

198

VI. Ein „Vaterschaftstest“

„Josef wird ausdrücklich unter dem Gesichtspunkt gelobt, daß er seinen einzigen Acker verkaufte und dadurch alle anderen überragte. Nun sehen wir, worin die Gütergemeinschaft bestand: es genoß niemand sein Gut ohne Rücksicht auf die andern (nemo sibi quidquam proprium esse duxerit), sondern ein jeder war bereit, nach Bedarf fürs Allgemeine beizusteuern (necesse esset, parati erant in commune conferre).“113

In seiner Kommentierung der Erzählung von Ananias und Saphira (Apg 5,1–11) betont Calvin dementsprechend, „daß niemand ein Gesetz auferlegt war, sich von seinem Vermögen zu trennen (nulli fuisse impositam legem sua alienandi). Denn Petrus erklärt, es habe dem Ananias freigestanden, sowohl den Acker zu behalten als auch das dafür erlöste Geld.“114 Da Calvin, wie dargestellt, keineswegs eine Aufhebung des Privateigentums propagierte, sondern sich von solchen Forderungen abgrenzte, stellt sich Frage nach dem angemessenen Umgang mit demselben umso dringlicher. In der „Institutio“ nennt Calvin drei Regeln für den Gebrauch irdischer Güter. Die erste Regel bildet die paulinische Paradoxie des hos mē (1Kor 7,29–31),115 die er auch in der Streitschrift „Wider die Sekte der Libertiner“ bemühte:116 „Die erste [sc. Regel; M.H.] finden wir in der Anweisung des Paulus: ‚Die diese Welt gebrauchen, sollen gesinnt sein, als ob sie sie nicht gebrauchen (acsi non ducerent)[,] … die da Weiber haben, als hätten sie keine, die da kaufen, als kauften sie nicht (acsi non emerent).“117 Die zweite Regel zielt auf Genügsamkeit ab: „[S]ie sollen den Mangel mit Friedsamkeit und Geduld (placide ac patienter) und gleicherweise den Überfluß mit Mäßigung zu tragen wissen (moderate abundantiam ferre noverint).“118 Bei beiden Regeln geht es um „die Freiheit der Gläubigen in solchen äußerlichen Dingen (fidelium in rebus externis libertas)“.119 Schließlich besagt die dritte Regel, dass Christenmenschen beim Austeilen des irdischen Besitzes, der nur ein anvertrautes Gut sei, „die Liebe (caritas) walte[n]“120 lassen sollen.

113 114 115

CALVIN, Komm. Apg 4,36f., 94. CALVIN, Komm. Apg 5,4, 97. Die wirtschaftsethische Aktualität des hos mē unterstreicht nachdrücklich W. HUBER, Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens. Von der Geburt bis zum Tod, München 2013, 162f. 116 Vgl. CALVIN, CO 7,219 (Wider die Sekte der Libertiner, 1545). 117 CALVIN, Inst. (1559), III,10,4. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 CALVIN, Inst. (1559), III,10,5.

7. Gemeindediakonie

199

7. Gemeindediakonie Impulse Calvins Es geht – wie bereits angedeutet wurde – Calvin nicht um ein sozialbzw. wohlfahrtsstaatliches System von Distribution, das von einem zuvor eingezogenen Kollektivvermögen ausginge. Worum aber dann? Am ehesten wohl um „eine geordnete Diakonie auf Grund allgemeiner Hilfsbereitschaft aller Glieder der Gemeinde“.121 Dies wird in Calvins Schilderung der Jerusalemer Urgemeinde evident. In ihr nimmt Calvin seine Leser- bzw. Zuhörerschaft in den Blick und stellt ihr die Jerusalemer Gemeinde als vorbildlich vor Augen.122 Die Gemeindeschilderung der Apostelgeschichte hat nämlich – wie Calvin ausführt – eine elenchtische Funktion: Sie beschämt. Um dies zu demonstrieren, arbeitet Calvin mit einem Kontrastschema, das das „wir“ der Rezipienten/innen dem „sie“ der Jerusalemer Gemeinde, ihr „damals“ unserem „heute“ gegenüberstellt: „Damals spendeten die Gläubigen reichlich von ihrem Gut; wir begnügen uns heute nicht, mißgünstig zu verschließen, was wir in Händen haben, sondern rauben grausam noch Fremdes (aliena crudeliter rapimus). Jene boten schlicht und gutgläubig ihr Eigentum dar; wir ersinnen tausend trügerische Künste, um alles von allen Seiten an uns zu ziehen. Jene legten ihre Gaben zu den Füßen der Apostel; wir berauben frech das Heiligtum und stehlen ohne Scheu, was dem Herrn geweiht war. Einst verkaufte man seine Besitztümer (possessiones); jetzt herrscht eine unersättliche Gier, alles zusammenzukaufen (nunc insatiabilis regnat emendi cupiditas). Damals machte die Liebe (caritas) den Privatbesitz den Armen gemein; jetzt sind gewisse Leute so unmenschlich (inhumanitas), daß sie den Armen mißgönnen (pauperibus invideant), mit ihnen zusammen auf der Erde zu wohnen und mit ihnen das 121

BALKE, Calvin und die Täufer, 217. Zur Diakonie bei Calvin vgl. E.A. MCKEE, John Calvin on the Diaconate and Liturgical Almsgiving, Travaux d’Humanisme et Renaissance 197, Genf 1984; DIES., The Offices of Elder and Deacon in the Classical Reformed Tradition, in: D.K. MCKIM (Hg.), Major Themes in the Reformed Tradition, Grand Rapids 1992, 344–353; DIES., Church Offices: Calvinist Offices, in: H.J. HILLERBRAND u.a. (Hg.), The Oxford Encyclopedia of the Reformation, Bd. 1, New York 1996, 335–338; DIES., Johannes Calvins Lehre vom Diakonat, in: A. REISS / S. WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes A Lasco Bibliothek Emden, Dresden 2009, 344–350; G. WENZEL, Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich – von der Reformation bis 1685. Diakonie zwischen Ohnmacht, macht und Bemächtigung, Göttingen 2013, 224–249; G.-H. HAMMER, Geschichte der Diakonie in Deutschland, Stuttgart 2013, 91–95. 122 Vgl. CALVIN, SC 8,118f. (Predigt zu Apg 4,32–37): „Car si nous voulons que Dieu nous accepte pour ses enfans et qu’il nous repute du corps de son Eglise, il fault que nous ensuyvions leur exemple. Nous sçavons que nostre Seigneur n’a point changé de propos depuis ce temps là. Il fault done que nous ayons uns mesme conjonction avec ceulx cy, dont parle sainct Luc. Et voulons nous qu’elle soit ferme et approuvé de Dieu? Il fault que nous ensuyvions les pas de ceulx, dont il est icy parlé.“

200

VI. Ein „Vaterschaftstest“

Wasser, die Luft und den Himmel zu genießen. Was hier geschrieben steht, dient also zu unserer Beschämung (in pudorem ac dedecus [wörtlich: in Scham und Schande; M.H.]).“123

Die Schilderung des Ideals der Jerusalemer Gemeinde hat Calvin zufolge aber nicht nur elenchtische Funktion, sondern man kann sogar alle drei Gesetzesgebräuche, die Calvin kennt, entlang seiner Kommentierung der urchristlichen Gütergemeinschaft entfalten. Abgesehen vom usus elenchticus legis, dem überführenden Gebrauch des Gesetzes oder dessen erstem Amt (primum officium),124 entfaltet Calvin auch ein zweites Amt (secundum officium), den usus politicus legis, d.h. den Gemeinschaft erhaltenden Gebrauch des Gesetzes.125 Er hat präventive Funktion und zeigt sich in Calvins Auslegung in der Akzentuierung: keine Beseitigung des Privateigentums, keine mutwillige Zerstörung der Ordnung. Schließlich kennt Calvin auch als den vornehmsten Gebrauch (praecipuus usus)126 den usus in renatis,127 d.h. den Gebrauch für die Wiedergeborenen. Hier geht es um die moralische Orientierung, konkret um die Ausrichtung des Handelns auf die Unterstützung der Armen und die Hilfe für die in Not geratenen Nächsten. Diese dritte Anwendung (tertius usus) „geschieht“ – wie Calvin betont – „an den Gläubigen (erga fideles locum habet), in deren Herz Gottes Geist bereits zur Wirkung und Herrschaft gelangt ist (quorum in cordibus iam viget ac regnat Dei Spiritus)“.128 Das urchristliche Ideal als Gesetz in seinen „usus“ (Gebräuchen) usus elenchticus legis

usus politicus legis

usus in renatis

primum officium „Was hier geschrieben steht, dient […] zu unserer Beschämung.“

secundum officium Keine Beseitigung des Privateigentums, keine mutwillige Zerstörung der Ordnung

Inst. (1559), II,7,6–9

Inst. (1559), II,7,10–11

praecipuus usus Ausrichtung auf die Unterstützung der Armen, Hilfe für die in Not geratenen Nächsten Inst. (1559), II,7,12–17

Calvin intendiert mit seiner Beschreibung der Jerusalemer Urgemeinde nicht einen sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Gesellschaftsent123 124 125 126 127 128

CALVIN, Komm. Apg 4,36f., 94. Vgl. CALVIN, Inst. (1559), II,7,6–9. Vgl. CALVIN, Inst. (1559), II,7,10–11. CALVIN, Inst. (1559), II,7,12. Vgl. CALVIN, Inst. (1559), II,7,12–17. CALVIN, Inst. (1559), II,7,12.

7. Gemeindediakonie

201

wurf nach allgemeinen Grundsätzen. Es geht ihm primär um die christliche Gemeinde und insofern um die Diakonie in der christlichen Gemeinde (Gemeindediakonie).129 Auch wenn sich Gemeinde und Gesellschaft damals in der Stadt Genf sicherlich in ungleich stärkerem Maße einer Deckungsgleichheit annäherten als dies unter säkularen Bedingungen gegenwärtig der Fall ist, so trifft eine Gleichsetzung beider Größen keineswegs Calvins Kirchen- wie Gesellschaftsund Staatsverständnis: „Ein Austausch der Güter (bonorum communicatio) kann doch nur stattfinden, wo fromme Eintracht (pius consensus) waltet und man ein Herz und eine Seele (cor unum et anima una) ist. […] [W]eder schrieb Lukas ein für jedermann verbindliches Gesetz (universis legem) vor, wenn er von dem Verhalten der ältesten Christen berichtet […] – noch spricht er ausnahmslos (sine exceptione) von allen, so daß man etwa denjenigen nicht für einen Christen angesehen hätte, der nicht sein ganzes Gut verkaufte (nisi qui sua omnia venderent).“130

Dieser ekklesiologischen Verortung der christlichen Praxis des Gütertauschs entspricht der pneumatologische Skopus des lukanischen Textes, den Calvin klar benennt: Im Verhalten der ältesten Christen wirkte sich „eine einzigartige Kraft des göttlichen Geistes (singularis […] spiritus Dei efficacia)“131 aus. Ebenso hat auch die Erzählung von „Ananias und Saphira“ nach Calvin einen pneumatologischen Skopus: „Es gilt hier […] vor allem auf die Absicht des heiligen Geistes (consilium spiritus sancti) zu achten. Er will durch diese Geschichte (hac historia) erstlich bezeugen, daß dem Herrn nur ein aufrichtiges Herz (cordis sinceritas) wohlgefällt, zum andern, daß er auf eine heilige und reine Zucht in seiner Gemeinde (sancta puraque ecclesiae suae politia) großen Wert legt.“132 129

J. EURICH u.a. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011. 130 CALVIN, Komm. Apg 4,36f., 94. TROELTSCH (Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 638) hat durchaus zutreffend im Blick auf Calvin beobachtet, dass dieser seiner Gemeindezucht „eine Heiligungsethik zugrunde [legte], die an Strenge mit der der Täufer sich vergleichen konnte, ohne doch die für die Gesellschaft unmögliche radikale Liebesmoral der Bergpredigt zum allgemeinen Gesetz zu machen“. Freilich spricht Troeltsch nicht nur von der Gemeindezucht, sondern auch der „Staatsgestaltung“ (ebd.), die zumindest in der Kommentierung der lukanischen Summarien nicht im Blick ist. Vgl. auch a.a.O., 736. 131 CALVIN, Komm. Apg 4,36f., 94. 132 CALVIN, Komm. Apg 5,1, 95. CALVIN (Komm. Apg 5,3, 96) fragt: „Wie durchschaute Petrus den Betrug des Ananias? Ohne Zweifel durch Offenbarung des Geistes ([p]rocul dubio ex revelatione spiritus). Lukas gibt also zu verstehen, daß der Apostel gleichsam an Gottes Stelle stand und seine Sache führte (vices functos esse).“ CALVIN (ebd.) betont in diesem Zusammenhang die Gottheit des Heiligen Geistes: „Der Tadel, daß Ananias dem heiligen Geist gelogen habe (spiritui sancto perfi-

202

VI. Ein „Vaterschaftstest“

Man mag insbesondere diese in mancherlei Hinsicht rätselhafte und erschütternde Erzählung als Beleg für den hoch problematischen Charakter eines solchen Exzesses des gemeindediakonischen Modells verstehen, wird aber doch wohl kaum um den auch von Calvin erhobenen theologischen Befund herumkommen, den Wolfgang Schrage wie folgt auf den Punkt gebracht hat: „Selbst wenn Lukas hier Einzelfälle verallgemeinert, wovon ich ausgehe, sollte man das selbst im Sinne des Lukas nicht einfach als überholtes und abständiges Ideal abtun. Gewiß ist die Bezeichnung Liebeskommunismus kaum adäquat, denn immer wieder ist darauf hingewiesen worden, daß eine Sozialisierung der Produktion ebenso fehlt wie erst recht ein umfassend organisiertes Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Wichtiger ist aber, daß die Geisterfahrung (vgl. das unmittelbar dem 2. Summarium vorangehende ‚Und alle wurden vom heiligen Geist erfüllt‘ in 4,31) ganz real auch in den ökonomischen Bereich hineinreicht. […] Es geht weder um ein monastisches Ideal in einem sozusagen exterritoralen Reich (so in Qumran) noch um eine neue Weltordnung, wohl aber um eine geschwisterlich organisierte Gemeinde in allen Lebensbezügen. Darum ist zugleich […] vom Verharren in der Lehre der Apostel, vom Brechen des Brotes und vom Gebet die Rede. Daß Lukas selbst nicht das asketische Programm völliger Besitzlosigkeit vertritt, ist ohnehin klar (vgl. nur Lk 8,3). Er betont vielmehr mit Nachdruck die Wohltätigkeit und warnt, sich Freunde mit dem ungerechten Mammon zu machen (Lk 16,9). Und doch hat er die Erinnerung an die Praxis der Urgemeinde nicht einfach auf Kosten der eigenen Gegenwart getilgt. Solche Erinnerungen sind als Stimulus auch heute nötig.“133

Schrage macht die gemeindediakonische bzw. gemeindeethische Pointe der lukanischen Darstellung stark, die auch Calvin herausarbeitete, wie wir gesehen haben. Die Akzentuierung der bleibenden Relevanz von alternativen Gemeinschaften liegt – wie mir scheint – auf der Linie dessen, was Lukas und Calvin damals ausführten. Nochmals Schrage: „Bei aller geschichtlichen Wandlung aber ist doch eindeutig, daß alle genannten Zeichen und Aktivitäten der Solidarität nicht ohne Einbindung in eine Gemeinschaft möglich sind, was in einer Zeit einer einseitig individualistisch-personalistischen Anthropologie, aber zugleich zunehmender Vereinzelung wie heute von besonderem Gewicht ist. Die Jüngerschar bestand nicht de illuserit), besagt nichts anderes, als was ihm nachher vorgeworfen wird, er habe nicht Menschen, sondern Gott gelogen (Deo non hominibus mentitus sit).“ „Außerdem ist bemerkenswert, daß wer den heiligen Geist belügt, gegen Gott selbst lügt. Diese Ausdrucksweise ist ein deutlicher Beweis für die Gottheit des heiligen Geistes (spiritus sancti divinitas).“ CALVIN, Komm. Apg 5,4, 97. 133 W. SCHRAGE, Biblisch-theologische Reflexion zum Thema aus neutestamentlicher Sicht, in: R. WETH (Hg.), Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996, (13– 27) 25f.

8. Schlussbemerkung

203

aus lauter Einzelkämpfern, die wie mönchische Einsiedler oder wie die Stoiker in splendid isolation ihr Ideal leben. Darum werden die, die in die Nachfolge gerufen werden, sofort in eine neue Gemeinschaft integriert, die sich in einer Art Kontrast- oder Alternativgesellschaft (auch damals handelte es sich bekanntlich um eine Minorität) geborgen wissen können, gewiß ohne Ghettomentalität und Weltflucht, aber doch in der Geschwisterlichkeit der familia Dei (Mk 10,30) bzw. in der Gemeinschaft des Leibes Christi, in der ein Glied mit dem anderen leidet und weint, aber auch sich freut und geehrt wird (1Kor 12,26; Röm 12,15).“134

8. Schlussbemerkung Traugott Jähnichen hat die Argumentation Calvins wie folgt zusammengefasst: „Die Geltung des Privateigentums verteidigt Calvin insbesondere gegen die Ansicht der Täufer [genauer gesagt: der Libertiner; M.H], die mit Verweis auf die Apostelgeschichte eine Gütergemeinschaft als die dem göttlichen Recht entsprechende Ordnung propagierten. Das Privateigentum sieht Calvin demgegenüber auch in der Jerusalemer Urgemeinde, wie es die Apostelgeschichte berichtet, vorausgesetzt, gleichzeitig betont er im Sinn der Apostelgeschichte aber auch die Verpflichtung der Besitzenden, den Besitzlosen zu helfen. Menschen erhalten Gut, um damit die Bedürftigen zu unterstützen.“135

Weist man ergänzend zu dieser sicherlich nicht unzutreffenden Zusammenfassung noch auf Calvins scharfe, ja barsche Ablehnung der Libertiner hin, so scheint eine Verifikation der Weber-These das Ergebnis der Untersuchung zu sein. Kommt man abschließend noch einmal auf die eingangs geschilderte „Versuchsanordnung“ der Untersuchung zu sprechen, so scheint der indirekte Beweis im Sinne der reductio ad absurdum gescheitert zu sein: Calvin verhält sich schroff ablehnend gegenüber den Libertinern mit ihrer antikapitalistischen Einstellung und insofern konform zur Weber-These, sieht man einmal davon ab, dass Weber selbst beansprucht, sich auf den Calvinismus und nicht Calvin zu beziehen. Erweist sich Calvin damit nicht tatsächlich als „Vater des Kapitalismus“? Oder vorsichtiger formuliert: Liegt damit nicht ein weiterer, kleiner Baustein zur Verifikation der Weber-These vor? Freilich wird man einwenden können, dass sich Calvin – wie demonstriert – gegenüber zwei Seiten bzw. Extremen abgrenzt und d.h. nicht nur gegenüber dem libertinischen „Kommunismus“, sondern auch gegenüber einem Güterindividualismus, der die von Calvin nach134 135

A.a.O., 26. JÄHNICHEN, Die Ethik Calvins, 171.

204

VI. Ein „Vaterschaftstest“

drücklich betonte Armenfürsorge gerade nicht wahrnimmt, sondern beflissentlich ausschlägt. Ein weiteres Argument muss ergänzt werden: Die Kennzeichnung der innerweltlichen Askese als Extrem bei Calvin. Der Genfer Reformator lehnt also das ab, was nach Weber grundlegend Kapitalismus befördernd wirkte. Auch Calvins Mahnung, die Armen nicht zu berauben und ihren Nöten mit offener Hand zu begegnen, sei nochmals in Erinnerung gerufen. Lässt sich dieser die Armen beraubende Güterindividualismus nicht als eine Spielart des Kapitalismus, vielleicht sogar als eine recht vulgäre, charakterisieren? Sollte dies zutreffen, wäre die Kapitalismusvaterschaft Calvins infrage gestellt und das positive Ergebnis des „Vaterschaftstests“ hinfällig. Allerdings wird man beachten müssen, was Weber unter Kapitalismus versteht und hier zeigt sich, dass ihm keineswegs ein Vulgärkapitalismus vor Augen stand: „‚Erwerbstrieb‘, ‚Streben nach Gewinn‘, nach Geldgewinn, nach möglichst hohem Geldgewinn hat an sich mit Kapitalismus gar nichts zu schaffen. […] Schrankenloseste Erwerbsgier ist nicht im mindesten gleich Kapitalismus, noch weniger gleich dessen ‚Geist‘. Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung, dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn: im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb; nach immer erneutem Gewinn: nach ‚Rentabilität‘.“136

Diese von Weber beschriebene Gestalt eines gleichsam domestizierten Kapitalismus dürfte Calvins Vorstellungen näherkommen. Freilich bleiben Zweifel, nicht zuletzt auch aufgrund der Tatsache, dass Webers Kollege und Freund Ernst Troeltsch, auf dessen Untersuchungen sich Weber gerne berief,137 zu einer anderen Beurteilung Calvins und des Calvinismus gelangte und deren Position ausgerechnet unter den Begriff „Sozialismus“ statt „Kapitalismus“ stellte:138 „Der Calvinismus war […] christlicher Sozialismus in dem Sinne, daß er das ganze Leben in Staat und Gesellschaft, Familie und Wirtschaft, im öffentlichen und privaten Dasein nach den christlichen Maßstäben solidarisch ausgestaltet[e]. Er sorgte für jedes einzelne Glied, daß er an natürlichen und 136 137

WEBER, Protestantische Ethik, 106. Vgl. etwa WEBERS (Protestantische Ethik, 125; dort z.T. kursiv) Bemerkung, dass es Troeltsch „mehr auf die Lehre, mir [gemeint ist: Max Weber; M.H.] mehr auf die praktische Wirkung der Religion an[kommt]“. Zum Verhältnis von Weber und Troeltsch vgl. H.E. TÖDT, Max Weber und Ernst Troeltsch in Heidelberg, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. FS in sechs Bde., bearbeitet v. W. DOERR, Berlin / Heidelberg 1985, 215–258; F.W. GRAF, Fachmenschenfreundschaft. Studien zu Troeltsch und Weber, TroeltschStudien. NF 3, Berlin / Boston 2014, 111–150; 269–294; 335–352. 138 Darauf hat zu Recht BUSCH (Das Recht der Armen, 125) hingewiesen.

8. Schlussbemerkung

205

geistlichen Gütern der Gemeinschaft den ihm den angemessenen Anteil erhalte, und suchte zugleich das Ganze der christlichen Gesellschaft wirklich bis ins einzelne zum Ausdruck der Königsherrschaft Christi zu machen.“139

Man wird die Frage stellen müssen, ob diese abwägenden und um differenzierte Urteilsbildung bemühten Erwägungen nicht an dem ausgewählten Gegenstand bzw. den der Untersuchung zugrundeliegenden Quellen vorbeigehen, nämlich Calvins Kommentierung der lukanischen Summarien zum sog. „urchristlichen Liebeskommunismus“. Calvin geht es hier nämlich nicht – wie demonstriert – um die grundsätzliche Systemfrage im Blick auf die Wirtschaft in ihrer gesamtgesellschaftlich Dimensionierung, sondern die aus der Liebe erwachsende gemeindediakonische Praxis. Dass diese gesellschaftliche Strahlkraft entfaltet, ist dabei sowohl bei Calvin als auch Lukas140 durchaus im Blick. Treffend bemerkt der Calvin-Interpret Willem Balke: „Calvins Sicht der urchristlichen Gemeindepraxis ist die einer aus der Freiheit des Glaubens lebenden Liebesgemeinschaft, nicht die eines sozialpolitischen Programms. Es ist die spontane Reaktion des Glaubens auf die Liebe Christi, Menschen in Not tatkräftig zu helfen. Aber er lehnt eine allgemeine Besitzlosigkeit ab, die anstelle einiger alle in Armut stürzen würde. [...] Die freie Gütergemeinschaft der pfingstlichen Gemeinde, zu der niemand gezwungen wurde (vgl. Apg. 5,4), war ja keine bleibende Ordnung in der Geschichte der Kirche. Aber sie bleibt ihr ein Vorbild einer aus der Kraft des heiligen Geistes lebenden, einander dienenden Gemeinschaft. Dabei ist für Calvin der Gedanke der von Gott zur Haushalterschaft uns anvertrauten Güter unter dem Primat der Liebe sehr wichtig. Gott ist der große Eigentümer alles irdischen Gutes, der Mensch nur sein Verwalter.“141

Doch was heißt dies im Blick auf die sog. Weber-These? Die Verbindung von Calvins Interpretation der lukanischen Summarien zum „urchristlichen Kommunismus“ und Webers These hat zunächst zweierlei ergeben: zum einen lehnt Calvin das Privateigentum nicht 139 140

TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 676. Treffend bemerkt R.B. HAYS (The Moral Vision of the New Testament. Community, Cross, New Creation. A Contemporary Introduction to New Testament Ethics, San Francisco 1995, 302): „The account of the early Jerusalem community in Acts 2:42-47 und 4:32-37 provides a positive paradigm, rather than a negative warning, for the church. But the normative function of this narrative is still metaphorical in the sense that I am describing: in this text, we are given neither rules for community life nor economic principles; instead, we are given a story that calls us to consider how in our own communities we might live analogously, how our own economic practices might powerfully bear witness to the resurrection so that those who later write our story might say, ‘And great grace was upon them all.’ The Word leaps gap.“ Vgl. auch W. SCHRAGE, Ethik des Neuen Testaments, GNT 4, Göttingen 51989, 130f.; 166f. 141 BALKE, Calvin und die Täufer, 217.

206

VI. Ein „Vaterschaftstest“

ab und zum anderen stellt er das Privateigentum voll in den Dienst am Nächsten, insbesondere an den Armen. Während der erste Aspekt einer Entwicklung des Kapitalismus gewiss nicht hinderlich ist, macht der zweite Aspekt das, was als Vulgärkapitalismus bezeichnet wurde, unmöglich. Es stellt sich die Frage, ob damit Webers Einschränkung, dass Rentabilität statt schrankenlosem Gewinnstreben im Sinne des Kapitalismus sei, recht berührt wird. Das Ergebnis wäre in der Tat dann, dass Kapitalismus mit Calvin nur in einer sozial ausgerichteten Form möglich wäre. Insofern entzieht sich Calvin zumindest den oberflächlichen Rezeptionslinien der Weber-These. Freilich ist jedoch, wie gesagt, auch zu berücksichtigen, dass Webers These damit eher auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene angesiedelt wird. In der Tat stellt Weber, wie wir gesehen haben, die Frage nach dem Wirtschaftssystem explizit. Calvins besprochene Ausführungen sind hingegen, wie wir ebenfalls gesehen haben, nicht primär auf der gesamtgesellschaftlichen, sondern der gemeindediakonischen Ebene angesiedelt. Wird damit nicht, um den kritischen Einwand nochmals zu wiederholen, Inkommensurables in einen Zusammenhang gebracht? Hierbei gilt es zu bedenken, dass es Weber – um mit dem Titel seiner Untersuchung zu sprechen – um den „Geist des Kapitalismus“ geht,142 also die kapitalistische Mentalität,143 und diese kann sich ja auch zunächst gemeindediakonisch manifestieren, um dann später auf die höhere, gesamtgesellschaftliche Ebene transponiert zu werden. Die Mentalität des Gewinnstrebens wird indes in den hier untersuchten Texten nicht ansichtig, wenngleich die Geltung des Privateigentums, die Calvin verteidigt, natürlich eine grundsätzliche ordnungspolitische Voraussetzung für den Kapitalismus im Weberʼschen Sinne bildet. Im Blick auf eine sachgemäße Überprüfung der sog. Weber-These ist es unerlässlich, differenziert zu urteilen. Differenzierungen, Präzisierungen, Kautelen und Einschränkungen prägten dementsprechend auch den Gang der vorgeführten Urteilsbildung. Das begann bei der Differenzierung zwischen dem, was die Weber zugeschriebene These 142

WEBER (Politische Ethik, 185) unterscheidet zwischen „Geist“ und „Form“ der Wirtschaft, die nicht in einer gesetzlichen Abhängigkeit stünden: „Die ‚kapitalistische‘ Form der Wirtschaft und der Geist, in dem sie geführt wird, stehen zwar generell im Verhältnis ‚adäquater‘ Beziehung, nicht aber in dem einer ‚gesetzlichen‘ Abhängigkeit voneinander.“ WEBER (ebd.), erläutert diese Aussage dahingehend, dass er betont, dass „jene Gesinnung [also der „Geist“ des Kapitalismus; M.H.] in der modernen kapitalistischen Unternehmung ihre adäquateste Form, die kapitalistische Unternehmung andererseits in ihr die adäquateste geistige Triebkraft gefunden hat“. Vgl. dazu auch SCHLUCHTER, Religiöse Wurzeln, 201. 143 So SCHELLONG, Calvinismus und Kapitalismus, 75; DERS., Wie steht es um die „These“, 6f.

8. Schlussbemerkung

207

besagt und was Weber selbst gesagt hat144 und setzte sich in der Unterscheidung von Calvin und Calvinismus und der Einschränkung auf den von Weber anvisierten (domestizierten) Kapitalismustyp fort. In gewisser Weise spiegelt sich hier eine Tendenz der WeberForschung wider, die man als „pedantische Kasuistik“ stigmatisieren kann. Das Gesamtbild einer abschließenden Beurteilung komplettiert sich aus den verschiedenen kleinen Mosaiksteinchen, die wie die hier vorgetragene Untersuchung für sich betrachtet die „Großtheorie“ oder „Mega-These“ von Weber wohl nicht zu Fall bringen können. Freilich handelt es sich bei dem vorgeführten indirekten Test um einen „Vaterschaftstest“, der Zweifel an der „Vaterschaft“ Calvins nährt, aber keinen hinreichenden Beweis liefern kann. Die Grenzen der klassischen Logik, die nur mit zwei Werten (wahr und falsch) rechnet, erscheinen als die Grenzen des „Vaterschaftstests“. Die dargebotenen Ausführungen haben in ihrer Differenziertheit gezeigt, dass im Sinne einer mehrwertigen Logik mit mehr als zwei Werten bei der Beantwortung der Ausgangsfrage unserer Untersuchung bzw. dem Vaterschaftstest zu rechnen ist. Einer gewissen Plausibilitätskontrolle war dieser Test zweifellos dienlich. Um im Bilde zu bleiben, es ging sozusagen um die älteste verfügbare Methode des Vaterschaftstests, die Plausibilitätskontrolle anhand eines bestimmten sichtbaren Merkmals, hier: der Ablehnung des Besitzverzichts. Es sind freilich weitere Merkmale zu betrachten, also weitere Plausibilitätskontrollen durchzuführen, mit denen die Plausibilität steigt.145 Insofern mag man die dargebotenen Ausführungen weniger als Punkt, vielmehr als Doppelpunkt verstehen, d.h. als Einladung zu weiteren Tests. In der Summe aber wird man resümierend fragen dürfen, ob die sog. Weber-These – wie Christian Link bemerkt – nicht bereits „den ‚Tod von tausend Einschränkungen‘ gestorben“146 ist. Ihrer Popularität 144

So nachdrücklich SCHELLONG, Calvinismus und Kapitalismus, 74: „[M]an muß unterscheiden zwischen dem, was Max Weber geschrieben hat, und dem, was daraus in der Rezeptionsgeschichte geworden ist.“ 145 Diese Methode kann biologisch den Nachweis einer Vaterschaft nicht führen, da das Elternpaar phänotypisch nicht ausgeprägte Erbanlagen dennoch vererben kann, sodass sich beim Kind sichtbare Merkmale zeigen, die bei den Eltern nicht sichtbar sind. 146 LINK, Calvin – Vater der Moderne?, 269. LINK (ebd.) macht geltend: „Einen Syllogismus practicus hat Calvin nie gelehrt. Er ist erst auf puritanischem Boden zur Wirkung gekommen. Ebensowenig lässt sich ein nennenswerter Einfluss der Prädestinationslehre auf das religiöse und weltliche Leben der calvinischen Gemeinden des 16. Jahrhunderts nachweisen, geschweige denn, dass sie unter deren Gliedern so weitreichende Reflexionen über den Umgang mit Geld und Besitz ausgelöst hätte, wie es in puritanischen Kreisen zweifellos der Fall gewesen ist. Dasselbe dürfte für

208

VI. Ein „Vaterschaftstest“

scheint dies keinen Abbruch zu tun. Es lässt sich vielmehr jene eigenartige Paradoxie beobachten, die der Historiker Hartmut Lehmann auf folgenden Punkt gebracht hat: „Befragt, wie es denn heute mit der Weber-These stehe, muss man […] auf eine doppelte Paradoxie hinweisen. Auf der einen Seite überwiegen in der neueren Weber-Literatur die Einwände und Vorbehalte gegen seine These. Auf der anderen Seite scheint es aber so, als ob die Kritik dieser These nicht eigentlich geschadet, sondern diese nur noch populärer gemacht habe. Auf der einen Seite hat sich in den vergangenen Jahrzehnten keiner der Nobelpreisträger auf dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften, die sich zur Entstehung des Kapitalismus äußerten, auf Webers spezifische Einsichten über den Zusammenhang von protestantischer Ethik und den Geist des Kapitalismus berufen. Auf der anderen Seite gehört dieser Text Webers für Studierende der Soziologie und Geschichte in vielen Ländern der westlichen Welt und auch in Japan aber nach wie vor zur Pflichtlektüre. Vielleicht liegt der eigentliche Beitrag Webers zum besseren Verständnis der Entstehung und Bedeutung des modernen Kapitalismus somit darin, dass er durch eine teilweise – manche Weberkritiker würden sagen: weitgehend – falsche Antwort viele Wissenschaftler angeregt hat, nach einer besseren, einer überzeugenderen Antwort zu suchen.“147

die Tugend der Sparsamkeit, die Verachtung jedweder Vergnügungen oder die asketische Berufsauffassung gelten. Dass Weber den erheblichen sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Abstand zwischen dem Puritanismus des 18. und den Genfer Verhältnissen des 16. Jahrhunderts ignoriert und dementsprechend den Einfluss Calvins auf die religiösen und vollends die säkularisierten puritanischen Strömungen erheblich überschätzt hat, ist in der neueren Forschung immer deutlicher sichtbar geworden.“ 147 LEHMANN, Die Weber-These im 20. Jahrhundert, 383.

VII. Processus und/oder status confessionis? Oder: Kann die Struktur der globalen Ökonomie Anlass eines Bekenntnisses sein? Für Rolf Wischnath in Dankbarkeit und Verbundenheit

1. Einleitung: Streit um den status confessionis Nicht ganz zu Unrecht wird den Reformierten ein geradezu intimes Verhältnis zum Bekennen nachgesagt. Eine spezifisch „reformierte Lust zum aktuellen Bekennen“ mag angesichts der Bekenntnisfülle im 20. Jahrhundert durchaus erkennbar sein.1 Freilich vollzieht sich das Bekennen alles andere als intim, drängt doch das Bekenntnis an die Öffentlichkeit: „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch vor meinem himmlischen Vater bekennen“ (Mt 10,32). Die Intimsphäre wird geradezu gesprengt und Indiskretion, die vielleicht schlimmste Form der Verletzung von Intimität, verlangt. Besonders anti-intim dürfte die Erklärung des status confessionis ausfallen. Es verwundert also nicht, dass es öffentlich laut, ja zum Teil schrill wurde, wenn sie erfolgte. Zu erinnern ist hier nicht nur an die Friedenserklärung des Moderamens des Reformierten Bundes (1982) zu den ABC-Waffen, in der es hieß: „Die Friedensfrage ist eine Bekenntnisfrage. Durch sie ist für uns der status confessionis gegeben, weil es in der Stellung zu den Massenvernichtungsmitteln um das Bekennen oder Verleugnen des Evangeliums geht.“2 Jede der einzelnen Stationen3 der Diskussion um den status confessionis war mit Friktionen, heftigen Kontroversen verbunden: angefangen beim Streit um den Verzehr des Götzenopferfleisches bei Paulus (Röm 14; 1Kor 8) und der Johannesapokalypse

1

Eberhard Busch spricht von „neue[r] Bekenntnisfreudigkeit“ (E. BUSCH, Die Nähe der Fernen – Reformierte Bekenntnisse nach 1945, in: M. WELKER / D. WILLIS [Hg.], Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, [587–606] 588). So auch DERS., Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 36. 2 M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Reformiertes Bekennen heute. Von Belhar bis Kappel, Neukirchen-Vluyn 2015, 103. 3 Vgl. zu den einzelnen Stationen bis zur Atomwaffendiskussion in den 1950er Jahren: U. MÖLLER, Zum Problem des Status Confessionis, in: R. WISCHNATH (Hg.), Frieden als Bekenntnisfrage. Zur Auseinandersetzung um die Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes „Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche“, Gütersloh 1984, (236–271) 237–261. Fernerhin: M. FREUDENBERG, Art. status confessionis, EKL3 4 (1995), 488–490.

210

VII. Processus und/oder status confessionis?

(Apk 3),4 über den sog. adiaphorischen Streit nach dem Leipziger Interim (1548),5 Dietrich Bonhoeffers Erklärung der Judenfrage zur Bekenntnisfrage (1933), die Barmer Theologische Erklärung (1934), die Atomwaffenfrage Ende der 1950er6 und zu Beginn der 1980er Jahre, dem „Belhar-Bekenntnis“7 (1982/86) zum Rassismus (Apartheidsystems) in Südafrika, bis hin zur Erklärung von Accra (2004) und dem „Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit“ hinsichtlich der wirtschaftlichen Ungerechtigkeit und ökologischen Zerstörung im Nord-Süd-Konflikt. Es fällt bei dieser Reihung auf, dass sich im 20. Jahrhundert diese hitzigen Diskurse vor allem an ethische Konfliktlagen anschlossen,8 ein Umstand, der die Kritik nach sich zog, „daß hier moralische Urteile das Bekenntnis inhaltlich bestimmen“.9 Dieser Vorwurf wurde als vordergründige Betrachtungsweise entkräftet: „Wenn ethische Fragen Ausdruck einer verfestigten Ideologie geworden sind und es in der Stellung zu ihnen um die Bejahung oder Verleugnung des Evangeliums geht, ist die K[irche] gerufen, die Wahrheit Gottes konkret öffentlich zu bekennen, auch in ihren ethischen Inhalten.“10 Insofern würden reformierte Bekenntnisse als entscheidungs- und handlungsrelevante Positionierungen auf ethische Herausforderungen reagieren, die in besonderer Weise als bedrängend empfunden werden 4

So zuletzt K. WENGST, „Wie lange noch?“. Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 90: „Warum ist Johannes die Sache mit dem Götzenopferfleisch so wichtig? Ist er einfach nur jüdisch-konservativ? Für ihn lautet die entscheidende Frage nicht, wie die gegebene Situation mit dem geringst möglichen Schaden überstanden werden kann, sondern wie in ihr die Herrschaft Jesu bezeugt wird, sein Anspruch auf die ganze Welt. Und da gibt es für ihn keinen Kompromiss. Von daher bezeichnet für ihn die Ablehnung des Genusses von Götzenopferfleisch den status confessionis. Das ‚Mitmachen‘ ist für ihn in keiner Weise in der Lage, die Herrschaft Jesu zu bezeugen. Es ist für ihn Opportunismus, der im Gegenteil denen die Welt überlässt, die sich Herrschaft über ihn anmaßen. In der Verweigerung, im widerständigen Ausharren wird dagegen die Herrschaft Jesu bezeugt.“ 5 Vgl. einführend: B. LOHSE, Von Luther bis zum Konkordienbuch, in: C. ANDERSEN (Hg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Band 2: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Konfessionalität, Göttingen 21998, 108–113. 6 Vgl. U. MÖLLER, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962, NBST 24, NeukirchenVluyn 1999; V. STÜMKE, Der Streit um die Atombewaffnung im deutschen Protestantismus, in: DERS. / M. GILLNER (Hg.), Friedensethik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, 49–69. 7 Vgl. dazu D.J. SMIT, Essays on Being Reformed. Collected Essays 3, hg. von R. VOSLOO, Stellenbosch 2009, 325–336; 359–376; 461–472. 8 So etwa R. ANSELM, Politische Ethik, in: W. HUBER u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, (195–263) 252. 9 So referiert J. GUHRT, Art. Reformierte Kirchen, EKL3 3 (1992), (1504–1514) 1509. 10 A.a.O., 1509.

1. Einleitung: Streit um den status confessionis

211

und den Glauben in seinem Kern auf die Probe stellen. Nur im extremsten Grad der Zuspitzung würden diese mit dem „marker“ „status confessionis“ versehen. Durch den Gebrauch dieses „markers“ solle kenntlich gemacht werden, dass es sich um eine Frage von Bejahung oder Verleugnung des Evangeliums handle und ein eklatanter Widerspruch gegen Gottes Gebot gegeben sei, der die Einheit im Bekennen unabdingbar mache. Ein eindeutig positives Bekenntnis zu Jesus Christus sei erforderlich, dessen Unterlassen Götzendienst bzw. die Verleugnung seines Namens bedeuten würde. Wolfgang Lienemann hält fest: „Es gibt moralische und sittliche Herausforderungen, die nicht allein mit einer rationalen Wahl zwischen unterschiedlichen Gütern und Handlungsmöglichkeiten beantwortet werden können. Dies ist dann der Fall, wenn Menschen vor Gott und ihrem Gewissen an für sie unüberschreitbare Grenzen ihres Handelns und Verhaltens stoßen, so dass in einer ethischen Frage ihr gesamtes Gottes- und Selbstverständnis auf dem Spiel steht.“11

Freilich ist die Kritik an der Operation mit dem status confessionis insbesondere in ethischen Fragen nicht verstummt. Und so kann auch Wolfgang Lienemann in kritischer Solidarität feststellen: „Wenn ein Bekenntnis nicht, wie Barth geschrieben hat, eine von außen geradezu aufgezwungene Glaubensnotwendigkeit ist, sondern ein Mittel der Abgrenzung und Ausgrenzung, der öffentlichen Missbilligung und Verurteilung, dann muss man konsequenterweise auch die Mittel einsetzen, um einem solchen Bekenntnis Nachachtung zu verschaffen. Dies hat man unter den volkskirchlichen Bedingungen der 1950/60er Jahre und 1970/80er Jahre jedoch gar nicht erst versucht. Dazu hätte man nämlich, traditionell gesprochen, Mittel der Kirchenzucht einsetzen müssen. Theoretisch hätten Kirchen in Deutschland sich beispielsweise im Blick auf die Beurteilung der Wiederund Atombewaffnung weigern können, verantwortliche Politiker und insbesondere Soldaten zu Gottesdiensten zuzulassen, sie zu trauen oder zu beerdigen, aber solches zu tun, hat man sich nicht getraut. Das Bekenntnis wurde zum Papiertiger. Es verwandelte sich in eine rhetorisch angriffige, aber merkwürdig folgenlose Missfallensbekundung in scharf erhöhtem Ton.“12

Bezüglich des Beschlusses der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1982 in Ottawa, im Blick auf Südafrika den status confessionis festzustellen, Apartheit als Sünde einzuordnen und deren theologische Rechtfertigung als Verdrehung des Evangeliums und damit als Häresie zu brandmarken, moniert Wolfgang Lienemann die mangelnde Konsequenz nicht nur in der Umsetzung, sondern bereits 11

W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 259. 12 A.a.O., 268f.

212

VII. Processus und/oder status confessionis?

in der Fassung dieses Beschlusses: „Dass der Reformierte Weltbund nicht nur eine Suspension, aber keinen Ausschluss der Kirchen, die sich nicht von der Apartheid lossagten und entsprechend handelten, zutraute, machte in den 1980er Jahren die Malaise einer verfahrenen Situation und halbherzigen Sanktion sehr deutlich.“13 In besonderer Weise sieht Wolfgang Lienemann die Schwierigkeiten, um nicht zu sagen Aporien, sich in der Frage nach der Weltwirtschaftsordnung zuspitzen. Diesbezüglich hat etwa Ulrich Duchrow insistiert: „Noch am wenigsten erkannt, festgestellt und beantwortet ist der Bekenntnisfall des Weltwirtschaftssystems als Hort unermeßlicher Machtballungen.“14 Dass die globale kapitalistische Ökonomie eine besondere Herausforderung für theologische Sozial- und insbesondere Wirtschaftsethik darstellt, bestreitet Wolfgang Lienemann nicht. Er fragt vielmehr präzisierend: „Aber kann die Struktur der globalen Wirtschaft Anlass eines kirchlichen Bekenntnisses sein?“15 Es geht also nicht um bestimmte Einzelfälle wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, sondern mit der „Struktur“ tatsächlich um das „Gesamt der Institutionen und Prozesse einer Weltwirtschaftsordnung“.16 D.h., dass tatsächlich als Gegenstandsebene die Makroebene weltpolitischer bzw. ökonomischer Konflikte im Blick ist, die durch Sys13 14

A.a.O., 269. U. DUCHROW, Weltwirtschaft heute – ein Feld für Bekennende Kirche?, München 1986, 139. Diese Zuspitzung auf die Machtfrage zeigt sich auch in Duchrows Wahrnehmung globaler wirtschaftlicher Zusammenhänge wie Wolfgang Lienemann treffend bemerkt: „[B]ei Duchrow erscheint die ‚neoliberale kapitalistische Weltwirtschaft‘ ausschließlich als ‚Machtsystem‘, nie aber als – kritisierbares, möglicherweise verbesserliches – Rechtssystem, wenngleich seine eigenen Forderungen, bei Lichte betrachtet, doch gerade auf einen verallgemeinerungsfähigen völkerrechtlichen Rahmen der Weltwirtschaft hinauslaufen. Diese Einsicht wird nur leider ein erhebliches Stück weit durch die apokalyptische Kampfperspektive wieder verstellt, obwohl doch vielleicht einzusehen ist, daß nicht alles, was den Armen nützt, schon bloß deshalb auch Recht sein muß.“ (W. LIENEMANN, Gerechtigkeit, Ökumenische Studienhefte 3 = BenshH 75, Göttingen 1995, 181) Ähnlich auch: U. MÖLLER, Folgt dem ökumenischen Prozess des Bekennens jetzt die Feststellung des status confessionis? Standortbestimmung vor der Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 2004 in Accra, ÖR 53 (2004), (176–189) 179f: „Muss die neo-liberale globale Marktwirtschaft nicht differenzierter auch als politisch-kritisierbares und zu transformierendes Rechtssystem in den Blick kommen? Denn es geht doch perspektivisch darum, in einem völkerrechtlichen Rahmen der Weltwirtschaft ordnungspolitisch zu gewährleisten, was nur nationalstaatlich nicht mehr zu leisten ist; dass – mit Barmen II und V gesprochen – globale Mindeststandards für ‚Recht und Frieden‘ gewährleistet werden, die eine menschen- und naturgerechte Gestaltung der Globalisierungsprozesse ermöglichen.“ Vgl. fernerhin: T. JÄHNICHEN, Wirtschaftsethik. Konstellationen – Verantwortungsebenen – Handlungsfelder, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 3, Stuttgart 2008, 74. 15 W. LIENEMANN, Grundinformation, 267. 16 Ebd.

1. Einleitung: Streit um den status confessionis

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temstrukturen erklärt werden. „Struktur“ meint im Sinne des lat. structura die Zusammenfügung, die Bauart aller Elemente dieser Ordnung, nicht einzelne Elemente bzw. Bausteine innerhalb derselben. Die Systemtheorie versteht dementsprechend unter Struktur die Gesamtheit und Wechselwirkung der Elemente eines Systems.17 Damit ist zugleich die Ausgangsfrage der folgenden, in ein Fazit (IV.) mündenden Untersuchung benannt, der ich nach dieser Einleitung (I.) vor allem anhand der Kontroverse zwischen Ulrich Duchrow und Ulrich Möller nachgehen werde (II.). Von einer biblisch-induzierten Logik ausgehend, wird zwecks Gewinnung einer erweiterten Perspektive ein fremder Blick aus möglichst veränderter Wahrnehmung (vgl. Röm 12,2) auf den Ausgangspunkt der Überlegungen gewagt, ob die Struktur der globalen Wirtschaft tatsächlich Gegenstand des status confessionis sein kann (III.). Dagegen wendet Lienemann unter Berufung auf die Menschenrechte als Indikator für einen status confessionis ein: „Hier wurde der Bogen dessen, was sinnvoll Gegenstand eines kirchlichen Bekenntnisses sein kann, nach meiner Ansicht überspannt, und zwar aus drei Gründen: – Erstens ist der Sachverhalt (hier: das Gesamt der Institutionen und Prozesse einer Weltwirtschaftsordnung), der Gegenstand der Kritik und Ablehnung ist, nicht in ähnlicher Weise [wie der Einsatz von Atomwaffen und die Apartheid in Südafrika; M.H.] als ein schlechthin menschenrechtswidriges Unrecht zu identifizieren; – zweitens wird man nicht behaupten können, dass die kritisierten Strukturen grundsätzlich keiner demokratischen Legitimation, Beeinflussung, Reform und Steuerung zugänglich seien, und – drittens fehlt es offenkundig an Möglichkeiten personaler Verantwortungszuschreibung. Letztlich ist es auch ein nicht unerheblicher, moralisch relevanter Unterschied, ob man es mit einem in sich verabscheuungswürdigen Sachverhalt oder einer prinzipiell nicht irreformablen Größe zu tun hat.“18

Ein Gefahrenpotenzial ist beim Proklamieren des status confessionis zweifellos gegeben. Das Bekenntnis kann schnell der „Tendenz [erliegen], das Politische theologisch überzulegitimieren“.19 Auch kann das Bekenntnis zum festen Bestandteil eines Exerzitiums der Selbstrechtfertigung degenerieren: „Wir, die Bekennenden, stehen auf der richtigen Seite, im Gegensatz zu all den anderen, die mit ihrem Nichtbekennen zeigen, dass sie auf der falschen Seite, nämlich der 17

Vgl. H.-U. DALLMANN, Art. Systemtheorie, in: M. HONECKER u.a. (Hg.), Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, Stuttgart 2001, 1579–1581. 18 W. LIENEMANN, Grundinformation, 267. 19 R. ANSELM, Ethik, 252.

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VII. Processus und/oder status confessionis?

der Sünde stehen.“ Und so kann aus dem Bekennen nicht nur der unfreiwillige Beweis der eigenen Pluralismusunfähigkeit, sondern auch – biblisch gesprochen – ein Akt des Murrens wider die Sünde der Anderen, der Bösen werden, von denen man sich distanziert, abgrenzt, um sich der eigenen Position zu vergewissern. Der biblische Imperativ lautet indes: „Was murren denn die Leute im Leben, ein jeder murre wider seine Sünde“ (Klgl 3,39). Eng damit zusammen hängt die Gefahr der Selbststimulation eines guten Gewissens qua Bekenntnis! Die Gewissheit, „die Wahrheit jetzt aber mal wieder allen gesagt und damit demonstriert zu haben, dass man auf die richtige Seite gehört“, hat entlastende Funktion für das eigene Gewissen. Jedoch gilt die Warnung Blaise Pascals: „Niemals tut man derart vollständig und heiter das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut.“20 Gerade hinsichtlich des Bekennens gilt: „Niemand wird behaupten wollen, dass das menschliche Gewissen grundsätzlich und jederzeit irrtumsfrei ist.“21 2. Die Möller-Duchrow-Kontroverse im Zusammenhang der Accra-Erklärung (2004) Gerade weil die Kritik an der Erklärung eines status confessionis in rebus politicis nicht verstummen wollte, setzten Bemühungen um Präzisierungen und Modifikationen ein.22 So wurde der Begriff des „processus confessionis“ auf Vorschlag Wolfgang Hubers23 und anderer in die Debatte eingeführt und dann auf den Vorschlag seines Schülers und ehemaligen Doktoranden Ulrich Möller, jetzt Dezernent für Weltmission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung der Evangelischen Kirche von Westfalen, auf der 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes in die „Erklärung von Debrecen“ (1997) aufgenommen. Dieser Terminus macht auf den vorläufigen und unabgeschlossenen Charakter des Bekenntnisses im Sinne eines „starting points“ der Bekenntnisbildung aufmerksam. Er wird als Alternative zur Engführung auf einen „status confessionis“ verstanden. 20 21 22

B. PASCAL, Pensées, Fragment 895 (Ed. Brunschvicg). W. LIENEMANN, Grundinformation, 262. So bemerkte etwa Hans G. Ulrich: „Für eine solche Verwendung [im Sinne einer Anwendung auf sittliche oder politische Problemstellungen; M.H.] bedarf dieser Begriff [status confessionis; M.H.] noch immer einer Präzisierung.“ H.G. ULRICH, Art. Adiaphoron, EKL3 1 (1986), (41–44) 42. 23 W. HUBER, Bekenntnis in der Gefährdung des Friedens. Ist die Friedensfrage eine Bekenntnisfrage?, in: DERS., Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, NBST 4, NeukirchenVluyn 21985, 249–269.

2. Die Möller-Duchrow-Kontroverse

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So forderte der Reformierte Weltbund in Debrecen die Mitgliedskirchen dazu auf, in einen „Prozess des Bekennens“ (processus confessionis) bezüglich der globalen wirtschaftlichen Ungerechtigkeit und ökologischen Zerstörung einzutreten. Die 24. Vollversammlung des Weltbundes schloss nach Debrecen in Accra/Ghana einen „Bund für wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit“ („Covenanting for Justice in Economy and the Earth“), in dem die „Politik ungehinderten Wachstums“ abgelehnt wurde. Bei der Umsetzung dieses „Bundesschlusses“ in den Bereich der Mitgliedskirchen blieb offen, ob die Kirchen einen status confessionis erklären, wie es einige Kirchen des Südens zuvor getan hatten, oder ob sie sich (noch) in einem processus confessionis befinden. Eine Zerreißprobe im Reformierten Weltbund konnte durch den gemeinsamen Bundesschluss abgewendet werden. Ulrich Duchrow (*1935) bemerkt dazu aus seiner Sicht: „Der Punkt, an dem in Accra zum Schluss alles auf der Kippe stand, war die Frage: soll die Aussage von Accra ein Bekenntnis oder prozessuales Bekennen oder gar nur eine Erklärung sein. Inhaltlich drängte der Süden, drängten besonders Teilnehmende aus dem südlichen Afrika darauf, dass die Versammlung eine klare Bekenntnisantwort auf die Herausforderung von Kitwe 1995 und Debrecen (1997) geben müsse. Der Begriff des Status Confessionis wurde ausgeklammert, weil Vertreter aus Westeuropa diesen Begriff notorisch falsch als Ausschluss von Andersdenkenden interpretierten. Im Kern sollte es um ein klares positives Bekenntnis gehen, das dann in einem weiteren Prozess zu Rezeption, Umsetzung und weiterer Klärung in den verschiedenen Kontexten führen muss (was auch status confessionis meint). […] Die Versammlung war zu fast gleichen Teilen gespalten. Die Lösung brachte dann der Vorschlag, den Abschnitt 4 des Entwurfs direkt als Abschnitt 14 vor das Bekenntnis zu setzen. Er lautet: ‚Heute wollen wir uns entscheiden, eine Glaubensverpflichtung zu treffen. Diese kann ihren Ausdruck je nach regionaler und theologischer Tradition auf unterschiedliche Weise finden: als Bekenntnis, als gemeinsames Bekennen, als Glaubensverpflichtung oder als Treue gegenüber dem Bund Gottes. Wir haben das Wort Bekenntnis gewählt, nicht im Sinne eines klassischen Lehrbekenntnisses, denn der RWB kann kein solches Bekenntnis ablegen, aber er kann darauf hinweisen, dass die Herausforderungen unserer Zeit und der Aufruf von Debrecen eine aktive Antwort dringend erforderlich machen. Wir laden die Mitgliedskirchen ein, dieses unser gemeinsames Zeugnis anzunehmen und darauf zu reagieren.‘ Dadurch war klargestellt, dass jede Region ihrem Kontext entsprechend verschiedene ekklesiologische Begriffe verwenden kann, um den Gemeinden klarzumachen, dass es im Kern um eine korporative kirchliche Entscheidung für eine verbindliche Glaubensverpflichtung, nicht aber um die Festlegung auf einen bestimmten Begriff geht.“24 24

U. DUCHROW, Das Wunder von Accra. Bekenntnis der 24. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes, Zeitschrift Entwicklungspolitik 17 (2004), (31–33) 32. Hervorhebung im Original. Ähnlich S. NYOMI, The Accra Confession as a Resource for Transformation, in: N.D. PRESA (Hg.), That They May All Be One. Celebrating

216

VII. Processus und/oder status confessionis?

Wie diese Schilderung Ulrich Duchrows zeigt, wurde Accra von Kontroversen im Hintergrund begleitet, die insbesondere die Bekenntnishermeneutik bzw. Bekenntnisethik betrafen und sich an den Termini status und/oder processus confessionis festmachten. Das gilt etwa für die Kontroverse zwischen Ulrich Duchrow selbst und Ulrich Möller, die im Folgenden kurz vorgestellt werden soll und die sich im Rahmen der Genese der Accra-Erklärung entspann. Diese Kontroverse betraf zugleich die Frage, „ob antikapitalistische Bekenntnissprache der einzige Weg für die Kirche ist, klar an der Seite der Armen zu stehen, oder ob sie kontraproduktiv ist“.25 Dass sich eine solche Sprache in der Accra Erklärung manifestiert, dürfte allein schon in Paragraph 19 evident werden: „[W]ir sagen […] Nein zur gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung, wie sie uns vom globalen neoliberalen Kapitalismus aufgezwungen wird. Nein aber auch zu allen anderen Wirtschaftssystemen, – einschließlich der Modelle absoluter Planwirtschaft, – die Gottes Bund verachten, indem sie die Notleidenden, die Schwächeren und die Schöpfung in ihrer Ganzheit der Fülle des Lebens berauben. Wir weisen jeden Anspruch auf ein wirtschaftliches, politisches und militärisches Imperium zurück, das Gottes Herrschaft über das Leben umzustürzen versucht, und dessen Handeln in Widerspruch zu Gottes gerechter Herrschaft steht.“26

Die Diskussion darüber, ob nicht auch die Weltwirtschaftsordnung Anlass für kirchliches Bekennen und zur Proklamation eines status confessionis sein sollte/müsste, hat maßgeblich Ulrich Duchrow27 the World Communion of Reformed Churches. Essays in Honor of Clifton Kirkpatrick, Louisville 2010, (45–52) 50. Bei „Kitwe“ handelt es sich um die Erklärung einer Konsultation des Reformierten Weltbundes und des Bundes Reformierter Kirchen im Südlichen Afrika zu „Reformierter Glauben und wirtschaftliche Gerechtigkeit“ (12.–17.10.1995), dokumentiert in: „Status Confessionis“ in der Weltwirtschaft: Kitwe / Sambia 1995, epd-Dokumentation 22 (2002), 7–11. Vgl. dazu auch die Einleitung: U. DUCHROW, „Dient Gott, nicht dem Mammon“ – Prozesse des Bekennens („processus confessionis“) gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit und Naturzerstörung, epd-Dokumentation 22 (2002), 4–6. 25 H. BEDFORD-STROHM, Öffentliche Theologie und Weltwirtschaft. Ökumenische Soziallehre zwischen Fundamentalkritik und Reformorientierung, in: DERS. u.a. (Hg.), Kontinuität und Umbruch im deutschen Wirtschafts- und Sozialmodell. Jahrbuch für sozialen Protestantismus 1, Gütersloh 2007, (29–49) 40. 26 M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Bekennen, 145. 27 Vgl. U. DUCHROW, Konflikt um die Ökumene. Christusbekenntnis – in welcher Gestalt der ökumenischen Bewegung?, München 1980; DERS., Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft – Biblische Erinnerung und politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedrohlichen Ökonomie, Gütersloh/Mainz 21997; DERS. u.a., Solidarisch Menschen werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg 2006. Zu Duchrow vgl. W. LIENEMANN, Gerechtigkeit, 175–183; J. HÜBNER, Globalisierung – Herausforderung für Kirche und Theologie. Perspektiven einer menschengerechten Weltwirtschaft, Forum Sys-

2. Die Möller-Duchrow-Kontroverse

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angestoßen und bestimmt.28 Er vertritt die These vom „Bekenntnischarakter des Wirtschaftssystems“.29 Demnach ist der status confessionis nicht nur bei Häresien in Glauben und Verfassung der Kirche, sondern auch im Blick auf die „Mitwirkung von Christen an oder die Legitimierung von gesellschaftlichem und politischem systematischem Unrecht“30 gegeben. Duchrow nennt explizit die Judenverfolgung, die Apartheid und die Massenvernichtungsmittel. Ulrich Möller hingegen versteht den status confessionis streng als ekklesiologischen Begriff, der seine Funktion im Kampf der Kirche um ihre Einheit angesichts der Bedrohung durch Irrlehre und die Behinderung der Bekennenden an ihrem Zeugnis hat. In dieser Situation seien die Verwerfung und der Widerstand gegen diejenigen, die das gebotene Bekenntnis unterdrücken, der letzte Versuch, die Irrenden in die Einheit der Kirche zurückzurufen. Dementsprechend definiert Ulrich Möller unter Berufung auf Dirkie Smit den status confessionis: „Im status confessionis wird eine im Namen des Evangeliums propagierte Ansicht, die dem Bekenntnis widerspricht, ausgeschlossen. Wer diese ausgeschossene Position im Namen des Evangeliums vertritt, schließt sich damit von der Einheit der Kirche aus. Es muss also eine kirchliche Lehre oder Praxis als mit dem Evangelium unvereinbar identifiziert werden und die ‚Bekenntnis-Antwort‘ wird dann aufweisen müssen, wodurch die Integrität des Evangeliums in Gefahr ist, mit anderen Worten, wie die Verkündigung, das Zeugnis und die Glaubwürdigkeit des Evangeliums durch Ansprüche, Weltbilder und Lebensstile, die im Namen des Evangeliums selbst propagiert werden, bedroht sind.“31

Hinsichtlich des Umgangs mit dem Begriff status confessionis betont Ulrich Duchrow, dass er selbst nicht an dem Begriff hänge und ihn in einem zugleich restriktiven wie kritischen Sinne für die neulutherische Irrlehre reservieren wolle. Er möchte die Erfassung, wonach etwa die Atomwaffenfrage keine den Glauben und das Bekenntnis betreffende Frage, sondern eine Ermessensfrage im weltlichen Raum mit seinen Eigengesetzlichkeiten sei,32 als Irrlehre mit dem marker tematik 19, Stuttgart 2003, 141–145; A. WARNKE, Theologische Ethik angesichts des Kapitalismus. Modelle und Konsequenzen, Münchener Theologische Beiträge 8, München 2004, 150–191. 28 So auch würdigend: U. MÖLLER, Den Glauben bekennen im Zusammenhang wirtschaftlicher Ungerechtigkeit, in: A. HAARBECK (Hg.), Leidenschaft für das Recht. Briefe und Beiträge zum Kirchenrecht in der Ökumene. FS Herbert Ehnes, Detmold 1997, (95–108) 98. 29 U. DUCHROW, Weltwirtschaft, 133. 30 Ebd. Dort kursiv. So auch U. DUCHROW, Wunder, 33. 31 U. MÖLLER, Prozess, 183. 32 Vgl. U. DUCHROW, Weltwirtschaft, 135f.

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VII. Processus und/oder status confessionis?

„status confessionis“ versehen. Ulrich Duchrow wendet sich, wie auch Ulrich Möller würdigend anerkennt, gegen die bloße „Antithese von ‚Glaubensfragen‘ und ‚politischen Ermessensfragen‘“.33 Dementsprechend beantwortet Ulrich Duchrow die Frage, warum politische Fragen ab dem 16. Jahrhundert bis hin zu Bonhoeffer nicht unter Rekurs auf den status confessionis angegangen wurden: Weil dies erst seit der neulutherischen Irrlehre von der Eigengesetzlichkeit politischer und wirtschaftlicher Angelegenheit im Sinne von Adiaphora erforderlich gewesen sei. Auch im Blick auf Accra betont Duchrow zwar einerseits, dass die wirtschaftliche Ungerechtigkeit Gegenstand des status confessionis sei,34 dass er aber andererseits den Begriff des status confessionis nicht zu einem Nebenkriegsschauplatz machen wolle, da es ein ganzes Spektrum möglicher Ausdrucksweisen für verpflichtendes Kirchesein und Kirchewerden geben würde.35 Der Begriff „Bekennen“ sei nur insofern unverzichtbar, als dass er den Entscheidungscharakter unterstreichen würde: „Es geht um die Selbstverpflichtung der Kirche in Wort und Tat in der Sache.“36 Ulrich Möller rät zu großer Vorsicht bei der Verwendung des Begriffs „status confessionis“. Wenn auch nur die Frage nach dem status confessionis zu früh gestellt würde, würde dies einen Prozess des Bekennens nicht fördern, sondern hindern.37 Demnach widerspricht Ulrich Möller der Forderung einiger reformierter Kirchen im südlichen Afrika, in der Frage weltwirtschaftlicher Ungerechtigkeit einen status confessionis festzustellen und plädiert stattdessen dafür, einen verbindlichen Prozess des Bekennens (processus confessionis) auszurufen. Der Vorteil bestehe darin, dass zum einen das von den südlichen Kirchen vorgebrachte inhaltliche Anliegen ohne Abstriche aufgenommen werden könne, das zum anderen aber ein processus confessionis stärker auf Kommunikation ausgerichtet sei, und zwar eben auch mit denjenigen Mitchrist/innen, die eine entsprechende Erkenntnis noch nicht haben. Der processus betone das gemeinsame Sichauf-den-Weg-Machen mit der Zielrichtung eines in der Grundrichtung übereinstimmenden Zeugnisses der ganzen weltweiten Kirche. Die Phase des Ringens um die Durchsetzung neuer Erkenntnis inner33 34

U. MÖLLER, Glauben, 99. So auch Milan Opočenský, der alle Fragen, die uns vor Bekenntnisfragen stellen, im Rahmen des status confessionis behandelt wissen möchte (M. OPOČENSKÝ, Processus Confessionis, in: W.M. ALSTON, JR. / M. WELKER [Hg.], Reformed Theology. Identity and Ecumenicity, Grand Rapids 2003, 385–397). 35 Vgl. U. DUCHROW, Muss es in Accra einen Nord-Süd-Konflikt im Blick auf eine klare Stellungnahme zum Neoliberalismus geben?, ÖR 53 (2004), (400–405) 404. 36 U. DUCHROW, Accra, 404. 37 Vgl. U. MÖLLER, Glauben, 107.

2. Die Möller-Duchrow-Kontroverse

219

halb der weltweiten Gemeinschaft der Kirche dürfe man nicht mit der Frage nach der Grenze möglicher Kirchengemeinschaft überlagern und erschweren.38 Denn in erster Linie gehe es bei dem heute angesichts weltweiter wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und Naturzerstörung geforderten Bekennen nicht um Verwerfung von Irrlehre und die Abgrenzung von der falschen Kirche (ecclesia falsa), sondern um eine Umkehr im Lichte des Evangeliums, das zu neuer Erkenntnis führt und neues Bekennen in Wort und Tat ermöglicht. Insofern verwehrt sich Ulrich Möller gegenüber einem vorschnellen Ineinssetzen von Bekenntnisfrage und status confessionis.39 Ulrich Möller wirbt entgegen einem kirchenzuchtlichen für ein paränetisch-einladendes Verständnis des Bekenntnisses, für das der Terminus processus confessionis stehe.40 Ulrich Duchrow greift ebenfalls den Terminus processus confessionis affirmativ auf, belegt ihn aber in anderer Weise als Ulrich Möller. Zwar brauche das gemeinsame Ringen um Wahrheit Zeit. Auch müsse der Erkenntnisprozess in einer Bekenntnisfrage dialogisch verlaufen, allerdings sei dieser nicht unbegrenzt. Es bedarf nach Ulrich Duchrow zum Abschluss des processus confessionis notwendigerweise der Feststellung des status confessionis durch kirchliche Entscheidung. Der Moment des Entscheidens dürfe nicht durch den Gebrauch des Terminus processus confessionis dispensiert und ad infinitum verschoben werden. Insofern müsse der processus confessionis in den status confessionis als dessen Ziel münden. Nach Ulrich Möller hingegen steht am Ende des Prozesses nicht zwangsläufig der status confessionis. Dessen Feststellung könne zwar erforderlich werden, wenn sich wesentliche Kräfte innerhalb der Kirche beharrlich weigern, dem gebotenen Bekennen Raum zu geben. Solange dies aber nicht der Fall sei und keine Irrlehre in dieser Frage vertreten würde, sei die Voraussetzung für eine Feststellung des status confessionis nicht gegeben.41 Davon abgesehen sei eine solche

38 39

Vgl. a.a.O., 105; U. MÖLLER, Prozess, 183. Möller insistiert, dass sich gezeigt habe, „wie kontraproduktiv die vorschnelle Verwendung der status-confessionis-Begrifflichkeit sein kann, wenn sie gleichsam zur kirchenpolitischen Wirksamkeitssteigerung eingesetzt wird. Der legitimatorische Verweis auf frühere Verwendung in ähnlichem Sinne hilft dabei auch nicht weiter. Es hat sich nämlich gezeigt, daß in den 80er Jahren wie schon in den 50er Jahren Unklarheiten bei der Verwendung des Begriffes dem berechtigten Anliegen insgesamt schadeten und dazu beitrugen, daß die Diskussion aus bestimmten Engführungen nicht herauskam und der notwendige verbindliche Prozeß des Bekennens eher erschwert wurde.“ U. MÖLLER, Glauben, 100. 40 Vgl. a.a.O., 106. 41 Vgl. U. MÖLLER, Prozess, 184.

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VII. Processus und/oder status confessionis?

Feststellung für das Bemühen um einen dialogischen Weg gemeinsamer Wahrheitserkenntnis abträglich. Es gehe um gemeinsames Bekennen und insofern um Konsensbildung, um „ein den unterschiedlichen Kontexten und Traditionen entsprechend durchaus pluriformes aber in der Grundrichtung übereinstimmendes Zeugnis“.42 Ulrich Möller vertritt demnach ein Konsensmodell, das Unterschiede auf der Ebene von politischen Ermessensfragen explizit zulässt und insofern als ein plurales (nicht pluralistisches)43 Konsensmodell bezeichnet werden kann. Es gilt nach Ulrich Möller die Ebenen mit Helmut Gollwitzer44, auf den Ulrich Möller sich beruft,45 zu unterscheiden: Irrlehren seien auf der Ebene von ethischen, nicht aber politischen Urteilen angesiedelt. Bei Irrlehren auf der Ebene von ethischen Urteilen gehe es um „Handlungsorientierung mittels Reflexion der Handlungsziele und -bedingungen, während das politische Urteil sich auf die Handlungsanweisung durch die Reflexion des Handelns selbst bezieht“.46

42 43

Ebd.; auch a.a.O., 187. Zur Differenz vgl. RAT DER EKD (Hg.), Das rechte Wort zur rechten Zeit. Eine Denkschrift des Rates der EKD zum Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, Gütersloh 2008, 45: „Im Blick auf die Frage nach der Vielfalt innerhalb der evangelischen Kirche selbst ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Pluralität und Pluralismus ebenfalls hilfreich. Die legitime, sachgemäße Pluralität in Kirche und Theologie gründet in der Vielfalt, wie sie im biblischen Zeugnis als einer Mehrzahl von Perspektiven auf das Heilshandeln Gottes angelegt ist. Dabei handelt es sich nicht um einen religiösen oder weltanschaulichen Pluralismus, im Sinne eines Nebeneinanders unvereinbarer Positionen, die nicht aus einer höheren Gemeinsamkeit abgeleitet oder in ihr aufgehoben werden können. Deshalb wäre die Rede von einem legitimen Pluralismus innerhalb der evangelischen Kirche und auch der evangelischen Theologie ganz unangemessen, weil damit die durch den gemeinsamen Glaubensinhalt gegebene Einheit der evangelischen Kirche und Theologie in Frage gestellt würde. […] Aber in Treue zu dem der Kirche Jesu Christi gegebenen Auftrag kann die evangelische Kirche nicht zum Spiegelbild der pluralistischen Gesellschaft werden (wollen): Sie verlöre sonst ihre Identität und damit die Chance, als Überzeugungsgemeinschaft dieser pluralistischen Gesellschaft eine klare Orientierung anzubieten.“ 44 Vgl. H. GOLLWITZER, Die christliche Gemeinde in der politischen Welt, in: DERS., Forderungen der Freiheit. Aufsätze und Reden zur politischen Ethik, München 1964, 3–60. 45 Vgl. dazu ausführlich U. MÖLLER, Im Prozeß, 251–255. 46 U. MÖLLER, Prozess, 189.

221

2. Die Möller-Duchrow-Kontroverse

Ethische und politische Urteile – Helmut Gollwitzers und Ulrich Möllers Leitdifferenz Ethische Urteile

Politische Urteile

Entwicklung von „Richtung und Linie“ (Karl Barth) des politischen Handelns (das Gebot Gottes weist die Grundrichtung)

Entwicklung von konkreten politischen Handlungen/praktischen Handlungsvollzügen innerhalb der gebotenen Richtung (Entsprechungen)

Grundsatzebene: Was sind die Maßstäbe, Ziele und Aufgaben politischen Handelns in Bezug auf ein politisches Problem? Frage nach dem Gebot Gottes

Konkretisierungs- bzw. Entscheidungsebene: Wie lassen sich Probleme unter Anwendung der Maßstäbe, Ziele und Aufgaben praktisch verwirklichen bzw. in Lösungen politischer Probleme umsetzen?

Handlungsorientierung mittels Reflexion der Handlungsziele und Handlungsbedingungen

Handlungsanweisungen durch die Reflexion des Handelns selbst (Güterabwägung erforderlich)

Ebene der Glaubensfrage: Dissens innerhalb der Kirche kann zum Schisma bzw. status confessionis führen

Ebene der Verstandes- und Ermessensfragen: Dissens zu politischen Optionen innerhalb der Kirche ist legitim

Dissens sei auf der Ebene des politischen Urteils, wo es um die praktische Verwirklichung und Lösung als menschliche Entsprechung zum Gebot Gottes gehe, möglich und legitim, ohne dass dabei ein status confessionis gewittert werden müsse. Das Evangelium gebe für den Bereich der Politik nur Perspektiven, „Richtung und Linie“,47 aber nicht das konkrete Gebot vor.48 Der status confessionis betreffe die Ebene der ethischen Urteile, wo die grundsätzlichen Maßstäbe, Ziele und Aufgaben angesiedelt seien, auf die sich die Häresie beziehe.

47 48

H. GOLLWITZER, Gemeinde, 59. Dass es in der Möller-Duchrow-Kontroverse keineswegs um das Gegeneinander von Gebotsethik (Duchrow) versus Güterlehre (Möller) geht, wird schon daraus ersichtlich, dass ausgerechnet Möller für sich beansprucht, mit Gollwitzer gebotsethisch zu argumentieren. Vgl. U. MÖLLER, Prozess, 181f.; DERS., Glauben, 103. Fernerhin: DERS., Im Prozeß, 252f.; 361–364.

222

VII. Processus und/oder status confessionis?

Diese Ebenenunterscheidung, die unterschiedliche politische Urteile und damit Pluralität im Raum von Kirche zulässt, sieht Ulrich Möller letztlich bei Ulrich Duchrow unterlaufen. Ulrich Duchrow vertritt anders als Ulrich Möller ein dualistisches Differenzmodell, das vom binären Code „bekennen“ und „verkennen“, „Kirche“ und „NichtKirche“ geprägt ist und das Verkennen mit dem Mammondienst gleichsetzt.

2. Die Möller-Duchrow-Kontroverse

223

Nach Ulrich Möller droht hingegen dort potentiell jede politische Sachfrage mit dem status confessionis belegt zu werden, wo keine Ermessensfragen zugelassen werden. Ulrich Möller fragt kritisch im Blick auf die Erklärung von Accra und an Ulrich Duchrows Adresse: „Die Bekenntnisse von Barmen und Belhar richteten sich gegen die Irrlehre der Deutschen Christen im Nationalsozialismus bzw. die Irrlehren der weißen Nederdeutse Gereformeede Kerk, die das Apartheidsystem theologisch rechtfertigte. Dass die Globalisierung das kirchliche Bekennen herausfordert, ist m.E. unzweifelhaft. Aber wo in unseren Kirchen unterminiert die neoliberale Ideologie als Lehre der Kirche oder in der Kirche legitimiertes Handeln die Souveränität Gottes?“49

Die Behauptung, die Kirche sei in ihrer Einheit durch die Irrlehre des Neoliberalismus bedroht oder habe sich gar die Ideologie des Neoliberalismus zu eigen gemacht, ist nach Ulrich Möller eine Unterstellung, die den kommunikativen Weg zur Einheit der Kirche im Prozess des Eintretens für globale wirtschaftliche Gerechtigkeit eher hindert und zerstört als fördert. In diesem Zusammenhang wird von Ulrich Möller, aber auch von anderen,50 der zur Charakterisierung des globalen neoliberalen Wirtschaftssystems verwendete Imperiumsbe49 50

U. MÖLLER, Prozess, 183. Hervorhebung im Original. So etwa K. RAISER, Globalisierung in der ökumenisch-ethischen Diskussion, VF 54 (2009), (6–33) 13; 16.

224

VII. Processus und/oder status confessionis?

griff51 der Accra-Erklärung genannt, auf den sich die Diskussion um Accra stark kapriziert habe.52 Ulrich Duchrow indes wirft Ulrich Möller vor, einen processus confessionis ohne ein klares Nein zum Neoliberalismus zu befürworten. Das gehe freilich nicht, da die Entscheidung zwischen Gott und Mammon anstünde (Mt 6,24). Die Zuspitzung auf einen solchen Dual erachtet Ulrich Möller indes für problematisch und stellt unter Berufung auf Michael Welker fest: „Duale wie eine theologisch unzureichend durchdachte Konstellation von ‚Gott und Abgott‘ stellen die ‚Macht des Geldes ganz vage und verzerrt dar und verleihen ihr damit eine religiöse Aura, die sie doch gerade bekämpfen wollen‘. Für Welker verbinden sich damit fragwürdige Ideologisierungen zur religiös-moralischen Mobilisierung. ‚Die Formel ‚Gott oder Mammon‘ selbst nämlich ist in sich vielleicht moralisch und religiös kampffreudig, aber darüber hinaus nicht sonderlich orientierungsstark. Im Gegenteil.‘“53

Möller fragt deshalb kritisch zurück: „Ist es aber hinreichend, die Frage der Gerechtigkeit im globalisierten Markt ausschließlich unter dem Gesichtspunkt von ‚Mächten und Gewalten‘ zu betrachten, denen Widerstand zu leisten ist? Besteht hier nicht die Gefahr der Verkürzung und Dämonisierung?“54 Mit anderen Worten: „Globalisierung [ist] nicht reduktionistisch als neo-liberales Wirtschaftsprogramm zu begreifen.“55 51

Vgl. M. HOFHEINZ u.a. (HG.), Bekennen, 143: „Unter dem Begriff ‚Imperium‘ verstehen wir die Konzentration wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Macht zu einem Herrschaftssystem unter der Führung mächtiger Nationen, die ihre eigenen Interessen schützen und verteidigen wollen.“ Wer konkret gemeint ist, wird recht unverhohlen benannt: „Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika und ihre Alliierten bedienen sich – in Zusammenarbeit mit internationalen Finanzund Handelsinstitutionen (Internationaler Währungsfonds, Weltbank, Welthandelsorganisation) – politischer, wirtschaftlicher oder auch militärischer Bündnisse, um die Interessen der Kapitaleigner zu schützen und zu fördern“ (HOFHEINZ u.a. [Hg.], Bekennen, 144). Dazu: G. P LASGER, Das Imperium – ein theologisch brauchbarer Begriff?, www.reformiert-info.de/264-0-0-20.html (17.07.2015); P. BUKOWSKI, Die Weiterentwicklung des Imperiumbegriffs – eine Lesehilfe, www.reformiert-info.de/ 5679-0-0-20.html (17.07.2015). Der Begriff „Imperium“ (Empire) ist durch das Buch von M. HARDT / A. NEGRI, Empire. Die neue Weltordnung, übers. von TH. ATZERT / A. WIRTHENSOHN, Frankfurt a.M. / New York 2002 populär geworden. 52 Vgl. U. MÖLLER, Einleitung, in: M. HOFHEINZ u.a. (HG.), Bekennen, (136–140) 136. 53 U. MÖLLER, Prozess, 186. 54 A.a.O., 179. 55 M. HASPEL, Sozialethik in der globalen Gesellschaft. Grundlagen und Orientierung in protestantischer Perspektive, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 5, Stuttgart 2011, 13. Zur Globalisierung vgl. J. HÜBNER, Globalisierung mit menschlichem Antlitz. Einführung in die Grundfragen globaler Gerechtigkeit, Neukirchen-Vluyn 2004; T. MEIREIS, Hintergrundinformation Globalisierung, www.ekd.de/sozialethik/ download/GlobalisierungMeireis.pdf (10.10.2015).

3. „Sorget nicht!“

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3. „Sorget nicht!“ Die Accra-Erklärung, der Mammondienst, Gottes Ökonomie und die theologische Wirtschaftsethik Es hat sich gezeigt, dass Ulrich Duchrow und Ulrich Möller unterschiedlichen Logiken in der Bekenntnishermeneutik folgen: Ulrich Duchrow letztlich einer binären Logik von Bekennen und Nichtbekennen, Ulrich Möller hingegen einer Logik des Dritten bzw. der Tertiarität. Der Punkt legitimer Differenz wird durch die Ebenenunterscheidung auf der Ebene des politischen Urteils, d.h. in einer Ermessensfrage, gewonnen. Das Ermessen sprengt als Tertium den polaren Gegensatz Bekennen / Nicht-Bekennen. Der processus confessionis schafft als Prozess der Urteilsbildung in der Kirche Raum und Zeit zur Entfaltung dieses Tertiums. Ich halte das von Ulrich Möller im Anschluss an Helmut Gollwitzer gewonnene Ordnungsmuster, das mit einer dritten Größe arbeitet, für wegweisend, wenngleich ich Ulrich Möllers Unterscheidung zwischen politischen und ethischen Urteilen, die sich in dieser Weise übrigens auch nicht bei Helmut Gollwitzer findet,56 für unglücklich gewählt erachte. Bereits bei der Bildung des Kompositums „politischethische Urteile“ stößt die Distinktion an die Grenzen ihrer Brauchbzw. Verwendbarkeit. Über Ulrich Möller hinaus und unter Heranziehung des Textes von Accra möchte ich auf einen biblischen Zusammenhang verweisen, der die von Ulrich Duchrow auf dem Feld der Wirtschaftsethik angewandte binäre Logik aufbricht. Auf die scharfe Alternative „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24), die sich gegen die Entgleisung der Gewinnmaximierung „zum alles beherrschenden Prinzip, dem sich der Verstand willig unterwirft und sich dabei über moralische Skrupel hinwegsetzt“,57 wendet, folgt in der Bergpredigt ein Abschnitt (Mt 6,25– 34), dessen cantus firmus die dreimalige Aufforderung „Sorget nicht!“ (Mt 6,25.31.34) bildet. Die Eingangswendung „Deshalb sage ich euch“ (V.25) weist zurück auf die Alternative Gottes- oder Mammondienst. Peter Bukowski hat dazu treffend in seinem Aufsatz „Gerechtigkeit predigen. Zur Frage einer homiletischen Umsetzung der Erklärung von Accra“ bemerkt:

56

Möller folgt in seiner Gollwitzer-Interpretation B. SCHMIDT-SPÄING, Ethisches und politisches Urteilen. Beispielhaft an den Positionen Helmut Gollwitzers zur Wiederaufrüstungsfrage nach 1945, Stuttgart 1987, 69. 57 K. WENGST, Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 175.

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VII. Processus und/oder status confessionis?

„Jesus warnt immer wieder vor der Leben zerstörenden Macht des Mammons (vgl. Matthäus 6,24). Aber zugleich weiß er, dass Mahnungen ein schwaches Instrument sind, um Menschen zur Umkehr zu bewegen. Darum geht er in der Bergpredigt therapeutisch vor. Er diagnostiziert die Sorge als den Nährboden, in dem der Mammonismus allererst gedeiht. Der Grund für unsere Habsucht besteht nämlich darin, dass wir unbewusst alle in die Falle eines Mangelmodells laufen. Wir sind getrieben von der verrückten aber gleichwohl realen Angst, es gäbe nicht für alle genug. ‚Was werden wir essen, was werden wir Trinken?‘ – diese sorgenvollen Fragen versteht Jesus als Symptom der uns ständig begleitenden Angst, nicht genug zu kriegen. Solange ich mich im Mangelmodell definiere, werde ich den Hals natürlich nie vollkriegen, ganz gleich, wie es um meine reale Einkommenslage bestellt ist, denn wer weiß, was noch kommt? Also kann Heilung nur aus dem Zuspruch erwachsen: ‚Euer himmlischer Vater weiß, was ihr braucht.‘ (vgl. Vers 32). Deshalb weg vom Mangelmodell, weg auch von ethischen Appellen hin zu neuem Gottvertrauen: Entdeckt, wie reich ihr beschenkt seid! Um dieses Vertrauen wirbt Jesus mit seinen Hinweisen auf die Wunder der Schöpfung [und Gottes Ökonomie; M.H.]: Seht die Vögel unter dem Himmel, wie fürsorglich Gott sie nährt; bewundert die Lilien auf dem Felde, wie herrlich sie bekleidet sind – um wie viel mehr wird sich der Vater im Himmel euer annehmen. Und je mehr ihr dessen gewahr werdet, wie reich ihr gesegnet seid, desto mehr werdet ihr entdecken, dass ihr nicht aus dem Mangel sondern aus der Fülle heraus lebt.“58

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es kann und darf hier gewiss nicht darum gehen, aus einer westlichen Mitgliedskirche heraus den Geschwistern aus den südlichen Mitgliedskirchen, etwa im südlichen Afrika, ein „Sorget nicht!“ zuzurufen. Das wäre in der Tat nicht nur missverständlich, sondern „angesichts der menschlichen und ökologischen Opfer und angesichts der obszönen Spreizung von Armut und 58

P. BUKOWSKI, Gerechtigkeit predigen. Zur Frage einer homiletischen Umsetzung der Erklärung von Accra, in: TH. FLÜGGE u.a. (Hg.), Wo Gottes Wort ist. Die gesellschaftliche Relevanz in der pluralen Welt. Festgabe für Thomas Wipf, Beiträge zu Theologie, Ethik und Kirche 6, Zürich 2010, (225–237) 229f. Bukowski fährt anschaulich fort: „Mit seiner Verkündigung nimmt Jesus die Seelsorge der Psalmen auf, die ja auch zum Gottvertrauen ermutigen durch das Erinnern der Güte Gottes: ‚Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat‘ (Psalm 103). Ein besonders ansprechendes Beispiel solcher heilenden Seelsorge findet sich in der jüdischen Passahliturgie. Eines der Lieder, die im Verlauf der Feier gesungen werden, zählt all das Gute auf, das Gott seinem Volk hat zukommen lassen, und nach jeder einzelnen Tat lautet der Refrain: ‚Es wäre genug gewesen.‘ Also: Hätte Gott uns nur aus Ägypten herausgeführt – es wäre genug gewesen. Und so geht es dann weiter: Hätte er nur die Ägypter besiegt, es wäre genug gewesen. Und hätte er nur das Meer geteilt, es wäre genug gewesen. Uns durchs Meer geführt, genug. Uns in der Wüste versorgt, genug – und so weiter. Jede einzelne Tat der Heilsgeschichte wird als Geschenk Gottes eigens gewürdigt, wobei das ‚es wäre genug gewesen‘, im Hebräischen ‚dajjenu‘, stets mehrfach wiederholt wird: Es wäre genug gewesen, es wäre genug gewesen, es wäre genug, genug, genug, gewesen.“ BUKOWSKI, Gerechtigkeit predigen, 230.

