Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 9783666559105, 9783525559109, 9783647559100

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Pietismus und Neuzeit Band 38 - 2012: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus
 9783666559105, 9783525559109, 9783647559100

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© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

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PIETISMUS UND NEUZEIT EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE DES NEUEREN PROTESTANTISMUS Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Rudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Manfred Jakubowski-Tiessen, Anne Lagny, Fred van Lieburg, Hans Schneider, Christian Soboth, Udo Sträter, Jonathan Strom und Johannes Wallmann Band 38 – 2012

VANDENHOECK & RUPRECHT

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Geschäftsführender Herausgeber Prof. Dr. Udo Sträter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale Redaktion PD Dr. Christian Soboth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale Anschriften der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Veronika Albrecht-Birkner, Universität Siegen, Fakultät 1/ Ev. Theologie, Adolf-ReichweinStr. 2, 57068 Siegen • Prof. Dr. Craig D. Atwood, Moravian Theological Seminary, 60 Locust Str., USABethlehem, PA 18018 • Prof. em. Dr. Rudolf Dellsperger, Tulpenweg 110, CH-3098 Köniz • Prof. em. Dr. Jörg-Ulrich Fechner, M. Litt. Cantab., Ruhr-Universität-Bochum, Fakultät für Philologie, Germanistisches Institut, 44780 Bochum • Dr. Andrew Z. Hansen, University of Notre Dame, Departement of History, 219 O’Shaughnessy, USA-Notre Dame, IN 46556 • Dr. Kenichi Hasegawa, Osaka City University, Graduate School of Literature and Human Sciences, 3–3–138 Sugimoto, Sumiyoshi-Ku, OsakaShi, 558–8585 Japan • Hiromi Kora, M. A., Hinterweg 21, 07749 Jena • Prof. Dr. Lothar van Laak, Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, PF 100131, 33501 Bielefeld • Prof. Dr. Fred van Lieburg, Vrije Universiteit Amsterdam, Faculteit der Letteren, De Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam • Pfr. i.R. Dr. Reinhard Lieske, Marienstr. 18, 37073 Göttingen • Dr. Georg Neugebauer, Universität Leipzig, Theologische Fakultät, Institut für Systematische Theologie, Martin-LutherRing 3, 04109 Leipzig • Dr. Alexander Pyrges, German Historical Institute Washington DC, 1607 New Hampshire Ave NW, USA-Washington DC 20009–2562 • PD Dr. Gesine Lenore Schiewer, Universität Bern, Institut für Germanistik, Unitobler Länggassstr. 49, CH-3000 Bern 9 • Prof. Dr. Pia Schmid, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale • Dr. Malte van Spankeren, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Evangelisch-Theologische Fakultät, Seminar für Kirchengeschichte II, Universitätsstr. 13–17, 48143 Münster • PD Dr. Friedemann Stengel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Theologische Fakultät, Kirchen- und Dogmengeschichte, Franckeplatz 1, Haus 30, 06110 Halle/Saale • Prof. em. Dr. Volker Stolle, Wallstadter Str. 52, 068259 Mannheim • Prof. Dr. Jonathan Strom, Emory University, Candler School of Theology, 1531 Dickey Drive, USA-Atlanta, GA 30322 • Pfr. Dr. Frank Stückemann, Kirchstr. 2, 59494 Soest-Meiningsen • Prof. em. Dr. Dr. h.c. Johannes Wallmann, Oranienburger Str. 22, 10178 Berlin

Mit 11 Abb. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-55910-9 ISBN 978-3-647-55910-0 (E-Book) © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz, Druck und Bindung: H Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort Der neue Band des Jahrbuchs schreitet historisch die Spanne vom späten 17. bis ins frühe 20. Jahrhundert aus, von Philipp Jakob Spener bis zu Hermann Hesse. Den Anfang macht Johannes Wallmanns umfängliche Darstellung seiner Tätigkeit als Herausgeber der kritischen Edition der Spenerbriefe. Bei diesem seit 25 Jahren währenden Projekt, das zunächst von der DFG, nunmehr und für die kommenden 15 Jahre von der Sächsischen Akademie der Wissenschaften getragen wird und nach den Anfängen in Bochum und dann in Berlin nun in Halle in den Räumen des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung angesiedelt ist, handelt es sich um einen editionswissenschaftlichen Meilenstein. Von dieser Arbeit profitiert nicht nur die Kirchengeschichtsschreibung, insbesondere die Pietismusforschung, sondern die gesamte Frühneuzeitforschung. Andere Beiträge beschäftigen sich mit einem an Johann Arndts Wahrem Christentum orientierten Bildprogramm aus der Kirche von Steigra im heutigen Sachsen-Anhalt. Darüber hinaus werden aus unterschiedlicher disziplinärer Perspektive sprachliche und ‚sprechliche‘ Besonderheiten in Textsorten im Radikalen Pietismus untersucht und die Herrnhuter Lebensläufe als erziehungshistorische Quelle gelesen. Georg Christian Knapp, Kondirektor August Hermann Niemeyers am Halleschen Waisenhaus, steht in einem weiteren Beitrag als möglicherweise letzter Hallescher Pietist zur Diskussion. Prominent vertreten ist die Forschung zur Erweckungsbewegung des späten 18. und des frühen 19. Jahrhunderts mit drei Studien zu Minden-Ravensberg, zu Jüterbog und Bentheim. Zwei weitere Beiträge bestimmen das Verhältnis von Literatur und Frömmigkeit bzw. von Literatur und religiöser Sozialisation am Verhältnis von Matthias Claudius zu Paul Gerhardt und bei Hermann Hesse. Eine bibliographische Besonderheit in diesem Band sei eigens hervorgehoben: Ergänzend zur üblichen Pietismus-Bibliographie liefert der vorliegende Band eine gesonderte Bibliographie zur Pietismusforschung in Japan vornehmlich seit den 1970er Jahren, die von Hiromi Kora, Stipendiatin am Laboratorium Aufklärung der Friedrich-Schiller-Universität Jena, und Kenichi Hasegawa von der Graduate School of Literature and Human Science der Osaka City University erarbeitet worden ist. Rezensionen und Register runden den Band ab. Für die Herausgeber: Udo Sträter

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Inhalt Beiträge Johannes Wallmann: Zur Edition der Briefe Philipp Jakob Speners . . .

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Reinhard Lieske: Sonderbare Bilder in der evangelischen Kirche von Steigra. Ein emblematischer Bilderzyklus nach Bildmotiven aus Johann Arndts Wahrem Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gesine Lenore Schiewer: Emotionales Sprechen im Fokus pragmatischer Sprach- und Kulturgeschichte. Linguistische Varietäten in Alltag, religiöser Inspiration und Literatur in pietistischem Kontext . . . . . .

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Pia Schmid: Herrnhuter Lebensläufe (Moravian Memoirs) als erziehungshistorische Quelle betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Malte van Spankeren: Halles letzter Pietist?! Georg Christian Knapp (1753–1825) und das Doppeldirektorat der Franckeschen Stiftungen . . 136 Frank Stückemann: Missliebige Quellen: Die Erweckungsprediger Minden-Ravensbergs in der aufklärerischen Publizistik . . . . . . . . . 158 Volker Stolle: Zeitzeugnis aus der Erweckung in Jüterbog im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Fred van Lieburg: Die Bentheimer reformierte Fromme Geesjen Pamans (1731–1821). Ein Beitrag zur Genderforschung im Pietismus . . . . . . 194 Jörg-Ulrich Fechner: Matthias Claudius und Paul Gerhardt . . . . . . . 212 Rudolf Dellsperger: Von Schrenk zu Schrempf. Ein Beitrag zu Hermann Hesses religiösem Werdegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

Miszelle Johannes Wallmann: Warnung vor einem Phantom. Zu der These von den zwei Übersetzern Johannes Deusing . . . . . . . . . . . . . . . . 243

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Rezensionen Jan Harasimowicz: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Matthias Noller u. Magdalena Poradzisz-Cincio. Köln [u. a.]: Böhlau 2010 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte, 21): Veronika Albrecht-Birkner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Bettina Bannasch: Zwischen Jakobsleiter und Eselsbrücke. Das ‚bildende Bild‘ im Emblem- und Kinderbilderbuch des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen: V & R Unipress 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, 3): Lothar van Laak . . . . . . . . . . . . . . . 269 Geschichte des Pietismus. Band 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995: Malte van Spankeren . . . . . . . . . 271 Les piétismes à l’âge classique. Crise, conversion, institutions. Ed par Anne Lagny. Villeneuve-d’Ascq (Nord): Presses universitaires du Septentrion 2001 (Racines et Modèles): Rudolf Dellsperger . . . . . . . 278 Friedrich Breckling (1629–1711), Prediger, „Wahrheitszeuge“ und Vermittler des Pietismus im Niederländischen Exil. Hg. v. Brigitte Klosterberg u. Guido Naschert. Bearb. v. Mirjam-Juliane Pohl. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2011 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen, 11): Jonathan Strom . . . . . . . . . . . 284 J. Jürgen Seidel: Baron Carl Joseph von Campagne und die Gichtelianer in der Schweiz. Ein Beitrag zum Radikalpietismus im Zürcher Oberland. Zürich: Dreamis Verlag 2006: Malte van Spankeren . . . . . . . . . . 286 Pfarrherren, Dichterinnen, Forscher. Lebenszeugnisse einer Zürcher Familie des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Regine Schindler in Zusammenarbeit mit dem Johanna Spyri-Archiv, Zürich. Vier Bände mit Quellenedition auf CD-ROM bzw. auf www.pfarrherren.ch sowie ein Essayband. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Band 1: Regine Schindler: Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer (1797– 1876). Mit vier Stammbäumen zu den wichtigsten Personenkreisen. 2007. Band 2: Ruedi Graf: Die Tagebücher des Pfarrers Diethelm Schweizer (1751–1824). 2010. Band 3: Barbara Helbling: Jakob Christian Heusser (1826–1909). Briefe an die Familie. 2011. Band 4: Salome Schoeck: Johanna Spyri und die Familie Kappeler. Briefe. 2012: Rudolf Dellsperger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

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Toshio Ito: Kojitachi no Chichi Furanke. Ai no Fukushi to Kyôiku no Genten. [A.H. Francke, Waisenvater. Ursprung der Wohlfahrt und Erziehung]. Tokyo: Verlag Shueisha 2000: Hiromi Kora . . . . . . . . 291 Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700– 2000. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009: Malte van Spankeren 296 Truus Bouman-Komen: Bruderliebe und Feindeshaß. Eine Untersuchung von frühen Zinzendorftexten (1713–1727) in ihrem kirchengeschichtlichen Kontext. Hildesheim, New York: Georg Olms Verlag 2009 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Leben und Werk in Quellen und Darstellungen. Hg. v. Erich Beyreuther [u. a.]. Bd. XXXIII): Craig Atwood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. v. Dieter Ising. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010 (Edition Pietismustexte, 1). – 267 S. Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Untersuchung und Edition. Frankfurt/Main [u. a.]: Peter Lang 2010: Friedemann Stengel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Charlotte E. Haver: Von Salzburg nach Amerika. Mobilität und Kultur einer Gruppe religiöser Emigranten im 18. Jahrhundert. Paderborn [u. a.]: Schöningh 2011 (Studien zur Historischen Migrationsforschung, 21): Alexander Pyrges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Elizabeth A. Clark: Founding the Fathers: Early Church History and Protestant Professors in Nineteenth-Century America. Philadelphia, Oxford: University of Pennsylvania Press 2011: Andrew Z. Hansen . . . 311 Uwe Glatz: Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher. Theorie der Glaubenskonstitution. Stuttgart: Kohlhammer 2010 (zugleich Diss. Theol. Hochschule Neuendettelsau 2009): Georg Neugebauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Bibliographien Hiromi Kora und Kenichi Hasegawa: Pietismus-Bibliographie (Japan) . 319 Christian Soboth und Hans Goldenbaum: Pietismus-Bibliographie . . . 332 Register Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

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JOHANNES WALLMANN

Zur Edition der Briefe Philipp Jakob Speners Der Übergang des Projekts der Edition der Briefe Philipp Jakob Speners an die Sächsische Akademie der Wissenschaften ist Anlass und Verpflichtung, über die Entstehung und die Geschichte dieses Editionsprojekts Rechenschaft zu geben. Das Projekt wurde in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts an meinem kirchengeschichtlichen Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochum begonnen, an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin weitergeführt und insgesamt über 25 Jahre, vom Januar 1985 bis Ende 2010, von der DFG gefördert. Unter den kirchengeschichtlichen Editionsvorhaben der Frühen Neuzeit ist die Edition der Spenerbriefe eines der anspruchsvollsten. Im Unterschied zu anderen kirchengeschichtlichen Editionsvorhaben wie die Werke Martin Luthers, der Briefwechsel Philipp Melanchthons, die Werke Martin Bucers und die Werke Friedrich Schleiermachers wurden die Briefe Speners nicht von einer Kommission herausgegeben, deren Protokolle über Entstehung und Geschichte der Edition Auskunft geben. Die Ausgabe wurde von mir persönlich herausgegeben und von der DFG als Projekt Prof. Wallmann gefördert. Dass ich diese Edition nicht aus eigenem Willen und Interesse begonnen habe, sondern sie aus Überlegungen und im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hervorgegangen ist, geht aus meinem Vorwort zu Band 1 der Frankfurter Spenerbriefe hervor. Über diese Edition ist in den Jahren ihrer Entstehung und frühen Geschichte viel geschrieben und gestritten worden. Letzteres in teilweise purer Polemik, auf die ich nie geantwortet habe. An der heftigen Debatte um die Editionsprojekte der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, an der sich zwischen 1970 und 1980 zahlreiche Kirchenhistoriker und Historiker beteiligt haben, habe ich mich, auch wenn die Briefausgabe darin berührt wurde, bewusst nicht beteiligt, sondern mich zurückgehalten, um die Pläne der Pietismus-Kommission nicht zu gefährden. Die Kommission hat mir damals für meine Zurückhaltung ausdrücklich gedankt. Der Zeitpunkt der Übergabe dieser Edition in die Hände einer Akademie ist geeignet, sowohl gegenüber der Sächsischen Akademie der Wissenschaften wie gegenüber der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, nicht zuletzt denjenigen gegenüber, die in nächster Zukunft an diesem Editionsprojekt arbeiten, Rechenschaft über Anlass, Entstehung und Geschichte des Projekts zu geben. Deshalb nutze ich die Gelegenheit, die Arbeit an dieser Edition in andere Hände zu geben, zu diesem Bericht. Es ist eine wechselvolle Geschichte, die teilweise dramatische Phasen hat. In 10 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

der wissenschaftlichen Öffentlichkeit, selbst bei meinen früheren Mitarbeitern, gibt es Unklarheiten und Gerüchte über das Verhältnis des Projekts zur Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, einer kirchlichen Kommission, die paritätisch aus Wissenschaftlern und Vertretern der fördernden Kirchen zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung zusammengesetzt ist. Ich habe der Pietismus-Kommission als Korrespondierendes Mitglied lange Jahre angehört und in ihr eine wohl nicht unbedeutende Rolle gespielt, ehe ich nach einem Konflikt mit der seinerzeitigen Leitung im Jahr 1992 auszuscheiden gezwungen wurde. Dass ein von der Kirche angestoßenes Projekt, gewissermaßen in einem Akt der Säkularisierung, jetzt von einer Akademie weitergeführt wird, erfordert auch meiner Kirche gegenüber Rechenschaft, die ich mit folgendem Bericht geben will. Mein Ausscheiden aus der Pietismus-Kommission geschah vor zwanzig Jahren. Die Vorgänge, über die zu berichten ist, liegen großenteils dreißig Jahre und mehr im vergangenen Jahrhundert zurück. Sie können heute als verjährt gelten. Die Erinnerung an zwanzig Jahre und mehr zurückliegende Streitigkeiten wird keinen erneuten Streit verursachen. Die Mehrzahl der Hauptgestalten meines Berichts ist verstorben. Wie ich heute urteile, kann aus meinem Forschungsbericht über die letzten zwanzig Jahre Pietismusforschung in der Theologischen Rundschau (ThR 76, 2011, Heft 2 und 3) ersehen werden. Inzwischen stehe ich zur Pietismus-Kommission wieder in einem guten und freundschaftlichen Verhältnis. Bei der Feier meines achtzigsten Geburtstages in den Franckeschen Stiftungen im Mai 2010 in Halle, an der der damalige Vorsitzende der Pietismus-Kommission und die meisten ihrer wissenschaftlichen Mitglieder (abgesehen von einem, der vor der festlichen Feier demonstrativ abfuhr), teilnahmen, hat mir der Vorsitzende Christian Bunners in einem ausführlichen Glückwunschschreiben für meine mannigfaltigen Aktivitäten gedankt, vor allem für die kritische und konstruktive Teilnahme an vielen Sitzungen der Kommission. Dieses Schreiben hat mir wohlgetan und mein zwischenzeitlich getrübtes Verhältnis zur Pietismus-Kommission wieder in helleres Licht gerückt. Ich schreibe diesen Bericht in dankbarer Erinnerung an die für dieses Projekt geleistete Arbeit, in freundschaftlicher Verbundenheit mit den Mitherausgebern des Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“, mit denen ich in der Zeit meines Berichts problemlos zusammengearbeitet habe, und ohne jede Bitterkeit gegenüber der damaligen Leitung der Pietismus-Kommission, die mich aus der Kommission hinausgedrängt hat. Mancher wird tadeln, dass längst Vergangenes der Vergessenheit wieder entrissen wird. Aber von vielen Seiten, vor allem von ausländischen Kolleginnen und Kollegen, bin ich gebeten worden, nicht nur einen kurzen Bericht zu geben. Inzwischen forscht eine jüngere Generation in den Nachlässen der verstorbenen Mitglieder der Pietismus-Kommission.1 Der im vierten Band der 1

Vgl. Fred van Lieburg: Wege der niederländischen Pietismusforschung. In: PuN 37, 2011,

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Geschichte des Pietismus gegebene Bericht über Die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus lässt nichts von der spannungsreichen Geschichte der Kommission erkennen. Da ich mich nicht auf meine Erinnerung verlassen möchte, die gerade bei Dingen, die einen emotional bewegt haben, leicht Irrtümern und Fehlern unterliegt, gründe ich meinen Bericht durchgängig auf die Briefe meines Privatarchivs, die ich mit Datum, Angabe des Absenders und Adressaten sowie mit in Anführungszeichen gesetzten Zitaten anführe. Auch wo ich nicht zitiere, gebe ich wieder, was ich in den Akten gefunden habe. Das meiste hatte ich selbst vergessen. Auf Ergänzungen aus der Erinnerung, die mir beim Studium der Briefe in den Sinn gekommen sind, habe ich bewusst verzichtet. Aus einer ersten, der Redaktion dieses Jahrbuchs bereits eingereichten, sehr viel umfangreicheren Fassung meines Berichts habe ich aus dem Abstand, den ich bei einem vierteljährigen Aufenthalt als visiting professor an der DukeUniversity in North Carolina gewonnen hatte, nach meiner Rückkehr aus Amerika ein Drittel, in dem ich einzelnes aus den mit der Spenerbriefedition zusammenhängenden Querelen dokumentiert habe, wieder herausgestrichen. Ich überlasse es der künftigen Generation, falls sie sich für die Arbeiten und Streitigkeiten innerhalb der Pietismusforschung interessiert, weiteres aus meinem Briefarchiv zu nehmen. * Bis zum 32. Jahr meines Lebens habe ich keine schriftlichen Unterlagen. Da ich im Herbst 1961 bei meiner Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik alles zurücklassen musste, habe ich keine Bücher, Briefe, Tagebücher und Zeugnisse aus den früheren Jahren mehr. Über die erste Hälfte meines Lebens kann ich nur aus meiner Erinnerung berichten. Ein nach einem Besuch in Naumburg an die Bibliothek des Katechetischen Oberseminars gerichteter Brief vom 13. März 1961 mit bibliographischen Korrekturen zum Katalog, den Frau Dr. Klosterberg, Leiterin des Archivs und der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle, in den von Naumburg nach Halle überkommenen Beständen fand und mir zugänglich machte, ist der einzige schriftliche Beleg von mir aus der Zeit vor meiner Flucht. Seit Herbst 1961 habe ich Briefe wesentlichen Inhalts, vor allem den gedanklichen Austausch mit Kollegen, sorgsam aufgehoben. In meinem Briefarchiv befinden sich viele Briefe, die die Pietismus-Kommission betreffen, darunter eine große Zahl von Briefen, die mir der langjährige kommissarische Vorsitzende der Pietismus-Kommission Oskar Söhngen schrieb. Ich hoffe, dass mein Bericht einiges an Erkenntniswert für die neuere deutsche Pietismusforschung enthält.

211–256, hier 242–244. Frau Albrecht-Birkner, die im Nachlass von J. F. G. Goeters in Düsseldorf den Durchschlag eines mit Schreibmaschine geschriebenen Briefs an mich fand, habe ich darauf hingewiesen, daß die meisten Briefe nicht im Nachlass liegen, weil Goeters an mich handschriftlich schrieb.

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Grund meiner Flucht aus der DDR war gewesen, dass ich, der ich nach in 1953 bis 1955 in Tübingen bei Hanns Rückert und Gerhard Ebeling verbrachten Studienjahren in die DDR zurückgekehrt war und in meiner Heimatkirche Provinz Sachsen ins Pfarramt gehen wollte, nach meinem 1. theologischen Examen an die Kirchliche Hochschule Berlin als Assistent geholt wurde, zur Promotion und anschließend von meinen Lehrern in Tübingen und Berlin zur Habilitation aufgefordert wurde,2 aber weder im universitären noch im kirchlichen Raum eine Zukunft hatte. Deshalb gab mir mein Magdeburger Landesbischof Jänicke die Erlaubnis, zum 1. Januar 1962 eine Stelle bei der Weimarer Lutherausgabe in Tübingen anzunehmen. Der Bau der Mauer am 13. August 1961 kam dazwischen. Das machte die Flucht nötig. Gerettet hatte ich eine Schrift über den Theologiebegriff Philipp Jakob Speners, eine Fortsetzung meiner in der Doktorarbeit begonnenen Studien über den altprotestantischen Theologiebegriff. Mit dieser Schrift wollte ich mich ursprünglich im Osten für das kirchliche Lehramt habilitieren. In Tübingen in die Kreise junger Kirchenhistoriker um Klaus Scholder und Richard Toellner aufgenommen, merkte ich bald, dass von einem Schüler Gerhard Ebelings, der sich für Kirchengeschichte habilitieren wollte, mehr verlangt wurde als Kompetenz in der Hermeneutik. Ich legte meine Arbeit über den Theologiebegriff Speners, die sich noch in meinem Besitz befindet, beiseite und begann ein gründliches Erforschen der Anfänge Speners durch Besuch von Bibliotheken und Archiven im Elsass und Süddeutschland. Nach der Habilitation hatte ich keineswegs die Absicht, weiter in der Erforschung des Pietismus tätig zu sein. Wie ich zuvor in meiner Dissertation der lutherischen Orthodoxie nachgegangen war, wollte ich nach der Beschäftigung mit Spener mich der Zeit der Aufklärung zuwenden, wofür ein später angefertigter Aufsatz über Johann Salomon Semler zeugt.3 Dann sollte die deutsche Klassik, vor allem der von mir geliebte Schleiermacher, über den ich in meiner Tübinger Studienzeit eine große, noch in meinem Archiv vorhandene Arbeit geschrieben habe, daran kommen. Aufgefordert von dem mit mir befreundeten Herderforscher HansDietrich Irmscher habe ich mich 1981 bereit erklärt, in der vom Deutschen Klassiker Verlag besorgten Herderausgabe den Band mit den theologischen Schriften Johann Gottfried Herders herauszugeben. Erst als die an mich von kirchlicher Seite herangetragene Herausgabe der Briefe Philipp Jakob Speners meine Arbeitskraft so beanspruchte, dass neben meiner Hochschullehrertätigkeit eine zweite Editionsarbeit nicht möglich war, habe ich mich 1989 aus dem

2 Dass ich nicht aus eigener Initiative meine Zukunft nicht im Pfarramt, sondern in der wissenschaftlichen Arbeit suchte, was schließlich zur Flucht aus der DDR führte, bezeugt der Brief des Ephorus der Kirchlichen Hochschule Martin Fischer an Gerhard Ebeling vom 11.12.1954, den Albrecht Beutel im Nachlass Ebelings fand und mir freundlicherweise zu Verfügung stellte. 3 Vgl. das Schriftenverzeichnis von Johannes Wallmann in: PuN 21, 1995 (FS Johannes Wallmann), 11–19, hier 12.

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lukrativen Editionsunternehmen des Klassikerverlags zurückgezogen. In Band 1 der Herderausgabe des Klassikerverlags ist mein Name als Herausgeber des Bandes der theologischen Schriften Herders noch heute angegeben. Wenige Jahre vor Erscheinen meiner Habilitationsschrift Spener und die Anfänge des Pietismus (1970) war 1964 die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus gegründet worden. Martin Schmidt, bei dem ich in frühen Semestern an der Kirchlichen Hochschule Berlin-Zehlendorf studiert hatte, und Kurt Aland, der mich von der Prüfung im Fach Kirchengeschichte im 1. theologischen Examen in Halle kannte, standen an ihrer Spitze. Als ich 1961 aus der DDR in die Bundesrepublik kam, meinte ich feststellen zu müssen, dass die nicht wenigen jüngeren Kirchenhistoriker, die sich mit dem Pietismus beschäftigten, mit Kritik an Albrecht Ritschl, dem Vater der Pietismusforschung, nicht zurückhielten, dass sie aber aus Sorge um ihre Karriere sich davor scheuten, an den Koryphäen des Fachs Kirchengeschichte Kritik zu üben. Durchgängig gingen sie daran vorbei, dass Schmidt und Aland, die führenden Spenerforscher nach dem Zweiten Weltkrieg, völlig konträre Auffassungen von Spener vertraten. Ich stand, als ich in die Bundesrepublik kam, unter der mich schockierenden Erfahrung, dass meine frühesten zum Druck gegebenen Texte, Auslegungen alttestamentlicher Worte in Andachten, die ich für den Kalender des Buckhardthauses Halt uns bei festem Glauben geschrieben hatte, als sie im Druck erschienen, von mir nicht wiedererkannt werden konnten. Sie waren ohne mein Wissen so verändert worden, dass niemand mehr bei der Trennung von Juda und Israel an die deutsche Teilung denken konnte, für die ich in der Bibel eine Parallele fand. Für einen jungen Menschen ist es niederschmetternd, wenn er seine ersten zum Druck gegebenen Texte nicht als sein eigenes geistiges Produkt anerkennen kann. Ich schäme mich meiner literarischen Anfänge als Erbauungsschriftsteller nicht, habe aber wegen der Veränderungen durch die Zensur diese Andachten, die ich nicht nur ein Jahr für den Kalender Halt uns bei festem Glauben schrieb, nicht in meine Bibliographie aufgenommen. Erst spät habe ich durch die Forschungen Siegfried Bräuers erkannt, dass es nicht die staatliche Zensur des Unrechtstaats DDR, wie ich glaubte, sondern die innerkirchliche Zensur gewesen war, die im vorauslaufenden Gehorsam gegenüber den Mächtigen meine Texte bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte. Nach dem Übergang in die Bundesrepublik empfand ich die mir eröffnete Druckfreiheit als ein Geschenk und eine Befreiung, die ich mir nicht aus Angst um meine Karriere einschränken lassen wollte. Bereits in der Festschrift für meinen Tübinger Lehrer Hanns Rückert wies ich 1966 auf die unzulängliche Spenerauffassung bei Kurt Aland und Martin Schmidt hin. In meiner 1968 eingereichten Tübinger Habilitationsschrift erlaubte ich mir, für einen Anfänger vielleicht etwas reichlich, Kritik an den Koryphäen des Fachs, für das ich mich habilitieren wollte. Kurt Aland wies ich die Unzulänglichkeit seiner vor dem Krieg mit Kurt Dietrich Schmidt geführten Auseinandersetzung über den Einfluss Jean de Labadies auf die Pia Desideria Speners nach, die in der Kirchenge14 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

schichtswissenschaft allgemein als gültig angesehen wurde,4 und zeigte gegen ihn, der Speners Reformprogramm aus der lutherischen Orthodoxie herleitete, dass die Eigenart Speners nicht aus der Übereinstimmung mit seinem Straßburger orthodoxen Lehrer Dannhauer, sondern aus der Differenz zu ihm zu bestimmen sei. Gegen Martin Schmidt, der die Eigenart Speners in seiner von dem mystischen Spiritualisten Christian Hoburg beeinflussten, die lutherische Rechtfertigung verdrängenden Wiedergeburtstheologie erblickte, sah ich Spener theologisch nicht im Gegensatz zur Orthodoxie, sondern in Übereinstimmung mit ihr. Ich erblickte seine Eigenart in der zur orthodoxen Bemühung um Besserung des gemeinen Wesens durch Kirchenzucht in Gegensatz tretenden Zuwendung zur Sammlung und Förderung der Frommen (ecclesiola in ecclesia). Hanns Rückert in Tübingen wollte meine Habilitationsschrift in die „Arbeiten zur Kirchengeschichte“ aufnehmen, machte mich aber darauf aufmerksam, dass mit Rücksicht auf den Mitherausgeber Kurt Aland einige Änderungen nötig wären. „Ich meine natürlich nicht, dass Sie auch nur an einer einzigen Stelle sachliche Kritik unterdrücken sollten; es handelt sich nur darum, ob Sie sich entschließen könnten, eine Fassung zu finden, die so wenig wie nötig verletzt. Das wäre die Voraussetzung dafür, dass ich an Aland das Ansinnen stellen könnte, der Aufnahme der Arbeit in die Reihe zuzustimmen bzw. sie zu tolerieren“, schrieb mir Rückert am 15. Januar 1968. „Ich halte es aber für meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Arbeit, so wie sie ist, überall anderswo unterbringen können, also auf unsere Reihe nicht angewiesen sind.“ Zum Glück erklärte sich Gerhard Ebeling, der bereits meine Dissertation über den Theologiebegriff Johann Gerhards gedruckt hatte, zur Aufnahme in die „Beiträge zur Historischen Theologie“ bereit. So brauchte ich keine Änderungen vorzunehmen. Als mein Buch Spener und die Anfänge des Pietismus 1970 im Druck erschien, bekam ich von allen Seiten begeisterten Widerhall und Zustimmung. Ein Meisterwerk und ein entscheidender Wendepunkt in der Pietismusforschung wurde es von den Rezensenten genannt. Ernst Wolf urteilte, es gehöre zum Besten, was in der Theologie geschrieben worden sei. Heinrich Bornkamm schrieb mir: „Es ist ein beträchtlicher Fortschritt in der Forschung, daß Sie ein so solides Fundament für die Anfänge Speners und seines Werkes gelegt haben. Sie haben mit glücklicher Hand dabei auch eine überraschende Menge von neuem Material beigebracht und vieles zurecht gerückt, was in der Forschung nicht stimmte [. . .] besonders hat mich Ihre Darstellung von Johann Jakob Schütz interessiert. Er steht seit langer Zeit bei mir auf einem Zettel für Disser4 Werner Bellardi, der als letzter die im Krieg verbrannten Frankfurter Archivbestände in seiner von mir wieder aufgefundenen Breslauer Dissertation benutzt hat, sagte mir später, er hätte die Unzulänglichkeit der Argumentation Alands sofort nach Erscheinen gesehen, wäre aber durch den Krieg gehindert worden, darauf einzugehen. Darauf bezieht sich meine Äußerung über durch den Krieg entstandene Verzerrungen in der Spenerforschung im Vorwort zum Druck von Bellardis Dissertation.

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tationsthemen [. . .]. Ich hatte einen Mann auch einmal auf die Spur gesetzt. Er hat aber in Frankfurt kein wesentliches Material mehr gefunden [. . .].“ Verhaltener waren die Reaktionen von Martin Schmidt und Kurt Aland. An ihnen konnte ich lernen, wie sehr Forscher, in deren eigenes Forschungsgebiet man eindringt, in erster Linie auf Übereinstimmung und Differenz zu den eigenen Ansichten blicken. Martin Schmidt sah nur die Kritik, die ich an ihm übte und urteilte über mein Buch, in dem ich eingehend Speners Werdegang in der Straßburger Orthodoxie darstellte, ich schlösse mich weithin dem Spenerbild Alands an. Aland sah wiederum nur die an ihm geübte Kritik und erblickte in mir einen Verfechter des Spenerbildes von Martin Schmidt. In der Reaktion auf mein Spenerbuch haben Schmidt und Aland erstmals zu erkennen gegeben, dass sie gegensätzliche Auffassungen von den Anfängen des Pietismus hatten. Aland hat mir meine an ihm geübte Kritik nie verziehen. In seiner burschikosen Art erklärte er seinen Münsteraner Mitarbeitern, Wallmann habe ein Buch „Aland ist doof“ geschrieben, er werde aber schon zeigen, auf welch schwachen Füßen Wallmann stehe. Das Wort machte sofort die Runde, wurde mir von verschiedenen Seiten überbracht, in Tübingen zuerst von Herrn Jürgens, später in Halle von Jürgen Storz, dem Archivleiter der Franckeschen Stiftungen. Da Aland mit seinen Gegnern nicht zimperlich verfuhr, konnte ich das meinem Spenerbuch aufgeklebte Etikett eher als ein Kompliment verstehen. Tatsächlich habe ich mich mit Aland, den ich später in der PietismusKommission näher kennen lernte, mündlich nie in eine Auseinandersetzung führen lassen. Ich erinnere mich nur an einen Dissens, den ich ihm gegenüber in einem Gespräch während einer Eisenbahnfahrt geäußert habe. Als wir einmal zusammen von einer Tagung in Frankfurt gemeinsam im Speisewagen nach Hause fuhren, er nach Münster, ich nach Bochum, riet er mir zu einem Beck-Bier. „Ich trinke immer Beck-Bier. Beck wird auf allen deutschen Schiffen ausgeschenkt.“ Darauf entgegnete ich: „Herr Aland, ich habe lieber festen Boden unter den Füßen. Ich bestelle mir ein Dortmunder Union.“ Unsere Differenzen haben wir literarisch ausgetragen. Dass er mir mein Spenerbuch nie verziehen hat, sondern hinter den Kulissen alles tat, mir zu schaden, sollte ich allerdings in schlimmer Weise merken, als ich in die Pietismus-Kommission kam. Damit habe ich schon den Cantus firmus dieses Berichts anklingen lassen. Doch ich machte gleichzeitig die beglückende Erfahrung, dass man einen kritisierten Lehrer auch zu überzeugen vermag. Martin Schmidt hatte ich im Sommer 1967 im Straßburger Thomasstift wiedergetroffen, als ich einige Wochen lang mich in die Quellen der Straßburger Orthodoxie und die Schriften Speners einarbeitete, die ich in der Hausbibliothek des Thomasstifts, besonders im „Spenerschrank“, fand und nächtelang studierte. Als wir uns abends in seinem Zimmer im Thomasstift über Spener und Christian Hoburg unterhielten, entgegnete er seinem ehemaligen Schüler auf seine Einwände noch gönnerhaft, ich solle abwarten, was er demnächst in der Festschrift für Ernst Benz über Christian Hoburg veröffentlichen werde. Als er drei Jahre später seine Gesammelten Studien zur Geschichte des Pietismus herausgab, war er dagegen von 16 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

meiner „sehr verständnisvollen Auseinandersetzung“ mit ihm in der Festschrift für Rückert sichtlich beeindruckt5 und revozierte vorsichtig seine These von der zentralen Stellung der Wiedergeburt bei Spener.6 Nach Lektüre meines Spenerbuchs zeigte er sich wie verwandelt. Während des Lutherkongresses in St. Louis im Sommer 1971 verbrachte ich mit Herrn und Frau Schmidt harmonische und anregende Tage. Als wir beide zusammen im Juni 1972 bei der Jahrestagung der „Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte“ in Bückeburg Vorträge hielten und der moderierende Landessuperintendent und spätere Berliner Bischof Martin Kruse, der selbst eine Doktorarbeit über Spener geschrieben hatte, die beiden Spenerforscher zur öffentlichen Darlegung ihrer unterschiedlichen Standpunkte zu drängen suchte, weiß ich nur noch, dass ich mich gescheut habe, meine schriftlich geäußerte Kritik öffentlich zu wiederholen. Im Juli 1972 schrieb Schmidt das Vorwort zu seiner als UrbanTaschenbuch erscheinenden Darstellung Pietismus: „In welcher Weise gearbeitet werden muß und welche bedeutsamen weiterführenden Ergebnisse durch die Verbindung von historischer Genauigkeit mit theologisch abwägendem Urteil erzielt werden können, zeigt zuletzt die vorzügliche Monographie von Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus“.7 Im Sommer 1974 hielten wir wieder zusammen Vorträge auf einer niederländischen Pietismustagung in Woudschoten bei Zeist nahe Utrecht. Gleichzeitig erschien die Festschrift zu Schmidts 60.Geburtstag, zu der ich einen Aufsatz über die Pia Desideria beisteuerte. Offensichtlich als Kommentar zu meiner Berufung als Korrespondierendes Mitglied der Pietismus-Kommision schrieb mir Martin Schmidt am 2. Juli 1974 einen im Umfang außergewöhnlich langen Brief, in dem er mir seine Seele ausschüttete. Anfangs dankte er mir für meinen Aufsatz über Speners Pia Desideria, den in seiner Festschrift zu sehen ihn mit besonderer Freude erfülle. „Ich habe, von Satz zu Satz gefesselt, Ihre Darlegung gelesen und sehe an keiner Stelle einen Grund, Ihnen zu widersprechen [. . .]. Gerne hätte ich in Woudschoten mit Ihnen noch mehr, vielleicht eine ganze Stunde, gründlich gesprochen, zumal Sie ohne Zweifel der führende Pietismusforscher der nächsten Generation sein werden. Daß Sie nicht nur als korrespondierendes, sondern als volles Mitglied zu uns gehören, ist für mich keine Frage. Aber ich entscheide Derartiges nicht allein.“ Dass wir an einzelnen Punkten verschiedener Meinung seien, störte ihn nicht. „Was die eigene Forschung anlangt, so müssen wir uns gegenseitig korrigieren und ergänzen, wie es ja immer geschehen ist. Monopolstellungen gibt es nicht und sie wären nur schädlich.“ Auch verschwieg er seine Verärgerung darüber nicht, dass ich mich in meinem Bückeburger Vortrag über das Forschungsprogramm der Pietismus-Kommission mit dem Vers „befolgend dies ward der Trabant ein völlig deutscher Gegenstand“ mokiert hatte. „Die von Ihnen – leider etwas abfällig 5 6 7

Martin Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch. Witten 1969 (AGP, 2), 1969, 133. Schmidt [s. Anm. 5], 193. Martin Schmidt: Pietismus. Stuttgart 1972, 7.

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mit dem Morgensternzitat beklagte – Absicht ist natürlich nicht unsere Absicht [. . .]. Wenn Sie die nationale Einengung beklagt haben, so verschiedene andere Kollegen die historische, d. h. sie haben die volle Einbeziehung des Neupietismus von der Erweckung an gefordert.“ Schmidt überging auch nicht das schwierigste Problem der Pietismus-Kommission. „Die Bummelei mit der Spenerausgabe ist mir ebenso lästig wie Ihnen. Aber darum sollten Sie, nunmehr als korrespondierendes Mitglied ausdrücklich aufgefordert, der Kommission Ihre Vorschläge, Wünsche und Angebote unterbreiten. Nur so kommen wir vorwärts.“ Angesichts der baldigen schweren Erkrankung und des Todes von Martin Schmidt ist mir dieser Brief so etwas wie ein Vermächtnis des ersten Vorsitzenden der Pietismus-Kommission. Dass Martin Brecht, dessen Aufstieg an die Spitze der Pietismus-Kommission nicht im Sinne von Martin Schmidt war, nicht viel von ihm gehalten hat und alles tat, um ihn in der PietismusKommission vergessen zu machen, hat mich später Brecht vorwerfen lassen, dass dem ersten Vorsitzenden der Pietismus-Kommission ein besseres Andenken hätte bewahrt werden sollen.8 Am 18. Juli 1973 teilte mir Vizepräsident Oskar Söhngen mit, dass die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus auf ihrer letzten Sitzung beschlossen habe, mich zum Korrespondierenden Mitglied zu berufen. In meiner umgehenden Antwort bekundete ich meine Freude, machte aber darauf aufmerksam, dass, wie aus meinen Veröffentlichungen ersichtlich sei, „meine Haltung zu Programm und Arbeit der Historischen Kommission [. . .] überwiegend durch kritische Distanz gekennzeichnet“ sei. Ich fuhr fort: „Ich denke, mit Ihnen übereinzustimmen, daß wissenschaftliche Forschung den Streit der Meinungen braucht und daß, wenn mir jetzt die Distanz zur Historischen Kommission genommen ist, ich mir doch in der Freimütigkeit meiner Kritik keine Beschränkung auferlegen muß.“ Söhngen antwortete mir überaus freundlich am 7. November 1973: „Gewiß war uns Ihre, wie Sie es nennen, kritische Distanz zur Zielsetzung und Arbeit unserer Kommission nicht unbekannt. Aber nicht trotzdem, sondern gerade deswegen haben wir Wert darauf gelegt, zu einer geregelten Form der Zusammenarbeit mit Ihnen zu kommen.“ Die Zusammenarbeit mit Martin Schmidt, dem Vorsitzenden der Kommission, gestaltete sich überaus erfreulich. Schmidt hatte vor langen Jahren den Faszikel Pietismus für das Göttinger Handbuch „Die Kirche in ihrer Geschichte“ übernommen, ihn aber nicht fertig zu stellen vermocht. Durch das Urbantaschenbuch Pietismus war er für den Verleger Arndt Ruprecht vertragsbrüchig geworden, so dass dieser, der nach dem Tod von Ernst Wolf das Handbuch wohlgeordnet in die Hände des neuen Herausgebers Bernd Moeller legen wollte, bei mir anfragte, ob ich nicht für Schmidt einspringen könnte. Da aber Schmidt gleichzeitig noch Teilstücke lieferte, schwankte der Verleger

8 Johannes Wallmann: Pietismus und Orthodoxie. Gesammelte Aufsätze III. Tübingen 2010, 381 Anm. 17.

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lange Zeit, ehe er sich abschließend entschloss. Ich hatte zur gleichen Zeit übernommen, die im Ullstein Verlag in der Reihe „Deutsche Geschichte. Ereignisse und Probleme“ von dem verstorbenen Ernst Bizer begonnene Kirchengeschichte Deutschlands durch einen Band Kirchengeschichte Deutschlands II für die Zeit von der Reformation bis zur Gegenwart zu komplettieren. Als ich meinen Lehrer Rückert fragte, ob ich eine Gesamtdarstellung der gesamten neueren Kirchengeschichte geben könne, ohne Vorlesungen darüber gehalten zu haben, antwortete er mir: „Sie müssen das sogar vorher machen. Wenn Sie erst Vorlesungen darüber gehalten haben, wissen Sie zu viel. Dann gelingt keine lesbare Darstellung mehr.“ Ich übernahm den Auftrag und schrieb die Darstellung zügig nieder. Das Buch erschien 1973 und hat, aus der vergriffenen Reihe des Ullstein Verlags inzwischen als Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation (UNI-Taschenbuch) an den Mohr-Verlag Tübingen übergegangen, die sechste Auflage erreicht und inzwischen wird die siebente Auflage vorbereitet. Als Lehrbuch hat mich diese Gesamtdarstellung unter den Studenten bekannter gemacht als meine Pietismusforschungen. Die anstelle von Schmidt übernommene Darstellung des Pietismus hat mir dagegen sehr viel Mühe gemacht. Während Martin Schmidt es in zwanzig Jahren nicht gelang, habe ich mehr als 25 Jahre gebraucht, ehe ich das riesige Gebiet der Quellen und Literatur zum Pietismus in eine gedrängte, lesbare, zugleich die Forschung weiterführende Form gießen konnte. Mein Der Pietismus ist auch in andere Sprachen übersetzt worden, und in 2012 ist in Tokio eine japanische Ausgabe erschienen. Als ich dem Vorsitzenden der Pietismus-Kommission Dr. Schäfer im September 1990 ein Exemplar zusandte, erinnerte ich an die Schwierigkeiten, die Schmidt mit seiner Gesamtdarstellung gehabt hatte. „Es ist schade, daß ich sein Urteil nicht hören kann. Bei allen Unterschieden im einzelnen und in der Gesamteinschätzung verdanke ich ihm ja viel. Man wird das vielleicht an dieser Gesamtdarstellung eher merken können als an meinem Spenerbuch.“ Dass ich Martin Schmidt von seiner Gesamtdarstellung verdrängte, wurde in unserem Verhältnis nie berührt. Wir arbeiteten in der Pietismus-Kommission harmonisch zusammen. Dass Schmidt, wie er mir geschrieben hatte, nicht allein in der Pietismus-Kommission zu entscheiden hatte, sollte ich allerdings bald merken. Auf einer der nächsten Sitzungen im Jahr 1974 beschloss die Pietismus-Kommission, zur 300–Jahrfeier der Veröffentlichung von Speners Pia Desideria vom 3. bis 6. April 1975 eine Tagung in Frankfurt am Main und Arnoldshain durchzuführen, auf der mehrere Referate und Vorträge gehalten werden sollen. Wallmann sollte nicht zu einem Vortrag eingeladen werden, sondern ein Seminar mit Lektüre der wichtigsten Kapitel aus den Pia Desideria halten. Ich dankte für die Einladung, erklärte aber, lieber wie die anderen Referenten einen Vortrag halten zu wollen als einen so umfangreichen Text wie die Pia Desideria in einem knappen Lektüreseminar durchzunehmen. Als Herr Söhngen mir auf Nachfrage mitteile, dass er und andere für einen Vortrag von mir votiert hätten, aber überstimmt worden seien, war mir klar, dass mir ein Maulkorb umgehängt werden sollte. Am 13. Oktober 1974 erklärte ich 19 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

darum meine Absage, mit der Begründung, dass ich als Dekan am Fakultätentag in Berlin teilnehmen müsse. Bei den im Frühjahr und im Herbst meist in Berlin stattfindenden Sitzungen der Pietismus-Kommission, die am ersten Tag für die Sektion West in der Jebensstraße, am zweiten Tage für die Sektion Ost in Ostberlin stattfanden, wobei die Tagung in Westberlin die wesentliche war, während die Tagung in Ostberlin vornehmlich informatorischen Wert hatte, war ich ab 1975 zunächst unregelmäßig, seit 1980 regelmäßig anwesend. Bald merkte ich, dass das Hauptproblem der Pietismus-Kommission, zu deren Lösung ich beitragen sollte, die zwanzigbändige Ausgabe der Werke Speners, an der Kurt Aland in Münster arbeitete und für die der bei weitem größte Teil der von den Kirchen zur Verfügung gestellten Finanzmittel gebraucht wurde, nicht voran kam. Jahr für Jahr wiederholte sich das gleiche. Von Münster war keine Nachricht über die Fertigstellung des ersten Bandes der Spenerausgabe zu bekommen. Söhngen schrieb mir 1980: „Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie nicht nur an der nächsten, sondern auch an den folgenden Sitzungen unserer Kommission teilnehmen würden. Denn wir sind endlich zur entscheidenden Sachdiskussion durchgestoßen und dabei können wir Sie einfach nicht entbehren.“ Die Problematik verschärfte sich, als Erich Beyreuther im Olms Verlag Hildesheim eine Reprintausgabe der Werke Speners ankündigte, die in ihrem Umfang – 22 Bände – der historisch-kritischen Spenerausgabe der PietismusKommission zur Verwechslung ähnlich sah. Im Juli 1978 schrieb Beyreuther das Vorwort zu dem Band 1 der Spenerreprintausgabe, der 1979 im Druck erschien. Die Redaktion des Bandes hatte Dr. Dietrich Blaufuß aus Erlangen, der auch die gründlichen Einleitungen zu den einzelnen Schriften Speners schrieb. Die Ankündigung der Spenerausgabe Beyreuthers durch den Olms Verlag schreckte die Pietismus-Kommission in hohem Maße auf. Martin Schmidt war durch seine Erkrankung nicht mehr zur Reaktion fähig. Alle Verantwortung lag auf Oskar Söhngen, der kommissarisch die Leitung der Kommission übernahm und sie bis 1982 inne hatte, als nach dem Tod Martin Schmidts der württembergische Oberkirchenrat Konrad Gottschick zum Vorsitzenden und Martin Brecht zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt wurde. Im September 1978 schrieb mir Oskar Söhngen eigenhändig einen privaten, nicht zu den Akten gehenden Brief. Die Situation in der Pietismus-Kommission und die Problematik der Spenerausgabe mache ihm Sorge und erfordere gründliche Überlegungen. Er habe demnächst bei der Cansteinschen Bibelanstalt in Bielefeld zu tun und bäte mich, am späten Nachmittag des 4. Oktober nach Bielefeld in den Bielefelder Hof zu kommen, um „den ganzen Komplex der personellen und sachlichen Probleme einmal vertraulich mit Ihnen durchzusprechen“. In dieser Unterredung erklärte mir Herr Söhngen, dass „der Karren der Pietismus-Kommission in den Dreck gefahren sei“ und er um meine Hilfe bitte, den Karren wieder herauszuziehen. Ich möchte ihm meine Ansicht über die nicht zustande kommende Spenerausgabe mitteilen. 20 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Ich legte Söhngen dar, dass nicht nur nach meiner Meinung, sondern auch nach der Meinung vieler Kollegen, die sich darüber literarisch geäußert hätten (z. B. Gottfried Seebaß), durch den Plan der Spener-Reprintausgabe im Olms Verlag, die bald und in schneller Folge erscheinen werde, die historisch-kritische Ausgabe Speners der Pietismus-Kommission, deren Fertigstellung viele Jahre erfordern würde, in der Substanz in Frage gestellt werde. Einmal würde, wenn die umfangreichen, meist aus Predigten bestehenden Werke Speners durch Reprintausgaben zugänglich gemacht würden, ein Markt für eine zweite Spenerausgabe nicht mehr bestehen. Gegen die in den Kommissionssitzungen, vor allem von Archivdirektor Dr. Schäfer ständig vorgebrachte Auffassung, Reprintausgaben seien keine wissenschaftlichen Ausgaben und würden ernsthafter Forschung nicht helfen, wies ich auf die vielen Reprintausgaben beigegebenen Einleitungen hin, die den Stand der Forschung berücksichtigen können. Außerdem sei bei den Predigten Speners, die die Mehrzahl der Bände ausmachen, eine historisch-kritische Ausgabe nicht unbedingt nötig. August Hermann Francke habe seine Predigtbände nach den Mitschriften dazu angestellter Studenten herausgegeben, die ihn zuweilen nicht richtig verstanden, so dass er bei späteren Auflagen den Text korrigierte. Bei Franckes Predigten sei eine historisch-kritische Ausgabe mit einem textkritischen Apparat durchaus sinnvoll. Spener habe aber bei Neuauflagen seiner Predigtwerke in aller Regel nichts geändert. Ein textkritischer Apparat sei hier überflüssig. Auch auf einen kommentierenden Apparat könne man bei Edition der Predigten und katechetischen Werke Speners verzichten. In den meisten Predigtbänden des 17. Jahrhunderts, etwa den Katechismuspredigten seines Straßburger Lehrers Johann Conrad Dannhauer, stoße man auf viele Namen und Zitate antiker, biblischer und historischer Autoren, die ohne einen kommentierenden Apparat nicht verstanden werden können. Speners Predigten unterschieden sich aber von den Predigten seiner Zeitgenossen durch ihren Verzicht auf das übliche Gepränge von Gelehrsamkeit und durch ihre ganz aus dem biblischen Zusammenhang genommene Argumentation. Zitierte Bibelstellen seien in Speners Predigten mit dem Fundort angegeben und bedürften keines Nachweises. Autoren würden kaum angeführt, abgesehen von Luther, der mit Angabe der Fundstellen in den alten Ausgaben zitiert werde. Die Lutherzitate könne man mit Hilfe von Alands Hilfsbuch zum Lutherstudium leicht in der Weimarer Ausgabe auffinden. Was der geplanten Reprintausgabe der Werke Speners gegenübergestellt werden könne, sei eine historisch-kritische Ausgabe seines Briefwechsels. Die Bedeutung Speners sei, wie Wolfgang Trillhaas in der Biographienreihe „Die großen Deutschen“ eindrücklich gezeigt habe, viel besser als aus seinen Predigten aus seinen Briefen zu erkennen. Hier gäbe es eine Fülle handschriftlichen Materials im Archiv der Franckeschen Stiftungen und in anderen deutschen und außerdeutschen Archiven und Bibliotheken, auch in Privatbesitz. Außerdem seien die großen Bände, in denen Speners Briefe und Bedenken vorliegen 21 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