3. „Sorget nicht!“

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Reichtum auf diesem Globus“59 schlicht „zynisch“ zu nennen. Das „Sorget nicht“ ist zunächst und vor allem „ad intra“ gesprochen und muss – homiletisch gewendet – zunächst den Predigenden als den primären Adressaten seiner eigenen Predigt betreffen. Es dürfte evident sein, dass sich das Mangelmodell auf die primär „westliche“ Sorge bezieht. Als solcher „Primärtext“ im Sinne eines „Textes für mich“60 weist die Bergpredigt darauf hin, dass es auch und besonders im Blick auf ökonomische Zusammenhänge darauf ankommt, nicht bei unserem menschlichen Sorgen, auch nicht bei unserem menschlichen Bekenntnis als Absage an den Mammondienst einzusetzen, sondern bei Gott, der sich in seinem Heilshandeln, seiner oeconomia, zu uns Menschen bekannt hat. Hier, bei Gottes Ökonomie, wird eine theologische Wirtschaftsethik ihren Ausgangspunkt nehmen.61 Gottes Ökonomie ist mehr als ein Gegengift gegen einmalige Exzesse und menschliches Extremverhalten. Sie stellt ein Therapeutikum, ein Heilmittel dar. Zu ihr gehört ein Raum, ja, wenn man so will, eine Krankenstation – jedenfalls ein Ethos, eine Existenzform. Eine Ethik, die bei Gottes Ökonomie ansetzt, ist eine Ethik der Gabe,62 eine Ethik der Fülle. Denn es geht ihr um ein Leben in Gottes Ökonomie und deshalb um ein Leben in Fülle (vgl. Joh 10,10b), das den Hunger nach „Mehr“, nach dem Mammon nicht aufkommen lässt.63 Jesus „wendet sich an die, die sich in der Ökonomie Gottes aufhalten und Gottes Ökonomie von menschlichem Wirtschaften zu unterscheiden wissen“.64 Calvin schreibt in seiner Evangelienharmonie: „Hier nun

59

W. STIERLE, „Globalisierung gestalten!“ – Wie funktioniert denn das? Zum Verhältnis von Entwicklungspolitik und Ökumene am Anfang des neuen Milleniums, in: M. EBERLE / S. ASMUS (Hg.), Quo vadis ökumenische Sozialethik? Weltgestaltung im Zeitalter der Globalisierung, ÖR.B 76, Frankfurt a.M. 2005, (204–219) 218. 60 Vgl. P. BUKOWSKI, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, NeukirchenVluyn 31995, 50. 61 Vgl. H.G. ULRICH, Die Ökonomie Gottes und das menschliche Wirtschaften. Zur theologischen Perspektive der Wirtschaftsethik, in: H. RUH (Hg.), Theologie und Ökonomie. Symposion zum 100. Geburtstag von Emil Brunner, Zürich 1992, 80–117. 62 Vgl. CH. LINK, Schöpfung. Ein theologischer Entwurf im Gegenüber von Naturwissenschaft und Ökologie, Neukirchen-Vluyn 2012, 207: „So werden die ‚Lilien des Feldes‘ (Mt 6,28f.) zum Spiegel einer Erfahrung, in der jedes Leben durch die bloße Oberfläche seines Alltags hindurchdringt und sich eingesteht, dass es sein Dasein, aller eigenen Verfügung und Machbarkeit entzogen, als Gabe empfängt.“ 63 Vgl. S. HAUERWAS, Matthew, Brazos Theological Commentary on the Bible, Grand Rapids 2006, 81: „To seek first the righteousness of the kingdom of God is to discover that that for which we seek is given, not achieved.“ 64 H.G. ULRICH, Wie Geschöpfe leben. Konturen evangelischer Ethik, EThD 2, Münster 2005, 363.

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VII. Processus und/oder status confessionis?

ist das Heilmittel: wir sollen lernen, uns in die Fürsorge Gottes einzubetten.“65 Treffend bemerkt Hans G. Ulrich: „Das Gebot ‚Sorgt nicht …‘ richtet sich darauf, nicht einer Besorgnis zu verfallen oder aber einer blinden Lebensbehauptung (einem conatus essendi), so dass das Gewärtigwerden dessen, worin menschliches Leben besteht und das, was dem Nächsten mitzuteilen ist, absorbiert wird. In der Besorgnis gedeiht keine Kommunikation und keine Kooperation, die zur ökonomischen Existenzform gehört. In der ökonomischen Existenzform vollzieht sich dann menschliches Leben als geschöpfliches, wenn die Ökonomie dabei bleibt, der Güter gewärtig zu werden und die Güter zu kommunizieren, die niemandem vorzuenthalten sind. Im Status der oeconomia geht es darum, die Teilhabe an Gottes (soteriologischer) Ökonomie und die menschliche Ökonomie in ihrer Unterschiedenheit und Zusammengehörigkeit zu bewahren. Darin liegt die Pointe einer Wirtschaftsethik, die sich nicht auf die Moral einer letztgültigen Ausrichtung menschlicher Wirtschaftskraft gründet, die alles von dieser Ökonomie abhängig werden lässt. Das Gebot ‚Sorgt nicht …‘ ist von der Verheißung getragen, dass Gottes (soteriologische) Ökonomie menschliches Leben umgreift, trägt und verändert, so dass das menschliche Sorgen nicht damit befasst ist, wie das menschliche Leben in seiner Gestalt und seinen Grundlagen zu bewahren ist. So verstanden bleibt das menschliche Wirtschaften verbunden mit dem, was zu kommunizieren ist. Das ausdrücklich wahrzunehmen setzt jedoch voraus, den Blick für die Vögel unter dem Himmel, die der himmlische Vater nährt, zu gewinnen und zu bewahren.“66

Auch in der Accra-Erklärung kommt Gottes Ökonomie zur Sprache, vor allem in bundestheologischen Metaphern.67 Sie spricht von Gott, „de[m] Schöpfer und Erhalter allen Lebens, der uns zu Partnerinnen und Partnern der Schöpfung und Erlösung der Welt beruft“ (§ 17), der „über die ganze Schöpfung regiert“ (§ 18), der „einen Bund mit der ganzen Schöpfung eingegangen ist“ (§ 20). Dieser Bund wird näherhin definiert als „eine Ökonomie der Gnade für den Haushalt der ganzen Schöpfung. Jesus zeigt uns, dass dies ein alle einschließender Bund ist, in dem die Armen und Ausgegrenzten die bevorzugten Partner sind“ (§ 20). Setri Nyomi, der damalige Generalsekretär des Reformierten Weltbundes, der Accra explizit als „Confession“ 65 J. CALVIN, Auslegung der Evangelien-Harmonie 1. Teil, übers. von H. STADTLAND-NEUMANN / G. VOGELBUSCH, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe 12/1, hg. von O. WEBER, Neukirchen-Vluyn 1966, 222. Zur

Sorglosigkeit der „Vögel unter dem Himmel“ und der „Lilien auf dem Felde“ als Gleichnis für Gottes Fürsorge, seine Vorsehung und Macht vgl. CH. LINK, Die Welt als Gleichnis. Studien zum Problem der natürlichen Theologie, BEvTh 73, München 2 1982, 185; 309; DERS., Schöpfung, 96. 66 H.G. ULRICH, Geschöpfe, 363f. Hervorhebungen im Original. 67 Zur Analyse von Accra vgl. auch U. MÖLLER, Einleitung, 136–140; K. RAISER, Globalisierung, 11–13.

3. „Sorget nicht!“

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bezeichnet und dezidiert in eine Reihe mit Barmen und Belhar stellt,68 kommentiert: „If we are a covenantal family, then what happens to sisters and brother in Africa, Latin America, Asia, and any other place ought to affect their sisters and brothers in North America, Europe, and Australia, and vice versa. This ought to have implications for lifestyles. Covenanting for life is therefore an important aspect of Christian living and belonging together.“69

Indes fällt bei Accra auf, dass von Gottes Ökonomie erst an zweiter Stelle die Rede ist, nämlich nachdem zuvor in der Einleitung (§§ 1–4) die Genese der Erklärung erläutert und unter der Überschrift „Die Zeichen der Zeit erkennen“ (§§ 5–14) eine Gegenwartsanalyse entfaltet wird, die die „Entwicklung der neoliberalen wirtschaftlichen Globalisierung“ (§ 9) scharf verurteilt und den Neoliberalismus als „Götzendienst“ (§ 9) brandmarkt. Er liege der gegenwärtigen Weltwirtschaftsordnung zugrunde, welche wiederum „von (einem) Imperium verteidigt“ (§ 11) werde. Betreffender Abschnitt mündet bezeichnenderweise in das gewissermaßen den Schlussakkord bildende Diktum hinein: „Ihr könnt nicht zugleich Gott und dem Mammon dienen“ (§ 14). Hier kann es gewiss nicht darum gehen, sich der als Akt des Bekennens verstehenden Fundamentalkritik Accras mit dem schlichten Hinweis zu entledigen, dass politisch extreme Menschen nun einmal zu Verschwörungstheorien neigen.70 Auch darf die Brisanz des NordSüd-Gefälles hinsichtlich der gravierend unterschiedlichen und als zutiefst ungerecht empfundenen Lebensbedingungen keineswegs heruntergespielt werden.71 Allerdings gewinnt man den Eindruck als sei diese Krisenanalyse der Rede von Gottes Handeln vorgeordnet worden, ohne dass diese Rede tatsächlich eine solche Analyse nun tatsächlich tragen und stützen würde. Und auch im dritten Abschnitt „Bekenntnis des Glaubens (confession of faith) angesichts wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und 68

S. NYOMI, Accra, 48: „The Accra Confession is one attempt to expose the false doctrine of our days. Today’s false doctrines include limiting God’s sovereignty to a narrowly defined spiritual realm. If we had followed these false doctrines in the 1930s in the face of Nazism, or in the decades of apartheid in South Africa, our witness would have been tarnished.“ 69 A.a.O., 46. 70 Vgl. S. HERRMANN, Von finsteren Mächten umgeben, Süddeutsche Zeitung, Nr. 27, vom 3.2.2015, 14. 71 Die unterschiedlichen Lebenswelten innerhalb der einen Welt veranschaulicht am Beispiel seiner beiden literarischen Enkelkinder Becks und Desta der Wirtschaftswissenschaftler P. DASGUPTA, Die Weltwirtschaft. Eine kleine Einführung, übers. von R. BUCHEGGER, Stuttgart 2009.

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VII. Processus und/oder status confessionis?

ökologischer Zerstörung“ (§§ 15–36) hat man den Eindruck, als werde hier nur eine Pflichtübung abgeleistet, wenn zunächst einmal indikativisch von Gottes Handeln und seiner Gerechtigkeit gesprochen wird, um dann so schnell wie möglich zum vermeintlich eigentlich Wichtigen überzugehen, zur Ethik, genauer gesagt: zu Appellen. Peter Bukowski bemerkt treffend: „[Ich] finde es übrigens auch schade, dass bei genauem Hinsehen nur etwas mehr als die Hälfte der in AC mit ‚ich glaube‘ beginnenden Bekenntnissätze im engeren Sinne vom Heilshandeln Gottes reden (17.18.20.24.30), wohingegen die anderen schon wieder bei unserem Tun sind, indem sie festhalten, wozu wir ‚aufgerufen‘ sind (so AC 22.26.28.32). Man ist geneigt zu warnen: Pelagius ante portas! Denn wenn schon Ethik in einem Bekenntnis, dann müsste zumindest deutlicher als in der AC gezeigt werden, wie der Gott, der uns aufruft, uns auch befähigt, seinem Ruf zu folgen.“72

Theologisch unverzichtbar wäre es in Accra gewesen, den Konnex zwischen dem menschlichen Bekennen und Gottes Ökonomie zu betonen. Der theologisch hoch bedeutsame Umstand, dass und inwiefern der, der in der Ökonomie Gottes drinsteht, angesichts bestimmter Herausforderungen nicht anders kann als zu bekennen, wäre zu explizieren. Die Ökonomie Gottes ist mit anderen Worten der eigentliche status confessionis. Oder in der Terminologie der Ständelehre gesprochen: Der status oeconomicus ist der status confessionis. Dies scheint mir der eigentliche Kern von Karl Barths Insistieren auf dem pathetischen Charakter des Bekennens im status confessionis zu sein.73 Karl Barth war es wichtig zu betonen,

72 73

P. BUKOWSKI, Gerechtigkeit, 229. Hervorhebung im Original. Vgl. K. BARTH, KD III/4, 86: „Das uns gebotene Bekennen darf, muß und wird da Ereignis werden, wo ein Mensch dessen gewahr wird, dass sein Glaube – oder vielmehr der Glaube der christlichen Gemeinde, sei es in deren Mitte, sei es von der Welt her, mit dem Phänomen des Unglaubens, des Aberglaubens, des Irrglaubens konfrontiert und von daher in Frage gestellt ist und wo es diesem Menschen gegeben ist, mit seinem Wort Einspruch – den positiven Einspruch des Glaubens – dagegen einzulegen. […] Es ist aber immer ein besonderes Ereignis, wenn das so geschieht, daß ein Einzelner oder mehrere oder viele Einzelne dieser latent immer wieder bestehenden Konfrontierung und Infragestellung konkret gewahr werden müssen. Dann und nur dann sind sie in der Situation, in der ihnen das Bekennen zur Ehre Gottes geboten ist, in der sie aufgerufen sind, in der Freiheit vor ihm als seine Zeugen das Wort zu ergreifen. Der status confessionis ist also kein Dauerzustand. Wer beständig Märtyrer sein wollte, würde es sicher gar nie werden, weil er offenbar nicht wüßte, daß Martyrium, Zeugnis, ein Tun ist, das nur auf Grund besonderer Berufung in besonderer Situation Ereignis werden kann. Man kann diese Situation auch nicht herbeiführen und konstruieren, man kann also überhaupt nicht Märtyrer sein wollen.“ Dort z.T. kursiv. Vgl. auch DERS., KD I/2, 698.

4. Fazit: Die viatorische Pointe der Rede vom processus confessionis

231

„dass die Kirche niemals von sich aus, d.h. aus eigenem Abwägen und Entscheiden heraus in Fragen des Glaubens oder sittlichen Handelns ein Bekenntnis abgeben solle, schon gar nicht einen ‚status confessionis‘ proklamieren dürfe. Sie muss von den Verhältnissen und den zeitgenössischen MitAkteuren dazu gleichsam gezwungen werden. Einen ‚status confessionis‘ sucht man nicht, sondern man sieht sich mit dieser Herausforderung unausweichlich konfrontiert“.74

4. Fazit: Die viatorische Pointe der Rede vom processus confessionis Hinsichtlich der Frage nach den wirtschaftlichen Strukturen als möglichem Anlass eines status confessionis sind wir – einer biblisch induzierten Logik folgend – auf Gottes Ökonomie gestoßen. Die Ausgangsfrage theologischer Wirtschaftsethik, wie man „in Gottes Ökonomie mitwirtschaften [und] eben diese Ökonomie auch anderen mitteilen“75 kann, kann hier selbstverständlich nur benannt, nicht aber hinreichend beantwortet werden. Hans G. Ulrich gibt dazu den wichtigen Hinweis: „Der Status oeconomicus erwächst immer neu daraus, dass sich Menschen sagen lassen, was ihrem gemeinsamen Sorgen anvertraut ist und zugleich verstehen, was ‚Sorget nicht!‘ bedeutet. Darin ist die ökonomische Freiheit begründet, die hier einzubringen ist. So dürfen sie in den Status oeconomicus finden, in dem sie dessen gewärtig sind, was sie immer schon empfangen und erfahren, was sie mitteilen dürfen und woraufhin sie gemeinsam Sorge tragen. Es wird zu prüfen sein, welche Art von Ethik sich daraus für das Wirtschaften ergibt.“76

Weil und insofern der status oeconomicus der eigentlich status confessionis ist, bildet auch das Bekenntnis keinen Selbstzweck. Es will in Gottes Ökonomie eingebunden sein und diese bezeugen. Mit Psalm 103,2 gesprochen, der die Ökonomie Gottes bezeugt: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Die Güte Gottes will in der Tat bezeugt werden und das Bekenntnis kann nur Medium dieses Zeugnisses sein: „Ein Bekenntnis ist ja nicht das Ziel, sondern eine Etappe auf dem Zeugnisweg der christlichen Gemeinde bzw. Kirche. Zweifellos eine wichtige, weil hier im Hören auf die Heilige Schrift und im Wahrnehmen der Herausforderungen der Zeit die Orientierung festgelegt wird. Ihre Relevanz erweist eine Orientierung aber erst dadurch, dass ihr die Gemeinde nun auch folgt,

74 75 76

W. LIENEMANN, Grundinformation, 264. Hervorhebungen im Original. H.G. ULRICH, Geschöpfe, 394. A.a.O., 395. Hervorhebung im Original.

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VII. Processus und/oder status confessionis?

also ihren Weg des Zeugnisses und Dienstes in der angegebenen Richtung fortsetzt.“77 Die Rede vom processus confessionis hat primär ihren Sinn und ihre Dignität darin, dass sie mit der Wegmetapher den Zeugnischarakter zur Sprache bringt: Pro-cedere meint eben das Vorrücken, das Vorwärtsgehen auf einem Weg. Es geht um das Vorwärtsschreiten auf dem Weg der Gerechtigkeit.78 In dieser Weise ist Bekennen zu verstehen, nicht als die Verabschiedung eines Bekenntnistextes, sondern primär als die Praxis des Vorwärtsschreitens auf diesem Weg. Das Bekennen ist eine Praxis des homo viator bzw. des wandernden Gottesvolkes in der Welt. Das Bekennen wird zum Ausdruck bringen und daran erinnern, dass mit Gottes Ökonomie „die Möglichkeit, Gerechtigkeit zu üben, selbst gewährt wird“.79 Darin besteht die viatorische Pointe der Rede vom processus confessionis. Von daher ist das Problem in den Blick zu nehmen, das Ulrich Möller als entscheidend für das Gelingen eines processus confessionis ausmacht: „Wie kann im Rahmen einer auf konfliktvermeidende Integration bedachten Volkskirche ein verbindlicher Prozeß des Bekennens so institutionalisiert werden, daß die Verbindlichkeit nicht ihre Grenze an der jeweiligen Akzeptanz des Durchschnittsbewußtseins der Betreuungskirche findet, sondern umgekehrt dieser Prozeß des Bekennens die Kirche so verändert, daß sie in all ihren Gestalten zunehmend als Kirche erkennbar wird, die im Dienst des Friedens und der Gerechtigkeit steht – auch wenn dadurch bestehende Gestalten der Kirche transformiert werden müssen?“80

Die Duchrow-Möller-Kontroverse hat im Blick auf die Frage, ob die Struktur der globalen Wirtschaft Anlass eines kirchlichen Bekenntnisses sein kann, die verschiedenen bekenntnishermeneutischen Logiken recht klar vor Augen geführt. Ich schließe mich diesbezüglich dem Urteil Peter Bukowskis an, das auf der Linie der Argumentation Ulrich Möllers liegt:

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P. BUKOWSKI, Gerechtigkeit, 226. Vgl. a.a.O., 234. H.G. ULRICH, Geschöpfe, 394. Ulrich schlussfolgert: „Insofern ist es falsch, wenn argumentiert wird, die Gaben, die es aus Barmherzigkeit zu verschenken gilt, müssten erst erwirtschaftet werden. Hier fehlt der Blick auf das überreiche Maß an Gaben und Gütern, das bei allem Wirtschaften uns Menschen zukommt, es fehlt der Blick auf die Ökonomie als Medium, wie auch die Technologie als Medium zu verstehen ist. Hier trennen sich die Wege zwischen einer Ökonomie und Ökonomisierung des guten Lebens, die manche Ethik des guten Lebens nahe legt, und einer Ökonomie der Mitteilung dessen, was Menschen zukommt. Eine Ökonomie der Knappheit aller Güter hat hier keinen Ort. Sie propagiert einen ökonomischen Ausnahmezustand als Dauerzustand.“ A.a.O., 526. 80 U. MÖLLER, Im Prozeß, 387.

4. Fazit: Die viatorische Pointe der Rede vom processus confessionis

233

„Menschliches Zusammenleben ist nur in Ausnahmen und Grenzfällen mit dem Instrumentarium der zweiwertigen Logik zu erfassen. Der Antisemitismus etwa oder das System der Apartheid sind solche Fälle, wo unser ‚entweder – oder‘ gefordert ist. Öfters verhält es sich aber so, dass widerstreitende Werte in Balance zu bringen sind, anstatt sich für den einen und gegen den andern zu entscheiden; so geht es in der Wirtschaft etwa um die Balance der Pole Gemeinwohl und Eigennutz und nicht um einen prinzipiellen Gegensatz.“81

In ähnlicher Weise argumentiert Heinrich Bedford-Strohm: „Es führt zu nichts, wenn rationale Argumentation gegen liberale ökonomische Konzepte dadurch ersetzt wird, dass sie als quasi-religiöse oder säkulare Ideologien entlarvt werden. Aber Wachsamkeit gegenüber nur scheinbaren Rationalitätsansprüchen und ihre Entlarvung als ideologisch ist in der Tat Teil jedes kritischen Diskurses, und ist vielleicht nirgendwo wichtiger als in der Globalisierungsdebatte.“82

Heinrich Bedford-Strohm plädiert, um dem Dilemma zwischen „kritiklose[r] Affirmation oder wirkungslose[r] Kritik“83 zu entkommen, für einen engagierten Realismus: „Engagierter Realismus überwindet sowohl die Idealisierung des freien Marktes als auch seine Verdammung. Stattdessen muss eine nüchterne Analyse zeigen, in welchen Fällen Liberalisierung zu einer Verbesserung der Situation der Armen führt und in welchen Fällen sie das Gegenteil bewirkt.“84 Dass es genau um eine solche Verbesserung geht, darin sollte Einigkeit bestehen.85 81 82 83

P. BUKOWSKI, Gerechtigkeit, 233. H. BEDFORD-STROHM, Theologie, 44. Hervorhebung im Original. So Rochus Leonhardt im Blick auf kirchliche Verlautbarungen zur theologischen Wirtschaftsethik (R. LEONHARDT, Zwischen Skylla und Charybdis? Theologische Wirtschaftsethik im Spiegel kirchlicher Verlautbarungen, in: U. KERN [Hg.], Wirtschaft und Ethik in theologischer Perspektive, Rostocker Theologische Studien 7, Münster u.a. 2002, [199–239] 212). 84 H. BEDFORD-STROHM, Theologie, 45. Hervorhebungen im Original. Ähnlich auch W. STIERLE, Impulse einer evangelischen Wirtschaftsethik, in: M. FREUDENBERG u.a. (Hg.), Beiträge zur Ethik, Reformierte Akzente 7, Wuppertal 2003, (43–62) 59: „Evangelische Wirtschaftsethik verteufelt das Marktsystem nicht an und für sich und vergöttert es auch nicht. Wirtschaft und Ethik verhalten sich nicht kompromisslos und kolonialisierend zueinander, sondern konstruktiv wo möglich und konfliktiv wo nötig.“ Hervorhebung im Original. 85 Zur Armut vgl. den Band J. EURICH u.a. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011. Zu reformierten Impulsen zum Armutsdiskurs vgl. H. SCHOLL, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ 124 (1983), 64–73; M. FREUDENBERG, „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Joh 12,8). Armut als Herausforderung für das kirchliche Handeln im reformierten Protestantismus – Einblicke und Orientierungen, in: M. BÖTTCHER u.a. (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche

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VII. Processus und/oder status confessionis?

Daran wird im Übrigen auch die Marktwirtschaft, welche der Idee nach – so Karl Homann – „praktizierte Solidarität auf Grundlage des Eigeninteresses“86 ist, zu messen sein – allzumal die sog. „soziale Marktwirtschaft“87 hierzulande, die ja bekanntlich in unterschiedliche Richtungen entwickelt werden kann.88 Dietrich Ritschl pointiert etwa: „Die Marktwirtschaft als solche – einschließlich ihres Leistungs- und Wettbewerbsprinzips – ist nicht der Feind christlich verantwortlich denkender Menschen, sondern das Fehlen ethischer Grundlagen in verschiedenen Gesellschaftssystemen.“89 Auch die Globalisierung will gestaltet werden.90 Eine Ablösung des Glaubens von Fragen der (Wirtschafts-)Ethik, die Ulrich Duchrow befürchtet, wenn er von der (neu-)lutherischen Irrlehre spricht und mit dem Stichwort „Eigengesetzlichkeit“ versieht, wird hier ganz gewiss nicht zu betreiben sein. Dies dürfte im Lichte von Barmen II unstrittig sein.91 Auch in der Kontroverse zwischen Ulrich Möller und Ulrich Duchrow herrscht hier Einigkeit. So wie für das Bekenntnis ein Ethos, näherhin: der status oeconomicus notwendig ist, sind auch für die Ethik Bekenntnisse grundsätzlich nötig und keineswegs verzichtbar: „Bekenntnisse, jedenfalls im Blick auf ethische Sachverhalte und Probleme und in der Tradition reformatorileiten. FS Gerrit Noltensmeier, Wuppertal 2005, 93–111; M. FREUDENBERG, Geld und gute Worte. Zu den Grundlagen und Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik, in: DERS., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie: Forschung und Wissenschaft 36, Berlin 2012, 94–114. 86 K. HOMANN / A. SUCHANEK, Ökonomik. Eine Einführung, Tübingen 22005, 408. Dort kursiv. Plädiert wird hier für die Maxime: „Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil!“ A.a.O., 412. Zu Homann vgl. T. JÄHNICHEN, Wirtschaftsethik, 83–87. 87 Vgl. H. BEDFORD-STROHM u.a. (Hg.), Zauberformel Soziale Marktwirtschaft?, Jahrbuch Sozialer Protestantismus 4, Gütersloh 2010. 88 So unterscheiden Karl Homann und Christoph Lütge typologisch zwischen vier Konzepten von Sozialpolitik: „Sozialpolitik durch den Markt“ (unverzerrter Markt und Wirtschaftswachstum als beste Mittel gegen Armut verstanden), „Sozialpolitik gegen Markt“ (soziale Umverteilung als Einhegung des Marktes und Heilung der Marktwunden verstanden), „Sozialpolitik vor dem Markt“ (Sozialpolitik als Gegenleistung zur Zustimmung der Leistungsschwachen zur Marktwirtschaft verstanden) und „Sozialpolitik für den Markt“ (Sozialpolitik als Anreiz für riskante und produktive Investitionen verstanden) (vgl. K. HOMANN / CH. LÜTGE, Einführung in die Wirtschaftsethik, Münster 32013, 53–55). 89 D. RITSCHL, Thesen zur Neuorientierung christlicher Anthropologie am Ende des 20. Jahrhunderts, in: R. WETH (Hg.), Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996, (119–141) 140. 90 So auch J. HÜBNER, Globalisierung – Herausforderung, 320; DERS., Globalisierung, 112f.; W. STIERLE, „Globalisierung gestalten“, 204–219. 91 Vgl. W. KRECK, Grundfragen christlicher Ethik, KT 80, München 41990, 309–322.

4. Fazit: Die viatorische Pointe der Rede vom processus confessionis

235

scher Kirchen, haben die Funktion von Stoppregeln ethischer Deliberation. Sie markieren ‚rote Linien‘, die nach Auffassung mancher, vieler oder aller, die an ethischen Diskursen beteiligt sind, nicht überschritten werden sollten.“92 Es wird auch in den ethischen Diskursen auf die Einhaltung solcher Regeln zu insistieren sein. Freilich drohen sich Regeln als Instrumentarien abzunutzen, wenn Regelverletzungen permanent angemahnt werden – auch und besonders in solchen Fällen, in denen von den übrigen Diskursteilnehmenden die angemahnten Regelverletzungen gar nicht als solche wahrgenommen werden. Man wird dann sehr schnell der Regeln als solchen überdrüssig. Die Proklamation des status confessionis hinsichtlich der Struktur der globalen Wirtschaft stellt eine solche Anzeige von Regelverletzung dar. Hier gilt es Karl Barths Warnung ernst zu nehmen, die er in einem Gespräch gegenüber den „Kirchlichen Bruderschaftlern“ in Württemberg in der Atomwaffendiskussion formulierte: „Machen Sie nicht zu heftigen Gebrauch von diesem Begriff [status confessionis; M.H.]! Nicht zu oft! Gelegentlich kann das einmal auftauchen, daß man sagt: So, jetzt bin ich im status confessionis, jetzt gibt es nur das und das! Aber das wird etwas relativ Seltenes sein, verstehen Sie, daß sich (etwas) so schlechterdings gegenübersteht, daß ich sagen (muß): hundertprozentig so oder gar nichts! Also […]: Vorsichtig umgehen mit diesem Instrument! […] Das ist sozusagen eine geistliche Atombombe, und man kann fürchterliche Verheerungen damit anrichten …“93

92 93

W. LIENEMANN, Grundinformation, 269. K. BARTH, Gespräche 1963, hg. von E. BUSCH, Karl Barth GA IV. Gespräche, Zürich 2005, 84 (Gespräch vom 15.7.1963). Vgl. DERS., KD III/4, 81.

VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen? Resonanzen reformierter Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg Für Wolfgang Lienemann zum 70. Geburtstag am 8.11.2014

1. Einführung Der Erste Weltkrieg hat in der Theologiegeschichte Spuren hinterlassen. Daran kann kein Zweifel bestehen. Wie sieht es hingegen im engeren Fokus der theologischen Ethik und insbesondere der Friedensethik aus, also bei denjenigen, die im akademischen Zusammenhang gleichsam professionell den Frieden als Ziel menschlichen Handelns zum Thema der Ethik, vor allem der politischen Ethik machen?1 Hat der Erste Weltkrieg auch in der Disziplin(geschichte) Resonanzen erzeugt? Und wenn ja, so ist zu fragen, wie diese aussahen, ob etwa Theologie und theologische Friedensethik betrieben wurden, als wäre der Erste Weltkrieg nicht geschehen. Wie sich an Karl Barths berühmter Schrift „Theologische Existenz heute“ von 1933 lernen lässt,2 kann auch eine Theologie im Modus der Irrealis durchaus eine nicht nur sach-, sondern auch lagebewusste Theologie sein.3 Damit ist nun die Ausgangsfrage dieses Beitrages benannt, der sich einem denkbar weiten Feld widmet. Selbstverständlich kann die Wirkungsgeschichte des Ersten Weltkrieges im reformierten Protestantismus nur ausschnitthaft in den Blick genommen werden. Dies schon allein deshalb, weil der reformierte Protestantismus kein einheitlicher Akteur war und ist. Anhand drei prominenter reformierter „Nachkriegstheologen“, die (auch) die (Friedens-)Ethikgeschichte geprägt haben, soll nach Resonanzen gefragt werden. Namentlich habe ich 1

Vgl. H.-R. REUTER, Frieden / Friedensethik, in: DERS. (Hg.), Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013, (28–37) 28. 2 Zur Diskussion vgl. E. BUSCH, „Als wäre nichts geschehen“. Die Freiheit der Kirche und die Frage nach ihrer politischen Parteinahme am Beispiel von Barths Beteiligung am Kirchenkampf, KBRS 142 (1986), 134–140; D. SCHELLONG, Alles hat seine Zeit. Bemerkungen zur Barth-Deutung, EvTh 45 (1985), 61–80; H. STOEVESANDT, Was heißt „theologische Existenz“? Über Absicht und Bedeutung von Karl Barths Schrift „Theologische Existenz heute!“, EvTh 44 (1984), 147–177. 3 Vgl. M. WEINRICH, Die bescheidene Kompromisslosigkeit der Theologie Karl Barths. Bleibende Impulse zur Erneuerung der Theologie, FSÖTh 139, Göttingen 2013, 322: „Barth verstand 1933 seinen leidenschaftlichen Appell ‚zur Sache‘ der Theologie ausdrücklich als sein Wort ‚zur Lage‘ und legitimiert damit eine Verstehensweise auch seiner regulären Theologie als zumindest indirekten Beitrag zur jeweiligen zeitgeschichtlichen Lage.“

1. Einführung

237

drei Protagonisten gewählt: Emil Brunner, Karl Barth und Reinhold Niebuhr. Warum diese drei und nicht etwa andere, etwa der Neocalvinist Herman Bavinck4 oder der religiöse Sozialist Leonhard Ragaz,5 bei denen ebenfalls Resonanzen des Krieges wahrnehmbar sind, wie verschiedene Studien gezeigt haben?6 Anders als bei den Letztgenannten ist mit den Namen Barth, Brunner und Niebuhr ein theologischer Epochenwechsel verbunden. Ihre Theologie hat unter dem umbrella term „neoorthodoxy“7 bzw. dem Stichwort „Theologie der Krise“8 Berühmtheit erlangt.9 Ein Krisenbewusstsein auch und gerade im Blick auf den Krieg wird man hier voraussetzen dürfen, gilt diese Theologie doch neben der sog. Lutherrenaissance10

4

Vgl. etwa H. BAVINCK, Christendom, oorlog, volkenbond, Utrecht 1920. Dazu: D. KEULEN, Herman Bavinck and the War Question, in: DERS. / M.E. BRINKMAN (Hg.), Christian Faith and Violence. Vol. 1, Zoetermeer 2005, 122–140. 5 Vgl. etwa L. RAGAZ, Briefe Band 2: 1914–1932, hg. von CH. RAGAZ u.a., Zürich 1982; M. MATTMÜLLER, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie. Band 2: Die Zeit des Ersten Weltkriegs und der Revolutionen, Zürich 1968; speziell zum Pazifismus von Ragaz: E. BUSCH, Verantwortung für den Frieden – Theologische Positionen von Leonhard Ragaz und Karl Barth, NW 89 (1995), 3–13; etwas verändert in: D. KINKELBUR / F. ZUBKE (Hg.), Friedensentwürfe. Positionen von Querdenkern des 20. Jahrhunderts, Münster 1995, 70–83. 6 Deutliche Entwicklungen sind während des Ersten Weltkrieges auch im Kreis der sog. „Liberalen Theologie“ zu verzeichnen. Vgl. etwa H. RUDDIES, Gelehrtenpolitik und Historismusverständnis. Über die Formierung der Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs im Ersten Weltkrieg, in: F.W. GRAF (Hg.), Ernst Troeltschs „Historismus“, Troeltsch-Studien 11, Gütersloh 2000, 135–163; F.W. GRAF, Martin Rade (1857–1940). Liberales Kulturluthertum, in: DERS. (Hg.), Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Band 2: Kaiserreich, GTB 1432, Gütersloh 1993, (398–422) 411–417. 7 Die Diskussion um die Angemessenheit dieses Etiketts füllt allein in der BarthForschung Bände. Zumeist wird der Begriff abgewehrt und dies durchaus von solch unterschiedlichen Barth-Interpreten wie B. MCCORMACK, Karl Barth’s Critically Realistic Dialectical Theology. Its Genesis and Development 1909–1936, Oxford 1995, 1–28 und G. DORRIEN, The Barthian Revolt in Modern Theology. Theology without Weapons, Louisville 2000, 1–13; 160–166. Vgl. auch G. HUNSINGER, How to Read Karl Barth. The Shape of His Theology, New York / Oxford 1991, 3–23. Auch auf K. Barth selbst kann sich dieser herausbildende magnus consensus insofern berufen, als es sich um keine Selbst-, sondern eine Fremdbezeichnung handelt (Vgl. BARTH, Letzte Zeugnisse, Zürich 21970, 34). So auch M. ZEINDLER, Reinhold Niebuhr (1892–1971). „Christlicher Realismus“ in Zeiten der Krise, in: M. HOFHEINZ / M. ZEINDLER (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, (101–123) 116. 8 Unter besagtem Titel („The Theology of Crisis“) wurden 1929 die Gastvorlesungen veröffentlicht, die Emil Brunner im Herbst 1928 in den USA hielt. Vgl. F. JEHLE, Emil Brunner. Theologe im 20. Jahrhundert, Zürich 2006, 13. 9 Vgl. CH. FREY, Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Göttingen 1989, 170. 10 Vgl. H. ASSEL, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance, FSÖTh 72, Göttingen 1994. VAN

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VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen?

als die wirkungsreichste Erneuerungsbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Die konfessionelle Zuschreibung „reformierte Theologie“ ist für Barth und Brunner unstrittig, im Blick auf Niebuhr hingegen überraschend. Man kann Niebuhr durchaus der reformierten Konfessionsfamilie zurechnen (auch wenn sich dieser selbst nicht so verstand), und zwar, wie M. Zeindler11 gezeigt hat, sowohl aus formalen wie inhaltlichen Gründen: Zum einen anhand einer Reihe von inhaltlichen Merkmalen reformierter Prägung, zum anderen aber auch über seine Herkunft: Niebuhr gehört zu jenem zweiten Zweig,12 nämlich der „Evangelical and Reformed Church“, der 1957 mit dem kongregationalistischen Zweig („Congregational Christian Churches“) zur UCC („United Church of Christ“) verschmolz. Sie gehört heute zur „World Communion of Reformed Churches“. Ganz bewusst haben alle drei Protagonisten versucht, theologische Ethik in Abgrenzung und Lossagung von den ererbten Traditionen unmittelbar vor dem Krieg zu entwickeln; dies freilich in unterschiedlichen Kontexten: Barth nach seiner Safenwiler Zeit ab 1922 als Professor von Göttingen und später Münster und Bonn, also als Schweizer von deutschem Boden aus; Brunner ab 1924 als Zürcher Professor von der Schweiz aus und Reinhold Niebuhr zunächst als „Arbeiterpfarrer“ in Henry Fords Detroit und ab 1928 als Theologieprofessor von New York City aus. Doch wie sah eine Friedensethik „after World War 1“ aus? Nach allgemeiner Einschätzung vollzog sich in den letzten 100 Jahren ein Wandel in der Kriegswahrnehmung, den Hans-Richard Reuter als Bewegung „Von der ‚Kriegstheologie‘ zur Friedensethik“13 umschrieben hat. Ich frage – meine Ausgangsfrage präzisierend – danach, ob und inwiefern die ausgewählten Vertreter an diesem Wandel partizipierten. 11 12

Vgl. M. ZEINDLER, Reinhold Niebuhr, 119–123. Der zweite Zweig speiste sich aus zwei Auswandererwellen deutscher Protestanten, nämlich der Reformed Church in the United States und der aus der Altpreußischen Union hervorgegangenen Evangelical Synod of North America, der Niebuhrs aus Deutschland ausgewanderter Vater Gustav angehörte. Auch das Eden Theological Seminary in St. Louis, wo Reinhold seine theologische Ausbildung erhielt, gehörte zur Evangelical Synod. Vgl. a.a.O., 103f.; D. LANGE, Christlicher Glaube und soziale Probleme. Eine Darstellung der Theologie Reinhold Niebuhrs, Gütersloh 1964, 13. 13 H.-R. REUTER, Von der „Kriegstheologie“ zur Friedensethik. Zum Wandel der Kriegswahrnehmung im deutschen Protestantismus der letzten 100 Jahre, in: DERS., Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013, 58–82. Zur Entwicklung der Friedensethik im Rahmen der Ökumene vgl. F. ENNS, Ökumene und Frieden. Bewährungsfelder ökumenischer Theologie, Theologische Anstöße 4, Neukirchen-Vluyn 2012, 138–246.

2. „Ordnungsrufe“

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2. „Ordnungsrufe“ Über die Formierung reformierter Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg 2.1 „Deichbewachung“ Emil Brunners Friedensethik im Bann der Ordnungen Brunner erhebt zu Beginn seines einschlägigen Werkes „Das Gebot und die Ordnungen“ eine Diagnose der ethischen Diskussion seiner Zeit, die auf verblüffende Weise der „Fragmentenhypothese“ gleicht,14 die der Philosoph Alasdair MacIntyre15 exakt 50 Jahre später in seiner vielbeachteten Studie „After Virtue“ aufstellte: „So ist also das Bild, das die natürliche Ethik darbietet, das eines Trümmerfeldes. Die ursprüngliche Gotteswahrheit ist in einzelne Fragmente auseinandergerissen und jedes dieser Fragmente ist durch seine Isolierung vom ganzen selbst ‚verkrümmt‘, zur Karikatur des Ursprünglichen verzerrt.“16 Man hat den Eindruck als schildere Brunner mit der Metapher von der Ruinenwelt der Moral das Resultat des Ersten Weltkrieges. Die Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges gleichen als Trümmerlandschaften denen der „ruinierten“ Moral. Und so wie nach MacIntyre „die Sprache der Moral aus einem Zustand der Ordnung in einen Zustand der Unordnung übergegangen ist“,17 liegt auch für Brunner die Moral in Trümmern. Dabei ist mit dem Begriff der Ordnung bereits der Brunnersche Leitbegriff genannt, mit dessen Hilfe er die moralische Krise der Gegenwart, wie sie nicht zuletzt der Krieg heraufgeführt hat, konzeptionell bewältigen möchte. In der Fragmentierung braucht es Ordnung; Ordnung, die anders als bei MacIntyre nicht eine zu rehabilitierende neoaristotelische Tradition von Tugendethik(en) stiftet, sondern nach Brunner die Rückbesinnung und Aktualisierung von Ordnung im Sinne der berühmt-berüchtigten Schöpfungsordnungen.18 So auch S. ANDERSEN, Einführung in die Ethik, Berlin / New York 22005, 286f. Vgl. A. MACINTYRE, Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, stw 1193, Frankfurt a.M. 21997, 13–18. 16 E. BRUNNER, Das Gebot und die Ordnungen. Entwurf einer protestantischtheologischen Ethik, Zürich 41939, 53. 17 A. MACINTYRE, Verlust, 25. 18 Vgl. E. Brunners Definition: „Jede Schöpfungsordnung ist […] eine dem Geschaffenen mitgegebene Ordnung, die auch vom ‚natürlichen‘ Menschen irgendwie gewusst, wenn auch nicht recht erkannt werden kann, sondern erst dem Glauben nach ihrem wahren Sinn sich erschließt. Wir werden also – das ist der Sinn des Wortes Schöpfungsordnung – in einem Gegebenen, in etwas, was ohne und gegen den Willen des Menschen da ist, den Hinweis auf den Willen Gottes des Schöpfers aufzudecken haben, so, daß der Glaube in jenem Hinweis, in jenem Gegebenen, die Schöpfungsordnung Gottes zu erkennen vermag.“ E. BRUNNER, Gebot, 329.

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VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen?

Schöpfungsordnungen sind vorgegebene Strukturen der Wirklichkeit, „Gehäuse“19 (wenngleich nicht „stahlharte“20 wie die Hörigkeit der Moderne bei Max Weber), in denen wir uns vorfinden und die als göttliche Gabe zu verstehen sind und deshalb anerkannt werden wollen. Brunner nennt Ehe und Familie, Wirtschaft, Staat, Kultur und Kirche.21 Freilich konzediert Brunner, wie oft übersehen wurde, dass Gott zwar als der Schöpfer „die Anerkennung seiner Ordnung und die Einfügung in sie als Erstes“22 fordert, als Erlöser jedoch „zugleich, als Zweites, die Nichtanerkennung der gegebenen Ordnungen und ein neues Tun im Blick auf das kommende Gottesreich“.23 Arthur Rich hat bei Emil Brunner „einen spürbar konservativen Zug“24 beobachtet, was insofern zutrifft, als dass er die Schöpfungsordnungen als vorausliegende Gemeinschaftsordnungen als „in ihrer Grundstruktur unveränderlich“25 beschreibt: „Theologisch sind die Schöpfungsordnungen nicht nur die primäre Strukturierung des Geschaffenen, sie sind auch ein Mittel der göttlichen Vorsehung, mit deren Hilfe Gott die ansonsten in sich zerfallene Menschheit zur Gemeinschaft zwingt und so überhaupt Leben unter den Bedingungen der Sünde wieder ermöglicht. Dieses zweite ist […] besonders bei der Ordnung des Staates und seines Rechts der Fall.“26

Wenn es auch nicht um ein bedingungsloses Akzeptieren der konkreten Schöpfungsordnung geht und man Brunner nicht einfach den verhängnisvollen Kurzschluss von Faktizität auf Geltung (im Sinne eines naturalistischen Fehlschlusses) vorwerfen kann, so dürfte doch der programmatische Impuls offenkundig sein, um den es Brunner geht. Walter Kreck hat die Pointe Brunners mit der Metapher von der „Deichbewachung“ umschrieben: „Da sie [die Ordnungen; M.H.] wie Deiche am Meer das Leben hüten und beschützen, muß der Christ vor allem für solche Deichbewachung eintreten.“27 Die Ordnungen gleichen Deichen gegen die drohende Flut. Das Theologumenon von den 19 20

A.a.O., 217. M. WEBER, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: DERS., Gesammelte politische Schriften, hg. von J. WINCKELMANN, Tübingen 51988, (306– 443) 332. 21 Vgl. E. BRUNNER, Gebot, X–XII. 22 A.a.O., 192. 23 Ebd. 24 A. RICH, Wirtschaftsethik I: Grundlagen in theologischer Perspektive, Gütersloh 1984, 148. 25 E. BRUNNER, Gebot, 194. 26 M. ZEINDLER, Emil Brunner (1889–1966), in: W. LIENEMANN / F. MATHWIG (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, (85–103) 91. 27 W. KRECK, Grundfragen christlicher Ethik, München 41990, 112.

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Schöpfungsordnungen ist die Ausdrucksform einer tendenziell angstbesetzten Abwehrhaltung, die vor allem durch die Erfahrungen des Krieges geschürt und/oder befeuert wurde.28 Zugleich begegnen uns zu Beginn der 1930er Jahre bei Brunner ganz überraschende Ausführungen von tiefgreifender Einsicht. Brunner bemerkt: „Im heutigen Kriegsfall ist auch der Begriff ‚Schutz des Vaterlandes‘ von höchst fraglicher Bedeutung.“29 Deichbewachung ja, aber eher im Sinne „geistiger Landesverteidigung“ und nicht mehr mit den Mitteln des Kriegs. Denn „die Abschaffung dieses Kampfmittels ist zur Existenzfrage der menschlichen Kultur geworden“.30 Deichbewachung muss nach Brunner um des menschlichen Überlebens willen Deichbewachung gegen den Krieg als drohende Gefahr, also jene Flut sein, die Brunner schonungslos als morbide bzw. suizidär kennzeichnet. Die Einsicht, die Brunner aus der Retrospektive auf den Ersten Weltkrieg gewonnen hat, lautet: „Das aktuelle Kriegsproblem stellt sich ganz anders dar als das zeitlose. […] Es ist beinahe ein Unfug zu nennen, daß man dasselbe Wort für die lokalen Ereignisse, die man früher Krieg nannte, und die Weltbrände, an die wir heute allein denken, wenn wir vom Krieg sprechen, gebraucht. Dank der Ersetzung des Söldnerheeres durch das Volksheer, der maschinellen und chemischen Technifizierung der Kampfmittel und der Verflochtenheit aller Wirtschaftsgebiete der Welt untereinander, ist der Krieg ein Mittel geworden, das heute niemand mehr als berechenbaren Posten in irgendeine politische Gewinn- oder Verlustrechnung einstellen kann. […] Im heutigen Krieg sind alle die Besiegten und keiner der Gewinner.“31

Und Brunner spitzt seine Beobachtung zur globalen Überlebensfrage zu: „Der Krieg aber hat unter diesen Mitteln keinen Platz mehr; die Abschaffung dieses Kampfmittels ist zur Existenzfrage der menschlichen Kultur geworden.“32 Man übertreibt sicherlich nicht, wenn man in diesen Worten Brunners die Antizipation der atompazifistischen Position wiedererkennt, wie sie sich seit den 1950er Jahren heraus-

28

Auch D. Schellong erkennt ein gesteigertes Interesse an „natürlicher Theologie“ seit dem Ersten Weltkrieg, welches sich in der Vorstellung von „Schöpfungsordnungen“ manifestiere. Vgl. D. SCHELLONG, Theologie nach 1914, in: A. BAUDIS u.a. (Hg.), Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. FS Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag, München 1979, (451–468) 457. Mit Blick auf Brunner ist freilich zu bedenken, dass die „Schöpfungsordnungen“ nach Brunner „nur in sündenbedingter Entstellung begegnen und entsprechend korrekturbedürftig bleiben“. M. ZEINDLER, Brunner, 97. So auch a.a.O., 91. 29 E. BRUNNER, Gebot, 457. 30 A.a.O., 458. Hervorhebung im Original. 31 A.a.O., 456f. 32 A.a.O., 458. Hervorhebung im Original.

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kristallisierte.33 Brunners Antikommunismus sorgte später freilich dafür, dass diese bei ihm nicht zum Tragen kam.34 Und noch ein Gedanke Brunners erweist sich als theologisch progressiv, nämlich die Überzeugung, dass zur effektiven Deichbewachung das Völkerrecht vonnöten ist.35 Brunner greift nicht nur die Entwicklung des Völkerrechts im Rahmen des „Völkerbundes“ auf, sondern auch den Kantschen Gedanken eines „Friedens durch Recht“, wie dieser ihn bereits 1795 in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“36 artikuliert hatte: „Die internationale Rechtspflege ist in wenigen Jahrzehnten in ungeahntem Maße zur Wirklichkeit geworden: die veränderte Gesinnung der Völker hat in der Ächtung des Krieges einen Ausdruck gewonnen, der zwar unmittelbar politisch noch nicht viel, aber symptomatisch desto mehr bedeutet. Die Völker fangen an zu merken – offenbar vor ihren Theologen! –, daß der Krieg sich zu überleben begonnen hat, daß der Krieg eine Art Spannungsausgleich geworden ist, den sich die Welt nicht mehr leisten kann, daß die unbedingte Souveränität der einzelnen Nationen den tatsächlichen Verhältnissen nicht mehr entspricht, daß der nichtkriegerische Ausgleich als Alternative nur noch den Selbstmord der Völker hat. Wo der Krieg dieses Entwicklungsstadium erreicht hat, bleibt ihm keine ethische Rechtfertigung irgendwelcher Art übrig.“37

Bei Lichte betrachtet entspricht freilich das globale ordnungspolitische Modell, das Brunner vorschwebt, nicht dem heutigen in Rahmen der UN-Charta etablierten Ordnungsmodell einer kooperativ verfassten Weltordnung ohne Weltregierung und auch nicht Kants Vorstellung von einem „Föderalismus freier Staaten“.38 Denn Brunner wendet sich implizit stark gegen das Souveränitätsprinzip, dem heute insbesondere innerhalb des friedenspolitischen Konzepts der „Responsibility to Protect“39 eine „wohlumschriebene Bedeutung als Schutzhülle 33

Vgl. W. LIENEMANN, Frieden. Vom „gerechten Krieg“ zum „gerechten Frieden“, Ökumenische Studienhefte 10 / BenshH 92, Göttingen 2000, 92–101; W. HUBER / H.-R. REUTER, Friedensethik, Stuttgart u.a. 1990, 132–208; U. MÖLLER, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962, NBST 24, Neukirchen-Vluyn 1999; V. STÜMKE, Der Streit um die Atombewaffnung im deutschen Protestantismus, in: DERS. / M. GILLNER (Hg.), Friedensethik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2011, 49–69. 34 Vgl. F. JEHLE, Emil Brunner, 453–461. 35 Vgl. E. BRUNNER, Das Gebot, 459. 36 Vgl. I. KANT, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), in: DERS., Werke in Zehn Bänden, Band 9: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Erster Teil, hg. von W. WEISCHEDEL, Darmstadt 5 1983, 191–251. 37 E. BRUNNER, Gebot, 459. 38 I. KANT, Frieden, BA 30. Hervorhebung im Original. 39 Vgl. dazu einführend: I.-J. WERKNER / D. RADEMACHER (Hg.), Menschen geschützt – gerechten Frieden verloren? Kontroversen um die internationale Schutzverantwortung in der christlichen Friedensethik, Münster 2013.

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für die politische Autonomie des Volkes“40 zukommt. Brunners Überlegungen tendieren eher in Richtung eines Weltstaates bzw. einer Weltregierung: „Das objektive Interesse an der Überwindung des Krieges ist heute größer als alle noch so berechtigten nationalen Interessen, etwa so, wie vor Zeiten das Interesse an der Schaffung des Einheitsstaates größer war als das noch so berechtigte Sonderinteressen der einzelnen Volksstämme. Der Zusammenschluß zur größeren Einheit kostet immer einen Preis – auch die Zusammenballung zu den heutigen Nationalstaaten ist teuer zu stehen gekommen; und doch wissen wir, daß sie unvermeidlich war. Die Stunde ist gekommen, wo ein weiterer Schritt der Zusammenfassung geschehen muß; denn schon die eine Notwendigkeit, den Krieg – nochmals: das, was der ‚nächste Krieg‘ sein würde – zu vermeiden, fordert ihn. Die konkrete Lage gibt dem, was wir vorher über die im Schöpfungsgedanken liegende Nötigung zur universellsten Gemeinschaft sagten, erst seine aktuelle Bedeutung, die ihn hoch über die Sphäre utopischer Konstruktion erhebt. Das entschlossene Hinarbeiten auf die Einheitsgestaltung ist heute die einzige Realpolitik, die diesen Namen verdient.“41

2.2 Frieden, Recht und Schöpfungsordnung Karl Barths „Münsteraner Ethik“ auf Entdeckungsreise Von Karl Barth ist bekannt, dass er sich bereits zu Beginn des Krieges mit seiner Forderung, etwa an seinen alten Lehrer Martin Rade, „Gott aus dem Spiel zu lassen“,42 von kriegstheologischen Deutungsmustern im Sinne eines Sakraltransfers (von Gott auf den Krieg) abgegrenzt hat. Dass Barth selbst gelegentlich hinter seine eigene Einsicht zurückgefallen ist und 1914 das religiöse Deutungsmuster des Krieges als Gerichtshandeln Gottes aufgreifen konnte,43 ändert nichts an seiner Kritik an der Rechristianisierung des Nationalismus, 40 41 42

H.-R. REUTER, „Kriegstheologie“, 77. E. BRUNNER, Gebot, 458f. K. BARTH, Brief an Martin Rade vom 31.8.1914, in: DERS., Offene Briefe 1909– 1935, hg. von D. KOCH, Karl Barth GA V. Briefe, Zürich 2001, (25–31) 28. Vgl. zu Rade: CH. SCHWÖBEL, Martin Rade. Das Verhältnis von Geschichte, Religion und Moral als Grundproblem seiner Theologie, Gütersloh 1980, 175–190; DERS., Einleitung, in: DERS. (Hg.), Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel, Gütersloh 1981, (9–56) 27–35. 43 Vgl. K. BARTH, Brief vom 25.9.1914 an Eduard Thurneysen, in: Karl Barth – Eduard Thurneysen Briefwechsel, Band 1: 1913–1921, hg. von E. THURNEYSEN, Karl Barth GA V. Briefe, Zürich 1973, (9–11) 10: „Die Formel: ‚Gott will den Krieg nicht‘ ist vielleicht irreführend, obwohl im Zusammenhang wohl verständlich. Gott will den Egoismus nicht. Er will aber, daß der Egoismus sich im Krieg offenbare und so sich selbst zum Gericht werde. Dieser Gerichtswille Gottes ist dann auch nichts anderes als Liebe: Offenbarwerden und Stärkerwerden der göttlichen Gerechtigkeit.“ Hervorhebung im Original.

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und zwar bereits zu Beginn des Krieges.44 Im „Geist von 1914“ erkannte er „eine kollektiv-ekstatische (Gegen-)Sakralisierung der Nation, die in den Rausch bellizistischer Selbstmobilisierung umschlug, ohne vor der nationalistischen Instrumentalisierung christlich-religiöser Tradition zurückzuschrecken“.45 Barths „Theologie der Diastase“ riss bekanntlich eine deutliche Kluft zwischen der Wirklichkeit Gottes und des Staates auf,46 die für die konstruktive Entwicklung einer Friedensethik zugleich fundamental notwendig wie erschwerend war. Wie schwer Barth sich tat, zeigt sich in seinem eigenen Schwanken im Umgang mit dem Theologumenon der Schöpfungsordnung, welches er bereits vor Brunner gebrauchte. Wenn man dies berücksichtigt, wird man theologiegeschichtliche Frontstellungen in Gestalt der Kontrastformation WortGottes-Theologie versus Ethik der Ordnungstheologie, die theologische Ethik nach dem Ersten Weltkrieg geprägt habe, ins Reich der Legendenbildung verweisen müssen.47 In den 1920er Jahren lässt sich ein Auf und Ab im Gebrauch dieses Topos der Lehrbildung beobachten. Während Barth bereits im „Tambacher Vortrag“ (1919) affirmativ von den Schöpfungsordnungen sprechen konnte,48 identifiziert er in 44 Schellong hat mehrfach darauf aufmerksam gemacht: „Für die deutsche Theologie war der 1. Weltkrieg im Wesentlichen durch sein Ende zum Anlaß von Neubesinnung geworden: durch die Niederlage Deutschlands und das, was ihr an Schwierigem und Neuen vorausging und folgte. Für Barth und Thurneysen bedeutete der Anfang des Krieges, also die Tatsache des Krieges überhaupt, den tiefen Einschnitt.“ D. SCHELLONG, Theologie nach 1914, 452f. Hervorhebungen im Original. Für die Rezeption der Barthschen Theologie in Deutschland hieß dies: „Barths Theologie von der Jenseitigkeit des Reiches Gottes wurde auf diesem Hintergrund als Trost für das verwundete – und in der Niederlage verstockte – nationalistische Herz empfunden.“ DERS., Barth lesen, in: Einwürfe 3 (1986), (5–92) 14. 45 H.-R. REUTER, „Kriegstheologie“, 78. 46 D. SCHELLONG, Theologie, 464; Schellong verweist auf den Entzug der christlichen Weihe für den Staat in Barths Auslegung von Röm 13 in seinem ersten Römerbrief-Kommentar. Vgl. K. BARTH, Der Römerbrief (Erste Fassung) 1919, hg. von H. SCHMIDT, Karl Barth GA. II. Akademische Werke, Zürich 1985, 500–522. 47 CH. FREY, Ethik, 200. 48 Karl Barth rekurriert im „Tambacher Vortrag“ (K. BARTH, Der Christ in der Gesellschaft [1919], in: J. MOLTMANN [Hg.], Anfänge der dialektischen Theologie, Band 1: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner, München 31985, 3–37) auf die „Schöpfungsordnungen“ konzeptionell im Rahmen der Drei-Ämter-Lehre und speziell des munus regale, des königlichen Amtes, welches Christus in den drei Reichen der Macht (regnum potentiae seu naturae), der Gnade (regnum gratiae) und Herrlichkeit (regnum gloriae) ausübt (vgl. F.-W. MARQUARDT, Christ in der Gesellschaft 1919–1979. Geschichte, Analyse und aktuelle Bedeutung von Karl Barths Tambacher Vortrag, TEH 206, München 1980, 65–79). Barth entdeckt „in allen gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir uns vorfinden mögen auch in ihrem schlechthinnigen Sosein und Gewordensein, ein Letztes, das wir erkennen, eine ursprüngliche Gnade, die wir als solche bejahen, eine Schöpfungsordnung, in die wir

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Auseinandersetzung mit Paul Althaus’ Buch „Religiöser Sozialismus“ diese Lehre im Jahr 1922 als „übelste[s] aller Theologumene“.49 Er versteht es als „üble romantische Rechtfertigung des Gegebenen“.50 In seiner sog. „Münsteraner Ethik“ (1928/29), seinem ersten großen Ethik-Entwurf, greift er es – im Wissen um auch dessen kriegstheologische Missbrauchbarkeit51 – hingegen wieder auf, wobei Barth später die Publikation dieser Vorlesung genau aus dem Grund abgelehnt hat, weil er darin noch die „später von ihm leidenschaftlich abgelehnte[ ] Lehre“52 vertrat. Die „Münsteraner Ethik“ ist deshalb so spannend, nicht nur weil hier „in einem vom Krieg gezeichneten Deutschland“53 das Ethik-Projekt Gestalt gewann, sondern weil sie vor allem „durch einen Versuchscharakter gekennzeichnet war“.54 Es geht ihr eher darum, Fragen zu stellen als Antworten zu geben.55 Darum kommt sie stärker in Frageform als im Indikativ daher.56 Man kann anhand dieser Vorlesung in Barths Werkstatt hineinschauen.57 Das christologische Analogiedenken bahnt sich zwar an, ist aber noch nicht so stark ausgeprägt wie beim späten Barth. An unmittelbaren Resonanzen auf den Ersten Weltkrieg finden sich hier der Verweis auf die Ambivalenz der Technik58 und Barths Kenntnisnahme eines international verbreiteten pazifistischen Antikriegs-Protests.59 uns finden müssen, so gut wir uns in die Schöpfungsordnungen der uns umgebenden Natur zu finden haben“ (K. BARTH, Der Christ, 20f.). Diese Bejahung der Schöpfungsordnungen resultiert nach Barth aus der Bejahung der Weltherrschaft, die Christus, der „Christus in der Gesellschaft“, als Schöpfungsmittler auch im regnum potentiae seu naturae (ad universalitatem rerum) wahrnimmt. Christologie und Schöpfungstheologie werden hier von Barth so zusammengeführt, dass der Schöpfungsordnungsgedanke Raum gewinnt. 49 K. BARTH, Grundfragen der christlichen Sozialethik. Auseinandersetzung mit Paul Althaus, in: J. MOLTMANN (Hg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Band 1: Karl Barth, Heinrich Barth, Emil Brunner, München 31985, (152–165) 154. 50 A.a.O., 155. 51 Vgl. K. BARTH, Ethik I. Vorlesung Münster Sommersemester 1928, wiederholt in Bonn, Sommersemester 1930, hg. von D. BRAUN, Karl Barth GA II. Akademische Werke, Zürich 1973, 241f. 52 So D. BRAUN, Vorwort, in: BARTH, Ethik I, VII. 53 So P.L. LEHMANN, Die Ethikvorlesungen, VuF 30 (1985), (65–72) 65. 54 A.a.O., 67. 55 Vgl. a.a.O., 71. 56 Vgl. a.a.O., 67. 57 Vgl. D. SCHELLONG, Rezension zu Karl Barth, Ethik I und II, ThLZ 105 (1980), (231–234) 231. 58 Im Lichte des Ersten Weltkrieges wird Barth die Ambivalenz der Technik deutlich: „Hinter dem unerhörten Können der Technik der Neuzeit steht drohend die Frage: was denn hier gekonnt wird? Und der Krieg sollte uns die Augen dafür geöffnet haben, daß die Antwort auf der ganzen Linie der technischen Leistung ebensowohl Mord und Vernichtung wie Bejahung und Aufbau des Lebens sein kann.“ K. BARTH, Ethik I, 226. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu: B. BROCK, Christian

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Und es kann kein Zweifel bestehen: Barth ist durch den Krieg sensibilisiert, im Blick auf die Grundsatz- wie materialen Fragen der Friedensethik „schärfste Bedenklichkeit, […] genaueste Überprüfung überkommener ethischer Selbstverständlichkeiten“60 walten zu lassen. Barth insistiert darauf, kritisch zu fragen, „ob diese ultimae rationes auch nur noch als ultimae wirklich tragbar sind?“61 Von der bellizistischen Tradition grenzt sich Barth dezidiert ab, wenn er im gebotsethischen Zusammenhang der Lehre vom Schöpfer, näherhin des „Gebotes des Leben“, nach der Möglichkeit des Krieges fragt – Krieg verstanden als „Exekution, die ein im Staate verfaßtes Volk wegen seines Willens zum Leben gegenüber einem anderen diesen seinen Lebenswillen bedrohenden Volke vornimmt“.62 Die erkenntnisleitende Frage, die Barth im Blick auf das Problem des Krieges aufwirft, ist die nach der Kompatibilität des Krieges mit der Ehrfurcht vor dem Leben: Ist „solche Exekution trotz und in der Ehrfurcht vor dem Leben möglich“?63 Barth zögert hier und konstatiert zunächst einmal, dass es entgegen allerlei theorie- und auch theologiegeschichtlichen Euphemismen tatsächlich um Leben und Tod geht, eingedenk der Verschärfung des Problems, die Militärtechnik, Kriegsökonomie und die neue Art der Streitmacht, nämlich das Massenheer, im frühen 20. Jahrhundert bedeuten. Der Einzelne sei trotz massenweiser Tötung als verantwortliches Subjekt gefragt. Die Anonymisierung des Tötens im Zusammenhang nationaler Konfrontation weist er als „neuzeitliche Ideologie“64 kritisch zurück, kann aber dann das „Wahrheitsmoment“65 jener Berufung auf die Schöpfungsordnung des Volkes konzedieren, insofern der Einzelne im Krieg als Glied seines Volkes handle, in das er qua Schöpfungsordnung berufen sei.

Ethics in a Technological Age, Grand Rapids / Cambridge 2010, 211–224; M. TROWITZSCH, Technokratie und Geist der Zeit. Beiträge zu einer theologischen Kritik, Tübingen 1988, 3f. 59 Im Rückblick auf den Ersten Weltkrieg beobachtet Barth, dass dieser „größte aller Kriege […] doch auch der erste Krieg gewesen [ist], der von Anfang an und in allen Ländern von einem bald anschwellenden, bald abschwellenden, aber nie ganz abbrechenden grundsätzlichen Protest gegen den Krieg als solchen begleitet gewesen ist“ (K. BARTH, Ethik I, 241). Barth beobachtet weiterhin „eine trotz aller Zwischenfälle (1914–1918 bildete allerdings einen recht erheblichen Zwischenfall) wachsende Bedenklichkeit jedenfalls gegenüber der Annahme einer erlaubten oder gebotenen direkten Tötung“ (a.a.O., 240). 60 A.a.O., 241. 61 Ebd. 62 A.a.O., 257. 63 Ebd. 64 A.a.O., 263. 65 Ebd.

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Die Militärdienstverweigerung beurteilt Barth sehr viel zurückhaltender, ja kritischer, als Brunner dies tut66 und als er selbst es in seinen Predigten im Ersten Weltkrieg tat.67 Barth stellt fest, dass „ich nun – mit oder ohne Waffe – am Kriege meines Volkes beteiligt bin“68 und am Lebenswillen meines Volkes partizipiere,69 in dem sich ein bestimmter Machtwille artikuliert.70 Etwas hilflos plädiert Barth angesichts dieses Weder-Nochs für ein zweifaches „tertium datur“: nämlich einerseits ein genaues Hinhören auf das, was Gott von uns will, was aber auch situativ und kontextuell durchaus besagen könne, mit Bertha von Suttner gesprochen: „Die Waffen nieder!“ Andererseits plädiert Barth für ein ideologiekritisches Aushungern des Krieges: „An der direkten moralischen Bekämpfung wird der militärische Nationalismus nicht sterben, wohl aber, wenn überhaupt, an moralischer Aushungerung.“71 Ideologiekritik hat nach Barth nüchtern auf die materialen Interessen als Kriegsgründe zu verweisen, welche durch quasimoralische, ideologische Überbauten kaschiert werden. Schlechterdings unvereinbar ist solche Ideologiekritik mit jener „Servilität […], die im letzten Krieg die Kriegstheologie aller Länder zu einer so schlechterdings verabscheuungswürdigen Erscheinung gemacht hat, vom Standpunkt der Ethik aus unverhältnismäßig schlimmer als alles Zielen, Schießen und Töten miteinander, weil durch diese Servilität die Sache der Ethik, jedenfalls einer christlichen Ethik, öffentlich schmählich verraten worden ist“.72

Einer prinzipiellen theologischen Begründung des Krieges entzieht sich Barth. Ein „Nein“ zum Krieg hätte aber m.E. durchaus deutlicher ausfallen können, wenn er weniger schöpfungsethisch als vielmehr rechtsethisch argumentiert hätte. Es fällt hingegen auf, dass Barth das Recht 66

Brunner nimmt sie als „neue politische Möglichkeit“ bzw. Vorbereitung einer „neue[n] Form der Sicherheit“ (E. BRUNNER, Gebot, 460) in den Blick. 67 Vgl. K. BARTH, Predigten 1915, hg. von H. SCHMIDT, Karl Barth GA I. Predigten, Zürich 1996, 444f. 68 K. BARTH, Ethik I, 265. 69 Vgl. a.a.O., 268f.: „Indem ich mich zum Kriege bekenne, bekenne ich mich dazu, daß ich wegen des Lebenswillens, d.h. wegen des Machtwillens meines Volkes fremdes Menschenleben töten will, das mir durch ein anderes Volk wegen seines Lebensund Machtwillens entgegengeworfen ist. Indem ich mich zum Krieg bekenne, bekenne ich mich noch einmal zur Notwehrtötung, zu dem ‚Ich oder Er‘ und ‚Herunter von der Planke!‘, nur daß ich es jetzt als Glied, aber als verantwortliches Glied meines Volkes tue. Es kann sein, daß ich das tun muß. Die Ethik kann den Krieg nicht verbieten. Sie kann ihn aber auch wirklich nicht gebieten.“ Hervorhebungen im Original. 70 Vgl. a.a.O., 266. 71 A.a.O., 267. 72 A.a.O., 265.

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und den Kantschen Gedanken im Zusammenhang der Kriegs- und Friedensthematik nicht aufgreift. Wenn man die trinitätstheologische Staffelung betrachtet,73 nämlich in das Gebot des Schöpfers, des Versöhners und des Erlösers, die dann auch für die „Kirchliche Dogmatik“ strukturbildend wurde, so verortet Barth das Recht im Unterschied zu nahezu allen materialethischen Topoi nicht innerhalb des „Gebots des Schöpfers“, sondern des „Versöhners“. Auf das Recht kommt er also erst in der Versöhnungslehre zu sprechen. Das wirkt sich dahingehend aus, dass Barth Staat und Kirche – anders als Brunner – nicht als Schöpfungsordnungen klassifiziert. Nach Barth fällt also der Begriff des Rechts unter den der Versöhnung. Besonders im Nachdenken über das Phänomen der Autorität zeigt sich Barths Rechtsverständnis:74 Die Frage der Autorität wird erst da unabweisbar, wo der Anspruch des Nächsten begegnet. Der Nächste als Rechtsträger geht mir „durch seine Gleichgültigkeit auf die Nerven“.75 Hier deutet sich nicht nur „eine soziologische Konflikttheorie des Rechts“76 an, sondern man gewinnt den Eindruck, dass Barth hinsichtlich der Begründung des Rechts so etwas wie eine soziale Anerkennungstheorie entwickelt – ausgehend vom Leitgedanken des Nächsten als intersubjektiv Anerkennungsbedürftigen: „Das Du des Nächsten wird uns zur Autorität unter dem Gesichtspunkt des ihn schützenden und durch ihn vertretenen Rechtes. Er beansprucht mich als Rechtsträger. Er fordert meinen Gehorsam als Anerkennung des Rechts.“77 Was ist nun „Recht“ nach Barth, wenn es keine Schöpfungsordnung ist? Barth definiert: „Wir verstehen unter Recht die öffentlich bekannte und anerkannte und durch die öffentliche Gewalt geschützte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, bekannt gemacht durch den Spruch der Gesellschaft und geschützt durch die Macht dieser 73

Vgl. N. BIGGAR, Barth’s Trinitarian Ethic, in: J. WEBSTER (Hg.), The Cambridge Companion to Karl Barth, Cambridge 2000, 212–227. 74 Vgl. dazu: H.-R. REUTER, Das Recht in der Auslegung des Glaubens. Über Rechtsbegriffe in der neueren systematischen Theologie, in: DERS., Rechtsethik in theologischer Perspektive. Studien zur Grundlegung und Konkretion, ÖTh 8, Gütersloh 1996, (93–120) 102–106. 75 K. BARTH, Ethik II. Vorlesung Münster Wintersemester 1928/29, wiederholt in Bonn, Wintersemester 1930/31, hg. von D. BRAUN, Karl Barth GA II. Akademische Werke, Zürich 1978, 215. 76 So auch W. LIENEMANN, Gewalt, Macht, Recht. Gewaltprävention und Rechtsentwicklung nach Karl Barth, ZDTh 17 (2001), (153–169) 161. Vgl. fernerhin: H. ASSEL, Grundlose Souveränität und göttliche Freiheit. Karl Barths Rechtsethik im Konflikt mit Emanuel Hirschs Souveränitätslehre, in: M. BEINTKER u.a. (Hg.), Karl Barth in Deutschland (1921–1935). Aufbruch – Klärung – Widerstand, Internationales Symposion in Emden 2003, Zürich 2005, 205–222. 77 K. BARTH, Ethik II, 212. Hervorhebung im Original.

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Gesellschaft.“78 Barth setzt hier nicht etwa Staat und Recht, sondern Gesellschaft und Recht in Beziehung, was für eine soziale Anerkennungstheorie des Rechts konstitutiv ist. Auf diese Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftsbildung bezieht sich – gleichsam sekundär – der Staat: „Das menschliche Werk des Staates ist allgemein verstanden die Gemeinschaftsbildung unter Menschen durch die Aufrichtung des Zeichens des von ihnen gemeinsam gefundenen, anerkannten und im Notfall durch Gewalt zu schützenden Rechts und der von ihnen gemeinsam erstrebten Erziehung.“79 Von diesen Gedankengängen aus wäre es höchst naheliegend gewesen, sie friedensethisch als Absage an außerrechtliche Gewalt zuzuspitzen und die Friedensethik in diesem Sinne rechtsethisch zu profilieren, wie dies seit den 1990er Jahren im Rahmen der sog. Lehre vom „gerechten Frieden“80 geschieht. Barth hat dies in den 1920er und 1930er Jahren leider unterlassen, wenngleich er im versöhnungsethischen Abschnitt an einer Stelle auf diese Möglichkeit hinweist.81 Erst mitten in der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs hat er hier explizit angeknüpft.82 Immerhin konnte Barth aber bereits 1922 die kritische Anfrage an Althaus’ Adresse richten: „Wieso soll denn der Begriff ‚Preußen‘ oder ‚Bayern‘ höhere Dignität besitzen als der Begriff ‚Völkerbund‘?“83 2.3 Reinhold Niebuhrs „Christian Realism“ in einer entzauberten Welt torquierter Moral Zu den theologiegeschichtlich gängigen Einschätzungen des Ersten Weltkriegs gehört folgendes Urteil: „In den Vereinigten Staaten hat die theologische Neuorientierung wesentlich später eingesetzt als in 78 79

Ebd. Hervorhebung im Original. A.a.O., 336. Vgl. J. FANGMEIER, Erziehung in Zeugenschaft. Karl Barth und die Pädagogik, BSHST 5, Zürich 1964, 134. 80 Vgl. dazu u.a.: W. LIENEMANN, Vom gerechten Krieg zum gerechten Frieden? Überlegungen zur neuen ökumenischen Friedensethik, KZG 4 (1991), 260–275; J.-D. STRUB, Der gerechte Friede. Spannungsfelder eines friedensethischen Leitbegriffs, Forum Systematik 36, Stuttgart 2010; M. HOFHEINZ, Gerechter Krieg? Gerechter Frieden! Eine kleine Apologie eines friedensethischen Paradigmas, in: H. THEIßEN / M. LANGANKE (Hg.), Tragfähige Rede von Gott, Festgabe für Heinrich Assel zum 50. Geburtstag, Hamburg 2011, 151–174. 81 Vgl. K. BARTH, Ethik II, 234. 82 Vgl. W. LIENEMANN, Karl Barth (1886–1968), in: DERS. / F. MATHWIG (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, (33–56) 42f. Ausführlich: M. HOFHEINZ, „Er ist unser Friede“. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014. 83 K. BARTH, Grundfragen, 161.

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Mitteleuropa. Der Erste Weltkrieg hatte auf einem fernen Kontinent stattgefunden und keine krisenhaften Auswirkungen auf das Land gehabt.“84 Dieses Urteil entspricht freilich keineswegs R. Niebuhrs Selbstwahrnehmung. In einem Rückblick aus dem Jahr 1928 bilanziert er: „Der Krieg rief meine gesamte Weltsicht hervor. Er machte mich zu einem Kind des Zeitalters der Desillusionierung. Als der Krieg startete, war ich ein junger Mann, der versuchte, ein Optimist zu sein, ohne Sentimentalitäten zu verfallen. Als er endete und sich die volle Tragödie seiner Brudermorde offenbarte, wurde ich zu einem Realisten, der dem Zynismus zu entkommen versuchte.“85

Nimmt man diese autobiographische Bemerkung ernst, so ist Niebuhrs heute als „Christian Realism“86 bekannte Konzeption in ihrer Genese nicht ohne den Einfluss des Ersten Weltkriegs zu verstehen. Wenn er von der „Tragödie der Brudermorde“ spricht, so ist der Sitz im Leben dieser Wahrnehmung nicht zuletzt in seiner Herkunft als deutschstämmiger Amerikaner zu suchen. Zur Zeit des amerikanischen Kriegseintritts 1917 war Niebuhr ein völlig unbekannter Pastor einer kleinen deutschsprachigen Gemeinde in der durch Henry Fords Automobilproduktion geprägten aufstrebenden, ja in rasender Geschwindigkeit wachsenden Millionenstadt Detroit. Nahezu die gesamte deutsch-amerikanische Kultur des Landes geriet damals unter den Verdacht geteilter Loyalität, ja des Vaterlandsverrats zugunsten der alten Heimat. Niebuhr gehörte zu denjenigen, die sich ganz dem amerikanischen Patriotismus verschrieben und offensiv (auch publizistisch) unter den Deutsch-Amerikanern für diese Position warben.87 Fragt man nach so etwas wie Selbst- und Fremdwahrnehmungsformationen im Krieg, so fällt bei Niebuhr die Drastik auf, mit der er den Krieg als radikale, abrupte Desillusionierung beschreibt, die er wörtlich als „depersonalisierten Prozess“ (depersonalized process)88 be84 D. LANGE, Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 1992, 158; so auch DERS., Glaube, 16. 85 R. NIEBUHR, What the War Did to My Mind, CCen 45 (1928), (1161–1163) 1161: „[…] it created my whole world-view. It made me a child of the age of disillusionment. When the war started I was a young man trying to be an optimist without falling into sentimentality. When it ended and the full tragedy of its fratricides had been revealed, I had become a realist trying to save myself from cynicism.“ 86 Vgl. dazu: R.W. LOVIN, Reinhold Niebuhr and Christian Realism, Cambridge 1995. Nach Lovin erfordert „Christian Realism“ „an attentiveness to all of the forces at work in a situation, and on the limits imposed by human nature, and on the possibilities opened by love“ (a.a.O., 29). 87 Vgl. R.W. FOX, Reinhold Niebuhr. A Biography, New York 1985, 41–61. Fox nennt Niebuhr einen „militant spokesman for the patriotic second generation“ (a.a.O., 43). 88 R. NIEBUHR, War, 1161.

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zeichnet. Die Desillusionierung erstreckte sich über den Patriotismus und die zur Sanktionierung eigener Vorurteile missbrauchte Religion hinaus auch auf die Autopoietik der Ökonomie. Dabei gewinnt man den Eindruck, als mische sich im Sinne einer Retrojektion das intensive Erleben des sozialen Elends im Jahr 1928, bedingt durch die Krise der Ford-Werke ab 1926, in Niebuhrs Schilderung der Kriegserfahrung.89 Aber auch in theologischer und anthropologischer Hinsicht versanken ihm die einst identitätsstiftenden Vorstellungen von der Liebe Gottes und der Güte des Menschen in einem Meer der Relativitäten, aus dem einzig – so Niebuhr 1928 – „Christ the only absolute“,90 Christus als Inkarnation der Liebe, hervorragt und ihn davon zu überzeugen vermochte, „dass Liebe real ist und effektiv im menschlichen Leben“.91 „Vor dem Krieg hatte ich ein naives Vertrauen in die Güte des religiösen Menschen“, berichtet Niebuhr; „Vielleicht hätten entsprechend bestimmte Erfahrungen dieses Vertrauen auch ohne den Krieg zerstört, aber ich weiß, dass dieser Krieg es tat.“92 Ähnlich wie vor allem Barth hält auch Niebuhr den ungezügelten, religiös kodierten Kriegsenthusiasmus für unverzeihbar: „Was nach meiner Einschätzung immer noch unverzeihlich ist, ist die übertriebene Vehemenz, die unreflektierte Inbrunst, mit der der Krieg von den Kirchen unterstützt wurde.“93 Recht angewidert berichtet Niebuhr davon, wie sich die Kirche – vor allem in Gestalt von Feldpredigern – der Nation anbiederte. Es sei indes ehrenvoller für die Kirche in einer Welt des Nationalismus und Kommerzes den Tod zu finden, als ihr in götzendienlerischer Manier willfährig zu sein. In anthropologischer und geschichtlicher Hinsicht sei ihm jeder Fortschrittsoptimismus namentlich des 19. Jahrhunderts irreversibel abhanden gekommen. Und Niebuhr geht bereits 1928 spürbar in Distanz zur Social Gospel-Bewegung,94 sofern sie die Identifizierung von Zivilisation und Reich Gottes propagierte.95 Niebuhr kommt zu dem Ergebnis, dass der Krieg entgegen 89

Vgl. D. LANGE, Glaube, 17–25; K.-W. DAHM, Reinhold Niebuhr, in: M. GRESCHAT (Hg.), Die neueste Zeit IV. Gestalten der Kirchengeschichte, Band 10/2, Stuttgart u.a. 1986, (205–224) 210f. 90 R. NIEBUHR, War, 1161. 91 Ebd.: „[…] that love is real in the universe and effective in human life.“ 92 A.a.O., 1162: „I have lost confidence in the absolute whites and blacks of protestant morality. Good men are often mouthpieces of Satan and instruments of hell.“ 93 Ebd.: „What is still unpardonable to my mind was the undue vehemence, the unreflective fervor with which the war was supported in the churches.“ 94 Vgl. G. DORRIEN, Soul in Society. The Making and Renewal of Social Christianity, Minneapolis 1995, 87: „Niebuhr struggled to affirm his liberal idealism in the late 1920s while repeatedly criticizing its creed, its manners, its sentimentality, and its politics.“ 95 Vgl. R. NIEBUHR, War, 1162.

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allen Überhöhungen wie Untertreibungen weder ein Unfall noch ein letztes Wagnis im Namen der Rechtschaffenheit war, sondern eine „Tragödie in all der Schönheit, die das Leben enthüllt“.96 Am Ende des Ersten Weltkrieges finden wir uns gemäß Niebuhr „nach all unserer Träumerei in einer Welt vor, die kein Zauberer retten kann“.97 Was bleibt als friedensethische Aufgabe eines in dieser entzauberten Welt ernüchterten „Christian Realism“? Niebuhr setzt beim Phänomen der Gruppe und ihren Eigendynamiken an. Gruppen neigen im Vergleich zu den zumeist sittlich höherstehenden Individuen zu einer depravierten Moral.98 Die Moral der Gruppe repräsentiere oft die torquierte Moral des Einzelnen, insofern bei der Überführung auf die höhere Ebene99 der Gruppe die Individualmoral verdreht, im medizinischen Jargon: torquiert wird.100 Einen wichtigen Entwicklungsschritt im Denken Niebuhrs markiert sein im Jahr 1932 zeitgleich mit Brunners „Das Gebot und die Ordnungen“ erschienenes Werk „Moral Man and Immoral Society“,101 das als „Gründungswerk“ des „Christian Realism“ gilt.102 Hier greift Niebuhr den Gegensatz des moralischen Einzelnen und der unmoralischen Gesellschaft auf und beschreibt,

96 97

A.a.O., 1163: „There is tragedy in all the beauty which life reveals.“ Ebd.: „We find ourselves after all our dreaming in a world which no magic can save.“ Von der „Entzauberung der Welt“ sprach bekanntermaßen Max Weber in seinem vielbeachteten Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ (1917). Vgl. M. WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, (582–613) 594. 98 Vgl. R. NIEBUHR, War, 1162: „[S]ince groups, political, racial and even religious are always less ethical than the individuals which compose them, I have become critical of all unqualified loyalties to the group.“ Vgl. auch a.a.O., 1161: „Political groups are too powerful in modern life and they create a false morality by their power.“ So auch DERS., A Critique of Pacifism, in: D.B. ROBERTSON (Hg.), Love and Justice. Selections of the Shorter Writings of Reinhold Niebuhr, Cleveland / New York 1967, (241–247) 241; 243. 99 In der Netzwerkforschung würde man von der Verlagerung von der Mikro- auf die Meso-Ebene sprechen; vgl. K.-W. DAHM, Reinhold Niebuhr, 214f. 100 Vgl. R. NIEBUHR, Critique, 244. 101 R. NIEBUHR, Moral Man and Immoral Society. A Study in Ethics and Politics, London / New York 2005 (ND der von Reinhold Niebuhr mit einem Vorwort versehenen Ausgabe von 1960). Vgl. dazu: D. LANGE, Glaube, 34–43. 102 Vgl. R. NIEBUHR, Preface (1960), in: DERS., Moral Man, IX: „The central thesis was, and is, that the Liberal Movement both religious and secular seemed to be unconscious of the basic difference between the morality of individuals and the morality of collectives, whether races, classes or nations. This difference ought not to make for a moral cynicism, that is, the belief that the collective must simply follow its own interests. But if the difference is real, as I think it is, it refutes many still prevalent moralistic approaches to the political order.“

2. „Ordnungsrufe“

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„wie der relativ machtlose Egoismus des Einzelnen in den ‚sozialen Impuls‘ eindringt und mit Hilfe der Vernunft sich zum kollektiven Egoismus einer Klasse oder einer Nation potenziert. Dieser tritt im Gewand des Gemeinwohls auf, immunisiert sich so gegen übergeordnete Ansprüche und setzt damit etwas Relatives, die eigene Gruppe, absolut. Dadurch wird der Antagonismus der Interessen, insbesondere der Klassenkampf unvermeidlich […]. Dem Ideal einer durch Liebe bestimmten Gesellschaft kann demgegenüber lediglich regulative Funktion zukommen. Unmittelbar relevant ist nur die aus ihm abgeleitete rationale Norm der Gleichheit, politisch realisierbar nur eine relative Verbesserung des jeweils bestehenden Zustandes, nämlich ein Gleichgewicht der Kräfte“.103

Niebuhr denkt in Kategorien der Mechanik. Das Feld der Gesellschaft, auch das der internationalen Beziehungen104, gleicht einem Kräfteparallelogramm: Entscheidend ist die resultierende Kraft (auch „Gesamtkraft“ oder „Ersatzkraft“ genannt), im übertragenen Sinne die Verbesserung der Gesellschaft, die die gleiche Kraft entwickelt wie die beiden Ausgangskräfte (Interessen 1 und 2) zusammen. Beide werden auf individualethischer Ebene durch das Ideal der Liebe105 und auf sozialethischer Ebene durch die Gerechtigkeit wechselseitig zugunsten der Gesamtkraft, sprich: des Fortschritts, reguliert. Dietz Lange irrt nicht, wenn er feststellt, dass bei Niebuhr „das alte englische Prinzip der Politik, balance of power, zur Grundlage der Sozialethik geworden“106 ist. Niebuhr nimmt die Grenzen einer Liebesethik des sozialen Nahbereichs erkennbar wahr, ohne sie ganz aufzugeben, soll sie doch die Gerechtigkeit inhaltlich qualifizieren, um so einen Beitrag zur Durchsetzung von Gerechtigkeit in komplexen sozialen Systemen zu leisten.

103

D. LANGE, Ethik, 160; vgl. DERS., Glaube, 43–52; K.-W. DAHM, Reinhold Niebuhr, 213–218. 104 Zu Niebuhrs Theorie der internationalen Beziehungen vgl. D. SCHÖSSLER, Reinhold Niebuhr: Sein Leben und Werk, in: DERS. / M. PLATHOW (Hg.), Öffentliche Theologie und Internationale Politik. Zur Aktualität Reinhold Niebuhrs, Transatlantische Beziehungen 1, Wiesbaden 2013, (14–58) 25–36. 105 Vgl. R. NIEBUHR, Moral Man, 40; 49; 174. 106 D. LANGE, Ethik, 160. So auch K.-W. DAHM, Reinhold Niebuhr, 215.

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VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen?

Balance of Power nach Reinhold Niebuhr

Im Blick auf die internationalen Beziehungen hatte der Krieg nach Niebuhr einen immensen psychologischen Einfluss. Er führte zur Zerstörung der alten „common-sense Balance zwischen Vertrauen und Misstrauen“.107 Einen Beitrag zu ihrer Wiederherstellung können nach Niebuhr nur solche Vertrauensakte erzielen, die auf letzte Sicherheiten verzichten, sich mithin verwundbar machen, und Opferbzw. Verzichtsbereitschaft mitbringen: „Erfinderische Liebe muss sich selbst nicht im Vertrauen, sondern im Verzicht ausdrücken.“108 Niebuhr wendet sich gegen einen naiven Pazifismus, der sich über die Konsequenzen und Erfordernisse des Handelns nicht im Klaren sei: „Sie möchten, dass Amerika der Welt vertraut und sind sich sicher, dass die Welt im Gegenzug Amerika vertrauen wird. Ihr Glaube ist zu naiv. Sie realisieren nicht, dass eine Nation es sich nicht erlauben kann, irgendjemandem zu vertrauen, wenn sie nicht bereit ist, auch ihre Vorteile zu teilen. Eine Liebe, die sich nur im Vertrauen, nicht aber im Verzicht ausdrückt, ist nichtig.“109

107 108 109

R. NIEBUHR, Critique, 242: „[…] old common-sense balance of trust and mistrust“. A.a.O., 243: „Creative love must express itself not in trust but in sacrifice.“ A.a.O., 245: „They want America to trust the world and are sure that the world will in turn trust America. Their faith it too naive. They do not realize that a nation cannot afford to trust anyone if it is not willing to go to the length of sharing its advantages. Love that expresses itself in trust without expressing itself in sacrifice is futile.“

2. „Ordnungsrufe“

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Niebuhr plädiert dementsprechend für eine Doppelstrategie, nämlich „eine uneigennützige nationale Haltung zu erzeugen“110 in Kombination mit „Strategien wechselseitigen Vertrauens“.111 In diesem Sinne sollten die USA, so fordert Niebuhr Ende der 1920er Jahre, auf Europa und namentlich Deutschland zugehen, statt in nationalen Egoismen zu verharren, die bislang im Namen der Moral in Gestalt von Abrüstungs- und Reparationsforderungen112 kaschiert würden: „Eine Politik, die auf den materiellen Vorteil insistiert, zerstört menschliche Gemeinschaft und macht den Gebrauch von Gewalt notwendig“.113 Unabdingbar sei heute hingegen das Wagnis des Vertrauens, das sich innerhalb der spannungsgeladenen Mischung aus Einsicht in die Notwendigkeit und Furcht vor Enttäuschung durchsetzen müsse.114 Exkurs: Friedensethischer Streit unter Brüdern Die divergente Beurteilung der Invasion Japans in der Mandschurei (1932) durch H. Richard und Reinhold Niebuhr Reinhold Niebuhr nimmt, wie sich bereits gegen Ende der 1920er Jahre andeutet, immer stärker Abschied von einem grundsätzlichen Pazifismus.115 Vollends offenkundig wird dies in der Auseinandersetzung,116 die Reinhold mit seinem Bruder H. Richard anlässlich der 110 111 112

Ebd.: „[…] to create an unselfish national attitude.“ Ebd.: „[…] policies of mutual trust“. Ein Besuch im besetzten Rheinland im Jahr 1923 hat Niebuhr nachhaltig erschüttert: „The vindictive Versailles settlement had already made him skeptical about wars fought for liberal ideals; the hatred and suffering that flooded the Ruhr valley in 1923 persuaded him to reject all war, to call himself a pacifist.“ FOX, Reinhold Niebuhr, 78. 113 R. NIEBUHR, Critique, 247: „[…] from the policy of insisting on material advantages that destroy human fellowship and make the use of force necessary.“ 114 Vgl. a.a.O., 242: „We are living in an age in which one element in every nation is still suffering from pathological fears created by the World War and another element in every nation group is more than ordinarily anxious to adopt an attitude of trust because it has realized that the war was itself a spontaneous combustion resulting from excessive fears and hatreds. That is why the question of preparedness, of armament and disarmament, is so urgent in practically every Western nation.“ 115 Vgl. M. HOFHEINZ, Platzanweisung. Reinhold Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen, in: DERS. / G. PLASGER (Hg.), Ernstfall Frieden. Biblisch-theologische Perspektiven, Wuppertal 2002, 117–141. 116 Vgl. dazu die ausführliche Analyse von S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, hg. von R. HÜTTER, Evangelium und Ethik 4, Neukirchen-Vluyn 1995, 201–209; fernerhin: R. CROUTER, Reinhold Niebuhr (1892– 1971) und H. Richard Niebuhr (1894–1962), in: F.W. GRAF (Hg.), Klassiker der Theologie. Zweiter Band: Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, (258–288) 262–264. Zu Niebuhrs Lehre vom „gerechten (Verteidigungs-)Krieg“ vgl. D. SCHÖSSLER, Reinhold Niebuhr, 36–52.

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Invasion Japans in der Mandschurei im September 1931 führt.117 Gegen das Vorgehen Japans protestierte der Völkerbund vergeblich und auch die USA erklärten das Vorgehen für völkerrechtswidrig. Im Blick auf die Frage, wie eine angemessene christliche Antwort auf das japanische Vorgehen aussehen könne, kommt es zu einer Kontroverse zwischen den Niebuhr-Brüdern in „The Christian Century“. Den Aufschlag macht H.R. Niebuhr mit seinem Beitrag „The Grace of Doing Nothing“, in welchem er feststellt, dass es außer dem auf Intervention bedachten Spontanbedürfnis scheinbar wenig Konstruktives gibt, was jetzt getan werden könnte. Wir wüssten indes, dass wir selbst dann, wenn wir nichts tun, „ebenso den Gang der Geschichte beeinflussen. Das Problem, dem wir gegenüberstehen, ist oft eher das einer Entscheidung zwischen verschiedenen Arten der Untätigkeit, anstatt das einer Entscheidung zwischen Handlung und Tatenlosigkeit.“118 Entgegen den gängigen optimistischen, pessimistischen oder gar zynischen Optionen gibt es H.R. Niebuhr zufolge ein (geschichts-) theologisch begründetes Nichtstun, das auf Gott als handelndes Subjekt in der Geschichte vertraut: Während die Untätigkeit des Christen „nichts tut, weiß sie doch, dass etwas getan wird, etwas, das in beidem, in seiner Bedrohung wie auch in seiner Hoffnung, göttlich ist“.119 Die Untätigkeit, die H.R. Niebuhr beschreibt, erwächst aus einer „Spiritualität der Friedfertigkeit“120 – Reinhold erkennt in ihr „ein Gebet zu Gott“121 wieder. H.R. Niebuhr spricht von der „Untätigkeit jener, die ihre Nächsten nicht richten, weil sie sich selbst nicht ein Gefühl der überlegenen Rechtschaffenheit vortäuschen können. Es ist nicht die Untätigkeit einer resignierten Geduld, sondern einer Geduld, die voll Hoffnung ist und auf Glauben basiert. […] Wenn es keinen 117

Zu Niebuhrs Haltung im sog. „Kalten Krieg“ vgl. C. CRAIG, The New Meaning of Modern War in the Thought of Reinhold Niebuhr, Journal of the History of Ideas 53 (1992), 687–701; A. MASSMANN, Gerecht und Sünder zugleich im Kalten Krieg. Reinhold Niebuhrs christlicher Realismus und die Sündenlehre, in: D. SCHÖSSLER / M. PLATHOW (Hg.), Öffentliche Theologie und Internationale Politik. Zur Aktualität Reinhold Niebuhrs, Transatlantische Beziehungen 1, Wiesbaden 2013, 95–125. 118 Zit. nach S. HAUERWAS, Friedfertigen, 202; H.R. NIEBUHR, The Grace of Doing Nothing, CCen 49 (1932), (378–380) 378: „When we do nothing we are also affecting the course of history. The problem we face is often that of choice between various kinds of inactivity rather than of choice between action and inaction.“ 119 Zit. nach S. HAUERWAS, Friedfertigen, 203; H.R NIEBUHR, Grace, 379: „While it does nothing it knows that something is being done, something which is divine both in its threat and in its promise.“ 120 S. HAUERWAS, Friedfertigen, 201. 121 Zit. nach a.a.O., 205; R. NIEBUHR, Must We Do Nothing?, CCen 49 (1932), (415–417) 416: „[T]his kind of spiritual attitude is a prayer to God for the coming of his kingdom.“

2. „Ordnungsrufe“

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Gott gibt“, so konzediert H.R. Niebuhr, „das heißt, wenn sich Gott oben im Himmel und nicht in der Zeit selbst befindet, ist es eine sehr törichte Untätigkeit“.122 Ähnlich wie zeitgleich Bonhoeffer fasst H.R. Niebuhr eine christliche Internationale als Subjekt dieser Untätigkeit ins Auge. Man fühlt sich an das programmatische Seufzen Barths erinnert, welches ihm zufolge die Substanz theologischer Existenz ausmacht: das „Seufzen: Veni creator spiritus! Ist nun einmal nach Röm 8 hoffnungsvoller als triumphieren, wie wenn man ihn schon hätte.“123 H.R. Niebuhrs Ausführungen bleiben nicht unwidersprochen. Bereits in der darauffolgenden Woche repliziert Reinhold Niebuhr mit dem Artikel „Must We Do Nothing?“ und wirft seinem Bruder vor, dass er den Konflikt zu lösen versuche, „indem er vollständig den Bereich der sozialen Theorie verlässt und seine Zuflucht zur Eschatologie nimmt“.124 Der Grad an moralischer Reinheit, von dem sein Bruder ausgehe, könne zwischen Nationen nicht aufrechterhalten werden: „Keine Nation kann jemals gut genug sein, um eine andere Nation durch die Macht der Liebe zu retten. Das Beste, auf das wir in den Beziehungen zwischen Nationen hoffen können, ist Gerechtigkeit, die nicht perfekte Harmonie oder Frieden sucht, sondern die Anpassung von Recht gegen Recht, Interesse gegen Interesse, bis ein gewisses annehmbares Gleichgewicht der Macht erreicht ist. Daher ist jede Hoffnung, ein gerechtere Gesellschaft ohne den Einsatz von Zwang zu erreichen, eine pure Illusion.“125

Im Blick auf die japanische Invasion bedeute dies, dass wir „versuchen müssen, Japan von seinem militärischen Unternehmen abzubringen, aber, wenn nötig, Zwangsmaßnahmen einsetzen müssen, um Japans Pläne zu vereiteln. Wir müssen die Zwangsmaßnahmen auf ein Minimum reduzieren und verhindern, dass sie Gewalt auslösen.“126 Reinhold Niebuhr ist durchaus bereit zu konzedieren, dass seines Bruders „ethischer Perfektionismus und dessen apokalyptische Note“127 122

Zit. nach S. HAUERWAS, Friedfertigen, 204; H.R. NIEBUHR, Grace, 380: „But if there is no God, if God is up in heaven and not in time itself, it is a very foolish inactivity.“ 123 K. BARTH, Not und Verheißung der christlichen Verkündigung (1922), in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. von H. FINZE, Karl Barth GA III. Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich 1990, (65–97) 97. 124 R. NIEBUHR, Nothing?, 416: „[H]e resolves the conflict by leaving the field of social theory entirely and resorting to eschatology.“ 125 So paraphrasiert S. HAUERWAS, Friedfertigen, 206, treffend. 126 Zit. nach ebd.; R. NIEBUHR, Nothing?, 417: „[…] we must try to dissuade Japan from her military venture, but must use coercion to frustrate her designs if necessary, must reduce coercion to frustrate her designs if necessary, must reduce coercion to a minimum and prevent it from issuing in violence.“ 127 Zit. nach S. HAUERWAS, Friedfertigen, 206; R. NIEBUHR, Nothing?, 417: „I realize quite well that my brother’s position both in its ethical perfectionism and in its apocalyptic note is closer to the gospel than mine.“

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VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen?

der Botschaft Jesu näher stehe als sein eigener Ansatz. Denn aus der andauernden Tragik menschlicher Geschichte resultiere nun einmal, dass sich eine adäquate Sozialethik nicht aus einer Ethik der reinen Liebe konstruieren lasse: „Die höchsten Ideale, die der Mensch entwerfen kann, sind Ideale, die er in sozialer und gemeinschaftlicher Hinsicht niemals verwirklichen kann.“128 Der friedensethische Streit der Niebuhr-Brüder dauert im Grunde genommen bis heute an, hat sich aber auf die Schülergeneration verlagert. Die Frage stellt sich weiterhin: Sollte das Eingeständnis dieser Tragik und ein auf sie reagierender „Christian Realism“ tatsächlich die theologische Quintessenz sein, die aus dem Ersten Weltkrieg erwächst? Wäre dies nicht mit dem Mennoniten John H. Yoder gesprochen: „Peace without Eschatology?“129 oder – frei nach Nigel Biggar: nicht mehr als „ein Pinkeln gegen den Wind“?130 Ist also nicht an Niebuhrs „Christian Realism“ zu beanstanden, dass er mit den Gegebenheiten und Gesetzen dieser Welt offenkundig stärker rechnet als mit deren Vergehen und dem Kommen des Reiches Gottes?131 3. Fazit: Resonanzen hinkender Friedensethik „after World War 1“ 3.1 Nachhinkende Formierung der Friedensethik, wurzelnd in einer erschütterten Theologie Bei allen drei Theologen finden sich starke Resonanzen auf den Ersten Weltkrieg. Sie haben sich verstören, mehr noch: in ihren theologischen Grundfesten erschüttern lassen132 und in der Krise und aus ihr heraus versucht, neue, theologisch tragfähige Antworten zu entwickeln. Im Bilde von den Resonanzen gesprochen: Ihre Friedensethik ist gleichsam „schwingungsfähig“. Alle drei deuten den Ersten Welt128

Zit. nach S. HAUERWAS, Friedfertigen, 207; R. NIEBUHR, Nothing?, 417: „To say all this is really to confess that the history of mankind is a personal tragedy; for the highest ideals which the individual may project are ideals which he can never realize in social and collective terms.“ 129 J.H. YODER, The Royal Priesthood. Essays Ecclesiological and Ecumenical, hg. von M.G. CARTWRIGHT, Grand Rapids 1994, 143–167. Yoder entfaltet seine Kritik an Niebuhr in: J.H. YODER, Reinhold Niebuhr and Christian Pacifism, MQR 29 (1955), 101–117. 130 Justifying War: A Conversation with Nigel Biggar. Part One, http://marginalia. lareviewofbooks.org/justifying-war-a-conversation-with-nigel-biggar-part-one/. (01.07.2014). Vgl. N. BIGGAR, In Defence of War, Oxford 2013, 12. 131 Vgl. K. BARTH, KD III/4, 521. 132 Vgl. K. BARTH, Predigten 1914, hg. von U. und J. FÄHLER, Karl Barth GA I. Predigten, Zürich 1974, 545: „Die bisherige Welt, in der wir lebten, ist in ihren Grundvesten erschüttert.“ Dazu: M. TROWITZSCH, Karl Barth heute, Göttingen 2007, 203.

3. Fazit: Resonanzen hinkender Friedensethik „after World War 1“

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krieg als zutiefst krisenhaftes Geschehen, das sie mit der Baisse ererbter liberaler bzw. Social-Gospel-Theologie gleichsetzen. Den gemeinsamen Ausgangspunkt bildet die Abdikation, das Lossagen von der Tradition der unmittelbaren Väter, die sie theologisch nicht mehr für goutierbar erachten. Alle drei haben es sich außerdem mit ihrem theologisch umorientierten Denken nicht leicht gemacht. Ihre friedensethischen Gehversuche verlaufen eher zögernd und zaghaft als festen Schrittes. Sie zeigen durchaus tentativen Charakter und repräsentieren veritable zeitbezogene Theologie. Diese hinkt gleichsam nach – etwa in der Begleitung völkerrechtlicher Entwicklungen durch theologische Reflexion. Das ist auch nicht weiter verwunderlich. Wer solch einen Schlag auf die Hüfte bekommen hat, der wird in friedensethischer Hinsicht als Kriegsversehrter eher hinken wie Jakob am Jabbok (vgl. Gen 34,32) und keine großen Sprünge machen. Dies passt zu dem Befund, den der Leipziger Theologe Horst Stephan in seinem Werk „Die systematische Theologie“ von 1928 im Blick auf den damals aktuellen Stand der systematischen Forschung erhob. Stephan attestierte der theologischen Ethik einen deutlichen „Rückstand der Arbeit“.133 Man sei immer noch auf die älteren Entwürfe Wilhelm Herrmanns, Reinhold Seebergs, Adolf Schlatters u.a. angewiesen. Es dauerte offenkundig eine Weile, bis sich die ethische Zunft neu formierte und konzeptionell auf den Ersten Weltkrieg reagierte. Das gilt nicht nur für die reformierte Theologie, aber doch auch für sie. 3.2 Die Entdeckung der Friedensethik als Themenfeld der Sozialethik In inhaltlicher Hinsicht treten bei aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen durchaus Gemeinsamkeiten in Erscheinung: Gemeinsam ist allen dreien z.B. die Entdeckung der Sozialethik bzw. der starke sozialethische Impuls, den die Friedensethik empfing. Diese Entdeckung wurzelt in dem empfundenen Versagen individualistischer protestantischer Ethik. Am radikalsten fiel die Reaktion bei Brunner aus, der recht barsch, ja geradezu patzig erklärte: „Es gibt keine christliche Individualethik.“134

133 H. STEPHAN, Die systematische Theologie. Die evangelische Theologie, ihr Stand und ihre Aufgabe, 4. Teil, Halle 1928, 68. 134 E. BRUNNER, Gebot, 174. Dort kursiv. Vgl. H. BEDFORD-STROHM, Art. Sozialethik/Soziallehre. Allgemein, EKL3 4 (1996), (325–334) 325: „Individuelles Handeln ist ohne seine Prägung durch das politische und soziale Umfeld nicht zu verstehen – insofern ‚ist Ethik überhaupt Sozialethik‘ (E. Wolf).“

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VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen?

Aber auch bei Barth und Niebuhr135 lässt sich beobachten: „Zurück tritt jetzt […] der Gedanke, daß individualethische Gesichtspunkte im Mittelpunkt zu stehen hätten. Die Lebenslehre wird im Kern zur Gemeinschaftslehre, wobei umstritten bleibt, ob sie schwerpunktmäßig als christliche Weltanschauungslehre, als politische Ethik, als kirchliche oder christliche Ethik oder in Kombination dieser Aspekte zu entfalten ist.“136 Hinsichtlich der Friedensethik bedeutet dies für alle drei Theologen: Es genügt nicht, Friedensappelle an das Handeln des Einzelnen zu versenden, da diese in systemisch verfassten Kontexten meist wirkungslos bleiben. Es gilt, die gesellschaftlichen, institutionellen und strukturellen Rahmenbedingungen mit in den Blick zu nehmen. 3.3 Das Auffinden des (Völker-)Rechtsbezugs der Friedensethik Alle drei Theologen lassen in ihrer Friedensethik einen Bezug auf das Recht und damit auf die Völkerbundsära nach dem Ende des Ersten Weltkrieges erkennen.137 Auf seine Weise begleitet ihr theologisches Denken die Entwicklung des Kriegsverhütungs- bzw. Völkerrechtes. Aber auch dieses Begleiten hat nicht nur im Blick auf die Einführung des partiellen und nach dem Briand-Kellogg-Pakt generellen Kriegsverbots vor allem bei Barth (weniger bei Brunner und am schwächsten bei Niebuhr) nachhinkenden Charakter. Auch dies verwundert nicht. Denn es waren ja „[d]ie Ideen des legal pacifism, [die] nach dem Ersten Weltkrieg zum Völkerbund“138 und zum völkerrechtlichen Ausbau des Kriegsverhütungsrechtes und des humanitären Kriegsrechtes führten. Dieser „politisch-wissenschaftliche[…], völkerrechtlich orientierte Pazifismus“139 wurde von einem Kreis linkliberaler Gelehrter („freiheitliches Marburg“) um den Marburger Völkerrechtler Walther Schücking vertreten, dem nicht nur

135

Im Blick auf Niebuhr hebt Zeindler dies treffend hervor (vgl. M. ZEINDLER, Reinhold Niebuhr, 105f.). Zu Niebuhrs Kritik an einem individualethischen Reduktionismus vgl. auch A. DIETZ, Was Sozialethiker heute von Niebuhr lernen können. Am Beispiel der „Hartz IV“-Diskussion dargestellt, in: D. SCHÖSSLER / M. PLATHOW (Hg.), Öffentliche Theologie und Internationale Politik. Zur Aktualität R. Niebuhrs, Transatlantische Beziehungen 1, Wiesbaden 2013, (147–166) bes. 156ff. 136 E. LESSING, Geschichte der deutschsprachigen evangelischen Theologie von Albrecht Ritschl bis zur Gegenwart, Band 2: 1918–1945, Göttingen 2004, 320. 137 Vgl. einführend: S. HOBE / O. KIMMINICH, Einführung in das Völkerrecht, Tübingen/Basel 82004, 44–50. 138 H.-R. REUTER, Frieden/Friedensethik, 33. 139 W. LIENEMANN, Verantwortungspazifismus (legal pacifism). Zum politischen Gestaltungspotenzial pazifistischer Bewegungen im Blick auf das Völkerrecht, in: J.D. STRUB / S. GROTEFELD (Hg.), Der gerechte Friede zwischen Pazifismus und gerechtem Krieg. Paradigmen der Friedensethik im Diskurs, Stuttgart 2007, (75–99) 80.

3. Fazit: Resonanzen hinkender Friedensethik „after World War 1“

261

Hermann Cohen, Paul Natorp, sondern auch ein liberaler Theologe wie Martin Rade angehörte.140 Hier affirmativ anzuknüpfen war namentlich für Barth nach seiner Absage an die liberale Theologie nicht leicht. Im Kontext des Zweiten Weltkrieges, also am Ende der Völkerbundsära, hat Barth dies dann – vermittelt über Kant – explizit getan und die Idee des Friedens durch Recht gleichsam in der Stunde der schärfsten Infragestellung des Völkerrechts unter Berufung auf Kants „Idee einer durch das Recht verbundenen Gemeinschaft freier Völker von freien Menschen“141 stark gemacht.142 3.4 Konzeptionelle Ingebrauchnahme der Schöpfungsordnung Man mag darüber streiten, ob ordnungstheologische Figuren, wie sie bei Barth und Brunner vertreten werden, geeignet sind, um „Abschied von der Sakralisierung der Politik“143 zu nehmen. Ich bin hier skeptisch. Denn zum einen ist das Konzept der Schöpfungsordnung durch eine prinzipielle Schwäche geprägt: Dieses Konzept fährt „zwischen der Skylla der Bestimmtheit und der Charybdis der Unbestimmtheit, und wie in der Odyssee ist es dabei auf beiden Seiten von Verderben bedroht: Werden die Ordnungen konkret bestimmt, stehen sie in der Gefahr, das Faktische zu verewigen; verzichtet man aber auf Bestimmtheit, wird der Begriff leer und erübrigt sich damit.“144 Zum anderen akzentuiert der Begriff der Schöpfungsordnung „einseitig den Aspekt des Vorgegebenseins geschöpflicher Beziehungsstrukturen“.145 Vernachlässigt wird auf diese Weise, dass Strukturen stets auch Gegenstand und Ergebnis menschlicher Gestaltung sind und dass etwa auch der Frieden innerhalb derselben gestaltet werden will. Jesus preist die „Friedensstifter“ (Eirenopoieten) selig (Mt 5,9).

140

So W. LIENEMANN, Verantwortungspazifismus, 82. Huber identifiziert Martin Rade als „Gesinnungsgenossen des pazifistischen Marburger Völkerrechtlers Schücking“ (W. HUBER, Kirche und Öffentlichkeit, FBESG 28, Stuttgart 1973, 184f.). 141 K. BARTH, Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zürich 31985, 209. 142 Vgl. M. HOFHEINZ, Die Aktualität der Friedensethik Karl Barths, in: M. FREUDENBERG / G. PLASGER (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge zur achten Emder Tagung der Gesellschaft für reformierten Protestantismus, EBzrP 14, Neukirchen-Vluyn 2011, (157–165) 160f. 143 D. SCHELLONG, Theologie, 464. 144 M. ZEINDLER, Brunner, 99. 145 Ebd.

262

VIII. Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen?

3.5 „Pazifistische“ Zielsetzung der friedensethischen Ausführungen Wenn es stimmt – wie Hans-Richard Reuter behauptet –, dass „[i]m 19. Jahrhundert […] ein kriegsverherrlichender Bellizismus [dominierte], der durch die antinapoleonischen Befreiungskriege sowie den aufkommenden Nationalismus Sukkurs bekam und seitens des deutschen Protestantismus (mit wenigen Ausnahmen […]) bis weit in den 2. Weltkrieg hinein mitgetragen wurde“,146 so gehören die reformierten Theologen Brunner, Barth und Niebuhr immerhin zu den Ausnahmen. Ja, man wird sicherlich nicht übertreiben, wenn man feststellt: Alle drei zeigen in ihren friedensethischen Ausführungen durchaus eine „pazifistische Zielsetzung, wenn man berücksichtigt, dass „[d]er (1901) geprägte Begriff ‚Pazifismus‘ […] nicht auf den individuellen, unbedingten Gewaltverzicht beschränkt [ist]. Er bezieht sich (seinem ideenpolitischen Ursprung nach sogar in erster Linie) auf die Gesamtheit der Bestrebungen, die eine Politik gewaltfreier zwischenstaatlicher Konfliktaustragung propagieren und das Ziel einer friedlichen, auf das Recht gegründeten Völkergemeinschaft verfolgen.“147

Auf der ersten Vollversammlung des ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam 1948 hieß es nicht nur: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“, sondern aus gutem Grund auch: „Die Völker müssen sich zur Herrschaft des Rechts bekennen.“148

146 147

H.-R. REUTER, Frieden/Friedensethik, 33. Ebd. Zu Begriff und Theorie des Pazifismus vgl. einführend: J.-D. STRUB / B. BLEISCH, Einleitung, in: DIES. (Hg.), Pazifismus. Ideengeschichte, Theorie und Praxis, Bern u.a. 2006, 9–42. 148 Zit. nach W. HÄRLE, Ethik, Berlin / New York 2011, 395.

IX. Platzanweisung Reinhold Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen Eberhard Busch zum 65. Geburtstag am 22.8.2002

1. Einführung: Zur Frage nach dem Umgang mit den Historischen Friedenskirchen Das Friedenszeugnis der sog. Historischen Friedenskirchen wirkte, blickt man auf fast 500 Jahre friedenskirchlicher Erfahrung in all ihrer Gebrochenheit zurück, provozierend anstößig. Seit den Ursprüngen des Täufertums im 16. Jahrhundert, in dem zumindest die Mennoniten ihre konfessionellen Wurzeln sehen, erregten sie entschiedenen Widerspruch, der sich vielfach in Diffamierung und blutiger Verfolgung entlud. Wenngleich das Täufertum keineswegs ein historisch einheitliches Phänomen repräsentiert und der „linke Flügel der Reformation“ durch heftige Flügelkämpfe gekennzeichnet war, so kristallisierte sich doch innerhalb dieser breitgefächerten Bewegung zunächst im „Grebelkreis“ der Zürcher Täufer eine Gruppe von „Wehrlosen“ heraus, die den Gewaltverzicht als verbindliche Form der Nachfolge praktizierten und mit ihrem Friedenszeugnis manchen historischen Ableger fanden. Sie stellten den „Konstantinismus“, die von Kaiser Konstantin eingeleitete Bündnispolitik zwischen Kirche und Staat, in Frage und sprachen sich für die Rückkehr ins „vorkonstantinische Zeitalter“ aus, als die Kirche der ersten drei Jahrhunderte noch in deutlicher Distanz zur militärisch gesicherten pax romana lebte. Der Verweis auf die urchristliche Gemeindepraxis eines friedfertigen Zusammenlebens und die Bergpredigt Jesu diente ihnen als Rechtfertigung ihres pazifistischen Engagements, das von den jeweils Herrschenden als radikale Herrschaftskritik verstanden wurde. In ihrer Existenz warfen sie die Frage auf, ob diejenigen Kirchen, die keine Friedenskirchen waren, sich legitimerweise Kirche Jesu Christi nennen dürften.1 Nach Aussage ihrer Gegner behaupteten sie: „Ein Christ müsse in die Fußstapfen Christi treten und seinem und seiner Apostel Exempel nachfolgen. Was er getan habe, dass er’s auch tue. Was er gelassen haben, dass 1

A. LANGE, Die Gestalt der Friedenskirche. Öffentliche Verantwortung und Kirchenverständnis in der neueren mennonitischen Diskussion, Beiträge zu einer Friedenstheologie 2, Weisenheim am Berg 1988, 13: „Kirche ist entweder Friedenskirche oder sie ist nicht Kirche.“

264

IX. Platzanweisung

er’s auch lasse.“2 Wer also zum Schwert greife, der leiste Jesus in der Gewaltfrage keinen Gehorsam, zumal Jesus selbst Wehrlosigkeit und Gewaltfreiheit praktiziert habe. Wie weitreichend, ja „gefährlich“ etwa die konsequente Anwendung des jesuanischen Gebots der Feindesliebe in ihrer politischen Dimension sein konnte, veranschaulicht die folgende Äußerung des Täufers M. Sattler, der mit Blick auf die damals höchst reale „Türkengefahr“ ante portas Viennae und den damaligen „clash of civilizations“ (islamistische Türken versus christliches Abendland) empfiehlt: „Wenn der Türke kommt, soll man ihm keinen Widerstand leisten. Denn es steht geschrieben (Matth. 5, 21): ‚Du sollst nicht töten.‘ Wir wollen uns des Türken und anderer Verfolger nicht erwehren, sondern in strengem Gebet zu Gott anhalten, dass er wehre und Widerstand leiste. Daß ich aber gesagt habe: Wenn Kriegen recht wäre, wollt ich lieber wider die angeblichen Christen ziehen, welche die frommen Christen verfolgen, fangen und töten, als wider den Türken, das hat folgenden Grund: Der Türke ist ein rechter Türke und weiß vom christlichen Glauben nichts; er ist ein Türke nach dem Fleische. Ihr dagegen wollt Christen sein, rühmt euch Christi, verfolgt aber die frommen Zeugen Christi und seid Türken nach dem Geist.“3

Man mag sich fragen, ob diese Äußerung auch eine Handlungsanweisung für den heutigen Umgang mit fundamentalistischen Islamisten sei. Ist also der damalige „Türke vor Wien“ mit heutigen Terroristen oder Talibankämpfern gleichzusetzen? Führt das Identifikationsschema dieser Applikationshermeneutik bis hin zur Gleichsetzung George W. Bushs mit einem „geistigen Türken“? Die öffentliche Beurteilung des Friedenszeugnisses der Historischen Friedenskirchen oszilliert zwischen offener Ablehnung und ehrfurchtsvoller Bewunderung. Vielfach werden sie mit massiven Vorwürfen überhäuft: „Quietismus; sich abseits halten; den anderen, der Barbarei, den Fundamentalisten ... das Feld überlassen; die Hände in den Schoß legen; den Dingen den Lauf lassen; die Ausübung von Macht an sich und die Technik und die Moderne ‚verteufeln‘ usw. Immer einmal wieder wird die Verantwortung für die unerhörten Greuel der Gewalt, wie das unbelehrbare Jahrhundert sie hervorbringt, nicht zuerst den Tätern, sondern mit um so größerer Erbitterung den ‚Pazifisten‘ aufgeladen.“4 2

So der Rat der Stadt Nürnberg (1527), zit. nach DEUTSCHES MENNONITISCHES FRIEDENSKOMITEE (DMFK), Von der Schwierigkeit, Friedenskirche zu sein, Weisenheim am Berg 62000, 9. 3 M. SATTLER, Artikel und Handlung, in: H. FAST (Hg.), Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, KlProt 4, Bremen 1962, (71–77) 74f. 4 M. TROWITZSCH, Über die Moderne hinaus. Theologie im Übergang, Tübingen 1999, 53.

1. Einführung: Zur Frage nach dem Umgang mit den Historischen Friedenskirchen

265

Dem steht die Bewunderung derjenigen gegenüber, die mit F. Overbeck „die innerste und reale Not des Christentums der Gegenwart“ in der Praxis sehen und die im Friedensdienst der Historischen Friedenskirchen den „Erweis seiner [des Christentums; M.H.] praktischen Durchführbarkeit im Leben“5 sehen. Wie soll man mit diesen Leuten umgehen, die nach Einschätzung vieler eine latente Gefahr darstellen, weil sie unsere „Wehrfähigkeit“ gefährden, indem sie als eine Art „permanent schlechtes Gewissen“ oder „kollektives ÜberIch“ staatlichen Gewaltgebrauch in Frage stellen und damit unterminieren? Mit ihren naiven Überzeugungen von Feindesliebe und Gewaltverzicht lässt sich – so scheint es opinio communis zu sein – kein Staat machen und die Welt nicht regieren. Polemisch gefragt: Sollen wir sie gemäß jahrhundertelanger Praxis verfolgen und diffamieren oder sie theologisch hofieren, sie stürmisch-bejubelnd begrüßen nach dem Motto: „Nur ihr könnt uns jetzt noch helfen“? Sollen wir gar konvertieren und sei es nur im Sinne jener geistigen, retrospektiven und letztlich irrealen Konversion des greisen M. Niemöllers: „Wenn ich noch einmal zu wählen hätte, ginge ich wahrscheinlich zu den Quäkern“?6 Im Folgenden soll die Frage, in welcher Weise mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen umzugehen ist, anhand der theologischen Position Reinhold Niebuhrs diskutiert werden. Niebuhr hat nicht nur mit seinem „nüchternen“ politischen Realitätssinn ganze Generationen von amerikanischen Politikern geprägt und beeinflusst,7 die einen konstitutionell strikt von der Kirche getrennten Staat regierten, der zugleich aber vielfältige zivilreligiöse Phänomene unter der konstitutionellen Oberfläche erkennen lässt. Niebuhr ist auch einer der wenigen Theologen, die das täuferischfriedenskirchliche Gedankengut konstruktiv rezipiert haben. Fern jeglichen Verdachts, anarchistisch zu optieren, erscheint er als personifizierte „Politikfähigkeit“. Nach Einschätzung vieler zeichnet sich seine sozialethische Konzeption aus durch Anpassungs- und zugleich 5

F. OVERBECK, Christentum und Kultur, hg. von C.A. BERNOULLI, Basel 1919, 274: „[D]ie innerste und reale Not des Christentums der Gegenwart sitzt in der Praxis; was das Christentum vor allem bedarf, um sich in der Welt noch zu behaupten, ist der Erweis seiner praktischen Durchführbarkeit im Leben.“ 6 Zit. nach H. GOLLWITZER, Martin Niemöller (14. Januar – 6. März 1984), JK 45 (1984), (141–144) 143. Gollwitzer bemerkt, dass für Niemöller „weniger die spiritualistische Theologie des George Fox als die Hierarchielosigkeit und die Gewaltlosigkeit der Quäker [...] anziehend gewesen sein [dürften]“. 7 Vgl. dazu einführend K.-W. DAHM, Reinhold Niebuhr, GKG 10/2 (1986), 205– 224 und D. LANGE, Ethik in evangelischer Perspektive. Grundfragen christlicher Lebenspraxis, Göttingen 1992, 158–167.

266

IX. Platzanweisung

durch Widerstandsfähigkeit gegenüber dem omnipräsenten Phänomen der zwar nicht zu überwindenden, aber doch einzudämmenden Gewalt (violentia). In Auseinandersetzung mit ihm nähern wir uns einer Beantwortung der gegenwärtig vielfach gestellten Fragen: Was können wir heute von den Historischen Friedenskirchen lernen? Wie sollen wir angemessen auf die Herausforderung ihres Friedenszeugnisses reagieren? 2. Entwicklungslinien im Denken Niebuhrs Vom liberalen Pazifismus zum christlichen Realismus Wenn im Folgenden der Frage nachgegangen werden soll, in welcher Weise Reinhold Niebuhr das Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen rezipiert hat, dann nähern wir uns Schritt für Schritt in chronologischer Sequenz dem „reiferen“ Niebuhr in seiner Hauptperiode an.8 Wir verfolgen die Spur seiner sozialethischen Theoriebildung bis in den zweiten Weltkrieg hinein anhand der Fußabdrücke, die seine Auseinandersetzungen mit dem friedenskirchlichen Pazifismus hinterlassen haben. Dabei werden wir Zeugen, wie sich sein „Christian Realism“ unter Trennung von ererbten liberalen und marxistischen Eierschalen herausschält. Es zeigt sich, dass er das bereits in „Moral Man and Immoral Society“ (1932) entwickelte Prinzip der „balance of power“ konsequent zu Ende denkt. Den für ihn – mit seinem Interpreten R.W. Lovin gesprochen – zentralen Gedanken, „that the Christian ‚critical attitude‘ which measures all plans against the demands of the Gospel must be balanced by a ‚responsible attitude‘ that is still prepared to make the real choices, even though all the options are less than what love requires“,9 entwickelt Niebuhr auf dem Hintergrund eines nicht ausschließlich nur als Negativfolie benutzten Pazifismus. Wenn wir dies herausarbeiten, also eine Entwicklungslinie seines Denkens skizzenhaft nachzeichnen, so arbeiten wir notwendigerweise selektiv – auch darin, dass wir unser Augenmerk insbesondere auf seinen einflussreichen programmatischen Essay „Why the Christian Church Is Not Pacifist“10 (1940) lenken, wobei aber immer wieder Bezüge zum Gesamtwerk Niebuhrs hergestellt werden. 8

Zur Periodisierung des Gesamtwerkes R. Niebuhrs vgl. D. LANGE, Christlicher Glaube und soziale Probleme. Eine Darstellung der Theologie Reinhold Niebuhrs, Gütersloh 1964, 190f. 9 R.W. LOVIN, Reinhold Niebuhr and Christian Realism, Cambridge (UK) 1995, 93. 10 R. NIEBUHR, Why the Christian Church Is Not Pacifist, in: DERS., Christianity and Power Politics, New York 1940, 1–32. Wiederabgedruckt in: R.B. MILLER (Hg.), War in the Twentieth Century. Sources in Theological Ethics, Louisville (Kentucky)

2. Entwicklungslinien im Denken Niebuhrs

267

Verortet man genannten Aufsatz im œuvre Niebuhrs, so lässt sich erkennen, dass er den Geist des Social Gospel mit seiner optimistischen Vorstellung vom diesseitig durch sittlich-moralisches Handeln realisierbaren Reich Gottes zu bannen versucht, der durch und durch sein erstes größeres Buch „Does Civilisation Need Religion?“ (1927) bestimmt. Wenngleich Niebuhr lebenslang an dem einen Theologumenon des Social Gospel, nämlich dem sozialen Verständnis des Reiches Gottes, festhält und „the need for Christian participation in the work of social transformation“11 beharrlich mit W. Rauschenbusch akzentuiert, so verstärken sich in den 1930er Jahren seine Zweifel an der Möglichkeit einer diesseitigen Aufrichtung des Reiches Gottes durch gewaltlose Reformen als Erfüllung des Liebesgebotes. Lehnte Niebuhr vorher – bei einem gleichzeitig höchst eingeschränkten und vorsichtigen Ja zum innenpolitischen Gewaltgebrauch gegen vorhandene Ungerechtigkeit – in außenpolitischer Hinsicht einen Krieg als inadäquates Mittel zur Lösung internationaler Konflikte ab, so formuliert er 1940 mit Blick auf die europäische Appeasement-Politik: „It may [...] be necessary to resist a ruling class, nation or race, if it violates the standards of relative justice which have been set up for it. Such resistance means war. It need not mean overt conflict or violence. But if those who resist tyranny publish their scruples against violence too publicly, the tyrannical power need only threaten the use of violence against non-violent pressure to persuade the resisters to quiescence.“12

Auch in seinem Aufsehen erregenden Werk „Moral Man and Immoral Society“ (1932) weigert sich Niebuhr noch beharrlich anzuerkennen, dass ein Krieg unter bestimmten Bedingungen ein notwendiges Übel zur Verhinderung schlimmeren Übels sein könnte. Wenig später tritt er jedoch als Vorsitzender des „Fellowship of Reconciliation“ zurück und verlässt diese Organisation. Interessanterweise stellt Niebuhr eine direkte Verbindung zwischen ihr und den Historischen Friedenskirchen her, indem er in ihr nicht nur die Position der Quäker vertreten sieht, sondern sie sogar als „a kind of Quaker conventicle inside of the traditional church“13 charakterisiert.

1992, 28–46. Im Folgenden zit. nach: R. MCAFEE BROWN (Hg.), The Essential Reinhold Niebuhr. Selected Essays and Addresses, New Haven (Connecticut) / London (UK) 1986, 102–119. 11 R.W. LOVIN, Niebuhr, 93. 12 R. NIEBUHR, Church, 109f. 13 R. NIEBUHR, Why I Leave the F.O.R., in: DERS., Love and Justice. Selections from the Shorter Writings of Reinhold Niebuhr, hg. von D.B. ROBERTSON, Cleveland (Ohio) / New York 1957, (254–259) 254.

268

IX. Platzanweisung

Die Quäker stehen darin pars pro toto für genannte Organisation, dass sie die stets latent vorhandene, weil konzeptionell bedingte Unvermittelbarkeit der konfligierenden pazifistischen und sozialistischen Überzeugungen innerhalb derselben offen zu Tage treten lassen –, und zwar dadurch, dass sie das pazifistische Ideal zu Ungunsten von sozialer Gerechtigkeit verabsolutieren. Der von ihnen vertretene und um „moralische Reinheit“ bemühte ethische Perfektionismus präsentiere sich de facto als „fauler Friede“, weil er mit seiner Friedensforderung die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit unterdrücke und damit zur Stabilisierung des status quo existierender Unrechtsverhältnisse beitrage: „I think it is quite probable that there are wealthy Quakers who abhor all violence without recognizing to what degree they are beneficiaries of an essentially violent system.“14 Positionelle Differenzen zwischen den Quäkern und dem in der „Fellowship of Reconciliation“ verkörperten liberalen Protestantismus benennt Niebuhr nicht, vielmehr basiere beider grundsätzliche Ablehnung „of any coercive methods“ auf denselben theologischen Prämissen, weshalb sich beide in politischer Hinsicht als unterschiedslos realitätsblind erweisen würden. Demgegenüber formuliert Niebuhr die Antithese: „We believe rather that the world of nation and history is a world in which egoism, collective and individual, will never be completely overcome and in which the law of love will remain both an ideal for which men must strive and a criterion that will convict every new social structure of imperfection.“15 3. Christologische Prämissen der politischen Ethik R. Niebuhrs Nachdem Niebuhr 1934 aus besagter pazifistischen Organisation austrat, „weil diese in ihrer Mehrheit den Pazifismus auch auf soziale Probleme ausgedehnt hatte und eine Umwandlung der Gesellschaft ohne Anwendung von Gewalt, allein durch christliche Liebe, erhoffte“,16 widmete er sich „An Interpretation of Christian Ethics“ (1935). Dort unterzog er die christologischen, besser: jesulogischen Prämissen jenes Gesinnungspazifismus, den er aufgrund seines impliziten Fortschrittsglaubens und optimistischem Menschenbildes als „liberalen Illusionismus“ disqualifiziert sieht, einer fundamentalen Kritik. Energisch bestreitet Niebuhr die Ableitbarkeit einer Sozialethik aus der perfektionistischen Liebesethik Jesu. 14 15 16

A.a.O., 255. A.a.O., 257. D. LANGE, Glaube, 49. Vgl. dazu G. DORRIEN, Soul in Society. The Making and Renewal of Social Christianity, Minneapolis (Minnesota) 1995, 102–105.

3. Christologische Prämissen der politischen Ethik R. Niebuhrs

269

Unumwunden konstatiert Niebuhr – wie S. Hauerwas treffend bemerkt – „the irrelevancy of Jesus for social ethics except as he provided an indiscriminate norm that stands in judgment over all social activity“.17 Die Unableitbarkeit sei deshalb gegeben, weil die ethischen Aussagen Jesu ausschließlich eine vertikale, keine horizontale Begründungsrichtung hätten; d.h. alle von Jesus gebrauchten Begründungsformen bezögen sich auf Gott und nicht die Menschen als Referenzpunkt: Vergebt, weil Gott vergibt! Liebet eure Feinde, weil Gottes Liebe unparteiisch ist! Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! Entgegen der Lesart eines liberalen Pazifismus, der Jesu Lehre auf horizontaler Ebene als Gestaltungsvorschrift sozialpolitisch und juristisch applizieren zu können glaubt, akzentuiert er die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens. Es lese Gandhis Mahnungen als externe Elemente in Jesu Lehre hinein, als ob Jesus seine Jünger angewiesen hätte, die Welt durch Transformation von Feindes- in Bruderliebe und geschwisterliche Zuwendung zum Menschen zu erlösen.18 Außerdem kennzeichne Jesu Ethik ein ungeheuer unnachsichtiger Radikalismus, der in Form liberaler Begründungstrategien nivelliert, ja kaschiert und diskreditiert würde: Während Jesu Forderung von „nonresistance“ gegenüber dem Bösen (Mt 5,39) den Verzicht auf jegliche Form des Widerstandes, auch des gewaltlosen, einschließe, relativiere der liberale Pazifismus diese eindeutige Aussage durch Kompromisse, die gewaltlose Formen von Widerstand und moralischem Zwang für unberührt erkläre. Nichts in Jesu Lehre rechtfertige die Unterscheidung zwischen gewaltsamen und gewaltlosen Formen des Widerstehens. 17

Deshalb – so S. Hauerwas weiter – gilt für Niebuhrs Christologie: „In spite of his criticism of the social gospel, much of Niebuhr’s christology continued in the vein of treating Jesus not as the redeemer but as the perfect example or teacher of love.“ S. HAUERWAS, A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame (Indiana) / London (UK) 1981, 234. 18 R. NIEBUHR, An Interpretation of Christian Ethics, New York 1935, 39: „The ethic of Jesus does not deal at all with the immediate moral problem of every life – the problem of arranging some kind of armistice between various contending factions and forces. It has nothing to say about the relativities of politics and economics, nor of the necessary balances of power which exist and must exist in even the most intimate social relationships. The absolutism and perfectionism of Jesus’ love ethic […] does not establish a connection with the horizontal points of a political or social ethic or with the diagonals which a prudential individual ethics draws between the moral ideal and the facts of a given situation. It has only a vertical dimension between the loving will of God and the will of man.“ Vgl. dazu M.G. CARTWRIGHT, Sorting the Wheat from the Tares. Reinterpreting Reinhold Niebuhr’s Interpretation of Christian Ethics, in: S. HAUERWAS u.a. (Hg.), The Wisdom of the Cross. Essays in Honor of John Howard Yoder, Grand Rapids (Michigan) / Cambridge (UK) 1999, 349–372.

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IX. Platzanweisung

Absoluter und kompromissloser müssten Niebuhr die Befürworter eines als höchste ethische Norm verabsolutierten Friedens ohne militärische Kompromisse sein, wenn sie ihn überzeugen wollten! Dem Pazifismus der Historischen Friedenskirchen gesteht Niebuhr eine gewisse Berechtigung zu, insofern er sich streng auf die wörtlich zu befolgende jesuanische Ethik des Liebesperfektionismus bezieht und keinerlei wie auch immer legitimierte hermeneutischen Relativierungsstrategien vornimmt. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges bringt er diese sich bereits in den 1930er Jahren herauskristallisierende These präzise auf den Punkt: „There is a place for such perfectionismus as a symbol of the Kingdom of God, lest we accept the tragic sin in which the struggle for justice involves us as ultimately normative.“19 4. „Rest upon illusions about the goodness of man“20 Niebuhrs Klassifikation von Pazifismus-Typen In dem Aufsatz „Pacifism Against the Wall“ (1936) ordnet Niebuhr das Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen innerhalb einer von ihm entwickelten Pazifismus-Typologie ein. Präziser formuliert: Niebuhrs Ein- bzw. Zuordnung erfolgt innerhalb seiner einem DreierSchema folgenden Klassifikation von pazifistischen Positionen. Eine entfaltete Lehre, die Rechenschaft über das Verfahren der Gruppenzuordnung aufgrund einer umfassenden Ganzheit von Merkmalen etwa im Sinne E. Troeltschs liefert,21 legt er nicht vor. Besagte Klassifikation bildet nicht nur ein Grundschema Niebuhr’scher Pazifismuskritik und Friedensethik, das auch seinem berühmten Aufsatz „Why the Christian Church Is Not Pacifist“ (1939) zugrunde liegt, sondern ist – wie wir sehen werden – in seiner Symptomatik höchst aufschlussreich für dessen Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen. Niebuhr beschreibt drei verschiedene Arten von Pazifismus, die auf jeweils höchst divergenten Theoriegrundlagen basieren würden: „The ingredients of the modern compound of pacifism are chiefly three: [1] religious absolutism as expressed in the Sermon on the Mount; [2] the general presupposition of modern liberalism – that rational persuasion is gradually and progressively displacing coercion as the method of 19

R. NIEBUHR, To Prevent the Triumph of an Intolerable Tyranny, in: DERS., Love and Justice, (272–278) 277. 20 R. NIEBUHR, An Open Letter (to Richard Roberts), in: DERS., Love and Justice, (267–271) 268. 21 Eine Untersuchung des Einflusses von E. Troeltschs Typologie „Kirche, Sekte, Mystik“ (E. TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, GS I, Tübingen 1912, 967) auf R. Niebuhrs politische Ethik steht noch aus.

4. „Rest upon illusions about the goodness of man“

271

arbitrating all forms of social dispute; [3] and finally a moral nausea over the brutalities and futilities of the World War.“22 Dem Typus „religious pacifism in its pure form“ ordnet Niebuhr namentlich – abgesehen von Franz von Assisi und Leo Tolstoi – Jesus selbst zu und würdigt diesen Typus als „realistic reminder of the fact that the ‚peace of the world‘ is never more than an armistice“.23 Denn es manifestiere sich hier die realistische Einschätzung, dass in dieser Welt, die die Signatur der omnipräsenten Gewalt und des unumgänglichem Konflikts trage, keine endgültige Überwindung dieser untilgbaren Phänomene möglich sei. Allein die einem Balanceakt gleichende Herstellung des Gleichgewichts zwischen egoistischen sozialen Kräften, welches allerdings Konflikte bestenfalls unterdrücken könne, hält Niebuhr für realisierbar. Dieser religiöse Pazifismus hat sich ihm zufolge trotz unterschiedlicher Prämissen bis zur Unkenntlichkeit mit dem amerikanischen Liberalismus und dessen optimistischem, aus der Renaissance stammenden Menschenbild vermischt: „The basic presupposition of liberalism is that the forces of rationality are gradually increasing in human society and that we may therefore confidently look forward to the day when all social disputes will be arbitrated by a mutual regard for the rights and interests of opposing parties in a conflict situation. This assumption of liberalism implies a very optimistic view of the goodness of human nature, an interpretation of human history in terms of the idea of progress, and a belief that collective behavior differs from individual conduct only in a certain tardiness in reaching the ideals of the latter.“24

22 23

R. NIEBUHR, Pacifism Against the Wall, in: DERS., Love and Justice, (260–267) 260. A.a.O., 261. Die von Reinhold Niebuhr skizzierte Typologie entspricht in mehrfacher Hinsicht der später von seinem Bruder H. Richard Niebuhr in „Christ and Culture“ im Gefolge von E. Troeltsch entwickelten Typologie der fünf Typen „Christ Against Culture“, „The Christ of Culture“, „Christ Above Culture“, „Christ and Culture in Paradox“ und „Christ the Transformer of Culture“. R. Niebuhrs Typ 1 („religious pacifism in its pure form“) stimmt mit H.R. Niebuhrs Typ „Christ Against Culture“ in der Zuordnung der Historischen Friedenskirchen und L. Tolstois sowie der Charakterisierung ihrer „social strategy“ als „to withdraw from culture and to give up all responsibility for the world“ (H.R. NIEBUHR, Christ and Culture, New Above Culture“-Typ entspricht R. Niebuhrs Typ 2 („liberalism“). Vgl. zur Kritik an H.R. Niebuhrs scheinbar rein deskriptiver, im Weber’schen Sinne soziologischwertfreier Analyse J.H. YODER, How H. Richard Niebuhr Reasoned: A Critique of Christ and Culture, in: G.H. STASSEN u.a. (Hg.), Authentic Transformation. A New Vision of Christ and Culture, Nashville (Tennessee) 1996, 31–89. Vgl. fernerhin: M. ZEINDLER, Gestaltetes Evangelium. Zur Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: P. BIEHL / K. WEGENAST (Hg.), Religionspädagogik und Kultur. Beiträge zu einer religionspädagogischen Theorie kulturell vermittelter Praxis in Kirche und Gesellschaft, Neukirchen-Vluyn 2000, (83–103) 86–88. 24 R. NIEBUHR, The Pacifist Against the Wall, in: DERS., Love and Justice, (260–267) 261.

272

IX. Platzanweisung

Niebuhr trifft zwar – außer den genannten – keine weitere namentliche Zuordnung zu dieser Position, dennoch dürfte aufgrund des bereits Ausgeführten die auf die Social Gospel-Tradition bezogene Zielrichtung dieser Aussagen hinreichend deutlich sein. Die Tatsache, dass Niebuhrs Klassifizierung eine hierarchische Stufung impliziert, wird dabei bereits durch folgende Ab- bzw. Aufwertung signalisiert: Während nämlich der genuin religiöse Pazifismus keine trennscharfe Unterscheidung zwischen gewaltvollem und gewaltlosem Widerstand kenne, verkenne der moderne Liberalismus, dass ökonomische Sanktionen, Boykotte oder Embargos bereits ein latentes Gewaltpotential in sich trügen und deshalb in Gewalt münden könnten. Vollends sichtbar wird das hierarchische Gefälle innerhalb dieser „triadischen Pazifismus-Phalanx“, wenn Niebuhr den aus praktischen Kriegserfahrungen erwachsenen, d.h. aus moralischem Ekelgefühl gegenüber der Brutalität und Sinnlosigkeit des ersten Weltkrieges geborenen Pazifismus der „Nie-wieder-Krieg“-Parole ins Visier nimmt. Während nämlich die amerikanischen Liberalisten noch wüssten, für welche Deeskalations- oder Gewaltpräventionsstrategien sie optierten, fände sich in jener pazifistischen Haltung kein affirmatives Element, sondern lediglich ein negatives Pathos: „They are not certain how war is to be prevented or how social justice is to be achieved. They merely hold the understandable conviction that armed conflict is in any case a method that destroys the ostensible ends it intends to serve.“25 Alle genannten Positionen erweisen sich nach Niebuhr jedoch darin als defizitär, dass sie weder verantwortungsethisch argumentieren noch verantwortungsethisch zu legitimieren sind. Gemeinsam würden sie in rebus politicis die Notwendigkeit der Ausübung von Zwang und Gewalt verkennen, die stets tragischen Charakter hätten, insofern sie die Tragik der Fragmentarität menschlicher Entwürfe und die Unrealisierbarkeit humaner Ideale veranschaulichten.26 Niebuhr plädiert deshalb 1936 im Italien/Äthiopien-Konflikt wie bereits im Jahr 1932 nach der japanischen Invasion der Mandschurei – damals gegen

25 26

A.a.O., 262. Vgl. R. NIEBUHR, Must We Do Nothing?, CCen 49 (1932), (415–417) 417: „[The] highest ideals which the individual may project are ideals which he can never realize in social and collective terms ... Love may qualify the social struggle of history but it will never abolish it, and those who make the attempt to bring society under the dominion of perfect love will die on the cross. And those who behold the cross are quite right in seeing it as a revelation of the divine, of what man ought to be and cannot be, at least not so long as he is enmeshed in the process of history.“

5. Normkritik

273

seinen jüngeren Bruder H. Richard Niebuhr27 – für die notfalls auch zum Waffengebrauch bereite Androhung von Gewalt durch die Vorläuferorganisation der UNO, die „League of Nations“: „Absolutistic scruples against the League of Nations and sanctions, whether they are pacifist or radical, thus tend to increase the anarchy that they abhor. That is unfortunately the unvarying consequence of moral absolutism in politics. The political order must be satisfied with relative peace and relative justice. Refusal to participate in its relativities, because the represent imperfect approximations of the ideal of human brotherhood, are bound to lead to a further disintegration of its always tentative peace and its always imperfect justice.“28

5. Normkritik Die normative Funktion des Liebesgebotes Jesu und die internationale Politik als tragischer Handlungskontext Mitte der 30er Jahre zeigt sich – wie D. Lange treffend bemerkt – in aller Deutlichkeit „der erste Ansatz zu Niebuhrs späterer Kritik am Pazifismus, die freilich hier in ihrer konsequenten Form noch nicht vorliegt. Daß er aber die in ‚Moral Man‘ für innenpolitische Verhältnisse programmatisch vorgetragene Position auch auf die Außenpolitik übertragen wird, ist jetzt abzusehen.“29 Solches geschieht in dem zu Beginn des 2. Weltkrieges geschriebenen Essay „Why the Christian Church Is Not Pacifist“. Die weltpolitische Entscheidungsfrage stand damals auf dem Spiel, ob der sich im deutschen Überfall auf Polen und dem Angriff Frankreichs aller Welt enthüllenden Tyrannei Hitlers durch militärische Intervention ein Ende bereitet werden sollte. Niebuhr plädiert entschieden für letzteres und wendet sich damit gegen jene christlich-pazifistische Position, die einen Eintritt Amerikas in den Krieg ablehnt, mit der Antithese, „that the failure of the church to espouse pacifism is not apostasy, but is derived from an understanding of the Christian gospel which refuses simply to equate the Gospel with the ‚law of love‘“.30 Das Liebesgebot Jesu, „a law which transcends all law“,31 stellt als Ideal die höchste Norm menschlichen Handelns dar, welches jedoch stets sub conditione peccati steht und 27

Vgl. H.R. NIEBUHR, The Grace of Doing Nothing, CCen 49 (1932), 378–380 und dazu die ausgezeichnete Analyse von S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Evangelium und Ethik 4, hg. von R. HÜTTER u.a., Neukirchen-Vluyn 1995, 201–217. 28 R. NIEBUHR, Pacifist, 267. 29 D. LANGE, Glaube, 83. 30 R. NIEBUHR, Church, 102. 31 A.a.O., 106.

274

IX. Platzanweisung

deshalb immer wieder an der vollen Umsetzung dieses Ideals scheitert.32 Gleichwohl darf aus der Sündenverfallenheit menschlicher Existenz nicht im Sinne eines naturalistischen Fehlschlusses die Sünde zur höchsten Norm und damit zum Liebes-Surrogat erklärt werden. Niebuhrs Anthropologie ist trotz ihres lautstarken pessimistischen Klangs hoffnungsvoller gestimmt als allgemein wahrgenommen,33 zumal die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz, die dem Menschen die Gestaltung seiner Umwelt erlaubt und die ihn als personale Urbeziehung zu Gott (imago Dei) nach Gott fragen lässt, eine bleibende Fähigkeit darstellt. Gleichwohl verkehrt sie der Mensch in seiner Lebenswirklichkeit gegen ihre Bestimmung.34 Für den stark in augustinischer Tradition stehenden Niebuhr gilt es vielmehr unter Anwendung des homöopathischen Prinzips similia similibus curantur die Sünde nicht nur als Konsequenz der Erbsünde zu verstehen, sondern als Gegengift bzw. Heilmittel („remedy“) gegen die Sünde zu gebrauchen, wobei erst das Ideal der Liebe diese Anwendung ermöglicht: „[T]he ideal of love is not merely a principle of indiscriminate criticism upon all approximations of justice. It is also a principle of discriminate criticism between forms of justice.“35 Als „principle of indiscriminate criticism“ hat das Liebesideal elenchtische Funktion, indem es alle menschlichen Annäherungsversuche als höchst unzureichende, imperfekte Bemühungen entlarvt und uns der Sünde überführt. In seiner elenchtischen Funktion erweist es sich aber nicht als destruktiv, sondern als äußerst konstruktiv, „for it prevents the pride, self-righteousness and vindictiveness of men from corrupting their efforts at justice“.36 Zugleich fungiert das Liebesideal „as a principle of discriminate criticism [...] between various forms of justice“, d.h. als Norm und Leitbild für den verantwortlich und realistisch handelnden Menschen. Wenn sich aus dem „law of love“ auch keine direkten Handlungsanweisungen ableiten lassen, so ermöglicht 32

Vgl. zur Sündenlehre Niebuhrs R. NEUBAUER, Geschenkte und umkämpfte Gerechtigkeit. Eine Untersuchung zur Theologie und Sozialethik Reinhold Niebuhrs im Blick auf Martin Luther, FSÖTh 12, Göttingen 1963, 59–65 sowie D. LANGE, Glaube, 101–113. 33 Bereits Niebuhrs vermutlich berühmtestes Diktum indiziert dies: „Des Menschen Sinn für Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, seine Neigung zur Ungerechtigkeit aber macht Demokratie notwendig.“ R. NIEBUHR, Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis. Eine Rechtfertigung der Demokratie und eine Kritik ihrer herkömmlichen Verteidigung, übers. von L. HELLMANN und J. KASKELL, München 1947, 8. 34 Vgl. R. NIEBUHR, Interpretation 66f.; 87ff. Vgl. dazu jetzt S. HAUERWAS, With the Grain of the Universe. The Church’s Witness and Natural Theology, Grand Rapids (Michigan) 2001, 113–140. 35 R. NIEBUHR, Church, 114. 36 A.a.O., 116.

5. Normkritik

275

es doch den kritischen Gebrauch ethischer Urteilskraft. Das Liebesideal erlaubt nach Niebuhr das komparativische Unterscheiden zwischen mehr oder weniger Gerechtigkeit. Die Liebe fungiert nach Niebuhr als Norm für Gerechtigkeit. Jedoch stellt die Gerechtigkeit für ihn keinen eschatologischen Begriff, auch kein normierendes Ideal wie die Liebe dar, sondern die irdische Realisierung einer Annäherungsform an Liebe und als solche einen Kompromiss mit der Sünde. In sich enthält die Gerechtigkeit die dialektische Spannung der beiden Faktoren Freiheit und Gleichheit, die im politischen Handeln in ein Gleichgewicht („equilibrium“ oder „balance of power“) gebracht werden müssen. Als „balance of power“ gestalten sich alle Formen von Gerechtigkeit. Niebuhr kann zwar ein dialektisches Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit mit folgender Bemerkung andeuten, doch letztendlich bleibt die Vermittlung von These und Antithese unterbestimmt und die Dialektik – hier natürlich nicht im Kierkegaard’schen Sinn verstanden! – eo ipso unausgeprägt:37 „A balance of power is something different from, and inferior to, the harmony of love. It is a basic condition of justice, given the sinfulness of man. Such a balance does not exclude love. In fact, without love the frictions and tensions of a balance of power even the most loving relations may degenerate into unjust relations, and love may become the screen which hides the injustice.“38 37

Vgl. zu der in augustinischer Tradition stehenden und vom skandinavischen Theologen A. Nygren (A. NYGREN, Eros und Agape, Gütersloh 21954) stark beeinflussten Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit (als Kompromiss mit der sündigen Welt verstanden) und Liebe (als Selbstlosigkeit im Sinne des amor Dei interpretiert) bei Niebuhr die Kritik W. Hubers (W. HUBER, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 199–201). Bereits in den 50er Jahren kritisiert der junge mennonitische Theologe J.H. Yoder Niebuhrs diastatische Verhältnisbestimmung von „Liebe“ und „Verantwortung“: „Verantwortung“ meint für Niebuhr „an inherent duty to take charge of the social order in the interest of its survival or its amelioration by the use use of means dictated, not by love, but by the social order itself. This social order being sinful, the methods ‚necessary‘ to administer it will also be sinful. ‚Responsibility‘ thus becomes an autonomous moral absolute, sinful society is accepted as normative for ethics, and when society calls for violence the law of love is no longer decivise (except in the ‚discriminate‘ function of preferring the less nasty sorts of violence). Of course, according to pacifist belief, there exists a real Christian responsibilty for the social order, but that responsibility is a derivation of Christian love, not a contradictory and self-defining ethical norm.“ J.H. YODER, Reinhold Niebuhr und Christian Pacifism, MQR 29 (1955), (101–117) 113. Vgl. auch J.W. MCCLENDON, Jr., Ethics: Systematic Theology 1, Nashville (Tennessee) 1986, 320f. 38 R. NIEBUHR, Church, 116. Dieses Zitat indiziert, dass Niebuhr die Sphären von Liebe und Gerechtigkeit nicht vollständig voneinander separiert. Er gelangt aber nicht darüber hinaus festzustellen – wie N. Biggar treffend bemerkt – „needs to aspire to the ‚impossible ideal‘ of love, lest it degenerate into something less than itself“ (N. BIGGAR, Art. Ethics, in: A.E. MCGRATH [Hg.], The Blackwell Encyclopedia of Modern Christian Thought, Oxford [UK] 1993, [164–183] 175). Vgl. H.

276

IX. Platzanweisung

Nicht die Gerechtigkeit, sondern die Liebe hat nach Niebuhr als Norm kritische Kraft. Die entscheidende Frage lautet darum, inwiefern die von Niebuhr als selbst- und kompromisslose agape verstandene Liebe wirklich genuin kritische Kraft haben kann, wenn Liebe und Gerechtigkeit unvermittelte oder kaum vermittelte Größen bleiben. Gewiss, das Ideal der Liebe ist als Prinzip des Reiches Gottes für die Realpolitik nicht irrelevant, sondern kann in seinem „schwebenden“, die jeweilige Situation in ihren realen Möglichkeiten transzendierendem Zustand als unerreichbares Handlungsziel Handlungsorientierung gewähren. Denn wenngleich das Ideal nicht erreicht werden kann, und diese Tatsache die „tragedy of human history“ ausmacht, so kommt es im tagespolitischen Geschehen auf Annäherungsversuche, d.h. darauf an, diejenigen Entscheidung zu treffen, die ein Höchstmaß an Übereinstimmung mit dem Idealwert Liebe aufweisen. Aber inwiefern kann die kompromisslose Liebe des Reiches Gottes für das Handeln in der Welt von Kompromissen wirklich regulative Funktion haben, wenn es darauf ankommt, im politischen Handeln die Kunst der möglichsten Annäherung an dieses Liebesideal zu betreiben und die Regulierung eben das Balanceverhältnis zwischen gesellschaftlichen Kräften betrifft, die in ihrer Forderung nach Freiheit oder Gleichheit diametral auseinanderstreben? Reißt Niebuhr nicht die Liebe, die die Kompromisslosigkeit gegenüber der Welt beschreibt, und die Gerechtigkeit, die nach Niebuhr doch Gestaltwerdung des Kompromisses meint, nicht so weit auseinander, dass im politischen Handeln unklar bleiben muss, welche konkrete Option gerechter, weil der Liebe entsprechender ist und darum anderen weniger gerechten, weil der Liebe weniger entsprechenden Optionen vorgezogen werden muss? Aus der Perspektive der Liebe betrachtet erscheinen doch alle politischen Balanceakte als lieblos, weil kompromisshaft. Inwiefern begünstigt also Niebuhrs politische Ethik das zur ethischen Urteilsbildung gehörende Differenzierungsvermögen? Man mag diesbezüglich mit Niebuhrs deutschem Schüler D. Lange von der Notwendigkeit pragmatischer Abschätzung des Möglichen, also der Offenheit einer Situation für Veränderungen, sprechen,39 was sicherlich ganz dem Niebuhr’schen Postulat eines christlichen Pragmatismus entspricht. Doch sollte mit diesem vieldeutigen Begriff nicht ethische Ratlosigkeit kaschiert werden, die man dann noch via negationis mit dem nach außen gerichteten Vorwurf der „ethischen Überlegitimation“ zu immunisieren versucht. Dem Pragmatischen BEDFORD-STROHM, Gemeinschaft aus kommunikativer Freiheit. Sozialer Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft. Ein theologischer Beitrag, ÖTh 11, Gütersloh 1999, 242–244. 39 Vgl. D. LANGE, Ethik, 165.

6. Selbst- oder Fremdghettoisierung?

277

wird bei Niebuhr zweifellos die Priorität zuerkannt. Damit ist bei Niebuhr unmittelbar die unverkennbare Gefahr der sog. „Eigengesetzlichkeit“ des politischen Raums verbunden. Denn immer wenn – so G. Sauter treffend – „dem ‚Pragmatischen‘ die Priorität zuerkannt [wird], dann bedeutet dies den Verzicht auf die Realisierung weitgespannter Theorien (und überhaupt auf die Orientierung des Handelns an der Übereinstimmung von Theorie und Praxis)“.40 6. Selbst- oder Fremdghettoisierung? R. Niebuhr und das Sektenethos der Gewaltlosigkeit Die Norm der Liebe treibt nach Niebuhr zur Gerechtigkeit an. Die relative Berechtigung des religiösen Pazifismus besteht nun darin, dass er als Version des christlichen Perfektionismus permanent an das Liebesgebot Christi als höchste Norm erinnert und damit politische Annäherungsversuche relativiert. Er kann – und darin erweist sich nach Niebuhr seine lediglich relative und nicht volle Berechtigung – diese Approximationen in ihrer Unzulänglichkeit enthüllen, jedoch nicht politisch realisieren. Seine Erinnerungsfunktion legitimiert ihn aber – zumindest partiell;41 ihn, den im obigen Dreierschema als Typ 1 zu identifizierenden „religious absolutism“, der sich selbst als genuin a-politisch und seine religiösen Praktiken keineswegs als gesellschaftsrelevanten Beitrag zu sozialpolitischen Problemlösung versteht: „On the contrary, the political problem and task were specifically disavowed. This perfectionism did not give itself to the illusion that it had discovered a method for eliminating the element of conflict from political strategies. On the contrary, it regarded the mystery of evil beyond its power of solution. It was content to set up the most perfect and unselfish individual life as a symbol of the Kingdom of God. It knew that this could only be done by disavowing the political task and by freeing the individual of all responsibility for social justice.“42

Diese Art von Pazifismus ordnet Niebuhr den Historischen Friedenskirchen zu, indem er beispielhaft Menno Simons, den Begründer der Mennoniten, als Vertreter dieses „Protestant sectarian perfectionism“ nennt. Innerhalb dieses Typus spricht er seine Präferenz für die Men40 41

G. SAUTER, Art. Pragmatik / pragmatisch, EStL3 2 (1987), (2613–2616) 2614. R. NIEBUHR, Church, 104: Dieser relativ berechtigte Pazifismus „is a reminder to the Christian community that the relative norms of social justice, which justify both coercion and resistance to coercion, are not final norms, and that Christians are in constant peril of forgetting their relative and tentative character and of making them too completely normative“. 42 Ebd.

278

IX. Platzanweisung

noniten gegenüber anderen friedenskirchlichen Denominationen, etwa den Quäkern, aus. Dies geht aus seinen Gifford Lectures „The Nature and Destiny of Man“ hervor, in denen er innerhalb des Typus „Sectarian Protestantism“ zwischen „two types of sects, or at least between two impulses in sectarianism: a) The impuls towards the perfection of individual life expressed in the pietistic sects and b) the impuls towards the fulfillment of history expressed particularly in the Anabaptist and socially radical sects“,43 unterscheidet. Unter die pietistischen Sekten subsumiert Niebuhr außer Spiritualisten wie Hans Denck, Sebastian Franck und den Begründer des Methodismus, John Wesley, auch die Quäker, wobei er sie aufgrund von Vorstellungen wie der des „inneren Lichtes“ und der „verborgenen Saat“ in sehr viel stärkerer Affinität zur Wurzel des pazifistischen Liberalismus, dem Renaissance-Glauben an das Gute im Menschen, sieht als die u.a. mit Cromwellianern unter „eschatologischen Sekten“ figurierenden pazifistischen Täufer im Gefolge von Menno Simons. Während Niebuhr die Quäker zu einem naiven historischen Fortschrittsoptimismus mit Glauben an eine weltimmanente Erlösung der Gesellschaft durch die Kraft realisierter Liebe tendieren sieht, gilt für Menno Simons: „[H]e was never under the illusion that ‚suffering love‘ would gradually become historically successful and would overcome the world. He thought of it rather as a sign and symbol of the Kingdom of God, which God would have to usher in in his good time. The problem of historical evil was, according to his faith, beyond the comprehension and the power of man.“44 Der mennonitische Pazifismus leuchtet nach Niebuhrs Ansicht in besonders intensiver Weise als Symbol des Reiches Gottes.45 Er stellt 43 R. NIEBUHR, The Nature and Destiny of Man. A Christian Interpretation. I. Human Nature. II. Human Destiny. One Volume Edition, New York 1949, 169f. (Vol. II). 44 A.a.O., 177. Auch H.R. Niebuhr bemerkt: „By and large, however, the modern Quaker shows greater affinity to the opposite attitude in Christianity, the one which regards Christ as the representative of culture.“ H.R. NIEBUHR, Christ, 57. 45 R. Niebuhrs langjähriger Kollege am Union Theological Seminary in New York, Paul Tillich, „würdigt“ das Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen in ganz ähnlicher Weise, wenn er einerseits feststellt, dass die christlichen Kirchen „einen Weg finden müssen zwischen einem Pazifismus, der die Notwendigkeit der Macht (und des Zwangs) in der Beziehung zwischen geschichtstragenden Gruppen übersieht und leugnet, und einem Militarismus, der die Einheit der Menschheit durch Unterwerfung der Welt unter eine besondere geschichtliche Gruppe zu erreichen glaubt“. Auch wenn Tillich den pazifistischen Weg nicht als Weg des Reiches Gottes in der Geschichte sieht, so ist er ihm zufolge doch andererseits „der Weg der Kirchen als Repräsentanten der Geistgemeinschaft. Sie würden ihre Bedeutung als Stellvertreter der Geistgemeinschaft verlieren, wenn sie sich militärischer oder wirtschaftlicher Waffen zur Verbreitung der christlichen Botschaft bedienten. Aus dieser Situation folgt die Beurteilung pazifistischer Bewegungen, Gruppen und Persönlichkeiten durch die Kirche. Die Kirchen müssen den politischen Pazifismus verwerfen, aber sie

6. Selbst- oder Fremdghettoisierung?

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keine Häresie dar, weil und insofern sich die Mennoniten anders als die liberalen Pazifisten – Typ 2 gemäß Niebuhr’scher Klassifikation – als Sekte aus der Welt zurückziehen und in tribalistischer Manier ihrem Pazifismus als einer Art Stammeskultur frönen. Sie entledigen sich zwar – abgesehen von ihrer Erinnerung an das Reich Gottes, die Niebuhr als eine Form der Proexistenz für die Welt versteht – ihrem dualistisch-apokalyptischen Weltbild zufolge aller Verantwortung für die Welt und geben sie deshalb dem Bösen, sprich: Hitler preis, aber sie verfallen nicht dem irrigen Glauben an das Gute im Menschen, auf dem liberale Pazifisten ihre politischen Strategien gründen, die Hitler ebenso wenig stoppen können wie das Sektenethos der Historischen Friedenskirchen und mittelalterlichen Asketen. Es wird im Hinblick auf Niebuhrs Umgang mit den Historischen Friedenskirchen evident, dass das Lob, welches er ihrem Pazifismus zollt, eingeklammert und gerahmt ist von einem großen Tadel. Es handelt sich um ein stark konditioniertes Lob. Benennt man die conditio, so ist es die von den Historischen Friedenskirchen geforderte Selbstghettoisierung, die ihr Friedenszeugnis lobenswert macht. Nun mag man einwenden, dass 1.) nicht die „Selbstghettoisierung“, sondern die Erinnerung an das Reich Gottes nach Niebuhr als ihr weltgestaltender Beitrag lobenswert ist und dass 2.) Niebuhr kein Ghetto fordert, sondern lediglich ein bereits bestehendes Ghetto beschreibt, also – mit anderen Worten – eine deskriptive und keine präskriptive Aussage fälle. Demgegenüber wird man konzedieren müssen, dass natürlich innerhalb der Geschichte der Historischen Friedenskirchen die „Weltflucht-Versuchung“ allein schon aus strategischen Gründen der Selbstimmunisierung stets real und oftmals unwiderstehlich erschien.46 Diesbezüglich wird sich friedenskirchliche Historiographie von apologetischen Tendenzen befreien müssen. Gleichwohl resultierte aus einem vermeintlichen Rückzug vielfach eine enorme Außenwirkung. Man wird deshalb kaum pauschal von einer „Wagenburgmentalität“ sprechen dürfen, denn die Feindesliebe Jesu, der sich die Historischen müssen Gruppen und Personen unterstützen, die, indem sie sich weigern, sich mit dem Element des Zwangs in den Machtkämpfen zu identifizieren, symbolisch den ‚Frieden des Reiches Gottes‘ vertreten und bereit sind, die unvermeidliche Reaktion der politischen Macht, der sie angehören und die sie beschützt, auf sich zu nehmen. Das gilt für Gruppen wie die Quäker und für Menschen, die aus Gewissensgründen den Kriegsdienst verweigern. Sie vertreten innerhalb der politischen Gruppe den Verzicht auf Macht, der für die Kirchen wesentlich ist, aber von ihnen nicht zum Gesetz erhoben werden darf, das dem Staat aufgezwungen wird.“ P. TILLICH, Systematische Theologie III. Das Leben und der Geist. Die Geschichte und das Reich Gottes, übers. von R. ALBRECHT und I. HENSEL, Stuttgart 1966, 439f. 46 Vgl. H.-J. GOERTZ, Art. Menno Simons/Mennoniten II. Mennoniten, TRE 22 (1994), 450–457.

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IX. Platzanweisung

Friedenskirchen verpflichtet fühl(t)en, impliziert keine Abwehr- sondern Fürsorgehaltung gegenüber der des Salzes und des Lichtes bedürftigen Welt (Mt 5,13f.). Folgende Bemerkung Niebuhrs stimmt damit überein, denn sie möchte das friedenskirchliche Zeugnis keineswegs auf einen kirchlichen Binnenraum begrenzt wissen, sondern fordert geradezu zu seiner Entgrenzung auf: „We who allow ourselves to become engaged in war need this testimony of the absolutist against us, lest we accept the warfare of the world as normative, lest we become callous to the horror of war, and lest we forget the ambiguity of our own actions and motives and the risk we run of achieving no permanent good from this momentary anarchy in which we are involved.“47

Was Niebuhr jedoch im Jahr 1934 in Bezug auf den pazifistischen Typus des ethischen Perfektionismus konjunktivisch formulierte, dass nämlich „any ascetic withdrawal from the world [...] might give it consistency“,48 und zwei Jahre später indikativisch zum Ausdruck bringt: „This pledge, which promises to abstain from military defense of the nation under all circumstances, has meaning and sincerity only if it expresses religious absolutism [which] is not compatible with political responsibility“,49 steht dazu in einem eindeutigen Spannungsverhältnis. Nach den zuletzt zitierten Äußerungen kann kaum Zweifel bestehen: Hinsichtlich der Historischen Friedenskirchen ist die Erinnerung an das Reich Gottes für Niebuhr eingebettet in ein weltflüchtiges Sektenethos. Auf diesem nur unter Konsistenzverlust hintergehbaren Konnex basiert die eingeschränkt konzedierte „Rechtgläubigkeit“ der Historischen Friedenskirchen. Ohne den Austritt aus der politischen Öffentlichkeit und die Ansiedlung in einer Sphäre des Privaten, ohne dieses den Dissenter isolierende secare, welches für Niebuhr gleichbedeutend mit der „political irresponsibility of religious absolutism“ ist, verliert das Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen nach Niebuhr seinen Wert. Sobald sie ihre Kriegsdienstverweigerung als genuin politische Alternative präsentieren, korrumpieren sie ihren Perfektionismus. Er gehört seinem Ursprung und Wesen nach auf die Seite der „ethic of the ‚Kingdom of God,‘ in which no concession is made to human sin, and all relative political strategies which, assuming human sinfulness, seek to secure the highest measure of peace and justice among selfish and sinful men“.50 47 48 49 50

R. NIEBUHR, Church, 119. R. NIEBUHR, F.O.R., 254. R. NIEBUHR, Pacifism, 262f.; 261. R. NIEBUHR, Church, 107.

7. „Is there or isn’t there a place?“

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7. „Is there or isn’t there a place?“ Zur „Würdigung“ des Friedenszeugnisses der Historischen Friedenskirchen bei R. Niebuhr Gleichwohl drängt sich die Frage weiterhin unabweisbar auf: Sind die gegensätzlichen Aussagen vermittelbar oder gänzlich inkonsistent? Weist Niebuhr den Historischen Friedenskirchen ihren innergesellschaftlichen Ort zu, oder weist er sie letztendlich aus? „Is there or isn’t there a place?“ Wer Niebuhr kein Unrecht tun, ihn vielmehr beim Wort nehmend ad optimam partem interpretieren möchte, der wird bezüglich dieser entscheidenden Frage keine schräge Alternative konstruieren dürfen, sondern vielmehr dialektisch formulieren müssen: Indem Niebuhr die Historischen Friedenskirchen außerhalb der Sphäre politischer Verantwortung, am Rande der Gesellschaft lokalisiert, sie sozusagen im Exil ihres friedenskirchlichen Binnenraumes ansiedelt, weist er ihnen ihren Platz im Kontext umfassenderer Öffentlichkeit zu, die eben auch den Rand der Gesellschaft einschließt. Ein trennendes Unterscheiden zwischen Kirche und Gesellschaft heißt hier: In-Beziehung-Setzen. Auch wenn man insofern eingestehen muss: „Yes, there is place! Also according to Niebuhr!“, so kommt man nicht umhin, das negative Vorzeichen vor der Klammer wahrzunehmen, das Niebuhr setzt. Mag also Niebuhr den Historischen Friedenskirchen auch zugestehen, dass sie die radikale Lehre Jesu verstanden haben und ihr Friedenszeugnis ein für die Welt notwendiges Symbol des Reiches Gottes ist, so hebt – metaphorisch gesprochen – dieses „Ja“ innerhalb der Klammern das „Nein“ vor der Klammer nicht auf. Der mennonitische Theologe John H. Yoder trägt diesem Umstand Rechnung, wenn er die bis in die Gegenwart reichenden Reaktionen auf Niebuhrs grundsätzliches, ein konditioniertes „Ja“ umklammerndes „Nein“ im eigenen friedenskirchlich-mennonitischen Lager beschreibt: „Gratified by Niebuhr’s ascribing to them a more accurate reading of the teachings of Jesus, Mennonites took as a compliment what he meant as a rejection, and proceeded to rejoice in his backhanded accreditation.“51 Niebuhr selbst gesteht dieses relativierte „Nein“ auch Jahre später, im Zeitalter des Kaltes Krieges, durchaus ein, wenn er in Stellungnahmen zu Friedens- und Abrüstungsforderungen trotz allem persönli51

J.H. YODER, Burden and Discipline of Evangelical Revisionism, in: L. HAWKLEY / J.C. JUHNKE (Hg.), Nonviolent America. History through the Eyes of Peace, North Newton (Kansas) 1993, (21–37) 30. Yoder referiert die Diskussion um Niebuhrs Platzanweisung innerhalb des friedenskirchlichen Lagers in extenso in seiner gedruckt vorliegenden Vorlesung: J.H. YODER, Christian Attitudes to War, Peace, and Revolution. A Companion to Bainton, Elkhart (Indiana) 1983, 356–420.

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IX. Platzanweisung

chen Respekt und aller Hochachtung gegenüber der reichen friedenskirchlichen Erfahrung der Quäker immer wieder auf deren „inability to measure the proportions of the dilemma“52 hinweist. Alle Wertschätzungsäußerungen können und sollen nicht den springenden Punkt verdecken, weshalb – mit Niebuhrs eigenen Worten – „pacifism remains an irrelevance even in an atomic age“.53 Der friedenskirchliche Pazifismus bildet für Niebuhr keine realistische, pragmatische Alternative zum Antagonismus der Blocksysteme, und zwar weil er letztendlich doktrinär in seinem Absolutismus, eben dem prinzipiellen „Nein“ zu Krieg und Gewalt, verharrt: „Our points of agreement with the Quaker proposals, particularly on policies that do not raise the ultimate issue of the disavowal of force, cannot obscure the basic distinction between pacifist and nonpacifist policies. This distinction would seem to be on the absolute disavowal of force by the pacifists.“54 Summa summarum: Man wird deshalb nicht mit D. Lange resümierend von einer „oft übersehen[en] relative[n] Anerkennung des religiösen und ethischen Pazifismus“55 durch R. Niebuhr sprechen können, sondern vielmehr eine relativierte Verneinung des ethischen Pazifismus konstatieren müssen. 8. Abschließende Beurteilung von Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen: Sic et non Wenn wir dem dialektischen Grundsatz des „sic et non“ zur abschließenden Beurteilung von Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen folgen, so tritt in struktureller Entsprechung zur relativierten Verneinung Niebuhrs dem „sic“ ein schwergewichtigeres „non“ gegenüber. Trotz aller Ungleichgewichtigkeit entkräftet dieses „non“ das partielle „sic“ nicht gänzlich. Bezüglich der differenzierten Wahrnehmung der pazifistischen Ausprägung des Friedenszeugnisses der Historischen Friedenskirchen erweist sich Niebuhrs Umgang mit denselben nämlich in einer bestimmten Hinsicht als durchaus wegweisend: Wenngleich er im Bereich des Typologischen verbleibt, so differenziert er doch zwischen verschiedenen Typen von Pazifismus, anstatt pauschalisierend und unifizierend von der Tradition der christlichen Gewaltlosigkeit zu 52 53 54 55

R. NIEBUHR, The Quaker Way, in: DERS., Love and Justice, (296–298) 298. R. NIEBUHR, Is there another Way?, in: DERS., Love and Justice, (299–301) 301. A.a.O., 300. D. LANGE, Glaube, 157.