(die Theologischen Bedenken von 1702, Letzte Theologische Bedenken von 1711 und Consilia et Iudicia theologica latina von 1709) voller Druckfehler, so dass schon der Herausgeber der Consilia, der Freiherr Carl Hildebrand von Canstein, die Ausgabe für unbrauchbar erklärt habe. Vor allem seien, da diese Briefe und Bedenken als pastoraltheologisches Handbuch dienen sollten, die Namen der Empfänger getilgt und auch in den Briefen viele Namen anonymisiert worden. Diese Namen seien, damit die Briefe als historische Quelle dienen können, erst herauszufinden, was angesichts der Bedeutung der Spenerschen Korrespondenz eine wichtige Aufgabe wäre. Ich würde deshalb vorschlagen, den Plan einer Ausgabe der Werke Speners aufzugeben zugunsten einer historisch-kritischen Ausgabe der Briefe. Oskar Söhngen hörte sich meine Argumentation aufmerksam an. Zwar leuchte ihm das Gesagte ein, aber es sei nun einmal von der Pietismus-Kommission beschlossen worden, eine historisch-kritische Ausgabe der Werke Speners zu veranstalten. Was von einer kirchlichen Kommission, in der fast alle Landeskirchen vertreten sind, einmal förmlich beschlossen worden ist, könne man nicht einfach ändern. Er sähe angesichts des Beschlusses über die Spenerausgabe, der zu respektieren sei, nur die Möglichkeit, neben die Werkausgabe eine Briefausgabe zu stellen. Dadurch werde der Umfang der Werkausgabe erheblich verkleinert werden. Er bat mich, der Kommission zu ihrer nächsten Sitzung einen Plan zu einer Ergänzung der Werkausgabe durch eine Briefausgabe vorzulegen. Oskar Söhngen war eine außergewöhnlich starke, mich tief imponierende Persönlichkeit. Sein Zutrauen zu mir beeindruckte mich sehr. Ich habe einen solchen auf hohem geistigem und menschlichem Niveau stehenden Kirchenführer nicht wieder erlebt. Trotz starker Bedenken und gegen mein besseres Wissen, dass Alands Werkausgabe keine Zukunft habe, nahm ich den Auftrag, einen Plan für eine neben die Werkausgabe zu stellende Briefausgabe zu entwickeln, an. Meine Bedenken waren auch deshalb groß, weil ich Herrn Söhngen, der mich kurz zuvor für eine engere Bindung an die Pietismus-Kommission, also als Vollmitglied, gewinnen wollte, eine Ablehnung erteilte mit der Begründung: „Der Eindruck, daß ich sofort nach meinem Eintritt begonnen hätte, Herrn Aland von der Spenerausgabe zu verdrängen, würde sich für jeden Außenstehenden mit Sicherheit erwecken. Ich möchte auf keinen Fall diesen Eindruck erwecken.“ Auf der Sitzung der Pietismus-Kommission vom 13. April 1981 entwickelte ich meinen nach den Wünschen Oskar Söhngens modifizierten Plan einer Spenerbriefausgabe zur Ergänzung der Werkausgabe. Dabei wies ich auf die von Aland in Münster begonnene Arbeit an den Briefen Speners hin, von denen mir die in der Dresdner Zeit beginnenden Briefe an Adam Rechenberg bekannt seien. Außerdem wies ich auf die Arbeiten des mit mir seit Jahren in Verbindung stehenden Dr. Dietrich Blaufuß in Erlangen hin, der sich intensiv mit dem Briefwechsel Speners befasse und eine Edition des zwischen Spener und dem Augsburger Theophil Spizel geführten Briefwechsels plane. Das Pro22 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

tokoll der Sitzung verzeichnet unter TOP 4: „Prof. Wallmann wird bis zur nächsten Sitzung einen Plan für eine Ausgabe der Briefe, zunächst für die aus der Frankfurter Zeit, aufstellen. Die in Münster liegenden Materialien werden ihm dafür zugänglich gemacht. Dr. Blaufuß wird gebeten, in sein Material gleichfalls Einsicht zu gewähren.“ Ich habe damals bereits gesagt, ich könne diese Aufgabe nicht allein erfüllen, sondern nur in Kooperation mit der Münsteraner Arbeitsstelle, wo 1.200 Spenerbriefe in Transkription liegen, und in Kooperation mit Dr. Blaufuß, der sich seit Jahren mit Speners Briefwechsel beschäftigt hat. Herr Aland hat mir bereitwillig sofort eine Aufstellung der in Münster bekannten Spenerbriefe überlassen. Die Kooperation mit der Münsteraner Arbeitsstelle verlief auch in den folgenden Jahren problemlos. Dabei hat wohl geholfen, dass Aland, der an seiner seit 1975 öffentlich angekündigten Widerlegung meines Spenerbuches arbeitete, von mir die zehnbändige Katechismusmilch Dannhauers nach Münster geschickt bekam. Sein Mitarbeiter Richter hatte durch Fernleihe nur 3 Bände bekommen und sich an mich gewandt, der ich eine vollständige Ausgabe der Katechismusmilch Dannhauers in Kopie für die Bochumer theologische Seminarbibliothek angeschafft hatte. Da eine Entleihung nach auswärts von der Bibliotheksleitung nicht genehmigt wurde, lieh ich auf meinen Namen das Werk aus und schickte es privat per Postpaket an Herrn Aland, der sich am 28. Oktober herzlich für die zehn Bände bedankte, aber noch um Zusendung des Registerbands bat, was ich umgehend tat. Auch in späterer Zeit habe ich mit Aland zusammengearbeitet, z. B. als er mir 1983 für Band 2 seiner Spenerausgabe eine Suchliste fehlender Literatur sandte, die seine Mitarbeiter nicht zu identifizieren vermochten. Als ich ihm sofort für die Mehrzahl der Titel seiner Suchliste die Nachweise gab, dankte er mir mit den Worten, er hätte diese Liste seinen Mitarbeitern um die Ohren geschlagen. Man sieht, auch bei schärfstem wissenschaftlichem Gegensatz können Wissenschaftler kollegial zusammenarbeiten. Erst nach Alands Tod 1994 fand sich Martin Brecht nicht mehr bereit, mir Zugang zu der Münsteraner Spenerarbeitsstelle zu gewähren. Eine Kooperation mit Herrn Blaufuß kam dagegen nicht zustande. Ich hatte gemeint, eine über ein halbes Jahrzehnt zurückliegende Kontroverse zwischen ihm und mir, weil ich einem wegen eines Aufsatzes im „Pfarrerblatt“ über Spener von Blaufuß angegriffenen Pfarrer in einem auch an einige Kollegen versandten Offenen Brief zur Seite gesprungen und seine Art, Wissenschaft zu treiben, kleinkariert („Griffelspitzerei“) und tote Gelehrsamkeit genannt hatte, sei längst ad acta gelegt. Dafür sprach die Art und Weise, wie Herr Blaufuß und ich, die wir in den Grundfragen der Pietismusforschung einig waren, in der Zwischenzeit miteinander umgegangen waren. Offensichtlich hatte ich mich getäuscht. Herr Weigelt, der sich im Auftrag des Vorsitzenden um den Kontakt zu ihm bemühte, konnte nur den Fehlschlag seiner Versuche mitteilen. Als ich im Herbst dem Vorsitzenden der Pietismus-Kommission mitteilte, die Bedingung, unter der ich den Auftrag übernommen habe, sei nicht erfüllt 23 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

und ich gäbe den Auftrag zurück, bat mich Herr Gottschick eindringlich, den Auftrag vom März doch zu erfüllen. Ich gab schließlich seinem Drängen nach und habe das Referat Überlegungen und Vorschläge zu einer Edition des Spenerschen Briefwechsels, zunächst aus der Frankfurter Zeit (1666–1681) in der Sitzung vom 7. Dezember 1981 gehalten.9 Herr Blaufuß war, weil er sich der Kooperation verweigert hatte, vom Vorsitzenden nicht eingeladen worden. In der an mein Referat anschließenden Diskussion wies ich darauf hin, dass mir eine Erfüllung der Bitte durch die mangelnde Kooperationsmöglichkeit unmöglich gemacht worden sei und ich lieber andere Pläne verwirklichen wolle. Dabei dachte ich an meine Mitarbeit an der Ausgabe der Werke Herders im Klassikerverlag, um die ich zu dieser Zeit gerade gebeten wurde. Ich bin dann von den Kommissionsmitgliedern, besonders von Herrn Söhngen und von Bischof Martin Kruse, bedrängt worden, diese Aufgabe doch zu übernehmen. Ich habe schließlich Ja gesagt unter der von mir zweimal wiederholten Bedingung, dass ich von allen Mitgliedern der Kommission dabei unterstützt würde. Ausschlaggebend für meine Einwilligung war das Wort von Bischof Kruse: „Sie müssen das machen, Herr Wallmann.“ In den Auseinandersetzungen, die ich später zu bestehen hatte und in denen ich zuweilen bei Bischof Kruse um Unterstützung nachsuchen musste – ich musste mir in einer späteren Sitzung den Vorwurf anhören, ohne dass der Vorsitzende Dr. Schäfer widersprach, ich hätte für mein Projekt einer Spenerbriefedition bei der PietismusKommission um Unterstützung nachgesucht und hätte dankbar zu sein für die Förderung – habe ich immer wieder an dieses Bischofswort erinnert. Oskar Söhngen und Bischof Kruse versprachen, gemeinsam für ein Gespräch zwischen Herrn Blaufuß und mir zu sorgen, bei dem es unter Assistenz von ihnen beiden zur Versöhnung und Übereinkunft kommen solle. Herr Söhngen kannte Dr. Blaufuß seit langem, hatte ihm, wie mir Herr Gottschick schrieb, in seiner Jugend geholfen und zeigte Verständnis, dass er, der sich von dem Schuldienst lösen wolle und eine Professur anstrebe, sich von mir verletzt fühlte. Herr Söhngen sprach, offensichtlich nur von einer Seite informiert, von einem „unseligen“ Brief, den ich geschrieben hätte. Dass ich einem Dritten zur Seite gesprungen war, war ihm unbekannt. Ich habe ihm die Hintergründe nicht erzählt, sondern habe damals, wie ich aus meinen Briefen sehe, nur aus Respekt vor einem grauen Haupt geschwiegen. Das Gespräch zwischen Bischof Kruse, Oskar Söhngen, Blaufuß und mir fand in der Wohnung von Hern Söhngen in Berlin am 23. Januar 1982 vormittags statt. Es verlief ohne Erfolg. Die von Kruse und Söhngen unterschriebene „Zusammenfassung des Gesprächs“ wurde Blaufuß und mir anschließend mit der Bitte zur Unterschrift von Herrn Söhngen zugesandt. Herr Söhngen sah dieses Gespräch als entscheidend für die Arbeit der Pietismus-Kommission an, so dass er mir für alles mit diesem Gespräch Zusammenhängende schriftli9

Gedruckt in PuN 11,1985, 345–353.

24 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

che Unterlagen zukommen ließ, aus denen ich zu zitieren hier unterlasse. Wie die Zusammenfassung zeigt, kam ich aus Respekt vor Herrn Söhngen den Bedingungen, die Blaufuß an seine Mitarbeit knüpfte, weit entgegen. Die Zusammenfassung enthielt 6 Punkte. Zusammenfassung des Gesprächs zwischen Prof. Wallmann, Dr. Blaufuß, Bischof Dr. Kruse und Prof. Söhngen am Sonnabend, dem 23. Januar 1983. 1. Die persönlichen Spannungen zwischen den Herren Wallmann und Blaufuß werden ausführlich erörtert. Wallmann erklärt sich bereit, Blaufuß einen abschließenden Brief zu schreiben, der gegebenenfalls auch anderen Empfängern des früheren Briefes vom 3.7.1976 zugehen soll. 2. Die von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus empfundene Notwendigkeit einer baldigen historisch-kritischen Ausgabe des Spenerschen Briefwechsels aus seiner Frankfurter-Zeit wird bejaht. 3. Die Frage, ob die erwünschte Mitarbeit von Blaufuß an der Herausgabe der Briefe lediglich korrespondierender oder institutioneller Art sein soll, soll zu gegebener Zeit entschieden werden. 4. Als Herausgeber sollen auf dem Titelblatt genannt werden: „Johannes Wallmann in Verbindung mit Dietrich Blaufuß“. 5. Blaufuß wird gebeten, die Entscheidung über seine Bereitschaft zur Mitarbeit möglichst bald zu treffen. 6. Das Ergebnis der Besprechung soll in der nächsten Sitzung der Kommission vorgetragen und in Gegenwart von Blaufuß erörtert werden. Diese Zusammenfassung des Ergebnisses des Versöhnungsgesprächs wurde von Blaufuß nicht akzeptiert. Herr Söhngen schrieb mir am 27. April 1982, Blaufuß habe den Termin für eine Erklärung über seine Zusammenarbeit mit mir bei der Herausgabe des Spenerschen Briefwechsels – 1. März 1982 – nicht eingehalten. Auf die amtliche Erinnerung habe er seinem amtlichen Schreiben einen persönlichen Brief an Blaufuß beigefügt, aus dem mir Söhngen lange Passagen ausschreiben ließ. Ich zitiere daraus nur den mich betreffenden Passus: „Ich darf nicht verschweigen, daß der Eindruck, den Ihr Verhalten während unserer gemeinsamen Besprechung am 23. Januar auf Bischof Kruse und mich gemacht hat, nicht eben für Sie günstig war. Sie werden nicht bestreiten können, daß Prof. Wallmann bis an die Grenze des Möglichen gegangen ist, wenn er sich sogar bereit erklärte, einen Entschuldigungsbrief an Sie zu schreiben. Sie sind darauf nicht nur nicht eingegangen, sondern haben immer wieder kleinliche Einzelheiten auf den Tisch gelegt, die uns, wo es um eine Generalbereinigung ging, nur ermüden konnten. Und wenn in einem früheren Stadium unseres Gespräches die Dinge so günstig zu laufen schienen, daß Bischof Kruse den Vorschlag machte, zu protokollieren: ‚Es besteht auf beiden Seiten die grundsätzliche Bereitschaft zur Kooperation‘, so war der weitere Verlauf so unerquicklich, daß es Bischof Kruse und mir unmöglich schien, diese Formulierung beizubehalten.“ 25 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Da sein amtlicher und sein persönlicher Brief ohne Wirkung auf Blaufuß geblieben seien – Blaufuß habe ihm am 5. April nichts sagend geantwortet (Söhngen ließ mir auch diesen Brief ausschreiben) – habe er ihm am 8. April einen weiteren Brief geschrieben. Ich zitiere aus diesem Brief, aus dem er mir wiederum lange Passagen ausschreiben ließ, nur die meine Haltung betreffenden Worte: „Sie verloren sich immer wieder in Einzelheiten, die Bischof Kruse und ich weithin als kleinlich, bisweilen sogar rechthaberisch gegenüber der Großzügigkeit des Angebots von Prof. Wallmann empfanden, Ihnen Genugtuung zu leisten.“ Unwillkürlich wiederholte er damit die Kritik meines Offenen Briefes an Blaufuß. „Bitte übersehen Sie auch nicht, was es für die wissenschaftliche Öffentlichkeit bedeuten muß, daß wir uns für den Fall Ihrer regelmäßigen Zusammenarbeit mit Wallmann auf eine Formel des Titelblatts geeinigt haben, in der Ihre Mitarbeit ausdrücklich genannt wird.“ Er habe dann weiter geschrieben: „Was nun die Juni-Sitzung der Kommission betrifft, so wird diese nicht bereit sein, Ihre Angelegenheit mit Prof. Wallmann coram publico zu erörtern. Diese zu bereinigen, hatte sie ausdrücklich Bischof Kruse und mich beauftragt.“ Blaufuß’ Antwort vom 16. April teilte mir Herr Söhngen in einem neunzeiligen Auszug mit, um daraus die Folgerung zu ziehen: „Ich sehe damit meine Einwirkungsmöglichkeiten auf Blaufuß als erschöpft an [. . .] Bischof Kruse [. . .] hat mich eben angerufen und seinen Besuch für kommenden Freitag in Aussicht gestellt, um den Schlußstrich unter die Angelegenheit zu ziehen.“ Schließlich teilte mir Herr Söhngen noch mit, weil es zu erfahren für mich wichtig wäre, dass er schon am 10. März d. J. nach Rücksprache mit Bischof Kruse an Blaufuß geschrieben habe: „Ich muß Ihnen ganz offen schreiben, daß weder Bischof Kruse noch ich uns in der Lage sehen, Ihre Einladung zur nächsten Vollsitzung der Kommission zu befürworten, wenn Sie nicht noch in diesem Monat eine befriedigende Erklärung ablegen. Ich bin in den Sitzungen immer wieder für Sie eingetreten und war darum glücklich, als ich von Ihrer Wahl zum Korrespondierenden Mitglied erfuhr. Aber Ihre Teilnahme an der nächsten Sitzung hätte nur dann einen Sinn, wenn Sie vorher Ihre grundsätzliche Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Prof. Wallmann erklärt haben, und wir uns in der Sitzung dann darauf konzentrieren können, die Sachfragen und Einzelheiten der Zusammenarbeit mit einander zu diskutieren.“ Da eine solche Erklärung nicht einging, vermutlich deshalb, weil Blaufuß, ohne das Söhngen wissen zu lassen, eigene Pläne über die Edition des Spenerschen Briefwechsels verfolgte, wurde er zur nächsten Sitzung nicht eingeladen. Der Vorsitzende der Kommission Konrad Gottschick, der über die Geduld, mit der Herr Söhngen die causa Blaufuß betrieb, nicht glücklich war, weil sie ihm aufwendigen Geschäftsbetrieb verursachte, schrieb mir am 2. April 1982: „Ein Mahnschreiben von Herrn Söhngen vom 10. März wurde schließlich unter dem 19. März beantwortet – nichts sagend, in meinen Augen erpresserisch, und das alte Spiel mit verdeckten Karten weiterspielend [. . .] Es hat keinen Sinn, sich noch weiter um Dr. Blaufuß zu bemühen.“ 26 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Für den Vorsitzenden der Pietismus-Kommission Gottschick war nach dem von Oskar Söhngen und Bischof Kruse veranstalteten, aber missglückten Berliner Versöhnungsgespräch die causa Blaufuß erledigt. Auch ich zog nach meinem um Herrn Söhngens willen weitgehenden Entgegenkommen einen Schlussstrich und hielt es für unzumutbar, weiter mit dieser Sache behelligt zu werden. Herr Blaufuß wurde fortan zu den Sitzungen der Kommission nicht eingeladen. Der Vorsitzende Gottschick hat auch in der Folgezeit dafür gesorgt, dass der Fall Blaufuß nicht wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Erst als nach dem Ausscheiden von Herrn Gottschick der Vorsitz der Kommission von Dr. Schäfer, dem als stellvertretender Vorsitzender Herr Brecht zur Seite stand, übernommen wurde, trat eine auffallende Änderung ein. Aland, der krankheitshalber an der Dezembersitzung, an der mir der Auftrag gegeben wurde, nicht teilnehmen konnte, teilte in einem an alle Mitglieder der Kommission gerichteten Brief vom 4. Januar 1982 mit, dass er sich von Herrn Brecht mündlich über die Sitzung vom 7. Dezember habe berichten lassen und nun auf das Protokoll über das Berliner Versöhnungsgespräch gespannt sei. Schon bei der Einladung habe er sich gewundert, dass Blaufuß nicht eingeladen worden sei. „Aber Herr Blaufuß ist nun einmal der beste Kenner der Specialia und Specialisssima der Spenerbriefe und seine Berufung zum Mitherausgeber (ich wiederhole: zum gleichberechtigten Mitherausgeber der Briefe) würde ihn nicht nur veranlassen, seine Arbeit auf diesem Gebiet noch zu intensivieren, auch der Auswahl der Briefe zugute kommen [. . .]. Ohne die Beteiligung von Herrn Blaufuß wird die Briefausgabe nicht das Optimum erreichen, das wir ihr alle wünschen müssen, insbesondere jemand, der in die Vorbereitung dieser Ausgabe so viel Vorarbeiten investiert hat, wie ich.“ Ob Aland überhaupt genaue Kenntnis von den Spenerforschungen von Blaufuß hatte, ist unklar. Klar war nur, Aland begriff schnell, dass die causa Blaufuß als Waffe gegen mich einzusetzen war. In Alands Widerspruch kündigte sich bereits an, dass er diese Waffe nicht aus der Hand geben wollte und der Ausgang des Berliner Versöhnungsgesprächs für ihn keine Rolle spielen werde. Dr. Schäfer ließ bei der Kommissionssitzung in Marburg 1988 anders als Herr Gottschick, der den Antrag nie angenommen hätte, den von Aland wenn nicht gestellten, so doch inspirierten Antrag zu, über die Wahl von Herrn Blaufuß als Vollmitglied abzustimmen. Herr Schäfer hat mir später (bei unserem Gespräch in Stuttgart Februar 1990) zugegeben, dass er selbst für den Antrag gestimmt habe. Blaufuß erhielt jedoch nicht die erforderliche Mehrheit, so dass der Antrag abgelehnt wurde. Dass unter dem Vorsitz von Herrn Schäfer, sich der Wind gedreht hatte und aus Münster blies, wo Aland weniger an einer Zusammenarbeit mit Blaufuß interessiert war als daran, meine im Berliner Versöhnungsgespräch eingeräumten Zugeständnisse gegen mich auszunutzen, sollte ich bald merken. Dass Blaufuß in der Folge literarisch alles getan hat, die Spenerbriefausgabe der Pietismus-Kommission durch kleinlich kritisierende Rezensionen und in 27 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

alle Welt an zahllose Adressaten versandte Artikel, in denen er sich über mich beschwerte, zu diskreditieren, kann ich übergehen. Erwähnen will ich nur, dass mir ein Kollege, Mitherausgeber der Pastoralblätter, in denen Blaufuß einen seiner Artikel veröffentlichte, verwundert von den 150 bis 200 Sonderdrucken erzählte, die dieser bestellt habe. Das Ausmaß dessen, was gegen mich geschrieben und versandt wurde, kann man sich vorstellen. So ging das über lange Jahre. Mich regte dies nicht auf, aber der Verleger Siebeck wunderte sich am 30. September 1994: „[N]achdem die Theologische Literaturzeitung es für klug gehalten hat, Herrn Blaufuß über Ihren Spener-Briefband berichten zu lassen, haben wir nun den Salat: das Gestänker geht weiter.“ Er legte mir eine Kopie der Rezension bei für den Fall, dass ich sie noch nicht zu Gesicht bekommen hätte. „Ich hoffe dabei, daß Sie sich davon nicht zu sehr ärgern lassen.“ Ich antwortete Herrn Siebeck am 10. Oktober 1994 zu der Rezension: „Da ich an Ihren Randbemerkungen sehe, daß Sie sie sorgfältig gelesen haben, will ich Ihnen nur kurz meine Meinung mitteilen. Zunächst: geärgert habe ich mich über diese Rezension eigentlich gar nicht. Da ich seit langen Jahren gewohnt bin, Gegenstand der wissenschaftlichen Amokläufe von Herrn Blaufuß in allen möglichen Zeitschriften zu sein, bin ich ihm eher dankbar, daß er den Bekanntheitsgrad unserer Ausgabe steigert. Der Mann hat ja in der Wissenschaft gar kein Ansehen – die überaus positive Rezension des gleichen Bandes von Herrn Brecht in der Zeitschrift für Kirchengeschichte macht sicherlich sehr viel mehr Eindruck.“ Ich sei über die Rezension eher erleichtert, denn ich musste besorgt sein, dass er aufgrund seiner jahrelangen Forschungen uns auf Briefe aufmerksam macht, die wir übersehen haben. „Die Besorgnis war ganz unbegründet. Mein Mitarbeiter Dr. Matthias schrieb mir nach Lektüre der Rezension: ‚Abgesehen von Hinweisen auf ein paar Druckfehler bringt er wohl keine neue Erkenntnis.‘“ Herr Siebeck dankte mir am 10. Oktober für meinen Brief, „der mich insofern beruhigt hat, als Sie sich auch von dem neuesten Schuß von Herrn Blaufuß nicht aus der Ruhe bringen lassen.“ Allerdings sollte ich bald merken, dass es für mich nicht nur mit Aland, sondern auch mit Martin Brecht, dem stellvertretenden Vorsitzenden und Geschäftsführenden Herausgeber des Jahrbuchs Pietismus und Neuzeit, Probleme gab. Aland hatte den Band 4 unseres Jahrbuches, der den Anfängen des Pietismus gewidmet war und die Referate enthalten sollte, die bei einem Treffen verschiedener Kirchenhistoriker und Historiker in Münster im März 1976 vorgelegt worden waren, dazu genutzt, seine ursprünglich für die Festschrift Martin Schmidt angekündigte Auseinandersetzung mit meinem Spenerbuch darin zu veröffentlichen. Das Manuskript seines Beitrags ging mir als Mitherausgeber des Jahrbuchs vor der Drucklegung zu. Da ich aus dem Beispiel anderer Jahrbücher wusste, dass ein Herausgeber das Recht hat, auf eine Kritik an ihm im gleichen Band zu antworten, machte ich mich umgehend an eine Widerlegung, zu der es Aland mir nicht schwer gemacht hatte. „Ich habe 16 Seiten Replik auf Aland auf einen Zug niedergeschrieben“, lese ich in einem Brief von mir an Hartmut Lehmann. Als Aland gegen eine Replik von mir im 28 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

gleichen Band Einspruch erhob, drang ich auf der Herausgebersitzung im Frühjahr 1978 darauf, dass über die Aufnahme meiner Replik nicht Aland, sondern nur der Kreis der Herausgeber zu entscheiden habe. Nachdem ich einstimmig die Zustimmung der Herausgeber fand, zog ich den Antrag auf eine Erwiderung im gleichen Band zurück und erklärte, meine Replik auf den nächsten Band des Jahrbuchs zu verschieben. Der Herausgeberkreis beschloss einstimmig die Aufnahme für den nächsten Band. Alands Aufsatz endet im Druck mit der redaktionellen Nachbemerkung: „Johannes Wallmann, mit dem sich dieser Aufsatz vor allem auseinandersetzt, wird darauf in absehbarer Zeit erwidern.“ Den mit Brecht als dem Geschäftsführenden Herausgeber abgesprochenen Abgabetermin meines Manuskripts hielt ich ein. Doch ich erfuhr zu meinem Erstaunen Anfang Oktober von Brecht, dass aufgrund einer bedauerlichen „Fehlkalkulation“ im nächsten Band für meine Replik keine „Luft“ mehr vorhanden sei. Auch wenn ich für Brechts schwierige Position als unmittelbarer Kollege von Aland Verständnis hatte, traf mich die Nichtaufnahme meiner vom Herausgeberkreis für diesen Band vorgesehenen Replik tief. Bis dahin hatte ich mit Brecht gut und problemlos zusammengearbeitet. Aber ich hatte mich wohl getäuscht, wenn ich den Spruch „Du willst bei Fachgenossen gelten? Das ist vergebene Liebesmüh. Was Dir mißlang, verzeihen sie selten. Was dir gelang, verzeihen sie nie“ nur auf mein Verhältnis zu Aland bezog, von dem ich diesen Spruch gelernt hatte. Nicht dadurch, dass ich irgendetwas tat, sondern weil mir aufgrund meines Spenerbuchs der wissenschaftliche Aufstieg viel schneller gelang als ihm, machte ich Brecht das Leben offensichtlich schwer. Martin Brecht und ich kamen beide aus der gleichen Tübinger kirchengeschichtlichen Schule von Hanns Rückert und hatten in der von ihm übernommenen Art, sowohl ganz Theologe wie ganz Historiker zu sein, von daher vieles miteinander gemeinsam. Beim Lesen von Brechts Schriften empfinde ich noch heute mit Sympathie die gemeinsame Herkunft aus der Tübinger Schule. In der 1966 erschienenen Festschrift für Rückert standen unsere beiden Beiträge nebeneinander, seiner über Philipp Jakob Spener und die württembergische Kirchengeschichte, meiner über Pietismus und Orthodoxie. Uns trennten nur zwei Jahre Altersabstand. Aber während Rückert mir auch persönlich nahe stand und mir gratulierte, dass mein Name schon kurz nach meiner Habilitation bei der Besetzung des Tübinger Lehrstuhls, den Klaus Scholder erhielt, auf die Berufungsliste gesetzt werden sollte, tat er für Martin Brecht wenig und verbarg vor ausländischen Kollegen nicht, dass er über diesen Schüler nicht glücklich war. Während ich bald nach meiner Habilitation 1971 einen Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochum erhielt, musste Brecht, der sich zwei Jahre früher als ich habilitiert hatte, lange Jahre warten, bis er nach Münster berufen wurde. Er musste zusehen, dass ich von der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ als für die Kirchengeschichte zuständiger Mitherausgeber gewählt wurde. Dadurch kam ich in ein näheres Verhältnis zu dem für evangelische Theologie maßgebenden 29 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Verlag Siebeck-Mohr Tübingen, bei dem Brecht nicht gut angesehen war, nachdem er eine begonnene Ausgabe der Werke von Johann Brenz liegen ließ und nicht weiterführte. Die „Beiträge zur Historischen Theologie“, eine der angesehensten Reihen der evangelischen Theologie, gab Gerhard Ebeling 1980 an mich weiter, wodurch meine Verbindung zum Verlag Siebeck-Mohr enger wurde. Als Hanns Rückert einige Jahre nach seinem Tod wegen seiner Haltung zu Beginn des Dritten Reichs angegriffen wurde und Gerhard Ebeling darüber in Tübingen ein außerordentliches privates Seminar mit den Freunden und Schülern Rückerts veranstaltete, wunderte sich niemand, dass Martin Brecht nicht eingeladen wurde. Nach dem Tod von Hubert Jedin wurde ich 1980 auf den für Kirchengeschichte bestimmten Stuhl in der Rheinisch-Westfälischen (später Nordrhein-Westfälischen) Akademie der Wissenschaften berufen, nicht ein Kirchenhistoriker aus Münster, worüber der in vielen wissenschaftlichen Akademien sitzende Kurt Aland sein Missvergnügen nicht verbarg. Als in Tübingen der Lehrstuhl für Kirchengeschichte nach dem Weggang von Heiko Oberman neu besetzt werden musste, rechnete Brecht, der sich inzwischen durch den ersten Band seiner Lutherbiographie einen internationalen Namen erworben hatte, fest mit der Rückkehr aus seinem Exil in die württembergische Heimat und wurde schon von der Stuttgarter Zeitung als der selbstverständliche Nachfolger Obermans verkündet. Brecht musste ansehen, dass der Ruf nach Tübingen an mich erging. Für mich war es, als ich den Ruf nach Tübingen ablehnen musste, geradezu eine Beruhigung, dass mein Verhältnis zu Brecht keine zusätzliche Belastung erfuhr. Brecht konnte es nicht verborgen bleiben, dass Oskar Söhngen ein besonders vertrautes Verhältnis zu mir hatte und mich an führender Stelle sehen wolle. In einer Kommissionssitzung sprach Söhngen davon, dass ich, der ich in den Internationalen Arbeitskreis für Barockliteratur in Wolfenbüttel gewählt worden war, der einzige in der Pietismus-Kommission sei, der eine Verbindung zur Herzog August Bibliothek habe, woran er bestimmte Bitten knüpfte. In einem Brief vom 21. Juli 1978 sprach Söhngen zu mir von der Pietismusforschung „innerhalb deren Sie eine führende Rolle – nach dem Ausfall von Martin Schmidt m.E. sogar die führende Rolle zu spielen berufen sind. (Dies als vertrauliche Meinungsäußerung !).“ Dass der Herausgeberkreis unseres Jahrbuches meinen Vorschlägen und nicht den seinigen folgte, führt häufig zu zornigen Ausbrüchen seines cholerischen Temperaments, ohne dass ich die Isolierung, in die er dadurch im Herausgeberkreis geriet, beabsichtigt hatte. Ich habe niemals Ambitionen auf eine führende Rolle in der Pietismus-Kommission gehabt und vielleicht gerade durch mein Unbehagen an Brechts Drang, auf Tagungen die Rolle des Platzhirsches zu spielen, seinen Unmut erregt. Während der drei Jahrzehnte meiner Bochumer Lehrtätigkeit habe ich mich an der Arbeit des „Vereins für westfälische Kirchengeschichte“ niemals beteiligt, obwohl ich mütterlicherseits aus einer Ravensberger Familie stamme. Stattdessen habe ich wiederholt an den Tagungen der Nachbarvereine, des „Verein für Kirchengeschichte des Rheinlands“ und der „Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte“ teilge30 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

nommen und in deren Jahrbüchern publiziert, auch an Tagungen in Kurhessen-Waldeck mich beteiligt. Die Nichtaufnahme meiner Replik auf Aland hat mein Verhältnis zu Brecht erheblich belastet. Aber ich habe dies nicht an die große Glocke gehängt. Meine Replik habe ich statt in unserem Jahrbuch in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ veröffentlicht, wofür ich mein Manuskript allerdings um ein Drittel kürzen musste. Mehr Worte als „daß ich nicht ohne Grund ein für das Pietismusjahrbuch bestimmtes Manuskript schließlich der Zeitschrift für Theologie und Kirche gab (was mich notabene kurzfristig zu erheblichen Kürzungen zwang)“10 habe ich darüber nicht verloren. Söhngen, dem ich ein Separatum meiner Anwort auf Aland schickte, schrieb mir am 22. April 1980, sein erster Eindruck beim Durchlesen sei gewesen, dass ich offenbar die besseren Argumente habe. „Besonders dankbar bin ich Ihnen für die maßvolle Art der Polemik, wenn gleich ein feines Ohr hier und da den ironischen Unterton nicht überhören kann.“ In der Sitzung der Pietismus-Kommission vom 14. Juni 1982 berichtete ich, dass ich bei der DFG einen Antrag auf Förderung des Projekts der Briefe Speners aus der Frankfurter Zeit gestellt hätte und mir in Dr. Udo Sträter ein fähiger Mitarbeiter zur Seite stehe. Das Protokoll bemerkt zu TOP 5: „Wallmann erklärt sich bereit, Briefe aus der Frankfurter Zeit (1666–1686) in chronologischer Folge zu übernehmen. Aland wird die Briefe der Dresdner und der Berliner Zeit bearbeiten. Aland wird es freigestellt, Blaufuß um seine Mitarbeit zu bitten.“ Ich wandte mich daraufhin am 30. November 1982 an den Vorsitzenden Gottschick und erinnerte daran, dass die Kommission den Auftrag zur Edition der Briefe Speners mir übergeben habe. „Jetzt lese ich im Protokoll der letzten Sitzung, daß Aland die Briefe der Dresdner Zeit und der Berliner Zeit bearbeiten wird. Wenn das Protokoll der Kommission einmal Hü und das nächste Mal Hott sagt, wird es sehr schwer, zur Mitarbeit bereit zu sein.“ Die nächste Irritation kam, als in der Sitzung vom 12. Dezember 1982 unter TOP 4 über die Spener-Editionen verhandelt wurde. Ich berichtete über den Spener-Briefwechsel. Geplant seien sechs Briefbände. Aland berichtete über die angesichts der Briefausgabe notwendige Kürzung seiner umfangreichen Ausgabe. Das Protokoll bemerkt zu Alands Bericht „Die Briefe bleiben außerhalb in einer besonderen Reihe. Dafür müßte wohl ein neuer Verlag gesucht werden. Auch von anderen Mitgliedern wird angeregt, nach anderen Verlagen Ausschau zu halten.“ Daraufhin habe ich beim Vorsitzenden nachgefragt, in welcher Reihe des bis in die Einzelheiten geplanten Editionsprogramms der „Texte zur Geschichte des Pietismus“ (TGP) die Briefe Speners stehen sollten. Die Werke Speners sollten in einer Abteilung 1 erscheinen. Daneben war die Abteilung 2 vorgesehen für die Predigten und Schriften August Hermann

10 Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 390.

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Franckes. Eine Abteilung 3 gab es für den handschriftlichen Nachlass August Hermann Franckes, in dem solch unterschiedliche Projekte wie der Briefwechsel Franckes mit Carl Hildebrand von Canstein und die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs Aufnahme finden sollten. Innerhalb des auch gedruckt vorliegenden Editionsplans gab es für eine Briefausgabe Speners keinen Platz bzw. man hätte einen solchen erst schaffen müssen. Da in den Sitzungen der Pietismus-Kommission die Briefausgabe regelmäßig unter dem für TGP vorgesehenen Tagesordnungspunkt besprochen wurde, musste ich den Verweis der Briefausgabe auf eine besondere Reihe und einen neuen Verleger als eine klandestine Exkommunikation verstehen. Der Vorsitzende konnte mir dazu keine Auskunft geben. Wo innerhalb der „Texte zur Geschichte des Pietismus“ die Spenerbriefausgabe platziert werden sollte, ist in der PietismusKommission nie beraten, geschweige denn beschlossen worden. Bei Beginn der Arbeit für Band 1 der Spenerbriefausgabe hatte ich Heinz Scheible, den Herausgeber von Melanchthons Briefwechsel, um Rat gefragt. Das wichtigste sei, antwortete er mir, dass ich einen Verleger habe. „Wenn Sie keinen Verleger haben, brauchen Sie eine solche Edition gar nicht anzufangen“. Die Suche nach einem Verleger war für mich also dringend. Bei einem der üblichen Autorenbesuche besuchte mich kurz vor Weihnachten 1981 der mir seit langen Jahren bekannte Göttinger Verleger Arndt Ruprecht. Ich wusste, dass die Pietismus-Kommission mit ihm in Verhandlungen stand, da der Verlag de Gruyter zu dieser Zeit aus der Betreuung der „Texte zur Geschichte des Pietismus“ ausschied und nur noch die bereits begonnenen Editionen zu Ende bringen wollte. Zu meiner Verwunderung sprach Herr Ruprecht mich auf verschiedene Projekte an, zeigte aber kein Interesse an der Spenerbriefausgabe, die ihm bekannt sein musste. Davon, dass er die Spenerbriefausgabe liebend gern übernommen hätte, wie er später erklärt haben soll, konnte ich nichts bemerken. Daraufhin holte ich das Einverständnis Herrn Gottschicks ein, bei der nächsten Herausgebertagung der Zeitschrift für Theologie und Kirche im Februar 1982 den Tübinger Verleger Siebeck, in dessen Verlag meine Dissertation und meine Habilitationsschrift erschienen waren, zu fragen, ob er an einer Ausgabe der Briefe Speners Interesse habe. Herr Siebeck bekundete Interesse, ließ sich in Tübingen von mir genauer berichten, informierte sich über die zur Ausgabe der Schriften Speners entstandene wissenschaftliche Diskussion, wozu ich ihm entsprechende Skripten zustellte, und sagte nach kurzem Bedenken zu, wohl weil er mich lange kannte und mit meiner vom Ullstein Verlag übernommenen kleinen Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation keine schlechten Erfahrungen gemacht hatte. Das Verlegerwort genügte. Einen schriftlichen Vertrag gab es zunächst nicht. Ich informierte sofort den Vorsitzenden Gottschick, der darüber erfreut war, dies auch in der nächsten Sitzung der Kommission berichtete und meine Initiative ein Vorbild für andere Editionen der Pietismus-Kommission nannte, für die man nach der Absage de Gruyters nach einem Verleger suchte. 32 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Eine neue, diesmal schwerwiegende Irritation entstand, als 1985 Peter Schicketanz, Schüler und Mitarbeiter Alands an der Herausgabe des handschriftlichen Nachlasses von August Hermann Francke, Mitglied der Sektion Ost der Pietismus-Kommission, in den Blättern für württembergische Kirchengeschichte einen Artikel Zur Ausgabe der Werke Speners veröffentlichte.11 Darin erklärte er die Spenerausgabe der Pietismus-Kommission durch die im Olms Verlag angekündigte Reprintausgabe für nicht mehr lebensfähig. Bedauerlicherweise hätte es keine Absprache zwischen Beyreuther, dem Herausgeber der Reprintausgabe, und der Pietismus-Kommission gegeben. Wieder einmal hätte die Pietismus-Kommission das Nachsehen. Denn der schmale Markt für solche Quelleneditionen vertrage keine Doppeleditionen. Dass der Aufsatz eines Mitglieds der Pietismus-Kommission in den Blättern für württembergische Kirchengeschichte erschien, zu deren Herausgebern Schäfer und Brecht, zwei weitere Mitglieder der Kommission gehörten, zeigte, dass hier nicht nur ein einzelner gesprochen hatte. Der Aufsatz war offensichtlich in Absprache mit den Herren Schäfer und Brecht veröffentlicht worden. Einerseits war ich froh, dass endlich ein zur Kommission gehörender enger Mitarbeiter Alands öffentlich erklärte, dass seine Spenerausgabe tot sei. Ich hatte in der Pietismus-Kommission wiederholt erklärt, dass es keinen Sinn habe, die nicht unbeträchtlichen kirchlichen Gelder, die von den Kirchen für die Pietismusforschung jährlich bewilligt werden, für ein in der öffentlichen Meinung längst für tot erklärtes Projekt zu verwenden. Bei den kirchlichen Mitgliedern der Kommission machte ich mich nicht beliebt, wenn bei der jährlichen Beratung über die Mittelverteilung ich mir ständig die spöttische Bemerkung erlaubte, der größte Teil der Mittel werde wieder für „Leichenpflege“ vorgesehen. Offensichtlich hatte jetzt auch Herr Schäfer, der Alands Edition ständig mit der Bemerkung verteidigte, dass Reprintausgaben nicht weiter helfen, eingesehen, dass eine Weiterförderung dieses Großprojekts der Kommission nicht möglich sei. Andererseits war ich über den Artikel von Schicketanz in hohem Maße erzürnt. Denn im gleichen Zusammenhang, in dem die Reprintausgabe des Olms Verlags als die nun an die Stelle der geplanten historisch-kritischen Spenerausgabe der Kommission tretende Spenerausgabe vorgestellt wurde, war von der geplanten Briefausgabe der Pietismus-Kommission mit keinem Wort die Rede. Schicketanz machte sogar den Vorschlag einer wissenschaftlichen Briefausgabe, was nur als ein Ratschlag an die Reprintausgabe des Olms Verlags verstanden werden konnte. Es war also der Fall eingetreten, dass ein Mitglied der Pietismus-Kommission erklärte, Blaufuß solle im Olms Verlag den Spenerbriefwechsel edieren. Den Vorsitzenden Gottschick, der mir kommentarlos den Artikel von

11

Peter Schicketanz: Zur Ausgabe der Werke Philipp Jakob Speners. In: BWKG 1983/84, 224–

233.

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Schicketanz aus den Blättern für württembergische Kirchengeschichte schickte, machte ich darauf aufmerksam, dass in einer von zwei Mitgliedern der Pietismuskommission herausgegebenen Zeitschrift ein drittes Mitglied der Kommission öffentlich einen Kommissionsbeschluss desavouiere und bat ihn um seine Stellungnahme. Gottschick, der mir erst nach Rückkehr aus dem Urlaub antworten wollte, beschwerte sich daraufhin bei Schicketanz wegen des Verschweigens der von der Kommission beschlossenen Briefausgabe. In einem Brief vom 10. Juli 1985, den er abschriftlich Präsident Kraske, Dr. Schäfer und mir zusandte, warf er Schicketanz vor, dass der an Wallmann „in aller Form erteilte Auftrag unserer Kommission zur Herausgabe des Spener-Briefwechsels der Frankfurter Jahre durch Sie nicht berichtet wird“, und zählte ihm die häufigen Beschlüsse und Berichte zur Edition der Briefe Speners auf. Schicketanz entgegnete, da er nur als Gast an den Sitzungen der Kommission West teilnehme, könne er nicht öffentlich über ihre Beschlüsse reden. Die Kommission halte sie geheim und habe noch nie öffentlich über den Plan einer Briefausgabe gesprochen. Damit hatte er Recht, aber es war doch deutlich zu merken, dass er sich im Blick auf Spener von der Pietismus-Kommission emanzipieren und zur Reprintausgabe des Olms Verlags überlaufen wollte. Bald darauf erschien unter dem Titel Speners Briefwechsel ein Reprint der Spenerschen Bedenken im Olms Verlag, herausgegeben von Dietrich Blaufuß und Peter Schicketanz. Dass ein ordentliches Mitglied der Kommission zu einer mit dem Briefprojekt der Kommission konkurrierenden Spenerbriefausgabe eines anderen Verlags überlief, ließ mich bereits überlegen, aus der Pietismus-Kommission auszutreten. Deshalb schrieb ich am 9. Januar 1985 an den Vorsitzenden Gottschick, den ich hinsichtlich der Sache mit mir einig wusste: „Jedenfalls werde ich, nachdem ich einmal diese Aufgabe übernommen habe, für das Gelingen dieser Aufgabe kämpfen, und wenn ich dabei sehe, dass ich von der Kommission, die mir diesen Auftrag gab, im Stich gelassen werde, und man es ungestraft geschehen lässt, dass aus dem Kreis der Kommissionsmitglieder eine andere Spenerbriefausgabe besorgt wird, dann werde ich nicht nur aus der Kommission austreten, sondern ich werde auch öffentlich erklären, dass man bitte die Spenerbriefausgabe von Herrn Blaufuß als Briefausgabe der Historischen Kommission ansehen möchte, da er ja schließlich Mitglied der Kommission sei.“ Schließlich zog Aland daraus, dass der Tod der historisch-kritischen Spenerausgabe selbst von einem ihm nahe stehenden Kommissionsmitglied öffentlich bekannt gegeben wurde, die Konsequenz und hielt am 30. September 1985 vor der Kommission ein Referat Zur Ausgabe der Werke Philipp Jakob Speners. Er hatte den gleichen Titel gewählt, unter dem Schicketanz in den „Blättern für württembergische Kirchengeschichte“ über die Spenerausgabe geschrieben hatte, und veröffentlichte ihn im Jahrbuch 1986.12 Aland gab zunächst einen Rückblick auf den schon 1942 in seinen Spener-Studien entwickelten Plan einer 12

Kurt Aland: Zur Ausgabe der Werke Philipp Jakob Speners. In: PuN 12, 1986, 127–161.

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historisch-kritischen Ausgabe der Schriften Speners, den er nach dem Krieg zunächst in modifizierter Form durch eine im Verlag Frommann-Holzboog ca. 1960 angekündigte Spener-Ausgabe in 20 Bänden, die im photomechanischen Nachdruck erscheinen sollte, zu verwirklichten suchte. Nach Gründung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus 1964 habe er zu dem ursprünglichen Plan einer kritischen Ausgabe zurückkehren können. Inzwischen habe sich aber die Lage durch zwei Dinge entscheidend gewandelt. Wallmanns Vorhaben, das mit seiner Zustimmung beschlossen sei, habe den Charakter der historisch-kritischen Ausgabe ganz erheblich verändert. Durch Wallmanns Vorhaben werde der Umfang der 20 Bände auf 15 Bände verringert. Aland, der wiederholt Blaufuß als maßgebende Autorität für die Spenerforschung zitierte, kritisierte Wallmanns Beschränkung der Briefausgabe auf die Frankfurter Zeit. „Eine solche Briefausgabe 1686 abzubrechen, wäre [. . .] so, als wenn man eine Beschäftigung mit Luther 1525 enden ließe. Damit wären die Jahre, in denen sein Werk eigentliche Gestalt gewann, völlig außer Betracht gelassen“.13 Das Unternehmen Beyreuthers gefährdete die Ausgabe in ihrer Existenz. Die Ausgabe Beyreuthers könne aber, auch wenn ihm Blaufuß „mit seiner intimen Kenntnis des Schrifttums Speners und seiner stupenden Gelehrsamkeit Grundlage und Rückgrat für seine Ausgabe liefert“,14 viele zum Verständnis notwendige Angaben nicht bieten. Für die wichtigsten Schriften Speners sei eine mit einem die Namen und Sachen kommentierenden Apparat ausgestattete kritische Ausgabe neben der Reprintausgabe notwendig. Aland votierte für das Festhalten am Beschluss einer kritischen Ausgabe, nur nahm er eine Reduktion des Umfangs auf 10 Bände vor. Die Kommission zeigte sich von diesem Plan überzeugt und stellte weiterhin die Mittel für die Spenerausgabe Alands bereit, die weiterhin den größten Posten der zur Verfügung stehenden kirchlichen Mittel ausmachten. Im Sommer 1987 kam es zu einem merkwürdigen Kontakt mit dem Verlag Georg Olms, der in seinem Verlagsprogramm den Reprint der Werke Speners angekündigt hatte, dabei auch eine Reihe Korrespondenz und in ihr einen Nachdruck der Spenerschen Theologischen Bedenken, der Letzten Theologischen Bedenken und der Consilia et Iudicia theologica latina. Der Lektor des Olms Verlags Dr. Peter Guyot, wandte sich brieflich am 7. Juli 1987 an mich: „Von den Herausgebern der Edition wurde uns eine Information übermittelt, derzufolge es eine Absprache zwischen Ihnen und unserem Verlag gäbe, daß wir auf die Veröffentlichung der Korrespondenz Speners verzichten.“ Das habe den Olms Verlag in Erstaunen versetzt und sei eine Falschinformation. „Speners Korrespondenz wird plangemäß im Rahmen unserer Ausgabe herauskommen. Der erste Band wird Ende dieses Jahres erscheinen.“ Er bitte mich, solchen Falschmeldungen entgegenzutreten, wo immer sie mir begegnen.

13 14

Aland [s. Anm. 12], 142. Aland [s. Anm. 12], 136.

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Es fiel mir leicht, umgehend zu antworten, dass es der Olms Verlag sei, der einer Fehlinformation erlegen sei. Auch ich könne bestätigen, dass es eine solche Absprache nicht gibt. Zugleich bat ich Prof. Beyreuther herzliche Grüße von mir auszurichten. Ich sei gern bereit, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Dr. Guyot antworte mir am 10. August 1987: „Es beruhigt mich, daß der ursprüngliche Anlaß unserer Korrespondenz nun offenbar aus der Welt geschafft ist und Sie auch in Zukunft bereit sind, die Entstehung möglicher Mißverständnisse über eventuelle Absprachen zwischen Ihnen und dem Olms Verlag zu verhindern.“ Das konnte ich leicht, wunderte mich aber, wie solche aus der Luft gegriffene Unwahrheit an den Olms Verlag gemeldet werden konnte. Wie ich erst Jahre später erfuhr, war man einer fehlerhaften Angabe in einem nicht genehmigten Protokoll der Pietismus-Kommission auf den Leim gegangen. In meinem nächsten Brief an den Olms Verlag bemerkte ich bezüglich des mir zugesandten Prospekts des Verlags, nach dem die Korrespondenz Speners herausgegeben werde: „Meines Wissens wird von Ihnen nicht eine Herausgabe des Spenerschen Briefwechsels veranstaltet, sondern ein Reprint der Theologischen Bedenken Philipp Jakob Speners. Da ich mit Hilfe der DFG eine Herausgabe der Briefe Speners aus der Frankfurter Zeit 1666–1686 plane, möchte ich darauf hinweisen, daß Bedenken und Briefe nicht dasselbe ist. Wenn Sie einmal den von Ihnen als Band 15 geplanten Band der Theol. Bedenken Speners zur Hand nehmen, werden Sie feststellen, daß er zahlreiche umfangreiche theologische Gutachten von teilweise über 100 Seiten Umfang enthält. Derartige Texte, die keinen Briefcharakter haben, werden in unserer Briefausgabe nicht erscheinen.“ Mit der Angabe Speners Korrespondenz segele der Reprint des Olms Verlags unter falscher Flagge. Dr. Guyot hatte mir am 10. August 1987 den Prospekt mit der Ankündigung Bände XI–XVI: Korrespondenz zugeschickt und dazu bemerkt: „Die im Prospekt erwähnten Beihefte mit Kommentaren zu diesen Texten [mit denen nach Blaufuß der Reprint auf das Niveau einer Ausgabe des Briefwechsels gehoben werden sollte, d.Vf.] werden im Laufe der Zeit noch konzipiert werden müssen, Ich möchte den Herausgebern da völlig freie Hand lassen.“ Ob mein Brief darauf Einfluss hatte, dass der Olms Verlag auf die Realisierung dieser Ankündigung verzichtet hat und sich auf einen Reprint der Bedenken beschränkte, weiß ich nicht. Bis heute muss man auf das Erscheinen eines dieser Beihefte warten. So kann man behaupten, dass der Olms Verlag, ohne mit mir eine Absprache getroffen zu haben, auf die angekündigte Ausgabe der Korrespondenz Speners verzichtet hat. Der Reprint der Spenerschen Bedenken und Consilia im Olms Verlag, den ich zunächst als einen Affront gegen die von mir geplante Briefausgabe und Sabotage eines Projekts der Pietismuskommission verstanden habe, begrüße ich inzwischen, da in der Reprintausgabe die zahlreichen umfangreichen Gutachten, die wir in unsere Briefausgabe nicht aufnehmen, leicht aufzufinden sind. Der Vorwurf, unsere Ausgabe sei ein „Etikettenschwindel“, da sie nur die Briefe Speners, nicht seinen Briefwechsel bringe, fällt auf Blaufuß selbst zurück, da der Reprint der Spenerschen Bände unter dem Titel Korrespondenz angezeigt wird. 36 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Im gleichen Jahr 1987 erschien in der „Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte“ ein großer Aufsatz von Dietrich Blaufuß Speners Briefwechsel – ein editorisches Problem.15 Aus einer umfassenden, staunenswerten Kenntnis von dem erhaltenen und nicht erhaltenen, nur bezeugten Briefwechsel Speners entwickelte Blaufuß eingehend Überlegungen, wie die Forschung mit dieser ‚gewaltigen‘ Korrespondenz umgehen sollte und stellte seine Pläne für die von ihm gestaltete Edition der Korrespondenz Speners im Olms-Reprint vor. Der Reprint der alten Ausgaben, die er als „Speners gedruckte Korrespondenz“ vorstellte, sei nur der Anfang. Sie dürften nicht in ihre Einzelstücke, wie wir es in der Briefausgabe vorhatten, zerlegt werden, vielmehr sei die Ordnungsstruktur der alten Bände als ‚bindende Norm‘ zu respektieren. Die Bände seien allenfalls durch weitere Spenerbriefe, über deren Vorhandensein er umfassende Informationen gab, zu ergänzen. Das wichtigste sei die Ergänzung durch die an Spener gerichteten Briefe. Durch die Erfassung der erhaltenen und der nur bezeugten Briefe, die an Spener gerichtet wurden, sollten zunächst ‚Korrespondenzprofile‘ für die einzelnen Teile des Spenerschen Briefwechsels erstellt werden. Erst dann sei an die Veröffentlichung zu denken. Der Reprint der alten Sammlungen werde durch Beihefte und Kommentarbände ergänzt werden. Auf diese Weise solle mit der Edition der Korrespondenz Speners umgegangen werden. Der gleichzeitig mit dem ersten Band der Spener-Reprintausgabe (Korrespondenz) erscheinende Aufsatz über Speners Briefwechsel musste als Kritik an der in Bochum geplanten Ausgabe der Spenerbriefe aufgefasst werden. Ich selbst scheute mich davor, gegen Blaufuß zu schreiben und habe abgesehen von zwei Rezensionen, um die ich gebeten worden war (ZKG 97, 1986, 126–128. 128– 131), niemals gegen Blaufuß oder über ihn geschrieben. Udo Sträter unternahm es, sich mit der Argumentation von Blaufuß in der gleichen Zeitschrift unter dem Titel Von Bedenken und Briefen – Zur Edition der Briefe Philipp Jacob Speners auseinander zu setzen.16 Sträters Aufsatz, der noch heute lesenswert ist, ist eine faire, sachlich bleibende Auseinandersetzung mit den später wiederholt von Blaufuß in Rezensionen gegen unsere Briefausgabe geäußerten Bedenken. Er widerlegt im Einzelnen jedes von Blaufuß gegen die Briefausgabe vorgebrachte Argument. Es ist wohl letztlich dem Aufsatz von Sträter zuzuschreiben, dass der Olms Verlag nie an die Realisierung des Drucks der für die Korrespondenz Speners angekündigten Beihefte gegangen ist. Da ich nach fünf Jahren der Förderung durch die DFG gewärtig sein musste, dass die DFG nur noch für die kommenden fünf Jahre einen Mitarbeiter fördern würde, wandte ich mich in einem langen Brief vom 29. Dezember 1988 an Bischof Kruse, schilderte ihm die in jeder Hinsicht (geeignete Mitarbeiter, 15

Dietrich Blaufuß: Speners Briefwechsel – ein editorisches Problem. In: ZRGG 39, 1987, 47–

68.

16 Udo Sträter: Von Bedenken und Briefen – Zur Edition der Briefe Philipp Jacob Speners. In: ZRGG 40, 1988, 235–250.

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genügend räumliche und technische Ausstattung, gute Zusammenarbeit mit einem Verleger) beispiellos gute Situation der von mir an der Ruhr-Universität Bochum aufgebauten Spenerarbeitsstelle. Ich richtete an ihn die Bitte um eine unbefristete kirchliche Stelle für einen Wissenschaftlichen Mitarbeiter im Angestelltenverhältnis. „Ich könnte für die nächste Zeit einen unserer erfahrensten wissenschaftlichen Editoren gewinnen: Dr. Hartmut Rudolph, derzeit Wiss. Mitarbeiter bei Herausgabe der Werke Martin Bucers [. . .]. Nachdem ich für die schwierige Anlaufphase unserer Edition einen gründlichen Kenner des Barockzeitalters brauchte, brauche ich jetzt für die zügige Weiterarbeit einen Mann, der Editionserfahrung hat. Ich könnte mir keine bessere Lösung vorstellen.“ Sollte sich hier keine Lösung finden, würde ich das Projekt nicht weiterführen wollen. „Ich habe die letzten Jahre erhebliche Zeit investiert und bin dafür aus anderen vertraglichen Verpflichtungen unter Inkaufnahme persönlicher Nachteile wieder ausgeschieden. Man braucht wirklich Enthusiasmus für eine solche Aufgabe. Aber ohne Ermutigung geht das auch nicht. Ich verbürge mich mit meinem wissenschaftlichen Ruf für ein Projekt, das weit über den Raum der Kirche hinaus in den anderen Wissenschaften Interesse und Widerhall finden wird.“ Mit Hartmut Rudolph, der sich durch sein großes Werk über Evangelische Kirche und Vertriebene um die evangelische Kirche verdient gemacht hat, war ich seit Jahren freundschaftlich verbunden. Er wäre gern an die Spenerarbeitsstelle gekommen. Da Bischof Kruse keine Möglichkeit sah, eine der an theologischen Fakultäten nicht seltenen kirchlichen Stellen für die Spenerbriefausgabe zu bekommen, zerschlug sich dieser Plan. Bei dessen Gelingen wäre die Spenerbriefedition zu einem kirchlichen Unternehmen geworden, was mir bei meiner engen kirchlichen Bindung (ich war Presbyter der Universitätskirchengemeinde) eigentlich am liebsten gewesen wäre. Hartmut Rudolph ging stattdessen in die Leibnizforschung und hat bis zu seiner Pensionierung die Leibniz-Forschungsstelle in Potsdam geleitet. Die fünfjährige Förderung durch die DFG lief 1993 aus und eine weitere Förderung schien nicht möglich, weil das Spenerbriefprojekt bei der DFG nicht als Langzeitprojekt verbucht war. Nach der Aufnahme in die Rheinische, später Nordrhein-westfälische Akademie der Wissenschaften hatte ich bald bemerkt, dass neue Akademieprojekte zu beantragen bei der Fülle der Gesuche keine Erfolgschance hatte. Auf Rat des Sekretärs der Akademie Prof. Schneemelcher stellte ich einen Antrag auf Förderung des Projekts bei der Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf. Mein Antrag wurde bewilligt und ich erhielt ab November 1993 bis zum Herbst 1996 Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung. Nachdem ich die Nachricht von der Gerda Henkel Stiftung erhielt, dass mein Antrag genehmigt sei, teilte mir unerwartet die DFG mit, dass der Langzeitausschuss der DFG sich mit meinem Projekt befasst habe. Da die Begutachtung des Projekts die besten Noten erhielt, bot mir die DFG die Übernahme meines Projekts in die damals noch bestehende Langzeitförderung an. Nun konnte ich Förderung desselben Projekts nicht bei zwei verschiedenen Instan38 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

zen beantragen. Deshalb unterbreitete ich zunächst der Pietismus-Kommission den Plan einer Erweiterung meines Plans auf die Dresdner Briefe Speners. Nachdem die Pietismus-Kommission dies begrüßt hatte, stellte ich einen Antrag bei der DFG auf Förderung des Projekts der Briefe Speners aus der Dresdner Zeit 1686–1691. Der Antrag wurde genehmigt und ich konnte einen zweiten wissenschaftlichen Mitarbeiter einstellen. Eine weitere Irritation entstand, als 1988 der erste Band der Briefausgabe zum Druck gegeben werden sollte und in der Kommission nach dem Titelblatt des Bandes gefragt wurde. Die Veröffentlichungen der Pietismus-Kommission haben ein doppeltes Titelblatt. Auf dem rechten Titelblatt steht wie bei anderen Büchern der Name des Autors bzw. Herausgebers und der Sachtitel. Vor diesem Autorentitelblatt nennt ein linkes Titelblatt die Historische Kommission als Herausgeberin und gibt den Ort an, an den das Buch im Editionsprogramm der Kommission einzuordnen ist. Ein solches linkes Titelblatt haben auch die ersten drei Bände des Jahrbuchs Pietismus und Neuzeit. Dort wird das Jahrbuch in eine Reihe eingeordnet, die von Kurt Aland, Erhard Peschke und Martin Schmidt herausgegeben wird. Als Martin Brecht, Friedrich de Boor, Hartmut Lehmann und ich 1978 zu Andreas Lindt und Klaus Deppermann, den bisherigen Herausgebern, hinzu bestellt wurden, haben wir, nach meinen Akten hauptsächlich Lehmann und ich, einen Kampf um das Weglassen des linken Titelblatts geführt. Der auf dem linken Titelblatt als Herausgeber genannte Aland beanspruchte für das Jahrbuch die Federführung. Uns ging es um die redaktionelle Unabhängigkeit, und wir haben uns nach einer von Oskar Söhngen glücklich gefundenen Formulierung im Herausgebervertrag durchgesetzt. Ab Band 4 hat das Jahrbuch Pietismus und Neuzeit, wie jeder feststellen kann, kein linkes Titelblatt mehr. In Erinnerung an diesen Streit machte ich mir um die Titelblattfrage keine Gedanken. Doch in der Kommission wurde ich wiederholt gefragt, ob auf einem Titelblatt auch die Kommission als Herausgeberin genannt sei. Ich erklärte mich bereit, Herrn Siebeck das Begehren der Kommission vorzutragen. Herr Siebeck sagte mir, sein Verlag verhandle mit Autoren, aber nicht mit Kommissionen. In der Kommission erklärte ich, dass die Titelblattfrage für mich kein Problem sei und ich nichts dagegen hätte, wenn der Vorsitzende Dr. Schäfer darüber, dass die Kommission als Herausgeberin angeführt werde, mit dem Verleger verhandle. Herr Schäfer tat das auch, kam aber zu keinem für ihn befriedigenden Ergebnis. Auf der Sitzung vom 12. Dezember 1988 informierte er die Kommission von der Vergeblichkeit seiner Bemühungen. Das Protokoll bemerkt zu TOP 3, der sich mit den Reihen TGP beschäftigt: „Wallmann: Spener Brief-Ausgabe (Bericht Wallmann) [. . .]. Zur Zeit werden noch einige nachträgliche Einarbeitungen vorgenommen. Das Manuskript wird 1989 zum Druck vorliegen. Der Vorsitzende hat mit Herrn Siebeck gesprochen, ob er mit einer Herausgabe durch die Kommission einverstanden ist. Dazu scheint er allerdings keine Neigung zu haben [. . .].“ Am 22. Februar 1990 hatten der Vorsitzende Dr. Schäfer und ich ein aus39 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

führliches Gespräch zur Klärung der zwischen der Pietismus-Kommission und mir offenen Fragen. Das Gespräch fand in Stuttgart in der Lounge des Hotels Zeppelin in der Nähe des Hauptbahnhofs statt und dauerte von 15 bis 17 Uhr. Die wichtigste Frage war, ob ich bei der bevorstehenden Neukonstitution der Pietismus-Kommission bereit sei, Vollmitglied zu werden. Wir erzielten eingangs Einigung, dass die Titelblattfrage angesichts der Haltung des Verlags nicht weiter zwischen uns verhandelt zu werden brauche. Die Spenerbriefedition werde also nicht in den „Texten zur Geschichte des Pietismus“ erscheinen. Zu der Frage, ob ich bereit sei, als Vollmitglied in die Kommission einzutreten, wiederholte ich die wichtigsten Daten meines Verhältnisses zur Kommission. Die Kommission sei an mich herangetreten und habe um meine Mitarbeit gebeten, nicht ich an die Kommission. Einzige Voraussetzung meiner Zusage war für mich, dass ich bei dieser Edition von allen Mitgliedern der PietismusKommission unterstützt werde. Dieser Punkt sei für meine Vollmitgliedschaft die entscheidende Voraussetzung. Schäfer versicherte mir noch einmal, es bleibe dabei, dass Herr Blaufuß, so lange er sich weigere, mit mir zusammenzuarbeiten, zu den Sitzungen der Kommission nicht eingeladen werde. Unter dieser Voraussetzung erklärte ich mich bereit, Vollmitglied zu werden. Am 16. August 1990 starb Klaus Deppermann. Seit Band 2 hatte Deppermann zusammen mit Dietrich Blaufuß, der jetzt ausschied, die Pietismus-Bibliographie herausgegeben. Der Tod von Klaus Deppermann hatte einen Wechsel in der Herausgeberschaft des Jahrbuchs zur Folge. Martin Brecht trat von der Funktion als Geschäftsführender Herausgeber zurück, die er zuletzt wegen anderer Beanspruchungen gar nicht mehr wahrzunehmen imstande war, wie das die sinnentstellenden, die Autoren schädigenden Druckfehler im Inhaltsverzeichnis von Band 17 zeigen. Ulrich Gäbler/Basel wurde für einige Jahre Geschäftsführender Herausgeber. Sodann traten Rudolf Dellsperger/Bern, Arno Sames /Halle und Hans Schneider /Marburg in den Kreis der Herausgeber ein. Nach langer Suche, während deren der Band 17 ohne Pietismus-Bibliographie erschien, übernahm ab Band 18 Privatdozent Dr. Udo Sträter/Bochum die Pietismus-Bibliographie. Am 1. Januar 1991 diskutierte der Herausgeberkreis des Jahrbuchs über die veränderte, von Sträter vorgelegte Konzeption der Pietismus-Bibliographie und bat ihn, ab 1993 auch den Rezensionsteil von Pietismus und Neuzeit zu übernehmen. Am 22. November 1990 hatte ich zur Vorbesprechung der Sitzung vom 10./11. Dezember ein längeres Telefongespräch mit Dr. Schäfer, weil ich beunruhigt war, dass ohne mein Wissen Herr Blaufuß zur Sitzung eingeladen war. Herr Schäfer bestätigte zunächst, mir schriftlich zugesichert zu haben, dass Blaufuß, so lange er sich nicht zur Kooperation mit mir bereit erkläre, nicht eingeladen werden solle. Nun sei durch den Tod von Klaus Deppermann eine neue Lage entstanden. Herr Brecht wolle, nachdem über die Weiterführung der Bibliographie im Herausgeberkreis des Jahrbuchs ohne Herrn Blaufuß verhandelt worden sei, anschließend in der Kommission darüber in Anwesenheit von Blaufuß berichten. Ihm, Schäfer, sei das nicht recht. Brecht habe aber 40 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

darauf bestanden. Daraufhin schrieb ich am 13. Dezember 1990 an Dr. Schäfer, es sei doch widersinnig, jemand einzuladen, nur weil über ihn berichtet wird. Ich könne nicht verstehen, „warum Sie Herrn Dr. Blaufuß zur Sitzung eingeladen haben. Ganz abgesehen von der tiefen menschlichen Enttäuschung, die Sie mir bereiten, wenn Sie mir zuvor mündlich und schriftlich gegebene Zusagen nicht einhalten, bzw., wenn Sie sie nicht einhalten können, mich nicht davon zu unterrichten für notwendig halten.“ Seitdem war mir klar, dass ich mich auf Zusicherungen von Herrn Schäfer nicht verlassen konnte. Nach langjähriger Vorbereitung konnte der Band 1 der Spenerbriefe der Frankfurter Jahre endlich im Jahre 1991 zum Druck gegeben werden. Die Gelegenheit der Drucklegung nahm der Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen wahr, um nach den bisher nur mündlich getroffenen Vereinbarungen einen schriftlichen Herausgebervertrag aufzusetzen. Nachdem Herr Schäfer vergeblich mit dem Verlag über die Pietismus-Kommission als Herausgeberin verhandelt hatte, war es ein Herausgebervertrag allein zwischen mir und dem Verlag. In 12 Paragraphen wurde vereinbart, dass Johannes Wallmann das ausschließliche Verlagsrecht an der Edition Philipp Jakob Spener, Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1686 für die erste und alle weiteren Auflagen sowie für alle Ausgaben an den Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) überträgt. Im Vertrag war nur von den Briefen Speners aus der Frankfurter Zeit die Rede. Die einzelnen Paragraphen regeln das Übliche, darunter, dass für diese erste Auflage kein Honorar vorgesehen ist, dass der Herausgeber pro tausend Exemplare einer Auflage 10 Freiexemplare erhält, von dieser ersten Auflage jedoch 23 Freiexemplare. Um eine Erhöhung der Zahl der Freiexemplare hatte ich bei den Verhandlungen über den Vertrag gebeten, weil wir den Bibliotheken, aus denen wir Handschriften entnommen hatten, Freiexemplare zu geben verpflichtet waren. Bei dieser Regelung ist es auch bei den folgenden Bänden geblieben. Eine Herausgeberpauschale, wie zwischen dem Verlag und mir bei der Herausgabe eines Bandes der „Beiträge zur Historischen Theologie“ vorgesehen, wurde nicht vereinbart und ist nie bezahlt worden. Der Herausgeber der Spenerbriefe hat an dieser Edition, die es bis 2009 zu acht stattlichen Bänden gebracht hat, nie einen Pfennig verdient. Als sich nach dem Ende der DDR der Bund der Kirchen in der DDR auflöste und im Sommer 1991 die östlichen Landeskirchen der EKD beitraten, entfiel der Grund, die Pietismus-Kommission in eine westliche und eine östliche Sektion zu gliedern. Die beiden Sektionen schlossen sich zusammen, tagten 1991 und 1992 miteinander und gaben sich eine neue Satzung, die am 10. April 1992 von der Kommission beschlossen wurde und am 1. Januar 1993 in Kraft treten sollte. Bei der Beratung über den 3. Entwurf der Ordnung äußerte in der Sitzung vom 10. April 1992 als einziger Wallmann seine Bedenken. Er sah in der Streichung des Instituts der Korrespondierenden Mitglieder eine substantielle Veränderung der Ordnung. Die Kommission werde jetzt eher ein kirchlicher Ausschuss als eine wissenschaftliche Kommission. Dem wurde entschieden widersprochen. Doch wurde einige Jahre später durch Wiedereinfüh41 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

rung des Instituts der Korrespondierenden Mitglieder dem zunächst als unberechtigt erklärten Einspruch Wallmanns Recht gegeben. Die Wahl der zwanzig von der Kommission zu bestimmenden wissenschaftlichen Mitglieder – die übrigen Mitglieder sollten von den Trägerkirchen entsandt werden – war der wichtigste Teil der Zusammenlegung der beiden Sektionen. Sie sollte in der Sitzung am 12./13. November 1992 stattfinden. Zur Vorbereitung der Wahl wurde ein Nominierungsausschuss gebildet, der paritätisch aus zwei Mitgliedern der Sektion West und der Sektion Ost bestand. Für ihn wurden die Herren Schäfer und Brecht (West), Sames und Schicketanz (Ost) bestimmt. Der Wahlakt war für den 13. November vormittags 10 Uhr vorgesehen. Da dieser zur Zusammenlegung der beiden Sektionen führende Wahlakt wohl das wichtigste Ereignis in der Geschichte der Pietismus-Kommission ist und viel Staub aufwirbelte, auch dazu führte, dass ich aus der Pietismus-Kommission ausschied, ist eine ausführliche Dokumentation angebracht. Ich verzichte auf einen Bericht aus meiner Erinnerung, sondern halte mich an meine Briefe an Ulrich Gäbler, den damals Geschäftsführenden Herausgeber unseres Jahrbuchs, dem ich vor der Sitzung wegen meiner Befürchtungen schrieb und den ich kurz nach der Sitzung, an deren Teilnahme er krankheitshalber verhindert war, eingehend über die Vorgänge informierte. Den zweiten, von mir bis auf einige Auslassungen vollständig wiedergegebenen Brief habe ich gleichzeitig auch Herrn Lehmann nach Washington gesandt. Während der Vorbereitung der Wahl durch den Nominierungsausschuss wandte ich mich wegen der mir möglicherweise entstehenden Probleme am 26. Oktober 1992 an Gäbler: „Im Blick auf den TOP ‚Wahl der wissenschaftlichen Mitglieder‘ möchte ich Sie über eine Sache vorinformieren. Für den Fall, daß der Nominierungsausschuß, der ja seltsamerweise über seine Beschlüsse höchste Vertraulichkeit verabredet haben soll, für die Zuwahl aus dem Kreis der Korrespondierenden Mitglieder außer Hartmut Lehmann und mir auch Herrn Dr. Blaufuß vorgeschlagen haben sollte und dieser, was ich mir freilich noch nicht vorstellen kann, die nötige Zweidrittelmehrheit erhält, würde ich selbst die Wahl nicht annehmen. Ich würde bitten, mich in meinem gegenwärtigen Zustand zu belassen. Ich denke, daß Hartmut Lehmann nach den Erfahrungen, die er im Zusammenhang eines Symposiums in Wolfenbüttel mit Herrn Blaufuß gemacht hat, genauso handeln wird. Als im Februar 1990 in einem langen Gespräch in Stuttgart Herr Dr. Schäfer und ich gemeinsam mögliche Konfliktpunkte, die mit meiner Spenerbriefausgabe zusammenhingen (Titelblatt), aus der Welt geschafft haben, sprachen wir auch über meine künftige Wahl zum Vollmitglied in der Kommission, die ich bei der Tagung in Marburg nicht gewollt hatte. Ich habe damals Herrn Schäfer gefragt, warum er vom Kurs seiner Vorgänger Söhngen und Gottschick, die sich dem wiederholten Drängen aus Münster widersetzten und Herrn Blaufuß wegen seines nichtkooperativen Verhaltens ausdrücklich und in schriftlicher Form ausgeschlossen hatten, abgegangen und sogar seine Wahl unterstützt habe. Herr Schäfer hat mir darauf 42 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

geantwortet, irgendwelche sachlichen Gründe habe er nicht gehabt, die Sache sei aber nun ein für allemal durch die Kommission entschieden. Unter dieser Voraussetzung habe ich damals meine Bereitschaft bekundet, die natürlich hinfällig wird, wenn diese Voraussetzung entzogen wird. Ich kann mir vorerst – auch nach einem Gespräch mit Herrn Obst, wo wir nur beiläufig diesen Punkt berührten – wirklich nicht vorstellen, daß die Kommission diesmal anders entscheidet als in Marburg, weiß ja auch noch nicht einmal, ob Herr Blaufuß überhaupt nominiert wird. Für den möglichen Fall ist es mir aber lieb, wenn wenigstens einer aus der Kommission dies weiß. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie von diesem Brief nur einen solchen Gebrauch machen würden, bei dem jeder Anschein ausgeschlossen wird, daß ich auf die Wahl hätte einen Einfluß nehmen wollen [. . .].“ Herr Gäbler sagte mir zu, Herrn Schäfer auf dieses Problem hinzuweisen. Der Wahlakt fand, wie vorgesehen, am 13. November 1992 vormittags statt. Nur wenige Tage nach der Wahl, bei der zu meiner Überraschung Herr Blaufuß auf dem Stimmzettel so genannt wurde, dass er auch bei Zustimmung einer Minderheit als gewählt angesehen werden musste, schrieb ich am 19. November 1992 an Ulrich Gäbler folgenden Brief: „Lieber Herr Gäbler, vermutlich brauchen sie zu Ihrer Stärkung und Erfrischung jetzt erfreulichere Nachrichten als ich Sie Ihnen leider bieten muß. Ich bin von der Sitzung der Pietismus-Kommission in Halle tiefenttäuscht, ja bestürzt zurückgekehrt. Ich war auf alles gefaßt, aber nicht auf einen solchen Durchmarsch der Gruppe Aland, Brecht, Schäfer, wie wir ihn erlebt haben – das hätte ich mir nicht einmal träumen lassen [. . .]. Lassen Sie mich Ihnen nur das Wichtigste schildern. Zunächst gab es ja schon das merkwürdige Stillschweigen, das der aus den Herren Brecht, Sames, Schäfer und Schicketanz zusammengesetzte Nominierungsausschuß vereinbart hat. Ich habe eine Woche vor der Sitzung bei einem Besuch in Halle Herrn Sames gefragt, ob es bei der Wahl etwa zu einer heiklen Situation für mich kommen könnte. Für mich sei es ausgeschlossen, gleichzeitig mit Herrn Blaufuß in die Kommission gewählt zu werden, da ich hier vertragliche Vereinbarungen mit der Kommission habe, daß er erst dann gewählt werden kann, wenn er zur Kooperation mit der Spener-Forschungsstelle in Bochum bereit ist. Herr Sames hat mir versichert, daß das Problem im Nominierungsausschuß durchaus gesehen worden sei, und hat, als ich mich erleichtert zeigte und sagte „dann ist ja alles gut“, überhaupt keine Miene gerührt und mich natürlich getäuscht. Ich habe ihm das in Berlin in Anwesenheit von Herrn Obst auch offen ins Gesicht gesagt und er hat zugestanden, daß ich hier durch ihn getäuscht worden bin17 [. . .] 17 Arno Sames, der als einziger des vierköpfigen Nominierungsauschusses mit mir in näherer Verbindung stand, schrieb ich nach dem Wahlakt, dass ich mich von ihm getäuscht worden zu sein

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Das ist das eine. Nun zum andern. Nichts dagegen, daß der aus den Herren Brecht, Sames, Schäfer und Schicketanz zusammengesetzte Nominierungsausschuß für das Plenum eine Liste derjenigen Mitglieder der Pietismus-Kommission erstellte, die als wissenschaftliche Mitglieder aus den beiden Sektionen West und Ost übernommen werden sollten. Dazu war der Ausschuß durch die paritätische Zusammensetzung befähigt. Hier konnte man meinetwegen auch einen Listenvorschlag einbringen, denn es handelte sich um bereits gewählte Mitglieder. Aber die Zuwahl neuer Mitglieder – nicht nur aus dem Kreis der Korrespondierenden Mitglieder, sondern auch ganz neuer Mitglieder, über die herkömmlich einzeln abgestimmt wird – durfte doch nicht mit dieser Übernahme vermischt und auf dem gleichen Listenvorschlag vorgenommen werden. Für die Vorschläge ganz neuer Mitglieder war der Ausschuß überhaupt nicht befähigt. Von ihm hatte nur Herr Brecht eine hinreichende Personalkenntnis. Herr Sames hat mir seine Unkenntnis offen zugegeben [. . .]. Unmöglich, daß der Nominierungsausschuß auch über den Modus des Wahlverfahrens (Listenwahl) bestimmte und diesem ganz von Brecht dominierten Nominierungsausschuß das alleinige Vorschlagsrecht zufiel. Die Kommission wurde mit einer Tischvorlage überrascht, auf der 23 Namen standen. Herr Brecht ging dann, statt die einzelnen Kandidaten vorzustellen, sofort daran, die Liste noch weiter zu beschneiden, bis schließlich nur noch 20 Kandidaten übrig waren. Davon sollten 18 gewählt werden. Aus seiner Abneigung gegen den von Herrn Lehmann vorgeschlagenen Herrn Jakubowski-Tiessen machte er überhaupt keinen Hehl [. . .]. Offenbar merkte er gar nicht, wie skandalös sein Verhalten war. Vergeblich wurden aus dem Plenum weitere Kandidaten genannt [. . .]. Alle diese Vorschläge wurden überhaupt nicht diskutiert, sondern geradezu abgeschmettert mit der beschwörenden Bitte, der ‚Weisheit‘ des Nominierungsausschusses zu folgen (ich konnte mir den Zwiempfinde: „Wie Sie wissen, bin ich ja zehn Tage vorher nur wegen dieser Angelegenheit bei Ihnen gewesen, habe dabei diese Geheimniskrämerei [des Nominierungsausschusses, d.Vf.] sarkastisch mit den konspirativen Methoden der Stasi verglichen. In meinen Augen sieht es so aus, als ob im Nominierungsausschuss ein Komplott geschmiedet worden wäre, mich aus der Pietismus-Kommission herauszudrängen. Dass man das in Münster schon lange wünscht, ist mir nicht verborgen geblieben.“ Sames räumte sein Fehlverhalten ein und schrieb mir in einem freundschaftlichen Brief vom 21. Januar 1993: „Für mich ist es schwierig, die problematische Situation, in der wir uns nach der Wahl der neuen Mitglieder befinden, mit allen Hintergründen zu durchschauen. Mich irritiert sie sehr, und ich bitte Sie um Entschuldigung, daß ich Sie bei unserem Gespräch in Halle nicht aufgefordert habe, sich zur genaueren Information doch unbedingt mit Herrn Schäfer in Verbindung zu setzen. Sie haben einige Hinweise zur Erklärung gegeben. Wenn ich sie bedenke, muß ich sagen, daß ich zu naiv gewesen bin und etwas leichtsinnig, weil ich mich über die Personalgeschichte in der Kommission nicht informiert habe [. . .]. Vielleicht sagen Sie, so naiv kann doch niemand sein; in diesem Fall ist es aber so, ich muß das, vielleicht zu meiner Beschämung, für mich in Anspruch nehmen. Was die Verhandlungen der Nominierungskommission betrifft, muß ich sagen, daß mir das Entweder-Oder Ihrer Haltung nicht bewußt war. Das war mir erst klar, als Sie in Halle mit mir darüber sprachen, und da setzt das andere Problem ein, daß ich Sie nicht deutlich genug gebeten habe, mit Herrn Schäfer zu sprechen.“

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schenruf nicht verkneifen ‚der Weisheit des Stellvertretenden Vorsitzenden!‘). Nur die beiden vom Nominerungsausschuß als mögliche weitere Kandidaten genannten Obst und Goeters konnten auf die Liste gedrückt werden. Dafür mußten dann zwei weitere gestrichen werden. Also nach der Devise ‚Vogel friß oder stirb‘ hatte die Kommission die Liste zu schlucken. Der Zwischenruf von Herrn Obst ‚Das ist ja wie bei der Liste der Nationalen Front‘ traf genau ins Schwarze. Es kam aber noch schlimmer. Als Herr Schneider davon sprach, daß hier ja zwei verschiedene Wahlmodi miteinander verknüpft worden seien und man dann auf die Sparten ‚Nein‘ und ‚Enthaltung‘ auf dem Wahlzettel verzichten könnte, wurde prompt angeordnet, daß die Sparten ‚Nein‘ und ‚Enthaltung‘ von jedem Wählenden auf dem Wahlzettel gestrichen werden sollten. Man konnte also nur mit ‚Ja‘ stimmen. Auf Nachfrage wurde man belehrt, daß ein Kandidat auch dann gewählt sei, wenn er nur zwei oder drei Ja-Stimmen erhalten werde. Nach halbstündiger Unterbrechung zur Auszählung der Wahlzettel konnten wir wieder hereinkommen. Ein Wahlergebnis wurde nicht bekannt gegeben. Es wurden nur die beiden Kandidaten genannt, die die wenigsten Stimmen erhielten, also nicht gewählt wurden (Goeters, Jakubowski-Tiessen). Keiner der anwesenden gewählten Kandidaten wurde gefragt, ob er die Wahl annimmt. Das soll erst später in schriftlicher Form geschehen. Das Ganze war eine klug inszenierte Manipulation, ein Überfallmanöver. Mich versuchte man zu ködern, indem man auch Herrn Sträter auf die Liste setzte [. . .]. Herrn Schäfer sagte ich hinterher, er hätte doch genau gewußt, daß ich diese Wahl nicht annehmen könne. Er entgegnete mir, gewußt habe er es nicht, aber befürchtet. Er hat das natürlich gewußt. Ich habe inzwischen mit Herrn Schneider gesprochen und ihn gefragt, ob er die Wahl, die auch er für unrechtmäßig ansieht, nicht anfechten könne. Er würde in Herrn Obst, Herrn Meyer und möglicherweise auch in Herrn Dellsperger sicherlich Unterstützung finden. Ich selbst kann es ja nicht. Es betrübt mich sehr, daß im Raum unserer Evangelischen Kirche so etwas möglich ist. Ich habe übrigens vor der Wahl in Anwesenheit von Herrn Dellsperger Herrn Schäfer gefragt, ob Sie ihm Ihre Meinung über die Zuwahl von Herrn Blaufuß mitgeteilt hätten. Sie hatten mir ja dies am Telefon angekündigt. Herr Schäfer erwiderte, daß Sie mit ihm darüber nicht gesprochen hätten. Zum Glück war Herr Dellsperger dabei, der mir bestätigen konnte, von Ihnen das gleiche gehört zu haben, was ich Herrn Schäfer als Ihre Meinung mitteilte. Es tut mir leid, Sie, der Sie jetzt sicher bessere Nachrichten brauchen, mit diesen Dingen beschäftigen zu müssen. Dem Jahrbuch werde ich natürlich erhalten bleiben [. . .]. Im übrigen wird Sie ja Herr Dellsperger hinreichend über unsere Sitzung informiert haben, so daß ich mir hier weitere Worte ersparen darf [. . .]. Mit herzlichen Grüßen [. . .] bin ich Ihr Johannes Wallmann

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PS: Gestatten Sie bitte, daß ich diesen Brief auch an Herrn Lehmann zur Kenntnis gebe [. . .].“ Der Wahlakt der Zusammenführung der beiden Sektionen in eine einheitliche Pietismus-Kommission war eine traurige Farce. Gertraud Zaepernick, die mit persönlicher Anrede zur Wahl eine Einladung bekommen hatte, aber nicht erschien, war nicht aufgestellt. Sie fiel durch ihr sang- und klangloses Verschwinden aus der Pietismus-Kommission in tiefe Depression, wie sie nachträglich nicht nur mir gestand. J.F. Gerhard Goeters, der seine Vorbehalte gegenüber Martin Brecht nie verschwiegen hatte, wurde auf der Einheitsliste, auf der man nur zwei Namen streichen konnte, ans Ende gerückt, so dass schon im Voraus entschieden war, dass er nicht gewählt wurde. Dafür wurde Dr. Blaufuß auf einen Platz gesetzt, der seine Wahl sicher machte, auch wenn er nicht die Mehrheit der Stimmen erhielt. Auch ich wurde formell gewählt, doch sagte ich unverblümt nach der Sitzung dem stellvertretenden Vorsitzenden Brecht: „Nun haben Sie es endlich erreicht, mich aus der Pietismus-Kommission herauszudrängen.“ Dem Vorsitzenden Dr. Schäfer sagte ich: „Sie haben doch gewußt, daß ich diese Wahl nicht annehmen kann.“ Er entgegnete: „Gewußt habe ich es nicht, aber ich habe es befürchtet.“ Natürlich hatte Herr Schäfer es gewusst. Er schrieb mir am 11. Januar 1993: „Sie hatten mir in Halle am ersten Abend noch vor der Wahl gesagt, Sie könnten eine Wahl nicht annehmen, wenn gleichzeitig Herr Blaufuß gewählt werden würde. Erst am Abend nach der Wahl drückte ich dann die von Ihnen genannte Befürchtung aus. Ich wußte zu diesem Zeitpunkt von Ihrer Haltung, mußte deshalb eine Ablehnung befürchten, konnte allerdings Ihre definitive Entscheidung nicht wissen.“ Damit hat Herr Schäfer unumwunden zugegeben, dass er mit meiner Nichtannahme rechnete und ich durch die Wahl aus der Pietismus-Kommission hinauskomplimentiert werden sollte. Eine große Zahl von Mitgliedern der Pietismus-Kommission hat mir hinterher geschrieben, ob ich meine Entscheidung, die Wahl nicht anzunehmen, nicht überdenken könnte. Rudolf Dellsperger schrieb mir am 4. Dezember 1992: „Ich kann mir die weitere Arbeit der und in der Pietismuskommission ohne Sie aus sachlichen und persönlichen Gründen nur schwer vorstellen und würde es sehr bedauern, wenn Sie die Wahl nicht annehmen könnten. Die neuere Pietismusforschung verdankt Ihnen ganz entscheidende Impulse, grundlegende, z. T. mittlerweile schon klassische Darstellungen und nun auch den ersten Band der Spener-Briefedition. Im Herausgeberkreis von PuN lassen Sie uns das Gewicht Ihrer Kompetenz stets nur in positiver Weise fühlen. Dasselbe gilt für Ihre Mitarbeit in der Gesamtkommission. Ihre Voten sind stets fundiert und für mich deshalb von besonderem Gewicht. Ich weiß, daß ich in dieser Weise mich Ihnen gegenüber vielleicht früher hätte äußern sollen, hoffe aber, daß Ihnen diese meine Wertschätzung nicht ganz verborgen geblieben ist.“ 46 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Hartmut Lehmann schrieb mir am 22. Dezember 1992 aus Washington, er habe auf Bitten von Herrn Schäfer die Wahl angenommen: „Da ich auf der mir von Schäfer geschickten Liste neben dem Namen von Blaufuß auch Ihren Namen sah, ging ich davon aus, daß Sie und Herr Gäbler Ihren Standpunkt vertreten hatten und daß es danach (möglicherweise aufgrund einer Kooperationszusage von Blaufuß) doch zu einem Arrangement gekommen war. Nun ersehe ich aus diesen Briefen, daß alles ganz anders verlaufen ist und daß ich meine Zusage viel zu voreilig gegeben habe. Das belastet mich sehr und ich frage mich, ob ich meine Zusage nicht doch wieder zurückziehen soll, zumal ich über die Behandlung von Herrn Jabukowski-Tiessen alles andere als froh bin. Am besten wäre es gewiß, wenn einige der alten Vollmitglieder der Kommission wie Gäbler und Schneider die Wahl anfechten würden und wenn es bei der Neuwahl gelingen würde, Ihre Mitarbeit zu erhalten. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Kommission ohne Ihre Mitwirkung fruchtbar weiter arbeiten kann, und ich bin mit dieser Meinung gewiß nicht allein [. . .]. Ich muß kaum hinzufügen, daß Blaufuß demgegenüber seit Jahren zwar außerordentlich viel Ärger, aber kaum noch lohnenswerte wissenschaftliche Beiträge produziert hat. Wie unsinnig, Sie auf diese Weise zu verletzen.“ Im Postskript vermerkte er: „Um Herrn Gäbler zu informieren, schicke ich ihm eine Kopie dieses Briefes.“ Am 23. November 1992 schrieb ich, aufgefordert von einer Reihe von Mitgliedern der Pietismus-Kommission, einen langen Brief an Bischof Kruse, von dem ich hoffte, dass er bei einer kirchlichen Kommission am ehesten zu einem Eingreifen befähigt sei: „Bei der letzten Sitzung der Kommission bin ich zwar formell zum Mitglied gewählt worden. Tatsächlich hat man mir aber den Stuhl vor die Tür gesetzt. Die Wahl ist für mich unannehmbar, denn sie mißachtet die Vereinbarungen, die ich mit der Pietismus-Kommission geschlossen habe [. . .]. Ich kann den Verdacht nicht von der Hand weisen, daß einige wenige in der Pietismus-Kommission, denen meine offenen Worte wohl schon lange ein Dorn im Auge sind, es geradezu darauf abgesehen haben, mich herauszudrängen.“ Ich erinnerte noch einmal daran, dass ich nur auf sein Wort die Spenerbriefedition übernommen habe und gern in der Pietismus-Kommission weiter arbeiten wollte. Am 4. Januar 1993 schrieb ich ihm erneut und berichtete ihm, mir sei „von einer ganzen Reihe von Mitgliedern der Pietismus-Kommission mündlich und schriftlich vor Augen gestellt worden, welche Folgen meine Ablehnung der Wahl haben wird. Hartmut Lehmann hat mir aus Washington geschrieben: ‚Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Kommission ohne ihre Mitwirkung fruchtbar weiter arbeiten kann.‘ In gleicher Weise äußerten sich in den letzten Wochen Herr Gäbler/Basel, Herr Dellsperger/Bern und Herr Obst/Halle, die meine Haltung für begreiflich, aber verhängnisvoll halten. Andere sagten mir das gleiche mündlich. Herr Goeters/Bonn schreibt sogar: 47 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