8. Abschließende Beurteilung von Niebuhrs Umgang

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sprechen. Einzeluntersuchungen, die auf induktivem Wege eine Typologisierung überhaupt erst methodisch rechtfertigen, sind – und darauf weist Niebuhrs Differenzierung indirekt hin – in Bezug auf das vielgestaltige Friedensethos der Historischen Friedenskirchen notwendig und unerlässlich. Die Tatsache, dass sie nicht nur gegenwärtig in einer als pluralistisch zu charakterisierenden gesamtgesellschaftlichen Situation ihren Sitz im Leben haben, sondern seit ihren Ursprüngen plurale Minderheitskirchen sind, was historisch nicht zuletzt auf ihre polygenetischen Wurzeln zurückzuführen ist, aus denen eine polyforme Entwicklung auch hinsichtlich des Friedenszeugnisses resultierte, berücksichtigt Niebuhr zumindest ansatzweise. Wenngleich Gewaltverzicht mit einhergehender Verweigerung obrigkeitlicher Ämter und des Eides auf dem Hintergrund eines Kirche/ Welt-Dualismus vielfach praktiziert wurde, so bilden die Historischen Friedenskirchen doch hinsichtlich ihres Friedenszeugnisses weder in Theorie noch in Praxis eine „homogene Masse“. Es gab Zeiten, in denen – wie etwa am Ende des 19. Jahrhunderts oder im „Dritten Reich“ – das Prinzip der Wehrlosigkeit praktisch vollständig aufgegeben wurde.56 Ob Niebuhrs Differenzierungsvermögen zwischen Mennoniten und Quäkern insbesondere in Form seiner dreigliedrigen Typologie, speziell der weitreichenden Subsumierung unter dem Terminus „religious pacifism in its pure form“, dem vielfältigen Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen gerecht wird,57 scheint sehr fraglich. Interpretiert man R. Niebuhr ad optimam partem, dann wird man seine „Platzanweisung“ für die Historischen Friedenskirchen als Versuch würdigen können, ihr Friedenszeugnis als gesamtgesellschaftlich „nützlich“ zu qualifizieren. Und in der Tat werden unter funktionalem Aspekt alle diejenigen, die die gesellschaftliche Präsens der Historischen Friedenskirchen für einen Gewinn halten, „weil gerade von ihnen ein ganzes Spektrum von gewaltfreien Konfliktlösungen zu erlernen ist“,58 nicht an der Preisgabe des rigiden prinzipiellen Pazi56

Vgl. F. ENNS, Mennoniten: plurale Minderheitskirche im Pluralismus, KZG 13 (2000), (359–375) 366f. 57 Vgl. J.H. YODER, Nevertheless. The Varieties and Shortcomings of Religious Pacifism, Scottdale (Pennsylvania) ²1992. 58 E. BUSCH, „Willst du Frieden, so bereite ihn vor“. Friede als Frucht der Gerechtigkeit, RKZ 139 (1998), (537–545) 544. Auch das im September 2000 veröffentlichte Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz weist darauf hin, dass bei der Arbeit für Versöhnung „auch die Erfahrungen der Historischen Friedenskirchen einbezogen werden [sollen], die vielerorts unauffällig für gewaltfreie Konfliktregelungen arbeiten“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [Hg.], Gerechter Friede, Die deutschen Bischöfe 66 [2000], 99).

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IX. Platzanweisung

fismus, den es neben anderen Varianten von Pazifismus in den Historischen Friedenskirchen auch gibt, interessiert sein. Er stellt nämlich sozusagen das Präventiv gegenüber jeglicher vorschnellen Propagierung der ultima ratio bzw. einer Grenzfallproklamation dar, indem er gegenüber der „großkirchlichen“ Denkweise, dass Krieg als Ausnahme unter bestimmten Umständen notwendig ist, um Unschuldige zu schützen und Schlimmeres zu verhüten, beständig betont: „[E]s ist gerade das Festhalten an der Möglichkeit der ‚Ausnahme‘, des Gebrauchs von Gewalt als ‚letztem Mittel‘, das so problematisch ist, weil die Ausnahme in der Praxis dazu neigt, zur Regel zu werden.“59 Von der permanenten Erinnerung an diese Gefahr profitiert zweifelsohne eine Gesellschaft, die sich daran erinnern lässt. Sie wird den friedenskirchlichen Stimulus zur phantasievollen und kreativen Entwicklung alternativer Deeskalationsmethoden zur zivilen Konfliktbearbeitung dankbar empfangen. Die Frage ist mit Blick auf R. Niebuhrs Modell des Umgangs mit den Historischen Friedenskirchen allerdings zu formulieren, ob sie diese Funktion ihm zufolge überhaupt wahrnehmen können, oder ob Niebuhr sie durch seine „Platzanweisung“ nicht gesellschaftlich ausweist und sie gerade dadurch ihrer gesamtgesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeit beraubt. Schließlich verlieren die Historischen Friedenskirchen gemäß Niebuhr ihre Existenzberechtigung am „Wegesrand der Gesellschaft“, sobald sie ihren Friedensdienst als alternativen politischen Weg deklarieren, d.h. sobald sie die soziale Marginalität ihrer politischen Perspektive nicht als solche kennzeichnen, sondern eine Universalisierung ihrer gesellschaftlich unverantwortbaren Maximen mit der Forderung nach politischer Realisierung derselben postulieren. Insofern ist kritisch zurück zu fragen: Lässt sich unter dieser engen conditio überhaupt ein aktiver, gesamtgesellschaftlich relevanter Beitrag leisten, der genau das leisten soll, was er nicht – zumindest nicht in der beschriebenen Gestalt – leisten darf, nämlich politisch zu sein? Kann das Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen den an der politischen Macht Partizipierenden Orientierung gewähren, wenn es selbst nicht genuin politische Valenz hat, oder noch präziser: wenn es von vornherein das Stigma „politisch unverantwortlich“ trägt? Partizipieren diejenigen, die den an der politischen Macht Partizipierenden Orientierung gewähren, nicht selbst an der politischen Macht? Übernehmen sie so nicht auch gesellschaftliche Verantwortung? Ist

59

So der jüngst erschienene Studientext der Historischen Friedenskirchen „Frieden schaffen in Gerechtigkeit. Auf dem Weg zu einem ökumenisch ethischen Ansatz aus der Sicht der Historischen Friedenskirchen“, ÖR 50 (2001), (490–501) 497.

8. Abschließende Beurteilung von Niebuhrs Umgang

285

die Friedenskirche selbst nicht polis?60 Ist sie durch ihre bloße Existenz nicht auch ein politisches Phänomen und ist ihre koinonia nicht immer schon kerygma mit politischer Valenz? Besteht ihre primäre politische Aufgabe nicht gerade darin, dass sie als gesellschaftliche Größe der Gesamtgesellschaft durch ihre Verkörperung von Glaubensgehorsam und Nachfolge mustergültig vorlebt, wie Liebe und Verantwortung in sozialen Beziehungen aussehen kann und soll? Bei Niebuhr begegnet uns, wie diese Anfragen zeigen, ein reduktionistisches Politikverständnis, das Politik per definitionem als Ergebnis von Kompromissbereitschaft versteht und das kompromisslose „Sekten“ deshalb als apolitisch darstellen muss. Werden die historischen Friedenskirchen nicht gerade dadurch sozial marginalisiert, dass ihre kirchlichen Praktiken als „politisch irrelevant“, weil gesamtgesellschaftlich unrealistisch bzw. utopisch abgelehnt werden? Sicherlich wird man die Replik auf R. Niebuhrs „Platzanweisung“ durch S. Hauerwas und W.H. Willimon: „The Anabaptist did not withdraw. They were driven out“,61 als historisch zu undifferenziert beurteilen müssen. Die separatistische Tendenz zum Sichabsondern (secare), zum Rückzug aus der Gesellschaft war – wie bereits anklang – als praktischer Reflex auf eine streng dualistische, gewissermaßen freikirchliche Variante einer missverstandenen Zwei-ReicheLehre und zugleich als theoriebildender Anstoß zu derselben historisch keineswegs irreal; ebenso wenig wie die grausame, insbesondere im europäischen Kontext bisweilen an Vernichtung grenzende Verfolgung der Täufer und späteren Historischen Friedenskirchen. Gleichwohl stellt sich die hier auf das Schärfste zugespitzte Frage, ob R. Niebuhr nach der Jahrhunderte langen physischen Verfolgung und Zwangsghettoisierung der Historischen Friedenskirchen nun nicht den Versuch unternimmt, sie in Fortführung dessen auch „geistig“ zu ghettoisieren. Man mag dies aufgrund des „nichtphysischen Charakters“ der Ausweisung immerhin als „historischen Fortschritt“ beurteilen. Man wird aber im Hören auf das biblische Zeugnis von der „Fremdlingschaft“62 der Kirche in der Welt und im kontextsensiblen 60 Vgl. A. RASMUSSON, The Church as Polis. From Political Theology to Theological Politics as Exemplified by Jürgen Moltmann and Stanley Hauerwas, Notre Dame (Indiana) 1995, 210ff. und S. HAUERWAS, In Good Company. The Church as Polis, Notre Dame (Indiana) 1995. 61 S. HAUERWAS / W.H. WILLIMON, Resident Aliens. Life in the Christian Colony, Nashville (Tennessee) 1989, 42. 62 Vgl. E. BUSCH, Fremdlingschaft. Selbstbesinnung der Kirche am Ende ihrer anerkannten Weltgeltung, in: DERS., Verbindlich von Gott reden. Gemeindevorträge, Neukirchen-Vluyn / Wuppertal 2002, 183–192. Vgl. dazu auch die exegetischen Studien: R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der Antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992 und T. SÖDING, Ein Haus des Geistes in der Fremde. Die Berufung der Kirche nach

286

IX. Platzanweisung

Wahrnehmen der sich zuspitzenden spät- oder postmodernen Diasporasituation von Christinnen und Christen in der Gesellschaft ins Nachdenken kommen: Rücken nicht in einer Situation, in der die „Großkirchen“ zu Minoritäten werden, die „Großkirchen“ an die Seite der Historischen Friedenskirchen am Rande der Gesellschaft? Die Grenzen zwischen kirchlichem „Hineingeborensein“ in eine „obligatorische“ Zugehörigkeit und sektiererischem „freiwilligen Entscheiden“ einiger religiös-ethisch Qualifizierter verschwimmen.63 Individuen müssen ihre sozialen Rollen selbst aussuchen. Und der Zwang zur Wahl schließt auch den religiösen Sektor ein.64 „Kirchen“ werden in Bezug auf das Freiwilligkeitsprinzip soziologisch gesprochen zu „Sekten“. Wenn dem so ist, muss Niebuhrs „Platzanweisung“ dann, anstatt kritisiert, nicht vielmehr mit der Forderung nach einer „Universalisierung der Sektenperspektive“ im Sinne einer „gesamtkirchlichen Platzanweisung“ begrüßt werden? Würde man Niebuhrs „Platzanweisung“ auf diese Art tatsächlich begrüßen, so würde man in Wahrheit jedoch nicht im Sinne Niebuhrs optieren. Seine „Platzanweisung“ beschwört nämlich im Gefolge von E. Troeltsch den Antagonismus zwischen kirchlicher Weltbejahung und sektiererischer Weltablehnung,65 der gerade einer Lokalisierung der „Großkirchen“ bzw. des „mainline Protestantism“ am Rande der Gesellschaft widerspricht. Wenn Niebuhr auch – anders als E. Troeltsch – nicht von dem Kontrast zwischen der sozialen Macht der „Großkirchen“ bzw. des „mainline Protestantism“ (im nordamerikanischen Kontext) und der sozialen Ohnmacht der Historischen Friedenskirchen spricht,66 sondern diesen eine wenngleich stark konditionierte Form von gesellschaftlicher (Orientierungs-)Macht gewähren will, so kennzeichnet seine „Platzanweisung“ jedoch jene Ambivalenz, die die friedenskirchlichen Einflussmöglichkeiten einräumen und zugleich begrenzen möchte, weil er abgesehen vom pragmatisch-politischen Weg der Gewalteindämmung durch Herstellung eines Gleichgewichts keinen alternativen Weg zur Bändigung von Krieg und Gedem Ersten Petrusbrief, in: DERS. (Hg.), Zukunft der Kirche – Kirche der Zukunft: Christen in der modernen Diaspora, Hildesheim 1994, 31–57. 63 Vgl. M. WEBER, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: 2 DERS., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. 1, Tübingen 1922, (207– 236) 211. 64 Vgl. P.L. BERGER, Der Zwang zur Häresie. Religion in einer pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980. 65 Vgl. E. TROELTSCH, Soziallehren, 362f.; 371–374 und dazu A.L. MOLENDIJK, Zwischen Theologie und Soziologie. Ernst Troeltschs Typen der christlichen Gemeinschaftsbildung: Kirche, Sekte, Mystik, Troeltsch-Studien 9, Gütersloh 1996, 51f. und vor allem A. RASMUSSON, Historicizing the Historicist: Ernst Troeltsch and Recent Mennonite Theology, in: S. HAUERWAS u.a. (Hg.), Wisdom, 213–248. 66 Vgl. E. TROELTSCH, Soziallehren, 973ff.

8. Abschließende Beurteilung von Niebuhrs Umgang

287

walt sieht und letztlich nur solchen Kräften Einfluss gewähren möchte, die dem Kompromiss mit der Sünde zuträglich sind. Gegenwärtig wird im Blick auf den von Niebuhr geforderten Kompromiss sowie den von ihm erneut beschworenen Antagonismus zwischen kirchlicher Weltbejahung und sektiererischer Weltablehnung zu Recht angefragt, ob er nicht insofern in die Irre führe, als dass er auf der Prämisse einer relativ einheitlichen Kulturwelt basiere, die die Pluralität, Komplexität und Heterogenität der Kulturwelten als Pluraletantum verkenne.67 Auch manifestiert sich bisweilen der Eindruck, „daß sich heute, unter den Bedingungen der funktionalen Differenzierung eigendynamischer gesellschaftlicher Teilsysteme, die ohne eine unifizierende Instanz und ohne symbolische Repräsentation der Totalität operieren, der Kompromiß kaum lohnen wird. Der Ertrag an sozialem Einfluß, der durch Kompromiß gewonnen wird, scheint viel zu gering. Die einzelnen Teilbereiche widersetzen sich der Steuerung durch die auf das Ganze bezogenen Werte, da es zu gegenseitigen Behinderungen kommt“.68

Im Bereich der Historischen Friedenskirchen würde diese funktionale Denkungsart, die nach dem Ertrag an sozialem Einfluss, nach gesellschaftlichem Prestige und nach Macht fragt, sicherlich als genuin „konstantinisch“ erscheinen. Die sog. „Großkirchen“ werden am Ende ihrer „anerkannten Weltgeltung“69 gerade dies von den Historischen Friedenskirchen zu lernen haben, dass ihre Rolle in der Gesellschaft nicht die einer religiösen Legitimations- und Betreuungsinstanz ist, die um des scheinbaren Erhalts ihrer eigenen Machtsphäre und Einflussmöglichkeiten willen ihre Seele verkauft, indem sie beliebige gesellschaftliche Zustände sanktioniert und um ihrer gesellschaftlichen Anpassungsfähigkeit willen die kritische Differenz zwischen Kirche und Welt preisgibt. Die Angst vor Fremdlingschaft, die Christeninnen und Christen oftmals daran hindert, der Welt den Frieden Gottes deutlicher und kompromissloser als bislang zu bezeugen, kann nur im gemeinsamen Hören auf Gottes Wort und im immer wieder neuen Fragen nach seinem Gebot überwunden werden: Wir sind „Gäste und Fremdlinge auf Erden“ (Hebr 11,13).

67

Vgl. M. VOLF, Christliche Identität und Differenz. Zur Eigenart der christlichen Präsenz in den modernen Gesellschaften, ZThK 92 (1995), (357–375) 360. 68 A.a.O., 360f. 69 K. BARTH, KD IV/4, 185. Vgl. dazu E. BUSCH, Die Kirche am Ende ihrer Weltgeltung. Zur Deutung der Ekklesiologie Karl Barths, in: D. JESCHKE u.a. (Hg.), Das Wort, das in Erstaunen setzt, verpflichtet. Dankesgabe für Jürgen Fangmeier, Wuppertal/Zürich 1994, 83–97.

X. De munere prophetico Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos vor der Aufklärung (von Zwingli bis Lampe) 1. Einleitung Die Rede vom prophetischen Amt der Kirche ist umstritten. Die einen beklagen ein Verschwinden von Prophetie und prophetischer Predigt in der Kirche und konstatieren im Blick auf verstorbene prophetische Gestalten wie etwa Leonhard Ragaz, Karl Barth oder Martin Niemöller mit der syrischen Baruchapokalypse (85,3) wehmütig:1 „Jetzt aber sind die Gerechten [zu ihren Vätern] versammelt, und die Propheten haben sich schlafen gelegt.“2 Andere schätzen dieses Verstummen eher. Im Sinne einer großen Versuchung für Theologie und Kirche interpretiert etwa der Bonner Sozialethiker Martin Honecker die Rede vom prophetischen Mandat als Kennzeichen evangelischer Ethik.3 Wenn ein Mandat ethischer Weisung für die Kirche beansprucht werde und man dieses Mandat mit dem dreifachen Amt Christi, der Königsherrschaft Christi oder dem prophetischen Amt begründe, so spiele man mit dem Feuer: „Das prophetische Amt der Kirche wird leicht zum Einfallstor ideologischer Ansprüche.“4 Ja, wer das Christusbekenntnis mit Hilfe einer prophetischen Zeitdeutung in Gestalt einzelner ethischer und politischer Forderungen und Postulate konkretisieren wolle, der erläge der Versuchung. 1

H.-J. Kraus etwa bezeichnet den weithin zu verzeichnenden Ausfall des Prophetischen als einen „gefährlichen Notstand“ der Kirche. H.-J. KRAUS, Prophetie heute! Die Aktualität biblischer Prophetie in der Verkündigung der Kirche, NeukirchenVluyn 1986, 7. Vgl. auch E. KÄSEMANN, Prophetische Aufgabe und Volkskirche, in: DERS., In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners, hg. von R. LANDAU in Zusammenarbeit mit W. KRAUS, Tübingen 2005, 287–301; R.R. RUETHER, Religion and Society. Sacred Canopy vs. Prophetic Critique, in: M.H. ELLIS / O. MADURO (Hg.), The Future of Liberation Theology. Essays in Honor of Gustavo Gutiérrez, New York 1989, (172–176) 173. 2 F.W. Graf spricht in diesem Zusammenhang polemisch von den „Heiligenlegenden des ‚politischen Linksprotestantismus‘“ (F.W. GRAF, Vom Munus Propheticum Christi zum prophetischen Wächteramt der Kirche? Erwägungen zum Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie, ZEE 32 [1988], [88–106] 95). 3 Vgl. M. HONECKER, Autonomie und Prophetie, in: DERS., Wege evangelischer Ethik. Position und Kontexte, SThE 96, Freiburg / CH u.a. 2002, 114–131. 4 M. HONECKER, Grundriß der Sozialethik, Berlin / New York 1995, 29.

1. Einleitung

289

Namentlich der „Verlust der Autonomie und Rationalität ethischer Verantwortung“5 drohe der evangelischen Theologie mit der Berufung auf ein prophetisches Mandat der Kirche. Mit dem Verweis auf dieses begründe man in problematischer Weise „das Recht zu autoritativen Weisungen und zu prophetischer Forderung“.6 Ethisches Urteilen dürfe sich jedoch nicht von prophetischer Zeitdeutung abhängig machen.7 Als die für die problematische Rede vom prophetischen Amt der Kirche Hauptschuldigen nennt Honecker Karl Barth mit seiner Wiederentdeckung des prophetischen Amtes im 20. Jahrhundert8 und Dietrich Bonhoeffers Ethik. Die Wurzel dieses verfehlten Denkens sei jedoch bei Johannes Calvin und seiner Lehre vom dreifachen Amt Christi zu suchen.9 Ähnlich – auch in der Schuldzuweisung10 – lautet der Einspruch gegen die Rede vom prophetischen Auftrag der Kirche, den der Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf formuliert hat: „So wenig man mit Propheten über ihr Mandat verhandeln kann, so wenig läßt sich über das prophetische Wächterhandeln der Kirche ein Diskurs führen, der nicht von den eigenen autoritativen Vorgaben des Propheten beherrscht wird.“11 Schärfer noch als Honecker wendet sich Graf gegen die Rede vom prophetischen Wächteramt der Kirche und deren implizite Programmatik, die einen „ethische[n] Autoritäts- und Avantgardeanspruch gegenüber der Gesellschaft geltend“12 mache,

5 6 7

M. HONECKER, Autonomie, 115. A.a.O., 123. Vgl. a.a.O., 128f. Ähnlich entschieden urteilt der Wiener Sozialethiker U.H.J. Körtner: „Prophetie ist kein Gegenstand der Ethik oder eine Forderung an unser Handeln, sondern eine göttliche Verheißung, die es heute als Gegenstand christlicher Hoffnung in Erinnerung zu rufen gilt.“ U.H.J. KÖRTNER, Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Zur Lehre vom Heiligen Geist und der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1999, 88. „Problematisch aber ist es, die theologische Erörterung der Prophetie aus dem Bereich der Pneumatologie und Ekklesiologie in die Ethik zu verlagern. Dies geschieht bei Barth“ (a.a.O., 87). 8 Vgl. dazu A. SILLER, Kirche für die Welt: Karl Barths Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi in ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Welt unter den Bedingungen der Moderne, Zürich 2009; M. WEINRICH, Das prophetische Amt Jesu Christi und der Dienst der Gemeinde in der Welt. Skizzen zu Karl Barths Theologie der Geistes-Gegenwart, in: DERS., Kirche glauben. Evangelische Annäherungen an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998, 114–132. 9 So M. HONECKER, Grundriß, 27f.; Autonomie, 124. 10 Graf zufolge avancierte das prophetische Wächteramt der Kirche im Umkreis der Theologie K. Barths „zum Leitbegriff einer ethischen Prärogative der Kirche gegenüber der säkularen Kultur“. F.W. GRAF, Munus, 96. Dort z.T. kursiv. Vgl. auch a.a.O., 98f. 11 A.a.O., 98. 12 A.a.O., 88.

290

X. De munere prophetico

welcher wiederum aus einer antiliberalistischen Denkungsart resultiere.13 Die programmatische Haltung, die sich hinter dieser Rede verberge, sei die des Wächters hoch oben auf der Zinne, der sich gegenüber „jenen Niederungen der gesellschaftlichen Realität, in denen wir armen Durchschnittsmenschen uns tummeln müssen“,14 erhaben und unendlich überlegen dünke. Anders als für die reformierte Tradition, die ein veritabler „Heiligungsaktivismus“15 kennzeichne, gelte nach lutherischer Ekklesiologie: „Ein prophetisches Wächteramt der Kirche entbehrt theologischer Legitimität.“16 Graf weist allerdings, was die konfessionelle Zuweisung der „Schuld“ betrifft, darauf hin, dass auch im konservativen Neuluthertum bei Paul Althaus, Julius Kaftan und Helmut Thielicke die Vorstellung vom Wächteramt nachweisbar sei, diese mithin im 20. Jahrhundert „kein Spezifikum reformierter Theologie“17 mehr darstelle. Im Blick auf die Genese des strittigen Lehrstücks hält aber auch Graf fest: Calvin hat mit seiner Drei-Ämter-Lehre nicht nur implizit auch die Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi systematisch ausgeformt und damit zu einem „tragenden Prinzip seiner Christologie“18 gemacht, sondern dieses Prinzip auch auf die Ekklesiologie übertragen. Anhand des Leitgedankens, dass die Kirche das prophetische Amt Christi fortführe, würden Christologie und Ekklesiologie bei Calvin miteinander kurzgeschlossen. Die Überzeugung, dass jeder einzelne Christ ein Repräsentant der Amtstätigkeit Christi sei, habe sich als frömmigkeits- und politikgeschichtlich höchst folgenreich erwiesen.19 Beide, Honecker und Graf, rechnen die Lehre vom prophetischen Amt zu den theologiegeschichtlichen Kalamitäten reformierter Provenienz. Auf sie habe sich der Protestprotestantismus der 1980er Jahre bezeichnender Weise berufen.

13

Das sich postautoritär und individualitätsoffen gerierende Pathos Grafs, das insbesondere in seinen jüngsten Publikationen für viel Wirbel sorgt, ist bereits hier deutlich vernehmbar, wenngleich es noch etwas weniger aggressiv daherkommt. Vgl. F.W. GRAF, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011. 14 F.W. GRAF, Munus, 97. 15 A.a.O., 89. 16 Ebd. Dort kursiv. 17 A.a.O., 95. 18 A.a.O., 89. 19 Dies gelte auch, insofern diese Überzeugung der „christologische Ursprungsort jener egalitär-demokratischen und politisch-aktivistischen Grundhaltung“ sei, „wie sie für den reformierten Protestantismus bis in die unmittelbare Gegenwart hinein kennzeichnend und für die moderne politische Kultur Westeuropas so folgenreich geworden ist“. A.a.O., 91. Dort z.T. kursiv.

1. Einleitung

291

Mag auch die einst mächtige Formation eines solchen Protestprotestantismus längst zu den theologiegeschichtlichen Relikten der Vergangenheit gehören, so liegt doch angesichts des fundamentalen Einwandes von Honecker und Graf die Notwendigkeit einer vertieften Auseinandersetzung auf der Hand. Freilich kann es hier nicht darum gehen, die „Möglichkeiten einer Rückführung der Ethik auf das ‚munus triplex‘ Christi kritisch zu überprüfen“,20 wie dies Honecker grundsätzlich sicherlich nicht zu Unrecht gefordert hat. Ein solch umfangreiches, aber lohnendes Unterfangen würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Ihr Anspruch ist ungleich bescheidener. Es soll hier nach der theologiegeschichtlichen Entwicklung der Lehre vom prophetischen Amt der Kirche in der reformierten Tradition gefragt und diese anhand ausgewählter Positionen rekonstruiert werden. Dabei wird die Frage nach Kontinuität und Veränderung im Blick auf die materiale Ausgestaltung und Beschreibung des prophetischen Amtes im Zentrum des Interesses stehen. Ein solches Vorgehen kann sich nämlich in methodischer Hinsicht nur exemplarisch, ja stichprobenartig vollziehen. Dabei spielt die Frage nach dem Verhältnis des munus propheticum Christi zum prophetischen Amt der Kirche natürlich eine zentrale Rolle. Es stellt sich die erkenntnisleitende Frage, ob die Entwicklung „vom altreformierten munus propheticum Christi zum modernen prophetischen Wächteramt der Kirche“ wirklich so verlief, wie dies Graf behauptet hat, der sie als „Ausdruck einer spezifisch neuzeitlichen Funktionalisierung christologischer Vorstellungen für eine unmittelbare Stärkung der Handlungskompetenz der Kirche“21 interpretiert. Die vorgelegte diachrone Untersuchung kann und will in der Verfolgung dieser Fragestellung dabei nicht die gesamte ideengeschichtliche Entwicklung bis zur Gegenwart darstellen, sondern beschränkt sich auf die Zeit von der Reformation bis zur Aufklärung bzw. der sog. „Lessingzeit“ (Karl Aner),22 also bis zu jener Zeit, als Theologen des 18. Jahrhunderts, wie der Helmstedter Rationalist Heinrich 20 21 22

M. HONECKER, Autonomie, 124. F.W. GRAF, Munus, 99. Zur weiteren Entwicklung im Rahmen der Drei-Ämter-Lehre vgl. K. BARTH, KD IV/3, 12–40; K. BORNKAMM, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, BHTh 106, Tübingen 1998; M. FREUDENBERG, Das dreifache Amt Christi – eine „längst ausgepfiffene Satzung der Schultheologen“ (H.Ph.K. Henke)? Zum munus triplex in der reformierten Theologie und seiner Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, 71–96; E.F.K. MÜLLER, Art. Jesu Christi dreifaches Amt, RE3 8 (1900), 733– 741; L. SCHICK, Das Dreifache Amt Christi und der Kirche, EHS XXIII/171, Frankfurt a.M. / Bern 1982.

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X. De munere prophetico

Philipp Konrad Henke oder der Lutheraner Johann August Ernesti23, mit der Lehre vom munus triplex, als einer „längst ausgepfiffene[n] Satzung der Schultheologen“24, auch die Lehre vom prophetischen Amt der Kirche verabschieden wollten. Mit der beginnenden Neologie wurden auch die einzelnen Ämter innerhalb der Trilogie der Ämter mehr oder weniger in eine Imitations-Christologie aufgelöst. Im 19. Jahrhundert wendeten sich ihr dann wieder etwa Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher25 und August Ebrard26 zu, aber auch verschiedene katholische Dogmatiker,27 bevor sie schließlich im 20. Jahrhundert, etwa bei Barth, aber auch im ökumenischen Gespräch,28 neue Blüten trieb. 2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition Die dargestellte Kritik Grafs und Honeckers an der Rede vom prophetischen Amt der Kirche basiert auf der theologiegeschichtlichen Rückführung derselben auf Calvins Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi. Sie wird zugleich mit dem Hinweis versehen, dass Martin Luther – aus gutem Grund und anders als Calvin – nur das munus duplex des Priesters und Königs kenne.29 Graf sieht ihren Ursprung bei Calvin, von dem sie in der Orthodoxie von reformierter und lutherischer, im 19. Jahrhundert dann auch von katholischer Seite cum grano salis übernommen worden sei. Zugleich erweitert Graf diese These, indem er behauptet, dass „die Vorstellung vom ethischen Wächteramt der Kirche […] sich aus der dogmatischen Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi“30 entwickelte. Er bewertet dies als „Ethisierung eines ursprünglich rein dogmatischen Vorstellungsge-

23 24

Vgl. zu Ernestis Kritik K. BORNKAMM, Christus, 342–350. H.P.K. HENKE, Beurtheilung aller Schriften welche durch das Königlich preußische Religionsedikt und durch andre damit zusammenhängende Religionsverfügungen veranlasst wird, (Nachdruck Königstein 1978) Kiel 1793, 465. 25 F.D.E. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von M. REDEKER, Berlin 71960, 108–118 (§ 103). Vgl. dazu K. BORNKAMM, Christus, 350–363; J. RIEGER, Christus und das Imperium. Von Paulus bis zum Postkolonialismus, übers. von S. PLONZ, Theologie. Forschung und Wissenschaft 26, Münster 2009, 150–185. 26 J.H.A. EBRARD, Christliche Dogmatik, Bd. 2, Königstein 21863, 154–161; 180– 187; 252–255. 27 Vgl. L. SCHICK, Amt, 119–146. 28 Vgl. M. FREUDENBERG, Amt, 87–95. 29 So etwa M. HONECKER, Grundriß, 27; K. BORNKAMM, Die reformatorische Lehre vom Amt Christi und ihre Umformung durch Karl Barth, ZThK Beiheft 6 (1986), 1–32. 30 F.W. GRAF, Munus, 88. Hervorhebung im Original.

2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition

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haltes“,31 in der sich der Wandel der Rolle der Kirche im Prozess moderner gesellschaftlicher Differenzierung reflektiere. Um meine These gleich vorweg zu nehmen: Grafs Rekonstruktionsversuch behauptet eine chronologische Reihenfolge in der ideengeschichtlichen Entwicklung des strittigen Lehrstücks, die sich bei näherem Hinsehen als verkürzt erweist. Seine Rekonstruktion krankt m.E. theologiegeschichtlich vor allem daran, dass sie die von Zwingli und Bullinger geprägte Zürcher Tradition vollkommen ausblendet und den reformierten Protestantismus gleichsam auf Calvin und seine Wirkungsgeschichte, also den sog. „Calvinismus“32, beschränkt, damit aber verkürzt. 2.1 Huldrych Zwingli: „Der Hirt“ (1523) Es ist seit längerem bekannt, dass nicht nur die Kirche der Reformation im Allgemeinen,33 sondern insbesondere die Zürcher Tradition „den Prophetismus neu entdeckt [hat], und zwar sowohl die Propheten des Alten Testaments als auch ihren eigenen prophetischen Charakter“.34 Diese Renaissance des Prophetischen findet ihren sinnbildlichen Ausdruck in der Zürcher „Prophezei“. Diese auf Huldrych Zwingli (1484–1531) zurückgehende und gemäß seinem Verständnis von 1Kor 14,29 eingerichtete,35 sowie von seinem Nachfolger Heinrich Bullinger (1504–1575) weitergeführte Institution steht für ein Programm der gemeinsamen fortlaufenden Bibelauslegung, einer „Synthese von Vorlesung, Seminar und Gespräch“:36 „Am 19.6.1525 begann im Chor des Großmünsters der Betrieb des neuartigen Bildungsinstituts, das aus einer morgendlichen kursorischen Auslegung des AT und einem anschließenden öffentlichen Gottesdienstes in der Volkssprache bestand. Nachmittags wurde im Fraumünster das NT ebenfalls kursorisch ausgelegt und gepredigt.“37 31 32

Ebd. Zur Problematik dieses Begriffs vgl. E. BUSCH, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 12f. 33 Vgl. G.W. LOCHER, Prophetie in der Reformation. Elemente, Argumente und Bewegung, in: T. RENDTORFF (Hg.), Charisma und Institution, VWGTh 4, Gütersloh 1985, (102–109) 107: „Die ganze Reformation selbst ist ein prophetisches Phänomen.“ 34 A.a.O., 102. 35 Vgl. ZwS III, 219f. ZwS = Huldrych Zwingli Schriften Bde. I–IV, hg. von T. BRUNNSCHWEILER / S. LUTZ, Zürich 1995. 36 G.W. LOCHER, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979, 625. 37 E. CAMPI, Art. Prophezei, RGG4 6 (2003), 1716. U. Gäbler schildert das methodische Vorgehen im Großmünster zur Zeit Zwinglis wie folgt: „Üblicherweise begann nach einem Eröffnungsgebet […] der Hebräischdozent mit einer Erläuterung des

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X. De munere prophetico

Zwingli war nicht nur „von seinen reformatorischen Anfängen an zeitlebens in einer ganz strengen, ausschließlichen und leidenschaftlichen Weise Bibeltheologe und Prediger“,38 sondern er besaß zweifellos ein prophetisches Selbstverständnis. Fritz Büsser hebt hervor: „[N]icht nur Zwingli selber, sondern auch seine Zeitgenossen – Freunde wie Feinde – [verstanden] sein Wirken als prophetisch: Zwingli war Künder von Gottes Willen.“39 In der Tat verstand Zwingli seinen Auftrag, aber auch den des Pfarrers allgemein als genuin prophetischen Auftrag.40 In seinem Traktat „Der Hirt“, der im Jahr 1523 anlässlich der für die Schweizer Reformation entscheidenden zweiten Zürcher Disputation entstand, wo über die Bilderabschaffung und die Messreform disputiert wurde und Zwingli anschließend von zahlreichen teilnehmenden Pfarrern um eine evangelische Dienstanweisung gebeten wurde,41 entfaltet er sein pastorales Amtsverständnis bzw. Pfarrerbild. Er rekurriert in diesem Zusammenhang bezeichnender Weise immer wieder auf den Begriff des Propheten als Interpretament des Hirtenbegriffs. Pointiert gesprochen lässt sich im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen festhalten, dass Zwingli die pastorale Existenz als prophetische Existenz interpretiert. Zwingli bezeichnet etwa die Kanzel als die „für den Propheten bestimmte[ ] Stätte“.42 Bereits zu Beginn seiner Schrift „Der Hirt“ stellt er klar, dass wir den Hirt „auch Bischof, Pfarrer, Leutpriester, Prophet, Evangelist oder Prädikant nennen“43 können. Eine weitere begriffliche Variation besteht in Zwinglis Gebrauch des Begriffs „Wächter“, den er als Beschreibung einer spezifischen Funktion des Pfarrers (und nicht etwa nur des Bischofs) verwendet und weitgehend synonym mit dem Begriff des Propheten gebraucht.44 So kann Zwingli die Wortverkündigung auch als „proUrtextes, hierauf legte Zwingli den Abschnitt aufgrund der Septuaginta lateinisch aus, worauf schließlich durch einen Prädikanten, meistens Leo Jud, eine Ansprache in deutscher Sprache folgte. Mit ihr wurde das durch die Gelehrten Dargelegte für das Volk verständlich gemacht.“ U. GÄBLER, Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und Werk, Zürich 32004, 93. 38 B. HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, 27. 39 F. BÜSSER, Huldrych Zwingli. Reformation als prophetischer Auftrag, Persönlichkeit und Geschichte 74/75, Göttingen u.a. 1973, 7f. Hervorhebung im Original. 40 So auch H. SCHOLL, Seelsorge und Politik bei Ulrich Zwingli, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, (11–31) 30. 41 Zum historischen Hintergrund vgl. H. SCHOLL, Pfarramt und Pfarrbild bei Ulrich Zwingli, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, (33–71) 37f. 42 ZWINGLI, ZwS III, 220. 43 ZWINGLI, ZwS I, 255. 44 ZWINGLI, ZwS II, 330f. Vgl. a.a.O., 349; 361; ZwS I, 249.

2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition

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phetia“45 bezeichnen und synonym vom „Amt der Prophetie oder der Verkündigung“ sprechen, das „von allen Ämtern das notwendigste“46 sei. Nach Zwingli gehört elementar und wesentlich zur Aufgabe des Pfarrers die unerschrockene Wahrnehmung eines Wächteramtes gegenüber der Obrigkeit in Gestalt der politischen Predigt: „Die Großen dieser Welt sind gerne bereit, die Predigt der Wahrheit zu dulden, so lange man ihre Willkürherrschaft nicht an den Pranger stellt, und sie nichts dabei verlieren. Der Hirt aber lernt hier ein anderes, nämlich den König, den Regenten nicht zu schonen und zu sagen: ‚Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen‘ (Apg 5,29).“47 Entsprechend schonungslos agiert Zwingli und eben so fällt auch seine Beurteilung der aktuellen Situation aus: „Heute, wo Redlichkeit und Recht, Jungfräulichkeit, Treu und Glauben mutwillig ruiniert werden, wo bei einem Großteil der Fürsten all das ins Kraut schießt, wofür die ‚Zöllner‘ bei den alten Römern verrufen waren: dieses schamlose Nehmen, Rauben, Wuchern, Schieben, Münzverschlechtern.“48 Die Vorwürfe, die Zwingli gegenüber einer Majorität der Obrigkeit erhebt, sind massiv: „Du siehst auch, o treuer Diener Gottes, wie die Mehrzahl der Mächtigen, die das Schwert führen, das Recht mehr aus Habsucht, Eigenmächtigkeit, Vermessenheit, Überheblichkeit und Kitzel als aus Liebe oder Furcht Gottes handhaben – wenn man es als Recht überhaupt bezeichnen kann. Denn gegen die Untertanen ist es nichts als Verängstigen, Strafen, Pressen und Plündern, Hochschrauben der Zinsen und unrechtmäßiges Betreiben, gegen die Fremden aber ein Kriegen, Rauben, Befehden, und unter sich gerade ein Saufen, Spielen, Huren, Lästern, Tanzen. Sieh, so traurig steht es um die da oben, du treuer Hirt! Darum denke ernsthaft darüber nach, wie ihm abzuhelfen sei. Denn, wie gesagt: redest du nicht, so bist du selber für das Blut der Umgekommenen verantwortlich (vgl. Ez 3,18), redest du aber, so fällst du ihnen in die Hände.“49

Die mit heftiger Sozialkritik einhergehende Herrschaftskritik Zwinglis ist bemerkenswert. Hans Scholl bemerkt dazu nicht ohne Verweis auf den „überzeitlichen Charakter“50 von Zwinglis Ausführungen, also deren bleibende Gültigkeit und Aktualität: 45

Vgl. E. SAXER, Huldrych Zwingli. Ausgewählte Schriften. In neuhochdeutscher Wiedergabe mit einer historisch-biographischen Einführung, GKTG 1, NeukirchenVluyn 1988, 157. 46 ZWINGLI, ZwS IV, 125. 47 ZWINGLI, ZwS I, 271. 48 A.a.O., 270. 49 A.a.O., 266f. 50 H. SCHOLL, Pfarramt, 67.

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„Der Seelsorger verfehlt sein Amt, wenn sein Lehren, seine Schriftauslegung, nicht diese aktuelle herrschaftskritische Dimension aufweist. Die Armut, die ja der Seelsorge besonders empfohlen ist, ist kein Naturzustand, sie ist vielmehr Produkt und Resultat bestimmter Besitz- und Herrschaftsverhältnisse. Wo der Seelsorger diesen politischen Schritt der Herrschaftskritik nicht tut, da zementiert seine fromme Seelsorge die herrschende Ungerechtigkeit, und wandelt sich sein Hirtentum in Wolfsart und Verrat am Volk.“51

Dagegen wendet sich Zwingli entschieden, indem er betont, „daß der Hirt auch dem König, Fürsten oder Oberen nichts durchgehen lassen darf, sondern jedem seinen Irrtum anzeigen soll, sobald er sieht, daß jener vom Weg abkommt“.52 Die kritische, anklagende und überführende Funktion des prophetischen Amtes, welches Unrecht, Treulosigkeit und Götzendienst öffentlich beim Namen nennt, statt sie aus Furcht, Opportunismus oder sonstigen Motiven „großzügig“ zu übergehen, wird hier greifbar: „Denn wie der Prophet der Diener der himmlischen Weisheit und Güte ist, so daß er, der getreulich lehrt, auch die Irrtümer ans Licht bringt, so ist die Obrigkeit die Dienerin der Güte und Gerechtigkeit.“53 Die Propheten sollen das latente wie manifeste Unrecht, wie es sich in morbiden gesellschaftlichen Verhältnissen zeigt, nicht verschweigen: „Denn verschweigen sie es, so geschieht es entweder, weil sie von der Räuberei profitieren, oder aber auf dieselbe Weise an einem anderen Ort Unrecht tun. […] Nun sollen aber die Propheten gegen alle Gottlosigkeit aufstehen und das Gottesvolk befreien – oder es werden die umgekommenen Schafe von ihnen zurück gefordert. Seht nach Micha 3 und 7 und Amos 8, ja durchs Band bei allen Propheten, ob sie nicht wegen solcher Ausbeutungen und Bestechungen laut aufgeschrieen haben.“54

Der prophetische Gebrauch, den Zwingli hier von biblischen Texten macht, hat anklagenden und überführenden Charakter: Der usus propheticus ist bei Zwingli ein usus elenchticus. Wenn man so will, empfiehlt und praktiziert Zwingli gleichzeitig einen usus elenchticus prophetae. Mit seiner Anklage nimmt der Hirt nach Zwingli gleichermaßen eine Schutzfunktion gegenüber seinen Schafen wie einen Dienst gegenüber den Angeklagten wahr, die er – um sie zurecht zu bringen – auf ihre eigentlichen Aufgabe hinweist und sie bei ihr behaftet: „Genauso soll auch ein Hirt hervortreten und die Schafe beschützen, wenn die Tyrannen ihre Untertanen so gegen alles göttliche und menschliche Recht und gegen alle Gewohnheit unterdrücken. Denn 51 52 53 54

H. SCHOLL, Seelsorge, 18. ZWINGLI, ZwS I, 271. ZWINGLI, ZwS IV, 127. ZWINGLI, ZwS I, 391f.

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die Regenten sollen Wohltäter sein, nicht Mißhandler, nicht Schinder und Ausbeuter (vgl. Lk 22,25).“55 Das Pfarrerbild, welches Zwingli zeichnet, ist zweifellos markant: „der Pfarrer als Wächter des göttlichen Rechts in Staat und Gesellschaft […], der Künder und Wächter des göttlichen Willens in dem durch die Stadt geprägten und strukturierten Sozialkörper des Spätmittelalters.“56 Anders gesagt: „Zwinglis Hirte ist nicht der politische Macher, sondern der gehorsame Wächter im prophetischen Amt der Kirche.“57 Dieser Gehorsam ist nach Zwingli als Kreuzesgehorsam zu verstehen. Der Hirtendienst schließt nämlich die tolerantia crucis ein, „etwas also, wonach sich der natürliche Mensch gewiss nicht sehnt, vielmehr findet er täglich zahllose Menschen, die sich selbst nicht verleugnen“.58 Dabei geht es wohlgemerkt um die Übernahme des Kreuzes Christi und das Resultat der streng auf ihn bezogenen Nachfolge. Ja, das Wirken im prophetischen Amt geschieht als christuszentrierte Nachfolge „in ständiger Reichweite des Martyriums“:59 „Daher soll man lieber den Tod erleiden als etwas gegen Gottes Wort tun, denn nichts ist Gott angenehmer, als wenn man auf ihn hört und sich vom Ermessen keines anderen beirren lässt.“60 Auf Gottes Wort zu hören, bedeutet nach Zwingli, „daß wir das Wort nicht verschweigen, sondern damit an die Öffentlichkeit treten sollen, ohne Furcht vor denen, die uns schaden können“.61 Furcht ist nicht angezeigt, jedoch nicht aus frommer Einfalt oder einer naiven Sorglosigkeit heraus, die das Sanktionspotential der Herrschenden unterschätzt, sondern die Furchtlosigkeit gründet im weltüberwindenden Sieg Christi: „Darin jedoch steckt unsere feste Gewißheit: daß er der Besieger der Welt ist.“62 In dieser Gewissheit besteht die Pointe von Zwinglis berühmtem Diktum: „‚Nicht fürchten!‘ ist der Harnisch!“63 Mit anderen Worten: „Dieser Satz singt also nicht das Lied des braven furchtlosen Mannes, sondern er markiert in Zwinglis Pfarrerbild die Extra-Dimension der Reformation. Der Harnisch des Hirten in seinem ungleichen Kampf mit den Grossen und Schranzen dieser Welt ist Christus, der die Welt überwunden hat.“64 Weil Christus der Besieger der Welt ist, deshalb soll es den Hirten „nicht kümmern, ob 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

A.a.O., 269. H. SCHOLL, Pfarramt, 65. A.a.O., 64. A.a.O., 58. A.a.O., 69. ZWINGLI, ZwS I, 273. Vgl. a.a.O., 283. A.a.O., 268. A.a.O., 282. Ebd. H. SCHOLL, Pfarramt, 64.

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er gegen Alexander den Großen und Julius [Cäsar], gegen Papst, König, Fürsten und Obrigkeiten zu reden hat“.65 Scholl hat Zwinglis Engagement, wie es in seiner politischen Predigt zum Ausdruck kommt, eingehend gewürdigt: „In früher Stunde der Reformation ist Zwingli der Analytiker der politischen Lage. Er weiß, daß der rechte Hirte nicht nur die kirchlichen und sozialen, sondern auch die politischen Zustände seiner Zeit aus den Angeln heben, oder wenigstens wirklich und unüberhörbar kritisieren muß, um der Glaubwürdigkeit seiner Arbeit, seiner Amtsführung willen. Umgekehrt gesagt, die Hirtenfratze des Eigennutzes ist der unpolitische Pfarrer, der mit der Anrede ‚ja keinen Aufruhr stiften‘ auf die nötige politische Herrschaftskritik verzichtet. […] Es ist nach Zwingli ein wesentliches Kennzeichen des falschen Hirten, daß er vor dem politischen Schritt der Herrschaftskritik zurückweicht und damit mit seinem pastoralen Tun Ungerechtigkeiten und ungerechte Strukturen zementiert und so den Hirtendienst in Wolfswesen verkehrt.“66

In der Tat dürfte im Blick auf die reformierte Reformation außer Frage stehen: „Der Prophet Zwingli war […] nicht bloß der zeitlich erste, sondern zugleich der bewußteste und konsequenteste Erneuerer.“67 Aber Zwingli verstand sich selbst im Besonderen und den Pfarrer im Allgemeinen mehr als nur einen sozialkritischen Prediger, mehr auch als einen Diener des bonum commune in der spätmittelalterlichen Gesellschaft.68 Er sah sich selbst und ihn als einen prophetischen Empfänger des Wortes Gottes, das zu hören und zu verkündigen ist. Das von Zwingli gezeichnete Profil des reformatorischen Pfarrers trägt nicht nur akzidentiell deutlich erkennbare prophetische Züge. Nein, der Pfarrer soll eine substantiell prophetische Existenz führen. Zwingli schreibt in Kapitel 10 der „Fidei Ratio“: „[Ich] glaube, daß das Amt der Propheten oder der Verkündigung unantastbar, ja daß es 65 66

ZWINGLI, ZwS I, 269. H. SCHOLL, Pfarramt, 55f. Vgl. auch a.a.O., 55: „Es ist bekanntlich ein Kennzeichen der Reformation Zwinglis, daß sie im sozialen Bereich anhebt und den Finger auf die Gemeinschaftswunden der Zeit legt. Darum kritisiert Zwingli am mittelalterlichen Hirten auch zuerst dessen soziale Unsensibilität.“ 67 F. BÜSSER, Zwingli, 114. Vgl. G.W. LOCHER, Prophetie, 105: „Zwingli war der Reformator mit dem bewußtesten und umfassendsten reformatorischen Willen, eben nicht nur in kirchlicher, sondern auch in politischer und sozialer Hinsicht. Seine Nähe zu Jesaja und Jeremia ist bekannt; aus seiner Tätigkeit an der ‚Prophezey‘ gingen ausführliche Kommentare zu den Büchern derselben hervor.“ Vgl. auch M. HAUSER, Prophet und Bischof. Huldrych Zwinglis Amtsverständnis im Rahmen der Zürcher Reformation, ÖBFZPhTh 21, Freiburg 1994. Zur Rezeption im religiösen Sozialismus vgl. T.K. KUHN, Reformator – Prophet – Patriot. Ulrich Zwingli und die nationale Besinnung der Schweiz bei Leonhard Ragaz, in: A. SCHINDLER / H. STICKELBERGER (Hg.), Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen, ZBRG 18, Bern/Berlin u.a. 2001, 471–482. 68 Vgl. H. SCHOLL, Pfarramt, 67.

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vor allen Diensten das allernotwendigste ist.“69 Beim prophetischen Amt handelt es sich „um die Amtspflicht der Pfarrerschaft schlechthin“.70 Zwingli beruft sich auf Jes 58,1: „Rufe! Höre nicht auf! Erhebe deine Stimme wie eine Trompete und verkünde meinem Volk seine Vergehen!“71 Die Aufgabe des Propheten besteht nach Zwingli darin, dass „der Hirt alle die verheerenden Freveltaten unerschrocken angreifen muß und sich weder durch die überrissenen Machtansprüche dieser Welt noch durch irgendwelche Drohungen abschrecken lassen darf. Gott spricht bei Jer 1,9 zum Propheten: ‚Siehe, ich habe meine Worte in deinen Mund gelegt, und ich habe dich heute zu den Völkern oder Heiden und zu den Königreichen geschickt, um auszureißen und niederzureißen, um loszureißen und aufzutrennen, aber auch, um wieder aufzubauen und zu pflanzen.‘ Darum muß der Hirt alles, was sich gegen Gottes Wort ‚auftürmt‘, und sei es noch so hoch, antasten und ‚niederreißen‘ (vgl. 2Kor 10,4–5), wofür Christus ein treffliches Vorbild ist“.72

Ausreißen und Pflanzen – für die Wahrnehmung dieser prophetischen Aufgabe ist nach Zwingli die genaue Kenntnis der Heiligen Schrift erforderlich. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe hat sich „in der strengen Schule der Heiligen Schrift“73 zu vollziehen. Das Eruieren des sensus litteralis eines biblischen Textes und der prophetische Auftrag widersprechen einander nach Zwingli keineswegs. Vielmehr soll die Realisationsform jenes Auftrages aus einer konsequenten Schrift- und Wortbezogenheit resultieren. Freilich lässt sich das Verhältnis von Schriftauslegung und prophetischer Existenz bei Zwingli noch präziser fassen. Es findet seine öffentlichkeitswirksame Ausdrucksform in einer in heftige Herrschaftsund Sozialkritik mündenden Situationswahrnehmung. Schriftauslegung und Sozialkritik als applikative Anrede bilden bei Zwingli gleichsam die beiden grundlegenden Aspekte des prophetischen Amtes. Der Zwingliforscher Gottfried W. Locher bemerkt dazu treffend: „Der Prophet durchschaut die Schrift und die konkrete Situation und setzt beide zueinander in Beziehung.“74 Beide, Schriftauslegung und Sozialkritik, fallen indes bei Zwingli keineswegs einfach zusammen und werden auch nicht miteinander identifiziert. Im Blick auf deren 69 70

ZWINGLI, ZwS IV, 125. P. OPITZ, Von prophetischer Existenz zur Prophetie als Pädagogik im Horizont des Bundes. Zu Bullingers Lehre vom munus propheticum, in: E. CAMPI / P. OPITZ (Hg.), Heinrich Bullinger (1504–1575) – Life, Thought and Work, ZBRG 24, Zürich 2007, (493–513) 495. 71 ZWINGLI, ZwS I, 268. 72 A.a.O., 265. 73 H. SCHOLL, Pfarramt, 60. 74 G.W. LOCHER, Prophetie, 106.

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Reihenfolge kann man vielmehr aus der Art und Weise, wie Zwingli die prophetische Tradition der Bibel ins Gespräch bringt, Erhellendes entnehmen. Zwingli tut dies in Gestalt von Schriftbeweisen, mit denen er seine politische und sozialkritische Predigt – wohlgemerkt: nachträglich – legitimiert. So verweist er auf das Beispiel des Propheten Samuel, der Saul zur Vollstreckung des Banns an den Amalekitern auffordert (1Sam 15),75 als Beleg dafür, „daß der Hirt auch dem König, Fürsten oder Oberen nichts durchgehen lassen darf, sondern jedem seinen Irrtum anzeigen soll, sobald er sieht, daß jener vom Weg abkommt“.76 Zwingli führt die David-Batseba-Natan-Episode (2Sam 11f.)77 als Exempel für den prophetischen Auftrag an, „den Ehebruch und den Totschlag, ja den hinterlistigen Mord vor[zu]halten“.78 Anhand der „Abgötterei“ und Strafe Jerobeams (1Kön 12–14)79 „lernt der Prophet, daß er sich die Schafe weder zur Abgötterei noch zu irgendwelchem Unrecht verleiten lassen darf, und daß er sogar einem dreisten und selbstherrlichen Jerobeam, der sich dazu erfrechte, entgegentreten soll, selbst wenn er weiß, daß auf ihn nicht gehört wird“.80 Insbesondere die Elia-Ahab-Konstellation (1Kön 16,29–21,29),81 die u.a. im sog. „Gottesurteil auf dem Karmel“ (1Kön 18) eskaliert, dient Zwingli zur Veranschaulichung, „daß es seine [des Hirten] Pflicht ist, tapfer bei Gottes Wort zu bleiben, selbst wenn die ganze Welt gegen ihn steht, und ebenso, daß er sich von der Überzahl der Baalspriester nicht beeindrucken lassen soll“.82 Und anhand der Episode von „Nabots Weinberg“ (1Kön 21) „lernt der Hirt hervorzutreten, wenn das ganze Volk oder auch nur ein einzelner bedrängt wird – und wäre es gegen den größten Tyrannen“.83 75

Vgl. W. DIETRICH / CH. LINK, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1: Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 42002, 195–201. 76 ZWINGLI, ZwS I, 271. 77 Vgl. u.a. T. NAUMANN, David als exemplarischer König. Der Fall Urijas (2Sam 11) vor dem Hintergrund der altorientalischen Erzähltradition, in: A. DE PURY / T. RÖMER (Hg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids. Neue Einsichten und Anfragen, OBO 176, Fribourg / Göttingen 2000, 136–167; T. NAUMANN, David als Spiegel und Gleichnis. Ein Versuch zu den Wirkweisen alttestamentlicher Geschichtserzählungen am Beispiel von 2Sam 11f., in: R. LUX (Hg.), Erzählte Geschichte – Beiträge zur narrativen Kultur im alten Israel, BThSt 40, NeukirchenVluyn 2000, 29–52. 78 ZWINGLI, ZwS I, 274. 79 Vgl. u.a. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd. 1, GNT 8/1, Göttingen 1992, 212–226. 80 ZWINGLI, ZwS I, 275. 81 Vgl. u.a. R. ALBERTZ, Elia. Ein feuriger Kämpfer für Gott, Biblische Gestalten 13, Leipzig 2006; F. CRÜSEMANN, Elia – die Entdeckung der Einheit Gottes. Eine Lektüre der Erzählungen über Elia und seine Zeit, KT 154, Gütersloh 1997. 82 ZWINGLI, ZwS I, 276. 83 Ebd.

2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition

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Immer wieder wendet Zwingli Erzählungen aus dem deuteronomistischen Geschichtswerk auf die „Päpstler“, d.h. seine altgläubigen Gegner, an, die er mit den Antagonisten der Propheten gleichsetzt und somit eine Übertragung in die eigene Gegenwart wagt. Schließlich wendet sich Zwingli auch summarisch den sog. Schriftpropheten zu; Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Amos und Jona werden explizit genannt, die Zwingli für ihre Tadelung der jeweiligen Machthaber rühmt.84 Die Reihung der Propheten kulminiert in Zwinglis Darstellung in dem Beispiel Johannes des Täufers85, an dessen furchtlosem Auftreten gegenüber Herodes (Mk 6,14–29) zu lernen sei, „daß der Hirt tun muß, was niemand wagt: Den Finger auf wunde Stellen legen und Schlimmeres verhüten, keinen schonen, vor Fürsten, Volk und Geistliche treten, sich weder durch Größe, Einfluß und Zahl, noch durch irgendwelche Schreckmittel beeindrucken lassen, sofort zugegen sein, wenn Gott ruft und nicht nachlassen, bis sie sich ändern“.86 Die Funktion, die diesen Schriftverweisen zukommt, ist evident und wird im Übrigen von Zwingli selbst benannt: „Was bedarf es noch weiterer Prophetenstellen, um zu belegen, daß der Hirt allem Bösen entgegentreten soll?“87 Es handelt sich mit anderen Worten um induktiv geführte Schriftbeweise. Zwingli führt sie zur Bestätigung seiner Bestimmung des pastoralen Auftrages, den er als genuin prophetisch versteht, an. Zwingli macht des Weiteren, wie bereits gesagt, auch direkten applikativen bzw. applikationshermeneutischen Gebrauch von den Prophetenbeispielen, indem er argumentationsstrategisch eine doppelte Identifikation vornimmt: Die Propheten sind die evangelischen Pfarrer der Gegenwart und ihre altgläubigen oder obrigkeitlichen Gegner von heute die Gegner der Propheten. Diese Identifikationsstrategie liegt Zwinglis Verständnis des Wächteramtes der Pfarrer (und nicht etwa der Kirche insgesamt) zugrunde, das er mit dem Amt der biblischen Propheten gleichsetzt. In diesem Sinne ist das Urteil Lochers gerechtfertigt: „Für Zwingli sind die Propheten nicht nur einstige Vorläufer auf Christus, sondern von brisanter politischer Aktualität und damit Anleiter zum Gehorsam gegen Christus heute.“88 Bei Zwingli fällt auf, dass seine Bezugnahme auf die Schrift insgesamt gegenüber der Situationswahrnehmung, die sich in seiner massiven Sozial- und Herrschaftskritik entlädt, nachklappt. Die Schriftauslegung ist, wie er selbst in seiner Schrift „Von dem Prophetenamt“ 84 85

Vgl. a.a.O., 278. Vgl. u.a. U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu, Biblische Gestalten 6, Leipzig 2002. 86 ZWINGLI, ZwS I, 278. 87 A.a.O., 277. 88 G.W. LOCHER, Prophetie, 106.

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(1525) sagt, nur das „ander ampt der Propheten“.89 Weil die Sozialund Herrschaftskritik, das „dem üblen geweert und das gu[o]t pflanzet habend“,90 als Aufgabe des ersten und vom zweiten zu unterscheidenden Amt vorausgeht, deshalb klappt die Schriftauslegung nach. Nur das erste Amt des „Niederreißens und Pflanzens“ wird von Zwingli mit Schriftbeweisen begründet, nicht das der Schriftauslegung. Im Blick auf das prophetische Amt bleibt es bei Zwingli noch beim Dual, einem Nebeneinander von Sozial- und Herrschaftskritik bzw. Situationswahrnehmung einerseits und Schriftauslegung andererseits. Und dort, wo er beide zueinander in Beziehung setzt, geschieht dies so, dass man den Eindruck gewinnt, als liefere die Schrift sekundär beigefügte Belege ohnehin bereits gefällter Urteile. Das Lehramt der Schriftauslegung bleibt insofern dem Amt des „Bauens und Niederreißens“ untergeordnet. Wie wir sehen werden, wird genau dieser Dual, wie er Zwinglis Konzipierung des prophetischen Amtes kennzeichnet, später im Raum des reformierten Protestantismus überwunden. Heinrich Bullinger und Johannes Calvin repräsentieren mit ihren Ausführungen zum prophetischen Amt Meilensteine auf diesem Weg. 2.2 Heinrich Bullinger: „De prophetae officio“ (1532) Bullingers kirchenpolitische Leistung lässt sich nach Peter Opitz wie folgt zusammenfassen: „Heinrich Bullinger hat die Zwinglische Reformation konsolidiert und damit ein angefangenes, aber in die Krise geratenes Unternehmen auf Dauer gestellt.“91 Ähnlich urteilt Daniel Bolliger: „Bullinger’s genius lay precisely in his ability to retain the creative force of the prophetic ideal of the early Reformation through a lifetime of leadership, though he was forced by circumstances to refine it.“92 Betrachtet man Bullingers Unternehmen, das prophetische Wirken Zwinglis auf Dauer zu stellen, so zeigt sich freilich, dass Konsolidierung „mehr als bloße Konservierung“93 meint, d.h. mit kreativen Transformationsakten einherging. Dies zeigt sich bereits in Bullingers programmatischer Antrittsrede, die – im Januar 1532,94 zur 89 90 91 92

Z IV, 398,3. A.a.O., 397,34f. P. OPITZ, Existenz, 493. D. BOLLIGER, Bullinger on Church Authority. The Transformation of the Prophetic Role in Christian Ministry, in: B. GORDON / E. CAMPI (Hg.), Architect of Reformation. An Introduction to Heinrich Bullinger, 1504–1575, Grand Rapids 2004, (159–177) 177. 93 P. OPITZ, Existenz, 494. 94 Bolliger bemerkt: „It was certainly a remarkable moment, for although Bullinger had shown brilliant promise, he was still a relatively young man and untested in his

2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition

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Zeit der wohl größten Krise der Zürcher Kirche gehalten95 – wenig später unter dem Titel „De prophetae officio“ erschien und die Grundzüge seines Verständnisses des prophetischen Amtes darlegt.96 Eine solche Darlegung war freilich nicht möglich, ohne dass der 28jährige Bullinger dieses zu seinem Vorgänger Zwingli, der im Jahr zuvor auf dem Kappeler Schlachtfeld ums Leben gekommen war, in Bezug setzte und dieses so würdigte. Ein besonderes Augenmerk ist auf die eigenständigen theologischen Akzente und Gewichtungen zu richten, die der „Nachfolger Bullinger“ im Blick auf eine Weiterführung des Prophetenamtes und damit der Sache Zwinglis setzt. Die „Lobrede“ (encomium)97 auf den von Bullinger als vorbildlichen, ja als paradigmatischen Propheten dargestellten Zwingli am Ende der frühen Schrift Bullingers darf nicht den Blick für dessen Eigenständigkeit, d.h. sein eigenes prophetisches Programm, verdecken. Bullinger strebt nach einer „geordnete[n] Weitergabe und Verbreitung der von Zwingli wieder ins Licht gestellten evangelischen Wahrheiten“,98 weshalb er methodisch auf die ihm durch den zeitgenössischen Humanismus wohlbekannten Verfahren der antiken Rhetorik zurückgreift. Es geht ihm um eine „Pädagogik des prophetischen Amtes“.99 Zu Beginn seiner frühen Schrift benennt Bullinger deren Gegenstand: „[…] unsere gemeinsame Aufgabe, also die prophetische, zu erörtern: dass sie ein von Gott uns anvertrautes Amt ist und wie sie würdig erfüllt werden kann.“100 Ebenso wie für Zwingli ist für das Bullingersche Prophetenverständnis der Wächterbegriff das entscheidende new office. It was important for him to introduce himself to many of his colleagues, as well as to the prominent people of Zurich, not only as an orator, but, more crucially, as a leader. The occasion was the feast of Charlemagne, which had been celebrated in Zurich since time immemorial.“ D. BOLLIGER, Bullinger, 162. 95 So a.a.O., 176. Zum historischen Hintergrund vgl. auch F. BÜSSER, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung, Bd. 1, Zürich 2005, 93–107, bes. 100f. 96 Bolliger führt den Nachweis des kompilatorischen Charakters dieser bedeutenden Schrift Bullingers: „[T]he text of De prophetae officio is indeed to a large extent woven out of citations, fragments, and even whole paragraphs from earlier writings of Bullinger, principally De propheta libri duo, but also from the Studiorum ratio and other writings.“ D. BOLLIGER, Bullinger, 164. Hervorhebungen im Original. 97 Bullingers Schrift folgt – wie D. Bolliger gezeigt hat – „formal dem klassischen Aufbau einer Rede, wie ihn die Rhetorik der Antike lehrt: exordium mit captatio benevolentiae, status, confirmatio, cohortatio, confutatio und epilogus“. D. BOLLIGER, Einleitung, in: BuS I, (3–10) 4 (BuS = Heinrich Bullinger Schriften, Bde. I–VII, hg. von E. CAMPI u.a., Zürich 2004). Hervorhebung im Original. Vgl. auch D. BOLLIGER, Bullinger, 163f. 98 P. OPITZ, Existenz, 500. 99 A.a.O., 493. 100 BULLINGER, BuS I, 11f.

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X. De munere prophetico

Interpretament; und genau wie Zwingli setzt auch Bullinger das alttestamentliche Prophetenamt mit dem Pfarramt gleich: „Denn genau wie die christlichen Bischöfe Aufseher genannt werden, weil sie als Wächter Sorge tragen zur Herde des Herrn und verhindern sollen, dass diese Herde ein Verderbnis für die Seelen und der Feind des Menschengeschlechtes anfällt, der mit der Menge menschlicher Laster umgeben ist, ebenso bespähten auch jene die Ränke der Lasterhaften und der Verirrten und deckten sie auf.“101

Der usus elenchticus legis tritt wie bei Zwingli so auch bei Bullinger markant in Erscheinung, und zwar im Horizont der von beiden geteilten Prämisse: Was der Prophet damals tat, ist auch heute Aufgabe des Pfarrer – hic et nunc wie illic et tunc! Die functio prophetica besteht nach Bullinger darin, „dass das Amt eines wahren Propheten nichts anderes ist, als die Heilige Schrift auszulegen, Irrtümern und Freveln entgegenzutreten, Gottesfurcht und Wahrheit zu fördern und schließlich den Gemütern der Menschen mit allem Fleiß und Eifer Gerechtigkeit, Glauben und gegenseitige Liebe nicht nur einzuträufeln, sondern einzuschärfen. Seine Aufgabe ist es auch, Schwankende zu bestärken, Trauernde zu trösten und Säumige oder Nachlässige auf dem Weg des Herrn anzuspornen und zu ermahnen“.102

Diese Aufzählung hat weniger additiven, als vielmehr explikativen Charakter. Die an der Spitze der Aufzählung genannte Aufgabe der Schriftauslegung wird expliziert. Was Schriftauslegung in situationsbezogener Anwendung meint, konkretisiert Bullinger anhand der folgenden Aufzählung. Bei Bullinger wird mit anderen Worten Prophetie mit Schriftauslegung gleichgesetzt. Darin besteht der neuralgische Punkt seiner Frühschrift, der „Kern und Stern“ seiner Ausführungen. Für Bullinger besteht die prophetische Aufgabe – anders als bei Zwingli – primär in der Schriftauslegung.103 Ihr hat sich das prophetische Amt zu widmen. Auf sie ist sie verpflichtet. Die Verkündigung geschieht durch Schriftauslegung: „Nun ist allein die Schrift und die Wahrheit ohne Widerrede der Gegenstand, mit dem sich der Prophet befasst.“104

101 102 103

A.a.O., 12. Ebd. Im Blick auf Bullinger stellt Bolliger treffend fest: „[T]he Reformation linking of the office of scripture was fundamentally grounded in the competence of an individual to interpret the Bible. […] In brief, a prophet is an especially talented and important interpreter.“ D. BOLLIGER, Bullinger, 175. 104 BULLINGER, BuS I, 23.

2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition

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Schriftauslegung hat sich nach Bullinger in einer Zweistufigkeit zu vollziehen, und zwar in folgender Reihenfolge: zunächst Interpretation der Schrift und dann Anwendung auf die Hörerschaft.105 Die Propheten sollen nur das in concreto applizieren, was sie in der Auslegung der Schrift gewonnen haben.106 Während bei Zwingli die Beschäftigung mit der Schrift erst an zweiter Stelle steht und er „weniger die Beschäftigung mit der Schrift als Quelle der prophetischen Verkündigung überhaupt im Blick zu haben [scheint], als die Errichtung der ‚Prophezei‘, der Prophetenschule im Blick auf die Zukunft“,107 stellt Bullinger die exegetische Arbeit des Propheten der Applikation voran. Opitz hat die Differenz zwischen Zwingli und Bullinger treffend auf den Punkt gebracht: „Zwar hatte auch Zwingli die Schriftauslegung als eine Tätigkeit der ‚Prophetie‘ hervorgehoben, er hatte sie allerdings als ‚das ander ampt der propheten‘ nicht wirklich mit einer ‚Prophetie‘ vermittelt, welche er aufgrund exegetischer Beobachtungen beschreiben konnte als eine durch direkte Eingebung oder ‚Schau‘ Gottes angetriebene moralische und soziale Kritik. Demgegenüber limitiert Bullinger das prophetische Amt von Anfang an auf die Schriftauslegung und lässt die Anredefunktion prophetischer Rede […] lediglich gelten als Applikation der Schriftauslegung.“108

Bullinger zufolge ist das prophetische Amt kein zweifaches Amt wie bei Zwingli, sondern ein einfaches, geradezu monoman auf die Schriftauslegung konzentriertes Amt. Bullinger geht in seinen späteren Schriften so weit, dass er – wie beispielsweise in den „Dekaden“ – das prophetische Amt zugunsten des „Wortamtes“ (ministerium verbi Dei) aufgibt bzw. jenes in dieses aufhebt.109 Der Begriff des „Propheten“ wird von demjenigen des „Dieners“ verdrängt.110 105 Treffend bemerkt E. Campi: „Es wird hier nicht eine Entpolitisierung der Predigt zugunsten einer Konzentration auf die doctrina, sondern die Notwendigkeit eines ersten und unmittelbar nachfolgenden zweiten Schritts empfohlen: eines ersten, wohl nach innen gerichteten Schritts einer theologischen Konzentration auf das Wort und seiner Reinerhaltung sowie eines zweiten, nach außen gerichteten Schrittes einer prophetischen, öffentlichen Stellungnahme der Kirche im Interesse der gesamten Gesellschaft.“ E. CAMPI, Bullingers Rechts- und Staatsdenken, EvTh 64 (2004), (116–126) 120. 106 P. OPITZ, Existenz, 510. 107 A.a.O., 500. 108 A.a.O., 499f. 109 Vgl. a.a.O., 507f. P. Opitz liefert dort reiche Belege. Vgl. auch D. BOLLIGER, Bullinger, 172f. 110 Ein „Relikt“ findet sich noch in der „Confessio helvetica posterior“ (1566), wenn es dort im Art. 18 heißt: „Prophetae quondam praescij futurorum, vates erant: sed et scripturas interpretabantur. Quales etiam hodie adhuc inveniuntur“ (BSRK 201,12–14). J.F.G. Goeters übersetzt: „Die Propheten wußten als Seher einst das Zukünftige, aber sie erklären auch die Schrift. Solche finden sich auch heute noch.“

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X. De munere prophetico

Bullinger nennt „die Auslegung der Schrift die vornehmste Pflicht des Prophetenamtes“, weshalb es angemessen sei darzulegen, „wie ein Prophet die Schrift angemessen und richtig behandeln kann“.111 Dieser Fragestellung geht Bullinger im weiteren Verlauf seiner Frühschrift nach und entwirft dazu eine Art biblische Hermeneutik, die hier freilich nicht im Detail behandelt werden kann. Interessant ist die Beobachtung, dass Bullinger nicht wie Luther das, „was Christum treibet“,112 als hermeneutische Norm wählt, sondern den Bund113 (testamentum, foedus, pactum) als „Mitte der Schrift“: „Der Bund, in dem uns Glaube und Unschuld angeraten werden, ist die Grundlage der Heiligen Schrift, die in allen Büchern der Schrift allein zu betrachten ist.“114 Auf den Bund lassen sich nach Zwingli alle Bücher der Bibel beziehen und so scheinen auch „die großen und die kleinen Propheten auf diesen Bund als ihren einzigen Fixstern geblickt zu haben“.115 Die eigentliche hermeneutische Regel sei aber „die Gabe des Glaubens und der Liebe“116: „Folglich ist deine Auslegung dann angemessen, wenn sie weder dem Glauben widerspricht noch die Liebe verletzt.“117 Es folgen im Duktus Bullingers Anweisungen zum Gebrauch der Schrift im theologischen Streit – namentlich mit den „Papisten“ und den „Wiedertäufern“ – sowie zum Umgang mit „Übeltätern“, denen gegenüber Bullinger wie Zwingli vor ihm unter Berufung auf Jes 58,1 („Schreie und lasse nicht ab! Gleich der Posaune erhebe deine Stimme, und verkünde meinem Volk seine Verbrechen“!) einschärft: „Du sollst sie ermahnen, nicht vom lebendigen, wahren und ewigen Gott abzufallen; du sollst sie ermahnen, eifrig das Wort Gottes zu hören, ja nicht nur zu hören, sondern auch durch Glauben und unsträflichen Lebenswandel zum Ausdruck zu bringen.“118 Auch hält Bullinger mit H. STEUBING (Hg.), Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, Wuppertal 21977, 186. 111 BULLINGER, BuS I, 13. 112 Vgl. WA DB 7,384,26–33. 113 Bullinger definiert: „Unter dem Begriff Testament verstehen wir nämlich einen Pakt, einen Bund oder eine Vereinbarung, und zwar jene, durch die Gott mit dem gesamten Menschengeschlecht übereinkam, dass er unser Gott sein werde, die Allgenugsamkeit, das Gute im Überfluss und das Füllhorn schlechthin, und dass er dies besonders durch die Gewährung des gelobten Landes und die Fleischwerdung seines Sohnes unter Beweis stellen werde.“ BULLINGER, BuS I, 14. Vgl. dazu auch BOLLIGER, Bullinger, 165ff. Zur Föderaltheologie Bullingers insgesamt vgl. J.W. BAKER, Heinrich Bullinger and the Covenant. The Other Reformed Tradition, Ohio 1980. 114 BULLINGER, BuS I, 16. 115 A.a.O., 15. 116 A.a.O., 18. 117 A.a.O., 19. 118 A.a.O., 29.

2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition

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Zwingli grundsätzlich daran fest: „Wenn du […] das Vaterland und die Kirche Gottes liebst, dann widersetze dich zur rechten Zeit dem Bösen, indem du die früheren Propheten Gottes nachahmst, die gar niemanden schonten, selbst Fürsten und Könige nicht.“119 Nach kurzen rhetorischen Ratschlägen mahnt Bullinger schließlich vor allem einen reinen Lebenswandel an, durch welchen „die Propheten Vollmacht“120 gewinnen. Als leuchtendes Beispiel und mustergültigen Propheten führt Bullinger zum Schluss den kürzlich verstorbenen Huldrych Zwingli an, dessen geistliches Erbe hinsichtlich der Wahrnehmung des prophetischen Amtes Bullinger wie folgt zusammenfasst: „Unsere Aufgabe wird es fortan sein, mit größtem Eifer und, wenn es die Sache verlangt, auch unter Verlust des Lebens für die Wahrheit zu kämpfen, die Heilige Schrift lauter auszulegen, das Volk zur Gottesfurcht anzuspornen, die Trauernden recht zu trösten, den Irrtümern klug entgegenzuwirken, die Ketzerei unablässig zu vertreiben und die Laster und Lasterhaftigkeit gottesfürchtig und tapfer zu bekämpfen.“121

Insgesamt aber fallen nicht nur die zahlreichen Parallelen und Übereinstimmungen zu Zwingli auf, die sich schlussendlich auch hagiographisch manifestieren. Nein, in vielem scheint Bullinger milder und weitaus weniger sozial- und herrschaftskritisch zu urteilen als Zwingli. Der „glühende Eifer Zwinglis“122 fehlt – zugunsten einer auf Maßhalten und Ausgewogenheit ausgerichteten und irenisch daherkommenden Darlegung und Empfehlung der wortgemäßen Praktizierung des prophetischen Amtes. Die Forderung nach Mäßigung, Geduld und Treue gilt eben auch für die politische Predigt, die nicht zur maßlosen Schelte degenerieren, sondern – wie alles – zur Erbauung geschehen soll (1Kor 14,26).123 Sehr treffend beobachtet Opitz: „Dass der Prophet ‚mit äußerstem Hass gegen die lasterhaften Menschen und gegen die Laster vorgehen soll‘, wie dies der vorbildliche Prophet Zwingli gemäß Bullingers Lobrede getan hat, findet sich in Bullingers eigenen Anweisungen allerdings nicht. Im Gegenteil. Immer wieder warnt Bullinger die Propheten vor übermäßiger Härte, vor Beschimpfungen anderer, ja Bullinger warnt ausdrücklich vor polemischen Verunglimpfungen römischer Frömmigkeitsformen und -einrichtungen wie Messe, Bilder- und Heiligenverehrung oder Mönchtum, vor Geschrei und scharfzüngiger Rede. Denn, so die 119 120 121 122

A.a.O., 33. A.a.O., 40. A.a.O., 47. E. CAMPI, Heinrich Bullinger und seine Zeit, in: DERS. (Hg.), Heinrich Bullinger und seine Zeit. Eine Vorlesungsreihe, Zwing. 31, Zürich 2004, (7–35) 18. 123 Vgl. BULLINGER, BuS I, 34f.

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X. De munere prophetico

Begründung, auch wenn das Volk gerne Polemiken hört und solchen Beschimpfungen in der Regel Beifall zollt, besteht doch die Gefahr, dass gerade die Schwachen ‚mehr verwirrt als erbaut‘ werden.“124

Insgesamt spürt man Bullingers Ausführungen das Bemühen um Institutionalisierung der Prophetie ab. Prophetie wird bei Bullinger – mit Opitz gesprochen – geradezu „zu einer Bildungsaufgabe“125, gebunden freilich an das Pfarramt. Bullinger ist daran gelegen, öffentliche Herrschafts- und Sozialkritik in Gestalt des Pfarramtes politisch zu institutionalisieren, und zwar vermittelt über dessen prophetische Aufgabe im Anschluss an das dictum probans Jer 1,9f. Diesbezüglich kann man durchaus kritisch fragen, ob hier nicht Weltliches und Geistliches zu verwischen drohen.126 Den Hintergrund dieser kritischen Rückfrage bildet die Beobachtung, dass mit der bereits durch Zwingli127 vorgeprägten Verknüpfung von Prophetie und Pfarramt eine folgenreiche Umstellung geschieht. Der Prophet, wie ihn das Alte Testament darstellt, verhält sich zumindest potentiell stets institutionskritisch. Wann immer nötig, kritisiert er den dekadenten König und den in Heuchelei verstrickten Tempel, oft auch die besitzenden Stände, nicht selten gar das Volk als Ganzes. Indes ist der Pfarrer der Vertreter der Institution Kirche par excellence. Deshalb die Rückfrage: Geht Staat und Kirche nicht das kritische Gegenüber in dem Moment verloren, wo es in die herrschenden Institutionen eingebaut wird? Und ist damit nicht der Grundstein gelegt für jene jahrhundertelange Allianz von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit, die auf jede Abweichung nur noch mit Verketzerungen und harten Sanktionen zu reagieren wusste? In eine ähnliche Richtung tendieren die ausgewogenen Bemerkungen von Opitz: „Wer das rechte Maß und die Treue ins Zentrum stellt, hat zweifellos Kurs auf eine ‚realistische‘, auf Dauer angelegte Gemeinschaftsethik genommen. Zugleich wird damit der Boden bereitet für die Möglichkeit einer ‚Paternalisierung‘ der Bevölkerung, in welcher politische Obrigkeit und reformierte Geistlichkeit gemeinsam ihr ‚Hirtenamt‘ ausüben. Gerade so aber hat Bullinger dem prophetischen Amt institutionell Raum verschafft, auch das herrschafts- und sozialkritische Engagement vom Wort Gottes her in concreto ausüben zu können.“128 124 125 126

P. OPITZ, Existenz, 503f. A.a.O., 512. Campi betont zu Recht: „Die Problematik dieser Konstellation scheint Bullinger nicht erkannt zu haben.“ E. CAMPI, Bullingers Rechts- und Staatsdenken, 122. Campi merkt fernerhin an, „[d]ass Bullingers Ansichten des Verhältnisses von göttlichem Recht und menschlichem Recht, von Kirche und Staat missbrauchsgefährdet und korrekturbedürftig waren“. A.a.O., 123. 127 Vgl. D. BOLLIGER, Bullinger, 164. 128 P. OPITZ, Existenz, 512f.

3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin

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Gegenüber dem Vorwurf, dass die Gleichsetzung von Pfarramt und Prophetie die Pointe der Prophetie verspielt, wird man immerhin auch argumentieren können, dass mit der Interpretation von Prophetie als Schriftauslegung ein unaufhebbares kritisches Moment ins Pfarramt integriert ist.129 Wenn das Pfarramt wesenhaft Auslegung der Bibel ist, dann ist damit einer Absolutsetzung und Selbstherrlichkeit dieses Amtes von vornherein ein Riegel geschoben. „Radikale Herrschaftsund Sozialkritik kann man nicht institutionalisieren. Man kann aber eine Ordnung etablieren, welcher die Möglichkeit solcher Kritik immanent ist.“130 3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin : „Institutio Christianae Religionis“ (1559) Kennt auch der Genfer Reformator Johannes Calvin (1509–1564) ein prophetisches Amt der Kirche, wie Zwingli131 und Bullinger132 dies tun? Offensichtlich scheint dies der Fall zu sein, denn Graf und Honecker führen ja – wie gesagt – die Rede vom prophetischen Amt der Kirche auf Calvins Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi zurück, wobei sie die Zürcher Tradition völlig außer Acht lassen. Es stellt sich freilich die Frage, ob Calvin dieses prophetische Amt ebenfalls – wie die Zürcher Tradition – als Wächteramt konzipiert und fasst. Bolliger bejaht dies, indem er feststellt, dass „eine Institutionalisierung des frühreformierten prophetischen Elements, wie es prominent in Bullingers Rede aufscheint, in der Lehre vom dreifachen Amt Christi bei Calvin und im Calvinismus“133 erfolgte. Bolliger zufolge gehört es „[z]u den bleibenden Wirkungen, die sich aus dem Amts129

Zu den daraus resultierenden Rollenkonflikten vgl. M. JOSUTTIS, Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, München 41991, 28–49. 130 P. OPITZ, Existenz, 513. 131 In Bezug auf Calvins Verhältnis zu Bullinger ist immer noch lesenswert: F. BLANKE, Calvins Urteile über Zwingli, Zwingl. 11 (1959), 66–92; F. BÜSSER, Grundgedanken Zwinglis in Calvins „Institutio“, in: DERS., Die Prophezei. Humanismus und Reformation in Zürich. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, hg. von A. SCHINDLER, ZBRG 17, Bern u.a. 1994, 183–199. 132 Vgl. hinsichtlich des Verhältnisses Bullingers zu Calvin F. BÜSSER, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung, Bd. 2, Zürich 2005, 117–137; A.I.C. HERON, Calvin an Bullinger 1536–1549, in: M. FREUDENBERG (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 1, Wuppertal 1999, 49–69; CH. STROHM, Bullingers Dekaden und Calvins Institutio. Gemeinsamkeiten und Eigenarten, in: P. OPITZ (Hg.), Calvin im Kontext der Schweizer Reformation. Historische und theologische Beiträge zur Calvinforschung, Zürich 2003, 215–248. 133 D. BOLLIGER, Einleitung, 9.

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X. De munere prophetico

verständnis des jungen Bullingers ergaben, […] dass es eine der Voraussetzungen für die calvinistisch-reformierte Umformung der Lehre von Christus wurde“.134 Die unterschiedlichen realgeschichtlichen Ausprägungen in Zürich und Genf sind, insbesondere was das Verhältnis zwischen Kirche und öffentlicher Gewalt angeht, bekannt: „In Zürich war es zu einer starken gegenseitigen Durchdringung der Kirche und der Ratsgremien gekommen, weil Huldrych Zwingli damit rechnete, daß das mittelalterliche Muster des Corpus Christianum, also der Integration von Kirche und Gesellschaft, fortbestand. Für ihn und für Heinrich Bullinger schloß dies ein, daß die Zürcher Geistlichen dem Rat gegenüber ein prophetisches Einspruchsrecht hatten, um die politische Macht an das Gesetz Gottes erinnern zu können. […] Dort [in Genf] galt ein anderes Muster für das Verhältnis zwischen der öffentlichen Gewalt und der Kirche. Es fand seit Calvin im Neuen Testament das verbindliche Vorbild für die Kirchenverfassung und schrieb der Kirche selbst die Kirchenzucht, das Recht zu ihrer eigenen Reformation und damit auch zur eigenen Leitung zu. Die Einrichtung des Konsistoriums als der zuständigen Behörde für die Kirchenzucht brachte diese Position zum Ausdruck, die man in Zürich und Bern lediglich als einen örtlich bedingten und zu tolerierenden Sonderfall verstand, dem keine allgemeine Verbindlichkeit zukommen dürfe.“135

Ob sich dieser Konflikt auch in der Konzipierung des prophetischen Amtes widerspiegeln mag? Calvin nimmt die Zuordnung und Charakterisierung des prophetischen Amtes im Zusammenhang seiner Ekklesiologie vor, die ein Changieren zwischen der Lehre vom dreifachen und vierfachen gemeindeleitenden Amt kennzeichnet.136 Während er in der Kirchenordnung von 1561 („Les Ordonnances ecclésiastiques de 1561“) die Ämter des Pastors, Presbyters und Diakons vorsieht, nennt er in der Endfassung der „Institutio“137 (1559) die vier Ämter des Pastors, Lehrers, Presbyters und Diakons. In seiner Auslegung von Eph 4,11 spricht Calvin von der „Ähnlichkeit, die unsere (heutigen) Lehrer mit den früheren Propheten haben“.138 Damit relativiert er seine eigene Beobachtung, wonach es „heutzutage entweder keine, oder aber […] 134 135

Ebd. E. KOCH, Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563–1675), KGE II/8, Leipzig 2000, 122. 136 Eingehend diskutiert Calvin die Frage nach der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Pastoren und Lehrern in seinem Kommentar zu Eph 4,11. Vgl. J. CALVIN, Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe, Bd. 17, hg. von O. WEBER, Neukirchen-Vluyn 1963, 163–165. 137 So Inst. (1559), IV,4,1. 138 Inst. (1559), IV,3,5. Dort z.T. kursiv.

3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin

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weniger sichtbar[e]“ Menschen wie die Propheten gibt. Darunter versteht der Apostel „nicht jegliche Künder des Willens Gottes, sondern solche, die sich durch eine besondere Offenbarung“139 auszeichnen.140 Dort nun, wo Calvin nicht zwischen dem Amt des Pastors und des Lehrers bzw. Doktoren differenziert und das Doktorenamt nicht als eigenständiges Amt anführt, findet sich in der Amtsbeschreibung des Pastors der Begriff des „Wächters“ als Interpretament für den des „Propheten“ wieder: „[D]ie Amtaufgaben der Pastoren [bestehen; M.H.] vornehmlich in diesen beiden Stücken […]: das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Die Unterweisung geschieht nun aber nicht allein in öffentlichen Predigten, sondern sie erstreckt sich auch auf persönliche Ermahnungen.“141 Calvin zufolge sollen sich die Pastoren dazu bereit erklären, „ihr Vorsteheramt in der Kirche so zu üben, daß sie nicht etwa eine müßige Würde innehaben, sondern mit der Lehre von Christus das Volk zu wahrer Frömmigkeit [zu] unterweisen, die heiligen Sakramente [zu] verwalten und die rechte Zucht [zu] bewahren und [zu] üben. Denn allen, die in der Kirche zu Wächtern gesetzt sind, kündigt der Herr an, er werde, wenn einer durch ihre Nachlässigkeit in seiner Unwissenheit zugrunde gehe, sein Blut von ihren eigenen Händen fordern“142 (Ez 3,17f.).