‚Eine Pietismus-Kommission ohne Ihre Mitgliedschaft verdient diesen Namen nicht‘.“ Bischof Kruse, der mich wiederholt zum Verbleiben in der Pietismus-Kommission aufgefordert hatte, sah jetzt offensichtlich keine Möglichkeit, seine Aufforderung zu wiederholen. Vergeblich wartete ich auf eine Antwort von ihm. Dass er in seinen Lebenserinnerungen die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus ständig mit dem falschen Namen „Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung des Pietismus“ anführt, zeigt, dass er dies wohl für eine Angelegenheit im Raum der Wissenschaft hielt, in die er als Mann der Kirche nicht eingreifen wollte. Am 26. März 1993 schrieb ich an den Vorsitzenden der Pietismus-Kommission Dr. Schäfer: „[. . .] bereits nach der letzten Sitzung der Kommission habe ich Ihnen gesagt, daß ich die Wahl nicht annehmen kann. Ich möchte dies vor der ersten Sitzung der neukonstituierten Kommission noch einmal bekräftigen. Ich bitte, mich in meinem vorherigen Verhältnis zur Kommission zu belassen [. . .]. Die Gründe dafür, daß ich die Wahl nicht annehmen kann, habe ich Ihnen in meinem Brief vom 10.12.1992 dargelegt [. . .]. Eine Vereinbarung, die zwischen der Kommission und mir abgeschlossen wurde und Grundlage meiner Mitarbeit in der Kommission ist, an die sich Ihre Vorgänger im Amt des Vorsitzenden strikt gehalten haben und die Sie auch selbst mir gegenüber nie in Zweifel gezogen haben, kann nicht über Nacht für ungültig erklärt werden, nur weil ‚mehrere Jahre‘ darüber vergangen sind. Ich entnehme nun aber Ihrem Brief, daß der tiefere Grund, sich nicht mehr an diese Vereinbarung gebunden zu wissen und mich also aus der Kommission hinaus zu komplimentieren, darin zu suchen ist, daß ich mit der Spenerbriefedition zu einem Tübinger Verlag gegangen bin. Sie schreiben in Ihrem auch an Bischof Kruse gegangenen Brief ‚Ihre Vereinbarung mit der Kommission bezüglich der Spener-Brief-Edition sah wohl nicht ausdrücklich vor, daß diese Edition innerhalb der Reihe TGP erscheinen würde. Aus Gesprächen mit Herrn Söhngen und Herrn Gottschick weiß ich aber, daß das stillschweigend angenommen wurde. Und ich erinnere mich an die Betroffenheit, als Sie in einer Sitzung die Mitteilung machten, daß Sie Ihr Werk Ihrem Tübinger Verlag übergeben haben. Die Kommission sah sich vor vollendete Tatsachen gestellt. Allerdings sehe ich mich außerstande, aus jener Vereinbarung Folgerung für Wahlen abzuleiten, die viele Jahre später stattfinden.‘ Ich darf dazu folgendes bemerken. Auch ich bin davon ausgegangen, daß die Spenerbriefedition in der Reihe TGP erscheinen solle. Ich habe sogar in den ersten Jahren darum gekämpft, daß die Kommission aus dem mir erteilten Auftrag auch entsprechende Konsequenzen zieht. Vergeblich. Da mir die Kommission, nachdem der Verlag de Gruyter die Spenerausgabe abstieß, keinen Verleger nennen konnte und da Herr Aland mehrmals deutlich erklärte, daß er in dem Briefprojekt eine Gefährdung seiner Spenerwerkausgabe erblickte, ja 48 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

für diese Ausgabe ein anderer Verlag gesucht werden solle (vgl. Protokoll der Sitzung vom 12.2.1983, S. 4), mußte ich handeln. Ich habe, wenn ich im Jahr 1987 die Verbindung zum Verlag Siebeck / Mohr aufgenommen habe, dies übrigens von Anfang an mit Wissen und Zustimmung von Herrn Gottschick, dem damaligen Vorsitzenden, getan (vgl. Protokoll vom 19.10.1987). Dieser hat, als er auf der nächsten Sitzung die Kommission darüber informierte, meine Initiative ausdrücklich gelobt und angesichts der Verlagsmisere für vorbildlich im Blick auf andere in der Luft hängende Projekte der Kommission erklärt [. . .]. Die Verlagsfrage hat zwischen der Kommission und mir nie Probleme verursacht. Probleme gab es bei der Titelblattfrage. Aber gerade hier haben wir bei unserem Gespräch in Stuttgart angesichts der Unlösbarkeit des Problems Einvernehmen gefunden. Diese Bemerkungen erscheinen mir doch angebracht, um das schiefe Bild, das in Ihrem Brief enthalten ist, zurecht zu rücken.“ Da die Pietismus-Kommission das Institut der Korrespondierenden Mitglieder bei ihrer Neukonstituierung 1993 aus ihrer Satzung gestrichen hatte, war das Tischtuch, das mich mit ihr verband, fortan zerschnitten. Ich bekam keine Einladungen, Protokolle und Exemplare ihrer Publikationen mehr. Nur dadurch, dass ich Herausgeber des Jahrbuchs blieb – für einige Jahre als einziger unter den Herausgebern Nichtmitglied der Kommission – und dadurch, dass die Kommission jährlich einen kleinen Betrag zur Unterstützung des von ihr angestoßenen Projekts zahlte, wofür zu danken ich in den Vorworten der nach 1993 erschienenen Bände nicht vergessen habe, blieb für mich ein lockeres Band zur Pietismus-Kommission erhalten. Auch dadurch, dass ich an den von der Pietismus-Kommission geförderten Nachwuchstagungen neben den anderen Herausgebern des Jahrbuchs teilnahm, zum Beispiel gleich nach meinem Herauswurf an der Nachwuchstagung im März 1993 in Halle, zu der ich Herrn Sames, der sie vorbereitete, Schüler von mir vorschlug. Der Schwerpunkt legte sich nach meinem Ausscheiden aus der PietismusKommission für mich auf das an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg gegründete Interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung, dessen Arbeit von einem Internationalen Beirat begleitet wurde, als dessen Vorsitzender ich 1996 vom damaligen Rektor bestellt wurde. Meine Tätigkeit in Halle hat aber mit der Edition der Spenerbriefe keine Berührung gehabt. Deshalb findet mein Bericht über Entstehung und Geschichte des Spenerbriefausgabe innerhalb der Historischen Kommission zu Erforschung des Pietismus an dieser Stelle sein Ende. * Am Ende des Berichts über die Geschichte der Edition der Spenerbriefe ist es angebracht, die Mitarbeiter zu erwähnen, die mich an diesem Projekt unterstützt haben. In der ersten Phase, der acht Jahre währenden Förderungsdauer vom Januar 1985 bis Herbst 1989 durch die DFG, war Dr. Udo Sträter wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Briefedition. Mit ihm zusammen habe ich in 49 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

zeitweise mühsamen und wiederholt verbesserten Überlegungen, von denen ich keine Unterlagen mehr habe, das bis heute gültige Konzept der Edition erarbeitet. Von allen Mitarbeitern ist Udo Sträter derjenige, dem von Anfang an bis zum heutigen Tage das größte Verdienst um dieses Projekt zukommt. Nach dem Ausscheiden von Udo Sträter, der sich seiner Habilitation widmen wollte, trat Dr. Markus Matthias von November 1989 bis 1993 in die Arbeit ein. Sein Name steht auf dem Titel des zweiten und dritten Bandes der Frankfurter Briefe. Nach seiner fünfjährigen Tätigkeit erhielt ich ab November 1993 bis zum Herbst 1996 Förderung durch die Gerda Henkel Stiftung. Dadurch konnte ich den von der Evangelischen Landeskirche von Westfalen für die Arbeit an der Speneredition freigestellten Dr. Martin Friedrich einstellen. Die Landeskirche beurlaubte ihn zunächst für vier Jahre vom Oktober 1993 bis zum September 1996, verlängerte schließlich die Beurlaubung, bis 2002 die Kirche, inzwischen auf seine hervorragende wissenschaftliche Begabung aufmerksam geworden, ihn für andere Aufgaben einsetzte. Dr. Friedrich hat sich große Verdienste um die Ausgabe der Spenerbriefe erworben. Sein Name steht auf den Titeln von den vier 1996, 2000, 2003 und 2005 erschienenen Bänden (Frankfurter Briefe Bd. 2, 3 und 4. Dresdner Briefe Bd. 1). Ich hätte ihn gern bei der Spenerbriefedition behalten, und auch er selbst wäre gern geblieben. Seitdem ist er von der Union Evangelischer Kirchen in Wien angestellt. Gleichzeitig mit der Förderung von der Gerda Henkel Stiftung begann die erneute Förderung der DFG, die das Projekt in die damals noch bestehende Langzeitförderung aufnahm. Dadurch konnte ich einen zweiten wissenschaftlichen Mitarbeiter einstellen. Seit 1993 hat Dr. Klaus vom Orde an der Edition der Briefe Speners aus der Dresdner Zeit gearbeitet, wobei er daneben an den Frankfurter Briefen mitarbeitete. Im Jahr 2002 schied Dr. vom Orde aus der Arbeit am Projekt aus, um die Leitung einer Bibelschule in Falkenberg zu übernehmen. Das Frühjahr 2002 brachte die Arbeit an der Spenerbriefedition in eine Krise, weil gleichzeitig beide wissenschaftlichen Mitarbeiter aus der Arbeit ausschieden. Durch den Wechsel meines Wohnorts nach Berlin war ich zudem Honorarprofessor an der Humboldt-Universität Berlin geworden und hatte die Spenerarbeitsstelle von Bochum nach Berlin verlegt. Einen neuen Mitarbeiter zu gewinnen war nicht einfach. Privatdozent Dr. Peter Blastenbrei, kein Theologe, ein in das 17. Jahrhundert eingearbeiteter Historiker, trat zeitweilig in die Arbeit ein, verließ sie aber aus eigenen Gründen, nachdem er 2005 die Drucklegung des wesentlich von Martin Friedrich besorgten Bandes 3 der Frankfurter Briefe besorgt hatte. Für ihn kehrte Dr. Markus Matthias, nachdem sich mit seiner Habilitation verbundene berufliche Erwartungen zunächst nicht erfüllt hatten, 2007 in die Arbeit zurück. Er verließ sie aber 2009 wieder, als er einen Ruf auf einen kirchengeschichtlichen Lehrstuhl in den Niederlanden erhielt. Für ihn kam als zweiter Rückkehrer Dr. Klaus vom Orde wieder in das Projekt zurück, an dem er bis zu dem Ablauf der Förderungsdauer der DFG Ende 2010 tätig war. Anfang 2011 hat er die Materialien der Berliner Arbeitsstelle an ihren neuen Wirkungsort in den Franckeschen Stiftungen in 50 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Halle an der Saale transferiert, wo er jetzt das Team leitet, das die Edition der Briefe Speners im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften Arbeit weiter führt. Wenn ich mit Dankbarkeit diejenigen nenne, die mit mir an der Edition der Spenerbriefe zusammengearbeitet haben, blicke ich auch auf die Vielzahl jener zurück, die mir im Inland und im Ausland auf meine Fragen und Bitten durch Auskünfte und Ratschläge geholfen haben. Teilweise ist ihnen in den Vorworten zu den einzelnen Bänden, häufig auch in den Anmerkungen zu einzelnen Briefen, bereits gedankt. Sie noch einmal zu nennen, würde den Rahmen dieses Berichts sprengen. Genannt sei nur Dr. Ulrike Witt, Historikerin aus Göttingen, die seit 1996 in Zusammenarbeit mit mir an der an meinem Bochumer Lehrstuhl begonnenen Edition des Briefwechsels zwischen Spener und August Hermann Francke in Halle arbeitete, bis ich die Edition an Udo Sträter weitergab, der sie dann mit Veronika Albrecht-Birkner besorgt hat. Am Anfang dieses Berichts habe ich erwähnt, wie sich mir nach meiner Flucht aus der DDR im Jahre des Mauerbaus der Weg zu einer wissenschaftlichen Laufbahn in der Bundesrepublik öffnete. Am Ende drängt es mich, eines Mitglieds der Pietismus-Kommission zu gedenken, das mir durch Wissen und Ratschläge viel geholfen hat, dem aber der Weg in eine akademische Zukunft durch den Mauerbau versperrt wurde, so dass ihm in der DDR jahrzehntelang ein armseliges und kümmerliches Leben beschieden war. Gertraud Zaepernick (10.11.1915–17.07.2005) war die letzte Assistentin des an der Freien Universität in Berlin (West) lehrenden Historikers Carl Hinrichs. Sie hatte schon die Ansprachen und Vorträge zum 300.Geburtstag von August Hermann Francke 1963 mit herausgegeben,18 gehörte also zum Urgestein der Pietismus-Kommission, die bekanntlich anlässlich der Franckefeiern des Jubiläumsjahrs gegründet worden war.19 In ihren Anfängen hatte sie, die 1954 ihr Staatsexamen in Geschichte und Germanistik abgelegt hatte, über den Neuruppiner Bilderbogen gearbeitet20, dann unter dem Einfluss von Hinrichs sich ganz dem Pietismus und Spiritualismus zugewandt. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, war sie, weil sie ihre Mutter in Ostberlin nicht verlassen wollte, von ihrem Lehrer getrennt und musste ihre Verbindung zu ihm wegen seiner Zugehörigkeit zur Freien Universität geheim halten. Sie blieb aber in enger Verbindung mit Hinrichs und betrieb für ihn, der nach seinem Weggang von Halle nicht mehr in die DDR fahren durfte, intensive Quellenstudien in Halle, Gotha und anderen Bibliotheken und Archiven der DDR, die er zur Vollendung seiner Studien brauchte. Das nach Hinrichs Tod (†1962) herausgegebene postume Werk Preu18 August Hermann Francke. Wort und Tat. Ansprachen und Vorträge zur dreihundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, mit einem Geleitwort von Johannes Jänicke und unter Mitarbeit von Gertraud Zaepernick hg. v. Dietrich Jungklaus. Halle 1966. – 127 S. 19 S. das Vorwort von PuN 1, 1974, 5. 20 Neuruppiner Bilderbogen der Firma Gustav Kühn mit einem Anhang von Wilhelm Fraenger. Hg. v. Gertraud Zaepernick. Leipzig 1972.

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ßentum und Pietismus (1971), ein Standardwerk der Pietismusforschung, für dessen Druck Klaus Deppermann sorgte und dem er den nicht von Hinrichs gewählten Titel gab21, enthält einen umfangreichen Anmerkungsapparat, der nach dem Vorwort der Witwe nicht von Hinrichs stammt, sondern nach seinen Anweisungen von der Schülerschaft angefertigt wurde. Die Überprüfung der Zitate und die Anfertigung des beträchtliche Teile des Buchs ausmachenden Anmerkungsapparates sind tatsächlich allein von Gertraud Zaepernick vorgenommen worden, deren Name im Kalten Krieg nicht genannt werden konnte. Bei meinen regelmäßigen Besuchen der Sitzungen der Pietismus-Kommission Sektion Ost, an denen Klaus Deppermann und ich regelmäßig teilnahmen, lernte ich Gertraud Zaepernick, die, wie ich nach ihrem Tod aus Bildern sah, in ihrer Jugend eine bildhübsche Frau gewesen war, als nun ältere, durch hartes Schicksal etwas vergrämte Frau kennen, aber voll von geistiger Lebendigkeit und freudiger Bereitschaft, anderen mit ihrem Wissen zu helfen. Sie besaß eine beispiellose Kenntnis der für die Pietismusforschung wichtigen Archive. Im Auftrag der Pietismus-Kommission hat sie ein Verzeichnis der pietistischen und spiritualistischen Quellen, die in der Forschungsbibliothek Gotha liegen, angefertigt, das vielen anderen Forschern nützlich war und dessen Drucklegung häufig gewünscht wurde.22 Erst kürzlich wurde festgestellt: „Als ausführlichstes Erschließungsmittel gilt bisher immer noch das Verzeichnis von Gertraud Zaepernick, die außer den erforderlichen Stammdaten – Verfasser, Titel, bei Briefen Jahreszahlen und gelegentlich den Ort – oft auch regestartige Ausführungen zu den Inhalten der Manuskripte und Briefe bietet.“23 Durch Klaus Deppermann ließ sie mir 1980 eine Kopie des Verzeichnisses zusenden, was mir bei eigenen Forschungen sehr geholfen hat. Ihr Interesse galt wie ihrem Lehrer Hinrichs vornehmlich dem Spiritualismus bzw. dem radikalen Pietismus. Als 1974 der erste Band des Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“ erschien, stand an seiner Spitze ein Aufsatz von Gertrud Zaepernick über Sebastian Franck.24 In der Sektion Ost der Pietismus-Kommission hatte sie ein

21 Hinrichs kündigte sein letztes Werk unter dem Titel Preußentum und Puritanismus an, und unter diesem Titel wird es 1964 auch in der Bibliographie der Werke von Carl Hinrichs von Werner Schochow (Carl Hinrichs: Preußen als historisches Problem. Hg. v. Gerhard Oestereich. Berlin 1964, [421–424], 424) sowie von G. Oestereich in der Vorrede desselben Bandes (934) angekündigt. Als ich Klaus Deppermann auf diese Differenz hinwies, antwortete er mir (brieflich am 25.10.1971): „Die Titeländerung wurde von mir veranlaßt“. 22 Gertraud Zaepernick: Verzeichnis der Handschriftenbestände pietistischer, spiritualistischer und separatistischer Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts in der Landesbibliothek Gotha sowie in anderen Handschriftensammlungen und Archiven in Gotha und Erfurt. Ungedrucktes Manuskript. 1965. – 102 S. Bei dem im Internet gezeigten gebundenen Exemplar Martin-Luther-Universität 1965 muss es sich um einen privat vorgenommenen Einband handeln. 23 Cornelia Hopf: Handschriftliche Brecklingiana in der Forschungsbibliothek in Gotha. In: PuN 33, 2007, 48–53, hier 53. 24 Gertraud Zaepernick: Welt und Mensch bei Sebastian Franck. In: PuN 1, 1974, 9–24.

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Forum, in dem sie gelegentlich über ihre Forschungen referieren konnte. So hielt sie zur Wintersitzung im Dezember 1980 ein Referat über die Gichtelianer in Halle, war aber über das mangelnde Interesse des kleinen Auditoriums enttäuscht. Am Anfang hatte sie drei Zuhörer, von denen nur einer in der Pietismusforschung aktiv tätig war, später kamen fünf weitere dazu, die aber keine belangreichen Fragen stellten. Weil sie ein Echo auf ihre Forschungen suchte, wollte sie ihr Referat zunächst anderen Mitgliedern der PietismusKommission West zusenden, sah aber davon ab, weil sie das Placet des Sektionsleiters für nötig hielt. „So sind Sie der einzige aus der Kommission, der dieses Aufsätzchen erhält“, schrieb sie mir. Wir veröffentlichten dann zwei Jahre später den gehaltvollen Aufsatz über Gichtel, aus dem oft zitiert wird.25 Zu meiner Festschrift trug sie einen Artikel über den kaum bekannten Separatisten Paul Friedrich Lehmann bei, der ihre umfassenden, bis ins dritte Glied des radikalen Pietismus reichenden Kenntnisse bezeugte.26 Als ich Fachberater für Kirchengeschichte bei der vierten Auflage der RGG wurde, nannte sie mir aus einer 150 Namen umfassenden Liste 40 Radikale Pietisten, die ihrer Meinung nach in die RGG aufgenommen werden sollten und von denen nur die Hälfte in den bisherigen Auflagen der RGG verzeichnet war. Trotz der den Namen beigegebenen wertvollen Angaben konnte ich sie allerdings nur partiell berücksichtigen.27 Sie selbst schrieb dann für die RGG acht Artikel. Von einer Edition des in Leipzig liegenden Briefwechsels zwischen Spener und Adam Rechenberg, den sie gründlich kannte, riet sie mir ab, weil er zu sehr auf die lutherische Orthodoxie fixiert und wenig für ihr Interessengebiet Radikaler Pietismus enthielt. Für Band 1 der Geschichte des Pietismus war ihr das Kapitel Die Spiritualisten des 17. Jahrhunderts übertragen worden. Dass sie den Termin der Lieferung nicht einhalten konnte und Martin Brecht das Kapitel schließlich selber schreiben musste, dürfte der Grund sein, dass man sie in die Liste der Namen für die Neuwahl der Kommissionsmitglieder nicht aufnahm und sie ab 1993 nicht mehr zur Pietismus-Kommission gehörte. Bis dahin hatte Herr Schäfer seine Schreiben an die Kommissionsmitglieder mit der Anrede „Sehr verehrte Frau Zaepernick, liebe Herren“ begonnen. Dass sich die Pietismus-Kommission, ohne dass man zuvor mit ihr gesprochen hatte, von ihr trennte, erschütterte sie tief. Dass sie nicht mehr den Austausch mit anderen in der Pietismus-Kommission hatte, verstärkte die Vereinsamung der 18 Jahre lang zur Geheimhaltung ihrer wissenschaftlichen Verbindung in den Westen Gezwungenen. Sie war zur Berufslosigkeit verdammt, lebte nach dem Tod ihrer Mutter ohne jede Familie völlig isoliert, was 25 Gertraud Zaepernick: Johann Georg Gichtels und seiner Nachfolger Briefwechsel mit den hallischen Pietisten. In: PuN 8, 1982, 74–118. 26 Gertraud Zaepernick: Ein Separatist wider Willen: Paul Friedrich Lehmann. In: PuN 21, 1996 (FS Johannes Wallmann), 241–273. 27 Die sorgsam erstellte Liste, die neben den Lebensdaten auch die Stellen in den verschiedenen Auflagen der RGG angibt, sofern es dort Artikel über sie gibt, befindet sich in meinem Besitz.

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für die überaus mitteilungsbedürftige Frau ein kümmerliches Leben war. Seit 1980 hatte ich gelegentlich in Briefwechsel mit ihr gestanden. Als sie 1980 einmal nach Westdeutschland fahren konnte, schrieb sie mir aus dem Theologicum in Göttingen, wie sie sich dort mit dem damaligen Pivatdozenten Hans Schneider über die radikalen Pietisten Andreas Groß, Tostlöwe u. a. austauschen konnte, und berichtete mir über den Fund einer unbekannten Geschichte des Pietismus, die ich durch sie bekannt machen konnte.28 „Ich versuche immer, den Gegenstand meiner Forschung, so bescheiden er immer sein mag, in einem größeren Zusammenhang zu sehen und mir seinen Rang und Standort deutlich zu machen“, schrieb sie mir damals. Nachdem ihr die Pietismus-Kommission den Stuhl vor die Tür gesetzt hatte, überschüttete sie mich, dem sie sich durch gleiches Schicksal verbunden fühlte, mit Briefen. Sie bedachte mich zu meinen Geburtstagen mit Geschenken wie einem alten Druck von Franckepredigten, den sie mit anderen Büchern aus dem Besitz von Carl Hinrichs geerbt hatte, oder einer eigenhändigen Abschrift von zehn Parodien eines bekannten Theologen, denen sie selbstgedichtete Parodien hinzufügte und glücklich war, dass ich sie nicht von den mir unbekannten Texten Rudolf Bultmanns unterscheiden konnte. Als Jürgen Storz, Leiter des Archivs der Franckeschen Stiftungen, nach Beendigung seiner Diensttätigkeit nach Ulm ging, verlor sie auch in Halle ihren letzten Gesprächspartner. Am 19. Mai 2000 schrieb sie mir: „Seit man mich aus der Pietismus-Kommission gefeuert hat und seit dem Fortgang von Storz das Archiv in andere Hände übergegangen ist und es jetzt dort streng dienstlich und so schweigsam wie in einem Trappistenkloster zugeht, habe ich nicht mehr die Möglichkeit, mich jemandem gegenüber über meine Arbeit zu äußern. Und wenn man da so sitzt wie Hieronymus im Gehäus, ganz gleich, ob in Berlin, Halle, Herrnhut oder Wolfenbüttel, und wochen- ja monatelang keine drei Sätze aus dem Gehege seiner Zähne zu lassen Gelegenheit hat und den Eindruck gewinnt, dass es niemanden interessiert, was man tut, so ist das doch manchmal ein wenig lähmend. Ich hoffe daher, Sie haben Nachsicht mit meiner Schreibfreudigkeit.“ Ich habe nie einen solchen, auf Kommunikation angewiesenen, aber vereinsamten Menschen erlebt. Erst jetzt erfuhr ich, in welch kümmerlichen Verhältnissen diese wissenschaftlich hoch begabte Historikerin, der der Mauerbau die ihr unter normalen Umständen sichere akademische Karriere zerstört hatte, in der DDR gelebt hatte. Weil sie mit der Parteilinie keine Kompromisse machen wollte und keine ihrer Ausbildung und Begabung auch nur einigermaßen entsprechende Arbeit fand, musste sie sich ein geringes Einkommen zeitweilig als Briefträgerin verdienen. Seit ihrem Staatsexamen 1954 hatte sie keinen Urlaub machen können. „Und die 28 Mauerjahre waren für Leute, die Geschichte, Germanis-

28 Johannes Wallmann: Was ist Pietismus? In: Ders.: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II. Tübingen 2008, 221–227, hier 215 Anm. 9.

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tik und Philosophie studiert hatten und keine ‚parteiliche Wissenschaft‘ betreiben wollten, auch nicht besonders lustig und in wissenschaftlicher Hinsicht fast ganz verlorene Zeit. Man war auf mechanischen Kram (Schreibmaschinenarbeiten) und Lückenbüßertätigkeiten angewiesen und verdiente meist nur zwischen 200 und 300 Mark im Monat. Und wenn man keinen Job hatte, lebte man eben vorwiegend von Kartoffeln und Haferflocken, was eine zwar etwas einseitige, aber überaus gesunde Kost ist“, schrieb sie mir sarkastisch und berichtete, dass sie mangels Heizkosten zwanzig Winter hindurch nur ein Zimmer auf eine Durchschnittstemperatur von 14o bringen konnte, um darin zu arbeiten, während in den übrigen Räumen die Temperaturen nur wenige Grade über 0o betrugen, bei anhaltender Kälte öfter unter 0o sanken. „Aber ein leidlich gutes Gewissen war eben in der – gottlob ehemaligen – DDR nicht allzu billig zu haben. Die Rente war dann später, dem geringen Einkommen entsprechend, minimal, so dass man große Archivreisen nicht machen konnte. Seit 1961 war ich froh und dankbar, wenn ich einmal im Jahr für 4 Wochen ins hallische Archiv fahren konnte, was aber durchaus nicht immer möglich war, und in den 60er Jahren brauchte ich mehrere Halleaufenthalte, um die Zitate in Preußentum und Pietismus zu überprüfen und die ca. 1.600 Anmerkungen zu komponieren, zu denen Prof. Hinrichs leider nicht mehr gekommen war. Mein Name durfte im Vorwort natürlich nicht genannt werden, denn ich hatte meine Assistententätigkeit bei Hinrichs vor der Mauer bei den hiesigen Behörden nicht angeben können.“ Wenn heute Nostalgiker die Zeiten in der DDR zurücksehnen, muss man an die Notstände erinnern, die es für Wissenschaftler in der DDR gab, die sich der herrschenden Linie nicht fügen wollten, und von denen niemand heute redet. Gertraud Zaepernicks Briefe waren sehr informativ und überaus lehrreich, scheuten aber auch vor Kritik nicht zurück. So warf sie mir vor, in meiner Auseinandersetzung mit Aland nicht seine große Bedeutung für die Ordnung der Halleschen Quellenbestände nach dem Zweiten Weltkrieg zu beachten. Sie habe öfter von Hinrichs gehört, in welchem verwahrlosten Zustand er während der dreißiger und frühen vierziger Jahre in Halle das Archiv des Waisenhauses vorfand, so dass er die Quellen auf dem Boden kriechend aufgesucht habe. Erst Aland habe für diejenige Ordnung gesorgt, in der Pietismusforschung möglich geworden sei. Sie halte seine Verdienste auf dem Gebiet der Organisation für so groß, dass man einzelne Fehlleistungen nicht überbewerten sollte. Deshalb wünsche sie mir, „daß Sie, wenn wieder ein Fettnäpfchen in Sicht sein sollte, nicht wieder stracks daraufzu und hinein marschieren möchten, sondern es in elegantem Stemmbogen umfahren“. Einen ihrer Briefe habe ich, auch wenn mich ihre Kritik an einer meiner Vermutungen nicht völlig überzeugte, nach ihrem Tod in der Hoffnung, dass sich andere mit ähnlichen Briefen melden, in PuN veröffentlicht.29 Von Feminismus und historischer 29

Gertraud Zaepernick: Fromme Höfe im 18. Jahrhundert. In: PuN 32, 2006, 213–219.

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Frauenforschung hielt sie nicht viel, half aber mit ihrem Wissen und Rat Ulrike Witt bei ihren Forschungen über das Gynaeceum und die Frauen des hallischen Pietismus. Wenn im Vorwort zu diesem in der Pietismus- und in der Genderforschung stark beachteten Buch30 Prof. Johannes Wallmann und Frau Gertraud Zaepernick für manche Anregung und förderliche Kritik gedankt wird, so ist dabei vornehmlich an Frau Zaepernick zu denken, die bereitwillig ihren Rat zur Verfügung stellte und sich große Mühen bei der Durchsicht des Manuskripts machte. Es bedrückt mich, dass ich nach meiner Übersiedelung nach Berlin, auch durch gesundheitliche Probleme gehindert, den Kontakt zu ihr nicht gepflegt habe. Sie fand in ihren letzten Jahren einen Gesprächspartner in dem ihr von Halle bekannten Kollegen Christoph Bochinger, Religionswissenschaftler an der Universität Bayreuth, der mich nach ihrem Tod bat, damit sie nicht teilnahmslos verscharrt werde und eine christliche Bestattung erhalte, die Trauerfeier zu übernehmen und die Predigt bei ihrer Beerdigung zu halten. Eine Todesanzeige gab es nicht. Familie hatte sie, abgesehen von einem in Süddeutschland lebenden Bruder, mit dem sie in keiner Beziehung stand, nicht. Sie lebte völlig vereinsamt. Einige Mitarbeiter aus den Franckeschen Stiftungen in Halle, aber niemand von der Pietismus-Kommission, kamen zu ihrer Beerdigung im Juli 2005 auf dem Friedhof in Berlin-Treptow. Ich hatte gerade einen Schlaganfall erlitten, konnte die Trauerfeier aber halten und anschließend mit einer Gruppe weniger Personen den Sarg von der Kapelle zum nahe des Spreeufers gelegenen Grab geleiten. Die Wiedervereinigung führte zu ihrem Ausscheiden aus der PietismusKommission, öffnete ihr aber andererseits den Zugang zur internationalen wissenschaftlichen Welt. Auch wenn sie meist nicht mehr die Kraft hatte, ihre Vorträge druckfertig zu machen, konnte sie doch Archive und Bibliotheken besuchen und an Tagungen im Inland und Ausland teilnehmen. Als ich im März 1994 in den Franckeschen Stiftungen in Halle ein Internationales Kolloquium „Halle und Osteuropa“ hielt und der aus Sibiu/Hermannstadt (Siebenbürgen) für ein Referat Der hallische Pietismus und sein Einfluß auf Siebenbürgen eingeladene Prof. Hermann Pitters nicht reisen durfte, brauchte sie nur die Überlegungen einer Nacht, um uns zu unserer völligen Überraschung ein gestochen klares und inhaltsreiches Referat über den hallischen Pietismus und Siebenbürgen vorzutragen. Ich konnte ihr Referat, das sie nicht zum Druck geben wollte, nur im Vorwort des Tagungsbandes erwähnen.31 Erst später erfuhr ich, dass sie in dieses entlegene Thema der Pietismusforschung gründlich eingearbeitet war. Professor Keserü, Inhaber des Lehrstuhls für Ältere Ungarische Literatur an der Universität Szeged/Ungarn, hatte Gertraud 30 Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Tübingen 1996 (Hallesche Forschungen, 3). 31 Halle und Osteuropa. Zur Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tübingen 1998 (Hallesche Forschungen, 1), 3.

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Zapernick, als sie noch Mitglied der Pietismus-Kommission war, in Berlin kennen gelernt und war von ihren Kenntnissen und ihrer Hilfe bei der Benutzung deutscher Bibliotheken und Archivalien so beeindruckt, dass er sie zu Gastvorlesungen nach Szeged, darunter eine über den hallischen Pietismus in Siebenbürgen, einlud. Die ungarisch-siebenbürgischen Teilnehmer des Halleschen Pädagogium Regium, nach denen Professor Keserü und Dr. Zsuzsa Font, seine Mitarbeiterin, suchten, konnte sie vollständig auflisten und diese Liste überreichen. Im Sommer 1994 fuhr sie nach Szeged. Sie hielt dort Ende August 1994 ein Referat über Die hallischen Pietisten, das nicht erhalten ist, und eines über Der Hallische Pietismus in Siebenbürgen.32 Begeistert schrieb sie mir am 19. August 1994 aus Szeged: „Die hiesige Gastfreundschaft ist überwältigend. Ich werde nach Strich und Faden verwöhnt und komme mir vor wie im Traum. Meine Referate über die Hallenser Pietisten und die Herrnhuter in Siebenbürgern habe ich aber realiter absolviert [. . .]. Anfang September geht’s nach Wittenberg, Halle, Leipzig, Dresden und Wolfenbüttel.“ Zu dem Kolloquium, das Ernst Koch und ich 1995 in Gotha über Ernst Salomon Cyprian hielten, steuerte sie ein Referat über Die Anfänge der Aufklärung im Herzogtum SachsenGotha-Altenburg und Cyprians Stellung dazu bei, das gedruckt vorliegt.33 Ein Jahr später schrieb sie einen Beitrag über das Pädagogium Regium für einen Hallenser Katalog.34 Mit dem inzwischen verstorbenen Dr. Niewöhner und mir wurde sie 1997 als Abgesandte der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel zu der ersten von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften auf rumänischen Boden in Cluj/Klausenburg veranstalteten Tagung anlässlich des 400. Todestages des in Siebenbürgen wirkenden ersten unitarischen Bischofs György Enyedi gesandt. Begleitet von Ulrike Witt reiste sie nach Rumänien und hielt in Cluj ein (leider ungedrucktes) Referat über Samuel Crell und die Spiritualisten. Aart de Groot/Utrecht bat sie in Cluj um den Artikel Gichtel für das Biografisch Lexicon voor de geschiedenis van het Nederlands Protestantisme, was sie zusagte, später aber einen Schrecken bekam, als sie erfuhr, dass der Umfang 30 Seiten statt der erwarteten 3 oder 4 Seiten betragen sollte und sie dazu noch den Artikel über Überfeld übernehmen sollte. Für den I. Internationalen Kongress für Pietismus-Forschung 2001 in Halle meldete sie ein Referat Adam Struensee in Halle zwischen pietistischen Hallensern und Herrnhutern an, konnte aber aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen. Ihr Referat, das von Frau Albrecht-Birkner verlesen wurde, konnte nicht in die Bände der Kongressakten aufgenommen, 32 Eine Kopie des Korrekturen und Ergänzungen enthaltenden Manuskripts von Frau Zaepernick, 17 eng beschriebene Seiten umfassend, wurde mir nach dem Tod von Frau Zaepernick durch Dr. Szuzsa Font/Szeged freundlicherweise zugänglich gemacht. 33 Gertraud Zaepernick: Die Anfänge der Aufklärung im Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg und Cyprians Stellung dazu. In: Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Hg. v. Ernst Koch u. Johannes Wallmann. Gotha 1996, 202–216 34 Gertraud Zaepernick: Kurzer Bericht vom Pädagogium Regium 1695–1784. In: Schulen machen Geschichte. Hg. v. Penelope Willard. Halle 1997 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 4), 67–82.

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doch anderen mitgeteilt werden.35 Noch einmal konnte sie einer Einladung nach Szeged folgen. Bei einen Symposium „Mystischer Spiritualismus zwischen Paracelsus und dem Radikalpietismus“ in Szeged vom 2. bis 7. April 2002 trug sie ein Referat über Johann Michaelis vor, einen scharfen Kirchenkritiker des 17. Jahrhunderts, über den ich, weil Spener in seiner Dresdner Zeit mit ihm viel zu tun hatte, mich oft mit ihr ausgetauscht hatte. Diesmal trug sie ohne ein Manuskript vor und hinterließ auch keine Notizen.36 Wenn die durch ein tragisches Schicksal aus der akademischen Bahn geworfene Historikerin irgendwo auf der Welt bleibende Spuren hinterlassen hat, dann sind es Ungarn und die Universität Szeged. Gertraud Zaepernick war nicht promoviert. Als ich sie nach unserem Kennenlernen auf einem amtlichen Universitätsbogen mit Frau Dr. Zaepernick anschrieb, bat sie mich, beim nächsten Mal auf einem neutralen Bogen unter meiner persönlichen Adresse zu schreiben und fügte hinzu „Übrigens bin ich nicht promoviert. Die Verhältnisse waren nicht so. Ich trage dies Manko mit großer Fassung.“ Es ist m.W. ein singulärer Fall, dass eine nicht promovierte deutsche Frau, die in der Literatur als „Privatgelehrte“ angeführt wird,37 von ausländischen Universitäten und Akademien zu wissenschaftlichen Vorlesungen und Referaten eingeladen wurde. Dass im vierten Band der Geschichte des Pietismus, wo die Geschichte der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus dargestellt und dutzendweise die Mitglieder der Kommission aufgeführt werden, der Name Gertraud Zaepernick nirgendwo auftaucht, sie also in der Pietismusforschung unsichtbar gemacht wird, entwertet diese Geschichte und machte es dem Chronisten zur Pflicht, an sie, der in der Zeit der deutschen Teilung ein normales Forscherschicksal verwehrt wurde, zu erinnern. Sie hat mit ihrem reichen Wissen wie manchem anderen so auch mir viel bei der Arbeit der Spenerbriefedition geholfen. Mein Bericht zur Geschichte der Edition der Spenerbriefedition hat mich aus der Verpflichtung des Historikers vieles in Erinnerung rufen lassen, was wieder der Vergessenheit überlassen werden mag. Wenn der Name Gertraud Zaepernick, die Mitglied der Pietismus-Kommission war, durch meinen Bericht der Vergessenheit entrissen bleibt, dann ist er nicht umsonst geschrieben.

35

Die sechs Seiten ihres Manuskripts machte mir Dr. Szuzsa Font/Szeged zugänglich. Für die Mitteilungen über Gertraud Zaepernick und Szeged danke ich Frau Dr. Szuzsa Font/ Szeged. 37 RGG4 Register, Tübingen 2007, 444. 36

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REINHARD LIESKE

Sonderbare Bilder in der evangelischen Kirche von Steigra Ein emblematischer Bilderzyklus nach Bildmotiven aus Johann Arndts Wahrem Christentum 1. Einleitung Die Ortschaft Steigra besitzt eine stattliche Kirche mit einem mächtigen Westturm, dessen Erbauungszeit bis weit in das frühe Mittelalter zurückweist.1 Ihr jetziges Kirchenschiff, das sich nach Osten zu anschließt, ist jedoch sehr viel jünger. Oben an dem Gesims der Nordwand erinnert die Jahreszahl 1699 an eine von Grund auf erfolgte Neugestaltung des Kirchenschiffes. Zeitnah zu dieser Jahreszahl dürfte vermutlich auch die Inneneinrichtung, wie sie noch heute zu sehen ist, entstanden sein. Sie enthält eine Reihe von Elementen, wie sie für evangelische Kirchenräume in jenem Zeitalter üblich waren. Am meisten fallen, wenn wir den Raum durch das Südportal hindurch betreten, zunächst die Emporen auf. Wir erkennen wuchtige, doppelstöckige Holzemporen, die sich an Nord- und Südwand des Raumes entlang ziehen. Und in die Brüstungsfelder dieser Emporen hineingemalt finden wir die Bilder, um die es im Folgenden gehen soll. Wir zählen 38 Gemälde, alle recht schlicht gemalt und mit Farbe und Pinsel unmittelbar auf das bräunlich vorgestrichene Holz aufgetragen. Eine unbebilderte und lediglich eingeschossige Westempore, auf der die Orgel steht, verbindet die untere Nord- und die untere Südempore miteinander. Ihre im leichten Schwung zum Innenraum hin gezogene Brüstung ist als Balustrade gestaltet. Das jeweils letzte Bild der beiden unteren Längsemporen wurde dort, wo diese auf die Westempore stoßen, rücksichtslos mit der Säge verkürzt.2 In Richtung Osten lassen die Längsemporen Raum genug für die 1 Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler Sachsen-Anhalt. Bd. 2: Regierungsbezirke Dessau und Halle. München 1999, 797. Ferner: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler. Provinz Sachsen. Hg. v. der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und das Herzogtum Anhalt. 27. Heft, Kreis Querfurt. Halle/Saale 1909, 275–277. 2 Die Gestaltung der heute vorhandenen Westempore dürfte sicherlich im Zusammenhang mit Baumaßnahmen zugunsten der Orgel zu tun haben. Von einer von Anfang an unveränderten Abfolge der Bilder ist auch schon deshalb auszugehen, weil die Länge der bemalten Brüstungsfelder

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gemeindliche Abendmahlsfeier. An der geraden Ostwand steht, typisch für die Entstehungszeit, ein Kanzelaltar. Er zeigt einen Säulenaufbau mit großen Akanthuswangen und Weinreben. Flankierend dazu stehen die Figuren von Petrus und Paulus und obenauf die Figur des Auferstandenen. Unter dem Kanzelkorb befindet sich eine Darstellung vom letzten Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts sind Bilder in evangelisch-lutherischen Kirchen selbstverständlich geworden. Nicht nur Schlosskapellen und große Stadtkirchen, auch viele weit weniger repräsentative ländliche Kirchenräume spiegeln die Freude an Farben und Bildern in der kirchlichen Kunst des Luthertums. In der Auswahl der Bildmotive hat sich ein Standardprogramm herauskristallisiert. Wesentlich besteht es aus der Wiedergabe solcher Bibelgeschichten, die den Weg Jesu nachzeichnen: die Geburt im Stall zu Bethlehem, die Taufe im Jordan, das letzte Abendmahl mit seinen Jüngern, Passion und Tod am Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt bis zur Wiederkehr am Jüngsten Tage. Wie es die Propheten, Apostel, Evangelisten und andere Männer und Frauen der Bibel bezeugt haben, so verkündigen jetzt die Bilder die großen Taten Gottes. Umso mehr verwundert es, in Steigra auf Bilder zu stoßen, die andere als biblische Motive zeigen. Die Bilder in Steigra entstammen der Alltagswelt und technischen Errungenschaften um 1700. Als neue Form des künstlerischen Gestaltens hat sich um diese Jahre die Emblematik etabliert.3 Ihre Anfänge reichen zwar in den Beginn des 16. Jahrhunderts zurück, um dann im 17. Jahrhundert, im Zeitalter des Barock, zu voller Blüte zu gelangen. Ihrem Ursprung nach ist die Emblematik in der Gelehrsamkeit und der Spitzfindigkeit humanistisch gebildeter Menschen von Rang und Stand beheimatet. Sehr rasch aber zieht sie immer weitere Kreise, bleibt nicht auf gedruckte Bücher beschränkt und hält, an Wände und auf Vertäfelungen gemalt, Einzug in säkulare Bauten wie Schlösser, Rats- und Bürgerhäuser. Wir begegnen ihr nicht nur in den großen katholischen Kirchen des Barock, sondern genauso in den oft recht kleinen und eher bescheidenen Kirchenräumen des Protestantismus. Die Bemalung der beiden Emporen in Steigra führt uns ein gutes Beispiel dafür vor Augen. Die eigentliche Absicht des Emblems ist, in und hinter dem Dargestellten nach etwas Unsichtbarem, Höherem (oder Tieferem) suchen zu lassen. Die Grundidee der Emblematik besteht darin, durch die Vordergründigkeit der abgebildeten vorfindlichen Wirklichkeit hindurch zu schauen, sie zu ‚durchschauen‘. Ein Emblem in seiner Idealform besteht aus drei Elementen, die sich zu einer neuen, höheren Einheit verbinden: Pictura, Motto und Subscriptio. teilweise differiert und daher auch nicht in beliebiger Reihenfolge aufs Neue hätte zusammengesetzt werden können. 3 Zu Begriff und Verbreitung der Emblematik siehe: Arthur Henkel u. Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. u. XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967.

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In der Pictura wird die bildhafte Wiedergabe eines Motivs aus der den Menschen umgebenden und ihm bekannten Lebenswelt vor Augen gemalt. Das möglichst kurze Motto, unmittelbar mit der Pictura verknüpft, setzt einen Denkimpuls. Wer nach dem Zusammenhang zwischen Pictura und Motto sucht, sieht sich zunächst vor ein Rätsel gestellt. Das dritte Element des Emblems, die Subscriptio, nimmt in der Regel die Form einer kürzeren oder längeren Dichtung an, kann aber auch durch weitere Schriftbeiträge zu einem beträchtlichen Umfang anwachsen. Die Subscriptio zielt darauf ab, die Spannung zwischen den beiden Polen Pictura und Motto aufzulösen und den verborgenen Sinn an das Tageslicht zu fördern. Hinter der Umständlichkeit des Vorgangs steckt Methode. Um den verborgenen Sinn herauszufinden, der Bild und Motto hintergründig verbindet, sieht der Betrachter sich zu eigenem Forschen und Überlegen herausgefordert. Die in Büchern häufig anzutreffende Ausführlichkeit der Subscriptio stößt bei der Übertragung ‚emblematischer Bilder‘ an Wände und Emporen an natürliche Grenzen. Aus Platzgründen fällt besonders an den Emporen die Subscriptio weg. In Steigra fehlt nicht nur die Subscriptio, sondern auch noch das Motto. Die Botschaft der Bilder droht unverständlich zu werden. Eine Deutung wird lediglich dadurch möglich, dass wir die Druckvorlage für die gemalten Bilder kennen. Wie sich herausstellt, finden sich nahezu alle in Steigra an die Emporen gemalten Bildmotive in den Kupferstich-Illustrationen, die 1678/79 in einer Neuausgabe von Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum in Riga im Druck erschienen sind.4 Johann Arndts Vier (später sechs) Bücher vom wahren Christentum sind das Erbauungsbuch des Protestantismus schlechthin. Seit 1610 lag es in einer Gesamtausgabe vor und löste bereits von Beginn an ebenso lebhafte Zustimmung wie heftigen Widerspruch aus. Johann Arndt gilt als einer der wichtigsten Vertreter einer im Luthertum neu aufkommenden Frömmigkeitsrichtung. Ihr Hauptanliegen bestand darin, eine als starr empfundene Kirchlichkeit und einen Glauben, der nur noch im Kopf, aber nicht mehr im Herzen wohne, zu neuer Lebendigkeit zu erwecken.5 Die Illustrationen, mit denen die 1678/79 in Riga gedruckte Ausgabe aufwartet, haben Epoche gemacht und nicht unerheblich zu der Ausstrahlungskraft des Werkes beigetragen.6 4 Zu den Besonderheiten des Rigaer Neudruckes s. Johannes Wallmann: Beziehungen des frühen Pietismus zum Baltikum und zu Finnland. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 249–281, hier 265 f. 5 Zu Johann Arndt s. Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Geschichte des Pietismus 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 130–151. Ferner: Frömmigkeit oder Theologie. Johann Arndt und die ‚Vier Bücher vom wahren Christentum‘. Hg. v. Hans Otte u. Hans Schneider. Göttingen 2005. 6 Zu den Illustrationen und ihrer Entwicklung s. Dietmar Peil: Zur Illustrationsgeschichte von

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In der Kirche von Steigra haben wir es mit einer Wiedergabe der Bildmotive zu tun, die der des Rigaer Druckes entspricht. Im Jahre 1696 kommt ein Neudruck in Leipzig heraus, der in zeitlicher und geographischer Nähe zu den in Steigra erfolgten Baumaßnahmen steht.7 Außerdem bietet der Neudruck einen Textblock an, der sich als eine Erklärung aller Sinn-Bilder und Kupfer/ so in diesem Buch zu finden ausgibt. Die Begründung, die der Leipziger Druck für diese Zugabe nennt, spricht für sich selbst.8 Obwohl bey ieglichem Sinnbild an statt der Erklärung gewisse Verse stehen/ so gar fein sind; Dennoch, weil viele über die eine und andere Undeutlichkeit derselben geklaget/ und daß manche/ zumahl Ungelehrte/ gar nicht einmal wüsten/ was in diesem oder jenem Sinn-Bilde abgebildet sey/ so hat man itzo noch eine andere und deutlichere Erklärung aller Sinn- Bilder/ nach der Ordnung zusammen gedruckt/ hinzu thun wollen/ also/ daß man (1.) angezeiget / was im Sinn-Bild stehe/ und denn (2.) alsbald die Application kürtzlich dazu gethan / was nemlich durch ein iedes in (!) geistlichem angedeutet werde. 2. Beschreibung der Bilder Bei der Beschreibung der Bilder beginne ich mit dem Gemälde an der Stirnwand der unteren Südempore. Alle weiteren Bilder habe ich im Uhrzeigersinn, zunächst an den unteren und dann an den oberen Emporen, fortlaufend durchnummeriert. Da die bemalten Brüstungsfelder an den Emporen von unterschiedlicher Länge sind, ist davon auszugehen, dass die ursprüngliche Reihenfolge unverändert erhalten blieb. Jegliche Angaben über den Umbau des Kirchenschiffes und somit auch über den Maler fehlen.9 Bis auf wenige Ausnahmen fällt jedoch auf, welche Mühe sich der Maler gegeben hat, die in Kupfer gestochenen Vorlagen aus Johann Arndts Erbauungsbuch detailgetreu wiederzugeben. Die Qualität der Bilder selbst ist als äußerst schlicht zu bezeichnen. Aus einem mehr oder weniger hell- oder auch dunkelbraunem Anstrich der Brüstungsfelder bleiben kreisförmig oder oval geformte Ausschnitte für die Gemälde ausgespart. Der Rahmen, der sie umgrenzt, wird

Johann Arndts ‚Vom wahren Christentum‘. Mit einer Bibliographie. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18, 1977, 963–1066. Zu der 1679 in Riga gedruckten und illustrierten Ausgabe und zu den daran beteiligten Personen verweise ich nochmals auf Wallmann [s. Anm. 4], 265 f. 7 S. Peil [s. Anm. 4], 968 f. Peil zufolge bleibt dieser Leipziger Druck (nebst einem Nachdruck von 1699) auch der einzige, der die Rigaer Bilder unverändert übernimmt. 8 Vgl. Peil [s. Anm. 4]. Die ‚Erklärung aller Sinnbilder‘ wird als kompletter Textblock und ohne Seitenzahlen wiedergegeben und schließt sich unmittelbar an die Vorreden an. 9 Im landeskirchlichen Zentralarchiv (Zweigstelle Wernigerode) fehlen ausgerechnet die Aktenbestände zwischen 1635 und 1715. Geistlicher vor Ort (1695–1719) war Pfarrer Martin Kolbe, auf Ersuchen der Kirchengemeinde in Steigra aus Gleina berufen.

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jeweils aus einer in noch viel dunklerem Braun gemalten einfachen Linie gebildet. Für die Erklärung und Deutung der Bilder in Steigra wird folgender Weg gewählt: Zu allen Bildmotiven wird das erforderliche Motto aus dem als Vorlage dienenden Buch zitiert. Von der Rückseite des Emblemblattes wird die Quellenangabe, die auf das zugehörige Buchkapitel bei Arndt verweist, mit übernommen. Darüber hinaus werden auszugsweise Formulierungen aus der ‚Erklärung aller Sinnbilder‘ hinzugefügt. Sie bieten den Vorteil, das mit den Emblemen Gemeinte in einem ersten Überblick knapp und präzise in damals zeitgenössischer Sprache zu beschreiben und auf den Punkt zubringen. 1. Brennofen Motto: Starcke Gluth macht mich guth. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 50 zu Buch IV, 2. Teil, Kap. 13, GOttes Liebe ist in allen seinen Wercken/ auch in dem / wenn er den Menschen straffet. (Weißheit 12, 18) Die Abbildung zeigt einen großen Ofen. Die Erklärung aller Sinnbilder präzisiert: Hier ist ein Brenn- und Ziegel-Ofen/ darinnen durch das starcke Feuer und dessen starcke Glut die Ziegel recht gut gemacht werden: Also pflegt Gott auch die Seinigen in dem heissen Creutz-Ofen zu prüfen und bewährt zu machen. 2. Springbrunnen Motto: Erhöhet durch den Fall. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 41 zu Buch III, Kap. 5: Wie ein Mensch kann in GOtt gezogen werden. Item/ was geistliche Armuth sey/ und von den Graden und Staffeln der Demuth (Lukas. 8,14). In der Erklärung aller Sinnbilder heißt es: Hier ist ein Spring-Wasser oder Spring-Born/ mit welchem es also bewand/ daß das Wasser erst so tieff fallen muß/ als es hoch steigen und springen soll: Also will ein Mensch erhöhet werden/ so muß er erst niedrig werden und sich demüthigen/ so wird ihn der Herr erhöhen. 3. Pomeranzen-Baum Motto: Am besten abgesondert Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 13 zu Buch I, Kap. 23: Ein Mensch/ der in Christo will wachsen und zunehmen/ muß sich vieler weltlichen Gesellschaft entschlagen. (Psalm 84,2) Bei einem Pomeranzen-Baum handelt es sich um ein kälteempfindliches Ziergewächs, wie es in den barocken Garten- und Parkanlagen von Schlössern in jener Zeit gelegentlich zu finden war. Seine Früchte, die Pomeranzen, gelten als eine ausgesprochen bittere Apfelsinenart. Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Pomerantzen-Baum / der in einem Kasten gantz abgesondert stehet/ und gegen den Winter zu in eine Stube oder Keller getragen wird/ daß weder Wind/ noch Frost/ noch Schnee ihm schaden/ sondern hernach auff den Frühling und Sommer desto besser wachsen und Früchte bringen kann. 63 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Also wächst ein Christ am besten im Glauben/ Liebe und andern Tugenden/ wenn er von der Welt abgesondert lebet/ und die weltliche Gesellschafft meidet. Denn wenn Unglück die gottlosen Welt-Kinder trifft/ so ist er in der Hütten und Gezelt GOttes bedecket und verborgen. 4. Tubus (Perspektiv oder Fernrohr) Motto: Entfernet und doch zugegen. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 33 zu Buch II, Kap. 50: Von der Hoffnung, wie und warum dieselbe nicht lässet zu Schanden werden, wie sie probirt wird in leiblichen und geistlichen Anfechtungen (Jesaja 49,23) Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Tubus oder großes Perspectiv und FernGlaß/ wodurch das Auge des Sternsehers siehet/ und die sehr weit entfernten Sterne als gantz nahe und zugegen ziemlich deutlich siehet und erkenne: Also hat auch die Hoffnung eines gläubigen Christen sehr helle Glaubens-Augen/ mit welchen sie durch das sichtbare in dieser Welt gar weit hinsiehet/ auff das unsichtbare/ in GOttes liebreiches Vater-Hertz und in die ewige Herrlichkeit hinein/ und sich damit erfreuet. Übrigens wird das große Auge des Sternsehers, wie es gerade durch das nach oben gerichtete Fernrohr an den nächtlichen Himmel schaut, ebenfalls abgebildet. Der Sternseher ist hier sozusagen ‚ganz und gar Auge‘ geworden. Das darauf folgende Bild wurde in ein stark reduziertes Brüstungsfeld gemalt. Auch der sehr schlicht gemalte Rahmen der Bilder, sonst eher kreisförmig angelegt, hat sich diesmal zu einem Oval verschmalert. 5. Vase (ein mit üppigen Blättern und etlichen Blüten gefüllter Krug) Motto: Allein den Augen Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 12 zu Buch I, Kap. 22: Ein wahrer Christ kann nirgend an erkant werden/ dann an der Liebe und täglichen Besserung seines Lebens/ wie ein Baum an seinen Früchte (Psalm 92,13 ff.). Erklärung aller Sinnbilder: Hier sind abgebrochene grüne Zweige in einem Krug mit Wasser gefüllt/ in welchem sie grünen und blühen/ und also den Schein der Früchte von sich geben; allein weil sie den rechten Safft von dem Baum nicht geniessen/ so wird nichts aus den Früchten/ sondern es fällt alles ab/ und haben also allein den Augen gut geschienen. So ist es auch bewandt mit dem Heuchel-Christenthum/ welches einen feinen Schein hat/ aber keine vollkommenen Früchte der wahren Liebe bringet/ weil es des lebendigen Saffts JEsu Christi mangelt. 6. Adler, der mit seinen Jungen auf seinem Rücken der Sonne entgegenfliegt Motto: Wer mir folget/ siehet das Licht. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 17 zu Buch I, Kap. 37: Wer Christo mit Glauben/ heiligem Leben und stetiger Busse nicht folget/ der kann von der Blindheit seines Hertzens nicht erlöset werden/ sondern muß in der ewigen Finsterniß bleiben: Kann auch Christum nicht recht erkennen / noch Gemeinschaft und Theil an ihm haben (1. Joh. 1, 5–7). 64 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist zu sehen ein alter Adler/ welcher mit ein paar Jungen auff seinen Rücken in die Höhe nach der Sonnen-Licht fleugt/ damit sie auch mögen lernen gerade in die Sonne zu sehen. Hiemit wird abgebildet/ daß alle diejenigen Christen/ welche dem himmlischen Adler Christo JEsu auff dem engen Creutzes-Weg fein nachfolgen/ je länger je mehr zum Licht kommen und es sehen. Über den Adler, der mit seinen Jungen auf dem Rücken der Sonne entgegen fliegt, weiß schon die antike Naturkunde zu berichten. Angeblich will er den Jungen beibringen, geradewegs in die Sonn zu schauen. Die aber, die das nicht fertig bringen, schüttelt er ab. 7. Brennende Kerze, von Faltern umschwärmt Motto: Nicht zu nahe. Quelle: Johann Arndt Wahres Christentum, Emblem Nr. 10 zu Buch I, Kap. 17: Daß der Christen Erbe und Güter nicht in dieser Welt seyn, darum sie des Zeitlichen als Fremdlinge sich gebrauchen sollen (1. Timotheus 6,7). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist zu sehen ein brennend Licht auff einem Leuchter/ um welches ein paar Nachtfalter oder Licht-Mücken herum fliegen/ welche/ wenn sie dem Licht zu nahe kommen/ sich verbrennen/ wie unten am Leuchter schon eine liegt/ die sich/ weil sie dem Licht zu nahe kommen/ verbrandt hat. Hiemit wird abgebildet/ daß gläubige Christen der Welt zwar gebrauchen könne/ aber ihr nicht zu nahe kommen müssen/ das ist/ sie nicht mißbrauchen noch lieben sollen/ als wodurch man das ewige Leben wieder verschertzen kann. 8. Kornähren Motto: Je niedriger je völler. Ähren, von Körnern schwer, neigen sich abwärts und erinnern damit an die christliche Tugend der Demut, die viele Früchte trägt Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 25 zu Buch II, Kap. 21: Von der Krafft der edlen Tugend der Demuth (Buch Judith in den apokryphen Büchern der Lutherbibel, Kap. 9,13). Erklärung aller Sinnbilder: Hier sind Korn-Aehren auff dem Feld/ da die niedrigsten die völlesten sind/ und das beste Korn haben/ dahingegen die Aehren/ die hoch und auffrichtig stehen/ leer sind oder taub Korn haben: Also/ je niedriger und demuthütiger ein Mensch ist/ je völler ist er von der Gnade GOttes/ da hingegen die Stoltzen und Hochmüthigen gantz leer von der göttlichen Gnade/ und vielmehr dem HERRN ein Greuel sind. Das letzte Bild an der unteren Südempore gibt es heute nur noch in einer verkürzten Fassung. Offenbar hat man die Westempore, die auch die Orgel trägt, im Nachhinein nach vorne erweitert. Der gleiche Sachverhalt trifft dann entsprechend auch auf das Gegenstück am Ende der Nordempore zu. Inhaltlich bleiben beide Bildmotive, auch wenn sie verstümmelt wurden, deutlich erkennbar. 65 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

9. Bienenkorb und Bienen Motto: Nicht ihnen selbst. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 8 zu Buch I, Kap. 12: Ein wahrer Christ muß ihm selbst und der Welt absterben/ und in Christo leben (2. Korinther 5,15). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Bienen-Stock, in welchem die Bienen mit grossem Fleiß und Mühe ihr Honig eintragen/ nicht zwar ihnen selbst/ sondern denen Menschen zum Nutz. Also sind gläubige Christen der Welt abgestorben/ und leben darinnen nicht sich/ sondern Christo/ der für sie gestorben und aufferstanden/ und suchen in ihrem Christenthum nicht das ihre/ sondern das Christi JEsu ist. Die Nummerierung der Bilder springt jetzt über auf die nördliche Hälfte der unteren Empore, von Westen an gezählt. Wie das letzte Bild auf der Südseite finden wir sein Pendant an der Nordempore in gleicher Weise verkleinert vor. 10. Magnet mit Eisen Motto: Uns trennt allein der Rost Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 44 zu Buch III, Kap. 13: Wenn die Liebe der Creaturen ausgehet, so gehet GOttes Liebe ein: und von den herrlichen Wirkungen und Effecten der götllichen Liebe in uns (1. Johannes 2,15). Erklärung aller Sinnbilder: Hier hänget ein Magnet/ welcher das Eisen an sich ziehet/ aber durch den Rost allein wieder von einander getrennet werden: Also will GOtt uns auch zu und an sich ziehen/ sofern wir die Welt mit ihrer Liebe und Lust fliehen/ und vor muthwilligen Sünden-Rost uns in acht nehmen: Denn durch die Sünde werden wir von Gott wieder geschieden. Im nächsten Gemälde wird der Kupferstich der Buchvorlage erstmals gravierend verändert. Die Abwandlung ist mit Sicherheit so gewollt. Im Kupferstich der Buchvorlage erkennen wir ein Bäumchen, dessen abgeschnittene Äste noch auf dem Boden liegen. In Steigra wird das Bäumchen durch einen stark beschnittenen Weinstock ersetzt. An seinen auf der Erde liegenden Ranken hängen immer noch Reben. Vermutlich darf diese Abwandlung des Motivs dem traditionellen Anbau von Wein in Steigra und in der Saale-UnstrutRegion im Allgemeinen zugerechnet werden, wozu der Bibelspruch Joh 15,2, der auf der Rückseite des Emblemblattes ausgedruckt steht, auch noch das Seine zu der Motivgestaltung beigetragen haben mag.10 11. Weinstock mit abgeschlagenen Ranken (Abb. 1) Motto: Das Mindern mehrt Quelle: Eigne Gestaltung unter Abwandlung eines Emblems aus Johann Arndts Wahres Christentum. Siehe Emblem Nr. 42 zu Buch III, Kap. 9: Wie der 10 „Einen jeglichen Reben/ der da Frucht bringet/ wird er reinigen/ dass er mehr Frucht bringe.“ (Joh 15, 2)

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wahre lebendige Glaube das Herz reiniget von den Creature/ bösen Zuneigunge / und von Ungedult/ dagegen aber Liebe und Gedult pflanzet im Creutz (Apostelgeschichte 15,9). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Baum/ welchem so wohl dürre als andere Aeste abgehauen worden (als welche hier unten um den Baum herum liegen), daß er daher gar unansehnlich siehet. Aber es ist zu seinem Besten geschehen/ daß er nemlich nur desto mehr Aeste treiben soll/ und man also hernach sehen kann/ daß das Mindern seiner Aeste ihm nicht geschadet: Also macht es auch der Glaube in einem Christen/ der nimmt alles/ was dem alten Adam lieb ist/ weg/ und stärcket hingegen den neuen Menschen/ daß er desto mehr Tugend-Zweige und Früchte zu GOttes Lob bringen kann. 12. Ameisen Motto: Zu rechter Zeit Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 22 zu Buch II, Kap. 8: Wie freundlich Gott zur Busse locke/ und warum die Busse nicht zu versäumen (Lukas 15,10). Erklärung aller Sinnbilder: Hier sind abgebildet ein Hauffen Ameisen/ welche im Sommer sehr fleißig sind und also ihre Speise auff den Winter sich zu rechter Zeit einsammeln: Also sollen auch Christen die rechte Zeit der Busse nicht versäumen/ sondern sich je eher je besser bekehren/ und in ihrem Christenthum fleißig seyn/ eh die böse Zeit oder der Todt kömmt. 13. Seidenraupen Motto: Als die Sterbenden Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 21 zu Buch II, Kap. 7: Die Busse recht zu verstehen/ ist noth zu wissen den Unterscheid des alten und neuen Menschen/ Oder/ wie Adam in uns sterben und Christus in uns leben soll; Oder/ wie der alte Mensch in uns sterben/ und der neue leben soll (Römer 6,6). Erklärung aller Sinnbilder: Hier sind etliche Seiden-Würmer abgebildet/ mit welchen es die Art hat/ daß wenn sie genug gessen und ihre Zeit erreichet/ sie sich verbauen/ und selbst in ihr Gespinst verwickeln und sterben/ dabey aber Eyer hinterlassen/ aus welchen hernach neue Seiden-Würmer werden: Also wenn der neue Mensch leben soll/ so muß der alte auszogen werden oder sterben. Daher gläubige Christen der Welt und Sünde täglich absterben/ damit sie Christo und der Gerechtigkeit leben mögen. Um die Hälfte verkürzt, ohne jedoch im Nachhinein beschädigt worden zu sein, präsentiert sich das nächste Bild. Darin korrespondiert es exakt dem Bild Nr. 5. an der gegenüberliegenden Südempore. 14. Feigenbaum Motto: Auß einer bittern Wurtzel Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 6 zu Buch I, Kap. 8: Daß ohne wahre Busse sich niemand Christi und seines Verdienstes zu trösten habe (2. Buch Mose 12, 48). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist abgebildet ein Feigen-Baum/ der zwar aus einer bittern Wurtzel wächset/ (wie denn auch die Rinde und Blätter bitter schmecken) 67 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

aber doch süsse Früchte bringet: Also ist die Busse zwar dem alten Adam sehr bitter/ aber doch bringet sie herrliche Früchte des Glaubens/ der Liebe/ Gedult/ der Sanfftmuth und Demuth/ auch des Friedens/ der Freude/ des göttlichen Trostes und dergleichen. 15. Baum mit Propfreisern Motto: Nichts ausser mir Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 20 zu Buch II, Kap. 6: In der Vereinigung mit Christo durch den Glauben stehet des Menschen Vollkommenheit und Seligkeit/ dazu der Mensch nichts thun kann / sondern hindert sich vielmehr an GOttes Gnade durch seinen bösen Willen; Christus aber thuts allein in uns (Johannes 15,5). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Baum/ auff welchem Propff-Reiser gesetzet/ welche von dem Safft des Baums getrieben werden/ daß sie wachsen und ausschlagen. Denn ausser dem Baum hätten sie müssen verderben und verdorren: Also wenn ein getauffter Christ nicht in Christo JEsu bleibe / so kann er ausser Christo nichts thun/ das GOtt angenehm ist; aber wenn er mit Christo vereiniget bleibet/ so kann er an dem innerlichen Menschen durch den Safft und Krafft Christi fein wachsen und Frucht bringen. 16. Spiegel, in dem sich die Sonne widerspiegelt Motto: Mit aufgedecktem Angesicht. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 2 zu Buch I, Kap.1: Was das Bilde GOttes im Menschen sey (Epheser 4,23.24). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein heller Spiegel auff einem Tisch/ in welchem die Sonne sich helle spiegelt: Also spiegelt sich auch in einer gläubigen Seelen die Klarheit des Herrn/ oder das Bild GOttes mit auffgedecktem Angesicht. 17. Sonnenuhr Motto: Dort geht es richtiger. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 53 zu Buch IV, 2. Teil, Kap. 20: Durch der Creaturen Dienst kann der Mensch augenscheinlich sehen/ daß GOtt nothwendig alle Dinge in seiner Hand und Gewalt habe und erhalte (Buch der Weißheit, Kap. 11,26). Erklärung aller Sinnbilder: Das Motto Dort geht es richtiger bleibt nur so lange rätselhaft, bis wir in der Erklärung aller Sinnbilder lesen: Hier ist ein völliger Sonnen-Weiser oder Zeiger zu sehen/ an welchen die hellscheinende Sonne die Stunden viel richtiger machet/ als eine Schlag-Uhr/ die bald zu geschwind/ bald zu langsam gehet; aber die Sonne gehet durch göttliche Ordnung richtiger: Denn sie gehet einmahl wie das andere und hält ihren richtigen Lauff. Aus diesen und andern ordentlichen Wercken der Natur kann man den wunderbaren und allerweisesten Schöpffer erkennen/ und dadurch auffgemuntert werden, ihn hochzuhalten und desto hertzlicher zu lieben. So bleibt denn endlich noch übrig, nun auch das nach Osten zeigende Stirnbild der unteren Nordempore zu betrachten. 68 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

18. Rakete (Abb. 2) Motto: Ich steige und säubre mich. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 47 zu Buch III, Kap. 23: Vom Geheimniß des Creutzes/ wie wir dadurch zu GOtt gezogen werden. Erst die Erklärung aller Sinnbilder macht wieder den Zusammenhang deutlich: Hier ist eine Rackete an einen Stecken oder Stab gebunden/ welche angezündet und etwas in die Höhe gestossen/ in der Lufft immer je länger je höher steiget/ und sich von dem/ womit sie angefüllet ist/ säubert/ biß sie gantz ausgebrennet ist. Hiemit wird abgebildet/ wie GOtt einen Christen durch das Feuer des Creutzes zum Steigen tüchtig machet/ und dahin bringet/ daß er mit seinem Hertzen und Sinn immer höher hinan/ zu dem himmlischen und ewigen steiget/ und zugleich von der Welt- und Eigen-Liebe und von der Liebe aller andern irdischen Dinge/ die ihm in seinem Christenthum bißher auffgehalten/ je länger je besser gesäubert und gereiniget wird. Obere Südempore: In einem zweiten Rundgang widmen wir uns nunmehr den beiden oberen Emporen. Wir verfahren auch hier im Uhrzeigersinn und beginnen also wiederum mit dem Gemälde, das die nach Osten gewandte hölzerne Stirnwand der Südempore vorweist. Wir blicken auf eine menschenleere, von einer schmalen Mondsichel nur recht spärlich beleuchtete Landschaft: 19. Neumond Motto: Doch irre ich nicht. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 36 Buch II, Kap. 53: Trost wider die hohen geistlichen Anfechtungen (Jesaja 41,17). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist der neue Mond/ welcher/ nachdem er bißher vor der Sonnen und ihren Strahlen nicht hat können gesehen werden/ nunmehro aus den Sonnen-Strahlen wieder herfür kömmt/ und anfangs als ein klein Licht sich wieder zeiget. Ob er nun wohl bißher von uns nicht hat können gesehen werden/ so hat er doch nicht geirret/ sondern noch immer seinen richtigen Gang behalten: Also / ob gleich ein gläubiger Mensch bey grosser Anfechtung in grosse Finsternis fällt, dennoch bleibt er bey seinem GOtt und irret nicht / biß ihm das Gnaden-Licht mitten im Finsterniß wieder auffgehet. 20. Sonnenaufgang Motto: Die Krafft wächst mit dem Tage Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 34 zu Buch II, Kap. 51: Trost wider die Schwachheit des Glaubens (Jesaja 42, 3). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist die auffgehende Sonne/ deren Glantz/ Krafft/ Wärme und Wirckung mit dem Tage wächst und zunimmt: Also ob wol ein gläubiger Christ im Anfange des Glaubens Krafft nicht starck empfindet/ so soll er doch nicht kleinmüthig werden/ sondern nur gedultig seyn/ biß es recht Tag in seiner Seelen wird/ da wird er dessen Wirckung/ Krafft/ Stärcke und Trost mercklich empfinden. 69 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

21. Kompass (Abb. 3) Motto: Eher keine Ruhe. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 27 zu Buch II, Kap. 34: Wie ein Mensch durchs Gebet die Weißheit GOttes suchen soll/Dabey ein nützliches schönes Tractätlein und Unterricht vom Gebet/ wie das Hertz darzu zu erwecken/ und in einen stillen Sabbath zu bringen/ daß GOtt das Gebet in uns wircke. Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Schiffer-Compaß/ in welchem die Magnet-Nadel nicht eher Ruhe hat und stille ist/ biß sie sich gegen Mitternacht zu dem Polar-Stern gewendet hat: Also findet die Seele des Menschen nicht eher Ruhe/ als biß sie sich von der Welt und irrdischen Dingen zu GOtt als ihrem Ursprung mit Gebet und hertzlicher Andacht im Glauben gewendet/ und seiner Gnade wircklich geniesset. 22. Paradiesvogel (Abb. 4) Motto: Terrae commercia nescit. (Das Erdenleben kennt er nicht.) Quelle: Joachim Camerarius d. J.: Symbolorum et Emblematum ex volatilibus et insectis [. . .]. Nürnberg 1596, Emblem Nr. 43.11 Subscriptio: Felices nimium quorum super aethera mentes, Sublat et cuncta haec infera descipiunt. (Jene ganz und gar Glücklichen, deren Geist sich über den Äther erhebt, verachten in ihrer Höhe all dies irdische Treiben.)12 Das hier eingeordnete Bild überrascht. Es zeigt einen rötlich schimmernden Vogel mit ungewöhnlich langen und buschigen Schwanzfedern. Entgegen aller Erwartung liegt ihm als einzigem keine Vorlage aus den Vier Büchern vom wahren Christentum zugrunde. Was kann das anders bedeuten als die gezielte Absicht, bewusst auf eine andere Quelle zurückzugreifen? 1590 erscheint in Nürnberg ein voluminöses, lateinisch verfasstes Sammelwerk von 4 x 100 Emblemen. Sein Autor ist der Nürnberger Arzt und Naturkundler Joachim Camerarius d. J. (1534– 1598). Das Werk besteht aus vier Teilen, in welchem nacheinander Pflanzen, Landtiere (Vierfüßler), Reptilien und Vögel akribisch abgebildet, beschrieben und nach den Regeln der Emblematik als Träger eines von Gott in seine Kreaturen hineingelegten geistlichen Sinnes begriffen werden. In der Naturerkenntnis jener Zeit mischt sich noch immer und nicht nur bei Camerarius auf das Wunderlichste phantastisches ‚Fabelwissen‘ aus der Antike mit frühen Ansätzen zu konkreter Naturbeobachtung. Im 3. Teil des Gesamtwerkes findet sich unter der Nr. 43 ein Kupferstich mit der Abbildung eines Paradiesvogels, dessen langer buschiger Schwanz ebenso auffällt wie das Fehlen von Füßen. Eine ganze Buchseite erörtert darüber hin-

11 Zum Autor und seinem Werk siehe Symbola et Emblemata. Hg. v. Wolfgang Harms u. UllaBritta Kuechen. Darin: Einführung zu der Reprint-Ausgabe. 2 Bde. [1886]. Graz 1988. Die Einführung befindet sich am Schluss des 2. Bandes. 12 Übersetzung nach Henkel / Schöne [s. Anm. 4], 800.

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aus ausführlich und mit großer Gelehrsamkeit, warum dieser sonderbare Vogel im Stande sei, ganz ohne Füße auszukommen. 23. Kugel (Abb. 5) Motto: Daß minste rührt die Erde. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 11 zu Buch I, Kap. 18: Wie hoch GOtt erzürnet werde/ wenn man das Zeitliche dem Ewigen vorzeucht/ und wie/ und warum wir mit unserm Hertzen nicht an den Creaturen hangen sollen (4. Buch Mose 11, 1). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist eine runde Kugel, so auff der Erden liegt/ aber doch mit ihrem minsten oder wenigsten Theil die Erde berühret. Also machen es auch gläubige Christen/ die/ ob sie gleich auff der Erde leben/ und der Creaturen zur Nothdurfft gebrauchen/ so hängen sie doch ihr Hertz nicht daran/ und trachten nicht nach irdischen/ sondern nur meistentheils nach dem, das droben ist oder nach dem himmlischen. 24. Waage mit zwei Waagschalen Motto: Wann diese steigt, muß jene fallen. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 26 zu Buch II, Kap. 25: Von etlichen Zeichen/ darbey man merken kann/ ob die wahre Liebe Christi bey uns sey (1. Joh. 2,15). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist eine Waage/ da die eine Waag-Schale steiget/ die andere fällt/ damit wird abgebildet/ daß/ wenn die Liebe der Welt in uns steigt und wächst/ die Liebe GOttes bey uns falle und auffhöre. Wer nun GOtt recht lieben will/ muß die Welt-Liebe fallen und fahren lassen/ weil GOtt neben sich die Welt durchaus nicht will geliebet haben. 25. Gefülltes Glas, in dem ein Stab steht. (Abb. 6) Motto: Dennoch gerade. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 24 zu Buch II, Kap. 17: Wie wir durch Christum und aller Heiligen Exempel böse Mäuler und falsche Zungen überwinden sollen. Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein weites Bier-Glaß über die Helffte mit Wasser gefüllet/ in welches ein länglich gleiches Holtz gethan/ welches aber im Wasser krumm und ungleich zu seyn scheinet/ ob es gleich grade ist und bleibet. Hiermit wird angedeutet/ daß / ob gleich ein Christ/ der auffrichtig wandelt/ von der Welt getadelt/ übel geurtheilet und gelästert wird/ er dennoch derjenige bleibet/ der er ist/ ein frommer rechtschaffener Christ/ der GOTT und seinen Nächsten nach der Anweisung göttlichen Wortes auffrichtig und beständig liebet/ die Welt mag dazu sagen/ was sie will. 26. Hoch stehende Sonne über Landschaft Motto: Allen einerley. Quelle: Johann Arndt Wahres Christentum, Emblem Nr. 14 zu Arndt Buch I, Kap. 27: Warum die Feinde zu lieben. 71 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist die Sonne/ die auff dem gantzen Erdboden allen Creaturen/ Menschen und Vieh/ denen Frommen und Gottlosen auff einerley Weise scheinet: Also ist auch ein erleuchteter Christ allen einerley/ der Freund und Feind liebet/ in Glück und Unglück seinem Gott treu bleibet/ und sich in dem Lauff des Christenthums nicht auffhalten lässet. 27. Falsches Kleinod Motto: Der blosse Schein. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 16 zu Buch I, Kap. 32: Grosse Gaben beweisen keinen Christen und GOtt wohlgefälligen Menschen; sondern der Glaube, so durch die Liebe tätig ist. Erklärung aller Sinnbilder: Hier liegt ein falsches Kleinod in Gold oder Silber eingefaßt auff einem Tische/ welches zwar einen feinen Schein von sich gibt/ als wäre es herrlich und gut/ und ist doch an und vor sich selbst falsch und betrüglich; Also haben viel/ die Christen heissen/ nur den blossen Schein des Christenthums an sich und nichts mehr. Denn die Krafft dessen verleugnen sie/ weil sie keinen wahren Glauben und hertzliche Liebe haben. Die nächste Abbildung zeigt eine diagonal nach oben links verlaufende Wand. Drei weitere und nur sehr kurze Wandgebilde springen quer zur Diagonale hervor. Sie tragen alle drei als Inschrift, das Wörtlein ‚Ich‘. Die in das Bild geschobenen Wandteile dienen dazu, ein Echo zurück zu werfen. Schreit man in ihre Richtung gewendet laut: „Wer liebet mich?“, so rufen die künstlichen Echo-Wände das Wörtlein „Ich!“ zurück. 28. Echo Motto: Zur Antwort fertig. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 28 zu Buch II, Kap. 39: Ein Gespräch der glaubigen Seelen mit GOtt (Psalm 85, 6.7.8). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein dreyfaches Echo und Wiederschall abgebildet/ daß/ wenn man gegen einen Berg oder Gepüsche laut ruffet/ wer liebet mich/ so wird sonderlich die letzte Sylbe sich vernehmen lassen: Ich/ ich/ ich. Damit wird angedeutet / wie GOtt auff das Gebets-Schrey eines Gläubigen pflege alsbald zur tröstlichen Antwort fertig zu seyn. Bleibt noch, die Bilder der oberen Nordempore ebenfalls im Einzelnen anzuschauen. In Fortsetzung unseres Rundgangs beginnen wir bei der Betrachtung der Bilder wieder am westlichen Ende der Nordempore. 29. Bienenstöcke und Rauch Motto: So lange dieser wehret [währet]. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 45 zu Buch III, Kap. 18: Die Welt mit ihrer Kurtzweil treibet aus den Heiligen Geist/ und führet ein 72 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

den Welt-Geist/ welcher die Seele ihrer edlen und höchsten Ruhe beraubet (1. Petrus 2, 11). Erklärung aller Sinnbilder: Hier sind etliche Bienen-Stöcke/ und nicht weit davon ein Feuer mit starckem Rauch/ womit die Bienen verjaget werden. Denn so lange dieser Rauch währet/ fliegen die Bienen von ferne herum und kommen nicht wieder zu den Bienen-Stöcken. Wie nun durch den Rauch die Bienen verjaget werden: Also wird auch der Heilige Geist durch unnütze Reden/ faul Geschwätz und Narren-Possen betrübet und aus dem Hertzen vertrieben. Und so lange ein Mensch von solchen sündlichen Dingen nicht lassen will und besser reden lernet/ so lange kann der H. Geist nicht in sein Hertz kommen. 30. Feuerspeiender Berg Motto: Am meisten innerlich. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 46 zu Buch III, Kap. 19: Vom inwendigen Gebet des Hertzens/ und vom rechten Verstand des Vater Unsers (Römerbrief Kap. 8, 15). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Feuer-speyender Berg/ der inwendig voll Feuer ist/ und oben ein wenig von vom Feuer und Asche heraus wirfft/ aber doch das meiste Feuer innerlich bey sich behält: Also hat eine gläubige Seele das meiste Feuer der Andacht/ von dem Heil. Geist erwecket/ in seinem Hertzen/ welches kräfftige Seuffzer und inwendiges Gebet wircket. Denn ob man gleich von aussen auch die feurige Andacht an einer gläubigen Seelen aus gewissen Zeichen erkennen kan, dennoch ist sie am meisten und kräfftigsten innerlich im Hertzen. 31. Aufgeklappte Taschenuhr Motto: Das ädelst [edelste] ist verborgen. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 40 zu Buch III, Kap. 1: Von dem grossen und inwendigen Schatz eines erleuchteten Menschen (1. Korinther 6,19). Erklärung aller Sinnbilder: Hier liegt eine offene Uhr/ die man bey sich tragen kan/ darinnen aber das edelste und beste/ nemlich was die Uhr beweget/ verborgen ist: Also hat man bey einem Christen nicht zu sehen auff das äusserliche/ sondern vielmehr auff das innerliche/ auff den H. Geist/ der in ihm/ als in einem Tempel/ kräfftig ist/ und ihn zu allem Guten antreibet. 32. Wickelkind (Abb. 7) Motto: In Seilen der Liebe. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 4 zu Buch I, Kap. 4: Was wahre Busse sey/ und das rechte Creutz und Joch Christi (Gal. 5,24)? Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Wochen-Bette/ dabey zu sehen eine Wiege/ in welcher ein neugebohrnes Kind lieget/ welches aus Liebe zu seinem Besten in Windeln eingewickelt und mit einem Band oder Seil umwunden ist. Also wird der neugebohrne Mensch zu seinem Heil von GOtt in die Windeln des Gehorsams und Bande 73 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

der Liebe eingewickelt und eingebunden/ welches/ ob es wohl dem Fleisch ein bitter Creutz/ doch dem neuen Menschen ein sanfftes Joch ist. 33. Zwiebeln, nach denen eine Hand greift (Abb. 8) Motto: Nicht ohne Tränen. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 23 zu Buch II, Kap. 10: Von vier Eigenschaften der wahren Busse (Psalm 102,10 ff.). Erklärung aller Sinnbilder: Hier sind Zwiebeln/ deren eine von einer Hand angegriffen wird. Womit wird abgebildet/ daß/ wenn man Zwiebeln angreifet/ schälet und schneidet/ solches nicht ohne Thränen geschehen kann/ indem dem Menschen/ der sie schälet oder sie schneidet/ dabey allzeit die Augen mit Thränen überlauffen. Also ist es auch bewandt mit einem bußfertigen Menschen/ welchem GOtt seine Sünde unter Augen stellet/ daß er dabey GOttes schweren Zorn/ welchen er mit seinen Sünden verdienet/ erkennet und schmertzlich empfindet/ und dadurch bewogen wird, Buß-Thränen zu vergiessen und bitterlich zu weinen/ gleich wie solches an dem bußfertigen Petro/ Maria Magdalena/ und andern Sündern zu sehen. 34. Brennender und stark qualmender Holzstoß Motto: Je härter Krieg, je ädler Sieg. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 9 zu Buch I, Kap. 16: In einem wahren Christen muß allezeit seyn der Streit des Geistes und Fleisches. Erklärung aller Sinnbilder: Hier liegt ein grün safftig Holtz im Feuer/ da von der Hitze das Wasser heraus läufft/ welches daher zwar sehr rauchet/ aber doch nur ein wenig glimmet/ weil das Feuer und Wasser hier miteinander gleichsam einen harten Krieg halten/ biß endlich das Feuer die Ober-Hand behält. Also ist auch in einer bußfertigen Seele ein sehr harter Streit zwischen dem Fleisch und Geist/ biß endlich der Geist durch die Krafft Christi das Fleisch bezwinget/ überwindet und den edlen Sieg davon trägt. 35. Brennglas, das die Sonnenstrahlen so bündelt, sodass sie ein Feuer entzünden. Motto: Durch die Kraft von oben. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 5 zu Buch I, Kap. 5: Was der wahre Glaube sey (1. Johannesbrief 5, 1). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist zu sehen ein Brenn-Glaß/ durch welches die Sonne scheinet/ und das gegen über liegende Holtz anzündet und anbrennet.Diesem Brenn-Glaß ist gleich der wahre Glaube/ welcher mit der Sonnen der Gerechtigkeit vereiniget/ durch die Krafft von oben das Hertz des Mensschen erleuchtet und in ihm das Feuer der hertzlichen Liebe anzündet. 36. Camera Obscura (Abb. 9) Motto: Verfinstert und verkehrt. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 3 zu Buch I, Kap. 2: Was der Fall Adams seye? (Römerbrief 5, 19). Was es mit einer Camera obscura auf sich hat, erfahren wir aus der Erklärung aller Sinnbilder: Hier wird abgebildet die sogenannte Camera obscura, welche ist / wenn die Stube bis 74 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

auff ein Schößgen gantz verfinstert/ und ein gewisses Glaß vor das Schößgen gehalten wird/ da geschicht es/ daß die Leute/ die auff der Gassen vorüber gehen/ in der Stube gesehen werden/ aber doch also/ daß sie gantz verkehrt auff den Köpfen gehen. Hiermit wird angedeutet/ daß der Mensch durch den kläglichen Sünden-Fall in seinem Hertzen und Verstand leider! gantz verfinstert/ ja ein verkehrtes Bild worden/ nemlich aus dem Bild GOttes ein Bild des Satans. 37. Zirkelkreise Motto: Auß einem Ursprung. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 54 zu Buch IV, 2. Teil, Kap. 34: Daß allein GOttes Liebe/ wenn sie die erste ist im Menschen/ eine Ursach ist der Einigkeit unter den Menschen: Und allein die eigene Liebe ist eine Ursach des Zanks und Uneinigkeit. Erklärung aller Sinnbilder: Auf den üblichen braun angestrichenen Brettern finden wir lediglich drei orangefarbene Kreise unterschiedlicher Größe ineinander gemalt ‚Hier sind viel runde Circkel zu sehen/ da immer einer grösser ist als der andere/ und doch alle aus einem Ursprung/ nemlich aus einem Centro und MittelPunct herkommen: Damit wird abgebildet/ daß die Menschen alle miteinander/ groß und klein/ hoch und niedrig/ auch nur aus einem Ursprung kommen/ nemlich von GOtt/ und daher sollten auch alle miteinander diesen ihren GOtt und Schöpffer auff gleiche Weise/ und sich auch unter einander lieben. Denn geschähe dieses/ so würde auch eine rechte Einigkeit unter ihnen seyn.‘ Abschließend sehen wir an der Stirnwand der oberen Empore im Norden. 38. Vogel im Käfig (Abb. 10) Motto: Ich habe das Beste davon. Quelle: Johann Arndt: Wahres Christentum, Emblem Nr. 52 zu Buch IV, 2. Teil, Kap. 18: Daß alle Pflicht und Dienst/ so der Mensch GOTT schuldig/ dem Menschen allein zu Nuz und Frommen gereichen (Psalm 19, 12). Erklärung aller Sinnbilder: Hier ist ein Vogel in einem Käfficht/ welcher/ ob er gleich gefangen zu seyn scheinet und nicht mehr in der Lufft frey herum fliegen kann/ dennoch es besser hat als die andern freyen Vögel/ indem er frey ist von aller Gefahr und Nachstellung/ von aller Angst und Hunger/ sondern sein Herr/ dessen er ist /pfleget sein und gibt ihm seine ordentliche Speiß und Tranck: Damit wird angedeutet/ daß ein Christ/ der sich GOtt gantz und gar zum Dienst ergiebet/ ob er gleich ein Knecht scheinet zu seyn/ weil er nicht mehr frey sündigen darff/ dennoch hat er das beste davon/ daß ihn nemlich sein HErr im Himmel beschützet/ ernehret/ versorget und selig machet. 3. Die Botschaft der emblematischen Bilder in Steigra Die Reihenfolge der Bilder in Steigra lässt keinen systematischen Aufbau erkennen. Dem entspricht die Beobachtung, dass Embleme häufig wie Bausteine verwendet werden. Sie lassen sich beliebig verändern, umformen und in neue Zusammenhänge integrieren. 75 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Auch wenn in Steigra keine logische Reihenfolge zu erkennen ist, lohnt es sich, auf thematische Schwerpunkte zu achten. Embleme umkreisen oft dasselbe Thema in immer neuen Variationen. Um solchen thematischen Schwerpunkten in Steigra auf die Spur zu kommen, macht ein erneuter Durchgang durch die Bilderreihen Sinn. Dabei werden, entsprechend dem Rigaer Druck des Arndtschen Erbauungsbuches, die dort den Bildern beigefügten Subscriptiones hinzugezogen. Zusätzlich greife ich hin und wieder auf den Text der von Johann Arndt selbst geschriebenen Buchkapitel zurück. Ich bleibe bei der Nummerierung der Bilder wie gehabt und beginne wieder mit Abbildung des glühenden Ofens an der Stirnwand der unteren Südempore. Ein glühender Ofen zum Ziegelbrennen beschreibt, wie Gott die Seinen mitunter einer ‚Feuer-Probe‘ in einem heißen ‚Creutz-Ofen‘ unterzieht (Bild 1). Erfahrungen von Anfechtung bleiben gerade denen, die mit Ernst wahre Christen sein wollen, nicht erspart. Anfechtungen werden nach Arndts Verständnis zum Ausweis christlichen Lebens auf Erden: Ein Christ soll erkennen, dass es nicht blinde Schicksalsschläge sind, sondern Gott selbst, der ihm Leiden auferlegt.13 Ein Christ soll sich dadurch seiner Sündhaftigkeit bewusst werden. Gott zürnt ihm zu Recht. In der dem Emblem zuzuordnenden gereimten Subscriptio lesen wir: Obgleich die Probe Fleisch und Blut Empfindlich wehe tut; Muß sie den Geist doch inniglich erfreuen/ Der GOttes Gunst auch in dem Creutz erkennt/ Und den von Hertzen Vater nennt/ Der alles ihm zum Besten läst gedeihen.14

Unter der Überschrift Trost wider die hohen geistlichen Anfechtungen widmet sich Arndt (Buch IV, Teil 2, Kap. 53) ausdrücklich den Ängsten, wie sie besonders die Frommen befallen können, bis hin zur Gottes-Verlassenheit. Arndt sieht in der Niedrigkeit des Weges Jesu die Spur für die Nachfolge zur himmlischen Herrlichkeit gelegt. Auch die dunkle, nur durch das spärliche Licht eines schmalen Halbmonds ein wenig erhellte Nacht deutet an, wie gefährlich der Weg des wahren Christen ist und wie groß die Gefahr ist, sich zu verirren (Bild 19): Obgleich ein GOttes-Mensch auff eine Zeit Im finstern Todes-Schatten sitzet Und kalten Angst-Schweiß schwitzet Vor vielem Hertzens-Weh und grosser Bangigkeit/

13

S. Johann Arndt: Vier Bücher vom wahren Christentum. Riga 1679, IV. Buch, Teil 2, Kap.

13. 14

Aus dem gereimten Text auf der Rückseite des Emblems Nr. 50.

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Dazu Arndt selbst: Und dadurch werden sie den Heiligen gleich in einer edlen Weise/ denn so werden sie Christo ähnlicher/ dessen Leben voll war des Leidens. Diese geistlichen Märterer sind die Aermsten unter allen/ so da leben/ nach ihren Gedancken/ aber vor GOtt sind sie die Reichsten; sie sind die Allerfernsten von GOtt nach ihren Gedanken/ und sind doch GOtt am allernähesten. Sie sind nach ihren Gedanken die Allerverworfensten von GOTT, und sind doch die Allerauserkohrnesten.15

Ein weiteres Thema ist die Demut. Das Fallen des Wassers in einem Springbrunnen ist die Bedingung für sein erneutes Steigen nach oben (Bild 2). DEr Christen Ehr und Ruhm ist nicht auff Erden/ Sie müssen / weil ihr Thun der Nasen-weisen Welt Durchaus nicht ansteht noch gefällt/ Allhier gemeistert und verlachet werden. Hier ist der Stand der Niedrigkeit; Jedoch wird ihr Gemüth durch solchen Fall erhöht/ Daß es auff Erden allbereit Im Himmel wohnt und auf den Sternen gehet.16

Weitere Beispiele für das Motiv der Demut liefert etwa das Weizenfeld, in dem die fruchtbarsten Ähren jene sind, die sich am tiefsten nach unten neigen (Bild 8). Wahre Christen beeindrucken nicht durch den äußeren Schein, so wie die bunten Blumen in einer Vase, die doch keine Wurzeln mehr haben (Bild 5). Sie tun besser daran, die Gesellschaft derer zu meiden, die bloß der eigenen Zerstreuung leben (Bild 3). Und sie hüten sich, einer Welt zu nahe zu kommen, die, wie das Licht einer Kerze den Faltern, die ihr zu nahe kommen, doch nur Verderben bringt (Bild 7). Ihre Augen des Glaubens richten sie vielmehr zum Himmel empor (Bild 4). Sie sehen etwas, was andere nicht sehen können, und wie der fliegende Adler streben sie nach ‚oben‘, dem Lichtglanz und der Herrlichkeit Gottes entgegen (Bild 6): Des Lichtes Kinder sind nur die/ Die Wolken-an nicht sonder Schweiß und Müh Ohn Unterlaß die muntern Flügel schwingen.17

Und wahre Christen gleichen den Bienen, die das, was sie einsammeln, in den Bienenkorb tragen und nicht für sich selbst verbrauchen (Bild 9). Folgen wir der Nummerierung der Bilder der einmal eingeschlagenen Richtung weiter, so stoßen wir an der unteren Nordempore auf Bilder zum Thema Sünde. Sünde wird mit dem Rost verglichen, der Eisen von einem Magneten loszulösen vermag (Bild 10). 15 16 17

Arndt [s. Anm. 13], II. Buch, Kap. 53, Abschnitt 8 (am Schluss). Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 41, III. Buch, Kap. 5. Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 17, I. Buch, Kap. 37.

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MEnsch/ willst du GOttes fähig werden/ So muß die Seele rein/ Vom Schlamm der Erden Und von dem Sünden-Rost gesaubert seyn.

Wie sich herausstellt, wird die Sünde hier nicht als moralischer Fehltritt verstanden, sondern in erster Linie als Abwendung von der Gottesliebe und als Hinwendung zu der kreatürlichen Welt. Einerseits wirkt die ins Menschenherz gegossene Gottesliebe wie ein Magnet, der ihn von dieser Erde fort zum Himmel zieht, andererseits liegt es aber auch in der Verantwortung des Menschen selbst, sein Herz zu leeren und dessen ‚Spundloch‘ nicht zu verstopfen. Willst Du das höchste Gut beständig fassen/ und unabsonderlich dran hangen/ musst du dich Von seiner Liebe Krafft berühren lassen. Soll er dich zu sich ziehn/ Must du die Welt mit ihrer Liebe fliehn. Soll dieser reinste Geist dein Hertz besitzen/ Als seinen Tempel und sein Hauß/ So muß die Creatur hinaus. Er ist bereit sich zu ergiessen In ein Gemüth/ das von dem Eitlen leer.18

Ein weiterer Themenkomplex handelt von der Buße. Der Weinstock, dessen Triebe beschnitten wurden, wird umso mehr Früchte tragen (Bild 11). Die nimmermüden Ameisen (Bild 12) mahnen Wachsamkeit an, um die rechte Buße zu rechter Zeit nicht zu versäumen. Wahrer Glaube und wahre Buße gehören unabdingbar zusammen. O wacht/ wacht auff vom Schlaff der Sicherheit/ ihr trägen Erden-Kinder! Nehmt wahr der angenehmen Zeit/ ihr schlummernden und Sorge-losen Sünder/ Wie lange schliesset ihr die Augen zu vor diesem Licht/ das ietzt so helle scheinet? Gedenckt/ die Arbeit ist allein der Weg zur Ruh/ das Lachen nur vor die/ die bitterlich geweinet.19

Die Seidenraupen, die erst sterben müssen, bevor sie wieder zu neuem Leben beflügelt auferstehen (Bild 13), lehren, die Buße als den Tod des ‚alten‘, dieser Erde verfallenen Menschen zu verstehen. 18 Arndt [s. Anm. 13]. Dieses und das folgende Zitat wurden den Reimen zu Emblem Nr. 44, III. Buch, Kap. 3 entnommen. 19 Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 22, II. Buch, Kap. 8.