Dort hingegen, wo Calvin zwischen den Ämtern des Pastors und des Lehrers differenziert, rekurriert er zwar auch auf den Begriff des Wächters als Interpretament für den des Propheten, allerdings wird hier eine strenge Zuordnung zum Amt des Lehrers (doctor) getroffen. Mithin lässt sich festhalten: „Calvin stellt den Prophetentitel dem des doctors gleich.“143 In seinem Kommentar zu Ez 3,16f., wo das Wächteramt des Propheten Ezechiel über Israel beschrieben wird, generalisiert Calvin: „Zum Wächter hat ihn Gott bestimmt; das gilt von allen Lehrern der Kirche; 139 140

Inst. (1559), IV,3,4. Dort z.T. kursiv. In seinem Epheser-Kommentar bemerkt Calvin: „Bei diesem Titel [Propheten; M.H.] denken viele an die Männer, die sich durch die Gabe auszeichneten, über zukünftige Dinge zu weissagen, wie Agabus einer war (Apg 11,27–28; 21,10–11). Ich meinerseits fasse ihn, da ja hier von der Lehre die Rede ist, lieber so auf, wie er im 14. Kapitel des ersten Korintherbriefes angewendet wird, nämlich im Blick auf hervorragende Ausleger von Weissagungen, welche die Aufgabe haben, diese Geheimnisse mit Hilfe einer Art von besonderer Gabe zu enthüllen, auf einen vorliegenden Fall anzuwenden – immerhin so, daß ich die Gabe der Weissagung, soweit sie mit der Lehre verbunden war, bei den ‚Propheten‘ nicht ausschließen möchte.“ J. CALVIN, Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, 164. 141 Inst. (1559), IV,3,6. 142 Ebd. 143 D. SCHELLONG, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien, FGLP 38, München 1969, 271.

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X. De munere prophetico

sie sind von Gott gleichsam auf eine Warte gestellt, damit sie über das allgemeine Wohl wachen.“144 Ihre Aufgabe beschreibt Calvin wie folgt: „Sollen aber die Hirten ihr Wächteramt recht ausüben, so müssen sie besondere Gaben haben, wenigstens mehr als das gemeine Volk des Geistes teilhaftig sein. Denn das ist nicht genug, daß die Hirten wie Privatmänner leben, sondern sie müssen viel sorgsamer aufmerken, als wären sie auf eine hohe Warte erhoben, und das erfordert viel Scharfsichtigkeit und Gewandtheit. Er soll die Worte aus Gottes Munde hören. Gott will also allein gehört werden.“145

Die Lehrer der Kirche sollen gleichsam „an seinem Munde hängen“.146 Der Prophet hat nach Calvin die Aufgabe, Gottes Willen kund zu tun, was nur im sorgfältigen Hören auf die Schrift möglich sei. Insbesondere im Blick auf die „Ordonnances ecclésiastiques“ (1561) lässt sich festhalten: „Wenn Calvin vom Pastor den theologischen Lehrer unterscheidet, so denkt er dabei nicht nur an die notwendige gründliche Ausbildung der Pastoren. Die Lehrer (doctores) sind den Pastoren auch ein bleibendes Gegenüber, indem es zu ihren Aufgaben gehört, darüber zu wachen, dass die Verkündigung an der Lehre der Schrift orientiert bleibt.“147 Die Aufgabe der Schriftauslegung und des Unterrichts in der „gesunden Lehre“, die allein von Gott kommt,148 verweist auf die Verwandtschaft des Doktorenamtes mit demjenigen des Propheten. Die Genfer Kirchenordnung von 1561 hält fest: „Die besondere Aufgabe der Doktoren besteht darin, die Gläubigen in der heilsamen Lehre zu unterweisen, damit die Reinheit des Evangeliums weder durch Unkenntnis noch durch Irrlehren getrübt wird. […] Dem Pastorenamt am nächsten und mit der Leitung der Kirche am engsten verbunden ist dabei der theologische Unterricht, der das Alte und das Neue Testament umfassen sollte.“149

144

J. CALVIN, Auslegung des Propheten Ezechiel, übers. von E. KOCHS, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe, Bd. 9: Ezechiel und Daniel, hg. von O. WEBER, Neukirchen 1938, 57. 145 A.a.O., 58. Dort z.T. kursiv. 146 Ebd. 147 M. WEINRICH, Gott die Ehre geben – Johannes Calvin und die Wahrhaftigkeit des christlichen Lebens, in: R.K. WÜSTENBERG (Hg.), „Nimm und lies!“ Theologische Quereinstiege für Neugierige, Gütersloh 2008, (126–144) 141. Hervorhebung im Original. 148 Vgl. J. CALVIN, Auslegung des Propheten Ezechiel, 58. 149 CStA 2,253. Treffend bemerkt M. Weinrich: „Die Lehrer sind die auf das alttestamentliche Amt der Propheten zurückgehenden Theologen, welche die rechte Lehre verbreiten und über deren Berücksichtigung zu wachen haben.“ M. WEINRICH, Welche Kirche meinen wir? Die Theologie und die verfasste Kirche, in: J. EBACH u.a. (Hg.), Bloß ein Amt und keine Meinung? – Kirche, Jabboq 4, Gütersloh 2004, (214– 272) 250. Hervorhebung im Orginal.

3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin

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Dementsprechend heißt es in der Dienstordnung der Pastoren, die explizit zum Schriftstudium auffordert: „Zu diesem Zweck [der rechten Amtsausübung; M.H.] ist es erstens nützlich, daß alle Pfarrer, um Reinheit und Eintracht der Lehre untereinander zu bewahren, an einem bestimmten Wochentag zu einem gemeinsamen Schriftstudium zusammenkommen. Keiner soll sich ohne rechtmäßigen Grund davon ausnehmen, und wer sich nicht daran hält, soll ermahnt werden. […] Um zu sehen, wie sorgfältig ein jeder das Schriftstudium betreibt, und damit keiner nachlässig wird, soll der Reihe nach jedes Mal ein anderer diejenige Schriftstelle auslegen, die gerade dran ist. Wenn sich dann am Schluß die Pfarrer zurückziehen, soll jeder aus dem Kollegium dem Ausleger seine Einwände mitteilen, damit ihm dies zur Korrektur dient. Wenn dabei irgendwelche Verschiedenheit in der Lehre auftaucht, sollen die Pfarrer diesen Punkt gemeinsam angehen und die Sache besprechen.“150

Bei Calvin tritt ein positiver Aspekt des Konnexes von Pfarramt und Schriftauslegung deutlich hervor: Die Kritikfähigkeit der Bibel bleibt nämlich nur dort erhalten, wo sie in den Händen vieler liegt. Schriftauslegung verhindert dort am ehesten Amtsanmaßung, wo sie in einen ekklesialen Prozess, ein gemeinschaftliches Unternehmen, ein diskursives Geschehen eingebettet ist. In Genf war mit der „Congrégation des pasteurs“ ebenso wie in Zürich mit der „Prophezei“ ein Stück kollegialer und diskursiver Schriftexegese institutionalisiert. Es lässt sich als vorläufiges Fazit festhalten, dass es Calvin ebenso wie Zwingli und Bullinger nicht um ein frei flottierendes Prophetentum der Inspiration und Weissagung geht. Vielmehr weist ihrer gemeinsamen Auffassung zufolge die Bindung an die Schrift, wie sie für das Pastoren- und Doktorenamt konstitutiv ist, die falschen Vorstellungen eines vagabundierenden Prophetentums der willkürlichen Eingebungen ab. Beim Begriff „Prophetie“ bzw. „Prophet“ handelt es sich bei Calvin aber nicht nur um ein ekklesiologisches, sondern zugleich auch um ein genuin christologisches Prädikat. Dieses hat er in seiner Lehre vom dreifachen Amt Christi aufgenommen und entfaltet. Die folgenden Ausführungen mögen dazu dienen, das umstrittene und insbesondere von Graf in Frage gestellte Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie, der Lehre von den drei Ämtern Jesu Christi und der von den drei Ämtern der Kirche, bei Calvin näher zu erörtern. Calvin kann zwar nicht als der „Erfinder“ der Lehre vom dreifachen Amt Christi gelten. Er hat diesem Lehrstück allerdings seit der zweiten Ausgabe der „Institutio“ (1539) in entscheidender Weise Kontur verliehen, sich allerdings zunächst, genauer gesagt: bis zur Endfas150

CStA 2,245ff.

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X. De munere prophetico

sung der „Institutio“, nicht vorbehaltlos auf es eingelassen.151 Über die Herkunft des Motivs der drei Ämter ist viel gerätselt worden.152 Fakt ist, dass im Genfer Katechismus (franz. 1542; lat. 1545) zwar beiläufig, aber erstmalig ausdrücklich von drei Ämtern die Rede ist und das zuvor unbeachtete prophetische Amt damit eine eigenständige Funktion erhält, die sich dann auch in der Endfassung der „Institutio“ (1559) niederschlägt.153 Calvin sieht „die ganze für uns geschehene und geschehende Christusgeschichte im dreifachen Amt Christi zusammengefasst und in seiner ‚Kraft‘ und ‚Würde‘ herausgestellt“.154 Die besondere theologische Bedeutung und Leistungsfähigkeit der Lehre vom dreifachen Amt Christi besteht darin, dass mittels dieses Interpretaments Person und Werk Christi, Soteriologie und Christologie miteinander verbunden werden.155 Als materiales Bindeglied fungiert dabei die Salbung. Auf sie rekurriert Calvin zur Erklärung des 151 152

So D. SCHELLONG, Auslegung, 273. R. Saarinen etwa vertritt die These, „daß Calvins eigenständige Profilierung des prophetischen Amtes im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der neuplatonischen Christologie Marsilio Ficinos geschieht“ (R. SAARINEN, Christus als Lehrer bei Ficino und Calvin. Ein Beitrag zur Entstehung der Dreiämterlehre, ZThK 89 [1992], [197–221] 220), sie ihre Entstehung mithin „der Weisheitsspekulation und der Renaissance-Christologie verdankt“. A.a.O., 221. 153 Vgl. zur Genese der Drei-Ämter-Lehre Calvins K. BLASER, Calvins Lehre von den drei Ämtern, ThSt(B) 105, Zürich 1970, 7–10; K. BORNKAMM, Christus, 305– 311; J.F.G. GOETERS, Christi Königtum bei Johannes Calvin, RKZ 127 (1986), (109– 116) 109–111; D. SCHELLONG, Auslegung, 236–273; F. WENDEL, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, übers. von W. KICKEL, Neukirchen-Vluyn 1968, 196f. 154 P. OPITZ, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 122. 155 Sehr treffend urteilt Opitz: „Die Leistung des Amtsbegriffs besteht darin, daß er die von der Person Christi redende erste und die von seinem Werk redende zweite Hälfte des christologischen Artikels des Symbols zu verbinden vermag. Er kann so zugleich die Christusgeschichte als inklusives, ‚für uns‘ geschehenes und geschehendes Werk deutlich machen, denn diese ist ja als die Erfüllung des Amtes Christi das auf uns gerichtete Werk dessen, der von Gott zu unserem Erlöser (Jesus) bestimmt ist. Er kann aber auch die Christusgeschichte als Geschichte dessen, der nach dem Willen Gottes zu diesem Amt ausgerüstet und ermächtigt ist (Christus), als in jeder Hinsicht hinreichenden Grund unseres Heils würdigen.“ A.a.O., 125. Ähnlich auch Blaser: „Der Gedanke des Munus zielt zweifellos auf das Amt als sichtbare Wirksamkeit […]. Im Begriff des Munus kommen Christologie und Werk Christi zusammen und wollen als untrennbar verstanden sein.“ K. BLASER, Lehre, 11f. Hervorhebung im Original. Blaser hebt hervor, dass „sich Person und Amt gegenseitig deuten und nicht voneinander zu trennen sind“. A.a.O., 38f. Dort kursiv. So auch a.a.O., 45 und vor allem 47: „Der Mittler ist Prophet, König und Priester; die Person bestimmt die Funktion, die Funktion bestimmt die Person. Weil aber diese Funktion per definitionem eine solche ‚pro nobis‘ ist und es um unser Heil geht, handelt es sich nicht um ein Nacheinander von Christologie und Soteriologie, sondern um ‚Gleichzeitigkeit‘: die eine ist nichts ohne die andere, aber interpretieren einander so, daß sie zur umkehrbaren Gleichung werden.“

3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin

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Christus-Namens und bei der Verwendung biblischer Christus-Titulaturen bzw. christologischer Prädikationen: „Nun müssen wir […] bedenken, daß der Name ‚Christus‘, der ‚Gesalbte‘, alle diese drei Ämter umfaßt. Denn unter dem Gesetz sind, wie wir wissen, Propheten wie Priester wie Könige mit dem heiligen Öl gesalbt worden. Deshalb wurde dem verheißenen Mittler auch der Name Messias (= der Gesalbte = Christus) beigelegt.“156 Honecker identifiziert diese Vorgehensweise kritisch als „heilsgeschichtliche[n] Biblizismus“157: Calvin bediene sich „einer biblizistischen Begründung, wonach die alttestamentlichen Ämter des Propheten, des Priesters und des Königs in Jesus Christus ihre Erfüllung gefunden haben. Eine derartige biblizistische Begründung der Lehre vom dreifachen Amt Christi kann heute exegetisch kaum noch überzeugen.“158 Calvin beruft sich in der Tat auf die Schrift und er bemüht sich um eine möglichst genaue bzw. philologisch exakte Lektüre.159 So nimmt er wahr, dass die Zuordnung des Messias-Begriffs zum Amt der Könige, Priester und Propheten alttestamentlich nicht gleichgewichtig erfolgt: „Ich bin […] der Ansicht, daß bei dieser Bezeichnung ‚Messias‘ in besonderer Weise an das königliche Amt gedacht war; aber auch die prophetische und priesterliche Salbung behalten ihre Würde und dürfen von uns nicht übersehen werden.“160 Calvin betont nicht nur die Analogie, sondern auch die Differenz zwischen den alttestamentlich geschilderten Salbungen und der Salbung Jesu Christi als Gabe des Heiligen Geistes. So fragt er im Genfer Katechismus: „Aber mit welcher Art Öl wurde er gesalbt?“ Die Antwort lautet: „Nicht mit einem sichtbaren, so wie es bei der Salbung der alten Könige, Priester und Propheten gebraucht wurde, sondern mit einem besseren, nämlich der Gnadengabe des Heiligen Geistes, welcher die eigentliche Wahrheit jener äußeren Salbung ist (Jes 61,1; Ps 45,8).“161

156 157 158

Inst. (1559), II,15,2. M. HONECKER, Autonomie, 124. Ebd. Vgl. hingegen von exegetischer Seite A.M. SCHWEMER, Jesus Christus als Prophet, König und Priester. Das munus triplex und die frühe Christologie, in: M. HENGEL / A.M. SCHWEMER, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 165–230. Schwemer kommt zu dem Ergebnis: „Die Wiederentdeckung des ‚zweifachen‘ bzw. ‚dreifachen Amtes‘ durch die Reformation war sachlich-theologisch notwendig, es ist auf breiter Basis im Neuen Testament angelegt.“ A.a.O., 230. 159 Zum Schriftverständnis Calvins vgl. P. OPITZ, Calvins Schriftverständnis, in: G. PLASGER (Hg.), Calvins Theologie für heute und morgen. Beiträge des Siegener Calvin-Kongresses 2009, SBRthP 1, Wuppertal 2010, 11–27. 160 Inst. (1559), II,15,2. 161 CStA 2,27.

316

X. De munere prophetico

Calvin bemüht sich freilich, weniger biblizistisch als vielmehr gesamtbiblisch zu argumentieren162 und in diesen Rahmen die Pneumatologie in die Christologie einzuzeichnen. Deshalb stellt er einen engen Bezug zum Alten Testament her, der dem Schema „Verheißung und Erfüllung“ folgt.163 In Christi Kommen erfüllt sich nach Calvin das Amt der alttestamentlichen Propheten: „Das gemeinsame Amt der Propheten war aber doch, die Kirche in der Erwartung zu halten und sie zugleich zu stärken bis zum Kommen des Mittlers.“164 Diese Erfüllung ereignet sich gemäß Calvin im Eintreffen der Vorhersage des Propheten Joel (3,1): „Und eure Söhne sollen weissagen, und eure Töchter Gesichte sehen“, indem Christi „Salbung vom Haupte aus auch den Gliedern“165 zukomme. Anstatt Calvins Drei-Ämter-Lehre unter das Verdikt des Biblizismus zu stellen, dürfte es wohl angemessener sein, sein gesamtbiblisches Bemühen zu würdigen: „Indem er Person und Werk Jesu Christi unmittelbar an die Geschichte Israels bindet, legt er den Grundstein für eine auf Israel ausdrücklich Bezug nehmende Christologie.“166 Hermeneutisch lässt sich beobachten, dass Calvin das Auftreten Jesu Christi innerhalb dieses gesamtbiblischen Rahmens durch das Prisma der alttestamentlichen Beschreibungen der drei Ämter betrachtet, in diesem Sinne also das im Neuen Testament generierte Christusbild vom Alten Testament her versteht.167 Im Genfer Katechismus (1545) fragt Calvin danach, in welchem Sinne Christus nun „Prophet“ genannt wird und antwortet darauf: „Weil er bei seinem Kommen in die Welt sich bei den Menschen als Gottes Gesandter und Ausleger bekannt hat, und dies mit dem Ziel, den Willen des Vaters vollständig darzulegen und so alle Offenbarung und Prophezeiungen zu vollenden.“168 Calvin versteht unter Christus, dem 162 163

Vgl. J.F.G. GOETERS, Christi Königtum, 114. Vgl. K. BLASER, Lehre, 33: „Das prophetische Amt bringt als Wort-Amt die Verheißung zur Erfüllung und unterscheidet das Evangelium vom Gesetz.“ Dort kursiv. 164 Inst. (1559), II,15,1. 165 Inst. (1559), II,15,2. 166 M. FREUDENBERG, Amt, 77. 167 Vgl. K. BLASER, Lehre, 28: „Das prophetische Amt als das Amt des Wortes formuliert das Verhältnis der beiden Testamente und garantiert die Einheit der Schrift.“ Dort kursiv. Auch G. Plasger betont, dass Calvin „die Zusammengehörigkeit mit dem Alten Testament wichtig [ist]; Christus ist eben nicht ohne das Alte Testament zu verstehen“. G. PLASGER, Johannes Calvins Theologie – Eine Einführung, Göttingen 2008, 61. 168 CStA 2,27. – „Iam quo sensu prophetam Christum nominas? Quia quum in mundum descendit, patris se legatum apud homines, et interpretem professus est: idque in eum finem, ut patris voluntate ad plenum exposita finem poneret revelationibus omnibus et prophetiis.“ A.a.O., 26.

3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin

317

Propheten, den Legaten und Interpreten169 Gottes bei den Menschen (patris se legatum […] et interpretem apud homines)170, den „Herold und Zeuge[n] der Gnade des Vaters“ (praeco et testis […] gratiae patris)171 und entfaltet Christi Funktion als die Teleologie seiner Prophetie, welche in der vollständigen Darstellung des Willens des Vaters und der Vollendung aller Offenbarungen und Prophezeiungen bestehe. Anders als Otto Weber übersetzt, dessen Übersetzung übrigens auch Graf folgt, wenn er behauptet, dass Calvins Ekklesiologie seiner eigenen Aussage vom „Ende aller geschichtlichen Prophetie“172 widerspreche, hat Christi vollkommene Lehre (perfectione doctrinae) Calvin zufolge aller Prophetie keineswegs ein Ende gemacht.173 Vielmehr hat Christus sie als deren Ziel (finis) erfüllt.174 Die Prophetie geht nämlich insofern weiter, als dass Christen durch den Mittler Christus zu Teilhabern an dessen prophetischem Amt werden: „Christus empfing diese Salbung nicht für sich allein, damit er recht das Amt des Lehrers ausüben könnte, sondern für seinen ganzen Leib (die Gemeinde), damit in der immerwährenden Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes sich entsprechend auswirke.“175 Calvin bringt damit den Gedanken des pro nobis als den der „hermeneutischen“ Wirksamkeit seiner Salbung zum Ausdruck.176 Geist und Prophetie sind dabei ebenso wie Geist und doctrina engstens miteinander verbunden. Christi Lehre ist – mit anderen Worten – keine geistlose Lehre. Exakt dies zeigt sich in deren Wirksamkeit, die Calvin dahingehend erklärt, dass uns das Prophetenamt Christi als Ausübung seines Lehramtes am Geist Anteil gibt: „Was würde es nützen, 169

Vgl. dazu die Aussage des Johannesprologs (Joh 1,18), wonach Christus den Vater „exegetisiert“: µονογενὴς θεὸς ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς ἐκεῖνος ἐξηγήσατο. 170 CStA 2,26. 171 Inst. (1559), II,15,2. – OS III, 473: „Videmus unctum Spiritu fuisse ut praeco et testis esset gratiae Patris“. 172 F.W. GRAF, Munus, 89. 173 So auch E. BUSCH, Eschatologie in Calvins Gebeten, in: R. HESS / M. LEINER (Hg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße. FS J. Christine Janowski, Neukirchen-Vluyn 2005, (475–486) 477. Vgl. auch C. VAN DER KOOI, Art. Christus, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (252–261) 257: „Das Prophetentum hat zwar einen Höhepunkt und seine Identität in Jesus Christus gefunden, aber sicher nicht seinen Abschluss. Die Verkündigung des Wortes Gottes findet ihre Fortsetzung in den Aufgaben von Lehrern der Kirche, in der Bedienung des Wortes und in so vielen Formen, in denen Gottes Wahrheit durch Menschenmund Stimme erhält und in der Welt öffentlich kundgetan wird.“ 174 Vgl. Inst. (1559), II,15,2. 175 Ebd. 176 So auch J.F.G. GOETERS, Christi Königtum, 114.

318

X. De munere prophetico

wenn Christus jene Salbung allein für sich und sein persönliches Lehramt empfangen hätte“?177 In der Teilhabe am prophetischen Amt Christi besteht der Nutzen (fructus) der guten Gabe (bonum nostrum) durch den Geist: „Denn Christus ist vom Vater mit all dem begabt worden, um es uns mitzuteilen, damit wir alle aus seiner Fülle schöpfen (Joh 1,16).“178 Calvin erläutert dies wie folgt: „Er [Christus] wurde vom Heiligen Geist erfüllt und mit der vollkommenen Fülle all seiner Gaben ausgestattet, damit er sie uns mitteile, jedem in dem Maße, welches der Vater für uns als zuträglich erkennt. Daher schöpfen wir aus ihm als der einzigen Quelle all unsere geistlichen Güter (Eph 4,7).“179 Der Begriff der „Mitteilung“ bzw. „Zuteilung“ (impertiat) zeigt an, dass es in der Ämter-Lehre um ein kommunikatives Geschehen geht, in welchem der geistgesalbte Christus (vgl. Jes 61,1f.) der Gemeinde gegenübertritt und sie seine Salbung empfangen lässt, sie mithin beschenkt. Es fällt auf, „wie zurückhaltend Calvin die Selbsttätigkeit der christlichen Gemeinde beschreibt“.180 Mit der Aussage, dass die Salbung vom Haupt aus auf die Glieder übergehe, wird der Gedanke eines „Prophetentums aller Gläubigen“, wie er sich – wie noch zu zeigen sein wird – ausgeführt beim Calvin-Schüler Caspar Olevian findet, vorbereitet: „So sind wir denn alle Propheten am einen Propheten, Verkündiger am Verkündigenden. Das heißt: wir sind ins Hören gerufen – ipsum audite [Mt 3,17] – und sind so, im Glauben, Besitzer der Weisheit (1Kor 1,30; Kol 2,3).“181 Der intendierte Nutzen des prophetischen Amtes Christi besteht für uns Menschen Calvin zufolge darin, dass Christus die Seinen „mit der wahren Erkenntnis des Vaters erleuchte, in der Wahrheit erziehe und zu vertrauten Schülern Gottes mache“.182 Demnach hat das prophetische Amt Christi sowohl noetische als auch pädagogische Valenz. Anders als etwa Graf behauptet, ist das Verhältnis zwischen Christologie und Ekklesiologie bei Calvin freilich „nicht als direkte Entsprechung“183 entwickelt worden. Calvin entfaltet die Ämter der Kirche nicht in direktem Anschluss an die Ämter Jesu Christi. In formaler Hinsicht gilt, dass die Kap. III und IV der „Institutio“ in ihrer Disposition nicht von der Drei-Ämter-Lehre her aufgebaut sind. Und material lässt sich festhalten: Natürlich bildet die Salbung Christi den Er177 178 179 180 181 182 183

K. BLASER, Lehre, 14. CStA 2,27. Ebd. M. FREUDENBERG, Amt, 79. K. BLASER, Lehre, 14. CStA 2,29. F.W. GRAF, Munus, 91.

3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin

319

möglichungsgrund der Wahrnehmung kirchlicher Ämter, welche ohne die Gabe des Geistes nicht möglich wäre. Deshalb rückt Calvin die Kirche möglichst nahe an Person und Werk Christi heran. Aber er „belässt es dabei, sie [die christliche Gemeinde; M.H.] in der rezeptiven Rolle als Gegenüber zu ihrem Lehrer und Erzieher Christus zu deuten. Aus dieser Stellung heraus besteht das prophetische Amt der Christen in ihrem apostolischen, verkündigenden und auch pädagogischen Auftrag darin, das Evangelium ins Gespräch zu bringen.“184 Gleichwohl lassen sich die Ämter der Kirche nicht einfach aus den Ämtern Christi ableiten. Vielmehr gilt, „dass Calvin selber diese Linie so explizit nicht zieht und allein indirekte Hinweise zu sehen sind (etwa in Institutio II,15,2 im Blick auf die Verkündigung)“.185 Treffend bemerkt Eberhard Busch: „Es gibt keine Stellvertretung in dem, was Christus in diesen drei Ämtern tut, aber es gibt eine Teilnahme daran. Und auf solche Teilnahme zielt sein stellvertretendes Handeln: auf die Teilnahme aller Glaubenden an dem, was er in seinen drei Ämtern tut. Es ist freie Gnade, dass er sie bei sich haben will. Es herrscht darum zwischen beiden ein unumkehrbares Verhältnis. In dem von den Reformierten geschätzten Bild von Christus als dem Haupt und seiner Gemeinde als seinem Leib gesprochen: Sie ist als sein Leib auf ihn angewiesen – und nicht umgekehrt. Nur weil und wenn Jesus Christus da ist, ist auch sie da als seine Gemeinde – und nicht umgekehrt. Hier darf es keine Umkehrung geben. Die hätte eine Vermischung von Christus und Kirche zur Folge und würde so eine selbstherrliche, weil sich selbst mit Christus verwechselnde Kirche heraufführen.“186

Gegen die These von der Ableitung der Ämter der Kirche aus den Ämtern Jesu Christi spricht, dass Calvin selbst – wie eingangs erwähnt – die Dreizahl zuweilen durchbricht und – statt von drei Ämtern (Pastoren, Älteste, Diakone) – auch von vier Ämtern187 (Pastoren, Doktoren, Älteste, Diakone) sprechen kann. Insofern die Christologie bei Calvin keine unmittelbare Entsprechung innerhalb der Ekklesiologie hat, geht es Calvin nicht um die Realisierung christokratischer Ansprüche. Calvin hält vielmehr an der „bleibenden Differenz von Kirche und Christus“188 fest. 184 185

M. FREUDENBERG, Amt, 79. G. P LASGER, Die Dienste in der Gemeinde. Impulse aus der Ämterlehre Calvins für die gegenwärtige Diskussion um Amt und Ordination, EvTh 69 (2009), (133– 141) 135f. Vgl. P. OPITZ, Hermeneutik, 127f. 186 E. BUSCH, Reformiert, 182. Hervorhebungen im Original. 187 So CStA 2,238f. Vgl. A. GANOCZY, Ecclesia ministrans. Dienende Kirche und kirchlicher Dienst bei Calvin, ÖF I/3, Freiburg i.Br. u.a. 1968, 247f. 188 F.W. GRAF, Munus, 100.

320

X. De munere prophetico

Eine simple Identifikation von Christus und Kirche würde der ExtraDimension seiner Theologie fundamental widersprechen, wie er sie im sog. Extra-Calvinisticum grundgelegt hat.189 Kirche und Christus werden eben nicht miteinander identifiziert, so dass Grafs Kritik, so berechtigt sie grundsätzlich ist, im Blick auf Calvin ins Leere geht, ihn also nicht trifft: „Sind der erhöhte Christus und die Kirche als Subjekt prophetischer Kritik identisch, fallen das Jenseits prophetischer Kritik und diese selbst unmittelbar zusammen, dann läßt sich überhaupt kein theologischer Ort kritischer Distanz zu faktischen Kritikansprüchen mehr bezeichnen, also auch nicht zwischen wahrer und falscher Prophetie unterscheiden.“190 4. Die Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie : Caspar Olevian und Johann Heinrich Heidegger Die Drei-Ämter-Lehre Calvins hat sich in der sog. reformierten Orthodoxie als äußerst wirkmächtig erwiesen. Sie war ein Teil der altprotestantischen Orthodoxie im späten 16. und 17. Jahrhundert. Bei aller z.T. territorial bedingten und u.a. im Richtungsstreit zwischen calvinistischem Aristotelismus und Ramismus Ausdruck findenden Vielfalt der reformierten Orthodoxie fällt ihr Bezug auf „die überragende Autorität Calvins“191 auf, dessen Theologie in Gestalt der „Institutio“ dominierte.192 Dies lässt sich auch an der Rezeption der Drei-Ämter-Lehre festmachen, wie anhand von zwei Beispielen aus der reformierten Orthodoxie, nämlich anhand Caspar Olevians katechetischer, als Apostolikumsauslegung konzipierter Schrift „Fester Grund, das ist, die Artikel des alten, wahren, unzweifelhaften christlichen Glaubens“193 (1567) und Johann Heinrich Heideggers „Corpus theologiae christianae“ 189

Vgl. CH. LINK, Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung. Das sogenannte Extra-Calvinisticum, EvTh 47 (1987), 97–119. 190 F.W. GRAF, Munus, 100. Dort z.T. kursiv. 191 W.H. NEUSER, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, HDThG 2, Göttingen 21998, (165–352) 313. 192 Zu den literarischen Nachwirkungen der „Institutio“ Calvins vgl. O. FATIO, Presence de Calvin à la fin du 16e et au 17e siècle, in: W.H. NEUSER (Hg.), Calvinus Ecclesiae Doctor, Kampen 1980, 171–207. 193 Diese Schrift wird im Folgenden nach einer von S. Pötz, U. Keller und W. Holtmann erarbeiteten Transkription (im Netz unter: www.caspar-olevian.de [30.10.2009]) zitiert, die auf den posthum erschienenen Band Olevians „Der Gnadenbund Gottes“ (1590) zurückgreift, welcher u.a. den „Festen Grund“ (1567) beinhaltete. Zum Ganzen vgl. J.F.G. GOETERS, Olevians „Fester Grund“. Entstehung, Geschichte, Inhalt, in: C. OLEVIAN, Der Gnadenbund Gottes 1590. Faksimile-Edition mit einem Kommentar hg. von G. FRANZ u.a., Köln 1994, 467–490.

4. Die Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie

321

(2 Bde., posthum 1700) gezeigt werden soll. Bei Olevian handelt es sich um einen Repräsentanten der sog. reformierten Frühorthodoxie (seit ca. 1560),194 während Heidegger der sog. Hoch- bzw. Spätorthodoxie zugerechnet wird. 4.1 Caspar Olevian: „Fester Grund“ (1567) Caspar Olevian,195 dessen Anteil an der Entstehung des Heidelberger Katechismus die neuere Forschung für gering erachtet,196 wesentlich geringer zumindest als den des Melanchthon-Schülers Zacharias Ursinus, steht – wie der Heidelberger Katechismus – „an der Schwelle des Übergangs vom Zeitalter der Reformation zum Zeitalter der altprotestantischen Orthodoxie“.197 Der Heidelberger Katechismus, „das berühmteste Zeugnis des entstehenden deutschen Reformiertentums“,198 ist ein Unionskatechismus,199 den „die Verbindung melanchthonischer Formeln mit der calvinischen Lehrweise“200 charakterisiert. Olevian hat mit dem „Festen Bund“ einen ausführlichen Katechismus in Form einer Apostolikumsauslegung vorgelegt, die sich an die Fragen 21–58 des Heidelberger Katechismus anlehnt und eine calvinistische Auslegung desselben darstellt. Bezeichnenderweise folgt der Calvin-Schüler Olevian in der Festlegung der Ämter Christi der Reihenfolge des Genfer Katechismus und nicht der des Heidelberger Katechismus, wobei zu berücksichtigen ist, dass Calvin in der Endfassung der „Institutio“ – genau wie der Heidelberger – das prophetische Amt an die Spitze der Ämter stellt,201 als zweites Amt aber an194

J.F.G. Goeters ordnet Olevian „der werdenden Orthodoxie“ (J.F.G. GOETERS, Caspar Olevian als Theologe, in: H. FAULENBACH u.a. [Hg.], Caspar Olevian [1536 bis 1587] ein evangelisch-reformierter Theologe aus Trier. Studien und Vorträge anlässlich des 400. Todesjahres, Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes Jahrgang 1988/89, Köln 1989, [287–319] 289) zu. 195 Zur Biographie vgl. A. MÜHLING, Caspar Olevian 1536–1587. Christ, Kirchenpolitiker und Theologe, Studien und Texte zur Bullingerzeit 4, Zug 32009. 196 Vgl. J.F.G. GOETERS, Olevian, 299–310. 197 E. BUSCH, Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998, 9. 198 W.H. NEUSER, Dogma, 290. 199 Vgl. E. BUSCH, Freiheit, 12f. 200 W.H. NEUSER, Dogma, 290. 201 Nach Freudenberg tat Calvin dies, „um offenbar das Gewicht von Wort, Verkündigung und Bildung in den Vordergrund zu rücken und der hervorragenden Bedeutung des Wortes in den entstehenden ‚nach Gottes Wort reformierten‘ Kirchen Ausdruck zu geben. Denn Inst. II,15,2 zufolge ist in Christus und seinem Lehren exklusiv alles Wissen und alle Weisheit in vollkommener Fülle beschlossen.“ M. FREUDENBERG, Das dreifache Amt Christi, 79.

322

X. De munere prophetico

ders als der Heidelberger das königliche Amt anstelle des priesterlichen nennt.202 Schrift

Reihenfolge der Ämter

Genfer Katechismus (1542/45)

1. König

2. Priester

3. Prophet

Institutio (1559), II,15

1. Prophet

2. König

3. Priester

Heidelberger Katechismus (1563), Fr. 31f.

1. Prophet

2. Priester

3. König

Olevian, Fester Grund (1567)

1. König

2. Priester

3. Prophet

Man kann dies als ein Indiz dafür verstehen, in welch starker Weise Olevian seinem Lehrer Calvin theologisch folgt.203 Ein halbes Jahr nach der Erstveröffentlichung des Heidelberger Katechismus kündigt Olevian Bullinger im Herbst 1563 das Erscheinen seiner Schrift „Fester Grund“ an: „Ich habe außer den Predigten [gemeint ist Olevians Schrift ‚Kurze Summe und Inhalt etlicher Predigten‘, 1563; M.H.] einen ausführlichen Katechismus [gemeint ist der Heidelberger Katechimus, 1563; M.H.] vor den Händen, der dieselbe Methode wie im kleineren [gemeint ist wahrscheinlich die ‚Catechesis minor‘ (1562) von Zacharias Ursinus; M.H.] befolgt. Ich habe beschlossen, in ihm den Kern der wichtigsten Glaubenslehren zu behandeln.“204

Sehr viel ausführlicher als der Heidelberger Katechismus thematisiert Olevian im „Festen Grund“ neben der Vorsehungslehre, den Lehrstücken von Christi Höllenfahrt, Himmelfahrt und Erhöhung auch die Lehre vom dreifachen Amt Christi.205 Während sich der Heidelberger Katechismus darauf beschränkt, in Frage 31 festzuhalten, dass Christus „mit dem heiligen Geist gesalbet 202

Man wird also mit Neuser daran festhalten können, dass die in den Fragen 31 und 32 entwickelte Lehre vom munus triplex auf den Einfluss Calvins zurückgeführt werden kann. Vgl. W.H. NEUSER, Dogma, 290. 203 Freilich wird man im Blick auf das gesamte Oeuvre Calvins berücksichtigen müssen: „Eine kanonische Reihenfolge sucht man bei Calvin vergebens.“ J.F.G. GOETERS, Christi Königtum, 110. 204 C. OLEVIAN, Brief an Heinrich Bullinger (25.10.1563), zit. nach GOETERS, Olevian, 306. Lateinische Fassung in: H. FAULENBACH u.a. (Hg.), Caspar Olevian (1536 bis 1587) ein evangelisch-reformierter Theologe aus Trier. Studien und Vorträge anlässlich des 400. Todesjahres, Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes Jahrgang 1988/89, Köln 1989, 342f. 205 Vgl. J.F.G. GOETERS, Olevian, 307; 316.

4. Die Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie

323

ist, zu unserm öbersten Propheten und Lehrer, der uns den heimlichen rath und willen Gottes von unser erlösung volkomlich offenbaret“,206 und in Frage 32 als Wirkung der Salbung Christi die durch den Glauben empfangene Teilhabe am Leib Christi kurz benennt, die sich im prophetischen Amt im Bekenntnis seines Namens konkretisiert,207 entfaltet Olevian insbesondere die Frage nach dem Nutzen, also das Äquivalent zu Frage 32 des Heidelbergers, in extenso. Zunächst versucht Olevian, gleichsam den ontologischen Status der Salbung Christi zu klären, indem er unter Rekurs auf die ZweiNaturen-Lehre ausführt: „Daß Christus gesalbet ist zu unserm Lehrer, das verstehe ich also, daß er aus dem Schoß des himmlischen Vaters zu uns gesandt, und in seiner menschlichen Natur mit der Fülle des Heiligen Geistes gesalbet sei, damit er voller Gnaden und Wahrheit, den ewigen Willen und Rat Gottes klar und verständlich uns offenbarete.“208 Die Parallelität zur Beantwortung der Frage 31 im Heidelberger Katechismus liegt auf der Hand. Der Nutzen für die Gläubigen hingegen wird von Olevian ungleich ausführlicher und vor allem detaillierter aufgegliedert entfaltet als dies in Frage 32 des Heidelberger Katechismus der Fall ist. Olevian folgt demzufolge zwar formal der Zweiteilung der Fragestellung,209 deren erster Teil sich auf Christi Person und deren zweiter Teil sich auf Christi Werk bezieht, lässt aber beide Teile material in der Beantwortung der Fragestellung in ein asymmetrisches Verhältnis gelangen. Olevian unterscheidet einen dreifachen Nutzen. Der erste Nutzen der Salbung Christi mit dem Heiligen Geist besteht in der Vergewisserung der Gläubigen hinsichtlich des Heilswillens Gottes: „Auf daß wir dem gewißen Willen und väterlichem Gemüt Gottes gegen uns, keineswegs zweifeln können. Hat der Sohn selbst, der eins göttlichen Wesens mit dem Vater, und also im Schoß des Vaters ist, dem das Gemüt und der Will Gottes des Vaters gründlich und eigentlich bekannt ist, uns solchen Willen Gottes offenbaret. […] Also zeigt uns Gott sein Herz und Gemüt, das gleich als offen stehet im Heiligen Evangelio.“210

Der zweite Nutzen besteht in der Lehrvergewisserung, also in der Vergewisserung der vollkommenen Weisheit und mithin unsteigerbaren Suffizienz der Lehre Christi: 206 207

BSRK 690,32–691,2. Vgl. BSRK 691,11–14: „Warumb wirst aber du ein Christ genent? Antwort. Daß ich durch den glauben ein glied Christi, unnd also seiner salbung theilhafftig bin, auff daß auch ich seinen Namen bekenne.“ 208 C. OLEVIAN, Grund, 36. 209 In der Doppelheit dieser Fragestellung spiegelt sich die „Doppelpoligkeit der Theologie Calvins“ (G. PLASGER, Theologie, 61) wider. 210 C. OLEVIAN, Grund, 36.

324

X. De munere prophetico

„Dazu dienet es uns auch daß Christus unser Lehrer ist, daß wir wissen, daß in der Lehr die er uns gegeben hat, eine vollkommene Weisheit begriffen ist, also, daß alles was uns zur Seligkeit vonnöten ist, so vollkömmlich in derselbigen dargetan wird, daß wir mit der einigen Lehr zufrieden sein sollen, und alle andere Menschensatzungen, als Gedicht des Teufels, verwerfen.“211

Hier ist der Bezug zu Calvins Interpretation des prophetischen Amtes besonders eng, wenn dieser etwa bemerkt: „Die prophetische Würde, wie sie Christus innehat, soll uns also auch zu der Einsicht führen, daß in der Lehre, wie er sie gegeben hat, alle Weisheit in vollkommener Fülle beschlossen ist.“212 Den dritten Nutzen erblickt Olevian in der spezifischen Effektivität der Lehrvermittlung Christi: „Zum dritten ist Christus um der Ursachen willen mit dem Heiligen Geist gesalbet worden, daß er nicht allein seinen Jüngern die Lehr fürtrage, sondern auch durch die Kraft desselben seines Geistes in ihre Herzen schreibe, und sie verkläre in dasjenige, das sie von ihm gelernet haben.“213 Schließlich kommt Olevian auf den letzten Nutzen, die Partizipation am Amt Christi, mithin den Zusammenhang von Christologie und Ekklesiologie, zu sprechen. Olevian fasst das Partizipationsgeschehen als kommunikatives Geschehen zwischen Christus und den Seinen auf, welches er als Mitteilung bzw. Offenbarung des Willens Gottes, des Vaters, und als Zu-Propheten-Machen bestimmt: „Daß er dasselbige Lehramt und Kraft des Heiligen Geistes nicht für sich allein behält, sondern seinem ganzen Leib (welcher ist seine Kirch) mitteilet, in dem er seinem jeglichen Glied den Willen seines Vaters offenbaret, und sie also zu Propheten machet.“214 Dies geschehe auf zweierlei Weise: „Erstlich, in dem er seiner Kirchen Lehrer gibt, durch welcher Dienst er will kräftig sein, und ihm selbst Hausgenoßen und Jünger mache: Danach in dem er diese Jünger, das ist: die Gläubigen, wiewohl sie das öffentlich Predigtamt des Worts und der Sakramenten nicht führen, dennoch will, daß sie so fern das prophetisch oder Lehramt üben. Erstlich: daß sie mit einer aufrichtigen öffentlichen Bekenntnis des wahren Glaubens Gott preisen (Mark. 8 Vs. 38; Luk. 9 Vs. 26): Zum andern auch ihr Gesind unterweisen. Und zum dritten ein jeder seinen Nächsten im Herrn erbaue, so oft es die Gelegenheit gibt und möglich ist, doch ohne Zerstörung der Ordnung, die Gott einmal in seiner Kirchen hat aufgerichtet.“215

211 212 213 214 215

Ebd. Inst. (1559), II,15,2. C. OLEVIAN, Grund, 36. Ebd. A.a.O., 36f.

4. Die Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie

325

Olevian entfaltet hier die Lehre eines „allgemeinen Prophetentums aller Gläubigen“, das als Aufgabenbereich eine allgemeine Unterweisung wie allgemeine Erbauung in der Zuwendung zum Nächsten einschließt. Explizit fügt Olevian hinzu, „[d]aß aber alle Gläubigen und ihre Kinder dieser geistlichen prophetischen Salbung ihres Haupts Christi teilhaftig seien“.216 Jeder Christenmensch ist demzufolge ein Prophet, unabhängig davon, ob er den Dienst der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung ausübt. Olevian weiß wohl um die Schwierigkeit einer Institutionalisierung des Prophetischen und der Unterscheidung von wahren und falschen Propheten, deshalb beeilt er sich hinzuzufügen, dass die von Gott aufgerichteten Ordnungen der Kirche nicht zerstört werden sollen. Darin besteht sozusagen via negationis ein Legitimitätserweis prophetischer Ansprüche. Freilich ist anhand der Lehre Christi jeweils danach zu fragen, ob bei den tradierten kirchlichen Ordnungen wirklich von Gott aufgerichtete Ordnungen oder „Menschensatzungen, als des Teufels“217 vorliegen. Eine absolute Stabilität kirchlicher Ordnungen kann es deshalb nicht geben. Olevian erteilt also keineswegs unter Verbrämung des Prophetischen eine Lizenz zur Errichtung einer völlig freien, amtlosen Kirche. Ordnungslosigkeit ist Olevian zuwider, wie nicht zuletzt sein Engagement im Rahmen der Herborner Generalssynode (1586) zeigt, als deren Präses er fungierte und zu deren beschlossener und immerhin für vier der wetterauischen Grafschaften gültigen Ordnung er die Vorlage lieferte. Dort heißt es in den Artikeln 1 bis 4: „1. Artikel eins von den Ämtern, welche sind entweder 1. der Diener (Prediger), 2. der Lehrer (Doktoren), 3. der Ältesten (Senioren), 4. der Diakone. 2. Niemand soll in der Kirche lehren ohne rechtmäßige Berufung. 3. Niemand soll in einer fremden Gemeinde lehren ohne Zustimmung des dortigen Presbyteriums. 4. Die Berufung soll geschehen durch Entscheid der Klassis und etlicher Ältesten, wozu gehört: 1. die Wahl, 2. die Prüfung, 3. die Zulassung, 4. die Bestätigung im Amt oder Ordination.“218

Öffentlich ist das allgemeine Prophetentum nach Olevian in jedem Fall, auch dann, wenn die Gläubigen nicht den spezifischen Dienst der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung vollziehen. Dies gilt nämlich grundsätzlich, insofern das Bekenntnis des wahren Glaubens als aufrichtiges, öffentliches Bekenntnis den Lobpreis Gottes

216 217 218

A.a.O., 37. A.a.O., 36. P. JACOBS (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Neukirchen 1949, 272.

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ausrichtet. Ein Nikodemitentum, wie Calvin es kannte und brandmarkte,219 erweist sich als ausgeschlossen. Wird damit nun von Olevian das prophetische Amt in der Weise prophetisch oder ethisch beansprucht, wie es Honecker220 oder Graf kritisieren? Mit dem Öffentlichkeitscharakter des Bekennens, welches gleichsam das „publice docere“ (CA XIV) eines Dienstes der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung übersteigt, ist freilich auch dessen politischer Charakter gegeben, ohne dass man dies im Sinne einer Politisierung der Lehre vom Amt Christi negativ qualifizieren bzw. konnotieren müsste. Anders gesagt: Das Bekenntnis geschieht im Raum der Öffentlichkeit und ist von daher natürlich ein politisches Phänomen. Das prophetische Amt wird aber dadurch nicht in ein bestimmtes politisches Programm übertragen.221 Vielmehr geht es Olevian um den Öffentlichkeitsauftrag der gesamten Kirche, der mit ihrem Verkündigungsauftrag gegeben ist und sich differenziert nach verschiedenen Diensten bzw. Ämtern in derselben realisiert, eben in Gestalt des öffentlichen Predigtamtes oder des öffentliches Bekenntnisses des wahren Glaubens durch solche, die ein solches Predigtamt nicht wahrnehmen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Olevian sich nicht zu politischen Fragen geäußert hat oder gar ein homo apoliticus gewesen ist.222 Man kann aber bezüglich seines Beitrages zur politisch-ethischen Theoriebildung mit Hans Helmut Eßer festhalten: Olevian „bleibt hinsichtlich solcher Lehrstücke sehr zurückhaltend, für einen qualifizierten Juristen äußerst karg. Er will in erster Linie lernender, seine Erkenntnis vertiefender Theologe sein. Sein juristisches Können kommt Ordnungs-, Leitungs-, Organisationsaufgaben zugute, weniger politisch-ethischen Theorien.“223 219

Vgl. H. SCHOLL, Reformation und Politik. Politische Ethik bei Luther, Calvin und den Frühhugenotten, Stuttgart u.a. 1976, 66–86. 220 Vgl. M. HONECKER, Grundriß, 28. 221 Vgl. M. HONECKER, Autorität, 126. 222 Vgl. H. SCHOLL, Vorwort, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 7: „Die Reformation gebiert den homo politicus, damals und heute.“ Hervorhebung im Original. 223 H.H. ESSER, Die politische Theorie Caspar Olevians und des Johannes Althusius, in: G. DUSO u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie. Beiheft 16, Berlin 1997, (83–97) 84. Hervorhebung im Original. So auch ESSER, Die Staatsauffassung Johannes Calvins und Caspar Olevians, in: H. FAULENBACH u.a. (Hg.), Caspar Olevian (1536 bis 1587) ein evangelisch-reformierter Theologe aus Trier. Studien und Vorträge anlässlich des 400. Todesjahres, Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes Jahrgang 1988/89, Köln 1989, (247–265) 247. Vgl. H. GRAFFMANN, Caspar Olevians Stellung in der Entstehungsgeschichte der Demokratie, JHGKV 22 (1971), 85–121.

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Der Vorwurf Grafs jedenfalls, die altreformierten Dogmatiker des späten 16. und 17. Jahrhunderts hätten die Konzeption kirchlicher Prophetie, welche – wie bei Calvin – direkt und unmittelbar von Gott berufene prophetische Einzelgestalten vorsah, durch eine „Gesamtprophetie der Kirche gegenüber der Welt“224 entschärft, ist insofern im Blick auf Olevian nicht haltbar, als dass Kirche als ein nach verschiedenen Diensten differenziertes Geschehen bzw. Gebilde verstanden wird.225 Die Gesamtprophetie der Kirche erweist und vollzieht sich nach Olevian als eine nach Ämter und Diensten geordnete und keineswegs als anarchisch-chaotisches Phänomen. Im Übrigen findet man bei Olevian in semantischer Hinsicht keine Indizien, dass der Begriff des „Prophetischen“ spekulativ-irrationale Zukunftsdeutung oder ideologische Suggestion unter Umgehung rationaler ethischer Urteilsbildung konnotiert, geschweige denn denotiert. Wie Calvin, so beruft sich auch Olevian auf die Verheißung des Propheten Joel, die er im Pfingstwunder erfüllt sieht. Prophetie realisiert und konkretisiert sich nach Olevian in der Anrufung des Namens Gottes: „Wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll selig werden. Hie bedenk nun ein jeder Gläubiger, ob er selbst samt seinen Kindern und Gesind dieses Segens Gottes, den Gott diesen unsern Zeiten verheißen hat, teilhaftig sei, und rufe Gott an um solches großes Geschenk, so wird ers ihm geben und mehren, daß er endlich dies selig End mit den seinen erreiche, davon Gott spricht (Joel 2 Vs. 30; Röm. 10 Vs. 13): Es soll geschehen, daß, wer den Namen des Herrn anrufen wird, der wird selig werden. Ich und die meinen rufen den Namen des Herren von Herzen an, sagt mir mein Gewissen: Derhalben werden wir selig werden. Getreu ist der, der es verheißen hat, der wirds auch tun.“226

Als Summa des gesamten Lehrstücks von den drei Ämtern Christi formuliert Olevian: „Dies ist die Summa, wie die Schrift sagt: Daß Christus ohne Maß mit dem Hl. Geist gesalbet ist, auf daß wir alle aus seiner Fülle schöpfen (Joh. 1 Vs. 16). Und daß alles was er für geistliche Gaben hat, nicht allein sein, sondern auch unser sei.“227 Man wird nun nicht hingehen dürfen und den starken soteriologischen Akzent Olevians, wie er in der Entfaltung der Lehre vom prophetischen Amt Christi ansichtig wird, als Indiz für eine „philippistische Tendenz“ bzw. melanchthonische Ausrichtung des Denkens Olevians werten dürfen. 224 225

F.W. GRAF, Munus, 90. Im Blick auf Calvin betont G.Plasger: „Als wichtigste und herausgehobene Ordnung in der Kirche ist bei Calvin der gegliederte Dienst zu verstehen.“ G. PLASGER, Art. Kirche, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (317–325) 324. 226 C. OLEVIAN, Grund, 37. 227 Ebd.

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Mag man etwa die Frage nach dem „einzigen Trost“ in der Frage 1 des Heidelberger Katechismus in die Nähe Melanchthons und seines berühmten Diktums: „[…] hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere, non, quod isti docent, eius naturas, modos incarnationis continueri.“228 stellen,229 so wird man nicht übersehen dürfen, dass Calvin im Genfer Katechismus (1545) die Frage nach dem Nutzen („Ziehst du daraus irgendwelchen Nutzen?“230) nicht nur explizit gestellt,231 sondern diese Frage auch detailliert auf alle drei Ämter bezogen hat: „Was bringt uns sein Königtum? […] Wozu dient sein Priesteramt? […] Dann bleibt das Prophetenamt.“232 Abschließend bemerkt Calvin dort: „Alles, was du sagst, läuft also darauf hinaus, daß die Bezeichnung ‚Christus‘ diese drei Ämter umfaßt, vom Vater dem Sohne gegeben, damit er deren Kraft und Nutzen den Seinen vermittle.“233 Calvin stellt bezeichnenderweise die gesamte Lehre von den drei Ämtern in der „Institutio“ (II,15) unter die Überschrift: „Wollen wir wissen, wozu Christus vom Vater gesandt ward und was er uns gebracht hat, so müssen wir vornehmlich sein dreifaches Amt, das prophetische, königliche und priesterliche, betrachten“. Als Schüler Calvins weitet Olevian Calvins Frage nach dem Nutzen gegenüber dem Heidelberger Katechismus aus, in deren Beantwortung die Verbindung von Soteriologie und Ekklesiologie deutlich in Erscheinung tritt. Beiden, Calvin und Olevian, geht es nicht um eine formale Deutung des Christusnamens, sondern um die Frage nach dem „Wozu“ der Sendung Jesu Christi, die auch die Frage nach seiner Person des Mittlers beantwortet.

228

PH. MELANCHTHON, Loci communes 1521, 0,13. Zit. nach MELANCHTHON, Loci communes 1521. Lateinisch – Deutsch, übers. und mit kommentierenden Anm. versehen von H.G. PÖHLMANN, hg. von VELKD, Gütersloh 1997, 22. H.G. Pöhlmann übersetzt: „Denn das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen, nicht, was diese lehren: seine Naturen, die Art und Weisen der Menschwerdung betrachten.“ A.a.O., 23. 229 Vgl. E. BUSCH, Freiheit, 12f. 230 CStA 2,27. Dort kursiv. 231 Blaser stellt den Bezug zwischen Melanchthon und Calvin explizit her: „Sie [die Lehre von den drei Ämtern; M.H.] will die Beziehung zwischen der Person und dem Werk Christi herstellen und aussagen. Wer Jesus ist, manifestiert sich in seinem Werk. Das verbindet Calvin mit Melanchthon.“ K. BLASER, Lehre, 5. 232 CStA 2,29. Dort kursiv. 233 Ebd. Dort kursiv.

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4.2 Johann Heinrich Heidegger: „Corpus theologiae christianae“ (1700) Ebenso wie Calvin und der Heidelberger Katechismus betont auch der Zürcher Vertreter der gemäßigten reformierten Hoch- bzw. Spätorthodoxie Johann Heinrich Heidegger (1633–1698), ein direkter Nachfahre sowohl Zwinglis als auch Bullingers,234 der als maßgeblicher Verfasser der Helvetischen Konsensus-Formel (1675) bekannt geworden ist,235 dass Christus durch sein prophetisches Amt Gottes Willen sich selbst unmittelbar vor Augen gestellt und voll und klar zu unserem Heil geoffenbart hat: „Prophetia Christi est, qua is voluntatem Dei de nostra salute sibi immediate monstratam plene planeque revelavit.“236 Heidegger, der ein bedeutender Vertreter der reformierten Föderaltheologie war,237 unterscheidet – und hier zeigt sich exemplarisch die Tendenz der Orthodoxie zur Systematisierung der Lehre vom munus triplex238 – zwischen einer prophetia legalis und einer prophetia euangelica. Erstere bezieht er auf den mit der Schöpfung konstituierten Werkbund239 und letztere auf den durch Christi Erlösungswerk realisierten Gnadenbund240. In Bezug auf den Werkbund lehrt Christus in seinem prophetischen Amt die wahre Gerechtigkeit, welche das Gesetz fordert. Er ist dabei keineswegs als ein neuer Gesetzgeber aufgetreten, sondern hat den wahren, nämlich geistlichen Charakter des Gesetzes enthüllt: „Legalis Christi prophetia in explicatione verae iustitiae, quam lex requirit, constitit. Absque hac enim et eius solida cognitione Christus verus salvator agnosci non poterat, quia tota eius salvatio in exhibitione verae iustitiae, quam lex in foedere operum exegerat, vertebatur. Non ergo Christus novum legislatorem, sed doctorem et prophetam, legis semel a Deo per Mosen latae rationem spiritualem (Rom. 7, 14.) adeoque veram legis iustitiam, quam ipse impleturus in carnem venerat, demonstrantem, egerat.“241

234

So K. HUTTER, Der Gottesbund in der Heilslehre des Zürcher Theologen Johann Heinrich Heidegger, Gossau 1955, 14f. 235 Zum Lebensweg Heideggers vgl. a.a.O., 13–56. 236 J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,28. 237 Hutter zeigt, „dass Heideggers ganze Theologie auf die vom Bundesgedanken geformten Lehren über den Urstand, die Sünde und die Gnade ausgerichtet ist und nur von da aus richtig verstanden werden kann“. K. HUTTER, Gottesbund, 95. Dort z.T. kursiv. 238 Vgl. K. BLASER, Lehre, 47f. 239 Vgl. zum Werkbund K. HUTTER, Gottesbund, 111–140. 240 Vgl. zum Gnadenbund a.a.O., 174–236. 241 J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,34. Hevorhebung im Original.

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Auf dem Hintergrund des Werkbundes und der in ihm geforderten Gerechtigkeit, deren Erkenntnis Christus in seinem prophetischen Amt lehrt, wird das durch ihn vermittelte Gnadenheil, wie es den Gnadenbund kennzeichnet, kontrastiv erkennbar; wobei Heidegger, der mit der Antithetik eines doppelten Bundes arbeitet,242 genau diese heilsame und heilvolle Erkenntnis auf Christi prophetisches Amt, seine prophetia euangelica, zurückführt. Als Hauptkennzeichen von Heideggers Rezeption der sog. DreiÄmter-Lehre und damit implizit auch der Lehre vom prophetischen Amt Christi erweist sich freilich eine Ontologisierung dieses Lehrstücks, wie sie die altprotestantische und auch die sog. reformierte Orthodoxie insgesamt charakterisiert: Jesus Christus übt nicht nur die Funktion eines Königs, Priesters und Propheten aus. Nein, er ist König, Priester und Prophet, und zwar bereits vor seiner Inkarnation. In strenger systematischer Geschlossenheit wird das Lehrstück von der Schöpfung bis zur Vollendung, dem Heilsziel der ewigen Seligkeit, entfaltet. Der heilsgeschichtliche Zugang, hinter dem sich Heideggers föderaltheologischer Ansatz verbirgt,243 sprengt allerdings jene der reformierten Orthodoxie zugeschriebene Tendenz, „die Schrift in unhistorischer Weise als eine Zusammenstellung von Sätzen (body of propositions) zu beschreiben, die ein für alle Mal durch Gott überliefert worden war und deren Zweck ist, eine nicht irrende, unfehlbare Grundlage zu schaffen, auf der eine gediegene Philosophie errichtet werden könnte“.244 In den heilsgeschichtlichen Rahmen zeichnet Heidegger den Weg Christi ein, und zwar als einen Weg, der gleichsam den gesamten Rahmen, also aller Anfänge Anfang und aller Enden Ende, umfasst: „Diese prophetische Tätigkeit übte Christus schon von Ewigkeit her aus; denn als logos incarnandus ist er von Ewigkeit her wesentlich Prophet wie Hohepriester und König.“245 Gleichsam mit antiarianischem Impetus führt Heidegger aus, dass es keine Zeit gegeben habe, in der Christus nicht Retter und Vermittler gewesen sei: „Numquam non Christus propheta fuit, sicut nunquam non salvator et mediator, sed tum maxime, cum in carne apparuit.“246 242 243

So K. HUTTER, Gottesbund, 240 u.ö. Vgl. zur Bedeutung des Bundesgedankens für die Heilslehre bei Heidegger K. HUTTER, Gottesbund, 74–95, und zu dieser Thematik allgemein E. BUSCH, Der Beitrag und Ertrag der Föderaltheologie für ein geschichtliches Verständnis der Offenbarung, in: F. CHRIST (Hg.), Oikonomia. Heilsgeschichte als Thema der Theologie. FS Oscar Cullmann, Hamburg 1967, 171–190. 244 J.S. BRAY, zit. nach W.H. NEUSER, Dogma, 314. 245 H. HEPPE / E. BIZER, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen 1958, 357. Hervorhebung im Original. 246 J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,29.

4. Die Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie

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Das Inkarnationsgeschehen bildet zwar einen entscheidenden Einschnitt: „Vorzugsweise übt […] Christus sein prophetisches Amt aus, seitdem er ins Fleisch gekommen ist.“247 Heidegger beeilt sich jedoch, jeden adoptianischen Anschein durch (spekulative) Präexistenzaussagen, die auf den logos incarnandus als zweite Person der Trinität bezogen werden, zu vermeiden. Heidegger erklärt: „Fecit id, ut Deus et Dei Filius ante incarnationem, ut angelus Iehovae, h. e. is, qui mittendus erat a Iehova, assertor seminis Abrahami et sponsor testamenti. Is enim, qui serpentem inter et mulierem inimicitiam posuit, sanctificator fidelium iam in paradiso locutus est (Gen. 3, 15).“248 Das Diktum Gen 3,15 wird als „Protoevangelium“ gedeutet, welches bereits vom Sohn Gottes als logos incarnandus gesprochen wurde, sich aber auf den logos incarnatus bezieht. Im Blick auf letzteren war nach Heidegger „schon vom Moment seiner [Christi] Konzeption an zwar nicht die Menschheit, aber der göttliche Logos Christi prophetisch wirksam, indem er den Engeln und Menschen die Erkenntnis, daß er der verheißene Heiland sei, vermittelte“.249 Bei Heidegger, der bezeichnenderweise terminologisch nicht nur auf den Philipperhymnus (Phil 2,7), sondern – ebenso wie Calvin250 – auch auf das Chalcedonense (451) rekurriert, heißt es wörtlich: „Prophetae isthoc munus in forma servi obiit idem ille, qui ante et post assumptam servi formam ἀτρέτως unus cum Patre et Spiritu S. summus doctor fuit et est, et qui omnes prophetas, quotquot in mundo fuerunt, Spiritu suo afflavit.“251 Die trinitätstheologische Verankerung der Lehre vom prophetischen Amt erlaubt es Heidegger, diese zugleich präexistenz- und inkarnationstheologisch auszulegen.252 Sein Rückgriff auf die Zwei-NaturenLehre ermöglicht es ihm, von einer Entwicklung der Lehre in Christus, einem geschichtlichen Wachsen im Sinne eines Lernprozesses im Gefälle von Unterweisung und Autodidaktik auszugehen: „Nam a primo conceptionis momento officio prophetae defunctus est Filius Dei θεάνθρωπος secundum naturam divinam ἀδίδακτος et per illam

247 248 249 250 251 252

H. HEPPE / E. BIZER, Dogmatik, 357. J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,28. H. HEPPE / E. BIZER, Dogmatik, 357. Vgl. Inst. (1559), II,14,4. J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,30. Im Blick auf die Gegenwart kann diese Aussage auf dem Hintergrund der Bemerkung G. Wainwrights gelesen werden: „Liberal Protestants liked to classify Jesus as a prophet. That at least helped us all to recover the genuine humanity of Jesus. But the category must not be used reductionistically.“ G. WAINWRIGHT, For Our Salvation. Two Approaches to the Work of Christ, Grand Rapids 1997, 122.

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in ipso habitantem αὐτοδι,δακτος et ad humanae sapientiae efformationem institutus et factus διδακτικὸς ad oris humani apertionem.“253 In der reformierten Orthodoxie wird, wie man generell konstatieren kann, festgehalten: „[D]ie Menschheit Jesu [war] schon vorher durch ihre unio personalis mit dem Sohn mit besonderen Gaben und Gnaden des Geistes erfüllt, wodurch jedoch nicht ausgeschlossen war, daß Christus als Mensch sich allmählich entwickelte und an Weisheit und Gnade vor Gott und den Menschen wuchs.“254 Dementsprechend wird auch die Taufe Christi interpretiert, nämlich geist-, aber nicht adoptionschristologisch: „In Gemäßheit des ewigen Pakts des Vaters mit dem Sohn ist daher der Sohn zur Verrichtung des Mittleramtes Mensch geworden, wozu ihn der Vater mit der Kraft des heil. Geistes gesalbt hat, so daß der Sohn als der Gesalbte Gottes, als Christus, ein Mittler zwischen Gott und den Menschen ist. Diese Salbung empfing Christus, als er getauft wurde.“255 Die Taufe wird als Ermächtigung zum Mittleramt interpretiert: „Bei der Taufe erhielt die Menschheit Jesu diejenige geistliche Salbung, welche sie zur Verrichtung des Mittleramtes bedurfte.“256 Hinsichtlich des prophetischen Amtes versteht Heidegger die Taufe als einen Öffentlichkeitsakt, eine Art Proklamation oder Präsentation, die ein ewiges Faktum enthüllt, welches in der Himmelsstimme des Vaters Ausdruck erhält: „Publicam muneris prophetici functionem Christus a Iohanne baptizatus et coelesti Patris voce: Hic est Filius ille meus dilectus, in quo acquiesco, ἀκούετε αὐτοῦ (Matth. 3, 17; 17, 5) commendatus obire coepit.“257 Wie bei Calvin258, so manifestiert sich in diesem Mischzitat Heideggers ein doppelter Verweis auf Mt 3,17 und 17,5. Hier hätte es sicherlich nahe gelegen, den Öffentlichkeitscharakter des prophetischen Amtes Jesu in seiner politischen Relevanz hervorzuheben. Bezeichnenderweise geschieht aber genau dies nicht. Diese Ausführungen verhalten sich vielmehr politisch abstinent, was umso bemerkenswerter ist, als dass Heidegger ja in Zürich eine Professur für „Ethica christiana“ innehatte und allein schon von Berufs wegen die res politica nicht ausblenden konnte. Man hat davon gesprochen, dass sich die reformierte Hochorthodoxie „stärker von den Interessen des Staates vereinnahmen liess als die Reformatoren“.259 Auf Heidegger trifft dies – wenn überhaupt – dann allenfalls nur sehr bedingt zu: 253 254 255 256 257 258 259

J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,30. H. HEPPE / E. BIZER, Dogmatik, 355. Hervorhebung im Original. Ebd. Ebd. J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,33. Inst. (1559), II,15,2. C. ZANGGER, Der besondere Akzent: Die ideologiekritische Sensibilität, in: M. KRIEG / G. ZANGGER-DERRON (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 22003, (38–43) 39.

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Auf obrigkeitlichen Befehl hin hat sich Heidegger bis an sein Lebensende mit heftiger Polemik gegen die Katholiken befasst,260 während er im Blick auf die innerreformierten theologischen Streitigkeiten eher versuchte auszugleichen. Bereits vor seiner Zürcher Zeit findet sich bei ihm der Gedanke an einen Zusammenschluss aller Protestanten zu einer Einheit in der Lehre.261 Dies sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass Persönlichkeiten wie Heideggers Freund, der Basler Antistes Lukas Gernler (1625– 1675),262 durchaus in prophetischer Manier die Behörden und wirtschaftlich führenden Kreise kritisierte: So „geißelte [er] in schärfster Weise unter häufiger Zitierung alttestamentlicher Gerichts- und Zornesworte die ‚Dorophagia‘, das heißt die Gabenfresserei bei der Bestellung von Ämtern, ‚das ist, die Sünd, da man sich mit miet und Gaben bestechen lasst …‘“.263 Gernler war bekannt für seine politischen Predigten, in denen es Ende April 1672 „sogar zu einem offenen Zusammenstoß mit dem Rat [kam]. Der Antistes wurde, was sehr selten geschah, vor die Ratsherren befohlen und hatte sich dort zu verantworten, weil er an einem Fast- und Bettag von der Kanzel herab gegen den Ratsbeschluß Stellung genommen hatte, der dem französischen König das Recht auf Truppenwerbungen auf Schweizerboden einräumte“.264

An seinen Freund Heidegger schreibt Gernler im Herbst 1672: „Die Politik ist schon lange von der Theologie getrennt. Die Regel einiger 260 261 262

Vgl. K. HUTTER, Gottesbund, 39. Vgl. a.a.O., 56. Gernler half Heidegger beispielsweise im Jahr 1674, also noch vor Abfassung der Konsensus-Formel, durch ein Gutachten aus, das jener anlässlich der gegen ihn erhobenen Vorwürfe verfasste, coccejanische Lehren (konkret die Auffassung, dass der Untergang des Antichristen, die Bekehrung der Juden und der ungläubigen Völker sowie der darauf folgende Friede noch vor dem jüngsten Gericht eintreffen werde) zu vertreten, die „gegen Gottes Wort, gegen die Eidgenössische Konfession und gegen den Synodaleid der Zürcher Geistlichen sei“ (K. HUTTER, Gottesbund, 49). Gernler hielt die Theologie des Coccejus ebenso wie Heidegger für orthodox. Umgekehrt hatte Gernler seinen Freund Heidegger im Januar 1670 in seinem Kampf gegen die Säkularisierung des Staates und gegen obrigkeitliche Angriffe auf Selbständigkeit der Kirche um die Abfassung einer Disputation gebeten: „Es war anfangs 1670, als Antistes Gernler ‚cum politico quodam viro erudito‘ ein Gespräch führte, in welchem dieser mit Berufung auf Grotius die Ansicht vertrat, ‚ipsam excommunicationem a Magistratus arbitrio pendere‘, was nach Gernler eine Gleichschaltung des geistlichen Amtes mit der Funktion zum Beispiel eines Richters bedeutete. Nur die Autorität Johann Heinrich Heideggers erachtete der Basler Antistes gewichtig genug, um zu dieser brennenden Frage ein Wort zu sagen, und er bat seinen Freund um die Abfassung einer ‚Disputatio de potestate ecclesiastica‘, von der er sich gerade für die Basler Verhältnisse Klärung und Nutzen versprach.“ M. GEIGER, Die Basler Kirche in der Zeit der Hochorthodoxie, Zürich 1952, 196f. 263 A.a.O., 199f. Hevorhebung im Original. 264 A.a.O., 202.

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Herrschenden ist diese: die Theologen seien zu hören in geistlichen und kirchlichen Dingen; unfähig hingegen seien sie, in politischen Fragen zu urteilen.“265 Beide Theologen scheinen sich in ihrem starken Engagement gegen die Verfolgungen der reformierten Kirchen insbesondere in Ungarn und Frankreich einig gewesen zu sein. Wie Gernler mit seinen Stellungnahmen aneckte, die „eine Kampfansage besonders an die Frankreichpolitik des Rates“266 bedeuteten, so sah sich auch Heidegger genötigt, seine gegen die Exponenten eines profranzösischen Kurses gerichtete Schrift „Historia Papatus“ (1684) unter dem Pseudonym Nicander a Hohenegg zu publizieren, da die Eidgenossen, auch die reformierten Stände, gute Beziehungen zum französischen Königshof unterhielten.267 Das politische Engagement Heideggers ist aber bezeichnender Weise nicht im Sinne einer „Politisierung“ in Heideggers Entfaltung des prophetischen Amtes eingeflossen. Eine politisierende Auslegung des Lehrstücks vom prophetischen Amt ist bei Heidegger nicht zu finden. Und auch das königliche Amt Christi interpretiert Heidegger strikt als auf das himmlische Reich Gottes bezogen: „[…] quia Deus habere thronum in coelo atque non est in terra, ut homo, sed multo magis, quia est regnum Dei coeleste et non terrestre.“268 Der Bezug auf Calvin wird hier abermals deutlich, der ebenfalls betont, dass Christi Königsamt „geistlicher Natur“269 (spiritualem naturam) ist. Lediglich die alttestamentliche (Heils-)Ökonomie sei durch eine Vermischung von geistlichem und weltlichem Königtum Christi gekennzeichnet gewesen. Die alttestamentliche Ökonomie aber sei mit dem Ende ihrer Institutionen definitiv abgetan: „Im Alten Testament hatte sich Christus nach dem Ratschluß des Vaters das Volk Israel zum Volk des Eigentums erwählt, um über dasselbe so ausschließlich das Regiment zu führen, daß er auch das bürgerliche Gemeinwesen des Volkes selbst bestimmte. Hernach ordnete Christus Könige und Propheten in Israel, um durch dieselben sein Königtum auszuüben; allein wie diese Institutionen nur eine Hinweisung auf die wahre Herrlichkeit des Königtums waren, die in ihnen noch nicht vollkommen offenbar werden konnte, so konnte die alttestamentliche Ökonomie auch die wahre Freudigkeit und Seligkeit des Reiches Christi noch nicht ins Leben rufen. Dies geschah erst damals, als den Juden wie den Heiden verkündet ward, daß das Reich Christi in keiner Weise von dieser Welt, daß es rein himmlisch und in den Seelen der Gläubigen sei.“270 265 266 267 268 269 270

Zit. nach a.a.O., 201. Ebd. So K. HUTTER, Gottesbund, 55. J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX, 111. Inst. (1559), II,15,3. So auch a.a.O., II,15,4f. H. HEPPE / E. BIZER, Dogmatik, 362. Vgl. J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,110f.

5. Das prophetische Amt im reformierten Pietismus

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5. Das prophetische Amt im reformierten Pietismus Friedrich Adolf Lampe: „Milch der Wahrheit“ (1720) Als nächste theologiegeschichtliche Station soll der reformierte Pietismus anhand der katechetischen Ausführungen des Coccejaners Friedrich Adolf Lampe (1683–1729) zum prophetischen Amt aufgesucht und thematisiert werden. Johann Friedrich Gerhard Goeters zufolge ist Lampe der einzige akademische Theologe von Rang, den das deutsche Reformiertentum hervorgebracht hat.271 Auch sei er „in Bremen und am Niederrhein mit Abstand der bedeutendste reformierte Theologe seiner Zeit gewesen“.272 „Mit seinen Schriften, einer ausführlichen Laiendogmatik, katechetischen Werken, vielen Predigtsammlungen und auch Liedern“ – so Goeters weiter – „hat er vielerorts und langdauernd gewirkt und ist zum eigentlichen Vater eines landeskirchlichen Pietismus im deutschen Nordwesten geworden. Sein Erbe hat in den Gemeinden sogar die Aufklärung überdauert und in der Erweckungsbewegung neue Kraft entfaltet“.273 Lampe ist neben seinem Hauptwerk „Geheimnis des Gnadenbundes, dem großen Bundesgott zu Ehre und allen heilsbegierigen Seelen zur Erbauung geöffnet“ (Bremen 1712–1719) vor allem durch seine Auslegung bzw. katechetische Bearbeitung des Heidelberger Katechismus, die unter dem Titel „Milch der Wahrheit nach Anleitung des Heidelbergischen Catechismi zum Nutzen der Lehrbegierigen Jugend“274 271

So J.F.G. GOETERS, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, in: M. BRECHT / K. DEPPERMANN (Hg.), Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Göttingen 1995, (372–427) 372. Ähnlich auch M. FREUDENBERG, Erkenntnis und Frömmigkeitsbildung. Beobachtungen zu Friedrich Adolf Lampes Erklärung des Heidelberger Katechismus „Milch der Wahrheit“ (1720), in: H. KLUETING / J. ROHLS (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 4, Wuppertal 2001, (157–177) 158; M. FREUDENBERG, Erkenntnis, Trost und Tugend. Drei Variationen reformierter Katechetik – dargestellt vor dem Hintergrund von Calvins Katechismen, in: P. MÄHLING (Hg.), Orientierung für das Leben. Kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit. FS Manfred Schulze, Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie 13, Berlin 2010, (201–219) 214. 272 J.F.G. GOETERS, Pietismus, 375. J. Wallmann nennt Lampe neben dem Mühlheimer Pfarrer Theodor Undereyck (1635–1693) die „zweite[ ] bedeutende[ ] Gestalt des älteren reformierten Pietismus in Deutschland“ (J. WALLMANN, Der Pietismus, Göttingen 2005, 53). Er habe „den reformierten deutschen Pietismus bis ins 19. Jahrhundert hinein geprägt und auf die coccejanische Föderaltheologie festgelegt.“ A.a.O., 53f. 273 J.F.G. GOETERS, Pietismus, 375. Ähnlich M. FREUDENBERG, Erkenntnis, 160. 274 Neu ediert und herausgegeben von M. Freudenberg: F.A. LAMPE, Milch der Wahrheit, Beiträge zur Katechismusgeschichte 4, Rödingen 2000.

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X. De munere prophetico

(1720) erschien, bekannt geworden. In Lampes Auslegung der Fragen 31 und 32 werden einige Akzentuierungen und Spezifika sichtbar, die theologiegeschichtlich den pietistischen Hintergrund und Gehalt seiner Ausführungen zum prophetischen Amt der Kirche erhellen. Lampe stellte der zweiten Auflage (1722) seiner Erklärung des Heidelberger Katechismus ein Widmungsschreiben an den reformierten Erbprinzen Friedrich Wilhelm von Nassau-Siegen voran, den Lampe selbst als Professor in Utrecht „in den Gründen der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist“,275 unterwiesen hatte. In Anlehnung an 1Petr 2,9 mahnt Lampe dort an: „Der höchste Fürsten-Stand ist derjenige, in welchem GOttes Gunst-Genossen als ein auserwähltes Geschlecht und Königliches Priesterthum rühmen dürffen. Der erste Adel ist, aus GOtt gebohren seyn.“276 In diesen Worten spricht sich eine klare Priorisierung der geistlichen Herrschaftsordnung gegenüber der weltlichen aus, die einen zukünftigen weltlichen Herrscher auf erstere verpflichten soll. Dazu wird ihm die wahre Hierarchie – im ursprünglichen Sinn des Wortes als „heilige Herrschaft“ verstanden – vor Augen gestellt. Das sich hier artikulierte Ansinnen ist durchaus als herrschaftskritisch zu bezeichnen, insofern Lampe zwischen beiden Herrschaftsordnungen unterscheidet und davon ausgeht, dass sich beide nicht deckungsgleich verhalten. Ein Bewusstsein für diese Differenz möchte er auch beim Erbprinzen wecken bzw. stärken. Dieses werde indirekt auch der Praxis seiner Herrschaftsausübung zugute kommen: „Fürsten, die solches zu Hertzen fassen, sind destomehr für eine Lust des menschlichen Geschlechts, und sonderlich des Volcks GOttes zu achten, desto schwerer und seltener hohe Stands-Personen ihre höchste Ehre darein setzen, daß sie ihre Herrlichkeit ins neue Jerusalem bringen, und gewürdiget werden, Pfleger und Säugammen der Kirche auf Erden zu seyn.“277 Auch die folgende Aussage fällt nicht minder herrschaftskritisch aus: „Alle irdische Hoheiten und Herrlichkeiten sind wie eine Lilie des Feldes, und mit der ewigen Herrlichkeit derer, die CHristus JEsus zu Königen und Priestern gemacht hat, verglichen, nur ein Stäublein in der Waagschale.“278 Lampe stellt dem Erbprinzen aus dem Hause Oranien, „welches“ – so Lampe in seiner captatio benevolentiae – „so viel Helden zur Verthädigung der Wahrheit und Freyheit hat ausgeliefert, und so viel Blut dafür vergossen“279 hat, mit seinem Vergleich 275 276 277 278 279

A.a.O., 2. A.a.O., 3. Ebd. Ebd. A.a.O., 2.

5. Das prophetische Amt im reformierten Pietismus

337

die Vergänglichkeit, mangelnde Gewichtigkeit, ja Nichtigkeit irdischer Herrschaft vor Augen. Lampe bemüht das Bild aus der Bergpredigt von den „Lilien auf dem Felde“ (Mt 6,28), dessen Fortsetzung „sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht“ übertragen auf das Arbeitsethos der weltlichen Herrscher nur in höchst zweifelhafter Weise schmeichelt. Nicht zuletzt im Blick auf diese Allusion von starker suggestiver Kraft wird man mit Matthias Freudenberg urteilen müssen: „Ein erstaunlich mutiges Diktum in vordemokratischen Zeiten!“280 Es ist für dieses Diktum bezeichnend, dass Lampe in Anlehnung an 1Petr 2,9 von Königen und Priestern, keineswegs jedoch von Propheten spricht. Das prophetische Amt wird nicht in den Kontext dieser zweifellos politisch konnotierten Aussagen hineingestellt. Diese These erhält auch in Lampes Auslegung der Fragen 31 und 32 des Heidelberger Katechismus Evidenz.281 Mit dem Heidelberger Katechismus interpretiert Lampe das prophetische Amt Jesu als Lehramt. Dazu gebraucht er die Begriffe „Propheten und Lehrer“282 geradezu synonym. Jesu prophetisches Amt bestehe darin, „[d]aß er uns den heimlichen Rath und Willen GOttes von unserer Erlösung vollkömmlich offenbahret“,283 der unserem „verfinsterten Verstand“284 nicht zugänglich sei. Die Offenbarung bezieht sich nach Lampe auf den „Weg der Seligkeit“.285 „[U]nsern Glauben von der Wahrheit dieses Weges“ könne nichts mehr befestigen, „als daß der Sohn GOttes selbst denselben hat gezeiget“.286 Diesen Vorgang der Befestigung kann Lampe auch als Erleuchtung des Verstandes auslegen.287 In diesem Zusammenhang wird übrigens Lampes „pietistisches“ Interesse am subjektiven Glauben bzw. der subjektiven Aneignung des Heils erkennbar. Lampe geht theologisch von einer engen Korrespondenz von Glaubensinhalt und Glaubenserfahrung aus.288 Vermittelt über den Christus-Titel stellt Lampe den Bezug zwischen Christus Jesus, d.h. dem „Gesalbten“ Jesus und „gewisse[n] Personen 280 281 282 283 284 285

M. FREUDENBERG, Erkenntnis, 165. Vgl. F.A. LAMPE, Milch, 50–54. A.a.O., 51. Ebd. Ebd. A.a.O., 51; 54. Vgl. dazu F.A. LAMPE, Erste Wahrheitsmilch für Säuglinge am Alter und Verstand (1717), in: M. FREUDENBERG (Hg.), Reformierte Katechismen aus drei Jahrhunderten. Anger – Lampe – Weerth, Beiträge zur Katechismusgeschichte 10, Rödingen 2005, 36: „Fr. Was thut er [Jesus Christus] als Prophet? A. Er macht den Weg zur Seligkeit bekannt.“ Dort z.T. kursiv. 286 F.A. LAMPE, Milch, 51. 287 Vgl. a.a.O., 54. 288 Vgl. M. FREUDENBERG, Erkenntnis, 164.

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X. De munere prophetico

des A.T.“ her, „welche zu ihren Ehren-Aemtern durch die Salbung eingeweyhet wurden, und Vorbilder unsers Heylandes waren“.289 Konkret handelt es sich dabei um „Hohepriester und Könige, wie auch gewissermassen die Propheten“.290 Lampe bedient sich nicht nur des Schemas „Verheißung und Erfüllung“ als Interpretament des prophetischen Amtes (mit explizitem Verweis auf Dtn 18,18: „Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern“), sondern auch des Vorbild-Schemas. Zum prophetischen Amt Christi gehört nach Lampe also zweierlei: Zum einen – gemäß des Schemas „Verheißung und Erfüllung“ – die besondere prophetische Gabe der Vorausschau, wonach Christus „alle künfftige Begegnungen seines Volcks bis ans Ende hat vorher gesagt“291; zum anderen seine „Lehre mit herrlichen Wundern, heiligem Wandel und beständigem Tod“.292 Hier greift Lampe, ohne es kenntlich zu machen, auf eine in der reformierten Orthodoxie ausgeprägte Trias zurück, wonach zum prophetischen Amt Christi „auch die Wundertätigkeit, das heilige Leben und der Märtyrertod“ gehören „wodurch derselbe [Christus] seine Verkündigung bestätigte und bewährte“.293 Die Wunder Jesu haben laut Lampe eine genuin eschatologische Funktion, indem sie „alle geistliche[n] Wohlthaten, welche sein Volck zu erwarten hat“294, abmalen. Der heilige Wandel und der beständige Tod werden als weitere Aspekte des prophetischen Amtes Christi vorbildchristologisch interpretiert. Lampe sieht demzufolge nicht nur in den alttestamentlichen Propheten die Vorbilder Jesu, sondern auch in Jesus Christus selbst das Vorbild schlechthin, ein „vollkommenes Beispiel“. Das Lehramt Christi wird demzufolge von Lampe explizit mit dem „heiligen Wandel“ Christi gekoppelt. So fragt Lampe: „Wie kan Christi heiliger Wandel auf eine andere Weise 289 290 291 292 293

F.A. LAMPE, Milch, 51. Ebd. A.a.O., 52. Ebd. H. HEPPE / E. BIZER, Dogmatik, 357. So heißt es etwa bei J.H. Alstedt: „Functiones muneris prophetici sunt numero tres: 1) doctrinae propositio; 2) doctrinae propositae confirmatio eaque per Scripturas V. T., per omnis generis signa et miracula, puta cordium inspectionem, arcanorum revelationem, futorum praedictionem, morborum curationem et denique per sanctissimam vitam summamque tolerantiam“ (J.H. ALSTEDT, Theologia scholastica didactica exhibens locos communes theologicos methodo scholastica, Hanoviae 1618, 574. Hervorhebungen im Original). „Institutio illa fit tum externe, non solum viva voce eaque immediata et mediata, sed etiam exemplo et miraculis, tum interne per Spiritum sanctum administrata cum ante tum post carnem assumtam in statu partim exinanitionis partim exaltationis.“ H. À DIEST, Theologia biblica, Daventriae 1643, 206. Hervorhebungen im Original. 294 F.A. LAMPE, Milch, 52.

5. Das prophetische Amt im reformierten Pietismus

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zu seinem Lehr-Amt gebracht werden?“295 Die Antwort, die Lampe sogleich gibt, lautet: „Weil derselbe ein vollkommnes Beyspiel giebet, dem alle Gläubige müssen nachfolgen.“296 Wenig später zitiert Lampe als dictum probans für den „beständigen Tod Jesu“ 1Petr 2,21: „Sintemahl auch Christus gelitten hat für uns, und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr solt nachfolgen seinen Fußstapffen.“297 Auch das Leiden und Sterben Jesu hat somit vorbildlichen Charakter. Bei Lampe ist ein in reformiert-pietistischer Perspektive entfaltetes deutliches Interesse an den Konsequenzen der Lehre für das christliche Leben erkennbar.298 Die Implikationen, die etwa das prophetische Amt im Blick auf die äußere Gestalt des Lebens hat, werden gesehen, wenngleich man natürlich grundsätzlich fragen muss, ob sie in vorbildchristologischer Weise überhaupt hinreichend wahrgenommen und reflektiert werden können. In Lampes Erklärung des Heidelberger Katechismus zeigt sich jedenfalls exemplarisch: „Zu Beginn des 18. Jahrhunderts scheint im reformierten Pietismus die Entsprechung von Christi heiligem Wandel und dessen Nachahmung – nicht Fortsetzung – bei den Gläubigen fester Bestandteil der katechetischen Literatur zu sein.“299 Die Nachahmung Jesu kann freilich leicht zu einer Bedingung der Teilhabe am Heil stilisiert werden und in den von Graf (im Anschluss an Matthias Schneckenburger)300 so genannten „Heiligungsaktivismus“ münden. Man wird insofern durchaus fragen müssen, ob nicht der Tendenz nach „der neologischen ‚Revolution‘ Vorschub“ geleistet wird, „den prophetisch-hohepriesterlichen Weltenherrscher der Tradition zunehmend in einen tugendhaften Lehrregenten zu verwandeln, der den Seinen als exemplarisches Vorbild sittlicher Lebensführung dient“.301 Eine Politisierung des prophetischen Amtes jedoch kann bei Lampe, der, wie das Widmungsschreiben (1722) an den reformierten Erbprinzen Friedrich Wilhelm von Nassau-Siegen zeigt, keineswegs unpolitisch bzw. politisch indifferent war, nicht nachgewiesen werden, da Christus von ihm eben nicht als homo politicus dargestellt wird. Genau dies wäre aber erforderlich, wenn man aus dem Imitationsgedanken auf eine damals generierte politisch-aktivistische Grundhaltung 295 296 297 298

Ebd. Dort kursiv. Ebd. Ebd. Darin zeigt sich nach Freudenberg „eine deutliche Weiterentwicklung der klassischen Katechetik“ (M. FREUDENBERG, Trost, 215). 299 M. FREUDENBERG, Amt, 83. 300 M. SCHNECKENBURGER, Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffs Teil 1, hg. von E. GÜDER, Stuttgart 1855, 133–158. 301 F.W. GRAF, Munus, 92.

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X. De munere prophetico

bzw. das Pathos einer selbstbewussten Weltgestaltung seitens des (pietistischen) Reformiertentums schließen wollte, wie Graf dies tut. 6. Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung hat bestätigt, dass es in der Tat wohl so ist, dass „die Betonung des Prophetischen im Leben der Kirche“302 zu den bestimmten Haltungen gehört, die man als spezifisch reformiert bezeichnen kann. Im Zürich Zwinglis und Bullingers besaßen die Pfarrer dem Rat gegenüber ein prophetisches Einspruchsrecht, für das Zwingli in seiner Hirtenschrift mit Emphase eintrat. Aber auch Bullinger und Calvin verhielten sich im Blick auf Herrschafts- und Sozialkritik keineswegs indifferent,303 wenngleich ihr Plädoyer weniger leidenschaftlich bzw. hitzig ausfiel als dasjenige des glühenden Eifers Zwinglis. Beide Reformatoren der zweiten Generation haben Zwinglis Erbe in entscheidender Weise transformiert und theologisch konsolidiert, indem sie nämlich das prophetische Amt auf die Schriftauslegung limitierten. Bullinger und Calvin begegneten so der Gefahr, die prophetische Verkündigung auf Herrschaft- und Sozialkritik zu reduzieren bzw. diese soziale Kritik unabhängig von bzw. nachträglich zur Schriftauslegung zu etablieren. Solche Nachträglichkeit erzeugt oft und bis in die Gegenwart hinein den Eindruck, als würden nachgeahmte säkulare Kritiken mit biblischen Feigenblättern oder Verstärkern versehen: „Christian social critics would have less need for prophetic labels if there were not so much mimicry in their pronouncements. Christian prophets tend to forge their messages by clothing the ideas of their favourite secular social critics in religious garb.“304 Bullinger und Calvin hingegen intendierten keine nachträgliche theologische Einfärbung von Sozial- und Herrschaftskritik, um ohnehin 302 303

CH. LINK, Zum Thema „Reformierte Identität“, RKZ 134 (1993), (344–350) 344. Vgl. zu Bullinger: F. BÜSSER, Bullinger 1, 181–195; zu Calvin: H. SCHOLL, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ 124 (1983), 64–73; A. THIEL, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium, Neukirchen-Vluyn 1999, bes. 266–287. 304 M. VOLF, The Church as a Prophetic Community and a Sign of Hope, EuroJTh 2 (1993), (9–30) 15. Hervorhebung im Original. Die Beobachtung J. Stouts trifft sicherlich auch auf verschiedene sich „prophetisch“ gerierende Spielarten christlicher Sozialkritik zu: „To gain a hearing in our culture, theology has often assumed a voice not its own and found itself merely repeating the bromides of secular intellectuals in transparently figurative speech.“ J. STOUT, Ethics after Babel. The Language of Morals and Their Discontents, Princeton / Oxford 22001, 163. Stout warnt zu Recht: „There is no more certain way for theology to lose its voice than to imitate that of another.“ A.a.O., 165.

6. Zusammenfassung

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herrschende politische Trends zu forcieren. Gewiss ging es ihnen nicht darum, Zwinglis politisches Engagement schleichend zu untergraben oder generell zu verbieten, sondern vor einem möglichen Abtriften in eine der beiden gleichermaßen irreführenden Richtungen zu bewahren – sowohl in jene vernunftsblinde „Irrationalität“,305 vor der Honecker warnt, als auch in jene eigengesetzliche „Autonomie des Sittlichen“, die Honecker befürwortet. Vielmehr wollten Bullinger und Calvin christliches Engagement, das sich auch gesellschaftspolitisch einmischt, aus dem biblischen Zeugnis heraus entwickelt sehen. Sozial- und Herrschaftskritik kann es für sie theologisch nur als konsequente Schriftauslegung geben, da jener nur so wahrhaft prophetischer Charakter verliehen ist. Prophetie als Gegenwartsphänomen steht und fällt also nach ihrer Überzeugung mit der Bindung an die Schrift. Allen drei Theologen, Zwingli, Bullinger und Calvin, ist die Bindung des prophetischen Amtes an das Pfarramt gemeinsam. Ihnen war daran gelegen, dem prophetischen Amt einen institutionellen Freiraum zu verschaffen, um sozial- und herrschaftskritisches Engagement vom Worte Gottes her entwickeln zu können. Ob und inwiefern ihnen dies gelungen ist, kann man natürlich in Frage stellen.306 Hier ist freilich nicht der Ort, darüber zu entscheiden. Beim Calvin-Schüler Olevian manifestiert sich in seiner Interpretation des prophetischen Amtes der zaghafte und vorsichtige, über Calvin und Bullinger hinausgehende Versuch, ein „allgemeines Prophetentum aller Gläubigen“ zu etablieren, oder besser gesagt: zu einer prophetischen Verkündigung der gesamten Kirche vorzustoßen, wobei er diesen Versuch kirchlich bzw. ämterbezogen kanalisiert wissen möchte. Bei Heidegger zeichnet sich als Vertreter der reformierten Orthodoxie die Tendenz ab, unter starker Bezugnahme auf Calvin die Lehre vom prophetischen Amt im Rahmen der Drei-Ämter-Lehre zu dogmatisieren, indem er sie bundestheologisch in den gesamten heilsgeschichtlichen Rahmen einspannt. Eine starke Bibelorientierung ist auch bei ihm ebenso wie bei Lampe als Vertreter des reformierten Pietismus erkennbar. Bei Lampe, der in seiner Auslegung des Heidelberger Katechismus die Dogmatisierung der Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie stark rezipiert, ist aber zugleich ein deutlicheres Interesse an den Konsequenzen der Lehre vom propheti305

Vgl. H. SCHOLL, Pfarramt, 39: „Reformation ist nicht ekklesiologische Narrenfreiheit, sondern ein am Ganzen des Wortes Gottes geschultes und gemessenes Formgefühl.“ 306 Mit Blick auf Zürich urteilt etwa E. Busch kritisch: „Die Kirche Zwinglis wurde in dem Moment zur Staatskirche, wo das pneumatisch-prophetische Wächteramt wegfiel.“ E. BUSCH, Reformiert, 211.

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X. De munere prophetico

schen Amt für das christliche Leben erkennbar. Dieses konfiguriert sich vor allem vorbildchristologisch. Eine zunehmende Politisierung, die ausgehend von Calvins Identifikation von Christus und Kirche mittels der Drei-Ämter-Lehre bewusst vorgenommen wurde oder schleichend voranschritt, lässt sich im reformierten Protestantismus von der Reformation über das konfessionelle Zeitalter hinweg bis in den Pietismus hinein nicht beobachten. Bereits Calvin nimmt keine solche Identifikation vor. Legt man das sozial- und herrschaftskritische Pathos Zwinglis in seiner Vehemenz zugrunde, so wird man eher von einer sukzessiven Drosselung seiner Lautstärke sprechen können. Das heißt freilich nicht, dass die besprochenen Vertreter der Reformation, der reformierten Orthodoxie und schließlich des reformierten Pietismus apolitische Menschen waren. Und es ging in der vorgelegten Studie keineswegs darum, sie posthum zu solchen zu stilisieren, sondern zu demonstrieren, dass ihre Konzipierung des munus propheticum keineswegs jene Spuren einer Politisierung aufweist, wie Friedrich Wilhelm Graf sie beschreibt. Graf begeht vor allem den Fehler, dass er die Lehre vom prophetischen Amt in dessen frühreformierten Ursprüngen nur im Schema der Drei-Ämter-Lehre als klassisch christologischem Schema wahrnimmt. In der Zürcher Tradition wird dieses Lehrstück außerhalb dieses Schemas bzw. Referenzrahmens entwickelt, was freilich nicht heißt, dass sich die Zürcher dabei nicht an christologischen Titeln orientiert hätten. Die Zentralaussage, die sich in der Lehre vom prophetischen Amt artikuliert, blieb jedoch, unabhängig von ihrem Rahmen, im reformierten Protestantismus vor der Aufklärungszeit trotz aller Variationen dieselbe: „Prophetie heißt: auf die Schrift hören und achten und ihrem Zeugnis folgen.“307

307

E. BUSCH, Kirchenleitung im Genf Calvins. Ämtervielfalt unter dem einen Haupt, Jesus Christus, in: M. BÖTTCHER u.a. (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche leiten. FS Gerrit Noltensmeier, Wuppertal 2005, (57–66) 60.

XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschaulich neutrale Rechtsstaat

1. Einleitung Probleme treten bekanntermaßen in diversen Ausprägungen in allen Lebensbereichen und Wissenschaften auf. Probleme stellen Hindernisse dar, die überwunden oder umgangen werden müssen, um von einer unbefriedigenden Ausgangssituation in eine befriedigendere Zielsituation zu gelangen. Auch der reformierte Protestantismus hat ein Problem. Dieses Problem ist im Bereich der politischen Ethik verortet. Es bewegt sich auf konzeptioneller Ebene. Von dort strahlt es aus – in kirchliche und gesellschaftliche Lebensbereiche hinein. Dieses Problem heißt „Theokratie“. Zunächst sollen zwei Stimmen zu Gehör gebracht werden, die im 20. Jahrhundert mit besonderer Vehemenz auf dieses Problem aufmerksam gemacht haben. Gemeint sind diejenigen Ernst Troeltschs (1865– 1923) und Helmut Thielickes (1908–1986). Die Verwendung des Begriffs „Theokratie“ (= „Gottesherrschaft“) ist freilich sehr viel älter. Vermutlich geht er auf Flavius Josephus zurück, der den Begriff zur Beschreibung der Verfassungsform des nachexilischen Judentums verwandte.1 Troeltschs Fazit am Ende des langen Calvinismus-Abschnitts seiner Abhandlung „Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit“ ist bekannt und in seinen „Soziallehren“2 wiederholt worden: „Die Versuche, aus dem Calvinismus die Ideen des modernen Individualismus, der Demokratie, der staatlichen Neutralität gegen das Kirchenwesen, der gegenseitigen Toleranz verschiedener Kirchen abzuleiten, sind Irrtümer; seine Idee ist theokratisch und nähert sich nur unter Ausnahmeverhältnissen, nicht prinzipiell, der Trennung von Staat und Kirche.“3 Der reformierte Kirchenbegriff sei in seiner Substanz theokratisch konturiert: 1 2

Vgl. F. JOSEPHUS, Contra Apionem II, 165. Vgl. E. TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1912. Teilband II, UTB 1812, Tübingen 1994, 611; 620. 3 E. TROELTSCH, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922), hg. von V. DREHSEN, Ernst Troeltsch KGA 7, Berlin / New York 2004, 288. Vgl. dazu G. PFLEIDERER / A. HEIT (Hg.), Protestantisches Ethos und moderne Kultur. Zur Aktualität von Ernst Troeltschs Protestantismusschrift, Chris-

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XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus

„Die Kirche beherrscht innerlich zunächst die Erwählten und durch die von ihr selbst hervorgebrachte Gemeinde dann auch äußerlich die ganze Gesellschaft. Sie hält auch die Ungläubigen unter dem Joch der Wahrheit zur Ehre Gottes. So ist sie die Königsherrschaft Christi, der unter Ausschluß jeder menschlichen Herrschaft allein durch die Bibel die Gemeinde regiert und in der weltlichen und kirchlichen Obrigkeit seine koordinierten Organe hat.“4

In der Fluchtlinie dieser theokratischen Vorstellung interpretiert Troeltsch Oliver Cromwells (1599–1658) politisches Ideal5 eines christlichen Staats als eine Ausprägung eben jenes reformierten Kirchenbegriffs.6 Auch die Geburtsstunde Amerikas in Gestalt der puritanischen Auswanderung in die Neuenglandstaaten versteht Troeltsch als Versuch, „A City upon a Hill“7 im Sinne des theokratischen Ideals als einheitliches Gemeinwesen zu etablieren,8 in dem geistliche und weltliche Herrschaft vereint sind.9 Der ersten Gouverneur der „Mastentum und Kultur 10, Zürich 2008; CH. STROHM, Nach hundert Jahren. Ernst Troeltsch, der Protestantismus und die Entstehung der modernen Welt, ARH 99 (2008), 6– 35; H.E. TÖDT, Max Weber und Ernst Troeltsch in Heidelberg, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386–1986. FS in sechs Bde., bearbeitet von W. DOERR, Berlin/Heidelberg 1985, (215–258) 238–246. 4 E. TROELTSCH, Christentum, 251. 5 Zur sehr umstrittenen historischen Beurteilung Cromwells vgl. D.L. SMITH (Hg.), Cromwell and the Interregnum. The Essential Readings, Malden/Oxford 2003. 6 Vgl. E. TROELTSCH, Soziallehren, 751. Vgl. DERS., Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906/1911), in: DERS., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906–1913), hg. von T. RENDTORFF in Zusammenarbeit mit S. PAUTLER, Ernst Troeltsch KGA 8, Berlin / New York 2001, (183–316) 268; 275. 7 J. WINTHROP, A Modell of Christian Charity (1630), in: P. MILLER (Hg.), The American Puritans. Their Prose and Poetry, New York 1956, 79–84. Dt. Übersetzung in: KTGQ IV, 4–6. Vgl. dazu G. SAUTER, „A City upon a Hill“? Die religiöse Dimension des amerikanischen Selbstverständnisses und seine gegenwärtige Krise, in: S. SIELKE (Hg.), Der 11. September 2001. Fragen, Folgen, Hintergründe, Frankfurt a.M. u.a. 2002, 69–80. 8 Vgl. M. WALZER, The Revolution of the Saints. A Study in the Origins of Radical Politics, Cambridge / London 1965. 9 Die Genese des Reich-Gottes-Gedankens im nordamerikanischen Christentum hat der stark von Troeltsch beeinflusste Theologe H. Richard Niebuhr in seiner immer noch lesenswerten Studie „The Kingdom of God in America“ (Chicago / New York 1937; dt. Übersetzung: H.R. NIEBUHR, Der Gedanke des Gottesreiches im amerikanischen Christentum, New York 1948) beschrieben. Freilich teilt er nur sehr bedingt Troeltschs Einschätzung: „Es ist ein Irrtum zu glauben, daß der Calvinismus hierokratisch war. Nach seiner Lehre und Praxis war der Staat der Kirche nicht in größerem Ausmaße untergeordnet als die Kirche dem Staat. Beide unterständen einer gemeinsamen Verfassung, dem Willen Gottes, wie er in der Schrift und in der Natur zum Ausdruck komme. Ihr Zusammenwirken sei durch die Ergebenheit gewährleistet, die sie dem Gottesreich gegenüber bekundet, das sie beide umfaßte. Zweifellos stände den Führern der Kirche die Auslegung der Schrift zu. Nicht aber besäßen sie die Macht, die Behörden zu zwingen, ihre Auslegung anzuerkennen. Die klare Schei-

2. Problembestimmung: Die theokratische Tendenz der Lehre

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sachusetts Bay Colony“, John Winthrop (1588–1649), schildere sein Staatsideal „als brüderliche, von Christus regierte Gemeinschaft“.10 „Das Problem der Theokratie“ greift aus theologischer Perspektive im 20. Jahrhundert der lutherische Theologe Helmut Thielicke auf. Er widmet der „reformiert-calvinistischen Lehre“ einen breiten, knapp 60 Seiten langen Abschnitt11 mit eben diesem Untertitel in seiner „Ethik des Politischen“ (Theologische Ethik Bd. II/2). Thielicke zufolge sollen sich die beiden reformatorischen Konfessionen in der Befragung auf ihre jeweiligen Schwächen und Gefährdungen hin einen „wechselseitige[n] Dienst, eine mutua adhoratio fratrum in derselben Kirche“12 leisten. Die beiden Konfessionen – so Thielickes Funktionsbestimmung dieses interkonfessionellen theologischen Bündnisses – seien sich in beiderseitigem Interesse „zu Wächtern gesetzt“.13 Die Schwächen und Gefährdungen würden lutherischerseits eine unkritische Respektierung der Staatsautorität, ja Observanz und Quietismus gegenüber der Obrigkeit, betreffen und reformierterseits einen unverkennbaren theokratischen Zug. So kenne „die reformierte Theologie eine unmittelbare, die lutherische Theologie dagegen nur eine mittelbare Verbindung von Staat und Kirche“.14 Im Sinne dieser Aufgabenteilung stilisiert sich Thielicke als Lutheraner textpragmatisch zum Wächter auf der Zinne, der mit Argusaugen die theokratischen Schäferstündchen des Reformiertentums zu verhindern habe. Eine theokratische Neigung attestiert Thielicke ihm auf dem theologischen Hintergrund seines Einheitsdenkens, seines Monismus. Dieser wurzle zum einen im Erwählungsdekret („Urdekret“ oder „Urentscheidung“ als Gottes vorzeitlicher Entschluss) und zum anderen in der Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium.15 2. Problembestimmung: Die theokratische Tendenz der Lehre von der Königsherrschaft Christi und das politisch-ethische Denken unter der conditio saecularis Diese einleitenden Bemerkungen nähern sich einer Fixierung des Ausgangsproblems an. Und dies ist wichtig, wie alle diejenigen wisdung von Kirche und Staat unter gleichzeitiger Abhängigkeit beider vom Gottesreich, führe zu einem Lebensaufbau, der von dem völlig verschieden sei, was sie von Rom vertretene Theorie vom Reiche Gottes lehre.“ A.a.O., 28f. 10 E. TROELTSCH, Christentum, 261. 11 H. THIELICKE, Theologische Ethik II. Band: Entfaltung, 2. Teil: Ethik des Politischen, Tübingen 21966, 699–756. 12 A.a.O., 735. 13 A.a.O., 737. 14 A.a.O., 705. 15 Vgl. a.a.O., 708; 727.

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XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus

sen, die den Leitfaden für Problemlösungsgespräche (etwa noch aus dem Seelsorgekurs im Predigerseminar) kennen. Um das Einkreisen des Problematischen muss es zunächst gehen, also des Vorgeworfenen, dessen – so das Griechische πρόβληµα / próblema wörtlich –, was zur Lösung vorgelegt ist. Das Einkreisen des Problematischen zielt im Problemlösungsgespräch auf das aktuell Problematische, das gegenwärtig Relevante ab. Demnach ist zu fragen: Worin besteht das für uns als Zeitgenossen Problematische? Das Problem der Theokratie soll demzufolge nicht historisiert werden, um es in eine ferne Vergangenheit zu verbannen und um es sich so vom Leibe zu halten. Wie stellt sich aber das Theokratieproblem für uns heute dar? Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht beim Problem der Theokratie um die Frage nach unserer Zustimmung zum Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Rechtsstaates und in diesem Sinne um die Frage nach unserer Modernitätskompatibilität. Denn wenn die Idee der Theokratie in der Neuzeit durch die Säkularisierung der politischen Ordnung tatsächlich obsolet wurde,16 wie der ideengeschichtliche „common sense“ besagt, diese Idee hingegen im reformierten Protestantismus weiterhin fröhliche Urstände feiert, dann scheint es um dessen Neuzeittauglichkeit nicht allzu gut bestellt zu sein. Das „Ja“ zur Theokratie meint dann das „Nein“ zur Säkularisierung. Mit Säkularisierung ist dabei nach Hermann Lübbe schlicht gemeint: „der Entzug oder die Entlassung einer Sache, eines Territoriums oder einer Institution aus kirchlich-geistlicher Observanz und Herrschaft“.17 Es geht um „die Ablösung der politischen Ordnung als solcher von ihrer geistlichreligiösen Bestimmung und Durchformung, ihre ‚Verweltlichung‘ im Sinne des Heraustretens aus einer vorgegebenen religiös-politischen Einheitswelt zu eigener, weltlich konzipierter (‚politischer‘) Zielsetzung und Legitimation, schließlich die Trennung der politischen Ordnung von der christlichen Religion und jeder bestimmten Religion als ihrer Grundlage und ihrem Ferment“.18

Blickt man auf die sozialphilosophische Debatte der Gegenwart, so wird religiösen Bürgerinnen und Bürgern einiges abverlangt: John Rawls, der Altvater des politischen Liberalismus etwa, verlangt von 16

M. HONECKER, Art. Theokratie, Evangelisches Soziallexikon. Neuausgabe, hg. von DERS. u.a., Stuttgart u.a. 2001, (1598–1599) 1599. 17 H. LÜBBE, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg / München 1965, 24. 18 E.-W. BÖCKENFÖRDE, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1964), in: DERS., Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, Carl Friedrich von Siemens Stiftung: Themen 86, München 2007, (43–72) 44f.

2. Problembestimmung: Die theokratische Tendenz der Lehre

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ihnen, dass sie ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen. Rawls fordert damit eine Art „Selbstzensur“,19 man kann auch sagen: „Selbstsäkularisierung“, und zwar im öffentlichen Vernunftgebrauch. Andere – wie jüngst etwa Jürgen Habermas – distanzieren sich von diesem Übersetzungsvorbehalt und plädieren stattdessen für eine „kooperative Übersetzung religiöser Gehalte“, für „komplementäre Lernprozesse“20 zwischen religiösen und säkularen Staatsbürgern, wie sie die projektierte postsäkulare Gesellschaft kennzeichne. Habermas entfaltet seine Staatsbürgerkonzeption als reziprokes Übersetzungsprogramm. Und er hat dabei das Theokratieproblem sehr genau erkannt. Der „totalisierende Zug einer Glaubensweise, die in die Poren des täglichen Lebens eindringt, widersetzt sich“ – so Habermas im Anschluss an Nicholas Wolterstorff – der „Umstellung religiös verankerter politischer Überzeugungen auf eine andere kognitive Grundlage“.21 Hier scheint es nun für all diejenigen, die wir mit dem Pathos von Barmen II aufgewachsen sind, recht ungemütlich zu werden. Die Universalität, die Totalität der Königsherrschaft Christi macht schließlich auch vor dem Rechtsstaat keinen Halt, ist doch Jesus Christus neben Gottes Zuspruch auch sein „kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben“. Auch der Rechtsstaat darf demnach keinen jener Bereiche bilden, „in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären“. Der Bonner Religionswissenschaftler Wilhelm Peter Schneemelcher bemerkt: „Evangelische und katholische Theologie sind sich weitgehend darin einig, dass es eine grundsätzliche Verantwortung der Christen für die politische Willensgestaltung gibt, dass aber der göttliche Wille nicht für jeden Lebensbereich in Anspruch genommen werden kann.“22 Scheren Reformierte aus diesem Konsens aus – gleichsam mit der Kampfformel „Königsherrschaft Christi“ auf den Lippen? Sind sie etwa nicht bereit, die erfolgreiche Überordnung des weltlichen Staates über religiöse Wahrheits- und Machtansprüche anzuerkennen, die doch das Zeitalter der Glaubenskriege beendete und einen Religionsfrieden ermöglichte? Joachim Staedtke hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, „daß die Lehre von der Königsherrschaft Christi die prinzipielle Versuchung impliziert, aus ihr theokratische Ansprüche 19

Vgl. J. RAWLS, The Idea of Public Reason Revisited, The University of Chicago Law Review 64 (3/1997), 765–807. 20 J. HABERMAS, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M. 2005, 151. 21 A.a.O., 133. Hervorhebung im Original. 22 W.P. SCHNEEMELCHER, Art. Theokratie, EStL. Neuausgabe (2006), (2452–2456) 2456.

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XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus

abzuleiten und zu begründen“.23 Die Alternativkonstellation von „Zwei-Reiche-Lehre“ versus „Königsherrschaft Christi“, mit der so manches Ethik-Lehrbuch als den beiden „Haupttraditionen“ der politischen Ethik bis in die Gegenwart hinein operiert,24 wird hier zu einem Problem, zum Theokratieproblem. Denn im Sinne dieser Alternative lässt sich auf der Grundlage einer Zwei-Reiche-Lehre nun einmal leichter für eine konsequente Säkularisierung der Rechtstradition votieren.25 Nun gibt es eine Reihe historisch-genetischer Rekonstruktionsversuche, die den reformiert-calvinistischen Einfluss auf die Entstehung des modernen Rechtsstaates geltend machen, indem sie etwa verschiedene reformierte Juristen der Frühen Neuzeit als Anwälte der Entsakralisierung identifizieren, mithin zu anderen Ergebnissen kommen als etwa Troeltsch.26 Solche verdienstvolle Darstellungen haben selbstverständlich ihre Berechtigung. Im Folgenden soll es mit Blick auf die Gegenwart um etwas anderes gehen, nämlich das konzeptionelle Gepräge, auf dessen Hintergrund das Theokratieproblem und mit ihm die eigentliche Ausgangsfrage zu verhandeln ist: Wie halten wir es mit dem säkularen Rechtsstaat? Gewiss hat sich – salopp gesprochen – der Politpastor, der mit Rauschebart, Klampfe und im Talar vor den Toren Brockdorfs für die Königsherrschaft Christi kämpft, längst in den Vorruhestand verab23 J. STAEDTKE, Die Lehre von der Königsherrschaft Christi und den zwei Reichen bei Calvin, in: DERS., Reformation und Zeugnis der Kirche. Gesammelte Studien, hg. von D. BLAUFUSS, ZBRG 9, Zürich 1978, (101–113) 112. 24 Vgl. K.-W. DAHM, Von der Götzenkritik zum Gestaltungsauftrag. Evangelische Sozialethik im Übergang, in: F. FURGER u.a. (Hg.), Einführung in die Sozialethik, Münsteraner Einführungen – Theologie 3, Münster 1996, (89–114) 91–100; K.F. HAAG, Nachdenklich handeln. Bausteine für eine christliche Ethik, Studienbuch Religionsunterricht 4, Göttingen 1996, 186–197; W. HÄRLE, Ethik, Berlin / New York 2011, 455–458; M. HONECKER, Grundriß der Sozialethik, Berlin / New York 1995, 14–31; W. KRECK, Grundfragen christlicher Ethik, KT 80, München 41990, 309–322; J. MOLTMANN, Politische Theologie – Politische Ethik, FThS 9, München 1984, 123–151; H.-W. SCHÜTTE, Zwei-Reiche-Lehre und Königsherrschaft Christi, in: A. HERTZ u.a. (Hg.), Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, Freiburg i.Br. u.a. 1978, 339–353. 25 „In alter Zeit, zwischen Calvin und seinen lutherischen Zeitgenossen, ist“ allerdings – wie J.F. Gerhard Goeters treffend hervorhebt – „Christi Königtum, rechtverstanden, nie ein Streitobjekt gewesen.“ J.F.G. GOETERS, Christi Königtum bei Johannes Calvin, RKZ 127 (1986), 109–116, 116. Einen konfessionellen Gegensatz zwischen Zwei-Reiche-Lehre und Königherrschaft Christi kannte man damals nicht. So auch J. STAEDTKE, Lehre, 102. 26 Vgl. vor allem CH. STROHM, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 42, Tübingen 2008; J. WITTE, JR., The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge / New York 2007.

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schiedet. Doch stellt der weltanschaulich neutrale Rechtsstaat reformierte Christinnen und Christen in einer religionspluralen Welt, der in der öffentlicher Verwendung christlicher Symbole oder der Erteilung des konfessionellen Religionsunterrichts merklich zurückhaltender geworden ist, vor schwer zu leugnende Deutungs- und Orientierungsprobleme. 3. Lösungsmodelle Im Problemlösungsgespräch, um noch einmal darauf zurückzukommen, wird die Frage nach Wünschen, Zielen und Plänen zur Veränderung der als problematisch eingestuften Lage gestellt, um Ressourcen in den Blick zu bekommen, die zur Problemlösung genutzt werden können. Bezogen auf das Theokratieproblem wäre es wünschenswert, den vermeintlichen Widerspruch zwischen einer unvoreingenommenen Bejahung der weltanschaulichen Neutralität des Rechtsstaats einerseits und dem weltumspannenden Anspruch der Herrschaft Christi andererseits aufzulösen. Nicht dass damit die clausula Petri infrage gestellt würde, wonach Gott mehr zu gehorchen ist als den Menschen (Apg 5,29). Aber wir fragen nicht in erster Linie nach Entscheidungen in extremis, sondern im Hinblick auf unsere Gegenwart und damit etwa die bundesrepublikanische oder eidgenössische Wirklichkeit des Rechts- und Verfassungsstaates. Das Problemlösungsgespräch fordert als Anschlussfrage die Frage nach den bisherigen Lösungsversuchen: Wie ist man bislang mit dem Problem umgegangen? Wenn ich im Folgenden dieser Frage nachgehe, dann gilt mein Interesse der Gegenwart und ihren Herausforderungen. Ich wende die verschiedenen Umgangsweisen – mit anderen Worten – auf diese Herausforderungen an und prüfe sie so auf ihre Tragfähigkeit. Dazu bediene ich mich als methodischer Zugangsweise einer dreigliedrigen „Modellierung“. Ich unterscheide zwischen drei Modellen: a) dem Genfer Modell Johannes Calvins, man kann im Anschluss an Troeltsch auch vom sog. „altreformierten“ Modell sprechen, b) dem neocalvinistischen Modell Abraham Kuypers und schließlich c) dem Barthschen Modell „Christengemeinde und Bürgergemeinde“. Alle drei Modelle haben die Akzentuierung der Königsherrschaft Christi gemeinsam. Im Blick auf diese drei Modelle geht es mir nicht um eine historische Würdigung derselben. Eine solche Würdigung müsste, um zu einem angemessenen Verständnis zu gelangen, in aufwändiger Weise u.a. die sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Rahmenbedingungen, sprich: den Kontext dieser Modelle rekonstruieren. Vielmehr frage ich nach der Relevanz dieser Modelle für die aktuellen theologisch-ethischen

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Herausforderungen im Bereich des Politischen. Dabei bestreite ich keineswegs im Grundsatz, dass ein historisches Verständnis der diesen Modellen zugrunde liegenden Texte zu einer anderen „zeitgeschichtlichen“ Bewertung der Modelle im Blick auf ihre jeweilige Entstehungszeit führen könnte, als diese hier vorgenommen wird. Meine Frageperspektive, die der sozial-kommunikativen Bedeutung der Modelle hinsichtlich der theologischen Probleme der Gegenwart gilt – und das Theokratieproblem stellt m.E. ein solches theologisches Problem dar –, ist aber eine andere. Bei einer solchen aktualisierenden Ingebrauchnahme der drei genannten Modelle muss man zugleich – ähnlich wie bei Max Webers „Idealtypen“27 – bedenken, dass sie nur aufgrund ihres verkürzenden Charakters heuristischen Wert besitzen. Eine Heuristik muss uns aber im Interesse der Problemlösung angelegen sein. Die Modelle erfassen niemals die gesamte Wirklichkeit, niemals alle Attribute eines Originals, um es abzubilden bzw. zu repräsentieren, sondern sie nutzen das begrenzte Wissen und die wenige Zeit, um zu möglichst guten Lösungen zu kommen.28 In diesem Sinne mögen die folgenden Ausführungen verstanden werden. 3.1 Das Genfer bzw. „altreformierte“ Modell Johannes Calvins (1509–1564): Selbständige kirchliche Ordnungen zur Entflechtung von Kirche und Staat Immer wieder hat man gegen Calvins Modell geltend gemacht, dass es auf theokratischen Voraussetzungen beruht,29 insofern dem Staat 27

Vgl. M. WEBER, Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von. J. WINCKELMANN, Tübingen 71988, 146–214. Dazu: M. SCHMID, Idealisierung und Idealtyp. Zur Logik der Typenbildung bei Max Weber, in: G. WAGNER / H. ZIPPRIAN (Hg.), Max Webers Wissenschaftslehre. Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M. 1994, 415–444. 28 Vgl. H. STACHOWIAK, Allgemeine Modelltheorie, Wien 1973; DERS. (Hg.), Modelle – Konstruktion der Wirklichkeit, München 1983, 17–86. 29 Christian Link spricht zutreffend vom „unausrottbare[n] Vorurteil, Calvin habe in Genf eine Theokratie, eine theologisch legitimierte Vermischung von Staat und Kirche, errichten wollen“ (CH. LINK, Streitbare Theologie. Was ist für Theologie und Kirche heute von Calvin zu lernen?, in: DERS., Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, [3–29] 26). Bereits die ältere Calvin-Forschung hatte u.a. in Gestalt der Untersuchung Ernst Pfisterers (E. PFISTERER, Calvins Wirken in Genf, Zeugen und Zeugnisse 5, Neukirchen 1957) das verbreitete Bild vom „elenden Spionier- und Denunziantenwesen“ und der „despotischen Herrschaft der Theologen im politischen Gemeinwesen“ (Karl Heussi) destruiert und anhand der Quellen widerlegt (vgl. auch W.H. NEUSER, Calvin, Sammlung Göschen 3005, Berlin 1971, 81–84). Die Legende vom „Diktator Genfs“ erweist sich jedoch als äußerst robust und langlebig, sodass zu befürchten steht, dass selbst die gründlichen Untersu-

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die Aufgabe zukommt, über die Erfüllung der beiden Tafeln des Dekalogs zu wachen.30 Dadurch werde etwa die Verfolgung von Ketzern wie Servet ermöglicht. Der souveräne Wille Gottes für alle Bereiche des Lebens werde so durch eine christliche Obrigkeit abgebildet.31 Der Kirche käme dann „nur“ ein kritisches Wächteramt gegenüber den Maßstäben wie Inhalten staatlicher Politik zu.32 Die Verwunderung, ja Irritation darüber, dass Calvin die Zuständigkeit der Obrigkeit für beide Tafeln des Gesetzes deklariert, ist ebenso verständlich, wie sich der vorschnelle Schluss auf theokratische Voraussetzungen als kurzschlüssig erweist. Denn Calvin kannte und übernahm ja konzeptionell bekanntermaßen Luthers Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment einschließlich der mit ihr einhergehenden Ablehnung der Anwendung von Gewaltmitteln im geistlichen Regiment:33 „Die Zwei-Reiche-Lehre war ihm hier ein Mittel, um sich gegen theokratische Konzeptionen abzusichern.“34 So betont Calvin: „[W]as für ein großer Unterschied zwischen der kirchlichen und bürgerlichen Gewalt besteht. Denn die Kirche besitzt nicht das Schwertrecht, um damit zu strafen und zu züchtigen, sie hat keine Befehlsgewalt, um einen Zwang auszuüben, sie hat keinen Kerker und auch keine anderen Strafen, wie sie gewöhnlich von der Obrigkeit verhängt werden. Außerdem hat die Kirche nicht im Sinn, dass der, der sich vergangen hat, gegen seinen Willen gestraft werde, nein, er soll durch freiwillige (Hinnahme der) Züchtigung seine Bußfertigkeit erzeigen. Es handelt sich also um zwei ganz verschiedene Dinge; denn weder maßt sich die Kirche etwas an, das der Obrigkeit eigentümlich wäre, noch kann die Obrigkeit ausrichten, was die Kirche vollbringt.“35

In der Genfer Kirchenordnung von 1561 (Les Ordonnances ecclésiastiques) heißt es programmatisch: „Zwar sind Regierungsgewalt und Obrigkeit, die Gott uns gegeben hat, und die geistliche Herrschaft, die chungen Robert M. Kingdons, des Herausgebers und vermutlich besten Kenners der Protokolle des Genfer Konsistoriums, zur Genfer Kirchenzucht nicht endgültig mit ihr aufräumen wird. Vgl. u.a. R.M. KINGDON, Eine neue Sicht Calvins im Lichte der Protokolle des Genfer Konsistoriums, RKZ 138 (1997), 567–573. 30 Vgl. Inst. (1559), IV,20,9. – OS V,479–481. 31 Vgl. W.P. SCHNEEMELCHER, Art. Theokratie, 2454. 32 So z.B. W. HUBER / H.-R. REUTER, Friedensethik, Stuttgart u.a. 1990, 72. 33 Vgl. zur Unterscheidung u.a. Inst. (1559), III,19,15. – OS IV,294f. 34 J. STAEDTKE, Lehre, 106. Vgl. J.F.G. GOETERS, Königtum, 112: „Calvin wird im Gefolge Luthers Staat und Kirche zwar nicht trennen – das kennt die Reformation noch nicht – aber schärfer unterscheiden, damit das Evangelium nicht zur politischen Doktrin oder gar zur politischen Motivierung degeneriert und damit die Kirche der Leib Christi bleibt.“ Vgl. auch CH. STROHM, Johannes Calvin. Leben und Werk des Reformators, München 2009, 87. 35 Inst. (1559), IV,11,3. – OS V,199. Dort z.T. kursiv.

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er in seiner Kirche auszuüben befohlen hat, untrennbar miteinander verbunden. Dennoch sind sie nicht miteinander vermischt, und der, der alle Herrschaftsgewalt besitzt, und dem wir uns wie es sich gehört unterordnen wollen, hat beides voneinander unterschieden.“36 Eine Hierokratie, die die Pfarrer mit weltlicher Herrschaftsmacht ausstattet, schließt diese Kirchenordnung ebenso entschieden aus wie einen Cäsaropapismus, der den weltlichen Regierungsmächten herrschafts- und offenbarungsanalog zur Macht Gottes uneingeschränkte Macht zubilligt. Im Blick auf die Pfarrer heißt es dementsprechend: „Bei alledem sollen die Pfarrer keinerlei richterliche Gewalt haben, und das Konsistorium soll der Machtbefugnis des Rates und der ordentlichen Justiz keinen Abbruch tun, so daß die zivile Macht unangetastet bleibt.“37 Wiederum kann die Genfer Kirchenordnung auch nicht einfach für obrigkeitshörige Herrschaftsaffirmationen herhalten, die absolute, ungebrochene Observanz propagieren. Die Eidesformel, auf die die in der Stadt Genf gewählten Pfarrer vor dem Bürgermeister und Rat der Stadt verpflichtet werden, bringt abschließend folgende beachtenswerte Kautel zur Sprache: „Schließlich verspreche und schwöre ich, mich der Ordnung und dem geltenden Recht der Stadt zu fügen und in solchem Gehorsam allen ein gutes Vorbild zu sein, indem ich mich selbst den Gesetzen und der Obrigkeit unterordne, soweit dies mein Amt zuläßt; das heißt, solange die Freiheit nicht beeinträchtigt wird, die wir haben müssen, um nach Gottes Auftrag lehren, und alles, was zu unserem Amt gehört, erfüllen zu können. Und so verspreche ich, in der Weise im Dienst von Rat und Volk zu stehen, daß ich dadurch in keiner Weise behindert werde, Gott den Dienst zu leisten, den ich ihm aufgrund meiner Berufung schuldig bin.“38

Zugleich aber gestattet Calvin dem Magistrat, gegen Gotteslästerung und falschen Gottesdienst vorzugehen, was natürlich überhaupt nicht mit einem säkularen Staatsverständnis und der weltanschaulichen Neutralität des Staates in Einklang zu bringen ist: „Calvin could not have imagined a purely secular government.“39 36

CStA 2, 275 (Genfer Kirchenordnung, 1561). Vgl. R.S. WALLACE, Calvin, Geneva and the Reformation. A Study of Calvin as Social Reformer, Churchman, Pastor and Theologian, Edinburgh 1988, 122. 37 CStA 2, 273 (Genfer Kirchenordnung, 1561). Vgl. dazu R.S. WALLACE, Calvin, 55. 38 CStA 2, 245 (Genfer Kirchenordnung, 1561). Treffend kommentiert R.S. WALLACE, Calvin, 63: „To Calvin, the preaches Word of God was the Sceptre by which Christ continually established his unique and spiritual rule over the minds and hearts of his people. If such a word was to be heard with its full authority and power the pastors must be left entirely free to preach it in its fullness without interference. He believed that such unfettered preaching of the World could change Geneva and indeed the whole world. But the Church had to maintain its independence over against all earthly authority in this one sphere of its activity.“ 39 J.S. WALLACE, Calvin, 114.

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Dementsprechend heißt es bereits in der Erstausgabe der Institutio von 1536 hinsichtlich der Aufgabe der Obrigkeit: „Vielmehr sucht sie zu verhüten, dass Idolatrie, Frevel gegen Gottes Namen, Blasphemien und öffentliche Angriffe gegen die rechte Religion hervorbrechen und im Volk Verbreitung finden.“40 Auch später wiederholt Calvin diese Aussage, wobei eine gewisse Verschärfungstendenz41 im Sinne abnehmender Toleranz (etwa gegenüber Anhängern anderer Religionen) zu beobachten ist: „Aber wenn die Religion in ihren Grundfesten erschüttert wird, wenn Gott in verabscheuungswürdiger Weise gelästert wird, wenn die Seelen durch gottlose und zerstörerische Lehren ins Verderben gerissen werden und wenn man schließlich offen von dem einen Gott und seiner Lehre abzufallen droht, dann ist es notwendig, dass man zu jenem letzten Heilmittel greift, damit das tödliche Gift sich nicht weiter verbreite.“42

Beim jungen Calvin findet sich hingegen eine in sehr viel stärkerem Maße Toleranz atmende Absage an alle Mittel der Zwangsbekehrung von Anhängern anderer Religionen: „Und nicht bloß solche Unglücklichen sind so zu behandeln, sondern auch die Türken selbst und Sarazenen und die übrigen Feinde der wahren Religion. So wenig darf man das Verfahren billigen, welches viele bis jetzt ersonnen haben, um jene zu unserem Glauben gewaltsam zu bekehren, indem sie ihnen nämlich den Gebrauch des Wassers und des Feuers und aller den Menschen gemeinsamen Elementen untersagen. Ist doch ein derartiges Gebaren, die Mitmenschen für vogelfrei zu erklären, sie mit Waffengebrauch zu verfolgen, eine Verleugnung aller Pflichten der Menschlichkeit.“43

Bisweilen gewinnt man angesichts des Theokratievorwurfs den Eindruck, als würden Genf und Zürich übereinander geblendet.44 Freilich geht auch Calvin von der Idee des „christlichen Gemeinwesens“ (corpus christianum) aus.45 Das eint ihn mit Huldrych Zwingli (1484– 1531) und Heinrich Bullinger (1504–1575). Aber er fordert nicht in gleicher Weise das enge Zusammenwirken kirchlicher und obrigkeitlicher Instanzen innerhalb des christlichen Gemeinwesens. Wählt 40 41

Inst. (1536), VI. Übersetzung nach Bernhard Spiess, 386. Ähnlich auch CH. STROHM, Calvin, 88; CH. LINK, Johannes Calvin. Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche, Zürich 2009, 71. 42 CO 8,477 (Verteidigung des orthodoxen Glaubens an die heilige Trinität, 1554); zit. nach CH. STROHM, Calvin, 84. Zum Hintergrund dieser Schrift vgl. P. OPITZ, Leben und Werk Johannes Calvins, Göttingen 2009, 107. 43 Inst. (1536), II. – OS 1,91. Übersetzung nach Bernhard Spiess, 108. 44 Dies gilt etwa für Troeltschs Darstellung in seinen „Soziallehren“, in denen er Zwingli unter der Rubrik „Calvinismus“ verhandelt. Vgl. E. TROELTSCH, Soziallehren, 681. 45 So auch P. OPITZ, Leben, 108.

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man für Zürich die gewiss anachronistische Bezeichnung „Staatskirchentum“, so trifft dies sicherlich nicht auf Calvin zu. Er wollte vielmehr die kirchlichen Angelegenheiten nur durch kirchliche Organe geregelt wissen, etwa – anders als etwa in Zürich oder Bern – die Aufsicht über die christliche Lebensgestaltung und die Diakonie.46 In einem Brief an Pierre Viret (1511–1571) in Lausanne mokiert sich Calvin regelrecht über die Staatskirchlichkeit der Berner Pfarrer, die dem Rat der Stadt Untertan seien und „reden und schweigen müssen, je nachdem sie [die Magistraten; M.H.] mit dem Finger winken“.47 Freilich hat sich Calvin mit dieser Zielsetzung in Genf nicht durchsetzen können und man wird auch sein Verhalten nicht von schrecklichen Inkonsequenzen freisprechen können. Aber seine Intention ist doch erkennbar. Man kann sie vor allem festmachen an der bereits ausgiebig zitierten Genfer Kirchenordnung: Sie konnte auch politischer Konstitution als exemplum dienen. Das Besondere der Kirchendisziplin in Genf bestand eben darin, wie Peter Opitz treffend hervorhebt, „daß Calvin ein Konsistorium zu schaffen bestrebt war, das, von der christlichen Gemeinde selber eingesetzt, als rein kirchliches Gremium fungieren und für das Zusammenleben in der christlichen Gemeinde zuständig sein sollte. Die Absicht Calvins war nie die Aufrichtung einer Theokratie, einer theologisch legitimierten Vermischung von Staat und Kirche, sondern im Gegenteil deren Entflechtung, damit die Kirche wirklich nach Maßgabe des Wortes Gottes – allein mit geistlicher Gewalt ausgerüstet – gestaltet werden kann.“48

Nicht umsonst hält Calvin direkt zu Beginn seines magistralen Institutio-Abschlusskapitels „De politica administratione“ daran fest, „daß Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Dinge sind“.49 Und er warnt eindringlich, wenn auch nicht ohne antijüdische Polemik, vor der vanitas iudaica, „Christi 46 Diese Entflechtungsintention Calvins will im Blick auf den Theokratievorwurf berücksichtigt sein. Es ist also theologisch kurzsichtig und zweifelhaft, den Theokratievorwurf mit dem realgeschichtlichen Argument zu widerlegen, dass sich Calvin in Genf mit seinem Ansinnen, seitens der Kirche Kontrolle für die Armenfürsorge zu gewinnen, gegen die säkularen Autoritäten nicht durchsetzen konnte, sodass man aufgrund dieses Umstandes zu dem Ergebnis kommen könne: „Calvin had not transformed Geneva into a theocracy“ (W.G. NAPHY, Calvin’s Geneva, in: D.K. MCKIM (Hg.), The Cambridge Companion to John Calvin, Cambridge / New York 2004, [25–37] 35). Wer so argumentiert, verkennt die Intention Calvins und unterstellt ihm theokratische, genauer gesagt: hierokratische Absichten. 47 Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Ein Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung von R. SCHWARZ, Bd. 1: Die Briefe bis zum Jahr 1547, Neukirchen 1961, 231 (= CO 11,438; Brief an Viret vom 11. September 1542). 48 P. OPITZ, Einleitung in die Ordonnances ecclésiastiques (1561), in: CStA 2, 233. 49 Inst. (1559), IV,20,1. – OS V,472. Dort z.T. kursiv.

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Reich unter den Elementen dieser Welt zu suchen und darin einzuschließen“.50 Das Reich Christi ist eben regnum Christi spirituale.51 Hier regiert Christus die Kirche mit der Predigt des Evangeliums durch den Geist. Im Genfer Katechismus von 1545 heißt es in Frage 37: „Welcher Art ist nun sein Königtum, von dem du sprichst? Es ist geistlich, weil es in Wort und Geist Gottes besteht, die Gerechtigkeit und Leben mit sich bringen.“52 Dies erweist sich für den Charakter der Lehre von der Königsherrschaft Christi bei Calvin als entscheidend. Calvin unterscheidet eben zwischen der Königsherrschaft Christi über die Kirche und der providentiellen Weltherrschaft Gottes, indem er die ZweiReiche-Lehre gleichsam in diese Herrschaftslehre einzeichnet. Summa summarum: Hinsichtlich des Theokratievorwurfs an Calvin wird man differenziert urteilen müssen. Einerseits gilt es mit Hans Helmut Eßer festzuhalten: „Sosehr Calvin in Genf zunehmend auf die Kompetenzabgrenzungen zwischen Kirche und Regierung hinwirkt, bleibt er in der Freigabe der repressiven staatlichen Schutzfunktion noch befangen im mittelalterlichen Corpus-Christianum-Denken zuungunsten der Freiheit des Evangeliums.“53 Andererseits kann man würdigen: „Calvins Konzept erwies seine zukunftsweisende Gestaltungskraft unter Lebensverhältnissen, in denen Bürgergemeinde und Christengemeinde nicht mehr deckungsgleich waren: dort, wo die reformierten Gemeinden als – oftmals verfolgte – Minderheiten in einem Gemeinwesen anderer konfessioneller Prägung leben mussten. Das calvinische Konzept war zudem mit der seit der Aufklärungszeit sich entwickelnden Trennung von Kirche und Staat kompatibel, ja hat sie in gewisser Weise innerlich vorweggenommen und äußerlich gefördert.“54

Man wird fragen können, ob Calvins Bemühen um eine Kirche, die sich ihre Ordnung und Rechtsgestalt selbst gibt, in der Konsequenz – ohne dass Calvin dies ahnen konnte – „zur Trennung der Kirche von einem weltanschaulich neutralen Staat führte“.55 50 51

Ebd. Zur Lehre von der Königsherrschaft Christi bei Calvin vgl. J. STAEDTKE, Lehre, 101–113; J.F.G. GOETERS, Königtum, 109–116; W. KRUSCHE, Das Wirken des Heiligen Geistes nach Calvin, FKDG 7, Göttingen 1957, 329–338. 52 CStA 2, 27 (Genfer Katechismus, 1545). Hervorhebung im Original. 53 H.H. ESSER, Die Aktualität der Sozialethik Calvins, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, (421–443) 432. Hervorhebungen im Original. 54 A. RAUHAUS, Amt und Ordination in der reformierten Kirche, in: M. FREUDENBERG u.a. (Hg.), Amt und Ordination aus reformierter Sicht, Reformierte Akzente 8, Wuppertal 2005, (69–102) 72. 55 E. BUSCH, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 151.

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3.2 Abraham Kuypers (1837–1920) neocalvinistisches Modell der Sphärensouveränität: Die christliche Durchdringung des Staates Bei Kuyper, dem ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten (1901–1905),56 begegnet uns der Calvinismus – nicht nur rein körperlich – in seiner massigsten und massivsten Gestalt, in einer imposanten Opulenz an Selbstbewusstsein, die ihresgleichen sucht. Kuypers „Stone-Lectures“,57 mit denen er nicht nur in Princeton im Jahr 1898 begeisterte,58 sondern ein bis heute nachhallendes Echo auslöste, erschienen auf Deutsch unter dem programmatischen Titel „Reformation wider Revolution“.59 Die Schar der latenten oder manifesten Verehrer Kuypers erstreckt sich über ein denkbar breites theologisches Spektrum, das sich von liberalen Theologen im Troeltschen Tross,60 die Kuyper kulturprotestantisch lesen, über Max Stackhouse61 bis hin zu Nicholas Wolterstorff62

56

Zur Einführung in Kuypers Denken vgl. D. VAN KEULEN, Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers, in: M. HOFHEINZ u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Die Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 347–368. 57 Vgl. zur Genese P.S. HESLAM, Creating a Christian Worldview. Abraham Kuyper’s Lectures on Calvinism, Grand Rapids 1998, 1–83. 58 Troeltsch bemerkt dazu: „Das Buch ist nicht nur Kuypers Regierungsprogramm, sondern, aus Vorlesungen an der streng calvinistischen Princeton-University bestehend, eine Art Gesamtbekenntnis des modernen orthodoxen Calvinismus. Uebrigens ist hier der Neucalvinismus in einer geradezu unerhörten Weise in den primitiven Genfer Calvinismus hineingedeutet. Es ist das Buch eines Dogmatikers und Politikers und als solches höchst lehrreich, als historische Leistung dagegen sehr irreführend.“ E. TROELTSCH, Soziallehren, 607. Zu Troeltschs Verhältnis zu Kuyper vgl. R. BARTH, „Retter des Protestantismus“. Der Calvinismus in der Sicht Ernst Troeltschs, ZNThG 17 (2010), (162–181) 179: „Obwohl Troeltsch der Selbststilisierung Kuypers widerspricht und im Sinne seiner Protestantismustheorie die Diskontinuitäten dieses Neucalvinismus gegenüber Calvin herausstreicht, ist Kuyper für sein eigenes Bild vom freikirchlich umgeformten und mit den modernen Ideen Westeuropas versöhnten Heiligungscalvinismus der Gegenwart wohl kaum zu überschätzen.“ Vgl. auch A.L. MOLENDIJK, Ernst Troeltschs holländische Reisen. Eine Skizze, Mitteilungen der Ernst Troeltsch-Gesellschaft VI (1991), (24–36) 28f. 59 A. KUYPER, Reformation wider Revolution. Sechs Vorlesungen über den Calvinismus, gehalten zu Princeton, übers. von M. JAEGER, Gr. Lichterfelde 1904. Auf diese Ausgabe beziehen sich alle Verweise im Fließtext. 60 A.L. MOLENDIJK, Neocalvinistisch cultuurprotestantisme. Abraham Kuypers Stone Lectures, Documentatieblad voor de Nederlandse Kerkgeschiedenis na 1800 29(65) (2006), 5–19. 61 Vgl. M.L. STACKHOUSE, Preface, in: L.E. LUGO (Hg.), Religion, Pluralism, and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the Twenty-First Century, Grand Rapids 2000, XI–XVIII. Siehe auch R.J. MOUW, Culture, Church, and Civil Society. Kuyper for a New Century, PSB 28 (1/2007), 48–63. 62 N. WOLTERSTORFF, Abraham’s [sic!] Kuyper’s Model of a Democratic Polity for Societies with a Religiously Diverse Citizenry, in: C. VAN DER KOOI / J. DE BRUIJN

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und Helmut Thielicke63 erstreckt. Bekanntlich hat es auch vor dem niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende (2002– 2010) nicht Halt gemacht.64 Affizierend wirkt offenkundig Kuypers Konzept der sog. „Sphärensouveränität“,65 das er selbst auf den Nenner bringt: „Die freie Kirche im freien Staat.“66 Kuyper geht aus von dem „Grundprinzip des Calvinismus“, der „absolute[n] Souveränität des dreieinigen Gottes über alles geschaffene Leben“.67 Von Kuyper stammt das geflügelte Wort: „Auf dem Erbe unseres menschlichen Lebens gibt es keinen Zollbreit, von dem Christus nicht ruft: Er ist Mein!“68 Für seine Ehre haben alle Nationen da zu sein.69 Die Souveränität Gottes erstreckt sich universal70 und macht weder vor dem Staat71 noch den Sphären des eigenen Lebens72 noch der Kirche73 Halt. Diese drei Instanzen, die Kuyper nacheinander in seiner dritten Princetoner Vorlesung behandelt, sind alle souverän, insofern qua „Schöpfungsordnung“74 ihre Souveränität aus der Souveränität Gottes hervorgeht, ja „von Gottes Gnaden“ stammt.75 So sei nicht etwa die Obrigkeit als solche, sondern nur insofern sie um der menschlichen Sünde willen von Gott als unentbehrliches Rettungsmittel eingesetzt wurde, zu ehren. Es gilt nach Kuyper in der Autorität der Obrigkeit die Souveränität Gottes zu ehren.76 Nicht das faktische „Wie“ der Ausübung dieser Autorität, sondern das „Dass“ ihrer Einsetzung durch Gott verdient Verehrung.

(Hg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Work, VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999, 190–205. 63 H. THIELICKE, Theologische Ethik II/2, 737–744. 64 J.P. BALKENENDE, Toespraak bij onthulling standbeeld Abraham Kuyper, www.minaz.nl (14.4.2009): „[…] ik ben een Kuyperiaan in hart en nieren.“ 65 Vgl. A. KUYPER, Souvereiniteit in eigen kring, Amsterdam 1880 (engl. Übersetzung: Sphere Sovereignty [1880], in: J.D. BRATT [Hg.], Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Carlisle 1998, 461–490). 66 A. KUYPER, Reformation, 91; 98. 67 A.a.O., 72; vgl. 15; 39–41; 52; 78; 82; 90; 95; 112; 151f.; 176; 189. 68 A. KUYPER, Souvereiniteit, 35: „[...] en geen duimbreed is er op heel ’t erf van ons menschelijk leven, waarvan de Christus, die áller Souverein is, niet roept: ‚Mijn!‘“ (dt. Übersetzung zitiert nach W. KOLFHAUS, Dr. Abraham Kuyper 1837–1920. Ein Lebensbericht, Elberfeld 21924, 162). 69 Vgl. A. KUYPER, Reformation, 74. 70 Vgl. a.a.O., 44–47; 52; 72; 78. 71 Vgl. a.a.O., 72–83. 72 Vgl. a.a.O., 83–91. 73 Vgl. a.a.O., 83–100. 74 A.a.O., 84ff. 75 Vgl. a.a.O., 75f. 76 Vgl. a.a.O., 77.

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XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus

Die Lehre von der „Sphärensouveränität“ bzw. der „Souveränität im eigenen Kreis“77 besagt, dass die Souveränität Gottes gleichsam auf die Mensch hinabgestiegen ist und sich in ihrer Kondeszendenz auf zwei Sphären verteilt hat: den Staat und die gesellschaftlichen Lebenskreise, zu denen Kuyper wiederum vier Sphären rechnet: die persönliche Sphäre, die kooperativen Sphären der Universitäten, Zünfte, Genossenschaften etc., schließlich die häusliche Sphäre der Familie und des Ehelebens und die gemeindliche Sphäre.78 In allen diesen Sphären herrsche Gott freimächtig, weshalb der Staat das ihnen „einerschaffene Lebensgesetz [innate law of life79]“80, ihre „heilige[ ] Autonomie“81 zu respektieren habe. Kuyper erweist sich in Gestalt dieser Lehre als „einer [der] wichtigsten Anreger jener Gesellschaftsform […], die man mit dem Ausdruck ‚verzuiling‘ bezeichnet“.82 Wie hält es Kuyper selbst nun mit der Religionsfreiheit und der weltanschaulichen Neutralität des Staates? Kuyper wendet sich gegen den Artikel 36 der „Confessio Belgica“ (1561), welcher der Obrigkeit explizit die Aufgabe zuweist, „abzuwehren und auszurotten alle Abgötterei und falschen Gottesdienst, zu vernichten das Reich des Antichrists“.83 Im Jahre 1905 wird diese Passage u.a. auf Betreiben Kuypers hin von den Reformierten Kirchen (Gereformeerde Kerken in Nederland) aus dem Bekenntnis gestrichen.84 Es wäre jedoch zuviel behauptet, wenn man Kuyper zum Kämpfer für Religionsfreiheit und weltanschauliche Neutralität des Staates erheben würde. Es ist wohl wahr, dass Kuyper auch dem Staat wie allen Sphären Souveränität gegenüber kirchlichen Übergriffen zuspricht und ihn weder als „Appendix der Kirche, noch als ihr[en] Nachbeter“85 will.

77 78 79

Vgl. a.a.O., 83.88. Vgl. a.a.O., 88. So heißt es im englischen Original: A. KUYPER, Lectures on Calvinism. Six Lectures at Princeton University in 1898 under Auspices of the L.P. Stone Foundation, Grand Rapids 1931, 96. 80 A. KUYPER, Reformation, 88. 81 A.a.O., 89. 82 C. AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, in: M. GRESCHAT (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 9/2. Die neueste Zeit II, Stuttgart u.a. 1985, (289–307) 305. 83 BSRK, 248: „[...] omnemque idolatriam, et adulterium a Dei cultu submoveant et evertant: regnum Antichristi diruant.“ Vgl. KUYPER, Reformation, 91. 84 Vgl. J. BOLT, A Free Church, a Holy Nation. Abraham Kuyper’s American Public Theology, Grand Rapids 2001, 321–332; K. VAN DER ZWAAG, Onverkort of gekortwiekt? Artikel 36 van de Nederlandse geloofsbelijdenis en de spanning tussen overheid en religie. Een systematisch-historische interpretatie van een ‚omstreden‘ geloofsartikel, Heerenveen 1999, vor allem 311ff. 85 A. KUYPER, Reformation, 96.

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Wenn man solches unter Theokratie versteht, darf man Kuyper sicherlich nicht als Theokraten identifizieren. Kuyper plädiert indes auch für den Einsatz der Obrigkeit gegen „Gotteslästerung, wo sie geradezu den Charakter des Hohns auf Gottes Majestät annimmt“86, und für die „Anerkennung der Obermacht Gottes […] durch ihr [der Obrigkeit; M.H.] Bekenntnis seines Namens in der Konstitution, durch Heilighaltung seines Sabbaths, durch Ausrufung von Bitt- und Danktagen, durch Anrufung seines göttlichen Segens und durch Gewährung ihres Schutzes an die Kirchen“87 und schließlich das persönliche Bibelstudium durch jede einzelne Magistratsperson. Wie passt das zusammen? Zur Rechtfertigung obrigkeitlichen Vorgehens gegen Gotteslästerung beruft sich Kuyper auf das jedem Menschen von Natur aus „einerschaffene“ Gottesbewusstsein – eine Prämisse aus der natürlichen Theologie, wie Barth später einwenden sollte. Strafbar sei nicht, wie Kuyper festhält, „die religiöse Abweichung noch der unfromme Sinn“88, sondern das Antasten der staatsrechtlichen Grundlagen. Wenn aber alle diese aufgezählten Elemente das Staatsfundament bilden, muss man natürlich fragen, ob Kuyper wirklich einen säkularen Rechtsstaat vor Augen hatte. Offenkundig ist dies nicht der Fall. Sein „Ja“ zur Religionsfreiheit entpuppt sich bei Lichte betrachtet als ein „Ja“ zu einer Pluralität von Kirchen im Raum der Gesellschaft. Über deren konkurrierende Wahrheitsansprüche darf die Obrigkeit als solche Kuyper zufolge nicht entscheiden. Kuyper argumentiert dabei ausgehend von der „Souveränität der Kirche im eigenen Inneren“89, und er nimmt dabei erkennbar den Impuls Calvins auf, der eben um die Freiheit der Kirche in Gestalt der Genfer Kirchenordnung kämpfte. Mit Calvin verbindet Kuyper die Betonung der notwendigen Unterscheidung von geistlicher und physischer Gewalt, wie sie in der Zwei-Reiche-Lehre ihre Grundlage hat. Die Obrigkeit trägt auch gemäß Kuyper eben nicht das „Schwert des Geistes“90, sondern das physisch verletzende Schwert. Wie bei Calvin ist diese Unterscheidung auch bei Kuyper eingezeichnet in die Lehre von der Königsherrschaft Christi,91 wobei Kuyper diese Lehre und mit ihr die Zwei86 87 88 89 90 91

A.a.O., 95. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., 97. Vgl. a.a.O., 83: „[Ü]ber diesem mächtigen Staat leuchtet vor dem Auge unserer Seele stets auch noch unendlich mächtiger die Majestät des Königs der Könige, vor dessen Richterstuhl das Recht des Appells für jeden Bedrückten offen steht, und zu dem immerdar unser Gebet aufsteigt, daß er unser Volk und in dem Volk uns und unser Haus segnen möge.“

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XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus

Reiche-Lehre – anders als Calvin – sphärenbezogen ausdifferenziert. Beide haben dabei cum grano salis einen christlichen Staat und eine christliche Gesellschaft vor Augen. Es ist fraglos die christliche Religion und keine andere, die das einigende Band des Staates ausmacht, gleichsam seine Kohäsionskräfte stiftet. Sie bildet die geistige Grundlage des Staates und damit weitaus mehr noch als die sog. „Leitkultur“ (Bassam Tibi) unserer Tage, allzumal die anderen Kulturen und Religionen bei Kuyper gar nicht wirklich in den Blick genommen werden. Es geht Kuyper um das System der freien Kirchen und nicht der freien Religionen im freien Staat. Er votiert für einen konfessionellen, keinen religiösen Pluralismus. Die Repräsentanz etwa atheistisch eingestellter Bürgerinnen und Bürger durch die Staatsführung tritt nicht in den Blick. Das Wort Gottes soll herrschen – in der Kirche wie im Staat. Darin sind sich Calvin und Kuyper einig, wobei Kuyper allerdings ungleich stärker als Calvin betont, dass diese Forderung nicht in Gestalt eines Staatskirchentums Verwirklichung finden solle, sondern ausschließlich vermittelt über das christliche Individuum, d.h. – wie Kuyper schreibt – „nur durchs Gewissen der mit Macht bekleideten Person. Höchste Forderung“ – so Kuyper weiter – „ist und bleibt natürlich, daß alle Völker christlich regiert werden, d. h. nach den Prinzipien, die für die Staatskunst von Christus ausgehen; verwirklicht kann dies aber nie anders werden als durch die subjektive Überzeugung der Personen, die in der Macht stehen, kraft ihrer persönlichen Einsicht darein, was das christliche Prinzip für die Staatskunst fordert“.92 Hinter diesem Konzept verbirgt sich – unternehmensstrategisch gesprochen – gleichsam eine „kalte Übernahme“ des Staates durch Christen in obrigkeitlichen Positionen. Kuypers Strategie ist eine „Christianisierungsstrategie“,93 die dem Ziel eines „christlichen Staates“ und einer „christlichen Gesellschaft“ dient. Sie zielt ab auf eindeutige Mehrheitsverhältnisse zugunsten der christlichen Kirchen. Und so stellt Kuyper dann auch die Grundregel auf, „daß die Obrigkeit den Komplex christlicher Kirchen als die vielgestaltige Offenbarung der Kirche Christi auf Erden zu ehren hat“.94 Ist das „Theokratie mit anderen Mitteln“? Man wird zumindest kritisch fragen müssen: Visiert Kuyper tatsächlich den weltanschaulichen, neutralen Staat an, wenn er von dessen Obrigkeit ein solches Ehren fordert? Man sollte indes nicht verkennen, dass die Säkularisierungsgrade in den sog. „säkularisierten“ Staaten auch heute noch erheblich differieren: 92 93

A.a.O., 96. Nicht zu Unrecht fragt Cornelis Augustijn: „Handelt es sich um eine Variante zu Richard Rothe?“ C. AUGUSTIJN, Kuyper, 303. 94 A. KUYPER, Reformation, 98.

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„Auf der einen Seite des Spektrums finden wir die Konzeption des laizistischen Staates wie in Frankreich, auf der entgegengesetzten Seite eine unverkennbare Privilegisierung traditioneller Religionsgemeinschaften wie in Russland. Im religionsverfassungsrechtlichen Mikrokosmos der Schweiz reicht die Bandbreite von der Genfer ‚laïcité‘ bis zu einer für externe Beobachter nahezu (spät-)staatskirchlich anmutenden Einordnung der Kirche in den Kanton wie in Bern oder Zürich.“95

Dementsprechend hat man von „distanzierender“ und „offener“ Neutralität des Staates gesprochen.96 Das Bundesverfassungsgericht versteht unter dem Neutralitätsprinzip – wie in dessen Rechtsprechung regelmäßig ansichtig ist – ein Fairnessprinzip: Der freiheitliche Rechtsstaat soll sich als Konsequenz der Religionsfreiheit (als einem universalen Menschenrecht) „nicht mit einer Religion auf Kosten der Angehörigen anderer Religionen oder Weltanschauungen identifizieren“.97 Über die Konsequenz der Einlösung dieses Prinzips lässt sich freilich trefflich streiten. Es gibt auch heute ein „Mehr“ und ein „Weniger“ an strikter Trennung von Staat und Kirche. Wo setzt dann aber Theokratie ein? Es sprechen sicherlich gute Gründe dafür, sie dort zu verorten, wo die Verletzung der „Grundrechte“ beginnt, wie sie etwa in Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beschrieben werden: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen.“98

95

W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 304. 96 Vgl. ebd. 97 So H. BIELEFELDT, in: Welche Integration darf der Staats verlangen? Antworten von Werner Becker, Heiner Bielefeldt und Claus Leggewie, Information Philosophie 4 (2009), (34–41) 34. 98 Zwar werden auch gemäß der EMRK der Religionsausübung Grenzen durch den Rechtsstaat gesetzt, wenn es in Art. 9.2 heißt: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Allerdings gilt diese Grenzsetzung für alle Konfessionen und Religionen unterschiedslos: „Diese Grenzsetzung darf mithin nicht diskriminierend sein und muss für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in gleicher Weise gelten. Sie darf andere Grundrechtsgarantien, insbesondere der Glaubens-, Meinungs- und Kunstfreiheit, nicht verletzen.“ W. LIENEMANN, Religionsfreiheit und der Umgang mit religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit, in: D. HELLER u.a. (Hg.), „Mache Dich auf und werde licht“.

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XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus

Wenn man darüber hinaus etwa den Art. 136 der Weimarer Verfassung hinzunimmt, der bis heute Bestandteil des Grundgesetzes ist, so steht diese Bestimmung zweifellos in grundlegender Spannung zu Kuypers Forderungen an die Obrigkeit: „Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden.“ Im Blick auf die Obrigkeit eines religionsneutralen Staates wird Kuyper seine Forderungen wohl kaum einklagen können. Insofern sollte man Kuyper nicht vorschnell vom Theokratievorwurf reinwaschen.99 Es ist nämlich das eine, das sog. Böckenförde-Axiom zu betonen, wonach der Rechtsstaat von Voraussetzung lebt, „die er nicht selbst garantieren kann“;100 und es ist etwas anderes, die damit gemeinten transrechtlichen Voraussetzungen, wie sie der religiöse Glaube der Bürgerinnen und Bürger repräsentiert, als genuin christlich zu bestimmen und daraus Ehrerbietungsforderungen abzuleiten,101 wie Kuyper dies tut. 3.3 Das Modell „Christengemeinde und Bürgergemeinde“: Karl Barths (1886–1968) säkulares Staatsverständnis Verschiedentlich ist in Frage gestellt worden, ob Barth ein säkulares Staatsverständnis besaß. Etwa im Berner Feldmann-Streit wurde er so verstanden, als würde er den Weg der Säkularisierung als einen geistesgeschichtlichen Irr- und Abweg betrachten.102 Dass dem keineswegs so ist, lässt sich auf dem Hintergrund von Barths politischethischem Leitmodell demonstrieren, wie er es in seiner Programmschrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (1946) entfaltet hat. Das bekannte Modell der konzentrischen Kreise entwirft Barth hingegen – so meine These – als Denkmodell der Einheit von Identität (des Zentrums) und Differenz (der Radien), und zwar dezidiert „unter der Bedingung der vollendeten Säkularisierung und unter Vorausset-

Ökumenische Visionen in Zeiten des Umbruchs. FS Konrad Raiser, Frankfurt a.M. 2008, (355–361) 359. 99 Vgl. V.E. BACOTE, The Spirit in Public Theology. Appropriating the Legacy of Abraham Kuyper, Grand Rapids 2005, 79–86; BOLT, Church, 303–350. 100 E.-W. BÖCKENFÖRDE, Entstehung, 71. Dort kursiv. 101 Ob Ernst-Wolfgang Böckenförde selbst diese Differenz immer treffend im Auge behalten hat, wird man angesichts seines neuerlichen Vortrages (E.-W. BÖCKENFÖRDE, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007, 11–41) fragen müssen. Vgl. dazu W. LIENEMANN, Grundinformation, 302–319. 102 Vgl. D. FICKER STÄHELIN, Karl Barth und Markus Feldmann im Berner Kirchenstreit 1949–1951, Zürich 2006, 129.

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zung der realen Säkularität von Kirche und Welt bzw. Gesellschaft“.103 Bereits im Jahr 1935 erklärte Barth: „[D]ie Zeit, das christlich-bürgerliche oder bürgerlich-christliche Zeitalter ist abgelaufen, der Bund, d.h. aber das Christentum in seiner uns bisher bekannten Gestalt ist zu Ende. […] Die Welt nimmt die Maske ab und ihre Freiheit zurück, um sich wieder offen zu bekennen als das, was sie im Grunde ist und will. Eben damit ist aber auch dem Evangelium seine Freiheit ihr gegenüber zurückgegeben.“104

Barth sieht die Christengemeinde – übrigens auch in der Schweiz105 – in der Minderheit, näherhin: in einer Diasporasituation.106 Barth geht von der Säkularisierung107 als dem zerfallenen konstantinischen Bündnis zwischen Kirche und Staat aus,108 „um nun die christliche Gemeinde in ausdrücklicher Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Partikularität mit der Frage nach ihrer Wirklichkeit und spezifischen Sendung zu konfrontieren“.109 Barth kasteit keineswegs nur „die alte religiös-politische Einheitswelt des orbis christianus“,110 die er als Maskerade, als Mummenschanz erachtet. Er scheut auch nicht davor zurück, die eigene Tradition in Gestalt der Reformierten Bekenntnisschriften, namentlich die Confessio Scotica (Art. 24) für die allzu enge Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat hinsichtlich der Kirchenzucht zu kritisieren: 103 E. MECHELS, Kirche und gesellschaftliche Umwelt. Thomas – Luther – Barth, NBST 7, Neukirchen-Vluyn 1990, 232. Hervorhebung im Original. Wie Mechels feststellt, ist Barths Modell „nur im Kontext der vollen Säkularität plausibel“ (a.a.O., 233). 104 K. BARTH, Das Evangelium in der Gegenwart, TEH 25, München 1935, 33f. Hervorhebung im Original. Vgl. dazu E. BUSCH, Die Kirche am Ende ihrer Weltgeltung. Zur Deutung der Ekklesiologie Karl Barths, in: D. JESCHKE u.a. (Hg.), Das Wort, das in Erstaunen setzt, verpflichtet. Dankesgabe für Jürgen Fangmeier, Wuppertal/Zürich 1994, (83–98) bes. 84ff. 105 Vgl. K. BARTH, Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zürich 31985, 231f. (Im Namen Gottes des Allmächtigen, Juni 1941). 106 So A. RASMUSSON, The Politics of Diaspora. The Post-Christendom Theologies of Karl Barth and John Howard Yoder, in: L.G. JONES u.a. (Hg.), God, Truth, and Witness. Engaging Stanley Hauerwas, Grand Rapids 2005, 88–111. Vgl. auch DERS., „Deprive them of their Pathos“. Karl Barth and the Nazi Revolution Revisited, MoTh 23 (2007), (369–391) 385. 107 Zur theologischen Wahrnehmung des Problems der Säkularisierung vgl. M. WEINRICH, Kirche glauben. Annäherung an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998, 21–65. 108 John H. Yoder bezeichnet Barth als „Post-Christendom Theologian“ bzw. als „post-Constantinian“ (J.H. YODER, Karl Barth and the Problem of War and Other Essays on Barth, hg. von M.T. NATION, Eugene 2003, [175–188] 185). So auch S. HAUERWAS, With the Grain of the Universe. The Church’s Witness and Natural Theology, Grand Rapids 2001, 203; J. MOLTMANN, Theologia reformata et semper reformanda, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zukunft, (157–172) 168. 109 M. WEINRICH, Kirche, 26. 110 E.-W. BÖCKENFÖRDE, Entstehung, 46.

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„Es ist zu viel gesagt, es steckt sogar ein gewisser theologischer Irrtum darin, wenn sie vom Staat verlangt, daß er die wahre Kirche nicht nur schützen, sondern gegebenen Falles auch die Reformation der Kirche und also die Herstellung der wahren Kirche in seine Hand nehmen und nach dem Vorbild der alttestamentlichen Könige den Götzendienst und allen in der Kirche aufkommenden Aberglauben unterdrücken solle. Das ist zuviel, und zwar in gefährlicher Weise zuviel gesagt!“111

Barth spricht sich nachdrücklich gegen eine „Verwechselung zwischen dem kirchlichen und dem politischen Gottesdienst“112 aus. Und auf einer Pressekonferenz am 1. Mai 1962 in New York gefragt, wie sein Standpunkt in der Frage von Kirche und Staat aussehe, antwortet er: „Ich glaube, daß sie voneinander getrennt sein sollten. Besonders für die Kirche ist es besser, nicht in politische Arrangements verwickelt zu werden. Meine Vorstellung ist die einer freien Kirche in einem freien Staat.“113 Man beachte: Dieselbe Formel wie bei Kuyper – doch anders inhaltlich gefüllt. Es ist bei Barth nicht mehr die „christliche Welt“, die anvisiert wird. Man kann dies bei Barth festmachen am Bild der beiden konzentrischen Kreise mit dem gemeinsamen Zentrum in Christus, das Barth zur geometrischen Darstellung des Verhältnisses von Christengemeinde (im Bilde gesprochen: als engerer, innerer Kreis) und Bürgergemeinde (wiederum im Bilde gesprochen: als weiterer äußerer Kreis) gebraucht. Hier schlägt sich die Säkularisierung als anerkannte Voraussetzung in der Bestimmung der noetischen Differenz zwischen beiden nieder: Die Bürgergemeinde ist „dem Geheimnis des Reiches Gottes, dem Geheimnis ihres eigenen Zentrums gegenüber unwissend, dem Bekenntnis und der Botschaft der Christengemeinde gegenüber neutral“114 eingestellt. Die Religionsneutralität des säkularen Staates kann Barth auch als „geistliche Blindheit“115 bezeichnen. 111 K. BARTH, Gotteserkenntnis und Gottesdienst nach reformatorischer Lehre. 20 Vorlesungen über das Schottische Bekenntnis von 1560, gehalten an der Universität Aberdeen im Frühjahr 1937 und 1938, Zürich 1938, 209f. 112 K. BARTH, Offene Briefe 1935–1942, hg. von D. KOCH, Karl Barth GA V. Briefe, Zürich 2001, 296 (Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien, Ostern 1941). Vgl. DERS., Stimme, 328 (Verheißung und Verantwortung der christlichen Gemeinde im heutigen Zeitgeschehen, 1944): „Die christliche Gemeinde kann und soll gewiß nicht selber Politik machen und regieren wollen. Sie kann und muß aber den Völkern und den Regierungen bezeugen, daß Politik, Gottesdienst, Recht und Freiheit Gottesgaben sind.“ 113 K. BARTH, Gespräche 1959–1962, hg. von E. BUSCH, Karl Barth GA IV. Gespräche, Zürich 1995, 284 (Pressekonferenz in New York, 1962). 114 K. BARTH, Christengemeinde und Bürgergemeinde (1946), in: DERS., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, ThSt 104, Zürich 41989, (49–82) 66. 115 Vgl. a.a.O., 50: „Die Bürgergemeinde als solche ist geistlich blind und unwissend. Sie hat weder Glauben noch Liebe noch Hoffnung. Sie hat kein Bekenntnis und

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Bei Kuyper hingegen findet sich die Forderung, „daß die Obrigkeit den Komplex christlicher Kirchen als die vielgestaltige Offenbarung der Kirche Christi auf Erden zu ehren hat“.116 Nach Barth kann die geistlich blinde Bürgergemeinde die Christengemeinde als Offenbarung der Kirche Jesu Christi intentional gar nicht ehren, weil sie nun einmal nicht um diese Offenbarung weiß. Die Bürgergemeinde steht wohlgemerkt mit der Christengemeinde auch im Raum der Königsherrschaft – allein, sie weiß nichts davon. Sie wird von der Christengemeinde – wie Barmen V sagt – an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit erinnert, übernimmt diese Gehalte aber nicht. Sie bleibt, so Barth, „darauf angewiesen, aus den löchrigen Brunnen des sogenannten Naturrechts zu schöpfen. Sie kann sich nicht von sich aus an das wahre und wirkliche Maß ihrer Gerechtigkeit erinnern, sich nicht von sich aus zu deren Erfüllung in Bewegung setzen.“117 Barth nimmt damit gleichsam die Situation der vollendeten Säkularisierung vorweg.118 Dabei beurteilt er den Prozess der Säkularisierung keineswegs im Sinne einer kontingenten historischen Entwicklung, die nun einmal notgedrungen widerwillig-resignativ als status quo des zerbrochenen Reiches eines populus christianus und der aufgesprengten Einheit der res publica christiana zur Kenntnis genommen werden müsste. Barth sieht darin vielmehr eine begrüßenswerte Entwicklung.119 Dies zeigt sich daran, dass Barths nicht einfach nur aufgrund empirischer Beobachtung das mehr oder weniger deskriptive Urteil fällt: „Es gibt also keinen der christlichen Kirche entsprechenden christlichen Staat.“120 In puncto Religionsneutralität (als integralem Bestandteil) von Rechtsstaatlichkeit weist Barth den Ist-Zustand als Soll-Zustand aus. So spricht er sich programmatisch-normativ gegen Hierokratisierungs- wie Theokratisierungsstrategien aus, d.h. gegen eine Verchrist-

keine Botschaft. In ihr wird nicht gebetet und in ihr ist man nicht Bruder und nicht Schwester. In ihr kann nur gefragt werden, wie Pilatus fragte: Was ist Wahrheit? weil jede Antwort auf diese Frage ihre Voraussetzung aufheben würde. ‚Toleranz‘ ist in ‚religiöser‘ Hinsicht – ‚Religion‘ ist hier das letzte Wort zur Bezeichnung jener anderen Sache – ihre letzte Weisheit.“ 116 A. KUYPER, Reformation, 98. 117 K. BARTH, Christengemeinde, 60. 118 Treffend bemerkt Hartmut Ruddies im Blick auf Barth: „Selbst wenn alle Bürger Christen würden, müsste eine klare Trennung von Kirche und Staat aufrechterhalten werden und wäre das Ziel eines christlichen Staates ein frommes Blendwerk.“ H. RUDDIES, Unpolitische Politik? Überlegungen zum Verhältnis von Theologie und Politik bei Karl Barth nach 1945, ZDTh 8 (1992), (173–197) 179. 119 So der Sache nach auch E. BUSCH, Die große Leidenschaft. Einführung in die Theologie Karl Barths, Darmstadt 22001, 179. 120 K. BARTH, Christengemeinde, 58.

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lichung der Bürgergemeinde zu einem „Pfaffenstaat“,121 also gegen eine Verdoppelung der Kirche im politischen Raum: Der Staat „kann und soll keine zweite Kirche sein, geschweige denn, daß er auch nur einen Anfang des Reiches Gottes (auf das ja die Kirche nur hoffen kann) darzustellen hätte. Man darf, wenn der Staat redet, kein Bekenntnis des christlichen Glaubens zu hören erwarten“.122 Der Grund, den Barth für seine These von der Unmöglichkeit eines christlichen Staates123 im Rekurs auf Röm 13 anführt, ist ein genuin theologischer: Der Staat ist – auch wenn er als „die unwissende, die neutrale, die heidnische Bürgergemeinde im Reiche Christi“124 selbst nichts davon weiß – eine „Auswirkung einer göttlichen Anordnung“ und „die Erscheinung einer jener Konstanten der göttlichen Vorsehung und der von ihr regierten Weltgeschichte im Reiche Christi“.125 Ergänzend zur noetischen Differenz zwischen Christengemeinde und Bürgergemeinde tritt bei Barth die ontologische Beziehung zwischen beiden in Erscheinung: Beide stehen im Reich Christi und beide sind in ihrer eigenen Existenz „die Auswirkung einer göttlichen Anordnung (ordinatio, Einsetzung, Stiftung), eine exusia, die nicht ohne, sondern nach Gottes Willen ist und wirksam ist (Röm 13,1b)“.126 Doch besteht – so Barth mit Barmen V – die in der Existenz des Staates stattfindende „Auswirkung göttlicher Anordnung […] darin, daß es da Menschen (ganz abgesehen von Gottes Offenbarung und ihrem Glauben) faktisch übertragen ist, ‚nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens‘ für zeitliches Recht und zeitlichen Frieden, für eine äußerliche, relative, vorläufige Humanisierung

121

K. BARTH, Rechtfertigung und Recht (1938), in: DERS., Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde, ThSt 104, Zürich 41989, (5–48) 33. Christofer Frey bemerkt zu Recht, dass nach Barth die Kirche „den Staat nicht klerikal bevormunden, sondern bewegen [wird], sich selbst treu zu sein“. Die Treue des Staates gegenüber sich selbst besteht darin, dass er „Recht sprechen und schützen, der Botschaft der Rechtfertigung freie Bahn lassen“ wird (CH. FREY, Die Theologie Karl Barths. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 1988, 178). Hervorhebung im Original. 122 K. BARTH, Briefe 1935–1942, 289 (Ein Brief aus der Schweiz nach Großbritannien, Ostern 1941). 123 Adäquat stellt Hans-Georg Geyer fest: Die „These von der Unmöglichkeit eines christlichen Staates schließt den Widerspruch gegen die Möglichkeit eines religiösen Staates überhaupt ein; er richtet sich gegen alle Formen der Synthese von Religion und Politik, bzw. von Kirche und Staat: von der Theokratie über die Hierokratie bis hin zum Cäsaropapismus“ (H.-G. GEYER, Einige vorläufige Erwägungen über Notwendigkeit und Möglichkeit einer politischen Ethik in der evangelischen Theologie, in: DERS., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. von H.TH. GOEBEL u.a., Tübingen 2003, [394–434] 418f.). 124 K. BARTH, Christengemeinde, 61. 125 A.a.O., 58. 126 A.a.O., 54. Hervorhebung im Original.