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Sey emsig und begib dich ehe nicht zur Ruh/ als du den alten Menschen abgeleget/ und fühlst, daß Christi Geist dich treibet und regiert/ und mehr und mehr mit neuer Tugend ziert.20

Der Feigenbaum lehrt, wie schmerzhaft und bitter die Buße schmeckt. Er besitzt zwar bittere Wurzeln, bringt aber süße Früchte hervor (Bild 14). Und blühende Zweige, auf einen Baum gepfropft (Bild 15), streichen den Nutzen der Buße kräftig heraus. WEr Christo durch den Glauben einverleibt An ihn sich hält und fest bekleibet/ Erwächset mit der Zeit Zur Vollenkommenheit.21

Das Schälen von Zwiebeln treibt das Wasser in die Augen. Ein zur Umkehr, zur Buße bereiter Mensch erkennt, wie sehr ihn sein bisheriger Ungehorsam mit Gottes brennendem Zorn konfrontiert (Bild 33). Wer diese Bitterkeit/ wer diese Höllen-Angst noch nie geschmecket/ der ist von wahrer Reu noch allzu weit und kennt den Greuel nicht/ der in ihm stecket. [. . .] O mercket diß und prüfet euch/ die ihr im Wort der Gnaden wühlet/ ob ihr den Stachel des Gesetzes gleich noch nie biß auff das Blut gefühlet/ bemühet euch zu erst dahin/ daß eure Seele/ zermalmet und zerknirschet sey/ alsdenn (und eher nicht) ist dieses Freuden-Oele/ ihr eine theure Cur und Lebens-Artzeney.22

Wie eine Rakete hebt der Glaube von der Erde und allem Weltlichen ab (Bild 18). Schließlich geht es um die Erkennbarkeit der Ebenbildlichkeit Gottes. Ein Spiegel kann nur, wenn er blank geputzt ist, den strahlenden Glanz der Sonne widerspiegeln. Nur ein Christ, der dem blanken und klaren Spiegel gleicht, kann in seinem Wesen und seiner Lebensweise die Ebenbildlichkeit Gottes in voller Schönheit zum Ausdruck bringen (Bild 16). Der Demut, in der sich wahre Christen üben, entspricht die Verborgenheit des ‚neuen Menschen‘. Weltmenschen wissen nichts von dem inneren Reichtum der wahren Christen. Ihr Lebenswandel erscheint unpassend oder ‚krumm‘ (Bild 24). Durch dieses Urteil lassen sich wahre Christen aber nicht irritieren. 20 21 22

Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 21, II. Buch, Kap. 7. Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 20, II. Buch, Kap. 6. Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 23, II. Buch, Kap. 10.

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Sie wissen, das Edelste ist verborgen wie das Uhrwerk einer Taschenuhr im Uhrgehäuse. Man sieht es nicht, und doch bewegt es den Zeiger (Bild 31). Christen begegnen, so wie es die Sonne mit ihren Strahlen tut, Freunden und Feinden gleichermaßen in Liebe (Bild 26). Sie vermeiden jeden falschen Schein (Bild 27). Wahre Christen bewahren nach innen gekehrt das Feuer der Andacht in ihren Herzen. Darin gleichen sie einem Vulkan, der seine größte und stärkste Glut in seinem Innern verbirgt (Bild 30). Das Eigentliche ist vor den Augen der ‚Welt-Kinder‘ verborgen. Die Bilder in Steigra vermitteln den Eindruck: ‚Wahres Christentum‘ ist in erster Linie erschreckend schwer und anstrengend. Vom Kampf des Glaubens, den wahre Christen zu bewältigen haben, redet besonders eindrücklich ein brennender und sehr stark qualmender Holzstoß (Bild 34). In der Erklärung aller Sinnbilder hieß es bereits: Also ist auch in einer bußfertigen Seele ein sehr harter Streit zwischen dem Fleisch und Geist/ biß endlich der Geist durch die Krafft Christi das Fleisch bezwinget/ überwindet und den edlen Sieg davon trägt. Um letzten Endes siegreich aus diesem Kampf hervorzugehen, bedarf es der ‚Kraft von oben‘. Der Christ gewinnt sie, indem er sich für den Geist Gottes öffnet, so wie ein in die Sonnenstrahlen gehaltenes Brennglas die Energie dieses Lichtes aufzufangen, zu bündeln und nutzbar zu machen vermag (Bild 35). Ohne Einwirkung solch einer ‚Kraft von oben‘ wäre und bliebe der Mensch nichts anderes als nur verkehrt, wie einer, der auf dem Kopf steht (Bild 36). Gibt es für Leser und Bildbetrachter keinen tröstenden Zuspruch und keine Mut machende Ermunterung auf dem Weg zum Himmel? Am überzeugendsten wird der Trost am Beispiel der Echowand (Bild 28) beschrieben. Die an die Echowand dreifach geworfene Frage Wer liebt mich? schallt Gottes Antwort zurück: Ich! Ich! Ich! Die nach Liebe rufende Seele gilt vor den Augen Gottes wie eine Kammerjungfer, die jederzeit im Gebet zu Gott freien Zutritt hat. Aber GOtt hat die glaubige Seele also lieb/ die ist gleich als GOttes KammerDienerin/ die darf zu Gott hinein gehen ohne Anklopfen.23 Genügt der Hinweis auf das noch ausstehende Ziel ewiger Herrlichkeit, um zu trösten und zu ermutigen? Oder vertröstet er nur? Die Bilder in Steigra verfolgen eine andere Absicht: Bereits die blassen Strahlen eines noch schmalen Neumonds versprechen das heller werdende Licht des Tages (Bild 19). Wahrer Glaube kann wachsen, so wie die Morgensonne wächst und immer mehr Wärme und Licht verbreitet (Bild 20). Der Kompass hilft, den richtigen Weg zu finden (Bild 21).Und ein Tubus holt jetzt schon, was sich noch in der Ferne befindet, nahe herbei und macht es dem suchenden Auge sichtbar. Ein in Steigra gelegentlich gegebener Hinweis auf Vollkommenheit als erreichbares Ziel klingt in unseren Ohren theologisch bedenklich. Die Abbildung eines Paradiesvogels, als einzige Abbildung aus einer anderen Quelle als dem Wahren Christentum Johann Arndts entnommen, beschreibt einen seltenen 23

Arndt [s. Anm. 13]. Wahres Christentum, II. Buch, Kap. 39, erster Abschnitt.

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Vogel, der nach der alten Naturkunde keine Füße besitzt. Nach Überzeugung vieler Gelehrter damals habe er solche auch gar nicht nötig, weil er sowieso niemals die Erde betritt (Bild 25). So erscheint er als Idealbild des Menschen, der sich, von allem Irdischen befreit, nur noch in himmlischen Sphären bewegt.24 Kaum weniger anspruchsvoll erscheint das Bildmotiv einer Kugel, die nur punktuell die Erdoberfläche berührt (Bild 22). Das Bild der Waage stellt vor die Wahl, sich entweder Gott oder der Erde hinzugeben. Wenn sich die eine Waagschale senkt, wird die andere nach oben steigen (Bild 23). Gut, dass der Heilige Geist den schwachen und unvollkommenen Menschen zur Hilfe kommt. Vom Heiligen Geist, der das im geistlichen Sinne neugeborene Gottes-Kind gleich einem neugeborenen Baby fest in die ‚Windeln des Gehorsams und in die Bande der Liebe‘ wickelt, zeugt die Abbildung eines Neugeborenen in einer Wiege (Bild 32). So bald ein Gottes-Kind Durchs Wort und durch den Geist gebohren werde Und Bürger-Recht in Israel gewinnt/ So tritt er in des heiligen Geistes Orden. Es wird von seines lieben Vaters Hand In Windeln des Gehorsams eingewunden.

Die Frage, ob diesem neugeborenen ‚inneren‘ Menschen damit nicht seine Bewegungsfreiheit genommen werde, wird folgendermaßen beantwortet: Obgleich dem Fleisch es schwer und bitter deucht/ Dieweil es seine Freyheit kräncket; So ist es doch dem neuen Menschen leicht Und süß/ dem Gott hierdurch die wahre Freyheit schencket/ Die darinn steht/ daß er der Sünden nicht unterthan/ sich selbst beherrscht/ und seiner Lüste Und Begierden Meister ist.25

Der Heilige Geist wird hier auf das Ordnungsprinzip reduziert. Dazu passt auch die Abbildung eines Vogels im Käfig (Bild 38). Ich lebte früh und spat/ Obgleich ich niemand unterworffen war/ In tausend Aengsten/ tausend Sorgen/ Jetzt aber bin ich sicher und geborgen/ Der Keficht macht mich frey von Unfall und Gefahr.26

Überdenken wir den Zusammenhang der Bildersprache von Steigra im Ganzen, so fällt das Übergewicht eines Rufes zu Buße und Umkehr auf. Das 24 25 26

Vgl. die Ausführungen bei Camerarius [s. Anm. 11] zu Bild 25 in Steigra. Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 4, I. Buch, Kap. 4. Israel = Gottesvolk. Arndt [s. Anm. 13]. Aus den Reimen zu Emblem Nr. 52, IV. Buch, 2. Teil, Kap. 18.

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dahinter stehende Weltbild droht in zwei gegensätzliche Pole, Gott und sündige Welt, zu zerfallen. Dem widersprechen zwei zusammenhanglos eingefügte Gemälde. Das eine mutet uns fast wie ein abstraktes Gemälde an. Wir sehen nichts weiter als drei rotorange gemalte konzentrische Kreise (Bild 37). Der gemeinsame Mittelpunkt soll an die Liebe Gottes erinnern, die allen Menschen gilt. Würde die Liebe Gottes wirklich von allen als Zentrum des eigenen Lebens wahr- und angenommen, so würde für alle gelten: Da lebt man selig und vergnügt. Das andere Bild zeigt eine an eine Mauer gemalte Sonnenuhr (Bild 17). Aus der Pünktlichkeit und Genauigkeit, in der das Licht der Sonne den Schatten über die aufgemalte Sonnenuhr wandern lässt, wird Gottes Weisheit erkennbar: Aus diesen und anderen Werken der Natur kann man den wunderbaren und allerweisesten Schöpfer erkennen/ und dadurch auffgemuntert werden, ihn hoch zu halten und desto herrlicher zu lieben. 27 Die Vorlagen für beide zuletzt erwähnten Bildmotive sind dem vierten Buch von Johann Arndts Vier Bücher von wahrem Christentum entnommen. Dieses vierte Buch betreibt, anders als die drei ersten Bücher, keine Binnenschau der menschlichen Innerlichkeit. Es widmet sich vielmehr der Größe, Schönheit und weisen Ordnung der göttlichen Schöpfung. Das Ernstnehmen der äußeren, den Menschen umgebenden Welt relativiert das Übergewicht des Bußgedankens und weist auf Themen voraus, wie sie später die Aufklärung aufgreifen und thematisieren wird. 4. Embleme als Medium zur Verbreitung einer erneuerten Frömmigkeit Ich rufe uns in Erinnerung: Ab dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts findet die Emblematik in der kirchlichen Kunst der evangelischen Konfession weite Verbreitung. Dass sie damit einem Modetrend des künstlerischen Gestaltens folgt, ist sicherlich richtig, sagt aber noch nicht alles. Es gibt auch innere Gründe, die einen Zugriff auf die Kunstgattung der Embleme als sinnvoll erscheinen lassen. Eine neue Frömmigkeitsrichtung, eine Herzensfrömmigkeit, bricht sich Bahn. Während die Bilder der traditionellen Bilderpredigt den Menschen weg von sich zum Glauben an Christus weisen, so lenkt die Predigt der emblematischen Bilder aus Johann Arndts Büchern vom wahren Christentum den Menschen darauf, wie er sich Gott gegenüber verhält. Der Betrachter wird dazu aufgefordert, den kritischen Blick nach innen zu lenken und darauf acht zu geben, was ihn in seinem Innern treibt, was seine eigentliche Bestimmung ist und sein

27 Arndt [s. Anm. 13]. Aus der Erklärung aller Sinnbilder zu Emblem Nr. 53 zu 4, 2. Teil. Vgl. Bild 17.

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Herz in Wahrheit erfüllen sollte. Nicht mehr das Woran, sondern das Wie des Glaubens wird mit den emblematischen Bildern thematisiert. Zwar spielt nach wie vor in der kirchlichen Kunst die Erinnerung an die großen Taten Gottes eine wichtige Rolle. Im Mittelpunkt kirchlicher Kunst aber steht jetzt nicht mehr die Vermittlung dogmatischen Lehrguts. Mit der Emblematik entwickeln sich Ansätze einer existenzialen Interpretation mit der Zuspitzung auf das Hier und Heute. Einen zusätzlichen beispielhaften, sogar älteren Beleg für diese in Steigra gemachten Beobachtungen finden wir im Bildprogramm der Frankfurter St. Katharinenkirche. Diese wurde zwar im letzten Weltkrieg zerstört. Ihre zahlreichen Emporegemälde blieben jedoch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, erhalten und machen es möglich, sich das ursprüngliche Bildprogramm auch heute noch vorzustellen.28 Es übernimmt die Illustrationen aus dem 1679 erschienenen Rigaer Neudruck von Johann Arndts Vier Büchern von wahrem Christentum. Dieses Frankfurter emblematische Programm lässt die Veränderung gegenüber der traditionellen Bilderpredigt gut nachvollziehen. Sein Wert wird zusätzlich dadurch gesteigert, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit von Philipp Jakob Spener (1635–1705), dem Vater des Pietismus, autorisiert ist.29 In der Zeit, in der die St. Katharinenkirche erbaut wurde, wirkte er als Senior des Frankfurter Pfarrkonventes. Er war befreundet mit dem Herausgeber des Rigaer Neudrucks und muss diesen schon bald nach seinem Erscheinen in Händen gehalten haben. Die bildliche Ausstattung der Katharinenkirche ist auf drei Ebenen angeordnet: Deckenbemalung, obere Empore und untere Empore. Über die Bemalung der hölzernen Kirchendecke sind wir leider nur bruchstückhaft informiert. Sie wurde, weil schadhaft geworden, bereits 1778 wieder entfernt. Immerhin lässt sich so viel erkennen, dass es sich um Gemälde ‚biblischer Historien‘ gehandelt haben muss. Im Gewölbe der Kirchendecke ist Jesu Leben als Weg zum Himmel gedeutet.30 Sein Weg bricht Bahn in die ewige Herrlichkeit. Die untere Kirchenempore erinnert an das Wort Gottes als Heilige Schrift in ihrer Ganzheit.31 Jedem einzelnen Buch der Bibel wird ein eigenes Gemälde zugeordnet.32 28 Die Kirche wurde im letzten Weltkrieg zerstört, die Bilder der beiden Emporen konnten jedoch gerettet werden und befinden sich in der Obhut des Ev. Regionalverbandes Frankfurt am Main. 29 Reinhard Lieske: Arndt und Spener: das ‚emblematische‘ Bildprogramm der Frankfurter St. Katharinenkirche. In: Frömmigkeit oder Theologie [s. Anm. 5], 386–401. 30 Joachim Proescholdt: Emporemalereien aus St. Katharinen. Ein Frankfurter Kleinod. Frankfurt/ Main 2007, hier 321–332 (mit Abbildungen). 31 Zu Speners Frankfurter Zeit kommt die (gemeinschaftliche) kontinuierliche Bibellektüre unter den Frommen in Übung und überwindet damit eine Engführung ihres Gebrauchs, in der man sie vor allem zu Autorisierung von Katechismuswissen und Lehrsätzen der Dogmatik nutzte. S. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, hier 62–69. Zum Bildmaterial an den Emporen insgesamt s. Proescholdt [s. Anm. 30]. Aussagen der Bildfolgen, hier 323–354. 32 Auf den Gemälden, die den prophetischen Büchern gelten, sieht man beispielsweise die

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Damit öffnet die Bibel auf der unteren, der irdischen Ebene gleichsam Türen und Fenster, um dem Menschen jetzt schon einen Durchblick auf die Herrlichkeit Gottes zu gewähren und ihm das Ziel seines Erdenlebens vor Augen zu malen. Besondere Beachtung verdient die Bilderreihe der oberen Empore. Hier haben die emblematischen Bilder aus Arndts Erbauungsbuch den Platz gefunden, der ihrer eigentlichen Aufgabenstellung entspricht. Sie bilden die Schnittstelle zwischen oben und unten, Himmel und Erde. In der Frankfurter St. Katharinenkirche erfüllen sie die Aufgabe, die biblische Überlieferung für den Bildbetrachter in die Gegenwart seiner eigenen Existenz zu übertragen, um ihm damit den Weg zum Himmel zu weisen. Zur Eigenart dieser emblematischen Bilder in Frankfurt gehört es, sie innerhalb desselben Gemäldes mit der Darstellung biblischer Szenen zu kombinieren. Der biblische Anteil schildert dabei das überlieferte ‚äußere‘ Geschehen aus der Vergangenheit. Absicht des emblematischen Bildteiles ist es, das Geschehen aus der Vergangenheit in einen ‚inneren‘ Vorgang zu übertragen. So können die Betrachter die Botschaft von damals auf ihr eigenes Inneres wirken lassen, und sie mit ihrer eigenen Erfahrungswelt in Beziehung zu setzen. So lernen sie auch, konkrete eigene Schritte des Glaubens zu gehen (Abb. 11). Die Kehrseite dieser Entwicklung, die an den Emporebildern der St. Katharinenkirche abzulesen ist, hat jedoch, von Spener und den Vertretern der neu aufkommenden Frömmigkeitsrichtung ungewollt und dennoch nicht ohne innere Logik, zur Folge, dass die Bedeutung biblischer Bildmotive im Laufe der Zeit zu verblassen beginnt. Schließlich kann auf die bildhafte Wiedergabe von Jesusgeschichten und überhaupt biblischen Geschichten ganz verzichtet werden. Dargestellte Motive werden beliebig, solange sie nur dem Zwecke dienen, die Aufmerksamkeit auf den innerlichen und neuen Menschen lenken. Die folgenden Abbildungen 1–10 mit freundlicher Genehmigung von Gottfried Bürger, Twilightimage.

Gestalten ihrer Verfasser abgebildet, um eine gemalte Szene ergänzt, die in Beziehung zu dem Inhalt des jeweiligen Prophetenbuchs steht. Zum Bildmaterial an den Emporen s. Proescholdt [s. Anm. 30]. Aussagen der Bildfolgen, hier 323–354.

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Abb. 1: Weinstock

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Abb. 2: Rakete

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Abb. 3: Kompass

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Abb. 4: Paradiesvogel

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Abb. 5: Kugel

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Abb. 6: Wasserglas

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Abb. 7: Wickelkind

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Abb. 8: Zwiebeln

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Abb. 9: Camera Obscura

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Abb. 10: Vogel im Käfig

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Abb. 11: St. Katharinen

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GESINE LENORE SCHIEWER

Emotionales Sprechen im Fokus pragmatischer Sprach- und Kulturgeschichte Linguistische Varietäten in Alltag, religiöser Inspiration und Literatur in pietistischem Kontext Die Sprach- und Kulturgeschichte ist mit der Ausbildung emotionaler Ausdrucksformen und Sprechweisen in vermutlich allen Kulturen hochgradig durch religiöse Entwicklungen geprägt. Mit Blick auf den deutschsprachigen Raum ist dabei keineswegs allein an die Bibelübersetzung Luthers zu denken, sondern insbesondere auch dem sprachhistorischen Entwicklungsschub im 18. Jahrhundert größte Aufmerksamkeit zu schenken. Konkreten Einflussfaktoren und -wirkungen ist näher zu kommen, indem der Sprachgebrauch mit seinen spezifischen Textsorten und Varietäten in den eng verflochtenen Umfeldern von Alltag, Religion sowie Literatur zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird. Hierfür bietet sich das individuelle Varietätenspektrum des inspirierten Pietisten Johann Friedrich Rock in hervorragender Weise an, da zahlreiche Schriftdokumente der von ihm bedienten, ungewöhnlich vielfältigen Textsorten wie Inspirationsreden, Lyrik, Reisetagebücher und autobiographische Werke vorliegen. Zudem konnte Ulf-Michael Schneider zeigen, dass die Inspirationsreden Rocks seltenste Beispiele der authentischen Überlieferung gesprochener Sprache aus dem 18. Jahrhundert darstellen, womit sie auch unter Aspekten der historischen Gesprächsforschung von besonderem Interesse sind.1 Die sprachlich-stilistischen Spezifika der verschiedenen Textsorten Johann Friedrich Rocks werden im vorliegenden Beitrag vergleichend diskutiert. Vorausgeschickt werden Überlegungen zu einer pragmatischen Sprachund Kulturgeschichte sowie zu Fragen des methodischen Vorgehens. Im Anhang finden sich – aus Gründen des Umfangs teilweise in Auszug – die vorgestellten Textbeispiele, da es sich um schwierig zu beschaffende Materialien handelt. Wenn hier diese schriftlich fixierten mündlichen und schriftlichen Texte des maßgeblichen Propheten der Inspirierten, Johann Friedrich Rock, der Analyse zugrunde gelegt werden, dann ist daran zu erinnern, dass die religiöse Gemein1 Vgl. Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten. Göttingen 1995, 11.

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schaft der Inspirierten, trotz der Ablehnung durch die Orthodoxie, die hallischen Pietisten und sogar seitens radikaler Gesinnungsgenossen,2 bereits in zeitgenössischem Kontext als eine von drei pietistischen „Haubt-parteyen“ bezeichnet wurde. Auch in der jüngeren Forschung wird die Einschätzung vertreten, dass die Inspirierten mit ihrem auffallenden Charakteristikum der „Aussprachen“ nicht als marginale Erscheinung, sondern als integraler Bestandteil der pietistischen Bewegung zu sehen seien.3 Den Inspirierten und ihren Aussprachen kommt somit in der Pietismusforschung zu Recht Aufmerksamkeit zu, und so macht sich etwa Isabelle Noth in ihrer 2005 publizierten Dissertationsschrift die Perspektive einer zentralen Stellung der Inspirierten zu Eigen, wobei sie detaillierte Textanalysen einer Aussprache der Schweizer Inspirierten Ursula Meyer in das Zentrum ihrer Untersuchung rückt. Hierbei konzentriert sie sich auf inhaltlich-thematische Aspekte der Aussprache.4 Die unterschiedlichen Fragestellungen, die demgegenüber die Charakteristika der Sprache des Pietismus betreffen – sei es beispielsweise ihr Verhältnis zur Wissenschaftssprache oder ihre Terminologie und ihr (Gefühls-)Wortschatz, ihre semantischen Besonderheiten, ihre Formen des Emotionsausdrucks oder aber ihre gesamtsprachhistorische Stellung und Einflussnahme – werden jedoch in der Pietismusforschung, ungeachtet der frühen und bis heute wichtigen Impulse August Langens, nach wie vor als vordringliche Desiderata akzentuiert.5 Ergänzend kann an dieser Stelle auch auf jüngere Entwicklungen in der Erforschung der „impliziten Anthropologie der Rhetorik“ beziehungsweise der „Rhetorischen Anthropologie“ hingewiesen werden,6 wo sich unter anderem Anknüpfungspunkte für die Unterscheidung der Begriffe von ‚Geistrhetorik‘ und ‚Kunstrhetorik‘ finden; sie wurde von Hanspeter Marti mit Blick auf die pietistische „Rhetorik des heiligen Geistes“ schon vor geraumer Zeit sorgsam herausgearbeitet und wäre nun in der Reflexion der rhetorisch-anthropologischen Besonderheit der Gattung der Aussprache in ihrer Stellung zwischen dem Empfang der göttlichen Worte einerseits und einer Sonderform der Predigt andererseits zu vertiefen.7 2 Vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 107–197, hier 151. 3 Vgl. Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743). Göttingen 2005, 14 f. u. 19. Noth bezieht sich hierbei auf die Aussagen von Nikolaus Tscheer (1682–1748). 4 Vgl. Noth, Ekstatischer Pietismus [s. Anm. 3], 21 u. 160. 5 Vgl. Hartmut Lehmann: I. Einführung. In: Geschichte des Pietismus 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. dems. Göttingen 2004, 1–18, hier 8–10 sowie Hans-Jürgen Schrader: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung. In: Ebd., 404–427, hier bes. 410. 6 Vgl. Josef Kopperschmidt: Was weiß die Rhetorik vom Menschen? Thematisch einleitende Bemerkungen. In: Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. Hg. v. dems. München 2000, 7–37, hier 21. 7 Vgl. Hanspeter Marti: Die Rhetorik des Heiligen Geistes. Gelehrsamkeit, poesis sacra und

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Schon diese selbstverständlich kursorische Aufzählung hochrelevanter Fragen der sprachbezogenen Pietismusforschung lässt bei genauerem Hinsehen allerdings markante Lücken erkennen, wenn es nämlich um die interdisziplinäre Vernetzung der betreffenden Untersuchungsansätze geht. Dies kann bereits anhand von nur drei einschlägigen Beispielen illustriert werden: Historisch und kulturwissenschaftlich so hervorragend informierte Linguisten wie Ludwig Jäger und Sabine Plum lassen in einem programmatischen Beitrag zur historischen Semantik des deutschen Gefühlswortschatzes jeden Hinweis auf die einschlägigen Arbeiten von August Langen vermissen.8 Dies trifft genauso auf die große Studie des Literaturwissenschaftlers Rüdiger Campe zu Affekt und Ausdruck im 17. und 18. Jahrhundert zu.9 Und auch wenn schließlich in den inzwischen vielfältigen Ausrichtungen und Strömungen der Kulturwissenschaften Fragen von Sprache, Denken und (religiöser) Weltsicht zu zentralen Impulsgebern der Forschung gehören, sind Bezugnahmen auf die im Rahmen der Pietismusforschung entstandenen Ansätze und Arbeiten zumindest rar.10 Es gilt daher im Interesse der sprach- und sprachhistorisch interessierten Pietismusforschung solchen Versäumnissen angrenzender Disziplinen korrigierend zu begegnen und diese ihrerseits zu befruchten. Die vorliegende Aufsatzpublikation leistet hierzu einen Beitrag mit der Untersuchung des pietistischen Sprachgebrauchs des bedeutenden Inspirierten Johann Friedrich Rock, indem aktuelle Perspektiven der pragmatischen Sprach- und Kulturgeschichtsschreibung in Auseinandersetzung mit textanalytischen Verfahren methodisch reflektiert und angewendet werden. Ziel ist somit, sprach- und kulturhistorische Verfahrensweisen in der Pietismusforschung am konkreten Beispiel zum Einsatz zu bringen und das generelle Impulspotential dieser interdisziplinären Schnittstelle zu illustrieren.

1. Einleitende Bemerkungen zu einer pragmatischen Sprach- und Kulturgeschichte Der einprägsame Begriff des ‚kommunikativen Haushalts einer Gesellschaft‘ wurde in wissenssoziologischer Orientierung von Thomas Luckmann geprägt. sermo mystico bei Gottfried Arnold. In: Pietismus-Forschungen. Zu Philipp Jacob Spener und zum spiritualistisch-radikalpietistischen Umfeld. Hg. v. Dietrich Blaufuß. Frankfurt/Main 1986, 198–294, hier 234. 8 Vgl. Ludwig Jäger u. Sabine Plum: Historisches Wörterbuch des deutschen Gefühlswortschatzes. Theoretische und methodische Probleme. In: Zur Historischen Semantik des deutschen Gefühlswortschatzes. Aspekte, Probleme und Beispiele seiner lexikographischen Erfassung. Hg. v. Ludwig Jäger. Aachen 1988, 5–55. 9 Vgl. Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. 10 Vgl. zu den sprachbezogenen Grundlagen der Kulturwissenschaften Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 32009, hier 33–36.

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Er bezeichnet das breite Spektrum sowohl mündlicher als auch schriftlicher Textsorten einer Sprachgemeinschaft, die in funktionaler und rhetorisch-stilistischer Hinsicht mehr oder weniger strikt festgelegt sind. Solche Textsorten weisen in Lexikon, Syntax und Textaufbau – ebenso wie in den sprachpragmatischen Bedingungen ihrer spezifischen Gebrauchs- und Verwendungskontexte – charakteristische Eigenarten auf. So gehört es beispielsweise zu den herausragenden sprachpragmatischen Charakteristika von Inspirationsreden, dass sie vor einem Publikum ausgesprochen werden. Generell stellen Textsorten mehr oder weniger vorgefertigte Muster des sprachlichen Ausdrucks für solche kommunikativen Handlungen bereit, die innerhalb einer Gesellschaft im Alltag oder in spezifischen Kontexten als wichtig erachtet werden und vielfach Wiederholung finden. Es handelt sich mit anderen Worten um ritualisierte Kommunikationshandlungen, wie zum Beispiel Glückwünsche oder Beileidsbekundungen, und damit um eine zentrale Kategorie sprachlichen Handelns. Mit einer Veränderung der Bedürfnisse oder des Lebensstils einer Gemeinschaft kommt es früher oder später auch zu Veränderungen innerhalb der ‚kommunikativen Gattungen‘: Das Maß ihrer Konventionalisierung nimmt zu oder ab, es entstehen ganz neue Gattungen und andere können sich innerhalb einer spezifischen Sprachgemeinschaft vorübergehend oder dauerhaft verlieren. Der ‚kommunikative Haushalt‘ ist somit durch seine historische Wandelbarkeit gekennzeichnet.11 In diesen gesamtsprachlichen Haushalt der innerhalb einer Gemeinschaft anzutreffenden Textsorten können – und sollten – neben den alltäglichen und fachlichen Ausdrucksformen auch die literarischen Texte eingebunden werden. Dabei verdient das Verhältnis zwischen literarischen und nicht-literarischen Texten besondere Aufmerksamkeit.12 Denn die epochenspezifischen Formen literarischer Sprache können unter Umständen in hohem Maß ihrerseits durch alltagssprachliche Erscheinungsweisen geprägt sein oder aber auch andererseits auf diese prägend einwirken. So rechtfertigt sich – um ein Beispiel zu nennen – Georg Büchner gegenüber dem Vorwurf sprachlicher Derbheit in Dantons Tod mit dem Hinweis, dass er „die Banditen der Revolution“ nicht habe sprechen lassen können wie „Tugendhelden“.13 Demgegenüber hat andererseits im 18. Jahrhundert das literarische Vokabular zur Ausbildung des allgemeinen Gefühlswortschatzes im Deutschen ganz außerordentlich beigetragen. 11 Vgl. Thomas Luckmann: Kommunikative Gattungen im kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft. In: Der Ursprung der Literatur. Hg. v. Gisela Smolka-Kordt [u. a.]. München 1988, 279–288 sowie Thomas Luckmann: Theorie des sozialen Handelns. Berlin, New York 1992. 12 Vgl. Gesine Lenore Schiewer: Wissenstypologie im Horizont von Wissenschaftssprache und Texttheorie – Oder: Kant-Theorien vs. F. Schlegel-Theorien. In: Typen von Wissen – begriffliche Unterscheidung und Ausprägungen in der Praxis des Wissenstransfers. Hg. v. Tilo Weber u. Gerd Antos. Frankfurt/Main 2012, 50–75. 13 Vgl. Brief an die Familie in Darmstadt vom 28.07.1835, in: Georg Büchner: Briefwechsel. Kritische Studienausgabe v. Jan-Christoph Hauschild. Basel, Frankfurt/Main 1994, 74 f.

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Die Erforschung der Vermittlung dieses Wortschatzes durch den Pietismus war das zentrale Anliegen August Langens.14 Es ist also das Moment des Sprachlichen, welches als Schnittstelle fungiert und die Literatur auf diese Weise in eine Korrelation zum außerliterarischen Leben bringt.15 Daher ist von einem umfassenden Komplex der gesamtsprachlichen, der gesamtkulturellen sowie literarischen Entwicklungen auszugehen. Sprachgeschichtsschreibung, die einseitige Akzentuierungen und damit gravierende Verzerrungen zu vermeiden sucht, wird von den bestehenden Korrelationen unter den genannten Varietäten einer Sprache sowie einem fundierten und möglichst vollständigen Überblick über die vielfältigen Textsorten einer Sprachgemeinschaft ausgehen müssen. Diese Zusammenhänge sind es, die einen Ansatzpunkt bieten für die Einsicht in sprachgeschichtliche Entwicklungen in Alltag und Literatur unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Praxen. Ein ausgeglichenes Bild einer umfassenden Sprachgeschichte wird jedoch allenfalls dann entstehen können, wenn neben den schriftlichen auch mündliche Varietäten einbezogen werden.16 Während die grammatischen Strukturen, Prozesse des Lautwandels und etymologische Aspekte des Lexikons zu den seit langem intensiv erforschten Dimensionen der Sprachgeschichtsforschung des Deutschen gehören, wurden Fragen der Geschichte des Sprachgebrauchs jedoch bislang seltener formuliert. Insbesondere die Traditionen des Sprechens mit solchen Aspekten wie den entsprechenden Konversationsmaximen, Sprachbewusstseinsinhalten, Formen gesprochener Sprache, nicht-literarischen Texttypen etc. wurden sowohl von der Sprachgeschichte als auch der Literaturwissenschaft kaum untersucht.17 Aber auch die systematische Sichtung des Haushalts schriftlicher Gattungen mit den pragmatischen Bedingungen ihres Gebrauchs wurde vernachlässigt. Erste Überlegungen zu einer Sprechgeschichtsschreibung liegen gleichwohl als eine programmatische Skizze der Traditionen des Sprechens seit 1983 vor. Damals hat Brigitte Schlieben-Lange Materialien für eine Sprechgeschichte gesammelt. Diese stellt ohne Frage für sämtliche Epochen vor den modernen technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten eine ganz besondere Herausforderung dar. Denn hier existieren ja nur schriftliche Dokumente, aus denen die 14 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Tübingen 1954, Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert. Berlin, New York 1994, 312 ff. 15 Vgl. Jurij Tynjanov: Über die literarische Evolution. [1927]. In: Russischer Formalismus. Hg. v. Jurij Striedter. München 1994, 433–461, hier 453. 16 Vgl. Oskar Reichmann: Sprachgeschichte. Idee und Verwirklichung. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. Hg. v. Werner Besch [u. a.]. Berlin, New York 21998, 1–41, hier 11. 17 Brigitte Schlieben-Lange: Traditionen des Sprechens. Elemente einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung. Stuttgart 1983, 39. Vgl. auch Irmgard Weithase: Zur Geschichte der gesprochenen deutschen Sprache. Tübingen 1961.

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Geschichte des Sprechens zu erschließen ist. Die Tatsache, dass es sich bei den Quellen der Sprachgeschichte um schriftlich fixierte handelt, impliziert, dass nur das bekannt ist, was aus irgendeinem Grund bewahrens- und erinnerungswürdig erschien. Dies ist gerade im Fall der Aufzeichnungen inspirierten Sprechens nicht anders. Dahingegen ist der banale Alltag des Sprechens meist dem Vergessen preisgegeben.18 Dennoch wird eine solche Untersuchung prinzipiell – unter Rekurs auf die Theoriediskussion in der Geschichtsschreibung19 – bei einer ganzen Reihe von Textsorten ansetzen können, die Aufschluss geben über mündliche Sprachverwendungsweisen: Materialien für eine Sprechgeschichte finden sich unter anderem in Parlamentsprotokollen, Inquisitionsprotokollen, Reiseberichten, Krankheitsgeschichten. Aufschluss über Formen der Mündlichkeit gibt ferner die Geschichte der Konversation.20 Ausgegangen werden kann bei einem solchen Forschungsprojekt von einer Ebene, die gelegentlich auch als ‚universalgeschichtliche‘ Fragestellung bezeichnet wird: zu untersuchen ist, welcher Nutzen zu bestimmten Zeiten aus den Möglichkeiten des Sprechens und Schreibens gezogen wurde und welche Lösungsversuche für bestehende Zwänge gesucht wurden. Solche Bedürfnisse bestehen schon vor der Ausdifferenzierung der mündlichen und schriftlichen Textgestaltung in bestimmte Texttypen. Sie sind es, die über die Zuordnung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit zu bestimmten sozialen Gruppen entscheiden und die Ausprägung von Institutionen beeinflussen, welche Schriftlichkeit, Mündlichkeit sowie ihre Formen verwalten. So stellen die Inspirationsreden beispielsweise ein zentrales Instrument der Verbreitung und Vermittlung des Glaubens dar, während sich die schriftlichen Fassungen naturgemäß eher an die Anhänger oder zumindest bereits Interessierte richtet, da der Zugang zum Text aktiv gesucht werden muss. Die jeweils bestehenden Bedürfnisse entscheiden dann auch über die Bewertungen der beiden fundamentalen Arten des Sprechens und ihrer spezifischen Ausprägungen.21 Verwiesen ist mit diesem Projekt einer – bislang nicht existierenden – umfassenden Geschichte des Deutschen unter Einbezug der gesprochenen Sprache in methodischer Hinsicht auf einen Ansatz, der als ‚pragmatische Sprachgeschichtsschreibung‘ konzipiert wird.22 Zentral ist für eine pragmatisch 18

Schlieben-Lange, Traditionen [s. Anm. 17], 37. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik vergangener Zeiten. Frankfurt/ Main 2000. 20 Vgl. Christoph Strosetzki: Konversation. Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1987 u. ders.: Konversation und Literatur. Zu Regeln der Rhetorik und Rezeption in Spanien und Frankreich. Frankfurt/Main 1988. 21 Vgl. Schlieben-Lange, Traditionen [s. Anm. 17], 45. 22 Vgl. Eugenio Coseriu: Synchronie, Diachronie und Geschichte. München 1974, SchliebenLange, Traditionen [s. Anm. 17], von Polenz, Sprachgeschichte [s. Anm. 14], Andreas Gardt [u. a.]: Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin, New York 1999 u. Gesine Lenore Schiewer: Sprachgeschichte und Literatursprache als kulturelle Praxis. In: Berührungsbeziehungen zwischen Linguistik und Literaturwissenschaft. Hg. v. Christine Keßler u. Michael Hoffmann. Bern 2003, 77–92. 19

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orientierte Sprachgeschichte, inwieweit es gelingt, den Verlauf von Sprachentwicklungsprozessen und Sprachwandel auf Voraussetzungen, Formen und Konsequenzen des sozialen Handelns unter bestimmten historischen Bedingungen zu beziehen und von dorther zu erklären.23 Dies ist die Folie, die es erlaubt, die Relationen ebenso wie die Divergenzen in Form und Inhalt unter einzelnen Textsorten und Sprechhaltungen adäquat zu beschreiben. 2. Fragen der Methodik Die gewählten Verfahren der Textanalyse zielen unter anderem darauf ab, die Bedingungen und Umfelder des Sprechens zu erschließen, oder mit anderen Worten den „Verstehenshorizont“ des jeweiligen Sprechers im Ausgang von spezifischen Textsorten mit den Umfeldern ihres Gebrauchs zu konstruieren. Theoretische Erwägungen der Geschichtswissenschaft zur Konstruktion von Geschichte liegen diesem Ansatz zugrunde. Dabei ist ein hermeneutisches Vorgehen unverzichtbar; eine rein statistische Stilanalyse kann hier zunächst nicht sinnvoll angewendet werden. Denn es ist zu berücksichtigen, dass Sprachstilistisches in historischen Texten nicht einseitig vom Standpunkt des heutigen Rezipienten beurteilt werden darf.24 Eine historisch orientierte Stilanalyse erfordert die Kenntnis auch der historischen Stilnormen, deren Erschließung jedoch in jedem Fall eine schwierige Aufgabe bleibt. Aus diesem Grund wird hier von der Kategorie der Textsorte ausgegangen. Denn der Weg über Textsorten und ihre sprachstilistischen Ausprägungen hat sich als besonders geeigneter Zugang zur Erschließung und Beschreibung historischer Stilkompetenzen erwiesen.25 Textmuster können als Schnittpunkte von Wissensbeständen verschiedenster Art betrachtet werden; Weltwissen, Handlungswissen, Normwissen, Sprachwissen, Stil- und Kulturwissen – all dies in ihnen textsortenspezifisch aufgehoben.26 Erst in einer zweiten Phase, die der Untersuchung von zentralen Teilen des kommunikativen Haushalts eines individuellen Sprechers wie Johann Friedrich Rock folgt, können eventuell auch quantitative Methoden im Sinn einer ‚histoire sérielle‘ in Orientierung etwa an Fernand Braudels Ansatz sinnvoll eingesetzt werden.27 Diese Methoden wurden in Frankreich auf kulturgeschichtliche 23 Vgl. Dieter Cherubim: Sprachgeschichte im Zeichen der linguistischen Pragmatik. In: Sprachgeschichte [s. Anm. 16], 538–550, hier 541. 24 Vgl. Georg Michel: Stilistische Textanalyse. Eine Einführung. Frankfurt/Main 2001, 165. 25 Vgl. Michel, Textanalyse [s. Anm. 24], 166. 26 Vgl. Ulla Fix: Was heißt Texte kulturell verstehen? Ein- und Zuordnungsprozesse beim Verstehen von Texten als kulturellen Entitäten. In: Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Hg. v. Hardarik Blühdorn [u. a.]. Berlin, New York 2006. 27 Eine solche Arbeit mit gleichförmigen Quellen über lange Zeiträume hinweg wurde in Frankreich zunächst vor allem an der Geschichte des 18. Jahrhunderts für demographische, ökonomische und soziale Sachverhalte erprobt. Vgl. Schlieben-Lange, Traditionen [s. Anm. 17].

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Fragestellungen, auf Einstellungen und Bewusstseinsinhalte, die so genannte „histoire des mentalités“ angewandt.28 In jedem Fall muss die Untersuchung einer bestimmten historischen Stufe des Sprachgebrauchs auf der Basis verschiedener Textsorten und -funktionen und unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten gesprochener und geschriebener Ausdrucksformen von klaren Problemstellungen ausgehen, da Vollständigkeit hier nicht zu erreichen sein wird. Im Hinblick auf die Untersuchung der Sprache Johann Friedrich Rocks sollen daher zunächst verschiedene der vorliegenden Textbeispiele im weiteren Sinn alltäglicher, inspirierter und literarischer Art hinsichtlich ihrer spezifischen Texteigenschaften charakterisiert werden. Hier geht es darum, nicht nur das jeweilige Lexikon zu berücksichtigen – auf welches August Langen in seinen Pionierarbeiten die Aufmerksamkeit gerichtet hat –, sondern typische Textsortenmerkmale möglichst vollständig zu erfassen. Die Beschreibung stilistischer Strukturen erfordert die Analyse im Grunde aller textinternen und textexternen Beziehungen der sprachlichen Gestaltgebung. Jedoch ist eine in jedem Fall erschöpfende, bis in das letzte Wort und die letzte grammatische Form reichende Textuntersuchung in allen ihren mikro- und makrostrukturellen Aspekten als praktisch nicht leistbar auszuschließen. Es stellt sich also die Frage, welche Erscheinungen und Beziehungen innerhalb der Vielfalt lexikalischer, morphosyntaktischer, phonischer, graphischer, funktionaler, pragmatischer etc. Elemente in einem Text jeweils stilistisch relevant sind. Ein systematisches Vorgehen wird dabei realisiert, indem verschiedene Textebenen berücksichtigt werden. Für Stilanalysen gelten dabei folgende Unterscheidungen als zentral – wobei es sich um Differenzierungen handelt, die eng miteinander zusammenhängen:29 – der propositionale Gehalt, d. h. die in den Text aufgenommenen, im Text wiedergegebenen Sachverhalte, – der thematische Kern als der Hauptgedanke des propositionalen Gehalts, – die Art der Themenentfaltung durch die lineare und hierarchische (kompositionelle) Strukturierung der in einem Text gegebenen Menge an Propositionen, – der Handlungscharakter, das heißt der Illokutionstyp und die kommunikative Funktion einzelner Satzäußerungen bzw. komplexer Teiltexte und schließlich des Gesamttextes, wobei zwischen dominierenden und subidiären Sprachhandlungstypen zu unterscheiden ist, – die formulative Ebene mit der Art der sprachlichen Umsetzung der inhaltlichen (propositional-thematischen) und handlungstypischen (illokutiven) „Tiefenstruktur“ des Textes an der „Textoberfläche“.

28 29

Vgl. Schlieben-Lange, Traditionen [s. Anm. 17], 40. Vgl. Michel, Textanalysen [s. Anm. 24], 37.

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Bezüglich dieser Ebenen ist für den Stilbegriff dann der Aspekt der Varianz bestimmend.30 Üblicherweise wird in der Stilistik hier ein Auffälligkeitskriterium mit den Aspekten der Abweichung und der Hervorhebung angewandt.31 Entsprechende Analysen von Textbeispielen der genannten Textsorten können ein zumindest partielles Bild des situativ und funktional angepassten Sprachgebrauchs Rocks ergeben. Der individuelle ‚kommunikative Haushalt‘ Johann Friedrich Rocks verdient spezifisches Interesse, da er sich durch die Besonderheit ganz ungewöhnlicher Breite auszeichnet: Rock hat sich sowohl privat (so hat er seine Lyrik als private Form der Ich-Aussprache aufgefasst)32 als auch öffentlich respektive halb-öffentlich geäußert und er bedient mit den genannten Varietäten ein Spektrum von Textsorten, das nur äußerst selten von einem einzigen Individuum abgedeckt wird. Dieser individuelle kommunikative Haushalt Johann Friedrich Rocks wird hier im Hinblick auf die linguistischen Varietäten alltäglicher, inspirierter und literarischer Textsorten analysiert. Die Analyse erlaubt den Einblick in einen repräsentativen Ausschnitt aus dem Sprachgebrauch eines herausragenden Vertreters des radikalen Pietismus.

3. Johann Friedrich Rock: Textsortenanalyse 3.1 Inspiration Hier sind einige Klärungen hinsichtlich des Status der Inspirationsreden als mündliche und – respektive oder – schriftliche Texte vorauszuschicken. Denn die gewiss unter größten Ansprengungen realisierte schriftliche Form in handschriftlicher Mitschrift und gedruckter Publikation stellte einen ritualisierten Aspekt der mündlichen Aussprache dar. Diese Gegebenheit bedarf der Aufmerksamkeit, da die schriftliche Fassung der Reden ja Grundlage der Forschung ist. Es dürfte nützlich sein, hier auf den Begriff der ‚Semi-Oralität‘ zu verweisen: er bezieht sich sowohl auf mündliche Äußerungen auf der Basis eines schriftlichen Textes als auch auf den Reflex mündlicher Sprache in geschriebenen Texten. Gedacht wird dabei beispielsweise an die so genannte ‚Gesprochene Literatur‘, womit etwa die Konversationen der aufgeklärten Salons in Frankreich gemeint sind, bei denen formale Aspekte ebenso wichtig waren wie die gesprochenen Inhalte. Im Hinblick auf die inspirierten Reden wird zu prüfen sein, ob auch sie in formaler Hinsicht – z. B. in syntaktischen Hinsichten wie der Satzlänge – gewisse schriftsprachliche Charakteristika aufweisen. Ein anderes Beispiel von ‚Semi-Oralität‘ stellen protokollierte Formen mündlicher 30 31 32

Vgl. Michel, Textanalysen [s. Anm. 24], 38. Vgl. Michel, Textanalysen [s. Anm. 24], 53 ff. Vgl. Schneider, Goethezeit [s. Anm. 1], 116.