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der menschlichen Existenz zu sorgen“.127 Sofern dies geschieht, sind die dafür verantwortlichen Regierenden nach Röm 13,1 „Diener (liturgoi) Gottes“128 und ihr Dienst ein „Gottesdienst in der Welt, ein[ ] politische[r] Gottesdienst“.129 Das Existenzrecht des Staates besteht in seiner Realisierung des Auftrages, für Recht und Frieden zu sorgen.130 Mit diesen Bestimmungen beschreibt Barth – entsprechend seiner funktionalen, eine staatsmetaphysisch legitimierte Selbstzweckhaftigkeit ausschließende Sichtweise vom Staat – nichts anderes als die Aufgabe des säkularen Rechtsstaates. Dessen Säkularität besteht nach Barth in seiner Freiheit von jeglicher Bindung an ein Bekenntnis zu Gott, d.h. in seiner religiösen Neutralität. Dass Barth tatsächlich mit seinem säkularen Staatsverständnis den religiös neutralen Rechtsstaat131 zielsicher anvisiert, wird hinsichtlich der Barthschen Beschreibung des profanen Weges der Aufrichtung des Rechts, der Freiheit und des Friedens als Aufgabe der Bürgergemeinde evident: 127 128 129 130

A.a.O., 58. K. BARTH, Gotteserkenntnis, 207. Hervorhebung im Original. Ebd. Hervorhebung im Original. Dass diese Aufgaben des Staates nach Barth zugleich dessen Grenzen bestimmen, hat Daniel Ficker Stähelin als das punctum saliens des Streits zwischen Barth und dem späteren Schweizer Bundesrat Markus Feldmann im „Kalten Krieg“ herausgearbeitet: „Überschreitet er [der Staat; M.H.] seine Grenze, läuft er Gefahr, zum totalen Staat zu werden, auch wenn er ein demokratisches Gewand hat. Diesen Vorwurf musste sich Feldmann von verschiedenen Seiten gefallen lassen. […] Die dialektischen Theologen störte nicht, dass Feldmann die Kirche anders verstand, als sie es taten. Sie wehrten sich aber dagegen, dass Feldmann darüber wachen wollte, dass und wie die ‚Freiheit der Lehrmeinung auf reformierter Grundlage‘ in der Kirche gewahrt werde. Indem der Staat entscheiden wollte, was unter der reformierten Grundlage zu verstehen sei, machte er sich selbst zur Kirche und versuchte die Grenzen des Glaubensbekenntnisses festzulegen.“ D. FICKER STÄHELIN, Barth, 127. 131 Ganz im Sinne Barths urteilt Hans-Georg Geyer: „Diese Maxime des nichtreligiösen Staates und der nicht-religiösen Praxis des politischen Lebens ist jedoch nicht gleichbedeutend mit dem Votum für ein prinzipielles oder auch nur okkasionelles Bündnis des Staates mit einer dezidiert anti-religiösen Weltanschauung. Darauf wird die Kirche ebenso genau und bestimmt zu achten haben: wenn nötig auch stellvertretend für andere religiöse Gemeinschaften, mit denen sie nur in geistiger Auseinandersetzung leben kann. Ihr Protest gegen den religiösen Staat und eine religiöse Politik ist im gleichen Maß auch der Protest gegen den antireligiösen Staat und eine anti-religiöse Politik. […] In ihrem Verhältnis zum Staat wird es der christlichen Gemeinde stets zuerst darauf ankommen müssen, mit überzeugender Gewissheit und Klarheit diese beiden Punkte zu vertreten: daß die Religionsfreiheit des Staates sowohl notwendig als auch möglich ist für sein zweckmäßiges Dasein; – und mit gleichem Nachdruck –, daß ein Fortschritt zur Gottlosigkeit für den Staat weder eine Notwendigkeit noch eine echte Möglichkeit bildet.“ H.-G. GEYER, Erwägungen, 419f. Hervorhebung im Original.

368

XI. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus

„Es ist wohl wahr: der tiefste, der letzte, der göttliche Sinn der Bürgergemeinde besteht darin, Raum zu schaffen für die Verkündigung und für das Hören des Wortes und insofern allerdings für die Existenz der Christengemeinde. Aber der Weg, auf dem die Bürgergemeinde dies nach Gottes Vorsehung und Anordnung tut und allein tun kann, ist der natürliche, der weltliche, der profane Weg der Aufrichtung des Rechtes, der Sicherung von Freiheit und Frieden nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens. Es geht also gerade nach dem göttlichen Sinn der Bürgergemeinde durchaus nicht darum, daß sie selbst allmählich mehr oder weniger zur Kirche werde. Und so kann das politische Ziel der Christengemeinde nicht darin bestehen, den Staat allmählich zu verkirchlichen.“132

Hans-Georg Geyer kann unter Berufung auf Barth festhalten: „Mit ihrer praktisch-theoretischen Tendenz zur religiösen Neutralität des Staates betreibt die christliche Gemeinde so etwas wie die fortschreitende Politisierung oder Verstaatlichung des Staates.“133 4. Schlussbemerkung Anders als Calvin und Kuyper widersteht Barth Christianisierungstendenzen gegenüber dem Staat – ohne dabei das Bekenntnis zur Königsherrschaft Christi fallen zu lassen. Darin besteht bei aller Kritik, die man im Einzelnen an Barth üben kann, die große Leistung seiner politischen Ethik. Innerhalb der modellierten Dreierkonstellation, ja vielleicht sogar allgemein im Raum des reformierten Protestantismus, war er der erste, dem dies gelang. Dabei möchte ich die konzeptionellen Verdienste Calvins und Kuypers keineswegs schmälern oder in Frage stellen. Es wäre falsch und würde beiden nicht gerecht, sie einfach nur als Pappkameraden oder als Sparringspartner Barths aufzubauen. Nein, Calvin und Kuyper haben beide bereits den Weg zur Überwindung des Theokratieproblems eingeschlagen, der in der konzeptionellen Kombination von Königsherrschaft Christi und Zwei-ReicheLehre besteht. Calvin und Kuyper erfüllen auf ihre Weise bereits Staedtkes Plädoyer: „Wegen der in beiden Lehren latent vorhandenen Gefahren verbietet sich eine Verabsolutierung der einen oder der anderen Lehre. Vielmehr sollten beide Traditionen in ein dialektisches Verhältnis zueinander gesetzt werden, indem die Lehre von der Königsherrschaft Christi die Gefahr einer absoluten Trennung von göttlichem und weltlichem Reich als Konsequenz der ZweiReiche-Lehre vermeidet, und umgekehrt die Zwei-Reiche-Lehre die Königsherrschaft Christi vor ihrer Pervertierung in die Theokratie schützt.“134 132 133 134

K. BARTH, Christengemeinde, 62f. H.-G. GEYER, Erwägungen, 420. Hervorhebung im Original. J. STAEDTKE, Lehre, 112.

4. Schlussbemerkung

369

Auf dieser konzeptionellen Grundlage lässt sich aus genuin theologischen Gründen für eine konsequente Säkularisierung der Rechtstradition bzw. für den säkularen Rechts- und Verfassungsstaat argumentieren. Beide Theologen, Calvin und Kuyper, haben sich verdienstvoll der Stilisierung einer falschen, aber ethikgeschichtlich gängigen Alternative verweigert. Barth hat über Calvin und Kuyper hinaus einen weiteren, einen – wie ich finde – entscheidenden Schritt getan auf dem Weg zur Überwindung des Theokratieproblems und zur Bejahung der weltanschaulichen Neutralität des Staates und seiner Rechtssphäre. Damit will ich nicht einfach behaupten, dass Barths Modell bereits die Lösung des Theokratieproblems sei. Nein, auch es weist Schwächen auf, die anderenorts zu thematisieren wären.135 Um abschließend noch einmal kurz auf das Problemlösungsgespräch zurück zu kommen: Mit Barth sind wir dort angekommen, wo es um die nächsten Schritte der Veränderung geht. Barth hat uns – mit anderen Worten – einen Weg gewiesen, in konzeptionell konsistenterer und theologisch verantwortbarerer Weise unter der conditio saecularis gegen ein politisch zahn- und folgenloses Christentum einzustehen – für den säkularen Rechtsstaat; und weil für den Rechtsstaat, darum für das Recht und diejenigen, die das Recht schützen soll: Denn, so Helmut Simon, „wer wenig im Leben hat, der soll viel im Recht haben“.136 Oder wie es in der Präambel der schweizerischen Bundesverfassung so treffend heißt: „Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen“.

135

Weiterführend G. PLASGER, Einladende Ethik. Zu einem neuen evangelischen Paradigma in einer pluralen Gesellschaft, KuD 51 (2005), 126–156. Zu Barth vgl. a.a.O., 130f. 136 H. SIMON, „Wer wenig im Leben hat, soll viel im Recht haben“. Beiträge zu einer ökumenischen Rechtstheologie, ÖR 16 (1967), 338–357.

XII. Post Barth locutum Reformierte Ethik und ihre Rezeption reformiertreformatorischer Grundentscheidungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts 1. Einführung: Reformierte Ethik als Ethik der Erinnerung Zu den allgemeinen Kennzeichen der reformierten Konfessionsfamilie – so hält es das „kulturelle Gedächtnis“ fest – gehört ihr ethischer Akzent. Dies ist weniger im Sinne einer strengen Ethikdefinition zu verstehen, die Ethik als Reflexion auf Ethos und Moral bestimmt, sondern dieser Akzent wird zunächst auf die „Reformation des Lebens“ (reformatio vitae) bezogen, mit der die reformierten Reformatoren Luthers „Reformation der Lehre“ (reformatio doctrinae) weniger konkurrierten als diese komplementierten.1 Dies führte bisweilen zum Vorwurf, dass der reformierte Glaube eine negative, legalistische Einstellung zum christlichen Leben vertrete.2 Es sind im reformierten Protestantismus vor allem Fragestellungen nicht nur der persönlichen, sondern auch der politischen und sozialen Lebensführung eines Gemein- und Staatswesens, die neues Gewicht erhielten. So hält etwa Christoph Strohm fest: „Der Anspruch Calvins und des Calvinismus, die Reformation der Lehre, wie sie Luther geleistet hat, durch eine Reformation des Lebens zu vollenden, rückte von Anfang an Fragen der Heiligung, der Ethik und der Sozialethik ins Zentrum des Interesses.“3

1

Selbstverständlich hat sich auch im Luthertum „Ethik“ entwickelt. Diese kreist nach Reinhard Hütter elliptisch um das zweifache Zentrum von Freiheit und Gebot (vgl. R. HÜTTER, The Twofold Center of Lutheran Ethics. Christian Freedom and God’s Commandments, in: K.L. BLOOMQUIST / J.R. STUMME [Hg.], The Promise of Lutheran Ethics, Minneapolis 1998, 31–54). Auch Christofer Frey hebt hervor, dass Luther nicht nur eine reformatio doctrinae kannte: „Die Reformierten hoben die Heiligung neben der Rechtfertigung hervor, um die Gefahr des Quietismus abzuwehren. Daß der Glaube tätig werden muß, ist auch Luthers Auffassung: Er läßt das gesamte Verhalten des Christen im Halten des ersten Gebots begründet sein“ (CH. FREY, Theologische Ethik, Neukirchen-Vluyn 1990, 188). Hervorhebung im Original. 2 Vgl. I.J. HESSELINK, On Being Reformed. Distinctive Characteristics and Common Misunderstandings, New York 21988, 49–54. Entsprechend lautete auch der vielfach an Barths Ethik adressierte Vorwurf (vgl. W. LIENEMANN, Grundinformation Theologische Ethik, UTB 3138, Göttingen 2008, 203). 3 CH. STROHM, Art. Calvinismus, EStL. Neuausgabe, hg. von W. HEUN u.a., Stuttgart 2006, (292–298) 296.

1. Einführung: Reformierte Ethik als Ethik der Erinnerung

371

Über diese recht allgemeine Information hinaus sind indes die Auskünfte, was denn genau genuin „reformierte“ Ethik meint, meist dürftiger. Das vieldiskutierte und umstrittene Problem der „reformierten Identität“ manifestiert sich auch und gerade in rebus ethicis: Was macht Wesen und Inhalt reformierter Ethik eigentlich aus? Gibt es so etwas wie das ethische Profil des reformierten Protestantismus? Lässt sich in Affirmation und Negation, Abgrenzung und Zustimmung so etwas wie der „harte Kern“ reformierter Ethik bestimmen? Ein solcher Bestimmungsversuch dürfte nicht leicht fallen und scheitert immer wieder an der Pluralität4 der reformierten Konfessionsfamilie, und zwar sowohl in synchroner als auch diachroner Hinsicht. Dies erschwert jeden ernsthaften und seriösen konfessionskundlichen Zuschreibungsversuch. Die Frage spitzt sich zu: Was tun angesichts dieser virulenten Schwierigkeit der Identitätsbestimmung? Eine Beobachtung mag hier weiterhelfen: Im Blick auf die Identitätsthematik lässt sich in den Kulturwissenschaften eine beträchtliche Konjunktur der Erinnerungsthematik beobachten. In diesem weiten Zusammenhang dürfte auch die Forderung nach einer – mit dem Buchtitel des israelischen Philosophen Avishai Margalit gesprochen – „Ethik der Erinnerung“5 stehen. In der Tat: „Wenn nicht alles erinnert werden kann und wenn umstritten ist, was vergessen werden kann und was nicht, dann kommen wir nicht darum herum, das Was und Wie unserer Erinnerung in einem Prozess ethischer Urteilsbildung zu verantworten.“6 Zunächst dürfte es bedeutsam sein, den Befund dessen zu erheben, was de facto erinnert wird. Im ethischen Prozess der Urteilsbildung ist es unverzichtbar, die Beschaffenheit der Tradition zu ermitteln, d.h. zu fragen, wie die Identität stiftende Tradition beschaffen ist.7 Die Diskussion um das „kulturelle Gedächtnis“, die unlöslich mit 4

Zur Pluralität der reformierten Kirchen vgl. E. BUSCH, Art. Reformierte Kirchen I. Geschichtlich und konfessionskundlich, RGG4 7 (2004), (165–171) 167f. 5 A. MARGALIT, The Ethics of Memory, Cambridge (MA) 2002; deutsch (frühere und kürzere Fassung): Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen, Frankfurt a.M. 2000. 6 M. ZEINDLER, „Dies tut zu meinem Gedächtnis“. Das Abendmahl und der Streit um die Erinnerung, PTh 91 (2002), (361–374) 363. Vgl. auch: J.A. SIDER, Image, Likeness and the Ethics of Memory, SJTh 54 (2001), 528–547. Vgl. W. LIENEMANN, Kritik der Gewalt. Unterscheidungen und Klärungen, in: DERS. / W. DIETRICH (Hg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, (10–30) 18: „Man muss, wenn man die Gewalt überwinden will, ihre Kraftlinien und Mechanismen bis in tiefste Dunkel ausleuchten und aufklären, denn nur dann kommen auch die Opfer von Macht und Gewalt in den Blick, und sei es, wie oft, nur noch in den Blick des Gedenkens.“ 7 Vgl. A. MACINTYRE, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame 1988; DERS., Three Rival Versions of Moral Enquiry. Encyclopaedia, Genealogy, and Tradition, Notre Dame 1990.

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XII. Post Barth locutum

dem Namen Jan Assmann verknüpft ist, hat zumindest als Ertrag ein Bewusstsein dafür geweckt, dass es im Blick auf die Frage nach der Identität höchst aufschlussreich ist, zu sehen, was de facto erinnert wird. Kulturen sind nun einmal auch und vor allem Erinnerungsgemeinschaften, die ihre Traditionen besitzen. Jan Assmann hat mit seiner Theorie des kulturellen Gedächtnisses8 die These vertreten: „Was eine Kultur ausmacht, zeigt sich darin, was sie für des Erinnerns wert erachtet, in welcher Erinnerung sie ihre eigene Identität gespiegelt sieht. Kultur als Erinnerung, oder besser: Kultur als Gedächtnis beschreibt also die im Fluss befindliche Identität eines Gemeinwesens.“9 Wenn dies zutrifft, so die Ausgangsthese der folgenden Untersuchung, dann sind – angewandt auf die ethische(n) Tradition(en) des reformierten Protestantismus – auch Rückschlüsse auf die vieldiskutierte und strittige „reformierte Identität“10 möglich. Für die Frage nach der Identität „reformierter Ethik“ ist demzufolge das im Reformiertentum Erinnerte höchst aussagekräftig. Anders gesagt: Wer wissen möchte, was „reformierte Ethik“ ist bzw. wie sie sich darstellt, muss danach fragen, was erinnert wird und so etwas wie das „kulturelle Gedächtnis“ ausmacht. Welche theologisch-ethischen Grundentscheidungen werden etwa erinnert? Ich möchte, diese Einsicht aufnehmend, im Folgenden so vorgehen, dass ich frage, welche als reformiert-reformatorisch gekennzeichneten Grundentscheidungen in ausgewählten Ethikentwürfen des 20. Jahrhunderts erinnert werden. Eingrenzend ist es m.E. sinnvoll, diese Frage auf die postbarthsche Zeit der 1970er und 1980er Jahre zu beziehen. Dass Barth, abgesehen von seinem in mancherlei Hinsicht als Antipoden verstandenen einstigen Weggenossen Emil Brunner, die theologisch überragende und dominierende Figur im reformierten Protestantismus war, dürfte unstrittig sein.11 Interessant ist es zu schauen, wer, seine „verständliche[n] postbarthianische[n] Hemmungen überwindend“,12 einen eigenen Ethikentwurf vorgelegt 8

Vgl. J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 62007. 9 M. HAILER, Glauben und Wissen. Arbeitsbuch Theologie und Philosophie, Göttingen 2006, 200. 10 Vgl. zur Diskussion: M. HOFHEINZ / M. ZEINDLER, Was heisst eigentlich „reformiert“? Einleitende Bemerkungen zur Frage nach der reformierten Identität und dem vorliegenden Buchprojekt, in: DIES. (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem 20. Jahrhundert, Zürich 2013, 9–20. 11 Vgl. etwa G. PLASGER, Reformed Theology in Germany in the Twentieth Century, in: G. HARINCK / D. VAN KEULEN (Hg.), Vicissitudes of Reformed Theology in the Twentieth Century, Studies in Reformed Theology 9, Zoetermeer 2005, (50–68) 50; 61; 65. 12 F.-W. MARQUARDT, Helmut Gollwitzer. Weg und Werk, in: CH. HAHN (Hg.), Bibliographie Helmut Gollwitzer, Helmut Gollwitzer AW in 10 Bde., hg. von Mitar-

2. „Jesus Christus als das eine Gebot Gottes“

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hat und auf welche ethischen Grundentscheidungen seitens der reformierten Reformatoren er dort rekurriert und gleichsam mit dem Etikett des „Identitätsstiftenden“ versieht. Ausgewählt werden – begrenzt auf den deutschsprachigen Raum – Ethikentwürfe aus den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, also aus der Zeit unmittelbar vor dem Zusammenbruch des sog. „Kommunismus“, nämlich diejenigen von Walter Kreck (1908–2002), Jürgen Moltmann (*1926) und Arthur Rich (1910–1992). Alle drei rufen auf ihre Weise ethische Grundentscheidungen reformierter Reformatoren in Erinnerung. Eine solche „Erinnerung“, die gerade darin traditionsbildend wirken möchte, dass sie das Identitätsstiftende bestimmt und ausweist, dürfte für die Ausgangsfrage dieser Untersuchung sehr aufschlussreich sein – aufschlussreicher jedenfalls als jene vorschnelle Benennung bestimmter Generalnenner, die als „typisch reformiert“ gehandelt werden. Die Gefahr, hier nur Klischees zu bedienen, ist allzu offenkundig. Wie wir noch sehen werden, werden solche Klischees etwa von Friedrich Wilhelm Graf bedient, wenn er behauptet, dass „die reformierte Ethik des Politischen immer zur theokratischen bzw. christokratischen Sakralgestaltung des Gemeinwesens“13 tendiert. Dass die Theokratiebzw. Christokratiethematik eine prominente Rolle spielt und einnimmt, dürfte dabei unstrittig sein.14 Die Behauptung, hier in normativer Hinsicht eine Tendenz zur Theokratie- bzw. Christokratie entdecken zu können, ist indes ebenso begründungspflichtig wie überprüfungsbedürftig. 2. „Jesus Christus als das eine Gebot Gottes“ Die Rezeption der reformiert-reformatorischen Tradition in Walter Krecks „Grundfragen christlicher Ethik“ 2.1 Indikativ und Imperativ Der Bonner Ethiker Walter Kreck entwickelt seinen ethischen Ansatz im Anschluss an seinen Lehrer Karl Barth, indem er bei der Offenbarung Gottes in Jesus Christus ansetzt. Kreck liest die Theologie Barths auch als kritische Anfrage an seine eigene reformierte Tradibeitern des Instituts für Evangelische Theologie an der Freien Universität Berlin, Bd. 10, München 1988, (11–48) 24. 13 F.W. GRAF, Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart, München 2006, 44. 14 Vgl. M. HOFHEINZ, Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus. Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschauliche neutrale Rechtsstaat, in: M. FREUDENBERG / G. P LASGER (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge zur achten Emder Tagung der Gesellschaft für reformierten Protestantismus, EBzrP 14, Neukirchen-Vluyn 2011, 51–77.

374

XII. Post Barth locutum

tion, wobei er vor allem auf Calvin und den Heidelberger Katechismus15 Bezug nimmt. Es geht ihm im Umgang mit der Tradition um eine Haltung des „[k]ritische[n] Respekt[s] gegenüber dem Bekenntnis der Väter“.16 Jesus Christus, an den sich legitime Bekenntnisbildung zu binden hat und an den sie bindet, insofern sie zu Recht den Anspruch erhebt, legitime Bekenntnisbildung zu sein, ist nach Kreck „das Gebot Gottes“.17 Da Christus die Offenbarung Gottes ist, wird das Gebot Gottes bei Kreck analog zu Barth trinitätstheologisch nach dem Gebot Gottes des Schöpfers, des Versöhners und Erlösers ausdifferenziert. Trotz aller Berufung auf Barth zeigen sich gleichwohl im Detail auch Differenzen zwischen dessen und Krecks Entwurf.18 So ist darauf hingewiesen worden, dass Gottesdienst und Gebet in der Ethik Krecks keine Rolle spielen: „Kreck konkretisiert die Rede von Gebot und Gehorsam, er erwägt, was die Zugehörigkeit zu Jesus Christus ethisch bedeutet, diskutiert die Termini Nachfolge, Gewissen und nicht zuletzt die Frage der politischen und gesellschaftlichen Strukturen. Der Begriff ‚Gebet‘, die Themen Gottesdienst und Doxologie kommen allerdings nicht vor. […] Barth entwickelt die Ethik der Versöhnungslehre als Auslegung des Vaterunsers. […] Sie beginnt eben nicht wie bei Walter Kreck bei einem Gebot, welches umzusetzen wäre.“19

Kreck folgt Barth darin, dass er die Ethik als Lehre vom Wort Gottes entwirft: „Das heißt aber, daß auch die Ethik, zumal ihre Grundlegung, nicht im Rahmen einer allgemeinen Anthropologie oder Geschichtsphilosophie entworfen werden kann, sondern daß auch sie Lehre vom Wort Gottes, dh. von Jesus Christus und dem in ihm mit Gott versöhnten Menschen ist.“20 Nach Krecks Leitgedanken werden sowohl Indikativ (Zuspruch) also auch Imperativ (Anspruch) in Jesus

15

Vgl. W. KRECK, Rechter und falscher Respekt vor dem Bekenntnis der Väter, in: W. HERRENBRÜCK / U. SMIDT (Hg.), Warum wirst du ein Christ genannt? Vorträge und Aufsätze zum Heidelberger Katechismus im Jubiläumsjahr 1963, NeukirchenVluyn 1965, 67–78; DERS., Die Versöhnungslehre Karl Barths als kritische Anfrage an den Heidelberger Katechismus, Theologische Beilage zur RKZ 2 (1989), 2–7. 16 W. KRECK, Respekt, 68. 17 W. KRECK, Grundfragen christlicher Ethik, KT 80, München 41990, 76. So ist der Teil II von Krecks „Grundfragen christlicher Ethik“ (1975) überschrieben. 18 Barth stellt – anders als Kreck – etwa den Schematismus von Indikativ und Imperativ grundlegend in Frage. Vgl. dazu M. HOFHEINZ, „Er ist unser Friede“. Karl Barths christologische Grundlegung der Friedensethik im Gespräch mit John Howard Yoder, FSÖTh 144, Göttingen 2014, 187–192. 19 M. HAILER, Theologische Ethik, in: E.-M. BECKER / D. HILLER (Hg.), Handbuch Evangelische Theologie. Ein enzyklopädischer Zugang, UTB 8326, Tübingen/Basel 2005, (263–300) 296f. Hervorhebung im Original. 20 W. KRECK, Grundfragen, 18.

2. „Jesus Christus als das eine Gebot Gottes“

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Christus offenbar.21 Der Imperativ resultiert aus einem Indikativ, weshalb Gesetz und Evangelium nicht heilgeschichtlich einander nachgeordnet werden können. Kreck beruft sich hinsichtlich dieser – wenn man so will – fundamentalethischen Entscheidung explizit auf die reformierte Tradition, namentlich Johannes Calvin, dessen Lebensmotto des „nostri non sumus, sed Domini“22 Kreck aufgreift: „Während lutherische Theologie den stärkeren Akzent darauf legt, daß jeder Imperativ im Indikativ wurzelt (und darum hier die Neigung zu einem quietistischen, antinomistischen Mißverständnis naheliegt), ist Calvins Pathos auf den im Indikativ begründeten Imperativ gerichtet (mit allen guten und bösen Folgen für einen reformierten Aktivismus). So sagt Calvin (in dem Kapitel über die Selbstverleugnung, Inst. III, 7): ‚Wir sind nicht unsere eigenen Herren – also darf bei unseren Plänen und Taten weder unsere Vernunft noch unser Wille die Herrschaft führen. Wir sind nicht unsere eigenen Herren – also dürfen wir uns nicht das Ziel setzen, danach zu suchen, was uns nach dem Fleische nütze! Wir sind nicht unsere eigenen Herren – also sollen wir uns und alles, was wir haben, so weit irgend möglich vergessen! … Wir sind Gottes Eigentum – also muß seine Weisheit und sein Wille bei all unserem Tun die Führung haben! Wir sind Gottes Eigentum – also muß unser Leben in allen seinen Stücken allein zu ihm als dem einzigen rechtmäßigen Ziel hinstreben.‘“23

Gegen den Vorwurf, „die Reinheit reformatorischer Erkenntnis durch die Vermischung von Gesetz und Evangelium, von Altem und Neuem Testament, von weltlicher und geistlicher Gewalt wieder getrübt [zu] haben“,24 verteidigt Kreck Calvin.25 Indikativ und Imperativ dürfen Kreck zufolge nämlich nicht im Sinne einer „Emanzipation des Sittlichen“ (Gerhard Ebeling) auseinandergerissen werden, sondern müssen einander zugeordnet bleiben: „Wenn Jesus Christus also beides, Gottes Zuspruch und sein Anspruch an uns ist, wenn das Gebot in der Zusage 21

In der Homiletik ist vor allem Krecks Schüler Peter Bukowski dieser Zuordnung gefolgt. Vgl. P. BUKOWSKI, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 31995, 126–172. 22 Inst. (1559), III,7,1. Christofer Frey nennt dies das „ethische Prinzip Calvins“. CH. FREY, Die Ethik des Protestantismus von der Reformation bis zur Gegenwart, GTB 1424, Gütersloh 1989, 65. 23 W. KRECK, Grundfragen, 80f. Kreck zitiert aus Inst. (1559), III,7,1. – OS IV,151,16–26. 24 W. KRECK, Die Eigenart der Theologie Calvins, in: J. MOLTMANN (Hg.), CalvinStudien 1959, Neukirchen 1960, (26–42) 26. Vgl. a.a.O., 31: „Es hängt für Calvin wirklich alles daran, daß Gottes Wort nicht hoch über uns in den Wolken erschallt, sondern Fleisch wird, daß er in Jesus Christus mit uns solidarisch wird, und seine ganze Lehre von der Rechtfertigung und Heiligung des Menschen kreist um diesen christologischen Kern, daß Christus für uns ist und wir in ihm sind.“ 25 So auch W. KRECK, Wort und Geist bei Calvin, in: DERS. Tradition und Verantwortung. Gesammelte Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 1974, (60–77) 69f.

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XII. Post Barth locutum

gründet und auch durch sie nicht eliminiert, sondern aufgerichtet wird, dann ist näher nach der Zuordnung beider zu fragen.“26 Kreck entdeckte bereits in seiner von Karl Barth betreuten Baseler Dissertation „Die Lehre von der Heiligung bei H.F. Kohlbrügge“27 auch bei diesem niederländisch-reformierten Theologen (1803–1875) eine „Unterscheidung und Zusammengehörigkeit von Evangelium und Gesetz“, zumal auch dieser „wie Barth hervorhebe[], daß das Gesetz die Form des Gnadenbundes sei“.28 Kreck hat sich diese, sein Denken lebenslang tragende, theologische Grundentscheidung, wonach das Verhältnis von Evangelium und Gesetz im Bundesgedanken wurzelt und auf die Einheit des Wortes Gottes in Jesus Christus zurückgeht, im Kontext und unter dem Druck nationalsozialistischer Ideologie zu eigen gemacht. Er findet sie in der zweiten These der „Barmer Theologischen Erklärung“ (1934) zusammengefasst: „Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen.“ Die hier zum Ausdruck kommende Bindung des Gesetzes ermöglichte Kreck eine kritische Distanz zur Ideologie des „Dritten Reiches“, die sich nicht als politische Abstinenz interpretieren lässt. Das Gesetz ist eben nicht gebunden an das Reich der Welt und auch nicht an dessen vermeintliche Schöpfungsordnungen bzw. natürlichen Ordnungen wie – um die Diktion des „Ansbacher Ratschlages“ (1934) aufzunehmen – „Familie, Volk, Rasse (d.h. Blutzusammenhang)“. Das Gesetz wird nach Kreck eben erst durch das Christusereignis erkennbar. In diesem Zusammenhang steht auch Krecks Berufung auf die Lehre von der „Königsherrschaft Jesu“, die gegen eine dualistische Interpretation der Zweireiche-Lehre in Teilen des Luthertums gerichtet ist.29 26 27

W. KRECK, Grundfragen, 83. W. KRECK, Die Lehre von der Heiligung bei H.F. Kohlbrügge, FGLP 8/II, München 1936. Zur Einheit von Gesetz und Evangelium vgl. a.a.O., 6–15. Zu Kohlbrügge erschien im Jahr zuvor die einschlägige Biographie: H.K. HESSE, Hermann Friedrich Kohlbrügge, Wuppertal-Barmen 1935. 28 W. KRECK, Das Bild Kohlbrügges in der dialektischen Theologie, in: DERS., Kirche in der Krise der bürgerlichen Welt. Vorträge und Aufsätze 1973–1978, München 1980, (85–101) 89. 29 Vgl. H.-R. REUTER, Grundlagen und Methoden der Ethik, in: W. HUBER u.a. (Hg.), Handbuch der Evangelischen Ethik, München 2015, (9–123) 52f. Zur differenzhermeneutischen Anlage beider „Paradigmen“ vgl. den Aktualisierungsversuch von G. THOMAS, Die politische Aufgabe der Kirche im Anschluss an das reformierte Modell der „Königsherrschaft Christi“, in: I. DINGEL / CH. TIETZ (Hg.), Die politische Aufgabe von Religion. Perspektiven der drei monotheistischen Religionen, VIEG 87, Göttingen 2011, 299–328.

2. „Jesus Christus als das eine Gebot Gottes“

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Dass diese Lehre unter christologischem Primat auf eine theologische Ethik des Politischen abzielt, dürfte schon durch die Verwendung analoger Begriffe („König“, „Herrschaft“), mit denen Christus und der politische Raum prädiziert werden, deutlich sein. Krecks Konzentrationsbewegung auf Jesus Christus als Antwort Gottes auf die Frage nach seinem Willen, die von Kreck ideologiekritisch pointiert wird, ermöglicht es ihm, die Anthropologie (freilich nicht als allgemeine Anthropologie) von Christus als dem verus homo her in den Blick zu nehmen und die Ethik als Ethik für den in Christus neuen Menschen zu konzipieren. Dieser neue Mensch ist nach Kreck das ethische Subjekt, so dass die Ethik dessen Existenz zum Gegenstand, zum Maß und Kriterium ihrer Orientierung hat:30 „Der durch Gottes Gnade konstituierte und durch Gottes Gebot angeredete Mensch ist nicht der überhöhte alte, sondern wirklich ein neuer Mensch, so gewiß er mit Christus gestorben und auferstanden ist. Auf dies mit Christus Gestorbensein und mit ihm zum Leben Berufensein wird etwa bei Paulus (Röm 6) der Christ in den Imperativen angeredet. […] Sei, was du in Christus bist! – so heißt es hier. Die menschliche Entscheidung besteht darin, anzuerkennen, daß Gottes Entscheidung über uns, die wir uns von uns aus in keiner Weise für Gott entscheiden können, gefallen ist, und ihr zu entsprechen. Gottes Gnade, und zwar im Sinne des sola gratia, konstituiert unsre Freiheit. Frei bin ich nicht in mir selbst, sondern extra me, in Christus. Es kann sich nicht darum handeln, bei der Begründung der Ethik die grundlegenden Erkenntnisse der Rechtfertigungslehre wieder zu vergessen oder einzuschränken, anstatt die Konsequenz daraus zu ziehen. Mein wahres, freies Personsein, das ich im Gehorsam zu betätigen habe, gründet gerade darin, daß ich nicht mit mir selbst identisch bin (Ich = ich), sondern daß Christus sich mit mir identifiziert. Deshalb sagt Paulus: ‚Ich lebe, doch nun nicht ich, Christus lebt in mir‘ (Gal 2,20). In dem totalen Ja, das Gott in Christus zu mir gesprochen hat, ist mir die Möglichkeit eröffnet, zu ihm meinerseits Ja zu sagen. Während für unser gewohntes Denken der totale Indikativ (Zuspruch) und der totale Imperativ (Anspruch) auseinanderzubrechen drohen, während wir also Phil 2,12–13 im Sinne eines Paradoxes verstehen, ist für Paulus der Imperativ im Indikativ begründet. Unser wahres Subjektsein gründet geradezu in der völligen ‚Objektivität‘. Der nicht auf sich selbst schauende, vielmehr an sich selbst verzweifelnde, aber an Gottes Zusage in Christus sich klammernde Mensch ist wahrhaft Person, ist frei zum Gehorsam. Wo der Traum des souveränen Menschen ausgeträumt ist, wo ich mich nicht als von Haus aus Freien, sondern als Befreiten, als Freigesprochenen verstehe, da bin ich recht frei. Gerade auch im Blick auf mein ethisches Selbstverständnis gilt das Wort Jesu: ‚Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren‘.“31 30

Vgl. H.G. ULRICH, Grundlinien ethischer Diskussion. Ein Literaturbericht, VuF 20 (1975), (53–99) 65. 31 W. KRECK, Grundfragen, 84–86. Zum Freiheitsverständnis vgl. auch DERS., „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, in: H.-J. GIROCK (Hg.), Maßstäbe für die

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XII. Post Barth locutum

Dieses lange Zitat verdeutlicht, um was es Kreck im Kern geht, nämlich die Entfaltung einer Ethik der Identität, verstanden im Sinne des neuen Seins in Christus. Diese Ethik bleibt in der Grammatik der Rechtfertigungslehre, auch wenn sie auf den Menschen als ethisches Subjekt fokussiert, von dessen Heiligung spricht und sein Handeln kritisch reflektiert. Von dem in Christus neuen Menschen her kann Kreck auch die Humanität in den Blick nehmen: „Diese ethische Existenz des Menschen ‚in Christus‘, dieses ethische Subjekt wird auch zum Gegenstand der Ethik, zum Maß und Kriterium ihrer Orientierung. Das Handeln des Menschen geschieht in Entsprechung zum Handeln Gottes an diesem Menschen. Diese Rückbezüglichkeit der Ethik auf das Handeln Gottes selbst macht es möglich, die Humanität des Menschen als Norm für die Ethik anzunehmen. So ist auch die Brücke geschlagen zur philosophischen, politischen und sozialen Norm der Humanität: im Gegenstand der Ethik, darüber, daß sich der Mensch selbst zum Gegenstand geworden ist, besteht keine Differenz, im Gegenteil: Krecks Ethik bestätigt, daß eben dies so sein darf. Die Differenz hat sich in der Erkenntnis der Humanität zu bewähren. Die christliche Gemeinde sucht die Kriterien für echtes Menschseins in dem Menschen Jesus Christus“.32

2.2 Rechtfertigung und Heiligung Eine zweite signifikante ethische Grundentscheidung, dies bereits angeklungen ist und im Blick auf die sich Kreck ausdrücklich auf die reformierte Reformation beruft, betrifft den Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung. Dieser Zusammenhang fokussiert gleichsam auf die Konstitution des ethischen Subjekts. Es geht, genauer noch, um die Konstitution im Sinne der Existenzbestimmung extra nos. Kreck behandelt die Frage nach Rechtfertigung und Heiligung unter drei thesenhaft zugeordneten Aspekten: „1. Heiligung ist nicht Rechtfertigung, d.h. Rechtfertigung und Heiligung sind zu unterscheiden. 2. Rechtfertigung ist immer zugleich Heiligung, sie sind also nicht zu trennen. 3. Heiligung gründet in Rechtfertigung, Rechtfertigung zielt auf Heiligung.“33 Kreck verklammert das Schema von Indikativ/Zuspruch und Imperativ/Anspruch mit der ZweiständeZukunft. Neue Aspekte christlicher Ethik in einer veränderten Welt, Hamburg 1970, 121–134. 32 H.G. ULRICH, Grundlinien, 65. 33 W. KRECK, Rechtfertigung und Heiligung, Das missionarische Wort. Organ der Arbeitsgemeinschaft für Volksmission 15 (1962), (371–383) 372. Ähnlich D.L. MIGLIORE, Faith Seeking Understanding. An Introduction to Christian Theology, Grand Rapids 32014, 250f.: „If justification by grace through faith is the foundation of the Christian life, sanctification is the process of growth in Christian love. […] Justification is the basis and presupposition of sanctification; sanctification is the aim and consequence of justification.“ Dort z.T. kursiv.

2. „Jesus Christus als das eine Gebot Gottes“

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Lehre (status exinanitionis und status exaltationis) sowie mit der Zuordnung von Rechtfertigung und Heiligung. Die beiden erstgenannten Topoi fungieren bei Kreck als Interpretamente letzterer, sodass ein theologischer Erläuterungszusammenhang ersteht, der Dogmatik und Ethik zugleich umfasst und deren Trennung wehrt: „Die rechte Verklammerung von Zuspruch und Anspruch, die beides mit gleichem Ernst bejaht, kann nur christologisch einsichtig gemacht werden. Indem Gott sich in Jesus Christus erniedrigt und unser Menschsein annimmt, wird zugleich dies Menschsein geheiligt, in Dienst gestellt, für Gott beschlagnahmt, zum Organ göttlichen Wirkens. Deshalb bekennt der Glaube, daß Jesus Christus nicht nur der sich zu uns herablassende Sohn Gottes ist, sondern auch zugleich der erhöhte Mensch. Eins kann nicht ohne das andre sein, beides koinzidiert zeitlich.“34

Wiederum ist die Nachahmung im Gefolge der Barthschen Versöhnungslehre nicht zu verleugnen. Kreck macht daraus auch keinerlei Hehl: „Vgl. zu dieser christologischen Verklammerung von Rechtfertigung und Heiligung vor allem K. Barth, KD, IV/2, wo er diesen Zusammenhang von Erniedrigung des Sohnes Gottes und Erhöhung des ‚Menschensohns‘ breit entfaltet und damit über die traditionellen christologischen Verknüpfungen hinausführt. Zwar hatte zB. Calvin schon diese christologisch begründete Verknüpfung von Rechtfertigung und Heiligung im Auge gehabt, wenn er Christus die Sonne nennt, die sowohl leuchtet wie wärmt. Indem er zugleich unser Hoherpriester und unser König ist, kann die in ihm erworbene Gerechtigkeit nicht von der Heiligung getrennt werden. Aber die nähere Erläuterung scheint mir hier zu fehlen. Faktisch wird die Heiligung dann doch durch die Geltung des von seinem Fluch befreiten Gesetzes (tertius usus legis), das als Bundesgesetz freilich immer schon auf Christus hinzielte, begründet.“35

Kreck integriert in besagten Erläuterungszusammenhang – wie sich hier zeigt – auch die Drei-Ämter-Lehre (Jesus Christus als König, Priester und Prophet)36 und Calvins Gesetzeslehre, d.h. konkret seine Lehre vom tertius usus legis als dem praecipuus usus legis: „[H]ier 34 35 36

W. KRECK, Grundfragen, 86f. A.a.O., 87. Vgl. dazu M. FREUDENBERG, Das dreifache Amt Christi – eine „längst ausgepfiffene Satzung der Schultheologen“ (H.Ph.K. Henke)? Zum munus triplex in der reformierten Theologie und seiner Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, 71–96; M. HOFHEINZ, De munere prophetico – Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes. Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos vor der „Lessingzeit“ (von Zwingli bis Lampe), in: DERS. u.a. (Hg.), Calvins Erbe. Die Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT 9, Göttingen 2011, 117–171.

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XII. Post Barth locutum

schlug [Calvins Herz; M.H.], da ihm an der Einheit von Gesetz und Evangelium (Bundesgedanke) lag.“37 Charakteristisch für Krecks Zugriff ist ohnehin die Intensität, mit der er von Calvins Heiligungslehre Gebrauch macht. Mit Calvin versteht Kreck die „Heiligung“ vor allem als Partizipation, als Teilhabe bzw. Teilgabe an Christus. Sie ist das zentrale Thema der Heiligungslehre: „Ist um der Gültigkeit unsrer Rechtfertigung und Heiligung willen zwischen Christus und uns zu unterscheiden, so darf man doch nicht zwischen ihm und uns trennen. Schon der Ruf in die Nachfolge, wie ihn die Synoptiker bringen, ist nur zu verstehen, wenn man beides sieht: Jesu souveränes Gegenüber zu den Berufenen und die Entscheidung, die damit über den Berufenen fällt, so daß er dadurch ein andrer wird, als er vorher war. In der Urgemeinde bzw. bei Paulus ist es eindeutig, daß die Christen als Getaufte angeredet werden, dh. als solche, die aus dem Reich der Finsternis in das Reich des Lichtes versetzt sind. Das Gebot ergeht hier nicht an ein isoliertes, souveränes Ich, sondern an die ‚Heiligen‘, d.h. die Christus Gehörigen. Jesus Christus ist nicht nur Lehrer oder Vorbild, sondern der Existenzgrund, in den die Christen eingepflanzt sind, so daß nun gilt: ‚Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden‘ (2Kor 5,17). Die Einzigartigkeit Jesu Christ bedeutet also nicht seine Einsamkeit, sondern seine Heiligkeit umschließt die Seinen. Deshalb kann von einer Teilhabe an Christus geredet werden (participatio wie Calvin sagt).“38

Auch die verschiedenen Aspekte der Heiligung – wie die crucificatio bzw. negatio nostri – nimmt Kreck mit Calvin in den Blick: „Teilhabe an Christus heißt zunächst crucificatio bzw. negatio nostri. Diese Selbstverleugnung, die Jesus von seinen Jüngern verlangt, die Calvin als Summe des christlichen Lebens eindrücklich beschreibt, ist etwas andres als Askese, als Erfüllung eines christlichen Demutsideals oder als buddhistische Verneinung des Willens zum Leben. Sie ist vielmehr Ausdruck dafür, daß wir um das in Christi Kreuz ergangene Urteil Gottes wissen und es gelten lassen möchten.“39

Nochmals Kreck: „Unter den Reformatoren hat gerade Calvin diese abnegatio nostri aufs stärkste betont. Dabei kommt es darauf an, daß das Nein gegen die unersättlichen Ansprüche des selbstsüchtigen Ich in konkreter Absage an Stolz, Trägheit und Resignation Gestalt gewinnt, in Entscheidungen, die nicht nur das private, sondern auch das öffentliche Leben tangieren.“40 Kreck hebt in diesem Zusammenhang den antiresignativen Stimulus der Reich-Gottes-Erwartung hervor, und zwar unter Berufung auf Calvins Rede „De meditatione vitae futurae“:41 „Es ist ja keineswegs 37 38 39 40 41

W. KRECK, Grundfragen, 89. Vgl. Inst. (1559), II,7,12. W. KRECK, Grundfragen, 127. A.a.O., 130. A.a.O., 133. So die Überschrift des Kapitels Inst. (1559), III,9. – OS IV,170,33.

2. „Jesus Christus als das eine Gebot Gottes“

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so, daß die große Hoffnung – das, was Calvin die meditatio vitae futurae nennt – das gegenwärtige Handeln lähmt.“42 Das Trachten nach dem zukünftigen Leben ist bei Calvin Teil der Heiligungslehre,43 was bereits auf den entsprechend von Kreck betonten Zusammenhang von Eschatologie und Ethik verweist. Kreck preist den „Realismus biblischer Reich-Gottes-Erwartung“, in deren Licht deutlich wird, „daß Eschatologie und Ethik zusammenhängen. Wo die universale Zukunftserwartung erlahmt, da neigt die Ethik, speziell die Sozialethik dazu, das Bestehende zu rechtfertigen und zu verteidigen.“44 Eindringlich warnt Kreck vor „Harmonisierung, Eliminierung oder auch Ersetzung aller Eschatologie durch Ethik“.45 In Abgrenzung gegenüber dem „Religiösen Sozialismus“ und dem „Social Gospel“ betont Kreck – mit deutlich antitheokratischer Akzentuierung – „die eschatologische Grenze, die uns verbietet, unser Tun mit dem Bau Gottes zu verwechseln. Das mit guten Grund vermißte und geforderte soziale Engagement ist als solches nicht die Aufrichtung des Reiches Gottes, wenn es dies auch wohl bezeugen und zeichenhaft ankündigen kann und darum mit allem Ernst geboten ist.“46 Positiv gewendet, besagt die Ankündigungs- bzw. Zeugnisfunktion, die Christenmenschen in ethischer Hinsicht wahrnehmen: „Anstatt allen Fortschritt zu verdächtigen, weil er ja doch nicht das Paradies auf Erden schaffen kann, anstatt mit den Wölfen zu heulen, weil doch allem Anschein nach in dieser menschlichen Geschichte nie das vollkommen Gute sich durchsetzt, anstatt zu ermatten im Widerstand gegen Hunger und Krieg, wird der Christ sich für das relativ Gute und Bessere auf Erden einsetzen, weil er darin einen Hinweis auf das Kommende sieht, gleichsam das Frühlicht des anbrechenden Tages.“47

2.3 Lehre von der Königsherrschaft Christi Im Blick auf die Lehre von der Königsherrschaft Christi als „Versuch einer Begründung politischer Ethik im regnum Christi“48 beruft sich Kreck interessanterweise – anders als etwa Alfred de Quervain49 – 42 43

W. KRECK, Grundfragen, 149. Vgl. dazu G. PLASGER, Calvins lebensbejahende Eschatologie, in: M. FREUDENBERG / J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY (Hg.), Calvin und seine Wirkungen. Vorträge der siebten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 13, Neukirchen-Vluyn 2009, (81–96) 84–86. 44 W. KRECK, Grundfragen, 141. 45 W. KRECK, Die Zukunft des Gekommenen. Grundprobleme der Eschatologie, Berlin (Ost) 1968, 202. 46 W. KRECK, Grundfragen, 147. 47 A.a.O., 150f. 48 So a.a.O., 309. 49 Vgl. A. DE QUERVAIN, Die Heiligung. Ethik. Erster Teil, Zollikon-Zürich 1942, 52–63; DERS., Die Herrschaft Christi über seine Gemeinde und die Bezeugung dieser

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XII. Post Barth locutum

nicht auf Calvin,50 sondern sieht diese erst im 20. Jahrhundert von Karl Barth inauguriert. Kreck versteht sie als Barths Einspruch gegen eine auch bei den Reformatoren (einschließlich Calvin!) in der politischen Ethik reüssierende problematische Christusferne: „So ist z.B. die reformatorische Lehre von den zwei Reichen bei aller Unaufgebbarkeit ihrer Unterscheidung zwischen den beiden Regimenten insofern kritisch zu überprüfen, als die zwischen ihnen bestehende legitime Beziehung und deren christologische Begründung weder bei Luther noch bei Calvin – von Melanchthon ganz zu schweigen – hinreichend geklärt sind.“51

Im Blick auf das Verhältnis von Christengemeinde und Bürgergemeinde spricht Kreck von einer „Nähe wie von Ferne Barths gegenüber Calvin“:52 „Am schärfsten betont Calvin diese Herrschaft Christi über alle weltlichen Reiche in seinem Danielkommentar. Aber: ‚was hat Christus mit dieser Sache zu tun?‘ muß man doch gerade auch hier fragen. Herrscht hier nicht bei Calvin ein verdächtiges Halbdunkel, das sowohl eine falsche Vermischung wie auch eine verkehrte Trennung beider Reiche ermöglicht? Das hat zur Folge, daß Calvin unbekümmert um den geistlichen Charakter der Herrschaft Christi nun doch die weltliche Macht bei der Ahndung von Gotteslästerung

Herrschaft in der Gemeinde, EvTh 5 (1938), 45–57. Dazu: M. FREUDENBERG, Alfred de Quervain und sein Konzept einer reformierten Ethik – dargestellt anhand von Wuppertaler Vorträgen und Predigten 1935–1938, in: DERS., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie. Forschung und Wissenschaft 36, Berlin 2012, 211–226; DERS., Reformierte Theologie. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 2011, 385–400; W. GÖLLNER, Alfred de Quervain (1896–1968), in: W. LIENEMANN / F. MATHWIG (Hg.), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert. Der Beitrag theologischer Denker, Zürich 2005, 105– 131; DERS., Die politische Existenz der Gemeinde. Eine theologische Ethik des Politischen am Beispiel Alfred de Quervains, Beiträge zur theologischen Urteilsbildung 5, Frankfurt a.M. u.a. 1997, 200–203; H. SCHOLL, Alfred de Quervain. Ein reformierter Ethiker im Kirchenkampf, RKZ 129 (1988), 79–83; 112–116. 50 Zu Calvin und der Lehre von der Königsherrschaft Christi vgl. J. BECKER, Die Königsherrschaft Gottes bei Calvin und im frühen reformierten Protestantismus, in: I. DINGEL / CH. TIETZ (Hg.), Die politische Aufgabe von Religion. Perspektiven der drei monotheistischen Religionen, VIEG 87, Göttingen 2011, 277–297; J.F.G. GOETERS, Christi Königtum bei Johannes Calvin, RKZ 127 (1986), 109–116; J. STAEDTKE, Die Lehre von der Königsherrschaft Christi und den zwei Reichen bei Calvin, in: DERS., Reformation und Zeugnis der Kirche. GS, hg. von D. BLAUFUSS, ZBKG 9, Zürich 1978, 101–113. 51 W. KRECK, Grundfragen der Ekklesiologie, München 1981, 243. Zur Zwei-ReicheLehre vgl. auch W. KRECK, Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik? Kritik an dieser Unterscheidung Max Webers, in: H. KLOPPENBURG u.a. (Hg.), Martin Niemöller. Festschrift zum 90. Geburtstag, Köln 1982, 215–225. 52 W. KRECK, Johannes Calvin und Karl Barth, in: K. HALASKI / W. HERRENBRÜCK (Hg.), Kirche, Konfession, Ökumene. FS für Wilhelm Niesel, Neukirchen-Vluyn 1973, (77–84) 82.

3. Reich-Gottes-Ethik

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und auch kirchlicher Vergehen jedenfalls als Vollzugsorgane des consistoire kräftig mitfungieren läßt, wie es in Genf geschah. Und das läßt andererseits zu, daß vieles im weltlichen Bereich, was uns heute jedenfalls als mit dem Geist Christi schwer vereinbar erscheint, auch von Calvin (wie von den meisten seiner Zeit) als selbstverständlich bejaht wird, ob man nun an Strafprozeßordnung, Kriegsführung oder soziale Mißstände denkt. Wenn der große Calvin doch auch unheimliche Züge hat (ich denke hier etwa an die Ketzerprozesse), so ist das doch nicht nur aus der Zeitgebundenheit zu erklären, sondern weist auf eine mangelnde Klarheit in der Verhältnisbestimmung der beiden Gewalten hin. Wie man auch immer Barths Lösungsversuch hier im einzelnen beurteilen mag – daß er hier auf eine Schranke in der Theologie Calvins hinweist und zu einem neuen Durchdenken der Beziehung zwischen geistlichem und weltlichem Bereich mit Recht nötigt, ist unverkennbar.“53

3. Reich-Gottes-Ethik Die Rezeption der reformiert-reformatorischen Tradition in Jürgen Moltmanns „Ethik der Hoffnung“ 3.1 Ethik der Hoffnung als politische Reich-Gottes-Theologie Die ideologiekritische Funktion der Rede von der Königsherrschaft Christi ist insbesondere in der Ethik des Tübinger Theologen Jürgen Moltmann erkennbar. Nachdem Moltmanns „Ethikentwurf“ viele Jahrzehnte auf sich warten ließ, hat er in hohem Alter eine kleine „Ethik der Hoffnung“ vorgelegt, die in nuce zusammenfasst, was in einem großen Entwurf zu erwarten gewesen wäre.54 Moltmann ist sich der Begrenztheit dieses Alterswerkes, das vieles – etwa die Grundlegungs- und Methodendiskussion der Ethik in Theologie und Philosophie, die Wirtschaftsethik und eine Auseinandersetzung mit der katholischen Soziallehre – ausklammert, sehr bewusst. Gleichwohl veranschaulicht dieses an Moltmanns „Theologie der Hoffnung“55 (1964) anschließende Werk aufgrund seines summarischen Charakters die ethischen Perspektiven seines Denkens. Sie sind auch auf seine Rezeption reformierter Grundentscheidungen hin transparent.56 53 54

W. KRECK, Calvin, 83. Kreck fokussiert hier vor allem auf Inst. (1559), IV,20,2. Zu den Gründen dieser langen Verzögerung vgl. J. MOLTMANN, Ethik der Hoffnung, Gütersloh 2010, 13; DERS., Wie ich mich geändert habe, in: DERS. (Hg.), Wie ich mich geändert habe, KT 151, Gütersloh 1997, (22–30) 27; G. MÜLLER-FAHRENHOLZ, Phantasie für das Reich Gottes. Die Theologie Jürgen Moltmanns. Eine Einführung, Gütersloh 2000, 87–90. 55 J. MOLTMANN, Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 121985. 56 Vgl. M. HOFHEINZ, Reformierte Theologie als reformierende Theologie. Der Beitrag Jürgen Moltmanns zum christlich-jüdischen und interreligiösen Dialog, in: DERS. / M. ZEINDLER (Hg.), Reformierte Theologie weltweit. Zwölf Profile aus dem

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XII. Post Barth locutum

Angesichts des Umstandes, dass Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ eine Fortführung der Wort-Gottes-Theologie als Universaleschatologie darstellt, überrascht es nicht, dass seine „Ethik der Hoffnung“ beim Reich Gottes ansetzt und der Lehre von der Königsherrschaft Christi einen zentralen Stellenwert beimisst: „Reformierte Theologen haben zwar immer behauptet, daß ihre Theologie eine Funktion der ‚Christlichen Religion‘ (Calvin), des ‚Glaubens‘ (Schleiermacher) und der ‚Kirche‘ (Barth) sei. Aber das ist zu eng gesehen und reduziert den theologischen Horizont. In Wahrheit ist reformierende Theologie eine eigene Funktion des Reiches Gottes, von dem nach reformierter Auffassung die Kirche ein geschichtliches Vorzeichen und einen Anfang darstellt. […] Jede reformierte Kirchentheologie, jede christliche Glaubenstheologie und jede fruchtbare Befreiungstheologie ist darum in die Theologie des umfassenden Reiches Gottes einzubetten.“57

Die Reich-Gottes-Theologie bildet bei Moltmann den Rahmen seiner Ingebrauchnahme der Metapher von der Königsherrschaft Christi. In spezifischer Weise subordiniert er diese der Reich-Gottes-Lehre, insofern er nämlich das Reich Gottes, des Vaters, trinitätstheologisch als Ausgangs- und Zielpunkt der Königsherrschaft Christi bestimmt. Zentral ist für Moltmanns Rezeption der Lehre von der Königsherrschaft Christi die 1Kor 15,24–28 entnommene und von Moltmann subordinatianisch im Sinne eines messianischen Intermezzos verstandene Vorstellung, dass am Ende der Zeit alles dem Sohn untertan sein wird, so dass „er das Reich Gott, dem Vater übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat“

20. Jahrhundert, Zürich 2013, 293–324. M. BEINTKER (Reformierte Theologie im Wettstreit christlicher Theologien, in: E. CAMPI u.a. [Hg.], Johannes Calvin und die kulturelle Prägekraft des Protestantismus, Zürcher Hochschulforum 46, Zürich 2012, 223–242) würdigt J. Moltmanns Werk dahingehend, dass er die „zeitweise Weltgeltung“ (a.a.O., 237) und „exponierte Rolle“ (a.a.O., 238) reformierter Theologie im 20. Jahrhundert u.a. auf dasselbe zurückführt: „Jürgen Moltmann dürfte weltweit der meistgelesene evangelische Systematiker der letzten Generation sein. Einige seiner Bücher – vor allem die ‚Theologie der Hoffnung‘ (1964) und die ‚Ökologische Schöpfungslehre‘ (1985) – haben die Debatten in Theologie und Kirche regelrecht vorangetrieben. Moltmann schreibt einen Stil, der aus der strengen Theoriesprache der Dogmatik hinausführt und so eine breite Rezeption ermöglicht. Er besitzt ein ausgeprägtes Gespür für die akuten Herausforderungen in Kirche und Gesellschaft und sucht die lebensverändernden Energien des Glaubens in den Leidensgeschichten dieser Welt zur Sprache zu bringen. Sein Einfluss auf das allgemeine Problembewusstsein einer bestimmten kirchlichen Öffentlichkeit ist freilich wesentlich stärker als seine Wirkungen auf die forschungsbasierte Theoriebildung im Fach.“ 57 J. MOLTMANN, Theologia reformata et semper reformanda, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben, Themen, Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, (157–172) 169f.

3. Reich-Gottes-Ethik

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(1Kor 15,24).58 Diese Vorstellung „christologischer Eschatologie“ ist Moltmann zufolge zentral und bildet gleichsam den harten Kern calvinistischer Reich-Gottes-Theologie. 3.2 Historische Perspektivierung reformierter Reich-Gottes-Theologie Moltmann spricht explizit von „calvinistischer Reich-Gottes-Theologie“,59 wobei er sie mit dieser Bezeichnung nicht auf Calvin als Stifter oder Genf als Entstehungsort zurückführt.60 Vielmehr gebraucht Moltmann hier den Begriff „calvinistisch“ synonym mit dem Begriff „reformiert“ im Sinne jenes Kirchentyps, der sich aus der oberdeutschen und schweizerischen Stadtreformation entwickelte. Dort sieht er den Entstehungskontext der reformierten Reich-Gottes-Theologie in ihrer stets auch politischen Ausrichtung gegeben: „Die lutherische Reformation entstand in Fürstentümern, die reformierte Kirche entstand in den Stadtstaaten Zürich, Genf und Straßburg. Diese Städte hatten in den Magistratsverfassungen bereits gewisse demokratische Formen entwickelt. In ihnen war jeder Christ zugleich verantwortlicher Bürger seiner Stadt. Reformatorischer Glaube und politische Verantwortung waren enger verflochten als bei den Untertanen in den lutherischen Fürstentümern. Der Grundgedanke einer civitas Christiana verband Glaube und Politik in Christengemeinde und Bürgergemeinde. In politischen Verhandlungen fragte die Bürgerschaft nach dem Willen Gottes, und sowohl Zwingli in Zürich wie auch Calvin in Genf und Bucer in Straßburg kamen mit der Bibel ins Rathaus. Zwingli stellte in der Zürcher Disputation von 1523 die Politik der Stadt unter die ‚Richtschnur Christi‘: Die Obrigkeit hat Kraft und Befestigung aus der Lehr und Tat Christi. So sie aber außer der Schnur Christi fahren würde, möge sie mit Gott abgesetzt werden. Die Gottesherrschaft wurde im Gesetz des Mose und in seiner Auslegung durch Christus offenbar: Politia Moisi und Politia Christi. Diese Reformatoren sahen im biblisch bezeugten Gesetz Gottes keinen Gegensatz zum Evangelium, sondern eine ‚Form des Evangeliums‘ (Karl Barth) und verstanden das Evangelium als das Gesetz Christi. Gewiss haben auch sie wie Luther das geistliche und das weltliche Regiment unterschieden, aber Christen leben nach ihrer Auffassung nicht in zwei verschiedenen Welten zugleich, sondern in der einen, umfassenden Herrschaft Christi auf den verschiedenen Lebensbereichen. Sie haben den Staat nicht als eine nur irdische Ordnung angesehen, sondern immer seine Bedeutung und seine Aufgaben für das Reich Gottes formuliert. Das kann man ein theokratisches Staatsverständnis nennen. In den Stadtstaaten der 58

Zur Kritik an Moltmanns Interpretation von 1Kor 15,24–28 siehe G. PLASGER, Hope in Our Lord Jesus Christ?, in: A. VAN EGMOND / D. VAN KEULEN (Hg.), Christian Hope in Context. Bd. 1, Studies in Reformed Theology 4, Zoetermeer 2001, 255–259. 59 J. MOLTMANN, Ethik, 7; 37. 60 E. Busch sieht in der Attributierung reformierter Kirchen als „calvinistisch“ zu Recht eine theologisch problematische Fremdbezeichnung (E. BUSCH, Art. Reformierte Kirchen, 165; DERS., Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 12).

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XII. Post Barth locutum

Schweiz führte diese theologische Perspektive auf die Politik zu einem theokratischen Demokratieverständnis.“61

Diese historische Perspektivierung zeigt, dass Moltmann keineswegs die reformierte Tradition auf Calvin bzw. den Calvinismus reduzieren möchte. Dementsprechend lehnt er eine Zuordnung der Reich-GottesTheologie und der Lehre von der Königsherrschaft Christi als deren Interpretament unter dem Begriff „calvinistisch“ ab: „Die Lehre von der Herrschaft Christi, die jetzt schon alle Lebensbereiche durchdringt und darum den Christen überall und ungeteilt in die gehorsame Nachfolge ruft, wird gewöhnlich der reformierten Tradition zugeschrieben. Wird sie ‚calvinistisch‘ genannt, ist das meistens kritisch gemeint. Man weist dann warnend auf Calvins angeblichen Versuch hin, in Genf die Theokratie zu errichten, und auf seine fanatische Intoleranz gegen seine Gegner. Die staatliche Hinrichtung des Ketzers Servet in Genf soll die Unmöglichkeit und die Unheiligkeit solcher Theokratie beweisen. Oder man weist auf die gefährliche ‚Politisierung des französischen Protestantismus‘ ab 1560 hin. Während bis dahin die Hugenotten nur passiven Widerstand durch Leiden, Martyrium und Auswanderung geleistet hatten, gingen sie nach 1560 zum aktiven, politischen und militärischen Widerstand über. Der Anfang vom Ende war die schreckliche Bartholomäusnacht 1572. Das Ende war der Fall der Festung La Rochelle 1628. Nicht zuletzt wird auf die calvinistische Lehre vom Widerstandsrecht gegen Tyrannis (Confessio Scotica Art. 14) und auf die calvinistischen Wurzeln der modernen Demokratie und des neuzeitlichen Kapitalismus verwiesen.“62

3.3 J. Moltmanns Theokratieverständnis Entgegen dem gängig-herkömmlichen, nämlich negativ konnotierten Theokratieverständnis kann Moltmann – wie das letzte Zitat belegt – diesen Begriff positiv gebrauchen und in diesem Zusammenhang auch den Calvinismus in seiner „Theokratiebestrebung“ verteidigen: „Das Wort ‚Theokratie‘ wird heute für religiöse Diktaturen verwendet, die im Namen Gottes alles beherrschen wollen. Das ist falsch. Genau genommen sagt ‚Theokratie‘, dass allein Gott alle Macht und Gewalt gehört und diese darum den Menschen prinzipiell entzogen ist. Kein Mensch hat das Recht, über andere Menschen zu herrschen, denn Gott allein ist der Herr. Sollen Menschen über die Erde herrschen, müssen sie von Gott dazu beauftragt 61 62

J. MOLTMANN, Ethik, 37. Hervorhebung im Original. J. MOLTMANN, Politische Theologie – Politische Ethik, Fundamentaltheologische Studien 9, München / Mainz 1984, 137. Hervorhebungen im Original. Zum Widerstandsrecht und zur Theologie des Covenant vor allem bei den Monarchomachen vgl. DERS., Covenant oder Leviathan? Politische Theologie am Beginn der Neuzeit, in: DERS., Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öffentlichen Relevanz der Theologie, Gütersloh 1997, (31–49) bes. 32–37. Die sog. Weber-These hält Moltmann für ein „Phantasieprodukt“ (DERS., Theologia, 164).

3. Reich-Gottes-Ethik

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werden (Gen 1,26), denn ‚die Erde ist des Herrn, der Erdboden und was darauf wohnt‘ (Ps 24,1). So verstandene Theokratie lässt aus Gottesfurcht kein Gottesgnadentum der Herrscher zu. […] Gegen diese absoluten und totalen Staatsvergottungen hat die calvinistische Theokratie absoluten und totalen Widerstand gelehrt und die Alternative der Neuzeit begründet: die rechtsstaatliche Demokratie.“63

Der in dieser Weise verstandene, gleichsam semantisch umgeprägte Begriff „Theokratie“ steht für Moltmanns Programm einer Politischen Theologie,64 zu deren profiliertesten Vertretern Moltmann 63

J. MOLTMANN, Ethik, 42. Vgl. DERS., Theologia, 159: „Immer hat die reformierte Theologie die Gottheit Gottes theokratisch und universal verstanden.“ Ein ähnliches Theokratie-Verständnis vertritt Gottfried W. Locher, wenn er bemerkt: „Unter den Reformatoren ist es nicht Calvin, erst recht nicht Luther gewesen, sondern Zwingli, der die Theokratie erstrebt hat, d.h. nicht die Aufrichtung der Herrschaft der Kirche oder gar der Pfarrerschaft, wohl aber die Leitung auch der öffentlichen Dinge durch den Geist Gottes. Solange er lebte und noch lange nachher waren die theokratischen Elemente in Stadt und Landschaft Zürich wirksam; sie wurden durch seine Schüler und Freunde auch in andere Länder verpflanzt; […] Im Zeitalter des Zusammenlebens der Konfessionen, der Toleranz und des Unglaubens sind Zwinglis Weisungen an den Staat nicht mehr haltbar. Calvin hat weiter vorausgesehen: er begann die Kompetenzen von Staat und Kirche zu scheiden.“ (G.W. LOCHER, Huldrych Zwingli in neuer Sicht. Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation, Stuttgart 1969, 14f.) Fernerhin P. STEPHENS, Zwingli. Einführung in sein Denken, Zürich 1997, 178: „Zwinglis Staatsverständnis war in dem Sinne theokratisch, dass das ganze Leben der Gesellschaft unter der Herrschaft Gottes steht und dass Pfarrer und Obrigkeit versuchen sollen, dieser Herrschaft Geltung zu verschaffen. Für Zwingli bedeutete Theokratie nicht, dass der Staat oder die Obrigkeit der Kirche oder dem Pfarrer untertan sei oder umgekehrt Kirche und oder Pfarrer dem Staat oder der Obrigkeit. Für ihn gehörten darum Fragen der sozialen Gerechtigkeit nicht an den Rand der christlichen Verkündigung, sondern in ihr Zentrum.“ 64 Vgl. zur Entstehung des Programms einer „neuen Politischen Theologie“ und „politischen Hermeneutik“ auch: J. MOLTMANN, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christlicher Theologie, Gütersloh 1999, 109–113, sowie kritisch: H.G. ULRICH, Eschatologie und Ethik. Die theologische Theorie der Ethik in ihrer Beziehung auf die Rede von Gott seit Friedrich Schleiermacher, BEvTh 104, München 1988, 100–108. J. Moltmann bestimmt den Unterscheid zwischen alter und neuer „Politischer Theologie“ wie folgt: „Was unterscheidet die neue von der alten Politischen Theologie? Das Subjekt. Für Carl Schmitt war Politische Theologie auf die Souveränitätslehre beschränkt. Er sah als Subjekte der politischen Souveränität nur Staaten, Revolutions- und Konterrevolutionsbewegungen. Ziel seiner Politischen Theologie war die Einordnung der Religion in die Politik. Für die neue Politische Theologie aber ist das Subjekt die christliche Existenz und die Kirche in ihrer Unterschiedenheit von Gesellschaft und Staat. Ziel der neuen Politischen Theologie ist darum die Entzauberung der politischen und der bürgerlichen Religion und die Kritik der Staatsideologien, die Einheit auf Kosten der Freiheit schaffen sollen. Sie stellt sich damit in die politische Wirkungsgeschichte des Christentums: der Entsakralisierung des Staates, der Relativierung der politischen Ordnungen und der Demokratisierung der politischen Entscheidungen. Das Christentum hat die politische Gewalt rechtfertigungsbedürftig gemacht. Es läßt die ‚Unschuld der Macht‘, die Nietzsche anachronistisch beschwor, nicht zu.“ J. MOLTMANN, Covenant, 47f.

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weltweit gehört. Von daher erklärt sich Moltmanns Wertschätzung dieses der reformierten Tradition zugeordneten Begriffs, der das Programm einer eschatologisch auf das Reich Gottes ausgerichteten Politischen Theologie pointiert. Die Entstehung des Programms zu Beginn der Neuzeit schreibt Moltmann der reformierten Theologie zu. Der Leitgedanke Politischer Theologie im Sinne Moltmanns ist der der Antizipation, mit dem Moltmann nach seinem Selbstverständnis über Barth65 hinausgeht: „Die politische Ethik, die der politischen Theologie folgt, geht von Barth aus und geht über ihn hinaus. Barths politische Gleichnisse, Abbilder und Analogien in der Bürgergemeinde sind Antworten auf das schon vollendete Heilsgeschehen in Christus und das Vorbild der Christengemeinde. Geht man aber von der dargestellten eschatologischen Christologie aus und versteht man die Geschichte als Geschichte der Zukunft, dann haben jene politischen Gleichnisse und sozialen Analogien nicht nur einen rückwärts gewandten Antwortcharakter, sondern zugleich einen nach vorne ausgerichteten Antizipationscharakter. Indem die Gemeinde im politischen und sozialen Handeln Christi zu entsprechen versucht, nimmt sie zugleich das Reich Gottes vorweg. Diese Antizipationen sind noch nicht das Reich Gottes selbst. Sie sind aber reale Vermittlungen des Reiches Gottes in den begrenzten Möglichkeiten der Geschichte. Sie sind, um mit Paulus zu sprechen, Vorschuß und Vorgabe des Reiches Gottes mitten in der Geschichte.“66

Der Topos der Königsherrschaft Christi gelangt bei Moltmann in den Bann der Verheißung und wird von ihm eschatologisch perspektiviert, wobei Moltmann diesen Topos gerade durch diese theologische Lokalisierung von einem einfachen ontologischen bzw. „staatsmetaphysischen“ Verständnis abgrenzen möchte. Die Königsherrschaft 65

Moltmann würdigt Barths politische Ethik als „[d]ie überzeugendste Gestalt reformierter Reich-Gottes-Theologie der Gegenwart“ (J. MOLTMANN, Ethik, 38). Ähnlich DERS., Theologia, 168f. Freilich kritisiert Moltmann Barths eschatologisches „Enthüllungsprogramm“: „Karl Barths christologische Eschatologie ist eine präsentische Eschatologie, die der futurischen Eschatologie kaum etwas übrig lässt außer der universalen Enthüllung dessen, was von Gott her in Christus schon geschehen ist. Damit wird der Verheißungsüberschuss des Alten Testaments über das im Neuen Testament bezeugte Kommen Christi hinaus annulliert. Damit hat auch Israel keine andere Zukunft als die Konversion zu dem gekommenen Christus. Es stehen aber noch aus: die Auferweckung der Toten und die Neuschöpfung aller Dinge, die Zukunft Israels und die Aufrichtung des Reiches Gottes auf einer neuen Erde, auf der Gerechtigkeit wohnt. Christliches Leben ist in der Tat Nachfolge Christi, darin aber auch Antizipation des kommenden Reiches und der Neuschöpfung aller Dinge. Darum ist eine futurische Eschatologie für eine Ethik der Hoffnung unverzichtbar.“ (DERS., Ethik, 41) Zur Kritik dieser These Moltmanns vgl. B. KLAPPERT, Der messianische Mensch und die Verheißung der Befreiung. Karl Barths ökumenisches Testament, in: DERS., Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, 53–95. 66 J. MOLTMANN, Politische Theologie, 162.

4. „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“

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Christi muss sich – wie Moltmann hervorhebt – erst messianisch erfüllen: „Diese Welt ist kein Wartezimmer für das Reich Gottes. Diese Welt ist auch noch nicht das Reich Gottes selbst. Sie ist der Kampfplatz und der Bauplatz für das Reich, das von Gott selbst auf Erden kommt. Man kann schon jetzt durch neuen Gehorsam und schöpferische Nachfolge im Geist dieses Reiches leben.“67 Die Kirche hat den Spuren der Verheißung des kommenden Reiches Gottes als Exodusgemeinde, die aus den entwürdigenden Verhältnissen Ägyptens auszieht, zu folgen und „das Eschatologische im Ethischen“68 im Aufbruch zu entdecken. Moltmann visiert mit diesem Bild „eine messianisch orientierte Ethik“69 an, die Menschen zu Mitarbeitern am Reich Gottes machen möchte: „Die dem christlichen Hoffnungsglauben entsprechende Ethik ist daher die praktische Wissenschaft von der Zukunft.“70 Ethik ist – mit anderen Worten – für Moltmann als Lehre vom „messianischen Handeln“ zu verstehen, das sich heute vollzieht: „1. im Kampf um ökonomische Gerechtigkeit gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, 2. im Kampf um Menschenrechte und Freiheit gegen die politische Unterdrückung des Menschen durch Menschen, 3. im Kampf um menschliche Solidarität gegen die kulturelle, die realistische und die sexistische Entfremdung des Menschen vom Menschen, 4. im Kampf um den ökologischen Frieden mit der Natur gegen die industrielle Zerstörung der Natur durch den Menschen, 5. im Kampf um die Gewißheit gegen die Apathie im persönlichen Leben.“71

4. „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ Arthur Richs Rezeption der reformiert-reformatorischen Tradition in seiner „Wirtschaftsethik“ 4.1 A. Richs Ansatz und Orientierung Der Zürcher Ethiker Arthur Rich (1910–1992) hat einen zweibändigen Wirtschaftsethik-Entwurf vorgelegt. Bevor er in dessen zweiten Band (1990) mit dem Untertitel „Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischer Sicht“ die materialethischen Bestimmungen der Wirtschaft, etwa den Sinn der Wirtschaft, die Besonderheit der Industriewirtschaft, die Wirtschaftszwecke, die Maximenbildung am Beispiel der Systemfrage erörtert, entfaltet er im Band 1 67 68 69 70 71

Ebd. A.a.O., 163. A.a.O., 164. J. ROHLS, Geschichte der Ethik, Tübingen 21999, 689. J. MOLTMANN, Politische Theologie, 163f.

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XII. Post Barth locutum

(1984) die „Grundlagen in theologischer Perspektive“ – so der Untertitel. Hinsichtlich der theologischen Fundierung ist offenkundig, dass er vielfältige Anstöße verbindet, etwa aus dem religiösen Sozialismus, der dialektischen Theologie und der Existenztheologie. So bemerkt Christofer Frey in einer Rezension: „Arthur Rich hat den ersten Teil seiner Wirtschaftsethik vorgelegt, in dem seine Lebensarbeit zusammenfließt: seine Teilhabe am religiösen Sozialismus, sein Studium Pascals (hintergründig, aber dem Kundigen deutlich) und die Erfahrung mit der Industrie; in ihr begann er einst seinen beruflichen Weg.“72 Wie sehr Rich hingegen in seinem wirtschaftsethischen Denken von Zwingli beeinflusst ist,73 erweist sich als weitaus weniger bekannt und beachtet. Dem soll im Folgenden genauer nachgegangen werden. Es ist, um die These dieses Abschnittes gleich vorweg zu nehmen, Zwinglis Vermittlung „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“74 die Richs Ansatz prägt: „In der komplementären Zuordnung von ‚göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit‘ bei Zwingli erkannte Rich die fruchtbare Spannung, in der Christen zu vorwärts drängendem Handeln in Kirche und Welt veranlasst werden.“75 Bereits seine Zuordnung von Sozialwissenschaften und Ethik im Sinne des Sachgemäßen und Menschengerechten ist von der Zwinglischen Vermittlungsfigur bestimmt, denn das Sachgemäße, verstanden als der Bereich der allgemeingültigen Deskription in prinzipiell falsifizierbarer szientifischer Theorie, das nicht als Eigengesetzlichkeit misszuverstehen ist, tritt in der wirtschaftsethischen Ratio zum Menschengerechten hinzu, so wie die menschliche zur göttlichen Gerechtigkeit. Mit dem Menschengerechten ist der Bereich der Präskription gemeint, der letztlich auf individuelle, personbestimmte und sinngebende Erfahrungsgewissheiten zurückgeht. Rich spricht von der Humanität aus Glaube, Liebe und Hoffnung. Auch die durchgängige Beto72 CH. FREY, Buchbesprechung „Arthur Rich: Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive“, ZEE 29 (1985), (465–474) 465. Ähnlich auch D. DIETZFELBINGER, Evangelische Sozialethik, in: M.S. ASSLÄNDER (Hg.), Handbuch Wirtschaftsethik, Stuttgart / Weimar 2011, (91–100) 96. 73 Zu Richs Rezeption der politischen Ethik Huldrych Zwinglis vgl. S. EDEL, Wirtschaftsethik im Dialog. Der Beitrag Arthur Richs zur Verständigung zwischen Theologie und Ökonomik, AzTh 88, Stuttgart 1998, 175–181; W. WOLF, Für eine sozial verantwortbare Marktwirtschaft. Der Wirtschaftsethiker Arthur Rich, Zürich 2009, 91–93. 74 ZWINGLI, Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, in: Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke (= Z), hg. von E. EGLI u.a., Bd. II (= CR 89), Leipzig 1908, 458–525. Im Folgenden zit. nach: Huldrych Zwingli Schriften I, hg. v. TH. BRUNNSCHWEILER / S. LUTZ, Zürich 1995, 155–213 (Übersetzung E. SAXER). 75 TH. STROHM, Arthur Richs Bedeutung für die Wirtschafts- und Sozialethik. Aus Anlaß des 80. Geburtstags von Arthur Rich, ZEE 34 (1990), (192–197) 193.

4. „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“

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nung der eschatologischen Dimension, die für Richs existentialeschatologischen Ansatz charakteristisch ist, kennzeichnet ebenfalls die Zwinglische Verhältnisbestimmung. Ohne sie können die Kriterien des Menschengerechten nicht in den Blick gelangen. Sie folgen aus Grunderfahrungen, d.h. der Humanität aus Glaube, Hoffnung und Liebe, welche Rich im Christusereignis als existenzbegründender Kraft verwurzelt sieht und für rational kommunikabel erachtet. Das Bemühen um relative Gerechtigkeit in den Ordnungen menschlichen Lebens bleibt auch nach Zwingli ohne die Verheißung des Reiches Gottes orientierungslos. Für Rich gilt: „Das ‚Spezifische‘ der christlichen Sozialethik liegt in der Dialektik von Reich-Gottes-Erwartung und Tun des Gerechten. ‚Sozialethik‘ ist in diesem Sinne programmatisch als Ethik der sozialen Gestaltung gemeint; Wirtschafsethik wird entsprechend ‚als Sozialethik‘ verstanden.“76 4.2 Zwinglis Dialektik von „göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ nach A. Rich Nicht zufällig taucht Zwinglis Name, genauer: seine Verhältnisbestimmung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, an neuralgischen Punkten des Richschen Entwurfs auf. Bereits zu Beginn seiner „Wirtschaftsethik“ rückt Rich das für diese konstitutive Spannungsfeld von Relativem und Absolutem in den Zusammenhang von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit: „Es geht bei der ethischen Grundfrage nicht nur um die Kritik des Relativen vor dem Anspruch des Absoluten, es geht auch darum, gerade im wahren Umgang mit dem Absoluten das Recht des Relativen festzuhalten, ohne die Differenz zwischen ihm und dem Absoluten zu bagatellisieren oder gar zu verschweigen. […] Es ist das Verdienst Zwinglis, diese Problematik klar gesehen und theologisch sauber reflektiert zu haben. […] Die ethische Grundfrage ist infolgedessen eine zwei-, nicht bloß eindimensionale Frage. Anders gesagt: Sie ist immer, wo sie konkret wird, eine Frage, auf die es keine in dem Sinne eindeutige, glatte und die Konflikte harmonisierende Antwort gibt, daß man in ihr zur Ruhe kommen könnte.“77

Am Ende des ersten Bandes, wo Rich die „Maximenbildung“ beschreibt, beruft er sich ebenfalls wieder auf Zwingli: „Theologiegeschichtlich basiert dieses Verständnis von der Relativität der Maximen auf der politischen Ethik Huldrych Zwinglis. Beim Schweizer Reformator begegnet das Verhältnis von Absolutem und Relativem in der Dia76

H.G. ULRICH, Wege und Perspektiven ethischer Diskussion, VuF 34 (1989), (22– 52) 36. 77 A. RICH, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Gütersloh 3 1987, 18.

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XII. Post Barth locutum

lektik von ‚göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit‘. Die göttliche Gerechtigkeit ist absolute, die menschliche relative Gerechtigkeit. Die göttliche Gerechtigkeit fällt für Zwingli zusammen mit der Liebe. Sie ist in der Absolutheit ihrer Forderung unerfüllbar, unerzwingbar, während die menschliche Gerechtigkeit, objektiviert vorab im gesellschaftlichen Recht, erfüllbar und erzwingbar sein muß. Nur die göttliche Gerechtigkeit kann danach als eigentliche Gerechtigkeit gelten. Im Vergleich zu ihr ist die menschliche Gerechtigkeit selbst in ihren besten Rechts- und Verhaltensnormen unzulänglich, ‚nit wirdig‘ … ‚das man sy grechtigkeit nenne‘. Trotzdem hat Gott auch sie geboten als verbindliche Leitregel in seiner Welt, die sich nicht an die Richtschnur der Liebe hält, sondern immer noch – in unserer Terminologie gesprochen – vom personal und strukturell Bösen geprägt ist. Denn ohne diese armselige menschliche Gerechtigkeit hätte der Mensch überhaupt keine Gerechtigkeit, wäre die Gesellschaft dem Faustrecht verfallen. Sie ist also in ihrer Relativität eine Art Funktionsersatz für die entgangene göttliche Gerechtigkeit, sofern sie wenigstens den Menschen in seiner gesellschaftlichen Existenz vor willkürlichen Übergriffen, Machinationen der Mächtigen und Ausbeutungspraktiken der Reichen zu schützen weiß. Funktional steht derart die menschliche Gerechtigkeit als Handhabe der Humanisierung der gesellschaftlichen Daseinsverhältnisse in Übereinstimmung zu dem, was auch die göttliche Gerechtigkeit will, obwohl sie essentiell deren Höhe nie erreichen wird und mithin der absolute Abstand bleibt.“78

Rich sieht sehr genau, dass Zwingli göttliche und menschliche Gerechtigkeit in ein dynamisch-dialektisches Verhältnis zueinander setzt und sie nicht einfach auseinanderreißt, worin bekanntermaßen die Gefahr lutherischer Zweireiche-Lehre bestand. Zwingli sieht, wie Rich erkennt, die beiden Gerechtigkeiten in einem produktiv-spannungsvollen Verhältnis zueinander stehen, das gegen eine zweifache Gefahr gefeit ist, nämlich einerseits beide so auseinanderzuweisen, dass göttliche nichts mehr mit menschlicher Gerechtigkeit zu tun hat, wodurch die menschliche Gerechtigkeit wiederum in den Bann der Eigengesetzlichkeit gerät; zugleich richtet sich Zwingli entschieden gegen eine simple Identifikation beider, was insbesondere der historische Kontext bzw. der Sitz im Leben dieser Schrift Zwinglis erhellt. Mit ihr trat Zwingli nämlich den in Zürich kursierenden Gerüchten entgegen, er propagiere Aufruhr und votiere für Anarchie, indem er die göttliche Gerechtigkeit auf Erden herstellen wolle. Das sozialethische Potential erwächst, wie Rich hervorhebt, aus der durch diese Verhältnisbestimmung freigesetzten Orientierungs- und Motivationskraft der göttlichen für die menschliche Gerechtigkeit, die nach Zwingli die Obrigkeit dazu antreibt, „der göttlichen Gerechtigkeit so nahe zu kommen, wie es ihr möglich ist“:79

78 79

A.a.O., 229f. Hervorhebungen im Original. ZWINGLI, Gerechtigkeit, 208.

4. „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“

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„Mit dem allen will nun aber Zwingli den bestehenden Rechtsverhältnissen keineswegs so etwas wie einen sakrosankten Nimbus verleihen. Gerade weil alle bloß menschliche Gerechtigkeit eine nur relative ist, muß sie kritisch in Bewegung bleiben, d.h. auf eine Gestalt hin tendieren, die dem göttlichen Gerechtigkeitsgebot möglichst ‚glychförmig‘ ist. Anders gesagt: Geltende Ordnungen, die in ihren Auswirkungen gegen das Menschengerechte verstoßen, das sich an der absoluten Forderung der Liebe orientiert, sind derart zu verändern, daß sie unter den gegebenen Bedingungen dem Anspruch der göttlichen Gerechtigkeit so weit wie möglich entsprechen. Und dies entbindet ein gesellschaftsreformerisches Potential, das konkrete Folgen haben mußte. So hat Zwingli in Zürich Maximen zur Geltung gebracht, die auf eine Beseitigung der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Bauern von den Grundherren hinzielten. Die Erbzinsen, die eine dauernde Abhängigkeit des Grundpfandschuldners vom Geldgeber bewirkten, wurden ablösbar gemacht und für die Übergangszeit, d.h. bis zum Abschluß des bäuerlichen Entschuldungsprozesses der Zinssatz auf 5% limitiert. Das alles war noch immer nur menschliche, doch im Vergleich zum status quo ante besser menschliche Gerechtigkeit, was übrigens zu einer wesentlichen Entschärfung der Spannungen geführt hatte, die während der Bauernwirren in der Reformationszeit auch auf zürcherischem Boden bestanden.“80

Auch in seiner Barth-Kritik81 beruft sich Rich auf Zwinglis Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit –, und zwar sowohl in seiner Kritik am frühen Barth mit seinem transzendental-eschatologischen Ansatz,82 dessen Diastase die Zusammenge80 81

A. RICH, Wirtschaftsethik, 230f. Zu Richs Barth-Kritik siehe B. KLAPPERT, Reich Gottes und ökonomische Gerechtigkeit. Arthur Rich und Karl Barth, in: DERS., Versöhnung und Befreiung. Versuche, Karl Barth kontextuell zu verstehen, NBST 14, Neukirchen-Vluyn 1994, 305– 321; S. EDEL, Wirtschaftsethik, 186–193. 82 Vgl. A. RICH, Wirtschaftsethik, 140f.: „[D]er transzendental-eschatologische Ansatz, wie er, vorbereitet durch Hermann Kutter, beim frühen Barth in nicht bloß theologiegeschichtlich wirksam gewordener Weise begegnet, ist strukturell bestimmt durch die qualitative Differenz zwischen Ewigkeit und Zeit, Absolutem und Relativem, Gottesgeschichte und Menschengeschichte, und zwar in einer Art, die letztlich das zeitliche, relative, menschheitsgeschichtliche – trotz einiger dämpfender Haltezeichen – der Nichtigkeit verfallen läßt. Es ist hier im Grunde nur ein absolutkritisches Verhältnis zur vorhandenen Welt mit ihren Prozessen und Institutionen zu gewinnen. Man darf sich dabei nicht verhehlen, daß dieser Position absoluter Kritik des Relativen vom Absoluten, des Vorletzten vom Letzen her nicht nur polemisch eine große Kraft, sondern theologisch auch ein tiefes Recht zukommt. Es ist, auf eine kurze Formel gebracht, das Wissen darum, daß menschliche Gerechtigkeit nie göttliche Gerechtigkeit sein kann, daß sie auch im besten Fall, um jetzt mit Zwingli zu reden, ein ‚presten‘ sein wird, also eine gebrechlich-zerbrechliche Sache. Von dieser Einsicht aus wußte Barth in den frühen 20er Jahren – und das hat der damalige Religiöse Sozialismus, von den kulturprotestantischen Vorläufern und Nachzüglern ganz zu schweigen, so nicht erkannt –, eindringlich zu Gehör zu bringen, daß nicht allein Kapitalismus, Militarismus, Liberalismus und bürgerliche Kultur im Argen liegen, daß auch Sozialismus, Pazifismus, Demokratie und proletarischer Lebensstil ‚von Gott her‘ mit einem großen Fragezeichen zu versehen sind. Aber die Gefahr, und

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hörigkeit von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit verkenne, als auch in seiner Kritik am späten Barth, an den er den ChristokratieVorwurf adressiert, da Barth die kritische Distanz zwischen Staat und Christusherrschaft vermissen lasse. Rich wirft Barth, aber auch der Ordnungstheologie Emil Brunners sowie der Reich-Gottes-Theologie Moltmanns vor, „direkt vom Absoluten her relative, weil geschichtliche Ordnungen zu begründen und daraus unmittelbare Maßstäbe für die Weltgestaltung zu gewinnen, heiße nun das Absolute ‚Schöpfungsordnungen‘, ‚Christusherrschaft‘, ‚Reich Gottes‘ oder sonstwie“.83 Es ist interessant zu sehen, dass sich Rich in Abgrenzung zu Barth auf dessen Schüler Ernst Wolf und Walter Kreck als Zeugen für einen „dritten Weg“ berufen kann. Bei Wolf sieht er – anders als bei Barth – den Staat in seiner Säkularität theologisch ernstgenommen84 und bei Kreck die kriteriologische Funktion der Humanität theologisch wiedergewonnen: „Wir treffen uns hier mit Walter Kreck, der, von Barth ausgehend, in ähnlicher Weise geltend macht, ‚die christliche Gemeinde‘ habe ‚den Begriff der Humanität … auch ihrerseits aufzugreifen und als sozialethischen Richtpunkt in Anspruch zu nehmen‘, aber so, daß sie ‚in dem Menschen Jesus Christus die Kriterien für echtes Menschsein zu gewinnen sucht‘. Auch darin besteht Übereinstimmung, daß der Anspruch des Absoluten zwar nicht direkt in den gesellschaftlichen Ordnungen als dem Bereich des Relativen zur Geltung gebracht werden kann, daß er dort aber gleichwohl als Kraft zu relativen Veränderungen wirksam zu werden hat: ‚Der christlichen Gemeinde kann nicht gleichgültig sein, wie die Ordnung der Ehe, der ökonomischen Verhältnisse, des Staates geschieht, ob hier ein Raum erstellt wird, in dem ein menschliches Miteinanderleben gefördert oder gehemmt wird. Sie kann, wenn sie an die geschehene Versöhnung und die kommende Erlösung glaubt, solche Ordnungen nicht als statische Größen ansehen, die schicksalhaft gegeben sind, sondern sie hat zu fragen, wie ihre Humanität dienende Funktion unter den jeweiligen geschichtlichen Verhältnissen am relativ besten erfüllt wird.‘“85

Ob Richs Kritik an Barths christologischem Ansatz der Ethik zutrifft, wird man hinterfragen müssen. Rich übersieht etwa – wie Bertold Klappert eingewandt hat –, dass

zwar die unheimliche Gefahr, die sich mit einer derart absolut gestimmten Kritik verbindet, besteht nun darin, auf dem Feld des Relativen, mithin in den sozialen und politischen Entscheidungen der Zeit alle möglichen Optionen letztlich als gleichgültig zu bewerten, wobei man dann leichtlich den schlechteren verfallen kann.“ So auch a.a.O., 163. 83 A.a.O., 164. 84 Vgl. a.a.O., 165. 85 A.a.O., 167. Rich zitiert W. KRECK, Grundfragen, 212. Hervorhebung im Original.

4. „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“

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„auch Barth bei dieser Position [einer christologischen Begründung des Staates in ‚Rechtfertigung und Recht‘ (1938); M.H.] eben nicht stehengeblieben ist, vielmehr schon in ‚Christengemeinde und Bürgergemeinde‘ (1946) die christologische Begründung des Staates nicht wiederholt hat, eine Position, die dann in E. Wolfs Sozialethik aufgenommen und weitergeführt worden ist. Gleichnisfähigkeit bedeutet 1946 bei Barth in keinem Sinn eine theologische Überhöhung des Relativen, sondern – entsprechend der Formulierung in Barmen V – die Aufgabe, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens für menschliches Recht zu sorgen. [...] Die Ausführungen Barths […] bestimmen die Gleichnisfähigkeit und Gleichnisbedürftigkeit gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung nicht deduktiv, sondern als gegenüber der politischen und gesellschaftlichen Vernunft explizierbare und vermittelbare, menschliche und also nur indirekte Entsprechungen zu der Gerechtigkeit der kommenden Herrschaft Gottes – in Differenz und Analogie, entsprechend den Richschen Kriterien des Menschengerechten, der kritischen Distanz und relativen Rezeption. Wie überhaupt die von Barth in ‚Christengemeinde und Bürgergemeinde‘ entwickelten Richtungen und Linien des – der Gerechtigkeit des Reiches Gottes entsprechenden – menschlichen Rechts eine große inhaltliche Nähe zu den Kriterien des Menschengerechten bei Rich aufweisen.“86

4.3 Die Prägekraft der Zwinglischen Dialektik von „göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ für den Gang von A. Richs wirtschaftsethischer Untersuchung Wie stark Richs Entwurf durch Zwinglis Verhältnisbestimmung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit geprägt ist, kann man sich auch verdeutlichen, wenn man Richs materiale Entfaltung seines Entwurfs anschaut. Er präsentiert im Kern einen methodologischen Dreischritt sozialethischer Argumentation, der sich auf drei Ebenen abspielt: a) Der Ebene der fundamentalen Erfahrungsgewissheit vom Humanen, die Rich als Grunderfahrung der Humanität aus Glaube, Liebe, Hoffnung bestimmt; b) der Ebene von prinzipiellen Kriterien, „die, obwohl am Absoluten oder Unbedingten der Erfahrungsgewißheit orientiert, das Menschengerechte derart artikulieren sollen, daß es auch ohne die Fundamentalprämisse verstanden, diskutiert und zur Anwendung gebracht werden kann“.87 (Als Kriterien für das „Menschengerechte“ benennt Rich: 1. Geschöpflichkeit, 2. Kritische Distanz, 3. Relative Rezeption, 4. Relationalität, 5. Mitmenschlichkeit, 6. 86

B. KLAPPERT, Reich Gottes, 311f. Hervorhebungen im Original. So auch a.a.O., 320. Auch Frey hat Richs Kritik am „späten Barth“ zurückgewiesen: „Barths trinitarischer Ansatz [durchbricht] die ontologischen Strukturmuster und erlaubt sicherlich keine christokratische Staatsmetaphysik, sondern fordert zu einem Diskurs heraus, um ideologische Überhöhungen zu kritisieren und das Menschengerechte nüchtern zu bestimmen.“ CH. FREY, Buchbesprechung, 468. 87 A. RICH, Wirtschaftsethik, 170.

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Mitgeschöpflichkeit, 7. Partizipation.); c) Der Ebene der Maximenbildung, bestehend aus: 1. Problemaufweis, 2. Sichtung bestehender oder postulierter Gestaltungskonzepte, 3. normenkritischen Klärungen, 4. Bestimmung von Richtpunkten, 5. kritischer Prüfung. Auf allen drei Ebenen ist die Zwinglische Verhältnisbestimmung angesiedelt, ja erweist sie sich als tragend. Auf der ersten Ebene der fundamentalen Erfahrungsgewissheit, die Rich als Humanität aus der paulinischen Trias Glaube, Hoffnung und Liebe bezeichnet, ist es die Liebe als „kritisches Vermögen der Vernunft“,88 die die Gerechtigkeit der Ordnungen prüft.89 Entsprechend bestimmt Zwingli in seiner Schrift „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“ die Nächstenliebe als Kern der menschlichen Gerechtigkeit bzw. als „Gesetz der Natur“: „Aus dem Sachverhalt, daß wir das einzige Gebot ‚Du sollst deinen Nächsten so liebhaben wie dich selbst‘ nicht halten, entspringen alle anderen Gebote, die den Nächsten betreffen; denn dies ist das Gebot der Natur, wobei allerdings Christus es mit der Liebe durchsüßt hat, was ihm auch angemessen ist; denn: ‚Er ist Liebe‘ (1. Joh 4,10). Das Gesetz der Natur lautet: Was du willst, daß dir geschehe, das tue auch einem anderen; und andererseits: Was du nicht willst, daß dir geschehen soll, tue auch niemandem. Dieses Gesetz macht Christus mit der Liebe süß. Denn wenn wir Gott liebhaben, so ist Gott in uns. Ist Gott in uns, so ist auch die Liebe zum Nächsten in uns; denn Gott hat uns so liebgehabt, daß er sich für uns dahingegeben hat. Wo nun Gott ist, ist auch eine entsprechende Bereitschaft. Darum zeichnet Christus das Gesetz der Natur mit den Worten aus: ‚Du sollst den Nächsten so liebhaben wie dich selbst.‘“90

Auf der zweiten Ebene sind die Kriterien des Menschengerechten angesiedelt, die rational kommunikabel sind und „sich als humane Kriterien schlechthin zu legitimieren“91 haben, freilich aus christlicher Perspektive als „menschliche Gerechtigkeit“ nicht isoliert von der „göttlichen Gerechtigkeit“ betrachtet werden wollen, da sie gerade „in ihrer Glaubensevidenz zugleich Relevanz auch für den allge88 89

A.a.O., 168. Von Zwingli her lässt sich indes kritisieren, dass Rich sofort, d.h. bereits auf der ersten Ebene dialogisch bzw. „vermittlungstheologisch“ mit der „menschlichen Gerechtigkeit“ einsetzt, ohne dass zuvor die „göttliche Gerechtigkeit“ in ihrer eigenen Valenz expliziert wurde. Siehe dazu näherhin: M. HOFHEINZ, Ethik der Erinnerung oder: „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“. Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis auf Arthur Richs „Wirtschaftsethik“, in: TH.K. KUHN / H. STRICKER (Hg.), Erinnert. Verdrängt. Verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 16, Neukirchen-Vluyn 2016, 113–130. 90 ZWINGLI, Gerechtigkeit, 180f. 91 A. RICH, Wirtschaftsethik, 172.

5. Fazit: Reformierte Ethik – post Barth locutum

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meinmenschlichen Erfahrungshorizont zu erlangen“92 beanspruchen. Auf der dritten Ebene wird die Maximenwahl (für Konzepte politischer Gestaltung) durch die Kriterien der zweiten Ebene gesteuert. Hier macht sich die relative, menschliche Gerechtigkeit geltend, wie Rich wiederum unter Zwinglischem Einfluss akzentuiert, keineswegs jedoch unmittelbar und direkt die Verheißung des Reiches Gottes bzw. die göttliche Gerechtigkeit. Im Sinne dieser sozialethischen Referenz auf das Relative bzw. die „menschliche Gerechtigkeit“ plädiert Rich für eine regulierte Form der Marktwirtschaft, und zwar im Sinne einer humanen, sozialen und ökologischen Regulierung. Es sind die leider bei Rich nicht weiter priorisierten oder hierarchisierten Kriterien des Menschengerechten,93 die entgegen einem Neo-, nicht aber Ordoliberalismus, d.h. entgegen der ordnungspolitischen Option einer „totalen Marktwirtschaft“,94 zu berücksichtigen sind. Das von Rich in Auseinandersetzung mit John Rawls entwickelte Gerechtigkeitsprinzip besagt: „Unterschiede in der Lebenslage der Produzenten (der selbständigen und der abhängigen) sollen in der Höhe bestehen, die unter den jeweiligen geschichtlichen Bedingungen erforderlich ist und hinreicht, um die Produzenten zu den wünschenswerten Leistungen zu veranlassen.“95 Die Unterschiede sollen so gering wie möglich ausfallen, zumal sich auch nach Richs Überzeugung „die Stärke des Volkes […] am Wohl der Schwachen“ bemisst, wie er mit der Präambel der Schweizer Bundesverfassung festhalten kann. Mit dem treffenden Titel seiner Biographie gesprochen, plädiert Rich für eine human reformierte und ökologisch regulierte „sozial verantwortbare Marktwirtschaft“. 5. Fazit: Reformierte Ethik – post Barth locutum Ertragssichernd sei festgehalten, dass die drei ausgewählten und in ihren ethischen Entwürfen näher betrachteten Theologen verschiedene ethische Grundentscheidungen verschiedener reformierter Reformatoren aufgerufen haben: Kreck hat vor allem unter Bezugnahme auf Johannes Calvin den Zusammenhang von Indikativ und Impera92 93

Ebd. So auch kritisch T. JÄHNICHEN, Wirtschaftsethik. Konstellationen – Verantwortungsebenen – Handlungsfelder, Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder 3, Stuttgart 2008, 95. 94 Peter Ulrich unterscheidet zwischen zivilisierter und totaler Marktwirtschaft (P. ULRICH, Zivilisierte Marktwirtschaft. Eine wirtschaftsethische Orientierung, Bern u.a. 2010, 155). Vgl. auch R. WETH (Hg.), Totaler Markt und Menschenwürde. Herausforderungen und Aufgaben christlicher Anthropologie heute, Neukirchen-Vluyn 1996. 95 A. RICH, Wirtschaftsethik, 219. Im Original kursiv.

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XII. Post Barth locutum

tiv, Rechtfertigung und Heiligung sowie die Königsherrschaft Christi (diese freilich in Abgrenzung von Calvin!) stark gemacht. Die Berufung auf seinen Lehrer Karl Barth fällt bei Kreck so stark aus, dass sein ethischer Entwurf bisweilen etwas epigonenhaft wirkt. Demgegenüber zeichnen sich Moltmann und Rich durch größere Selbständigkeit und – wenn man so will – Originalität aus, einhergehend mit einer ungleich stärkeren Abgrenzung gegenüber Barth. Moltmann zeichnet seine traditionsgeschichtlichen Überlegungen zum reformierten Protestantismus in seine Reich-Gottes-Theologie ein. Er beruft sich weniger stark auf einen singulären Reformator als seinen theologisch-ethischen Gewährsmann als dies bei Kreck und Rich der Fall ist. Als besonders stark ausgeprägt erweist sich indes die Bezugnahme auf einen herausgestellten Reformator bei Rich, der Zwinglis Unterscheidung zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit als wegweisend hervorhebt und sie dezidiert von der „revolutionäre[n] Errichtung der Theokratie oder dann de[m] unrevolutionären Auszug aus der Gesellschaft“96 abhebt. Eine Gemeinsamkeit zeigt sich allen drei Ethikern in der Bezugnahme auf die Metapher der Königsherrschaft Christi. Diese fällt bei Kreck und Moltmann weniger kritisch aus als bei Rich.97 Bei letzterem tritt der Gebrauch dieser politischen Metapher sehr stark zurück, und zwar zugunsten der ungleich pejorativeren Rede von der „Christokratie“.98 Aber auch bei Kreck und Moltmann findet der affirmative Rekurs auf die Metapher von der Königsherrschaft Christi auf eine Weise statt, dass man daraus mitnichten den von Friedrich Wilhelm Graf erhobenen Theokratie-Vorwurf ableiten, d.h. bestätigt finden kann. Selbst Moltmann, der den Theokratie-Begriff anders als Kreck und Rich positiv konnotiert, grenzt ihn entschieden vom gängigen, 96 97

A. RICH, Zwingli als sozialpolitischer Denker, Zwingliana 13 (1969), (67–89) 82. Vgl. T. JÄHNICHEN, Wirtschaftsethik, 118: „Rich hat diese Auseinandersetzung mit den sozialethischen Modellen der Nachkriegszeit intensiv im ersten Band seiner Wirtschaftsethik geführt und sowohl die Ordnungsethik wie auch das Modell der ‚Königsherrschaft Christi‘ kritisch hinterfragt, da beide Modelle in der Gefahr stehen, theologische Wirklichkeitsdeutungen und gesellschaftspolitische Fragen unzulässig miteinander zu verbinden. Es besteht nach Rich die Gefahr, dass das ‚Absolute in gesellschaftspolitische Prozesse hineinprojiziert‘ (A. Rich, Wirtschaftsethik I, S. 164) und der Wille Gottes kurzschlüssig mit bestehenden Ordnungen der Gesellschaft oder mit gesellschaftlichen Veränderungspotentialen identifiziert wird.“ Ähnlich J. FISCHER, Humanität aus Glaube, Hoffnung, Liebe. Überlegungen zur Konzeption einer evangelischen Sozialethik im Anschluss an Arthur Rich, ThZ 56 (2000), (149–164) 150. 98 Vgl. H. SCHOLL, Buchbesprechung „Arthur Rich, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive“, Theologische Beiträge 17 (1986), (272–275) 274: „Der terminus technicus ‚Christusherrschaft‘ fällt auch bei Rich, wird aber theoretisch und nach seiner Genese nicht erörtert und auch nicht hinterfragt. Das ist schade, weil damit auch der Name von Alfred de Quervain in diesem Buch fehlen kann.“

5. Fazit: Reformierte Ethik – post Barth locutum

399

abwertend gebrauchten Theokratie-Begriff ab und stellt damit klar, dass es ihm nicht um eine theokratische bzw. christokratische Sakralgestaltung des Gemeinwesens im Sinne einer Staatsmetaphysik geht: „Aus seiner [Christi; M.H.] Herrschaft lassen sich wohl Direktiven für die politische Nachfolge der Christen im politischen Leben ableiten, aber keine Staatsmetaphysik, die für Christen und Nichtchristen gleichermaßen gilt. Christokratische Ethik kann nur Nachfolgeethik sein. Sie ist Ethik für Christen, aber keine christliche Ethik für den Staat. Sie ist politische Ethik der Christengemeinde, aber keine christliche Politik der Bürgergemeinde.“99

Mithin lässt sich festhalten: Alle drei Ethiker knüpfen in Zustimmung (wie bei Kreck und Moltmann) und vorsichtiger Abgrenzung bzw. Korrektur (wie bei Rich) bei der „Königsherrschaft Christi“ als einem Grundmodell politischer Ethik an: „Mit der Metapher von der Königsherrschaft Christi ist die Beziehung zwischen Theologie und Politik in der Weise bestimmt, dass Jesu Christi Anspruch auf Universalität geltend gemacht wird. Leitend ist eine christologische Konzentration, in der Räume evangelischer Freiheit erschlossen werden, die sich dem neuschaffenden Handeln Gottes in Jesus Christus verdanken.“100 Die Rede von der Königsherrschaft Christi hat ihrerseits eine ideologiekritische Funktion:101 „[M]it der Betonung der Christusherrschaft geht eine prinzipielle Bestreitung der Anschauung einher, die den christlichen Glauben und eine von ihm geprägte Moralität auf den Bereich des Privaten einschränkt, demgegenüber aber die politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Lebensbereiche von Eigengesetzlichkeiten bestimmt sein läßt.“102 Hat die Rede von der „Königsherrschaft Christi“ ursprünglich ihren Sitz im Leben einer an den Rand der Gesellschaft gedrängten Bekennenden Kirche, so versuchen Kreck, Moltmann und Rich unter verän99 100

J. MOLTMANN, Politische Theologie, 151. M. FREUDENBERG, Alfred de Quervain, 225. Ähnlich CH. FREY u.a., Repetitorium Ethik für Studierende der Theologie, Waltrop 21996, 232: „Die Rede von der Königsherrschaft Christi (urspr. bei de Quervain, dann in Spuren bei Barth), die sich anlehnt an neutestamentliche Bekenntnisse zu Christus als dem kyrios stellt zunächst die durch die Innerlichkeit lange vernachlässigte Beziehung zwischen Theologie und Politik und die christliche Mitverantwortung heraus, sodann widerspricht sie jeglicher Verherrlichung des Staates oder Volkes sowie jedem christlichen Programm – wie Barmen II herausstellt.“ Hervorhebung im Original. 101 Vgl. M. FREUDENBERG, Historische Grundlinien und europäische Perspektiven des Verhältnisses von Kirche und Staat in der reformierten Theologie, in: DERS., Reformierter Protestantismus in der Herausforderung. Wege und Wandlungen der reformierten Theologie, Theologie. Forschung und Wissenschaft 36, Berlin 2012, (227–237) 231: „Im 20. Jahrhundert wird die bei Calvin bereits angedeutete Königsherrschaft Christi weiter theologisch profiliert und zu einer ideologiekritischen Kategorie erhoben.“ 102 CH. WALTHER, Art. Königsherrschaft Christi, TRE 19 (1990), (311–323) 312.

400

XII. Post Barth locutum

derten gesellschaftlichen Bedingungen sie je auf ihre Weise neu zu profilieren. Die Lehre behält ihre ideologiekritische Pointe bei. So geht es in unterschiedlichen Spielarten jeweils um die Kritik totaler Herrschaftsansprüche – etwa eines ungebremsten Ausgreifens kapitalistischer Marktlogik (so bei Arthur Rich), eines hoffnungsvergessenen und politisch indifferenten Abfindens mit dem status quo (so bei Jürgen Moltmann) und einer missverstandenen Rechtfertigungsbotschaft, die keinen für den politischen Bereich relevanten Anspruch (Imperativ) sowie keine Heiligung kennt (so bei Walter Kreck). Die Lehre von der Königsherrschaft Christi hat sich, wie ihre zum Teil korrigierende Weiterentwicklung zeigt, die bei Moltmann und vor allem Rich ungleich stärker ausfällt als bei Kreck, nach dem Kirchenkampf und dem Einspruch gegen den totalitären Herrschaftsanspruch des Nationalsozialismus keineswegs erledigt. Fragt man abschließend nach der Identität reformierter Ethik, die sich in der Erinnerung an reformiert-reformatorische Grundentscheidungen manifestiert, so zeigt sich gerade in Krecks, Moltmanns und Richs Bezugnahme auf die Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi, dass diese Lehre eine christologische Konturierung der Reich-Gottes-Theologie ist. Daran, dass Rich zwar den Reich-GottesBegriff stark macht, die Metapher von der Königsherrschaft Christi hingegen bewusst zurücktreten lässt, ist erkennbar, dass er die Verhandlung des Reich-Gottes-Gedankens im Rahmen der Christologie nicht präferiert. Dass indes eine theologische Sozialethik auch nach Rich nicht am Reich-Gottes-Gedanken vorbeikommt, dürfte evident sein. In diesem Sinne lässt sich festhalten, dass die Reich-GottesTheologie in ihrer sozialethischen Dimensionierung gewiss kein konfessionelles Alleinstellungsmerkmal postbarthscher reformierter Ethik darstellt, aber doch durchaus als „identity marker“ zu verstehen ist. Alle drei Ethiker haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts neu entdeckt: „Das Reich Gottes ist das große Neue, in dem er aus dem Jenseits des von uns Machbaren auf uns zukommt, die Welt richtet und Gerechtigkeit und Frieden schafft.“103 In einem spezifischen Sinne sind alle drei Ethikansätze als unterschiedliche Ausprägungen einer „Ethik der Erinnerung“ zu verstehen, nämlich im Sinne von Barmen V, wonach die Aufgabe der Kirche darin besteht, an Gottes Reich zu erinnern: „Sie [die Kirche; M.H.] erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten.“

E. BUSCH, Art. Königsherrschaft Christi I. Dogmatisch, RGG4 4 (2001), (1586– 1588) 1588.

103

Nachweis der Erstveröffentlichungen

0.

Einleitung: Ethik – reformiert! (unveröffentlicht)

1.

Mit der Tradition zum Aufbruch. Die konstitutive Bedeutung der Schrift für die reformierten Bekenntnisse, in: DERS. / G. PLASGER / A. SCHILLING (Hg.), Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung. FS für Michael Weinrich, FRTH 4, Neukirchen-Vluyn 2015, 147–169. (leicht überarbeitet)

2.

Wie neue Menschen leben. Ansätze zu einer Ethik der Identität im Heidelberger Katechismus, in: M.E. HIRZEL / F. MATHWIG / M. ZEINDLER (Hg.), Der Heidelberger Katechismus als reformierter Schlüsseltext, Reformiert! Bd. 1, Zürich 2013, 125–151. (leicht überarbeitet)

3.

„Nicht den Pflug vor die Ochsen spannen“. Tugendethische Ansätze bei Johannes Calvin. Ein Beitrag zur ethischen Grundlagendiskussion. (unveröffentlicht)

4.

Freiheit zur Nachahmung? Problemorientierte Bemerkungen zu einem vernachlässigten Aspekt reformatorischer Ethik. (unveröffentlicht)

5.

Ethik der Erinnerung oder: „Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit“. Der Einfluss der Sozialethik Huldrych Zwinglis auf Arthur Richs „Wirtschaftsethik“, in: TH.K. KUHN / N. STRICKER (Hg.), Erinnert. Verdrängt. Verehrt. Was ist Reformierten heilig? Vorträge der 10. Internationalen Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 16, Neukirchen-Vluyn 2016, 113–130. (leicht überarbeitet)

6.

Ein „Vaterschaftstest“. Die Weber-These und der sog. „urchristliche Kommunismus“ bei Johannes Calvin. (unveröffentlicht)

7.

Processus und/oder status confessionis? Oder: Kann die Struktur der globalen Ökonomie Anlass eines Bekenntnisses sein?, in: M. BIENERT / M. HOFHEINZ / C. JOCHUM-BORTFELD unter Mitarbeit von R.J. MEYER ZU HÖRSTE-BÜHRER und F. VAN OORSCHOT (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Studien zu ihrer Entstehung und Geltung, Zürich 2017, 159–185. (leicht überarbeitet)

8.

Friedenstheologie treiben, als wäre nichts geschehen? Resonanzen reformierter Friedensethik nach dem Ersten Weltkrieg, in: H.-G. ULRICHS (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die reformierte Welt, FRTH 3, Neukirchen-Vluyn 2014, 61–85. (leicht überarbeitet)

9.

Platzanweisung. Reinhold Niebuhrs Umgang mit dem Friedenszeugnis der Historischen Friedenskirchen, in: M. HOFHEINZ / G. P LASGER (Hg.), Ernstfall Frieden. Biblisch-theologische Perspektiven, Wuppertal 2002, 117–141. (überarbeitet)

10. De munere prophetico – Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes. Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos

402

Nachweis der Erstveröffentlichungen vor der „Lessingzeit“ (von Zwingli bis Lampe), in: M. HOFHEINZ / W. LIENE/ M. SALLMANN (Hg.), Calvins Erbe. Die Wirkungsgeschichte Johannes Calvins, RHT Vol. 9, Göttingen 2011, 117–171. (leicht überarbeitet)

MANN

11. Das Problem der Theokratie im reformierten Protestantismus. Calvin, Kuyper, Barth und der säkulare, weltanschauliche neutrale Rechtsstaat, in: M. FREUDENBERG / G. P LASGER (Hg.), Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Vorträge zur achten Emder Tagung der Gesellschaft für reformierten Protestantismus, EBzrP 14, Neukirchen-Vluyn 2011, 51–77. (überarbeitet) 12. Post Barth locutum. Reformierte Ethik und ihre Rezeption reformiert-reformatorischer Grundentscheidungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. (unveröffentlicht)

Abkürzungsverzeichnis Hinweis zum Gebrauch von Abkürzungen Die in dieser Arbeit verwendeten Abkürzungen entsprechen dem von Siegfried Schwertner zusammengestellten Abkürzungsverzeichnis der „Theologischen Realenzyklopädie“ (TRE), 2. überarbeite und erweiterte Auflage, Berlin / New York 1994. Hinweis zum Zitationsverfahren In den Fußnoten wird nicht die vollständige Literaturangabe, sondern nur der Autor, ein Kurztitel und die Seitenzahl wiedergegeben. Auslassungen innerhalb eines Zitats sind durch Punkte in eckigen Klammern [...] kenntlich gemacht. Ergänzungen innerhalb eines Zitats sind in eckige Klammern [ ] gesetzt. BSLK

Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. von Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß im Gedenkjahr der Augsburgerischen Konfession 1930, Göttingen 1930.

BSRK

Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche, hg. von E.F.K. Müller, Leipzig 1903.

BuS

Heinrich Bullinger Schriften, Bde. I–VII, hg. von E. Campi u.a., Zürich 2004.

CO

Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia, 58 Bde., hg. von W. Baum u.a., CR 29–87, Braunschweig 1863ff.

CStA

Calvin-Studienausgabe, hg. von E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn, 1994ff.

EBzrP

Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus, hg. von M. Freudenberg u.a., Bde. 1–10, Wuppertal 1999–2008, ab Bd. 11, Neukirchen-Vluyn 2009ff.

EThD

Ethik im Theologischen Diskurs / Ethics in Theological Discourse, hg. von M. Heimbach-Steins u.a., Münster 2002ff.

FRTH

Forschungen zur Reformierten Theologie, hg. von M. Hofheinz u.a., Neukirchen-Vluyn 2014ff.

Inst.

Institutio Christianae religionis / Unterricht in der christlichen Religion, nach der letzten Ausgabe von 1559 übers. und bearb. von O. Weber, im Auftrag des Reformierten Bundes bearb. und neu hg. von M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008.

KD

Die kirchliche Dogmatik. 4 Bde., 13 Teile und 1 Registerbd., Zollikon– Zürich 1932–1967.

MWG

Max Weber, Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von H. Baier u.a., Tübingen 1984ff.

404

Abkürzungsverzeichnis

OS

Ioannis Calvini Opera Selecta, hg v. P. Barth / G. Niesel, 5 Bde., München 1926ff.

QGTS

Quellen zur Geschichte der Täufer in der Schweiz, hg. v. L. von Muralt u.a., Zürich 1952ff.

SBRThP Siegener Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung, hg. v. V. Albrecht-Birkner / G. Plasger, Wuppertal 2010ff. SC

Supplementa Calviniana Sermons inédits (SC), hg. v. J. McCord, Neukirchen-Vluyn 1961ff.

STh

Thomas von Aquin, Summa theologiae.

RHT

Reformed Historical Theology, hg. v. H.J. Selderhuis, Göttingen 2007ff.

WA

Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe („Weimarer Ausgabe“), Weimar 1883ff.

Z

Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, hg. von E. Egli u.a., 14 Bde., CR 88– 101, Berlin u.a. 1905ff.

ZDTh

Zeitschrift für dialektische Theologie, hg. von Komitee zur Förderung des Studium der dialektischen Theologie, Kampen 1985ff.

ZwS

Huldrych Zwingli Schriften, Bde. I–IV, hg. von T. Brunnschweiler / S. Lutz, Zürich 1995.

Personenregister

Adams, John 11 Albertz, Rainer 300 Alexander der Große 298 Alstedt, Johann H. 338 Althaus, Paul 245, 249, 290 Althusius, Johannes 11 Ammann, Christoph 55 Andersen, Svend 40, 239 Anscombe, G. Elisabeth M. 64, 66 Anselm, Reiner 210, 213 Anselm von Canterbury 145 Aristoteles 44, 67, 69, 73, 79, 85– 87, 111, 125, 165, 190, 192 Asendorf, Ulrich 129 Assel, Heinrich 237, 248 Assmann, Jan 372 Aner, Karl 291 Augustijn, Cornelius 258, 360 Augustin 73f., 77, 82, 88, 90, 92, 96, 130f., 274 Babelotzky, Gerd 70 Backus, Irena 72, 74 Bacote, Vincent E. 362 Bahr, Petra 64 Baker, J. Wayne 306 Balke, Willem 188f., 191, 195, 199, 205 Balkenende, Jan P. 357 Barth, Karl 1, 9, 11–13, 15, 18–20, 23, 26, 28, 34f., 48f., 53, 59, 134, 151, 153–159, 211, 221, 230, 235–238, 243–249, 251, 257f., 260–262, 287–289, 291f., 343, 359, 362–369, 372–374, 376, 379, 382–384, 388, 393–395, 398f. Barth, Roderich 10, 356 Bartmann, Peter 43f., 68, 77 Baschera, Luca 68 Bausenhart, Guido 129 Bavinck, Herman 237

Bayer, Oswald 37, 43, 116, 123, 129, 154 Beck, Hartmut 3 Becker, Judith 382 Becker, Oswald 3 Bedford-Strohm, Heinrich 155, 190, 193, 216, 233f., 259, 275 Beintker, Michael 4, 6f., 21, 54, 59, 61, 82, 106f., 115, 384 Benedict, Philip 14 Bentham, Jeremy 116 Berger, Peter L. 286 Berlin, Isaiah 116–118 Beza, Theodor 11, 72 Bieberstein, Sabine 185 Bielefeldt, Heiner 361 Biéler, André 184, 188, 197 Bien, Günther 44 Bienert, Maren 3 Biermann, Joel D. 68 Biggar, Nigel 248, 258, 275 Bildheim, Stefan 11 Billings, J. Todd 71, 108 Bizer, Ernst 131, 330–332, 334, 338 Blanke, Fritz 309 Blarer, Ambrosius 171 Blaser, Klauspeter 314, 316, 318, 328f. Bleisch, Barbara 262 Blickle, Peter 167 Bloomquist, Karen L. 68 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 346, 362f. Bollinger, Daniel 302–306, 308f. Bolt, John 358, 362 Bonhoeffer, Dietrich 52, 210, 257, 289 Bornkamm, Karin 291f., 314 Bowlin, John R. 88 Braun, Dietrich 245 Bray, Guy de 18 Bray, John S. 330

406 Brecht, Martin 163 Brennecke, Hanns Christof 4 Brock, Brian 54, 245 Brunner, Emil 12, 161, 237–244, 247, 259–262, 372, 394 Bucer, Martin 83, 385 Büchsel, Friedrich 3 Büsser, Fritz 294, 298, 309, 340f. Bukowski, Peter 224–227, 230, 232f., 375 Bullinger, Heinrich 83, 293, 302– 310, 313, 322, 329, 340f., 353 Busch, Eberhard 7, 9, 14, 19f., 25, 31, 33f., 39, 53, 58, 92–94, 100, 138, 184, 186, 204, 209, 236f., 283, 285, 287, 293, 317, 319, 321, 328, 330, 341f., 355, 363, 365, 371, 385, 400 Bush, George W. 264 Butler, Judith 51 Caesar, Julius 298 Caligula 90 Calvin, Johannes 5f., 11, 14, 36, 57f., 60, 64, 68–71, 73–114, 117f., 120, 128, 146–151, 180– 184, 186–208, 227f., 289f., 292f., 302, 309–322, 324, 326–328, 331f., 334, 340–343, 348–355, 359f., 368–370, 374f., 379–387, 397–399 Camillus 88 Campi, Emidio 6, 163, 172, 293 Canlis, Julie 71 Cartwright, Michael 269 Cato 90f. Charry, Ellen T. 110 Coccejus, Johannes 333 Cohen, Hermann 261 Craig, Campbell 256 Cromwell, Oliver 344 Crouter, Richard 255 Crüsemann, Frank 300 Curius 91 Dahling-Sander, Christoph 119, 134, 137 Dahm, Karl-Wilhelm 251–253, 265, 348 Dalferth, Ingolf U. 55

Personenregister

Dallmann, Hans-Ulrich 213 Dasgupta, Partha 229 Delling, Gerhard 3 Dembowski, Hermann 87, 114 Denck, Hans 278 Dermange, François 197 Diest, Heinrich von 338 Dieter, Theodor 68 Dietrich, Walter 300 Dietz, Alexander 260 Dietzfelbinger, Daniel 390 Domitian 90 Dorrien, Gary J. 237, 251, 268 Drobinski, Matthias 116 Duchrow, Ulrich 212–219, 221– 225, 232, 234 Ebeling, Gerhard 87, 114, 375 Ebeling, Klaus 67 Ebrard, August 292 Edel, Susanne 175f., 390, 393 Edwards, Jonathan 12 Enns, Fernando 238, 283 Erasmus von Rotterdam 142 Ernesti, Johann A. 292 Ernst-Habib, Margit 3, 31 Eßer, Hans Helmut 97, 181, 197, 326, 355 Eurich, Johannes 199, 233 Evers, Sven 1 Faber, Eva-Maria 80, 97, 100, 147 Fabius 91 Fabricius 90f. Fangmeier, Jürgen 38, 249 Farley, Benjamin Wirt 195 Fast, Heinold 193 Fatio, Olivier 320 Faulenbach, Heiner 18 Feil, Ernst 163 Feldmann, Markus 367 Feldmeier, Reinhard 285 Fetzer, Antje 1 Ferrario, Fulvio 94 Fichte, Johann Gottlieb 115, 157 Ficker Stähelin, Daniel 362, 367 Fischer, Johannes 40, 161, 398 Ford, Henry 238, 250 Fox, George 265 Fox, Richard Wightman 250, 255

Personenregister

Franck, Sebastian 278 Franz I. (frz. König) 81 Franz von Assisi 271 Frei, Hans W. 160 Frettlöh, Magdalene L. 8 Freudenberg, Matthias 12, 18–25, 28–30, 32f., 35f., 134f., 137, 140, 147, 184, 194f., 209, 233f., 291f., 318f., 321, 335, 337, 339, 379, 382, 399 Frey, Christofer 14f., 60–62, 67, 162, 237, 244, 366, 370, 375, 390, 395, 399 Friedrich III. (Kurfürst von der Pfalz) 18 Friedrich Wilhelm II. (Fürst von Nassau-Siegen) 336, 339 Froschauer, Christoph 134 Furnish, Victor Paul 50 Gäbler, Ulrich 134, 138, 163–165, 169, 171, 293f. Ganoczy, Alexandre 319 Geiger, Max 180, 333 Gernler, Lukas 333 Gerrish, Brian Albert 4 Geyer, Hans-Georg 30, 55, 115, 127f., 130, 366–368 Ghandi, Mahatma 269 Goebel, Hans Theodor 125 Göllner, Werner 382 Goertz, Hans-Jürgen 182 Goeters, Johann Friedrich Gerhard 18f., 33, 314, 316f., 320–322, 335, 348, 351, 355, 382 Goldberg, Michael 3 Gollwitzer, Helmut 61, 220f., 225, 265 Graf, Friedrich Wilhelm 6, 204, 237, 288–293, 309, 313, 317– 320, 326f., 339, 342, 373, 398 Graffmann, Heinrich 326 Grass, Günter 115 Gray, John 84 Grotius, Hugo 333 Guhrt, Joachim 210 Guthrie, Shirley C. 24 Gutmann, Hans-Martin 131 Gutschker, Thomas 1

407 Haacker, Klaus 3 Haas, Günter H. 78, 105 Habermas, Jürgen 347 Härle, Wilfried 53, 262, 348 Hailer, Martin 40, 52, 66, 372, 374 Halbig, Christoph 65 Hamm, Berndt 8, 67, 133–135, 137f., 164, 294 Hammer, Georg-Hinrich 199 Hardt, Michael 224 Harnack, Adolf von 153 Haspel, Michael 224 Hauerwas, Stanley 3f., 15, 62, 70, 227, 255–258, 269, 273f., 285, 363 Hauser, Martin 298 Hays, Richard B. 50, 205 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 109, 155 Heidegger, Johann H. 320f., 328– 334, 341 Heidegger, Martin 56 Heinemann, Gustav 4f. Heit, Alexander 343 Henke, Heinrich P. K. 291f. Heppe, Heinrich 330–332, 334, 338 Herdt, Jennifer A. 1, 70f., 107 Heron, Alasdair I.C. 12, 33, 83f., 97, 309 Herrmann, Sebastian 229 Herrmann, Wilhelm 259 Hertog, Gerard C. den 9, 63, 94, 114f. Heslam, Peter S. 356 Hesse, Hermann Klugkist 376 Hesselink, I. John 71, 370 Heuser, Stefan 45, 47 Heussi, Karl 350 Hitler, Adolf 273, 279 Hobbes, Thomas 116 Hobe, Stephan 260 Hofheinz, Marco 2–4, 7f., 10, 12, 14, 27, 35, 47, 62, 80, 97, 109, 127, 150, 153f., 156, 182, 195f., 209, 216, 224, 249, 255, 261, 372–374, 379, 383, 396 Holder, R. Ward 82 Holl, Karl 67 Homann, Karl 234

408 Honecker, Martin 288–292, 309, 315, 326, 341, 346, 348 Honneth, Axel 117 Horn, Christoph 86 Horn, Friedrich W. 76 Huber, Wolfgang 2, 64, 116, 155, 198, 214, 242, 261, 275, 351 Hübner, Jörg 216, 224, 234 Hüttenhoff, Michael 40, 66, 82 Hütter, Reinhard 40, 50, 53, 64, 119f., 122, 124, 132, 370 Huijgen, Arnold 75 Hunsinger, George 9, 53, 58, 152, 160, 237 Hunziker, Andreas 55 Hutter, Karl 329f., 332–334 Iserloh, Erwin 130f. Iwand, Hans Joachim 13 Jacobs, Paul 24, 325 Jähnichen, Traugott 175, 181f., 184, 191, 197, 203, 212, 397f. Jaurés, Jean 4 Jehle, Frank 237, 242 Jetter, Werner 131 Joest, Wilfried 58, 87, 123f. Jorissen, Matthias 33 Josephus, Flavius 186, 343 Josuttis, Manfred 309 Jud, Leo 294 Jüngel, Eberhard 120, 125f., 129f., 135, 181 Kaftan, Julius 290 Käsemann, Ernst 288 Kant, Immanuel 40, 44, 115, 153, 159, 242, 248, 261 Kaufmann, Thomas 72 Keulen, Dirk van 356 Kierkegaard, Søren 275 Kimminich, Otto 260 Kingdon, Robert M. 186, 351 Klappert, Bertold 9, 388, 393–395 Knox, John 18 Koch, Ernst 310 Kooi, Cornelis van der 98 Körtner, Ulrich H.J. 2, 67, 180f., 289 Kohlbrügge Hermann Friedrich 376

Personenregister

Kolfhaus, Wilhelm 71, 77, 79f., 96, 99, 106, 112 Konradt, Matthias 156 Konstantin (Kaiser) 263 Kooi, Cornelis van der 317 Kosmahl, Hans-Joachim 176 Krämer, Hans 69 Kraus, Hans-Joachim 182, 288 Kreck, Walter 9, 35f., 42, 75, 234, 240, 348, 373–383, 394, 397–400 Kroon, Marijn de 83 Krusche, Werner 88f., 91, 104– 106, 355 Kuhn, Thomas K. 298 Kutter, Hermann 393 Kuyper, Abraham 343, 349, 356– 360, 362, 364f., 368f. Lampe, Friedrich A. 288, 334–339, 341 Landweer, Hilge 44 Lane, Anthony N. S. 73 Lange, Andrea 263 Lange, Dietz 238, 250–253, 265f., 268, 273, 276, 282 Lange van Ravenswaay, J. Marius J. 64, 73 Lavater, Hans Rudolf 146 Lehmann, Hartmut 180f., 183, 208 Lehmann, Paul L. 122, 245 Leonhardt, Rochus 67, 233 Leppin, Volker 114 Lessing, Eckard 260 Lessing, Gotthold Ephraim 152f. Leutzsch, Martin 182 Lexutt, Athina 70 Lienemann, Wolfgang 1, 38, 40, 42, 47, 52, 54, 109f., 112, 119, 147–149, 180f., 184, 191, 193, 211–214, 216, 231, 235, 242, 248f., 260f., 361f., 370f. Lienhard, Marc 131 Lindbeck, George A. 122 Link, Christian 4, 10f., 31, 54, 56f., 92–94, 128, 158, 181, 207, 227f., 300, 320, 340, 350, 353 Locher, Gottfried Wilhelm 25, 52, 134f., 139, 140, 142–144, 146f., 164f., 170f., 179, 195, 197, 293, 298f., 301, 387

Personenregister

Lochman, Jan M. 43 Locke, John 152 Lohse, Bernhard 131, 210 Lovin, Robin W. 65, 250, 266f. Luckner, Andreas 65 Lübbe, Hermann 346 Lütge, Christoph 234 Lüthy, Herbert 180 Luhmann, Niklas 162 Luther, Martin 5, 7–9, 11, 37, 43, 50, 60, 67f., 71, 82f., 87, 90, 100, 114f., 117–135, 137f., 142, 144, 146, 148f., 155, 163, 165, 169– 171, 237, 274, 292, 306, 351, 370, 382, 385, 387 Maaser, Wolfgang 40, 67, 193 MacIntyre, Alasdair 1, 44, 64f., 239, 371 Mahlmann, Theodor 6 Manetsch, Scott M. 72 Marcion 32 Margalit, Avishai 371 Marquardt, Friedrich-Wilhelm 244, 372 Massmann, Alexander 256 Mathwig, Frank 176 Maurer, Ernstpeter 9, 123 Mayordomo, Moisés 76 McCormack, Bruce L. 159, 237 McKee, Elsie Anne 184, 199 McClendon, James W., Jr. 275 McGrath, Alister E. 180 Mechels, Eberhard 9, 363 Meireis, Torsten 40, 224 Melanchthon, Philipp 18, 43f., 55, 68, 114, 321, 328, 382 Meyer, Walter Ernst 163 Migliore, Daniel L. 58, 378 Milbank, John 45 Mildenberger, Friedrich 43 Milton, John 11 Miskotte, Kornelis Heiko 102 Moehn, Wilhelmus Hendricus Theodorus 183, 194f. Möller, Ulrich 209f., 212–214, 216–225, 228, 232, 234, 242 Molendijk, Arie L. 286, 356

409 Moltmann, Jürgen 7, 22, 26f., 30, 348, 363, 373, 383–389, 394, 398–400 Mouw, Richard J. 356 Mottu, Henry 20 Mühling, Andreas 321 Mühling, Markus 1 Müller, Ernst Friedrich Karl 19, 291 Müller, Ulrich B. 301 Müller, Wolfgang Erich 176f. Müller-Fahrenholz, Geiko 383 Müntzer, Thomas 168 Muralt, Leonhard von 171 Naphy, William G. 354 Natorp, Paul 261 Naumann, Thomas 42, 300 Negri, Antonio 224 Neumann, Nils 143 Nero 90 Neuser, Wilhelm H. 163, 320–322, 350 Neven, Gerrit W. 128 Nicol, Martin 43 Niebuhr, Helmut Richard 255–258, 271, 273, 278, 344 Niebuhr, Reinhold 12, 15, 237f., 249–258, 260, 262f., 265–287 Niemöller, Martin 265, 288 Niesel, Wilhelm 106, 147, 195 Nietzsche, Friedrich 66, 387 Nussbaum, Martha C. 1, 44, 65 Nygren, Anders 275 Nyomi, Setri 215, 228f. Oberman, Heiko Augustinus 133 Olevian, Caspar 318, 320–328, 341 Opitz, Peter 36f., 112, 138f., 299, 302f., 305, 307f., 314f., 319, 353f. Opočenský, Milan 218 Overbeck, Franz 265 Pannenberg, Wolfhart 40 Paprotny, Thorsten 77 Parker, Thomas Henry Louis 183 Partee, Charles E. 70 Pascal, Blaise 162, 214, 390 Pesch, Otto Hermann 107 Peter, Hans-Balz 173, 176

410 Pfisterer, Ernst 350 Pfleiderer, Georg 343 Philon von Alexandria 27, 186 Plasger, Georg 12, 18–22, 25, 29f., 32f., 36, 57, 92–94, 102, 141f., 145, 224, 316, 319, 323, 327, 369, 372, 381 Platon 69, 73, 85f., 186 Quervain, Alfred de 381, 398f. Rade, Martin 243, 261 Rademacher, Dirk 242 Raith II, Charles 82 Raiser, Konrad 223, 228 Ragaz, Leonhard 173, 237, 288 Rasmusson, Arne 285f., 363 Rauhaus, Alfred 355 Rauschenbusch, Walter 267 Rawls, John 162, 346f., 397 Reinhardt, Volker 72 Rendtorff, Trutz 38 Reuter, Hans-Richard 2, 40, 65, 112, 236, 238, 242–244, 248, 260, 262, 351, 376 Reuter, Karl 102 Rich, Arthur 161–179, 240, 373, 389–400 Rieger, Jörg 292 Rieger, Reinhold 119, 130 Ritschl, Albrecht 23 Ritschl, Dietrich 52, 62, 176, 234 Roberts, Robert Campbell 44 Rohls, Jan 14, 24, 151f., 389 Roloff, Jürgen 185 Rosa, Hartmut 116 Rothe, Richard 360 Ruddies, Hartmut 38, 128, 237, 365 Ruether, Rosemary R. 288 Russel, Daniel C. 64 Saarinen, Risto 68, 314 Sadolet (Kardinal) 77 Sallmann, Martin 145f., 165 Sattler, Michael 264 Sauter, Gerhard 27, 29, 50f., 60, 277, 344 Saxer, Ernst 19, 164, 169, 295 Schäfer, Gerhard K. 187

Personenregister

Schellong, Dieter 4, 9, 12f., 42, 150f., 153, 180, 206f., 236, 241, 244f., 261, 311, 314 Schick, Ludwig 291f. Schilling, Annegreth 163 Schlatter, Adolf 259 Schleiermacher, Friedrich 35, 65, 153, 292, 384 Schluchter, Wolfgang 180f., 189, 206 Schmid, Michael 350 Schmidt, Jochen 67f. Schmidt, Ulrich 127 Schmitt, Carl 387 Schneckenburger, Matthias 339 Schneemelcher, Wilhelm P. 347, 351 Schnelle, Udo 50 Schoberth, Ingrid 47f. Schönberger, Dennis 58, 71, 78– 80, 100, 105 Schössler, Dietmar 253, 255 Scholl, Hans 10, 118, 148, 164– 167, 171f., 187, 190, 196, 233, 294–298, 326, 340, 382, 398 Schrage, Wolfgang 202, 205 Schütte, Hans-Walter 348 Schwarz, Reinhard 68, 83, 99, 131, 135 Schwemer, Anna M. 315 Schwöbel, Christoph 243 Schücking, Walther 260 Scipio 90f. Seeberg, Reinhold 259 Servet, Michael 351, 386 Seymour, Eduard 84 Sider, J. Alexander 371 Siede, Burghard 3 Siller, Annelore 289 Simon, Helmut 369 Simons, Menno 277f. Slenczka, Notger 40, 82 Smit, Dirk Jacobus 210 Smith, David L. 344 Spijker, Willem van‘t 149 Spinoza, Baruch de 152 Söding, Thomas 285 Sozzini, Fausto 152 Sozzini, Lelio 152 Stachowiak, Herbert 350

411

Personenregister

Stackhouse, Max L. 356 Stadtland, Tjarko 100 Staupitz, Johannes von 68 Staedtke, Joachim 347f., 351, 355, 368, 382 Steinmetz, David C. 69f., 74 Stephan, Horst 259 Stephens, William Peter 141f., 164f., 170, 387 Stierle, Wolfram 227, 234 Stocker, Michael 66 Stout, Jeffrey 340 Strohm, Christoph 5, 8, 10f., 14, 166, 309, 344, 348, 351, 353, 370 Strohm, Theodor 49, 175, 178, 390 Strub, Jean-Daniel 262 Stuhlmacher, Peter 186 Stümke, Volker 210, 242 Stumme, John R. 68 Strümpfel, Annegret 163 Suchanek, Andreas 234 Suttner, Bertha von 247 Taylor, Charles 1, 116, 193 Theunissen, Michael 155, 158 Thiel, Albrecht 78f., 184, 340 Thielicke, Helmut 290, 343, 345, 357 Thomas, Günter 376 Thomas von Aquin 73, 76, 99, 111, 192 Thurneysen, Eduard 244 Tiberius 90 Tibi, Bassam 360 Tillich, Paul 278 Tödt, Heinz-Eduard 155, 204, 344 Tolstoi, Leo 271 Torrance, Thomas F. 89 Trajan 89 Trillhaas, Wolfgang 48 Troeltsch, Ernst 10f., 16, 193f., 199, 204f., 270f., 286, 343–345, 348, 353, 356 Trowitzsch, Michael 246, 258, 264 Tugendhat, Ernst 109 Ulrich, Hans G. 3, 49, 51–53, 56, 155, 157, 214, 227f., 231f., 377f., 387, 391 Ulrich, Peter 397

Ursinus, Zacharias 18, 321f. Varma, Ashish 71, 99, 101, 103f., 109, 111 Veen, Mirjam G. K. van 195 Venema, Cornelis P. 100 Verhey, Allen 194f. Vermigli, Peter Martyr 68 Viret, Pierre 354 Vischer, Lukas 20, 24, 29 Vliet, Jason P. van 97 Voigtländer, Johannes 141 Volf, Miroslav 182, 287, 340 Wainwright, Geoffrey 332 Wallace, Ronald S. 352 Walther, Christian 399 Walzer, Michael 344 Wannenwetsch, Bernd 43f., 50, 53–55 Warnke, Alexander 217 Weaver, Darlene Fozard 71 Weber, Max 6, 42, 151, 180–184, 189–191, 203–208, 240, 252, 286 Weber, Otto 5, 19, 39, 317 Weinrich, Michael 3f., 9, 16f., 20– 22, 26f., 29, 31f., 34f., 37, 98, 156, 159, 236, 289, 312, 363 Weisser, Gerhard 162 Welker, Michael 9, 21, 224 Wendel, François 93, 100, 149, 314 Wenger, Thomas L. 71 Wengst, Klaus 210, 225 Wenzel, Gerhard 199 Werkner, Ines-Jacqueline 242 Werner, Ilka 70 Wesley, John 278 Weth, Rudolf 163, 397 Wiebering, Joachim 174 Wilkie, Robert G. 194f. Williams, Rowan 15 Willimon, William H. 285 Winthrop, John 11, 344f. Winzeler, Peter 164 Witte, John, Jr. 11 Wolf, Ernst 47–51, 56, 59f., 132, 150, 259, 394f. Wolf, Walter 163, 390 Wolterstorff, Nicholas 347, 356 Wright, David F. 183

412 Wüstenberg, Ralf K. 100, 105f. Wüthrich, Matthias D. 20 Wyk, J.H. van 73 Yoder, John Howard 176, 258, 271, 275, 281, 363 Zachman, Randall C. 105 Zangger, Christian 332 Zeindler, Matthias 8, 12, 35, 92f., 237f., 240f., 260f., 271, 371f. Zemmrich, Eckhard 77

Personenregister

Ziebritzki, Henning 68 Zimmermann, Ruben 46, 52, 55 Zimmermann, Gunter 163 zur Mühlen, Karl-Heinz 43, 121, 133 Zwaag, Klaas van der 358 Zwingli, Huldrych 8, 24f., 36, 117, 128, 133–146, 148f., 160–174, 177–179, 288, 293–310, 313, 329, 340–342, 353, 385, 387, 390–393, 395f., 398

Bibelstellenregister

Altes Testament Genesis 1,26 3,15 34,32

387 331 259

Deuteronomium 18,18 338 1. Samuel 15 25,14–28

300 78

2. Samuel 11f.

300

1. Könige 12–14 16,29–21,29 18 21

300 300 300 300

Hiob 38,1–4

91

Psalmen 18,50 24,1 45,8 103 103,2 105 105,4

42 387 315 226 231 33 33

Jesaja 1,83 3,4 58,1 61,1 61,1f. 65,17–19 66,2

196 196 299, 306 315 318 50 77

Jeremia 1,9 1,9f. 22,16

299 308 109

Klagelieder 3,39

214

Ezechiel 3,16f. 3,17f. 3,18

311 311 295

Joel 2,30 3,1

327 316

Amos 8

296

Micha 3 7 7,18

296 296 95

Neues Testament Matthäusevangelium 1,21 36 3,17 318, 332 5,9 261 5,13f. 280 5,21 264 5,39 269 5,43–48 150 5,48 166 6,24 224–226 6,25 225 6,25–34 225 6,28 336 6,28f. 227 6,31 225

414 6,34 7,17–20 7,18 10,32 11,29 15,14 17,5 17,24–27 19,17

Bibelstellenregister

225 121 121 209 139 136 332 128 165

Markusevangelium 6,14–29 301 8,38 324 10,30 203 12,43 78 Lukasevangelium 8,3 9,26 10,29 10,30–35 10,36 16,9 19,29–34 22,25

202 324 52 52 52 202 90 297

Johannesevangelium 1,1–14 36 1,16 318, 327 1,18 317 3,16 36 10,5 20 10,10b 227 11,43f. 138 12,8 233 13,14f. 150 14 36 15,11 22 16 36 19,5 48 Apostelgeschichte 2,42–47 205 2,43–45 183, 187, 192, 194 2,44 186–188, 191, 194 2,44f. 185 2,45 186, 197 4,32 186f.

4,32–37 4,33 4,34 4,35 4,36 4,36f. 5,1 5,1–11 5,3 5,4 5,29 9,36 10,2 10,6 11,27f. 12,2 16,3 16,15 21,10f.

183, 185, 187– 189, 192f., 195, 199, 205 197 192 192 196f. 198, 200f. 186, 197, 201 198 201 198, 202, 205 295, 349 196 99 196 311 196 137 196 311

Römerbrief 1,1 3,10–13 3,28 6 6,5 6,18 7,4 7,14 8 8,5 8,8–25 8,9 8,10 8,20 8,29 10,4 10,13 12,2 12,15 13 13,1 13,1b 14 15,1

60 86 87 377 103 101, 151 108, 117 329 257 103 50 104 103, 109 50 51 32 327 213 203 244, 366 367 366 209 136

1. Korintherbrief 1,30 318

415

Bibelstellenregister

4,7 4,16 6,12 7,29–31 7,31b 8 9,16 10,11 11,1 12,26 13,13 14,26 14,29 15,24–28 15,31 15,58

91 151 136 198 50 209 119 50 128 203 173 307 293 384f. 141 95

2. Korintherbrief 4,4 5,17 7,1 8,7 9,8 10,4f.

49 50, 380 107 127 127 299

Galaterbrief 2,3 2,19f. 2,20 3 4 4,4 5,13–6,10 5,22 6,14

136 140 124, 377 32, 147 32 36 156 76, 90, 101 140

Epheserbrief 1,4 1,11 2,6 2,10 4,7 4,11 5,1 5,2 6,11–17

94, 148 94 56 55 318 310 150 149 143

Philipperbrief 2,5

2,5f. 2,7 2,8 2,12f. 2,13 4,12

132 331 144 107, 377 107 84

Kolosserbrief 1,15 2,3 2,12 2,17 3,1 3,9 3,10 3,14

49 318 56 32 56 97 98, 104 77, 112

1. Thessalonicherbrief 4,3 148 5,19 107 2. Timotheusbrief 3,16 32 Titusbrief 3,4

157

Hebräerbrief 3,7f. 11,13 12,2

30 287 144

1. Petrusbrief 2,9 2,19 2,21

336f. 131 149f., 339

2. Petrusbrief 1,5 1,19 3,2

107 32 32

1. Johannesbrief 3,2 51, 62 4,10 396 Johannesapokalypse 3 210

125

Sachregister

Affekt, Affekte 43f., 46, 54f., 63, 68 Altes Testament 21, 32f., 36, 98, 293, 304, 308, 312, 315f., 333f., 338, 364, 375, 388 Amt, Ämter Christi 126, 288–292, 309, 313–316, 318f., 321f., 326– 328, 330, 379 − königliches 244, 315, 322, 328, 330, 334, 379 − priesterliches 315, 322, 328, 330, 379 − prophetisches 288, 290–292, 314–318, 321–324, 327–332, 334, 337–339, 379 Amt, Ämter der Kirche 313, 318f. − prophetisches 15, 288–192, 295–310, 323–326, 335, 340–342 − Wächteramt der Kirche 166, 289–292, 295, 309, 311f., 351 Analogie (analogia) 126, 156, 245, 315, 388, 395 Aristotelismus 1, 64, 67, 73, 79, 190, 192f., 320 Arme, Armut 168, 186–188, 191, 193, 199–201, 204–206, 212, 216, 226, 228, 233f., 296, 354 Askese, innerweltliche 180, 189f., 204, 380 Aufbruch 4, 16, 35, 389 Autonomie 112, 115, 118, 158f., 243, 275, 289, 341, 358 Autorität 19, 21, 23, 26, 28, 34f., 115, 118, 136f., 142, 169, 248, 289, 290, 320, 333, 345, 354, 357 balance of power 253, 254, 266, 275 Bekennen 8, 16, 20f., 25f., 28–32, 37, 209–220, 222f., 225, 229f., 232, 262, 326, 361, 363 Bekennende Kirche 17, 31, 399 Bekenntnis 3, 14, 16–18, 20–31, 34–37, 144, 209–219, 225, 227, 231f., 234, 288, 323–326, 356, 358f., 364, 366–368, 374, 399

− Autorität des B. 18f., 23, 26, 28, 35 − Entstehung/Bildung des B. 8, 17, 19f., 26, 28, 214, 374 − Geltung des B. 23, 26, 28f., 34 − Partikularität des B. 23f., 26, 28f., 34 − Pluralismus der B. 28f. − (Bekenntnis-)Positivismus 31 − Revidierbarkeit des B. 23f., 26, 34 − Überbietbarkeit des B. 24, 26 − Unabgeschlossenheit des B. 19, 24, 34, 214 − Universalität des B. 28f., 34 Bekenntnisschriften, Reformierte 3, 5, 16–24, 26, 28f., 32, 34f., 134, 209f., 363 − Accra-Erklärung 210, 214–216, 218, 223–226, 228–230 − Barmer Theologische Erklärung 18, 20, 31, 179, 210, 212, 223, 229, 234, 347, 365f., 376, 395, 399, 400 − Basler Bekenntnis 25 − Bekenntnis der Freien reformierten Synode Barmen 32 − Bekenntnis der Karo-BatakKirche 36 − Belhar-Bekenntnis 30f., 210, 223, 229 − Berner Synodus 18, 24 − Berner Thesen 18, 20 − Confessio Belgica (Belgisches Bekenntnis) 18, 358 − Confessio Gallicana (Hugenottisches Bekenntnis) 18, 21, 32f. − Confessio Helvetica posterior (Zweites Helvetisches Bekenntnis) 25, 28–30, 32f., 305 − Confessio Scotica (Schottisches Bekenntnis) 18, 22, 24, 28, 363, 386

Sachregister

− Dordrechter Canones (Dordrecht) 18, 33 − Fidei ratio 24, 36, 298 − Genfer Katechismus 93, 314– 316, 321f., 328, 355 − Heidelberger Katechismus 18, 33, 36, 38–41, 44–63, 321–323, 328, 335–337, 339, 341, 374 − Leuenberger Konkordie 2, 21 Bergpredigt 121, 165, 168, 201, 225–227, 263, 336 Bescheidenheit (modestia) 76, 78, 81 Bildung 180, 293, 308, 321 Bund (foedus) 32–34, 154, 156, 215f., 228, 306, 329f., 335, 341, 345, 363, 376, 379, 380 Calvinismus 5, 10f., 14, 42, 180f., 189, 191, 203f., 207, 293, 309f., 320f., 343–345, 348, 353, 356f., 370, 385–387 certitudo salutis 184 Charismen 48, 293 Christokratie 319, 373, 394f., 398f. Christologie 22, 48f., 100, 103, 129f., 142f., 145, 149, 151, 153, 245, 268f., 290–292, 313–316, 318f., 324, 332, 338f., 341f., 375, 377, 379, 382, 385, 388, 394f., 399f. consensus 100, 201, 237 corpus doctrinae 19 Dank, Dankbarkeit 5, 25, 33, 39– 46, 48, 55, 59–61, 70, 147 Dekalog 45, 47, 52–54, 57, 60, 351 Demokratie 213, 274, 290, 337, 343, 361, 367, 385–387, 393 Demut (humilitas) 76–78, 96, 98, 380 Diakonie 199, 201, 310, 319, 325, 354 Dialektische Theologie 162, 367, 390 Diaspora 286, 363 Distanz, kritische 13, 175, 179, 376, 394f.

417 Dogmatik 16, 38, 63, 146, 184, 248, 288, 292, 327, 335, 356, 379, 384 Dualismus 222, 279, 283, 285, 376 Ebenbild, Ebenbildlichkeit 45–47, 49, 51, 54, 57, 63, 97, 101, 103, 151 ecclesia semper reformanda 4–8, 35 Ehre Gottes 5, 46, 90, 92f., 96, 98, 108, 117, 230, 344 Ehrfurcht (timor) 76, 80 Eigengesetzlichkeit 167, 172, 217f., 234, 277, 341, 390, 392, 399 Eigentum 15, 101, 165f., 168, 185f., 191f., 196–200, 203, 205f., 334, 375 Emotionen 44, 54, 85 Erinnerung 30, 125, 161, 178f., 202, 204, 226, 232, 277, 279f., 284, 289, 310, 365, 370–373, 400 Erwählung 5, 9, 33f., 94, 96, 105, 154, 156, 334, 336, 344f. Eschatologie 50f., 61f., 108, 177– 179, 182, 257f., 275, 278, 338, 381, 384f., 388f., 391, 393 Ethik 1–5, 8, 12–15, 38, 40f., 44, 47f., 51f., 59–61, 63f., 66, 68, 73, 110–112, 114, 146, 154, 164, 176, 178–180, 195, 201, 208, 216, 227, 230, 232, 234, 239, 243, 245, 247, 253, 268–270, 289, 291, 308, 348, 369–374, 377–379, 381, 383, 389, 394, 397–400 − christliche E. 1, 119, 247, 260, 373, 399 − community ethics 53 − deontologische E., Pflichtenethik 40, 59f., 66 − Ethik der Erinnerung 161, 179, 370f., 400 − Ethik der Hoffnung 383f., 388 − Friedensethik 2, 15, 236, 238f., 244, 246, 249, 252, 255, 258– 260, 262, 270 − Gebotsethik 59, 159, 221, 246 − Gemeindeethik 202 − Grundlagen der Ethik 64, 85f., 234, 390

418 Güterethik 40, 59f., 65f. Identitätsethik 15, 38, 59–63, 378 Individualethik 253, 259f. kirchliche E. 52, 260 konsequentialistische E. 66 Motivationsethik 43, 46, 61 Nachfolgeethik 130, 132, 399 Ordnungsethik 244, 398 philosophische Ethik 66 politische E. 15, 163, 236, 260, 268, 270, 276, 343, 345, 348, 366, 368, 381f., 388, 391, 399 − Rechtsethik 247, 249 − Sozialethik 5, 47, 56, 132, 161, 164, 167f., 170, 173, 179, 253, 258f., 268, 288f., 370, 381, 391, 395, 400 − Strebensethik 67, 69 − theologische E. 1f., 4, 8, 14, 38, 48f., 62f., 121, 155, 236, 238, 244, 259, 345, 377 − Tugendethik 1, 40, 59, 64–66, 68–71, 73f., 80f., 85f., 91f., 94, 97, 103, 105, 107, 109–113, 239 − Verantwortungsethik 272 − Wirtschaftsethik 14, 161f., 173– 177, 179, 181, 184, 198, 212, 225, 227f., 231, 233, 383, 389– 391, 395, 398 Ethos 1, 11, 47, 56, 227, 234, 277, 279f., 283, 337, 370 Eudämonie 72, 85, 92 Evangelium und Gesetz 122, 376 − − − − − − − − − −

Fairness 361 Feind 234, 264f., 269, 279, 294, 304, 353 fieri 7, 51, 53, 60–63 Finalität, Finalismus 92–96 Föderaltheologie 33, 329, 335 Folgen 8, 121f., 169, 375, 393 Freiheit (libertas) 14, 108, 114– 118, 120–126, 128f., 133–140, 145–148, 150, 154–160, 190, 196, 198, 205, 230f., 275f., 352, 355, 359, 363f., 367f., 370, 377, 387, 389, 399 − F. eines Christenmenschen 8, 114, 118, 121, 125f., 132–134, 138, 147, 149

Sachregister

− kommunikative F. 153, 155, 158 − negative F. 116–118, 120–122, 138f., 154f., 158 − positive F. 116–118, 120, 122, 139, 148, 155 − Geschenk der F. 132, 151, 154– 158 − Religionsfreiheit 358f., 361, 367 − Willensfreiheit 69, 70 − F. zur Nachahmung 114, 129f., 132, 138, 144–146, 151, 153f., 159 Freude 8, 33, 42, 44, 47, 54, 61, 154, 156, 190, 334 Freund, Freundschaft 25, 66, 202, 294, 387 Frieden (pax) 158, 212, 232, 236, 242f., 249, 257, 261, 263, 268, 270, 287, 333, 366–368, 389, 400 Friedenskirchen 15, 263–267, 270f., 277–287 Gabe 3, 48, 69, 76, 81, 88–91, 93, 99, 106f., 129, 132, 166, 174, 187, 193, 199, 227, 232, 240, 306, 311f., 315, 318f., 327, 331, 333, 338, 364 Gebet 42, 54, 57, 61, 157, 202, 256, 264, 293, 359, 365, 374 Gebot 20, 33, 40, 45, 52f., 56–60, 63, 65, 79, 82, 84, 121f., 135f., 138, 140, 148, 164, 166–168, 172, 174, 179, 187, 211, 221, 228, 239, 246, 248, 252, 264, 267, 273, 277, 287, 365, 370, 373–375, 377, 380, 393, 396, 400 Geduld (patientia) 76, 80f., 198, 256, 307 Geist, Heiliger 24f., 28, 32, 45, 47, 49, 57, 59, 63, 75f., 96f., 101, 103–106, 108f., 112, 137, 142, 151, 200–202, 205, 315, 318, 322–324, 355, 383, 387 Gemeinde 9, 16, 25, 31, 71, 95, 99, 104, 135, 165f., 172, 188, 191, 194, 199–202, 205, 207, 215, 230f., 250, 317–319, 325, 335, 344, 349, 354f., 362–368, 378, 382, 385, 388, 394f., 399 Gemeindediakonie 199, 201f., 205f.

Sachregister

Gemeinschaft 1, 34, 53, 57, 67, 74, 99, 105, 109, 111, 116, 125, 149, 165, 170f., 188, 193, 195, 200, 202f., 205, 219f., 240, 243, 249, 255, 260–262, 278, 308, 345, 361, 367, 372 Gerechtigkeit (iustitia) 15, 73, 77, 81–83, 86, 89, 91, 96–98, 100, 102f., 109, 111f., 121f., 127, 149, 162, 165, 175f., 192f., 210, 215, 223–225, 230, 232, 253, 257, 268, 274–277, 296, 304, 329, 355, 365, 379, 387–389, 391, 395, 400 − Gerechtigkeit, göttliche 100, 161f., 164–174, 177–179, 243, 389–398 − Gerechtigkeit, menschliche 161f., 164–168, 170–174, 177– 179, 389–398 Geschichte 8, 14f., 28, 30, 51, 64, 129, 201, 205, 208, 256, 258, 278f., 314, 316, 381, 388 Gesellschaft 6, 10f., 67, 164f., 169f., 172, 179, 194, 200–205, 220, 234, 244f., 248f., 252f., 257, 260, 268, 276–278, 281, 283– 287, 289f., 293, 296–298, 305, 310, 344, 347, 358–361, 363, 384, 387, 392, 398f. Gesetz und Evangelium 37, 165, 345, 375, 380 Gesinnung 79, 180, 206, 242, 261, 268 Gewissen 42, 137, 147f., 150, 153, 189, 211, 214, 265, 279, 327, 360f., 374 Glaube (fides) 2, 8, 15–17, 28, 30, 35, 41, 56f., 59, 67, 72f., 81, 87, 90f., 98–100, 104, 107, 111f., 120–127, 129, 132f., 136f., 139– 141, 146f., 164f., 169, 174, 176, 179, 205, 211, 217, 229–231, 234, 239, 254, 256, 264, 278f., 295, 304, 306, 318, 320, 323– 326, 337, 353, 362, 366, 370, 379, 384f., 399 Gleichheit 118f., 253, 275f.

419 Global, Globalisierung 15, 209, 212f., 215f., 223f., 229, 232–235, 241f. Glück 41, 72, 74, 84f., 92, 145, 151 Gnade (gratia) 13, 32f., 45, 57, 59, 63, 74, 79, 81, 83, 87–89, 95, 97, 99–101, 111f., 121, 127, 135, 139, 146, 154, 165f., 184f., 228, 244, 315, 317, 319f., 323, 329, 331f., 335, 357, 376f., 387 Goldene Regel 167f., 193 Gottesdienst, Politischer 364, 367 Gut 65, 74, 85, 92, 101f., 123, 127f., 132, 185, 189, 191, 193, 198f., 201, 203, 205, 211, 228, 232, 318 Gütergemeinschaft 182f., 185f., 194–198, 200, 203, 205 Haltung (habitus) 7, 16, 40, 59, 66f., 73, 85, 107, 109, 111f., 124, 255, 272, 280, 290, 339f., 374 Handlung 15, 61f., 66, 70, 77, 109, 150, 168, 170, 221, 256, 362 Heiligung (sanctificatio) 5, 9, 33, 46, 56–60, 70f., 98–101, 105– 108, 110, 133, 147f., 151, 166, 201, 290, 339, 356, 370, 375f., 378–381, 398, 400 Heilsökonomie 101, 103 Hermeneutik 3, 17, 20f., 27, 29, 34, 216, 225, 232, 264, 270, 301, 306, 316f., 387 Herrschaftskritik 263, 295f., 298, 301f., 307, 336, 340–342 Heteronomie 118, 158 Hoffnung (spes) 17, 33, 37f., 73, 95, 141, 145f., 161, 174, 256f., 289, 381 Humanität, Humanisierung 48, 94, 108, 174f., 179, 366, 378, 390– 392, 394–396 Identität 108, 220, 251, 317, 362, 371–373 Indikativ und Imperativ 373–375, 377f. imitatio Christi 101, 132, 146, 149, 151

420 Institution 135, 212f., 224, 232, 260, 293, 308f., 313, 325, 334, 341, 346, 393 Israel 33f., 311, 316, 334, 388 Kapitalismus 173, 180–183, 190, 203f., 206–208, 212, 216, 386, 393, 400 Kasuistik 183, 207 Kind Gottes 140, 146 Kirche 1, 2, 5–8, 10, 12f., 15–17, 20, 22f., 25f., 28–32, 34–37, 48, 78, 82f., 95, 171, 179, 189, 194, 205, 214, 216–223, 225, 231f., 240, 248, 251, 263, 265, 278, 281, 283, 285, 287–293, 297, 301, 303, 305, 307–313, 316– 320, 325–327, 333, 335f., 340f., 343–345, 350–352, 354f., 357– 361, 363–368, 384f., 387, 389f., 390, 399f. Kirchenordnung 18, 310, 312, 351f., 354, 359 Königsherrschaft Christi 205, 288, 344f., 347–349, 355, 359, 368, 381–384, 386, 388, 398–400 Kommunismus 182, 188f., 203, 373 − Liebeskommunismus 186, 202, 205 − urchristlicher K. 180, 182f., 185f., 205 Konfession 2, 5, 7f., 14, 17, 19f., 22f., 31, 34, 238, 263, 290, 333, 342, 345, 349, 355, 360f., 370f., 387, 400 Konfessionalismus 13, 17, 31 Konfessionalität 14, 31 Konfessionelle Identität 1, 31 Konfessionelles Zeitalter 342 Konstantinismus 263 Kontext, Kontextualität 26–28, 30 Kreuz Christi 36, 42, 118, 144f., 297, 380 Kultur 5, 10, 28, 40, 87, 117, 181, 224, 240f., 250, 289f., 360, 370– 372, 389, 393, 399 Kulturprotestantismus 356, 393 Leben, christliches (vita christiana) 56, 74, 76, 96–100, 105, 107,

Sachregister

110, 114, 123, 135, 142, 189, 370, 380, 388 Lebendigmachung (vivificatio) 105, 108 Leib 42, 51, 57, 73, 109, 119, 123– 126, 129, 131, 133, 203, 317, 319, 323f., 351 Leidenschaft 44, 55, 84 Leistung 73, 95, 112, 193, 397 Lernen 7, 51–53, 61, 69, 84, 86, 112, 128, 149, 153, 228, 236, 266, 283, 287, 301, 326 Liberal, Liberalismus 270–272, 278, 346, 393 Libertiner, Libertines 193–198, 203 Liberale Theologie 14f., 155, 233, 237, 251f., 255, 259, 261, 266, 268f., 279, 331, 356 Liebe 24f., 29, 44, 47, 54, 68, 77, 100, 111f., 123, 127, 139, 149f., 157, 164f., 168, 174, 176f., 186f., 191, 196, 205, 243, 251, 253f., 257f., 268f., 274–278, 285, 295, 304, 306, 392f., 396 − Nächstenliebe (caritas) 73, 76f., 112, 125, 130, 167, 193, 196, 198f., 396 − Liebesperfektionismus 270 Mammon, Mammondienst 202, 216, 222, 224–227, 229 Mäßigung (temperantia) 76, 79, 124, 133, 198, 307 Maxime 21, 161, 176f., 234, 284, 367, 389, 391, 393, 396, 397 meditatio futurae vitae 94, 105, 380f. Mensch 5, 22, 30, 33f., 38, 40f., 44, 46–50, 57f., 65, 67–70, 73f., 76f., 79, 81, 83, 85–100, 104– 112, 121–125, 127f., 130f., 134, 136–139, 145f., 148, 152–160, 165, 169f., 172f., 175f., 180, 186f., 189f., 196, 203, 205, 211, 226, 230–232, 234, 239, 249, 251, 258, 261, 269, 274, 278f., 297, 304, 307, 311, 318, 358f., 366, 374f., 378–380, 389, 392, 394

Sachregister

− äußerer M. 119f., 124, 126, 165, 168 − innerer M. 50, 119f., 124–126, 133, 135, 142, 148, 165, 168 − neuer M. 44, 47–50, 52–55, 59– 63, 98, 103, 108, 377f. − Menschwerdung 49–51, 55, 59f., 328 mesotes 79, 85, 190 Mimetische Praxis 125, 128, 159 Mittelalter 73, 76, 82, 114, 148f., 170, 279, 297f., 310, 355 Mittlere Axiome 176 Moral, Moralität 1, 45–47, 49, 51f., 63f., 66f., 70, 77, 120, 152f., 159, 188, 197, 200, 210f., 213, 224f., 228, 239, 247, 249, 251f., 255, 257, 266–269, 271–273, 275, 305, 361, 370, 399 mortificatio (Absterben des alten Menschen) 47, 50, 57, 62, 105, 108 Nachahmung (imitatio) 101, 114, 118, 128–132, 138, 141, 144– 146, 149–151, 153f., 156, 159, 182, 292, 339, 379 Nachfolge 128, 130f., 141, 144f., 149f., 203, 263, 285, 297, 339, 374, 380, 386, 389, 392, 399 Natürliche Theologie 241, 359 Naturrecht 167, 365 Neoaristotelismus 1, 44, 239 Neocalvinismus 349, 356 Neologie 152, 292, 339 Neutralität, weltanschauliche 346, 349, 352, 358, 369 Neuzeit 12f., 114f., 117f., 120, 151– 154, 158f., 164, 181, 193, 245f., 291, 343, 346, 348, 386–388 Nikodemiten, Nikodemitentum 326 Norm 32, 65, 71, 161f., 172–177, 205, 253, 269f., 273–277, 280, 306, 365, 373, 378 Normkritik 177, 273, 396 Obrigkeit 166f., 172, 283, 295f., 298, 301, 308, 332f., 344f., 351– 353, 357–360, 362, 365, 385, 387, 392

421 Offenbarung (revelatio) 201, 311, 316f., 323f., 329, 337f., 360, 365f., 373–375, 385 Öffentlichkeit 30, 83, 91, 136f., 204, 209–211, 247f., 264, 280f., 293, 296f., 305, 308, 310f., 317, 324–326, 332, 347, 349, 353, 361, 380, 384, 387 Ökologie 210, 215, 226, 230, 384, 389, 397 Ökonomie 15, 27, 177, 202, 209, 212, 225–233, 246, 251, 272, 299, 334, 389, 394, 399 Ökumene 2, 7, 17, 27, 29, 148, 163, 214, 238, 262, 284, 292 Ordnung, Ordnungen 72, 88, 99, 138, 155, 169, 172, 177, 188, 191, 194, 200, 202f., 205, 213, 239f., 248, 261, 309, 324, 346, 354, 361, 385, 391, 393–396, 398 Ordnungstheologie 188, 261, 394 Orthodoxie 292, 320f., 329–333, 338, 341f., 356 − Orthodoxie, altprotestantische 320f. − Neoorthodoxie 12, 159f., 237 − generous orthodoxy 160 Partizipation 175, 324, 380, 396 Pazifismus 237, 241, 245, 254f., 260–263, 266, 268–273, 277– 280, 282, 284, 393 peregrinatio 189 perfectio 58, 77, 82, 92, 95f., 102, 317 Pflicht 38, 40, 42–44, 65f., 75, 142f., 146, 148, 150, 169, 187, 203, 230, 300, 306, 353 Philosophie 44, 48, 66, 69, 74, 81, 95, 99, 117, 158f., 162, 190, 193, 330, 346, 374, 378, 383 Pietismus 278, 334f., 337, 339, 341f. Poiesis 251, 261 Politik 5, 10f., 64, 116, 169, 171, 213, 215, 221, 253, 255, 261– 263, 267, 273, 285, 333, 351, 364, 366f., 385–387, 399 Politische Theologie 387f. Prädestination 6, 184, 207

422 processus confessionis 214–216, 218f., 224f., 231f. progressus 56, 58, 105 Prophet 15, 21, 32, 152, 196, 288– 334, 337–342, 379 Puritanismus 184, 207f., 344 Rationalisierung 190 Realism, Christian 249f., 252, 258, 266 Recht 75, 84, 90, 117, 139, 144, 166f., 196, 203, 212, 240, 242f., 247–249, 257, 260–262, 289, 295–297, 308, 333, 352, 359, 361, 364, 366–369, 386, 391, 393, 395 Rechtfertigung 7, 24, 46, 49, 57f., 67, 69, 82, 87, 100, 105f., 111, 115, 121, 132, 147f., 164, 166, 211, 370, 375, 377–380, 395, 398, 400 Reformation 5–8, 10-13, 21f., 35, 72, 114f, 117f., 133f., 159, 165, 169, 193, 263, 291, 293f., 297, 302, 304, 310, 315, 321, 326, 341f., 351, 356, 364, 370, 385, 393 − reformatio doctrinae 8, 370 − reformatio vitae 5, 105, 370 − reformierte R. 5, 161, 298, 378 Reformierter Protestantismus 8, 10f., 14f., 28f., 133, 236, 290, 293, 302, 342f., 346, 368, 370– 372, 398 Reich Gottes 5, 171, 177–179, 251, 267, 279f., 334, 380f., 383–386, 388f., 391, 393f., 398, 400 Relational, Relationalität 175, 395 Sakrament 76, 131f., 141f., 152, 311, 324–326 − sacramentum et exemplum 129– 131, 142, 151 Säkularisierung 333, 346, 347f., 360, 362–365, 369 Säkularität 363, 367, 394 Schöpfung 41, 50, 93, 216, 226, 228, 329, 330, 380 Schöpfungsordnung 239–241, 243–246, 248, 261, 357, 376, 394

Sachregister

Schrift, Heilige (sacra scriptura) 22, 24f., 231, 304, 307 − Schriftverständnis 17, 24, 34– 36, 315 − sola scriptura 21 − Vorbehalt besserer Einsicht in die H.S. 24f. Selbst, Selbstbilder 17, 119, 123, 125, 127, 140, 145, 156, 158, 277, 279 Selbstverleugnung (sui abnegatio) 76, 78f., 105, 141, 144, 375, 380 Social Gospel 251, 259, 267, 269, 272, 381 Soteriologie 45f., 144, 228, 314, 327f. Sozialismus 43, 173, 204, 268, 393 − religiöser S. 162, 164f., 237, 245, 298, 381, 390, 393, Staat (res publica) 10, 53f., 73, 164, 167, 169, 172, 195f., 201, 204, 240, 242–244, 246, 248f., 263, 265, 279, 297, 308, 332f., 343–352, 354–369, 385–387, 394f., 399 status confessionis 15, 209–219, 221, 223, 230f., 235 status oeconomicus 230f., 234 Stoa, stoische Philosophie 44, 51 Streben 40, 65, 70, 79, 95, 106, 135, 165, 204, 206, 375 Subjekt 37, 46–48, 52, 58, 62, 97, 99, 101, 107–109, 112, 115, 151, 246, 256, 320, 377f., 387 syllogismus practicus 9, 41f., 184, 207 Täufer, Täufertum 194f., 201, 203, 263f., 278, 285, 301 Telos, Teleologie 46, 49, 59, 94f., 317 Theokratie 15, 343, 345–350, 353– 355, 359–362, 366, 368, 369, 373, 386f., 398f. Theozentrik 89, 92 Theologie der Hoffnung 383f. Theologie der Revolution 163, 170 Theologie des Wortes Gottes 12f., 154, 244, 384

Sachregister

tolerantia crucis („Tragen des Kreuzes“) 105, 297 transitus 58 Tradition 1–5, 7, 12, 16–18, 20–22, 25,f., 31, 35f., 40, 73, 77, 92, 119, 132, 156, 158, 190, 194, 215, 220, 234, 238f., 244, 246, 259, 267, 272, 274f., 282, 290– 293, 300, 309, 342, 363, 368f., 371–375 Trinität, trinitarisch 22, 63, 101, 103, 111, 143, 248, 331, 374, 384, 395 Tugend (virtus) 14, 64–92, 96–99, 101–112, 144, 186, 190, 208 − ethische T. 73, 85, 190 − dianoetische T. 73, 85 − Kardinaltugenden 73 − theologische T. (Glaube, Liebe, Hoffnung) 73f., 111, 173f., 179, 364, 390f., 395f. − Tugendkatalog 74, 76 − Tugendlehre 70f., 74, 82, 85, 95, 99, 110f. unio cum Christo 71, 98, 101, 104, 106, 112 Universalität 28f., 34, 65, 243, 347, 357, 361, 381, 384, 387f., 399 Urgemeinde 182, 185f., 192–194, 199–203, 280 Urteilen 2, 62, 109, 220–222, 225, 276, 289 − ethisches U. 2, 62, 109, 220f., 225, 276, 289 − politisches U. 220–222, 225 usus legis 9, 33, 53f., 58, 100, 123, 148, 200, 296, 304, 379 − usus elenchticus 53, 200, 296, 304 − usus politicus 53, 200 − usus in renatis 9, 33, 54, 148, 200, 379

423 Verantwortung 2, 171, 173, 179, 191, 213, 246f., 264, 274f., 279, 281, 284f., 295, 347, 385, 399f. Vernunft (ratio) 44, 69f., 85, 95, 152, 253, 347, 375, 395f. Versöhnung 29, 36f., 100, 144f., 248, 283, 374, 379, 394 Völkerbund 242, 249, 256, 260f. Völkerrecht 212, 242, 256, 259–262 Vollkommenheit 45, 57f., 73, 77, 92, 95–97, 99, 102, 106, 112, 152f., 166, 269, 318, 321, 323f., 338 Weltkrieg, Erster 4, 15, 236–239, 241, 244–247, 249f., 252, 255, 258–260, 271f. Weltkrieg, Zweiter 249, 261f., 266, 270, 273 Werke, gute 45, 51, 56, 121–125 Wiedergeburt 33, 96–98, 100, 107f., 112 Wirkungsgeschichte 120, 181, 236, 293, 387 Widerstand 166, 210, 217, 224, 264, 266, 269, 272, 381, 386f. Wirtschaft 5, 10, 161, 169, 189, 191, 202, 204–206, 210, 212f., 215–219, 223f., 229, 231–233, 235, 240f., 333, 389, 393 − Marktwirtschaft 161, 173, 190, 212, 234, 389, 397 − Planwirtschaft 161, 173, 190, 216, 389 Ziel 5, 40, 47, 57, 65f., 69, 71, 90, 92–96, 98f., 106, 117, 221, 236, 262, 316f., 319, 360, 365, 368, 375 Zweireiche-Lehre 120, 163, 171f., 285, 348, 351, 355, 359, 368, 376, 382, 392

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