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Sprache dar, was den Fall der Inspirationsreden ganz unmittelbar betrifft.33 Die Besonderheit des konkreten Falls der protokollierten Inspirationsreden besteht in dem erklärten Bemühen um strikt wörtliche Wiedergabe des gesprochenen Textes, was ja keinesfalls für sämtliche Formen von Protokollen zutrifft. Ganz generell stellt aber das Protokoll ein Scharnier zwischen mündlicher Tradition und Lesepublikum dar. Was die protokollierte mündliche Vorlage selbst betrifft, so gilt wie für jede gesprochene Sprache, dass die Situation, in der gesprochen wird, immer vorrangige Bedeutung hat. Anders als beim dialogisch angelegten Gespräch können im Fall des monologischen mündlichen Vortrags Sprecher und Hörer jedoch nicht die Rollen wechseln, wenngleich sie sich zur selben Zeit im selben Raum befinden. Sowohl im Dialog als auch im Monolog kann hingegen auf Elemente dieses Raumes verwiesen werden. Deixis und gestische Ostension spielen hier somit eine wichtige Rolle. Wenn ein schriftlich verfasster Text an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit verstanden werden soll, müssen hingegen viele Elemente der Situation versprachlicht werden, die bei der Mündlichkeit implizit bleiben. Deiktische Elemente müssen in definitorische übersetzt werden. Diese Gegebenheit wird in den Publikationen der Inspirationsreden durch Vorbemerkungen zur eigentlichen Rede gelöst, in denen die entsprechenden Angaben zum situativen Umfeld, in welchem die betreffende Rede entstanden ist, erfolgen.34 Die Ausdrucksmittel, die dem Sprecher zur Disambiguierung seiner Rede zu Verfügung stehen, wie Mimik, Gestik, prosodische Aspekte wie Intonation, Akzent, Tonhöhe etc., entfallen im schriftlichen Text oder müssen in irgendeiner Weise ersetzt werden. In der Druckfassung der Inspirationen werden solche Anmerkungen gelegentlich eingeschaltet; sie können mit den Regieanweisungen im dramatischen Text verglichen werden. Eine ausführliche Darstellung situativer, prosodischer und mimisch-gestischer Facetten einer inspirierten Aussprache zitiert Ulf-Michael Schneider.35 Ulf-Michael Schneider hat auch schon eine ganze Reihe stilistischer und rhetorischer Mittel der Inspirationsreden benannt: Das sprachliche Umfeld hat direkte Konsequenzen für die sprachliche, aber auch inhaltliche Gestaltung der Aussprachen; Initialwörter werden aufgegriffen und variiert, eventuell auch semantisch umgedeutet. Initialwörter oder Bildbereiche steuern den Fortgang und die Argumentation der Inspirationsreden. Typisch ist das Strukturprinzip der wiederholenden Reihung z. B. grammatisch parallel strukturierter rhetorischer Fragen, verschiedener Substantive eines Begriffs- und Wortfeldes, aufei33 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Protokollnotiz zur Diskussion der Sektion ‚Sprach- und Literaturgeschichte in der Französischen Revolution‘ (Schlieben-Lange/Gumbrecht) auf dem Deutschen Romanistentag 1979 in Saarbrücken. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik Jg. 11, Heft 41, 1981, 124–126 und Schlieben-Lange, Traditionen [s. Anm. 17], 48. 34 Vgl. Schneider, Goethezeit [s. Anm. 1], 95. 35 Vgl. Schneider, Goethezeit [s. Anm. 1], 60 f.

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nander folgender Interjektionen oder klanglich ähnlich lautender und stammverwandter Wörter und Morpheme oder Reime. Unter Berücksichtigung der genannten stilanalytischen Textebenen werden in den folgenden schematischen Übersichten zwei Inspirationsreden untersucht. Es handelt sich um eine 1736 in Lindheim bei Himbach am 14. Januar ausgesprochene und aufgeschriebene Inspiration und eine ebenfalls in Lindheim am 14. März desselben Jahres ausgesprochene und notierte Inspiration.36 Die Situationen der beiden Inspirationen werden relativ ausführlich in den betreffenden Vorberichten umrissen: Im Schloß beym Herrn Baron von Sch., aber in des Herrn Obersten Baron von St. Wohnung, allwo etliche Personen von Adel, nebst Hrn. Doctor Kraft beysammen waren, welche Br. Johann Fried. Rock und Br. Joh. G. Metz zu besuchen hinüber gegangen waren, wurde von unterschiedlichen Sachen geredet; unter währendem Gespräch aber kam Br. Rock plötzlich in Bewegung des Geistes des Herrn, und mußte erstlich als ein Suchender in der Stuben auf und ab herumgehen, legte endlich die Hand auf des Hrn. von St. Schulter und sprach: [S. 4]

Am 14. März präsentiert sich die Situation folgendermaßen: Nachmittags, als Br. Joh. Fried. Rock vom Marienborner Gericht wiederum nach Hause kam, erzehlte er einigen Brüdern, die ihn besuchten, wie es daselbst in Ansehung seiner und Heinrich Schatzens abgelauffen. Und bezeugete dabey, daß er in der Sache ein gut und freudiges Gewissen vor GOtt davon getragen, und wie er mit stillem und friedlichem Herzen alles Unrecht hierinnen gern leiden wolle. Unterwährender Rede kam der Geist des Herrn über ihn, und geschahe an das sämtliche Gericht folgendes Zucht- und Gnadenwort: [S. 8]

Die Reden selbst zeichnen sich bezüglich der textanalytischen Stilebenen durch folgende Varianzen und Auffälligkeiten besonders aus: Inspirationsreden – 1736 I. Lindheim ohnweit Himbach den 14 Jenner

Varianz und Auffälligkeiten

Propositionaler Gehalt

– – – –

Gott suchen seinen Willen befolgen ewige Liebe Anrede Hrn. von Steins: Finsternis

36 Vgl. A und O! Die XXXI. Sammlung, Oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften vom Jahr 1736. Worinnen Bezeugungen des Geistes des Herrn, An verschiedenen Orten, und in brüderlichen Versammlungen. Auch auf einer Reise im Würtembergischen bis Augsburg. Durch Br. Joh. Fried. Rock ausgesprochen. Gedruckt im Jahr 1784, 3–8, 8– 15. Hans-Jürgen Schrader hat auf einen Sammelband von Inspiriertenschriften aufmerksam gemacht, in dem sich auch die angeführten Texte befinden, der sich im Besitz der BCU Lausanne befindet (Signatur TP 1200). Da dieser Band nur vor Ort einsehbar ist, werden die hier herangezogenen Texte im Anhang vollständig wiedergegeben.

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– – – –

seiner Seele Gottes Liebe annehmen Gott gibt dem Gläubigen Gnade sonst Gottvergessen und Atheismus Zweifel ablegen

Thematischer Kern

Die Hörer werden aufgefordert, an Gott zu glauben.

Themenentfaltung

deskriptiv-argumentativ ? (nach Klaus Brinker)

Handlungscharakter

appellativ-direktiv (nach John Searle)

Umsetzung – formulative Ebene

– Konjunktiv Präsens drückt den Wunsch des Sprechers aus („Du wirst gesuchet, lasse dich finden!“) – Futurisches Tempus verweist auf den prognostischen Aspekt und hat handlungsanweisenden Charakter („wie wirst du noch so klein wie ein kleines Kind werden müssen“) – Direktes Ansprechen der Hörer als Gruppe oder einzelner Personen („Höret, Ihr Edlen!“; „Höre, du grosser Mann“; „Höre, Stein!“) – Morphemreim und Wortfeldvariation erzeugen Nachdrücklichkeit sowie Rhythmisierung ! („alles raisonniren, scrupuliren, disputiren, niederzulegen, . . .“)

Inspirationsreden – 1736 II. Himbach den 14 Merz

Varianz und Auffälligkeiten

Propositionaler Gehalt

– dem Übel nicht widerstreben – das Böse ertragen – Gott will sich selbst als Richter durchsetzen – dann wird jedem Recht wiederfahren – dann erhalten diejenigen Strafe, die es verdienen – dann wird Gott eine gerechte Welt schaffen – die Leidenden sollen Unrecht erdulden – sie werden belohnt werden

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– Gottes Wunsch soll gefolgt werden Thematischer Kern

Gott wird eine gerechte Welt schaffen.

Themenentfaltung

deskriptiv-vorhersagend ?

Handlungscharakter

assertiv-kommissiv-appellativ

Umsetzung – formulative Ebene

– Konjunktiv Präsens („Kommet!“) – Futurisches Tempus ! („Dann Ich will meine Ehre zu rechter Zeit selbst retten“; „es soll einem jeglichen pünktlich vergolten werden“; „dann werden sich die Augen nicht blenden lassen“) – Direktes Ansprechen allgemein („Menschenkind“) – Morphemreim und Wortfeldvariation („schauende, trauende und bauende“) – Rhetorische Aufzählung („Grosse und Kleine, Reiche und Arme, Hohe und Niedere, die Obrigkeiten, die Räthe und Amtleute, . . .“) – Parallelisierung auf Textebene („ich will“; „es soll“) – Bloßes formales Subjekt zur Darstellung eines Geschehens an sich („es“)

Die verschiedenen Facetten des propositionalen Gehaltes der ersten Inspirationsrede kumulieren in dem thematischen Kern der Aufforderung der anwesenden Hörer, an Gott zu glauben. Der thematische Kern der zweiten herangezogenen Rede besteht in der Vorhersage, dass Gott eine gerechte Welt schaffen wird. In der Erfassung der Themenentfaltung bietet es sich an, von den von Klaus Brinker beschriebenen vier Typen der Deskription einmaliger oder häufiger Vorgänge und Ereignisse, der explikativen und wissenschaftlichen Erklärung, der argumentativ-begründenden und der narrativ-erzählenden Form der Entfaltung auszugehen, wenngleich hier Erweiterungen des relativ groben Rasters erforderlich sind.37 Während die erste Rede als deskriptiv und argumentativ bezeichnet werden kann, ist die zweite ebenfalls durch deskriptive Aspekte gekennzeichnet, jedoch auch durch solche prognostischer Art, die bei Brinker keine Berücksichtigung finden. Die Erfassung des Handlungscharakters kann auf der Grundlage der von 37 Vgl. Klaus Brinker: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin 72010.

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John R. Searle benannten fünf Sprechaktklassen der Sachaussagen oder Assertive, der selbstverpflichtenden Kommissive, der den Hörer zu etwas verpflichtenden Appelative oder Direktive, ferner der Expressive des Ausdrucks eigener Befindlichkeiten sowie der institutionsgebundenen Deklarative erfolgen.38 Bei der ersten Inspiration überwiegt dem thematischen Kern entsprechend der auffordernd-appelative Handlungscharakter. Bei der zweiten hier betrachteten Rede ist der Handlungscharakter sowohl sachorientiert-assertiver Natur als auch in den Festlegungen des Sprechers kommissiver Art. Hinzu kommen ferner an den Hörer gerichtete appellative Aufforderungen. Auf formulativer Ebene sind beide Texte durch eine Reihe gemeinsamer Merkmale gekennzeichnet: Es finden sich gehäuft konjunktiv präsentische Formen der subjektiven Stellungnahme, des Ausdrucks der Wünsche des Sprechers sowie der Möglichkeit; sie entsprechen dem pragmatischen Aufforderungscharakter der Reden. Das direkte Ansprechen der Hörer entweder als Gruppe oder als einzelne Personen unterstützt diesen Aspekt zusätzlich. Formen des futurischen Tempus kommen dem prognostischen Aspekt und dem handlungsanweisenden Charakter der Reden entgegen. Apodiktische Erklärungen wie die rhetorische Wiederholung von „Ich will . . .“ in der zweiten Rede akzentuieren demgegenüber die Autorität des Sprechers und die Verlässlichkeit seiner Verbürgung. Auf die Übermacht des Geschehens an sich und damit implizit die Ohnmacht des Menschen verweist die Verwendung des formalen Subjektes „es“ ebenfalls in der zweiten Rede. Die auffallenden Morphemreime und Wortfeldvariationen sowie die rhetorischen Aufzählungen und Parallelisierungen erzeugen insgesamt einen rhythmisierenden Effekt, der eine bedeutende Hilfe beim freien Sprechen darstellt und generell für biblisches Sprechen typisch sein ist.39

38 Vgl. John R. Searle: Speech acts. An essay in the philosophy of language. Cambridge, New York 1969. 39 Der sprachliche Rhythmus steht sogar im Zentrum der Sprachtheorie des französischen Linguisten und Bibelübersetzers Henri Meschonnic, der in Deutschland vor allem durch den Romanisten Jürgen Trabant bekannt gemacht wurde. Meschonnic legt seiner historischen Anthropologie der Sprache die Frage nach dem sprachlichen Rhythmus zugrunde, dessen Funktionsweise – so Meschonnic – die hebräischen Texte der Bibel offen legen. Sein Ziel ist es, die zwischen Subjekt (als Sprecher oder Schreiber) und Sprache bestehenden Beziehungen linguistisch beschreibbar zu machen. Meschonnic verweist dabei auf einen Zusammenbruch der Opposition von Lyrik und Prosa respektive von Vers und Prosa seit dem späten 19. Jahrhundert und hebt die Organisation des Bibelverses sowie der Sprache des Korans hervor. Denn hier ist die Sprache weder gebunden noch ungebunden. Meschonnic macht deutlich, warum er den Rhythmus in religiöser Schrift und literarischem Werk als einen zentralen Aspekt des herausragenden Stellenwertes dieser Texte erachtet und ihn zugleich zur Grundlage seines Verständnisses historischer Anthropologie der Sprache macht. Nur eine rhythmisch subjektivierte und individuell geprägte Sprachverwendung lasse erkennen, was mit Sprache überhaupt gemacht werden könne, wie sie eingesetzt werden könne, was man von ihr wissen könne und in welcher Form Menschen als gesellschaftliche Wesen oder als Individuen aufeinander Einfluß nehmen. Vgl. Henri Meschonnic: Vom Rhythmus als Problem der Philosophie und der Humanwissenschaften. In: Rhythmus. Wiener Vorlesungen zur Literatur

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3.2 Lyrik Es sollen an dieser Stelle zwei lyrische Texte berücksichtigt werden: Einige Reimlein aus dem Jahr 1740 sowie Meine Klee=Blats=Betrachtung aus dem Tag=Buch des Jahres 1749.40 Varianz und Auffälligkeiten Lyrik – Reime – 1740 Einige Reimlein, aufgesetzt unter mancherley Leibes=Schmerzen, Doch GOtt Lob In Friede und Ruhe im Hertzen, Von Einem Patienten, welcher sich zu der Zeit aufhielte Zu Reichelsheim in der Wetterau – 15. Merz Propositionaler Gehalt

– Wünsche für Bruder Paul – Gottes Wunsch mißachtet – Arzt in die Hände gefallen – Selbstbezichtigung – Gottes Gnade – Gottes Lob – Duldung der Schmerzen – Bitte um Genesung

Thematischer Kern

Sich selbst Mut machen durch Gottvertrauen.

Themenentfaltung

narrativ ?

Handlungscharakter

expressiv/kommissiv

Umsetzung – formulative Ebene

– formale Aspekte lyrischer Texte (Reimschemata, je 8 7–silbige alter-

1996/97. Hg. v. Oswald Egger. Wien 1998, 155–180, ders.: Célébration de la poésie. Paris 2001, Walter Jens: Der Römerbrief. Stuttgart 2002, ders.: Die vier Evangelien. Stuttgart 2003, Gesine Lenore Schiewer: Übersetzung und Rezeption des „Mahâbhârata“ des Friedrich Schlegel, Franz Bopp, Friedrich Rückert und Alfred Döblin. In: Der Gott der Anderen. Interkulturelle Transformationen religiöser Traditionen. Hg. v. Ernest W. B. Lüttich u. Arupon Natarajan. Frankfurt/Main 2012, 225–247. 40 Vgl. Einige Reimlein, aufgesetzt unter mancherley Leibes=Schmerzen, Doch GOtt Lob In Friede und Ruhe im Herzen, Von Einem Patienten, Welcher sich zu der Zeit aufhielte zu Reichelsheim in der Wetterau. Im Jahr 1740. Zum Druck befördert Anno 1744, 6–13 und J.J.J. Aufrichtige und Wahrhafftige Extracta Aus dem allgemeinen Diario Der wahren Inspirations-Gemeinen. XI. Sammlung, Enthaltend: Einige besondere Oefnungen und Bezeugungen des Geistes des HERRN, An und bey Verschiedenen Orten und Gelegenheiten, insonderheit aber bey einer brüderlichen Unterredung in denen Gemeinen der wahren Inspirations-Gemeinschafft/Geschehen im Jahr 1721 und 1722. Dem Nächsten zum Heil und Leben Nun hier ans Licht gegeben. Der Anhang ist: Joh. Fr. Rocks Tage=Buch auf der zweyten Reyß, Durch Schwaben in die Teutsche und Welsche Schweitz. Im Jahr 1749, 199–202.

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nierende Verse, etc.) – dadurch sind Wortwahl und Syntax vorgeprägt („Das Bein hat grosse Schmertzen; Wer nimmt es wohl zu Hertzen?) – im Vergleich mit Inspirationsreden rhetorisch schlicht

Lyrik – Reime 1749 Tag=Buch, Meine Klee=Blats=Betrachtung 1.8.1727

Varianz und Auffälligkeiten

Propositionaler Gehalt

– Entwicklung eines Kleeblatts – Viereckiges Kleeblatt – Fünfeckiges Kleeblatt

Thematischer Kern

Naturmetaphorik

Themenentfaltung

deskriptiv

Handlungscharakter

assertiv-expressiv

Umsetzung – formulative Ebene

– formale Aspekte lyrischer Texte (Reimschemata, je 8– und 7–silbige alternierende Verse, etc.) – Nähe zum Lehrgedicht

Ulf-Michael Schneider hat den subjektiv-privaten Aspekt der Lyrik und ihre Nähe zum Tagebuch im Sinn eines „Lyrischen Seelen-Tagebuchs“ betont.41 Dies trifft auf den ersten der hier beigezogenen Texte unbedingt zu: der propositionale Gehalt umkreist den thematischen Kern des sich selbst Mut Machens aufgrund des eigenen Gottvertrauens. Dementsprechend weist die Themenentfaltung tendentiell narrative Züge auf. Der Handlungscharakter ist expressiv, aber auch kommissiv geprägt. Aufgrund der Nähe zum für die Mitte des 18. Jahrhunderts sehr wichtigen Lehrgedicht mit starker Naturmetaphorik kann Schneiders Feststellung für den zweiten – formal anspruchsvolleren – Text jedoch nicht aufrecht gehalten werden. Hier überwiegen die deskriptive Themenentfaltung und ein assertiv-expressiver Handlungscharakter. Die Formmerkmale lyrischer Texte wie Metrik und Reimschemata sind insgesamt durch einen leichteren bis mittleren Schwierigkeitsgrad und eine eher schematische als virtuose Beherrschung gekennzeichnet. Im Vergleich mit den rhetorischen Fertigkeiten, die die Inspirationsreden erkennen lassen, sind die lyri41

Vgl. Schneider, Goethezeit [s. Anm. 1], 118 ff.

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schen Texte eher als schlicht zu bezeichnen. Es entsteht der Eindruck, dass die metrisch-formalen Vorgaben Rocks Möglichkeiten, die vor allem durch rhythmisierende Stärken gekennzeichnet sind, eher behindert haben. 3.3 Reisetagebuch Als Beispiel für die Textsorte des Reisetagebuches kann der Eintrag vom 5. Juli 1749 in Schwartzenau dienen.42 Reisetagebuch Varianz und Auffälligkeiten 1749 Tag=Buch, Schwartzenau den 5. Julii Propositionaler Gehalt

– Reise nach Reutlingen – Stärkung durch Gott – Sich in Gottes Hand begeben

Thematischer Kern

Einstimmung auf die Reise

Themenentfaltung

deskriptiv ?

Handlungscharakter

expressiv-direktiv-assertiv

Umsetzung – formulative Ebene

– 4–zeiliger Fließtext gereimt – formale Aspekte lyrischer Texte (Reimschemata, je 8– und 7–silbige alternierende Verse, etc.)

Der thematische Kern besteht textsortengemäß in einer Einstimmung auf die geplante Reise. Die Themenentfaltung ist deskriptiv orientiert, der Handlungscharakter durch expressive, direktive sowie assertive Merkmale gekennzeichnet. Besonders interessant ist hier, dass es sich nicht um ungebundene Sprache handelt, sondern um einen gereimten Fließtext. Damit ist hier die Nähe zu den Inspirationsreden im Vergleich mit den anderen Textsorten am größten. Hier sind Rocks stilistisch-rhetorische Stärken besonders ausgeprägt und es lässt sich die Hypothese äußern, dass die Wahl dieser Form mit einer gewissen Einstimmung in die Inspirationsreden während der Reise zu erklären ist. 42 J.J.J. Aufrichtige und Wahrhafftige Extracta Aus dem allgemeinen Diario Der wahren Inspirations-Gemeinen. XI. Sammlung, Enthaltend: Einige besondere Oefnungen und Bezeugungen des Geistes des HERRN, An und bey Verschiedenen Orten und Gelegenheiten, insonderheit aber bey einer brüderlichen Unterredung in denen Gemeinen der wahren Inspirations-Gemeinschafft/ Geschehen im Jahr 1721 und 1722. Dem Nächsten zum Heil und Leben Nun hier ans Licht gegeben. Der Anhang ist: Joh. Fr. Rocks Tage=Buch auf der zweyten Reyß, Durch Schwaben in die Teutsche und Welsche Schweitz. Im Jahr 1749, 187–191.

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3.4 Autobiographie Die Textsorte der Autobiographie wird hier repräsentativ von einem Text aus dem Jahr 1715, es handelt sich um die Kurtze Erzehlung, und dem Zweyten Aufsatz Des Erniedrigungs=Lauffs Eines Sünders auf Erden aus dem Jahr 1717, dem Rock fünfundzwanzig Jahre später eine Einführung voranschickt, vertreten.43 Autobiographie Varianz und Auffälligkeiten J.J.J. Johann Friderich Rocken / Bißherigen Hoff=Sattlers zu Marienborn / Kurtze Erzehlung / Wie er zu diesem besondern Werck der Inspiration gekommen, 1715 Propositionaler Gehalt

– – – – – – – –

Thematischer Kern

Weg zu den Inspirierten

Themenentfaltung

narrativ

Handlungscharakter

expressiv-assertiv

Umsetzung – formulative Ebene

– große Nähe zum Kanzleistil des 17. Jhd.s !

Autobiographie Zweyter Aufsatz Des Erniedrigungs=Lauffs Eines Sünders auf Erden, 1717

Varianz und Auffälligkeiten

Propositionaler Gehalt

– Summarischer Inhalt wird vorangestellt

Thematischer Kern

– Vorangestellte Zusammenfassung: Bericht der Erweckungsanfänge und Erinnerung an Kampf, Streit und Sieg Appell, den Inspirierten zu folgen

Lob Gottes eigene Reisen eigene Sünden Hilfe durch Gott Skepsis gegenüber Inspirierten erste Begegnung mit Inspirierten Ermunterung durch die Mutter Schilderung des Eindrucks der Inspirierten

43 Vgl. Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. v. Ulf-Michael Schneider. Leipzig 1999.

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Themenentfaltung

narrativ

Handlungscharakter

expressiv-assertiv, appellativ

Umsetzung – formulative Ebene

– deutliche Entfernung vom Kanzleistil gegenüber der Kurtzen Erzehlung, d. h. v. a. Sätze mittlerer Länge – kaum Schmuck, kaum rhetorische Mittel, schlichter Berichtston

Der thematische Kern des eigenen Weges zu den Inspirierten ist in beiden Texten ähnlich gelagert. Im zweiten, späteren Text wird er ergänzt durch den Appell an andere, den Inspirierten zu folgen. Dies kann gedeutet werden als eine erfolgte Festigung der Überzeugung, die mit der Übernahme des missionarischen Aspekts der Verbreitung der Lehre einhergeht. Die Themenentfaltung ist vor allem narrativ orientiert, der Handlungscharakter im ersten Text expressiv-assertiv, im zweiten neben den ebenfalls expressiv-assertiven Facetten dem erweiterten thematischen Kern gemäß auch appellativ. Auffallend ist die stilistische Entwicklung: während der Text aus dem Jahr 1715 noch durch eine große Nähe zum Kanzleistil des 17. Jahrhunderts gekennzeichnet ist, wird später eine deutliche Entfernung gegenüber diesem Stil spürbar in dem Überwiegen von Sätzen mittlerer Länge, der erheblichen Reduktion rhetorischen Schmucks sowie aller rhetorischen Mittel. Es wird ein schlichterer Berichtston vorherrschend, womit Rock die allgemeinen Stilentwicklungen seiner Zeit mit vollzieht. 4. Zusammenfassende Bemerkungen Rocks hier vorgestelltes Spektrum an Varietäten lässt textsortenspezifische Differenzierungen klar erkennen. Seine eigene sprachbiographische Entwicklung kann nur angedeutet werden, ist aber ohne weiteres am Beispiel der autobiographischen Schriften nachzuvollziehen. Bemerkenswert ist, dass die autobiographischen Schriften die größte Nähe zur Alltagssprache aufweisen, während das Reisetagebuch den stilistisch anspruchvollsten Inspirationsreden am nächsten steht. Die Lyrik ist in metrisch-formaler Hinsicht bemerkenswert konsequent auf einem mittleren Komplexitätsniveau gestaltet, insgesamt etwa hinsichtlich der sprachlichen Bildlichkeit aber als eher schlicht zu bezeichnen. Die Formvorgaben scheinen hier eher zu einer Hemmung von Rocks sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten geführt zu haben. Die Inspirationsreden weisen mit ihrer Rhythmisierung etwa unter Ausnutzung von Morphem- und Wortfeldvariationen ein Charakteristikum auf, das auch für das hebräische Original der Bibel typisch ist, wenngleich dieser Aspekt nur selten in Übertragungen berücksichtigt wird: Henri Meschonnics 103 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Übersetzungen ins Französische und Walter Jens’ Übersetzungen in das Deutsche stellen solche Beispiele dar. Auch in den alten Sanskrit-Epen finden sich ähnliche Rhythmisierungen insbesondere aufgrund von Morphemvariationen, die das Sanskrit in grammatischer Hinsicht dem Deutschen vergleichbar machen. Dieses äußerst reizvolle Stilmerkmal findet sich andeutungsweise in den Reisetagebüchern Rocks wieder. Es ist allerdings insofern ein „Konkurrenzphänomen“ zur Metrik, als es von der freieren Variation der Wiederholungsstrukturen lebt und insofern ein typisches Merkmal der Prosa darstellt. Der Prosastil der autobiographischen Schriften kommt ohne dieses Merkmal aus und präsentiert sich relativ schlicht und sachlich. Er wird im Laufe der Jahre zunehmend gewandter, wobei Rock der allgemeinen Entwicklung zu einer mittleren Stillage im 18. Jahrhundert folgt. Die Analysen des individuellen ‚kommunikativen Haushaltes‘ Johann Friedrich Rocks zeigen damit, wenngleich umfangreiche Untersuchungen auf wesentlich größerer Materialbasis weitere Einsichten eröffnen könnten, zunächst die wechselseitigen Abgrenzungen und Wirkungen verschiedener Textsorten auf individualstilistischer Ebene auf. Sie lassen weiterhin die Verflechtungen des pietistisch-religiösen Sprachgebrauchs mit der allgemeinen Sprachentwicklung über die Ebene des Wortschatzes hinaus auch bezüglich der Textebene erkennen und binden die entsprechenden spezifisch pietistischen Textsorten in den allgemeinen Haushalt der Kommunikationsgemeinschaft ein. Die Klärung weiterer Fragen wie zum Beispiel die nach Einflussrichtungen und Wechselwirkungen von religiöser, alltäglicher und literarischer Sprache bedarf jedoch weiterer Untersuchungen.44 Die Fruchtbarkeit des Begriffs des ‚kommunikativen Haushaltes‘ für die pragmatische Sprachgeschichtsschreibung erweist sich jedoch schon jetzt darin, dass unterschiedliche Formen des Sprachgebrauchs verwendungskontextübergreifend und systematisch vergleichbar werden. Sowohl die Machbarkeit als auch das Potential pragmatischer Sprachgeschichtsschreibung für die Pietismusforschung werden auf diese Weise akzentuiert. Hand in Hand gehen muss mit Arbeit an der Historiographie des deutschen Sprachgebrauchs die linguistische Untersuchung des generell religiösen und des spezifisch pietistischen Sprachgebrauchs mit seinen Varianten als eigenständiger Varietäten des Deutschen, da von einem außerordentlich hohen Einflussfaktor auf die allgemeine Sprachentwicklung strikt auszugehen ist. Es handelt sich hierbei um eines der dringendsten Desiderata der

44 Auf dieses Desiderat hat Hans-Jürgen Schrader, dem auch die Anregung und zahlreiche wichtige Hinweise zu der hier vorliegenden Untersuchung zu verdanken sind, wiederholt nachdrücklich hingewiesen. Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Inspirierte Schweizerreisen. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. v. Alfred Messerli u. Roger Chartier. Basel 2000, 351–382; ders., Die Sprache Canaan [s. Anm. 5] und ders.: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Tübingen 2005, 55–81.

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Sprachgeschichtsschreibung des Deutschen ebenso wie der Pietismusforschung – eine Lücke, die interdisziplinär erst noch zu schließen ist. 5. Anhang: Textbeispiele Inspirationsreden A und O! Die XXXI. Sammlung, Oder Auszug aus denen Jahr=Büchern der wahren Inspirations=Gemeinschaften vom Jahr 1736. Worinnen Bezeugungen des Geistes des Herrn, An verschiedenen Orten, und in brüderlichen Versammlungen. Auch auf einer Reise im Würtembergischen bis Augsburg. Durch Br. Joh. Fried. Rock ausgesprochen. Gedruckt im Jahr 1784. Aussprache vom 14. Januar 1736: Du wirst gesuchet, lasse dich finden! (Gieng darauf und saßte sich nieder, und wurde weiter ausgesprochen:) Höret, Ihre Edlen! Merket, schreibet auf, vernehmt, gehet in eure Herzen! Ich lasse, spricht der Getreue! Darum auf eine wunderbare Weise meine Stimme erschallen, und zeuge wider Vernunft, daß die Menschen aufschauen, und den Wunderbaren, Wahrhaftigen und Lebendigen suchen mögen. Dann es ist Zeit die Augen aufzuthun, und zu merken, was der Herr will, und wie Er die Menschen suchet aus dem vernünftigen Theil in die seelige Innigkeit zu leiten und zu führen; damit ihre Seelen errettet werden, und erfahren mögen, daß keine Ruhe zu finden seye, als in dem Lebendigen und Wahrhaftigen. (Stund auf, gieng zu dem Hrn. von St., legte ihm die Hand auf die Schulter, und sprach:) Höre, du grosser Mann, wie wirst du noch so klein wie ein kleines Kind werden müssen, wilt du anders in das Reich der Himmelen eingehen, durch die enge Pforte. Darum fange an, alles raisonniren, scrupuliren, disputiren, niederzulegen, und in die göttliche Einfalt einzudringen, so wird deine Seele einen stillen Eingang in das Herz der ewigen Liebe bekommen, und das vorige, so du wider deinen GOTT gethan hst, nicht mehr gedacht werden. (Gieng wiederum zu dem Hrn. von St. Und sprach:) Höre, Stein! Das saget dir die ewige Liebe! Du wirst gesucht; lasse dich finden! Mache dich los von dem, woran deine Seele noch blebet. Siehe! Es ist dir ein Ofen der Läuterung bereitet, wilt du anders ein durchläuterter Stein werden zum Reich GOttes . . . bey Zeit und in der Zeit noch bekommen mögest, dann deine Seele ist nicht lauter vor dem HErrn; deine Seele ist noch mit vielen Finsternissen gefangen. Darum eile! Eile! Ehe der HErr deine Seele wegnimmt. Ich sage: Es liegen Aergernisse vor deinem Herzen, reisse dich los, damit dich der Getreue besuchen und dein Hauß segnen möge. Seprarire dich von dir selbst, das wird dir Nutzen bringen. (Saßte sich wiederum nieder und sprach:) O! wie wird euch das Stillesitzen so nöthig seyn, noch nöthiger das Stillebleiben! Denn das saget der Getreue! Der die Seelen suchet, der die Menschen liebet; Nehmet an meine Liebe, dieweil sie euch angepriesen wird, und verschertzet sich nicht. Dann Ich habe ehemals meinen Saamen in dieses Hauß gesaet, ob sie es schon nicht erkannten, so beginnet es doch jetzt hervor zu grünen und zu blühen, zur Herfürwachsung und Fruchtbringung.

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O! nehmet von dem an, meine Liebe! Von nun an ergebet euch dem HErrn, weil ihr gesuchet werdet; dann der Feind suchet seinen Saamen auch in diesem Haus auszustreuen, Uneinigkeit und Unfriede anzurichten, auf daß dieses Hauß in völlige Verwirrung kommen möchte. O! wachet, liebe Kinder! Wachet! Und nehmet eure himmlische Berufung wohl in acht. Saget ab allen Aergernissen und allen Lüften. Keiner halte mehr seinen Bauch vor seinen GOtt, wie bisher geschehen ist; sondern sterbet ab den Lüsten des Fleisches, die wider die Seele streiten, wollet ihr seelig werden. . . . So will Ich, spricht der Getreue! Diß Hauß, welches Ich angesehen habe, segnen mit Frieden. Ich will das Werk, so angefangen worden, vollführen. Ich will die Werke des Teufels zerstören, und mein Heerlager umher lagern, daß ihr erfahren sollet: Der Herr thue überschwengliche Gnade und Barmherzigkeit, über alle Vernunft, Verstand, Gedanken und Sinnen, Verlangen und Begehren. Wo aber nicht, und ihr kehret dem HErrn den Rücken, und eilet nicht, eure Seele zur Ausbeute davon zu tragen; so ist kein ander Mittel, als Gottesvergessen und Atheisterey, da man weiß, was man thun solle und nicht thut. Und ist, wie ein Hauß auf Sand gegründet, und auf eigene Klugheit oder Vernunft aufgebauet, das vor dem Ungewitter nicht mehr bestehen kan, sondern muß fallen, und thut einen schweren Fall plötzlich. Wo ihr aber euch selbst verleugnet, durch die Gnade, so euch schon beygeleget ist, und beygeleget werden wird auf euer Bitten, siehe! So will Ich euch wohl thun, Güte und Treue beweisen, und ihr sollet erfahren, daß der Herr eure Seelen durch seinen Othem beweget und belebet. Und so werdet ihr in das Bündlein der Lebendigen eingebunden, und als eine Wohnung Gottes in die Himmelsstadt eingeführet werden, als Bürger des Himmels. Darum thut eure Herzen auf, und nehmet an die angebottene Gnade, und leget beyseits das scrupuliren und zweiflen. Die Liebe fordert nichts als ein ihr ergeben, gelassen und folgsam Herz; so werdet ihr im Gehorsam des Glaubens erfahren, daß Geist Wahrheit ist, und den Rath des HErrn annehmen können; aber nehmet gefangen die Ueberlegungen, und gehet in die süsse Stille in eure Herzen. Dann werdet ihr mit ausgespannten Glaubens=Armen euren Freund empfangen und sagen können: Willkomm mein Freund im Herzen! Prüfet und erfahret nachmals: Ob Geist nicht Wahrheit sey? Aussprache vom 14. März 1736: Kommet! Es soll euch ein Brief dictiret werden. Fassets wohl! Das saget der Getreue! Wahrhaftige! Aufrichtigkeit und Wahrheit liebende, welcher ale Falschheit, arge List, Betrug, Ungerechtigkeit, böse Tück, ja alles Böse von Herzen hasset. Ihr sollet, wie ich gethan, eben thun, und sollet dem Uebel nicht widerstreben; sondern das Böse mit gutem Gewissen, als auf den HErrn schauende, trauende und bauende, mit gutem gewissen sollet ihr das Böse ertragen, und um meines Namens willen leiden; euch selber nicht rächen oder selbst helffen wollen; sondern leiden, und eurem guten GOtt, der das Recht liebet und Ungerechtigkeit hasset, eure Sache anbefehlen und stille seyn. Dann Ich will, spricht der Wahrhaftige! Meine Ehre zu rechter Zeit selbst retten, und ihr sollet mir hinten nach sehen. Dann Ich will und werde mich setzen als ein Recht und Gerechtigkeit liebender wahrhaftiger Richter. Ich will vor mein ernstes Gericht fordern Grosse und Kleine, Reiche und Arme, Hohe und Niedere, die Obrigkeiten, die Räthe und Amtleute, die Bediente, Gerichtsleute auch im geringsten Grad, Mann und Weib, Jünglinge und Jungfrauen, Alte mit den Jungen. Und es soll zu solcher Zeit einem jeglichen sein Recht gültig seyn, und alles Unrecht, als in Abgrund gehörend, verurtheilet werden.

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Und es soll einem jeglichen pünctlich vergolten werden, nach den Werken, und nicht nur nach seinen Werken, sondern nach den Früchten derselben. Alsdann werden die Gewissen Zeuge seyn, und der Richter im Gewissen. Alsdann werden sie erblassen, wann alles auf das pünctlichste wird gesucht und gefordert werden. Dann werden sich die Augen mit Geschenke nicht blenden lassen, oder Person ansehen, oder die Augen ob dem Recht zudrücken und dem Unrecht den Lauf lassen. Nein! Ich sage: Alle Angesichter werden blaß seyn; alle werden erzittern, welche das Recht nicht pünctlich mit Sorge, Fleiß, Treue und Mühe Tag und Nacht gehalten haben. Wann dann einem jeglichen nach seinen Werken wird vergolten werden, so werden sie nicht mit gutem Gewissen vor dem Richter alles Fleisches stehen bleiben, sondern er wird sie verdammen, und das Urtheil wird gefället: Ihr seyd zur ewigen Schmach und Schande vorordnet; darum, weil zum Recht sein recht hörend Ohr vorhanden war, und solches ist übersehen worden. Dann will ich beschneiden alles Unrecht. Ich will beschneiden alle Falschheit, Betrug und List, Eigennutz und Eigenssüchtigkeit. Ich will beschneiden Ehebruch und Hurerey, und alle Uneinigkeit. Ich will beschneiden und ans Licht bringen die Heimlichkeiten und böse in der Finsterniß und verborgen gewürkte Werke, und vor Englen und seeligen Seelen darlegen zur ewigen Schmach. Ich will beschneiden die faule Bäuche, die Wollüstler, die das Unrecht wie Wasser in sich gesoffen: sie sollens ausschütten. Es sollen offen seyn die Augen des Herrn und aller Engel, und aller seeligen Geister, uber denen, die das Recht in Ungerechtigkeit und Wermuth verkehren. Sie sollen angeschauet werden, wofür ihnen das Herz (weilen sie die Augen vor dem Recht zugedrückt haben) verschmachten wird. Diß nun soll zur Defension vorgeleget werden, und zwar vor Gericht, daß sie wissen; daß ein Richter alles Fleisches seye, der mit zu Gerichte sitze und recht richte. Dann es ist an diesem Tag die Ehre des Allmächtigen verletzet worden. Darum wird sie der HErr der gerechte Richter selbst suchen, und ihr sollet stille seyn. Es werden die Diebe und Meineydige und Treulose kahl bestehen. Was wird sie helffen eine kurze Zeit gelebt zu haben, und nicht das Recht zur Brustwehr oder Brustschild gehabt zu haben, welches allein im Licht und Gericht bestehen wird? Was wird helffen für den Bauch, Beutel und Madensack zu sorgen, und nicht lauterlich und pur vor die Ehre des Allmächtigen? Es ist ja nur ein Dampf und Spreuerwesen, das ins Feuer gehöret. Es möchte aber heissen: Das ist eigene Rach. Der HErr hats nicht geredet. Daran kehre dich nicht Menschenkind! thue was dir befohlen ist, und legets ihnen vor. Es wird warlich die Zeit kommen, daß sie sagen werden, ob sie es gleich jetzt nicht sagen: Das Recht war und ist auf deiner Seiten; und der Friede, Ruhe, Vergnügen und Freudigkeit, so dir von der Hand des HErrn gegeben war, soll dir zum Zeugniß, und ihnen zum Stachel seyn. Recht wird Recht bleiben. Denn Ich sage: Sie haben angehöret, daß die Ehre GOttes und der Geist des HErrn ist verlästert worden, und haben darzu stille geschwiegen. Darum soll es ihnen zum Zeugniß aufs künftige vorgeleget werden. Welche aber Mißfallen daran gehabt haben, aber still geschwiegen, da sie hätten reden sollen; die sollen doch nicht ohne Strafe bleiben. Auf daß Recht gerichtet werde, Unrecht aber unrecht bleibe. Dann meine Augen sehen in die Gedanken und Herzens=Besinnungen, darnach sollen sie gerichtet werden. Ihr aber seyd leidsam, duldet das Unrecht, Verachtung, Verhöhnung, Verspottung, Verwerffung, Verläumdung, Verlästerung. Erduldets mit gutem Gewissen. Genug, daß Gnade und Wahrheit euer Licht und Schild ist. Ihr müsset gehasset werden, gleich eurem Freund; ihr aber sollet niemand hassen, sondern auch vor eure Feinde bitten.

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Welche aber in sich schlagen, und von nun an sprechen: Wir sollen die Furcht GOttes pur und allein ergreiffen, und den, der mit uns im Gericht sitzet, scheuen, einem jeden sein Recht lassen in Worten und Werken. Und wollen also in wahrer Busse und Verleugnung ihrer selbsten ihren Wandel führen. Solche sollen am Tage des Gerichts Gnade finden; dann es wird die Zeit kommen, daß vollkommen Recht und Gerechtigkeit im Schwang gehe, Friede und Liebe sich küssen, und Treue auf Erden wachse, damit die Liebe Gutes thun könne, wie sie so gerne thut. Dann Ich will Gelegenheit suchen, Gewissens=Rügungen an sie zu bringen, daß sie wissen, mit wem sie es zu thun haben. Ich will, spricht das allsehende Aug, mich nicht blenden lassen. Ich sehe wohl und höre, daß sie oft nicht sehen und hören wollen. Darum muß das Recht nach und nach unter die Bank, und kommt eine Verwüstung nach der andern. Darum häuffen sich die Gerichte und Strafen, und der Zorn des HErrn HErrn [sic] wird gereitzet, heimzusuchen nach und nach ohne Barmherzigkeit. Es seye dann, daß die Landplagen durch Busse, Reue und Leyd, Bitten und Flehen abgewendet werden; dann der HErr läßt sich erbitten. Allein hütet euch, drücket Fremdlinge, Wittwen und Waysen nicht. Liebet nicht falschen Eid, sondern Aufrichtigkeit und Wahrheit. Haltet ob dem Recht, so wird euch der HErr auch euer Recht angedeyen lassen zu seiner Zeit; wo nicht, so höret und bleibet doch unverständig. Sehet, und seyd doch blind. Es sollen doch ein und andern die Augen aufgethan werden, und die, welche der Wahrheit Gehülffen seyn, werden es zu geniessen haben in Zeit und Ewigkeit. Dein Lohn, Menschenkind! sey Haß oder gehasset werden von einem Tag zum andern. Besinnet euch nicht lange, ihr müsset Schlachtschaafe seyn und bleiben, und also dem Lamme nachfolgen. Und wer den HErrn bekennet, der wird wieder bekennet werden; wer aber verleugnet, und das Creutz scheuet, der wird wiederum verleugnet werden, und wird heissen: Weichet von mir, ihr Uebelthäter! Ihr sollet euch gegen die Obrigkeit nicht setzen; der HErr aber hat Macht, ihnen Recht und Unrecht vor Augen zu mahlen, und an ihr Gewissen zu legen: wer wills Ihm wehren? Wehe denen, welche des HErrn Wissen wissen und nicht thun, sie werden doppelte Streiche leiden müssen. O! welch ein nagender Wurm wird im Gewissen quälen ewiglich solche, die nicht mit gutem Gewissen in der Gnade JEsu Christi allhier ihren Wandel geführet haben. Ach, nehmets zu Herzen, der Richter ist vor der Thür! Er prüfet Herzen und Nieren, und ist ein Vergelter nach den Absichten der Herzen. Darum sage Ich euch: Liebet das Recht, und hasset das Unrecht. Dann die Vergeltung ist nahe! Dieses Zeugniß wurde den 15ten Dito, als den andern Tag darauf, sobald das Gericht beysammen war, vom Br. Rock eingegeben, und vom Herrn Regierungs-Rath T. . . welcher den Vorsitz hatte, öffentlich dem ganzen Gericht vorgelesen. Lyrik Einige Reimlein, aufgesetzt unter mancherley Leibes=Schmerzen, Doch GOtt Lob In Friede und Ruhe im Herzen, Von Einem Patienten, Welcher sich zu der Zeit aufhielte zu Reichelsheim in der Wetterau. Im Jahr 1740. Zum Druck befördert Anno 1744. Unser Arzt ist immer munter; Und ich Armer liege/leide hier; Und was geht vor inner mir?

Doch es ist an mir jetzunger, Wie es ja schon lange war. Ach HErr! wann ists einmahl gar?

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GOtt helff dir wohl nach Hauß Mein lieber Bruder Paul! Bey diesem Wetter=Strauß. Zwar bist du sonst nicht faul; Das Alter plaget dich Und mich zugleich der Schmerz. Doch geht der Weg vor sich, GOtt giebt ein stilles Herz. *** 1. Wer am Schöpffer sich verschuldet Fällt den Aerzten in die Hand, Und was er deshalben duldet Ist nicht Ehre, sonder Schand; Doch vor Kinder Züchtigung Allemahl zur Heiligung; Daß sie Unrecht=thun bereuen, Sich vor Ungehorsam scheuen.

5. Mein Gemüth hast du erfüllet, Und dich nah zu mir gethan; Diß hat meinen Schmertz gestillet, Daß ich kindlich sagen kan: Es muß auch zum Besten dienen; Drum bist du mir so erschienen, Daß ich soll recht wachen auf. Und vollenden meinen Lauf.

2. Diß ist jetzt an mir geschehen, Und erfüllet in der That; Hätte ich auf Dich gesehen Und die Leitung deiner Gnad; Ja auf dein Gebot und Recht, Wäre mir unnützen Knecht Noch in meinen Pilger=Jahren Solcher Streich nicht wiederfahren.

7. Deine Hand hat mich gefangen Und gebunden in der That; Zwar war öffters mein Verlangen, Um ein Oertlein, eine Statt, Wo mich könte noch erhohlen, Und thun was Du mir befohlen: Daran hätte nicht gedacht, Daß es würde so gemacht.

3. Ach HErr! Ich darf ja nicht fragen: Warum machst du es also? O! du hast mich lang getragen, Und nie mein recht worden froh: Auf dein Wincken nur zu mercken, Und mich so in dir zu stärken; Daß ich aller Feindes Macht, Könnt entfliehen Tag und Nacht.

8. HErr! Du bist gerecht und richtig, Deine Wege sind gerad; Mache mich zum Glauben tüchtig; Daß ich deinen guten/Creutzes=Pfad, Möge so erkennen lernen, Mich Dir nähern und nicht fernen, Biß ich lerne weißlich gehn, Und/Nur auf Dich in allem/allein zu sehn!

4. Darum hast du dich gerochen An mir, der ich offt dein Feind; Und mit Ernst mein Bein zerbrochen. Eben da ichs nicht gemeynt; Doch darf ich mit Wahrheit sprechen: Es war mir nicht wie ein Rächen, Sondern nur ein Liebes=Streich, Der mein Herzte machte weich.

9. Darf ich sagen: Es ist Liebe Und recht hertzlich gut gemeint? Wann ich mich ja schon betrübe, Oder hab darob geweint; Doch halt ichs vor Liebes=Schläge, Machen munter und nicht träge. Was soll ich nun machen draus? GOtt ist HErr in seinem Hauß.

6. HErr! Du kanst wohl recht verwunden, Und auch heilen nach und nach Es sind zwar betrübte Stunden, Und scheint eine grosse Schmach; Und muß doch zur Ehre dienen Deinem Nahmen, und zum grünen Meiner offt so müden Seel. O! verborgne Lebens=Quell!

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10. Wer will mich darum verdencken, Daß ich so zufrieden bin? Oder darob wollen kräncken? Ich bin ja bald wie dahin. Soll ich in den Schmertzens=Tagen Erst an meinem GOtt verzagen? Nein! Er ist mir viel zu lieb Und zu treu in seinem Trieb. 11. Lieber will die Ruthe küssen, Einem Kinde werden gleich. Und auch Kindes=Recht geniessen; Dann die Ruthe machet weich, Man kan desto besser/stiller schlaffen, Und die Liebe kan da schaffen, Bey recht=ruehen, was Sie will, Wann die Kinder schweigen still. 12. Darum freut euch für Trauren, Ihr Verbundne über mich; Wahre Lieb/Treu muß länger dauren, Als im Schmertz verlieren sich: Glieder müssen in den Proben, Seyn im Haupte/Herzen aufgehoben. Ich hab jetzt und offt gefehlt; Dennoch bin ich nicht entseelt. 13. Sondern hang an meinem/seinem Leibe, Wo das Haupt den Meister spielt; Und so seine/meine Wercke treibe, Auch mit/bey meinem Schmertzens=/ krancken Glied. Will mich jemand davon lencken; Oder auch mit Schläg beschencken, Der wiß: Es sey Kinder=Lauf; Fallen und stehn wieder auf. 14. HErr! Du hast mich offt errettet Und erhöret in der Noth, Und da ich in Angst gebäthet Führetest Du durch den Tod. Ich kan Dir dafür nichts bringen, Als ein Lied zu Ehren singen. Du bleibst in den Nöthen treu,

Das bekenn ich ohne Scheu. *** Hab ichs nicht so gut, Bey der Schmertzens=Glut, Wie die Kinder, die sich freuen Nach der Ruth und nach dem schreyen? Es geht wieder gut; Nach Geschrey und Ruth. *** Hör! mein lieber Fuß Wolt reiten und nicht gehen; Und weil es nun geschehen, So thu dafür jetzt Buß. *** Ich habs Reiten nicht gesuchet; Es kam einmahl ungefehr; Eben also machts der HErr, Beym nicht=Hören wann Er ruffet: Er giebt einen harten Streich; Daß wir hörend werden weich. *** Glaubt nur! mein weiches Hertz, Hat zwar auch Angst und Schmertz; Erhohlt sich aber wieder, So ists, ihr treue Brüder/Glieder Ich geh nicht hinterwerts, Auch jetzt bey meinem Schmertz. *** Ich lieb im Rauch, der Kopf thut wehe, Das Bein hat grosse Schmertzen; Wer nimmt es wohl zu Hertzen? Doch hoffe, was nicht sehe; Halt mich an seine Huld, Und trage meine Schuld. Habt ihr noch was zu melden, Mir arm= und schwachen Helden, Sagt her, ich höre zu, Bey meinem Schmertz und Ruh. *** Solt ich mich rechtfertigen, Oder jemand geben Schuld? Das wär ja nur Ungedult. Weg Vernunfft und Heer der Schlangen! Ich bin jetzt davor verwährt; Besser schmeckt mir meine Fahrt. *** Wer will sich wohl an mir stossen. Und an meinem Schmertzens=Fuß,

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Der da lieget in der Buß? Kanst du salbend nicht liebkosen, So vermehre nicht den Schmertz, Und verwund dazu das Hertz. *** Wilt du mich noch mürber haben? Komm und fang es weißlich an, Zeige wie man heilen kan, Oder die Verwundte laben; Wo nicht, so bleib Kunstler weg: Ich lieg unter meiner Deck; Und laß mir meinen Zeit=Vertreib, Daß lange Weile unterbleib; Daß ich zur wahren Stille komm: So heilt der Fuß’, das Hertz wird fromm. *** Wilt du dieses mir nicht glauben; Komm erfahr es in der That: Wie den Lahmen, Blind und Tauben Ist bereitet früh und spat, Sicherheit, Hülf, Fried ja Gnad. *** Ich mache es auch wie ich will, So habe Schmertz und Leiden: Drum ist das Best ich schweige still, Begeb mich aller Freuden. Ja! spricht Vernunfft, deß must du dich Im Schmertzen wohl begeben; Ja! Aber weiß: Wann hoffe ich; Da ist ein neues Leben. *** Was ist dir nutz an meinem Blut, Der Staub wird dir nicht dancken: Es sey dann, daß du machest gut, Mich G’schlagenen und Krancken. Du richtest ja die Schwachen auf? So fördere auch meinen Lauf! Dafür will ich Dir dancken. J.J.J. Aufrichtige und Wahrhafftige Extracta Aus dem allgemeinen Diario Der wahren Inspirations-Gemeinen. XI. Sammlung, Enthaltend: Einige besondere Oefnungen und Bezeugungen des Geistes des HERRN, An und bey Verschiedenen Orten und Gelegenheiten, insonderheit aber bey einer brüderlichen Unterredung in denen Gemeinen der wahren Inspirations-Gemeinschafft/Geschehen im Jahr 1721 und 1722. Dem Nächsten zum Heil und Leben Nun hier ans Licht gegeben. Der Anhang ist: Joh. Fr. Rocks Tage=Buch auf der zweyten Reyß, Durch Schwaben in die Teutsche und Welsche Schweitz. Im Jahr 1749.

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Meine Klee=Blats=Betrachtung. 1. Das Klee=Blatt eine Wurzel hat, Woraus es ist entsprossen: So ist auch JEsus Gut und Gnad, Woraus mein Geist geflossen. 2. Das Klee=Blat zu der Winter=Zeit Ist durch den Tod gedrungen: So gehets mit mir jederzeit, Wann ich hab wohl gerungen. 3. Das Klee=Blatt in der Frühlings=Zeit Ein Gräßlein ist im Wesen: So fängt auch meine Herzens=Freud In GOtt an zu genesen: 4. Das Klee=Blat wächset weiter fort, Und fänget an zu steigen: Ich will mich zu dem Lebens=Wort Und Geist herzinnigst neigen. 5. Das Klee=Blat zeiget uns zu Hauff, Wie Drey in Eins zusammen: So geht der rechten Kinder=Lauff Ins Heilge DreyEins Amen! 6. Das Kleeblat hat auch seine Blüt, Schmeckt Zucker=süß im Munde: So ist die Dreye GOttes=Güt Recht Zucker=süß im Grunde. 7. Das Kleeblat kommt zur Zeitigung, Das Sämlein fällt zur Erden: In JEsu Tod zur Heiligung Muß ich gepflantzet werden. 8. Das Kleeblat seine Schöne zeigt In Eins zusammen=schiessen. O Heilige DreyEinigkeit! Laß uns zusammen fliessen. 9. Das Kleeblat zeiget in der Zeit, Was Drey in Eins gewesen: Nur in der Dreyen Liebs=Einheit Kan auch mein Geist genesen. 10. Das Kleeblat wächst aus Einem Grund, Doch in dem Drey zusammen: Ach wär mir GOttes=Liebe kund In diesem grossen Nahmen! 11. So ist das Drey Eins in GOtt Von Ewigkeit gewesen, Und bleibet ewig also fort Zum ewigen Genesen. 12. Das Kleeblat aiuf dem Ungrund steht, Der nimmer zu ergrunden; Das Dreymal Heil, Heilig, seht!

Kan man nur also finden. 13. Socinianer! lern daraus, Nimm die Vernunfft gefangen, Und bleibe in Ohnmacht zu Hauß, Wilt du zum Heil gelangen! 14. Ich nahe mich zu diesem Meer, In meine Ruh zu fliessen, Drey Einger Liebes=GOtt und HErr! Zum ewigen geniessen. Vom Viereckigten Klee=Blatt 1. Das vierdte ist der Ueberfluß, So aus DreyEins geflossen, Darinnen steht der Seel Genuß, Woraus ich auch entsprossen. 2. Warum findt man so selten vier? Nur Drey in Eins zusammen? Die Dreyheits=Liebe zeiget hier; Wie klein sey unser Nahmen. 3. Doch wanns nur stehet im Dreyein, So bin ich doch gefunden, Und kan in DreyEins seelig seyn, Ja bleib in GOtt verbunden, 4. Viel tausend, tausend, tausend mahl Wird Drey in Eins gesehen, Gar selten nur ein einigs mahl Sieht man das vierdte stehen. 5. So klein ist unser Menschen Zahl Gegen dem Dreyen Wesen. Ich will nichts mehr als allemahl, Ja ewig drin genesen. Vom Fünfeckigten Klee=Blatt 1. Das Kleeblat in der Fünfften Zahl, Hab ich gefunden auch im Thal. Was deutet aber dieses Blat? Wer weiß, der sag es in der That. 2. Die Zwey und Drey in Eins zusamen, Ist meines JEsu Wunden Zahl. Darum sey GOtt in JEsu Nahm’n Gelobet hoch viel tausendmahl. 3. Das Fünffte Kleeblat deutet schön, Wie JEsu Wunden offen stehn: Ich dancke tausendmahl dafür, Daß sie auch sind geöfnet mir.

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Reisetagebuch J.J.J. Aufrichtige und Wahrhafftige Extracta Aus dem allgemeinen Diario Der wahren Inspirations-Gemeinen. XI. Sammlung, Enthaltend: Einige besondere Oefnungen und Bezeugungen des Geistes des HERRN, An und bey Verschiedenen Orten und Gelegenheiten, insonderheit aber bey einer brüderlichen Unterredung in denen Gemeinen der wahren Inspirations-Gemeinschafft/Geschehen im Jahr 1721 und 1722. Dem Nächsten zum Heil und Leben Nun hier ans Licht gegeben. Der Anhang ist: Joh. Fr. Rocks Tage=Buch auf der zweyten Reyß, Durch Schwaben in die Teutsche und Welsche Schweitz. Im Jahr 1749. Schwartzenau den 5. Julii. Nun heute ich beordert bin Auf Reutlingen zu reisen; Wird JEsus Liebe da Gewinn, Will ich ihn ewig preisen. In JEsu Nahmen fang ich an, Aufs neue frisch zu reisen, GOtt führet recht auf ebner Bahn, Zuletzt wird sichs erweisen. In JEsu Nahmen fahr ich fort In meinem Pilger=Wallen, Von einem biß zum andern Ort, Ach GOtt! laß mich nicht fallen. In JEsu Nahmen soll allein Mein Thun und Lassen gehen, Dabey kan ich gesichert seyn, Es werd in Ihm bestehen. Mel. O wie seelig sind die Seelen &c. JEsus giebt Fried, Ruh und Freuden, Leitet zu den frischen Weyden, Sätiget mit Himmel=Brod, Daß sich kan das Herz erquicken, Und aufs neu zu Leiden schicken. Dir zu Ehren, meinem GOtt. 2. Auf! in JEsu Nahmen wieder, Wachet munter meine Glieder, JEsus Sonne blicke heut, Lasset Liebes=Lieder klingen, thut dem HErrn zu Ehren singen, Der euch wieder neu erfreut. 3. GOtt erfrischet meine Glieder, Stärcket alle Kräfften wieder, Machet munter Hertz und Sinn: Deß erfreu ich mich im HErren, Und erwach zu seinen Ehren, Weil ich noch in Gnaden bin. 4. HErr! ich dancke dir im Frieden, Daß du lässest nicht ermüden Deinen schwachen Pilger hier; Sondern stärckest ihn im hoffen. Machest deine Diebe offen Meinem Hertzen für und für. 5. Solte dieses nicht erfreuen, dich zu lieben den Getreuen; Und zu loben in der That, HErr! ich kan es nicht verschweigen, Dein so gnädigs zu mir Neigen Alle Tag mit neuer Gnad. 6. Meine Seel ist neu erwachet, Da mich JEsus angelachet Und in Glaubens=Munterkeit, Seele dich aufs neu erfreuet; GOtt sey hoch gebenedeyet Biß in alle Ewigkeit. [. . .] Autobiographische Schriften Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. von Ulf-Michael Schneider. Leipzig 1999. Kurtze Erzehlung Vorderst kan nicht unterlassen / die Barmhertzigkeit meines GOttes zu preisen / von deren ich schon etliche Jahr her kräfftig gezogen worden bin / und insonderheit auff meiner Wanderschafft / durch Kranckheiten und allerhand Widerwärtigkeiten: biß ich

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mich endlich willig ergeben / nicht mehr den Lüsten meines Fleisches / sondern dem Willen GOttes zu folgen; da ich dann erst recht erkannt / daß es besser sey / GOtt / als der Sünden / zu dienen. [. . .] Zweyter Aufsatz Des Erniedrigungs=Lauffs Eines Sünders auf ERden [. . .] Nachdem ich im bald 66sten Jahr meines Alters als ein Schwacher und Krancker zum Zeit=Vertreib diese kurzte Erzehlung überlesen in dem Sinn, es lieber auf Seiten zu thun, oder es nur allein meinen lieben Hauß=Brüdern und Schwestern zu überlasssen, so hat es mich im Ueberlesen nicht gereuet, dann wer Augen hat siehet mich Schwachen hierin / aber auch GOttes Güte. Ja! Es ist mir jetzt leyd, daß ich nicht fleißiger bin gewesen, alles besser aufzuzeichnen, damit man sehe, wie schwach ich gewwesen, und wie mächtig sich der HErr in= und durch die Schwachen erweiset, sie im Glauben durch alle Zweiffel=Winde durchführet, erhält, sie stärcket und treu machet biß ans Ende. [. . .] Du wirst gesuchet, lasse dich finden! (Gieng darauf und saßte sich nieder, und wurde weiter ausgesprochen:) Höret, Ihre Edlen! Merket, schreibet auf, vernehmt, gehet in eure Herzen! Ich lasse, spricht der Getreue! Darum auf eine wunderbare Weise meine Stimme erschallen, und zeuge wider Vernunft, daß die Menschen aufschauen, und den Wunderbaren, Wahrhaftigen und Lebendigen suchen mögen. Dann es ist Zeit die Augen aufzuthun, und zu merken, was der Herr will, und wie Er die Menschen suchet aus dem vernünftigen Theil in die seelige Innigkeit zu leiten und zu führen; damit ihre Seelen errettet werden, und erfahren mögen, daß keine Ruhe zu finden seye, als in dem Lebendigen und Wahrhaftigen. (Stund auf, gieng zu dem Hrn. von St., legte ihm die Hand auf die Schulter, und sprach:) Höre, du grosser Mann, wie wirst du noch so klein wie ein kleines Kind werden müssen, wilt du anders in das Reich der Himmelen eingehen, durch die enge Pforte. Darum fange an, alles raisonniren, scrupuliren, disputiren, niederzulegen, und in die göttliche Einfalt einzudringen, so wird deine Seele einen stillen Eingang in das Herz der ewigen Liebe bekommen, und das vorige, so du wider deinen GOTT gethan hst, nicht mehr gedacht werden. (Gieng wiederum zu dem Hrn. von St. Und sprach:) Höre, Stein! Das saget dir die ewige Liebe! Du wirst gesucht; lasse dich finden! Mache dich los von dem, woran deine Seele noch blebet. Siehe! Es ist dir ein Ofen der Läuterung bereitet, wilt du anders ein durchläuterter Stein werden zum Reich GOttes . . . bey Zeit und in der Zeit noch bekommen mögest, dann deine Seele ist nicht lauter vor dem HErrn; deine Seele ist noch mit vielen Finsternissen gefangen. Darum eile! Eile! Ehe der HErr deine Seele wegnimmt. Ich sage: Es liegen Aergernisse vor deinem Herzen, reisse dich los, damit dich der Getreue besuchen und dein Hauß segnen möge. Seprarire dich von dir selbst, das wird dir Nutzen bringen. (Saßte sich wiederum nieder und sprach:) O! wie wird euch das Stillesitzen so nöthig seyn, noch nöthiger das Stillebleiben! Denn das saget der Getreue! Der die Seelen suchet, der die Menschen liebet; Nehmet an meine Liebe, dieweil sie euch angepriesen wird, und verschertzet sich nicht. Dann Ich habe ehemals meinen Saamen in dieses Hauß gesaet, ob sie es schon nicht erkannten, so beginnet es doch jetzt hervor zu grünen und zu blühen, zur Herfürwachsung und Fruchtbringung.

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O! nehmet von dem an, meine Liebe! Von nun an ergebet euch dem HErrn, weil ihr gesuchet werdet; dann der Feind suchet seinen Saamen auch in diesem Haus auszustreuen, Uneinigkeit und Unfriede anzurichten, auf daß dieses Hauß in völlige Verwirrung kommen möchte. O! wachet, liebe Kinder! Wachet! Und nehmet eure himmlische Berufung wohl in acht. Saget ab allen Aergernissen und allen Lüften. Keiner halte mehr seinen Bauch vor seinen GOtt, wie bisher geschehen ist; sondern sterbet ab den Lüsten des Fleisches, die wider die Seele streiten, wollet ihr seelig werden. . . . So will Ich, spricht der Getreue! Diß Hauß, welches Ich angesehen habe, segnen mit Frieden. Ich will das Werk, so angefangen worden, vollführen. Ich will die Werke des Teufels zerstören, und mein Heerlager umher lagern, daß ihr erfahren sollet: Der Herr thue überschwengliche Gnade und Barmherzigkeit, über alle Vernunft, Verstand, Gedanken und Sinnen, Verlangen und Begehren. Wo aber nicht, und ihr kehret dem HErrn den Rücken, und eilet nicht, eure Seele zur Ausbeute davon zu tragen; so ist kein ander Mittel, als Gottesvergessen und Atheisterey, da man weiß, was man thun solle und nicht thut. Und ist, wie ein Hauß auf Sand gegründet, und auf eigene Klugheit oder Vernunft aufgebauet, das vor dem Ungewitter nicht mehr bestehen kan, sondern muß fallen, und thut einen schweren Fall plötzlich. Wo ihr aber euch selbst verleugnet, durch die Gnade, so euch schon beygeleget ist, und beygeleget werden wird auf euer Bitten, siehe! So will Ich euch wohl thun, Güte und Treue beweisen, und ihr sollet erfahren, daß der Herr eure Seelen durch seinen Othem beweget und belebet. Und so werdet ihr in das Bündlein der Lebendigen eingebunden, und als eine Wohnung Gottes in die Himmelsstadt eingeführet werden, als Bürger des Himmels. Darum thut eure Herzen auf, und nehmet an die angebottene Gnade, und leget beyseits das scrupuliren und zweiflen. Die Liebe fordert nichts als ein ihr ergeben, gelassen und folgsam Herz; so werdet ihr im Gehorsam des Glaubens erfahren, daß Geist Wahrheit ist, und den Rath des HErrn annehmen können; aber nehmet gefangen die Ueberlegungen, und gehet in die süsse Stille in eure Herzen. Dann werdet ihr mit ausgespannten Glaubens=Armen euren Freund empfangen und sagen können: Willkomm mein Freund im Herzen! Prüfet und erfahret nachmals: Ob Geist nicht Wahrheit sey? Kommet! Es soll euch ein Brief dictiret werden. Fassets wohl! Das saget der Getreue! Wahrhaftige! Aufrichtigkeit und Wahrheit liebende, welcher ale Falschheit, arge List, Betrug, Ungerechtigkeit, böse Tück, ja alles Böse von Herzen hasset. Ihr sollet, wie ich gethan, eben thun, und sollet dem Uebel nicht widerstreben; sondern das Böse mit gutem Gewissen, als auf den HErrn schauende, trauende und bauende, mit gutem gewissen sollet ihr das Böse ertragen, und um meines Namens willen leiden; euch selber nicht rächen oder selbst helffen wollen; sondern leiden, und eurem guten GOtt, der das Recht liebet und Ungerechtigkeit hasset, eure Sache anbefehlen und stille seyn. Dann Ich will, spricht der Wahrhaftige! Meine Ehre zu rechter Zeit selbst retten, und ihr sollet mir hinten nach sehen. Dann Ich will und werde mich setzen als ein Recht und Gerechtigkeit liebender wahrhaftiger Richter. Ich will vor mein ernstes Gericht fordern Grosse und Kleine, Reiche und Arme, Hohe und Niedere, die Obrigkeiten, die Räthe und Amtleute, die Bediente, Gerichtsleute auch im geringsten Grad, Mann und Weib, Jünglinge und Jungfrauen, Alte mit den Jungen. Und es soll zu solcher Zeit einem jeglichen sein Recht gültig seyn, und alles Unrecht, als in Abgrund gehörend, verurtheilet werden.

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Und es soll einem jeglichen pünctlich vergolten werden, nach den Werken, und nicht nur nach seinen Werken, sondern nach den Früchten derselben. Alsdann werden die Gewissen Zeuge seyn, und der Richter im Gewissen. Alsdann werden sie erblassen, wann alles auf das pünctlichste wird gesucht und gefordert werden. Dann werden sich die Augen mit Geschenke nicht blenden lassen, oder Person ansehen, oder die Augen ob dem Recht zudrücken und dem Unrecht den Lauf lassen. Nein! Ich sage: Alle Angesichter werden blaß seyn; alle werden erzittern, welche das Recht nicht pünctlich mit Sorge, Fleiß, Treue und Mühe Tag und Nacht gehalten haben. Wann dann einem jeglichen nach seinen Werken wird vergolten werden, so werden sie nicht mit gutem Gewissen vor dem Richter alles Fleisches stehen bleiben, sondern er wird sie verdammen, und das Urtheil wird gefället: Ihr seyd zur ewigen Schmach und Schande vorordnet; darum, weil zum Recht sein recht hörend Ohr vorhanden war, und solches ist übersehen worden. Dann will ich beschneiden alles Unrecht. Ich will beschneiden alle Falschheit, Betrug und List, Eigennutz und Eigenssüchtigkeit. Ich will beschneiden Ehebruch und Hurerey, und alle Uneinigkeit. Ich will beschneiden und ans Licht bringen die Heimlichkeiten und böse in der Finsterniß und verborgen gewürkte Werke, und vor Englen und seeligen Seelen darlegen zur ewigen Schmach. Ich will beschneiden die faule Bäuche, die Wollüstler, die das Unrecht wie Wasser in sich gesoffen: sie sollens ausschütten. Es sollen offen seyn die Augen des Herrn und aller Engel, und aller seeligen Geister, uber denen, die das Recht in Ungerechtigkeit und Wermuth verkehren. Sie sollen angeschauet werden, wofür ihnen das Herz (weilen sie die Augen vor dem Recht zugedrückt haben) verschmachten wird. Diß nun soll zur Defension vorgeleget werden, und zwar vor Gericht, daß sie wissen; daß ein Richter alles Fleisches seye, der mit zu Gerichte sitze und recht richte. Dann es ist an diesem Tag die Ehre des Allmächtigen verletzet worden. Darum wird sie der HErr der gerechte Richter selbst suchen, und ihr sollet stille seyn. Es werden die Diebe und Meineydige und Treulose kahl bestehen. Was wird sie helffen eine kurze Zeit gelebt zu haben, und nicht das Recht zur Brustwehr oder Brustschild gehabt zu haben, welches allein im Licht und Gericht bestehen wird? Was wird helffen für den Bauch, Beutel und Madensack zu sorgen, und nicht lauterlich und pur vor die Ehre des Allmächtigen? Es ist ja nur ein Dampf und Spreuerwesen, das ins Feuer gehöret. Es möchte aber heissen: Das ist eigene Rach. Der HErr hats nicht geredet. Daran kehre dich nicht Menschenkind! thue was dir befohlen ist, und legets ihnen vor. Es wird warlich die Zeit kommen, daß sie sagen werden, ob sie es gleich jetzt nicht sagen: Das Recht war und ist auf deiner Seiten; und der Friede, Ruhe, Vergnügen und Freudigkeit, so dir von der Hand des HErrn gegeben war, soll dir zum Zeugniß, und ihnen zum Stachel seyn. Recht wird Recht bleiben. Denn Ich sage: Sie haben angehöret, daß die Ehre GOttes und der Geist des HErrn ist verlästert worden, und haben darzu stille geschwiegen. Darum soll es ihnen zum Zeugniß aufs künftige vorgeleget werden. Welche aber Mißfallen daran gehabt haben, aber still geschwiegen, da sie hätten reden sollen; die sollen doch nicht ohne Strafe bleiben. Auf daß Recht gerichtet werde, Unrecht aber unrecht bleibe. Dann meine Augen sehen in die Gedanken und Herzens=Besinnungen, darnach sollen sie gerichtet werden. Ihr aber seyd leidsam, duldet das Unrecht, Verachtung, Verhöhnung, Verspottung, Verwerffung, Verläumdung, Verlästerung. Erduldets mit gutem Gewissen. Genug, daß Gnade und Wahrheit euer Licht und Schild ist. Ihr müsset gehasset werden, gleich eurem Freund; ihr aber sollet niemand hassen, sondern auch vor eure Feinde bitten.

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Welche aber in sich schlagen, und von nun an sprechen: Wir sollen die Furcht GOttes pur und allein ergreiffen, und den, der mit uns im Gericht sitzet, scheuen, einem jeden sein Recht lassen in Worten und Werken. Und wollen also in wahrer Busse und Verleugnung ihrer selbsten ihren Wandel führen. Solche sollen am Tage des Gerichts Gnade finden; dann es wird die Zeit kommen, daß vollkommen Recht und Gerechtigkeit im Schwang gehe, Friede und Liebe sich küssen, und Treue auf Erden wachse, damit die Liebe Gutes thun könne, wie sie so gerne thut. Dann Ich will Gelegenheit suchen, Gewissens=Rügungen an sie zu bringen, daß sie wissen, mit wem sie es zu thun haben. Ich will, spricht das allsehende Aug, mich nicht blenden lassen. Ich sehe wohl und höre, daß sie oft nicht sehen und hören wollen. Darum muß das Recht nach und nach unter die Bank, und kommt eine Verwüstung nach der andern. Darum häuffen sich die Gerichte und Strafen, und der Zorn des HErrn HErrn [sic] wird gereitzet, heimzusuchen nach und nach ohne Barmherzigkeit. Es seye dann, daß die Landplagen durch Busse, Reue und Leyd, Bitten und Flehen abgewendet werden; dann der HErr läßt sich erbitten. Allein hütet euch, drücket Fremdlinge, Wittwen und Waysen nicht. Liebet nicht falschen Eid, sondern Aufrichtigkeit und Wahrheit. Haltet ob dem Recht, so wird euch der HErr auch euer Recht angedeyen lassen zu seiner Zeit; wo nicht, so höret und bleibet doch unverständig. Sehet, und seyd doch blind. Es sollen doch ein und andern die Augen aufgethan werden, und die, welche der Wahrheit Gehülffen seyn, werden es zu geniessen haben in Zeit und Ewigkeit. Dein Lohn, Menschenkind! sey Haß oder gehasset werden von einem Tag zum andern. Besinnet euch nicht lange, ihr müsset Schlachtschaafe seyn und bleiben, und also dem Lamme nachfolgen. Und wer den HErrn bekennet, der wird wieder bekennet werden; wer aber verleugnet, und das Creutz scheuet, der wird wiederum verleugnet werden, und wird heissen: Weichet von mir, ihr Uebelthäter! Ihr sollet euch gegen die Obrigkeit nicht setzen; der HErr aber hat Macht, ihnen Recht und Unrecht vor Augen zu mahlen, und an ihr Gewissen zu legen: wer wills Ihm wehren? Wehe denen, welche des HErrn Wissen wissen und nicht thun, sie werden doppelte Streiche leiden müssen. O! welch ein nagender Wurm wird im Gewissen quälen ewiglich solche, die nicht mit gutem Gewissen in der Gnade JEsu Christi allhier ihren Wandel geführet haben. Ach, nehmets zu Herzen, der Richter ist vor der Thür! Er prüfet Herzen und Nieren, und ist ein Vergelter nach den Absichten der Herzen. Darum sage Ich euch: Liebet das Recht, und hasset das Unrecht. Dann die Vergeltung ist nahe! Dieses Zeugniß wurde den 15ten Dito, als den andern Tag darauf, sobald das Gericht beysammen war, vom Br. Rock eingegeben, und vom Herrn Regierungs-Rath T. . . welcher den Vorsitz hatte, öffentlich dem ganzen Gericht vorgelesen.

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PIA SCHMID

Herrnhuter Lebensläufe als erziehungshistorische Quelle betrachtet1 Pädagogische Historiographie lebt wie alle Geschichtsschreibung von ihren Quellen und dem theoretischen Zugriff auf sie.2 Mir geht es um eine bestimmte Quelle, die Herrnhuter Lebensläufe, die in den Archiven der Brüderunität in einer für autobiographische Quellen einzigartigen Dichte – es existieren über 30.000 handschriftliche Lebensläufe – überliefert worden sind. Diese Lebensläufe lassen sich ganz unterschiedlich für historische Forschung heranziehen: illustrativ als Belege für die Erfahrungen etwa als Religionsflüchtling, in der Mission, mit Reisen; oder literaturwissenschaftlich als Genre der Erbauungsliteratur, sozialgeschichtlich etwa unter den Kategorien gender oder race, mit der neueren Kulturgeschichte bzw. historischen Anthropologie unter der Perspektive von Frömmigkeitspraktiken.3 Hier sollen die Herrnhuter Lebensläufe als erziehungshistorische Quelle behandelt werden. Mich interessieren sie besonders als Quelle für die Geschichte der Kindheit, genauer: der von der neueren Kulturgeschichte bzw. der historischen Anthropologie inspirierten Kindheitsgeschichte, die nach Wahrnehmungsweisen und Handlungsspielräumen historischer Subjekte fragt. Erziehungs- und besonders kindheits1 Dieser Text stellt die deutschsprachige Fassung dar von Moravian Memoirs as a Source for the History of Education. In: Self, Community, World. Moravian Education in a Transatlantic World. Ed. by Heikki Lempa [u. a.]. Bethlehem 2010, 168–186. 2 Gegenstand der pädagogischen Historiographie ist neben der Wissenschaftsgeschichte die Geschichte von Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen, und dies in zweifacher Hinsicht. Zum einen werden Theorien untersucht, das, was in der Geschichte über Erziehung, Bildung und Sozialisation gedacht wurde, besonders von den so genannten pädagogischen Klassikern. Zum anderen fragt die pädagogische Historiographie nach den vergangenen pädagogischen Praxen. Sie untersucht Institutionen (Familie, Kindergarten, Schule, Universität) und in neuerer Zeit auch informelle Zusammenhänge (Straße, Jugendgruppen), Lebensphasen (Kindheit, Jugend), Berufsgruppen (Lehrer und Lehrerinnen, Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen), einzelne Handlungsfelder (Entstehung der sozialen Arbeit) sowie einzelne und Gruppenbiographien. In diesem zweiten Bereich geht es darum, wie Erziehung, Bildung und Sozialisation „gemacht“ wurden, wie sie beschaffen waren. Pädagogischer Historiographie geht es also um pädagogische Ideengeschichte wie auch um Erziehung als soziales und kulturelles Verhältnis. 3 Ich selbst habe sie als Quelle für die Erforschung von Frauenleben im 18. Jahrhundert sowie von Kinderkultur am Beispiel der Herrnhuter Kindererweckung von 1727 herangezogen und sie als Egodokumente unter der Perspektive von Frömmigkeitspraxis und Selbstreflexion und der der Genese von Subjektivität im Medium religiöser Vergemeinschaftung untersucht.

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historisch liegt das Besondere der Quelle Herrnhuter Lebenslauf, wie zu zeigen ist, darin, Einblick in Praktiken des Umgangs mit Kindern sowie des einzelnen Kindes mit sich selbst zu geben. Nach einer Vorbemerkung zu den Herrnhuter Lebensläufen werde ich zuerst auf Eingangspassagen von Lebensläufen kommen und die Lebensläufe dann daraufhin untersuchen, wie in ihnen brüderische Erziehung einschließlich der Weggabe in Anstalten und weiter die gerade angesprochenen Praktiken thematisiert werden. 2. Die Lebensläufe in der Brüdergemeine Die Lebensläufe verdanken sich dem Umstand, dass seit Anfang der 1750er Jahre von den Mitgliedern der Brüdergemeine erwartet wurde, eine Darstellung ihres „Ganges durch die Zeit“ zu hinterlassen und darin vor allem über ihren Glauben Rechenschaft abzulegen. „Wenn jemand von den Unsrigen aus der Zeit geht“, ist 1786 in einem Lebenslauf zu lesen, „so hören wir so gern, was der Herr unser Heiland an seiner Seele gethan, und mit welcher Geduld u. Gnade u. Weisheit Er ihn durch die Welt geführt hat. Weil nun dieses einem jeden am besten bewußt ist, so haben auch die Nachrichten, die einer von sich selbst hinterläßt, ihren eigenen Segen“.4 Die Lebensläufe wurden entweder selbst verfasst oder von anderen, beispielsweise der Tochter oder einem Mitglied des Chores. Sie konnten ganz knapp ausfallen mit ein bis zwei Seiten oder auf 35 Seiten weit ausholen. Der Bericht über das Leben zwischen der Niederschrift und dem Tod wurde von anderer Hand hinzugefügt. Die Texte endeten stets mit der Beschreibung des Sterbens der betreffenden Person, die auch einmal ausführlicher ausfallen konnte als der eigentliche Lebenslauf. In der Regel wurde in diesem Nachtrag die Freude am bevorstehenden Übergang von der, herrnhutisch gesprochen, unteren in die obere Gemeine bezeugt bzw. allgemeiner gesagt: das richtige Sterben als Teil des richtigen Lebens. Die Lebensläufe wurden beim Begräbnis verlesen und bildeten einen zentralen Bestandteil der Beerdigungsliturgie. Wer einen Lebenslauf zu Papier brachte, hatte also das eigene Ende, vielleicht sogar das eigene Begräbnis vor Augen und formulierte für die hinterbliebene Gemeine einen mehr oder weniger öffentlichen Text. Ein Teil der Lebensläufe, vermutlich die besonders frommer oder prominenter Personen, wurden in die Gemeindiarien bzw. in die Gemeinnachrichten aufgenommen, handgeschriebenen Tagebüchern über das Geschehen in den einzelnen Gemeinden, die unter ihnen zirkulierten und vorgelesen oder auch alleine gelesen wurden. Insofern stellten die Lebensläufe „eine spezielle, rituali-

4 Johann Friedrich Köber (?–1786): Lebenslauf. Nicht eigenhändig. Unitätsarchiv Herrnhut (im Weiteren UA) Gemeinnachrichten 1786, Beilage zur 32ten Woche 1786, 113 f., hier 113.

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sierte Ausdrucksform herrnhutischer Frömmigkeit“5 dar. Sie konstituierten eine bestimmte Kommunikation in der Gemeine bzw. waren innerhalb eines gemeinsamen kommunikativen Feldes angesiedelt.6 Die Lebensläufe bildeten innerhalb der Brüdergemeine ein wichtiges Medium der Vergemeinschaftung. Als Genre stehen die Herrnhutischen Lebensläufe in der Tradition von pietistischer Biographik, von Leichenpredigten wie auch von Exempelgeschichten der Erbauungsliteratur.7 Einen Lebenslauf zu schreiben, stellte in der Herrnhuter Brüdergemeine also eine kulturelle und soziale Praxis dar und geschah innerhalb einer Formtradition (Bernfeld): wer einen Lebenslauf verfasste, kannte andere Lebensläufe und verfügte über Vorstellungen, was in einen Lebenslauf gehört und was nicht. Darin kommt eine „Schreibkultur“ der Brüdergemeine zum Ausdruck, die auf einer „Erzähl- und Redekultur“8 basierte. Dem Schreiben eines Lebenslaufs, autobiographischem Schreiben insgesamt kommt die Funktion zu, das eigene Leben als ein sinnvolles Ganzes darzustellen. Der Sinn eines Lebens erfüllte sich in der Brüdergemeine vor allem darin in „wahrer Connexion“,9 in Beziehung mit dem Heiland zu stehen und zu bleiben. Das Leben sollte unter der Prämisse der Liebe zum Heiland stehen, der Aufgehobenheit in dieser Liebe und, fast genauso bedeutsam, der Aufgehobenheit in der Gemeine. Allerdings, und darum wussten die Herrnhuter Brüder und Schwestern aus eigener Erfahrung, war dieser Sinn immer wieder Gefähr-

5 Dorette Seibert: Charlotte Schleiermacher. Überlegungen zum Lebenslauf der Herrnhuterin am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Resonanzen. Theologische Beiträge. Michael Welker zum 50. Geburtstag. Hg. v. Sigrid Brandt u. Bernd Oberdorf. Wuppertal 1997, 202–221, hier 203. 6 Vgl. Sabine Hose: „Für die Stunde meines Begräbnisses“: Zur kommunikativen Funktion von Lebensgeschichten in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Lêtopis 47, 2000, 80–94 7 Erstmals wurde 1747 ein Lebenslauf bei einem Begräbnis verlesen. Seit 1752 sind handschriftliche Lebensläufe im Archiv der Brüderunität in Herrnhut nachweisbar, seit 1752 finden sich auch Lebensläufe in den Diarien, seit 1755 werden längere (bis acht Seiten) unter der Rubrik personalia mitgeteilt, zu der Zeit noch in der dritten Person. Ab 1757 werden dann im Jüngerhausdiarium, d. h. dem Tagebuch der „Zentrale“ der Brüdergemeine, Lebensläufe in der ersten Person veröffentlicht. Ende des Jahrhunderts als Andresen ihren Lebenslauf verfasste, hatte sich die Ich-Form durchgesetzt. vgl. Hellmut Reichel: Ein Spiegel der Frömmigkeit und des geistlichen Lebens. Zur Geschichte des brüderischen Lebenslaufs. In: Der Brüderbote 464, 1984, 4–7. Zu den Lebensläufen s. a. Irina Modrow: Religiöse Erweckung und Selbstreflexion. Überlegungen zu den Lebensläufen Herrnhuter Schwestern als einem Beispiel pietistischer Selbstdarstellung. In: Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte. Hg. v. Winfried Schulze: Berlin 1996, 121–130; Alexander Lasch: Beschreibungen des Lebens in der Zeit. Zur Kommunikation biographischer Texte in den pietistischen Gemeinschaften der Herrnhuter Brüdergemeine und der Dresdner Diakonissenschwesternschaft im 19. Jahrhundert. Münster 2005; Seibert [s. Anm. 5]; Hose [s. Anm. 6]. 8 Martin Scharfe: „Lebensläufle“. Intentionalität als Realität. Einige Anmerkungen zu pietistischen Biographien. In: Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung. Hg. v. R.W. Brednich [u. a.]. Freiburg 1982, 116–130, hier 119 f. Zur herrnhutischen Rede- und Erzählkultur gehörte auch die soziale Praxis des ‚Sprechens‘ innerhalb der Chöre, auf die ich später ausführlich eingehe. 9 Anna Catharina Eckberg (1735–1754): Lebenslauf. UAH R.22. 117.90, o.S.

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dungen ausgesetzt, die von der ‚Welt‘ oder vom eigenen ‚Ich‘, dem frommen Individuum selbst, ausgehen konnten.10

3. Eingangspassagen Eingangspassagen kommt in autobiographischen Texten eine besondere Bedeutung zu. Sie exponieren in der Regel den Grundton, das Leitmotiv des dargestellten Lebens, in ihnen wird eine Sinndeutung vorgenommen. In der Brüdergemeine stand, um es zu wiederholen, der Sinn des Lebens fest: ein frommes Leben zu führen, was an der Beziehung zum Göttlichen und das heißt angesichts des brüderischen Christozentrismus an der Beziehung zum Heiland gemessen wurde.11 Im wesentlichen finden sich zwei Modi des Anfangs: die mehr oder weniger ausführliche Erwähnung der Eltern12 sowie ihrer Erziehung und die der ersten religiösen Regungen; oft treten beide Modi hintereinander auf, wie bei Anna Dorothea Christoph (1716–1793): „Ich bin geboren den 21ten Merz 1716 in 10 Was die pädagogische Historiographie betrifft, so hat Christine Lost die Lebensläufe daraufhin untersucht, wie in ihnen „das Leben als Lehrtext“ entworfen wurde (vgl. Christine Lost: Das Leben als Lehrtext. Lebensläufe der Herrnhuter Brüdergemeine. Mit einem Geleitwort von Dietrich Meyer und einer Einführung von Ulrich Herrmann. Baltmannsweiler 2006 (Beiheft UnFr 14). Für Egle Becchi stellen sie „paradigmatische Autobiographien in pädagogischer Sicht“ dar; sie diskutiert die Lebensläufe als Genre „im breiten Strom der Bildungsgeschichte“ und sieht ihre doppelte Bedeutung darin, „pädagogisches Instrument und [. . .] pädagogische Form“ zu sein (Egle Becchi: Paradigmatische Autobiografien in pädagogischer Sicht. In: UnFr 57/58, 2006, 1–16, hier 8). Ich selbst habe versucht, die Thematisierung von Selbstzweifeln und Selbstgewissheit in den Lebensläufen unter der Perspektive der Genese von Subjektivität im Medium religiöser Vergemeinschaftung zu diskutieren (Vgl. „wie glücklich man sey, wenn man sich dem Heiland ganz ergebe“. Selbstzweifel und Selbstgewissheit in Herrnhuter Lebensläufen des 18. Jahrhunderts. Zur Genese von Subjektivität im Medium religiöser Vergemeinschaftung. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. 2 Bde. Halle 2009. Bd. 1, 305–324) und sie als Genre der Ego-Dokumente untersucht (vgl. Frömmigkeitspraxis und Selbstreflexion. Lebensläufe von Frauen der Herrnhuter Brüdergemeine aus dem 18. Jahrhundert. In: Der Bildungsgang des Subjekts. Bildungstheoretische Analysen. Hg. v. Sonja Häder in Kooperation mit Heinz-Elmar Tenorth. Weinheim, Basel 2004, 48–57). 11 Für diesen Beitrag habe ich 88 Lebensläufe von Herrnhuterinnen und Herrnhutern aus dem 18. Jahrhundert herangezogen, von denen einige bis ins 19. Jahrhundert reichen. Die Kindheit aller Personen lag im 18. Jahrhundert. 64 Lebensläufe sind handschriftlich, 24 wurden in den Nachrichten aus der Brüdergemeine abgedruckt. 37 Lebensläufe wurden von Frauen verfasst, die im 18. Jahrhundert in Frankfurt am Main geboren wurden, 24 von Personen, die in der Herrnhuter Kindererwekkung vom August 1727 direkt beteiligt waren oder in deren Kontext Erwähnung fanden. Zusätzlich habe ich die Lebensläufe von Benigna von Watteville, ihrem Ehemann Johannes von Watteville und deren vier Kindern herangezogen. Die übrigen Lebensläufe haben das gemeinsame Merkmal, alle in den Gemeinnachrichten publiziert worden zu sein. 12 Bei Adligen wird die Herkunft und Standesposition von Vater und Mutter meist ausführlich angeführt, bei Bürgerlichen ggf. auf berufliche oder obrigkeitliche Funktionen des Vaters oder auf fromme Genealogien verwiesen.

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Großhennersdorf. Mein Vater war Johann Neumann, und meine Mutter Maria Herbergerin. Meine lieben Eltern suchten mich sorgfältig zu erziehen und vor allem bösen zu bewahren, sie liebten das Gute, und nach ihrer Erkenntniß, auch den Heiland.“ Wie sie schrieb, erzogen sie ihre Eltern, die übrigens wie fast immer in den Lebensläufen des 18. Jahrhunderts als liebe Eltern eingeführt werden, durchaus fromm, aber eben nur so gut sie konnten, ‚nach ihrer‘, zu ergänzen wäre, nicht der brüderischen ‚Erkenntnis‘. „In meinem 11ten Jahre“, fuhr sie fort, „wurde ich kräftig vom lieben Heiland angefaßt, und war als ein Kind sehr selig, bezeugte auch gegen andere Kinder wie lieb uns der Herr Jesus hätte, so daß er sein Blut für uns vergossen habe.“13 Der fromme Grundtenor konnte auch szenisch belegt werden mit dem Hinweis, in der frühen Kindheit schon Bewahrung in gefährlichen Situationen, sei es Ertrinken, ein Sturz vom Wagen oder gar ein Wolf, erfahren zu haben. So fängt der Lebenslauf von Anna Elisabeth Layritz (1718–1764) mit der ausführlichen Schilderung ihrer Rettung als Säugling bei einem Stadtbrand an, in der „sich die außerordentliche Vorsehung Gottes“ bewiesen habe. „So liebreich“, heißt es resümierend, „wie der gute Schöpfer über die Erhaltung ihrer Hütte [d. h. Körper, d. Vf.n] gewacht hatte, so sorgfältig und zärtlich bewieß er sich auch in der Bewahrung ihrer Seele“.14 Die besondere Nähe zu Gott, auf die 13 Anna Dorothea Christoph, geb. Neumann (1716–1793): Lebenslauf. Eigenhändig UA R.22.81.16, o.S. Ein vergleichbarer, nur ausführlicherer Anfang findet sich bei Georg Heinrich Müller (1794– 1823): „Ich bin geboren den 31sten May 1794 zu Groß-Erkmannsdorf bey Radeberg in Sachsen. Meine Eltern erzogen mich nach ihrer Erkenntniß zur Gottesfurcht. Ich wurde angehalten , pünktlich in die Kirche zu gehen, und musste des Sonntags auch noch eine Predigt zu Hause lesen; dessen ich aber oft so satt wurde, daß ich gern mit meinen Gespielen, die sich inzwischen auf ihre Weise vergnügten getauscht hätte. [. . .]. Sie hielten mich also zu allem Guten an, in so fern sie es selbst kannten. Eine erfahrungsmäßige Kenntniß von dem Heil in Christo hatten sie wol nicht“ (Georg Heinrich Müller [1794–1823]: Lebenslauf. Eigenhändig. Gemeinnachrichten 1825, 149–157, hier 149). Auch diese Eltern erzogen fromm, aber eben nur so gut sie es wussten, eine Aussage, die häufig bei den Gemeinegliedern auftaucht, die nicht in der Brüdergemeine geboren bzw. aufgewachsen waren. 14 Anna Elisabeth Layritz, geb. Günther (1718–1764): Lebenslauf. Nicht eigenhändig. UA R.22.02.a.140, o.S. Hier die vollständige Eingangserzählung: „Bald in ihrer zartesten Kindheit bewieß sich über ihr eine außerordentliche Vorsehung Gottes. Es entstund nemlich am Johannistage eine große Feuersbrunst in besagter Stadt, davon auch ihr Elternhaus mit angegriffen wurde. Ihre Eltern, Bruder und Wärterin hatten sich alle aus dem brennenden Hause retirirt; das halbjährige Kind lag aber noch in der Wiege und ward vergessen. Ein naher Anverwandter wagte sich doch hinein, und rettete das Kind aus einer Kammer, durch deren Thüre eben das Feuer schon hinein schlug. Er trug es in einem andren Hause, in einer von dem Feuer ziemlich entfernten Gasse, und legte es auf ein Bette. Das Kind wurde aber bald von mehreren drauf geworfenen Betten bedeckt, und in dem 3tägigen Brand so vergessen, daß die Mutter nichts andres vermuthete, als ihr Töchterlein sey mit verbrannt. Nach Verlauf von 3 Tagen begegnete sie endlich obgedachtem Anverwandtem, und lamentirte über ihr Kind gar kläglich, hörte aber alsdann von ihm, daß er es gerettet, und wohin er es getragen habe. Als sie nun hinlief, und die noch darauf liegenden Betten herunter nahm, fanden sie ihr kleines Kind gesund und wohl, welches sie auch gar freundlich anlächelte. So liebreich wie der gute Schöpfer über die Erhaltung ihrer Hütte [d. h. Körper, d. Vf.n] gewacht

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hier angespielt wird, lässt sich als Hinweis auf eine Auserwähltheit von Kindheit an lesen. 4. Erziehung in der Brüdergemeine Die (Anstalts)Erziehung in der Brüdergemeine, sei es in den Pädagogien, den Kinderanstalten oder den Chören, wird in den Lebensläufen, abgesehen von knappen Erwähnungen lieber Arbeiter oder Arbeiterinnen, also der für Seelsorge und Unterricht zuständigen Personen, oder von erbaulichem Singen oder Geschichtenerzählen, kaum explizit oder gar ausführlich dargestellt. Aber es finden sich doch Hinweise. Moritz Christian Friedrich von Schweinitz (1739–1822), später als Architekt für die Brüdergemeine tätig, war neunjährig an das Pädagogium in Neusalz gekommen. Seine „Abneigung gegen die damalige Erziehungs=Methode (nahm) dergestalt zu“, dass er mit einem Vetter ausmachte, so bald als möglich „den Ort zu verlassen“, so Schweinitz, „wo unserm Streben nach Freyheit die drückendsten Fesseln angelegt wurden“.15 Worin diese Erziehungsmethoden bestanden, wie die Fesseln aussahen, dazu ist nichts Genaueres zu erfahren, aber ich vermute, dass die Adressaten der Lebensläufe, Mitglieder der Brüdergemeine, wussten, wovon die Rede war. Anna Schulius (1743–1827), die später in unterschiedlichen Funktionen erzieherisch in der Brüdergemeine arbeitete, wurde etwas deutlicher. Sie war mit sieben Jahren in die Herrnhuter Mädchenanstalt gekommen, wo sie mit ihren „Gespielinnen noch fünf vergnügte selige Kinderjahre“ verbracht habe. Aber im nächsten Satz hielt sie fest: „Wenn man aber die damalige Erziehungsmethode gegen die Jetzige betrachtet, so muß man bekennen: sie war streng, ernsthaft, und, wie man sagt, gesetzlich; kleine Vergehen wurden oft über ihren Werth bestraft, und von Zerstreuungen oder äußerlichen Vergnügungen wußten wir wenig oder nichts. Man verstand es nicht besser.“16 Als sie dies zu hatte, so sorgfältig und zärtlich bewieß er sich auch in der Bewahrung ihrer Seele.“ Die Bewahrung kann auch andere Formen annehmen, wie dem Lebenslauf von Johanna Sophia Molther, geb. von Seidewitz (1718–1801) zu entnehmen ist: „Von meinen zartesten Kinderjahren ist mir noch erinnerlich, daß ich gern in der Leidensgeschichte Jesu lesen hörte, auch dabei, besonders in der Passionszeit, oft sehr bewegt wurde, und eine kindliche Liebe zum Heiland in meinem Herzen fühlte. Wegen meiner lebhaften u. aufgeräumten Gemüthsart, wurde ich vorzüglich geliebt, auch oft von Freunden in meiner Gegenwart gelobt welches meinen Hochmuth u. Eigenliebe frühzeitig vermehrte, daß mein ganzes Bestreben dahin ging, mich durch anständiges Betragen gegen jedermann, noch mehr hervor zu thun und gefällig zu machen. Mein treuer Heiland hatte aber Friedensgedanken über mich“ (Johanna Sophia Molther, geb. von Seidewitz [1718–1801]: Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.79.Schw. M-Sch, 4, o.S.) Die Bewahrung, hier nicht vor äußeren Gefahren, sondern vor Selbstgefälligkeit, davor, ein „Weltkind“ zu werden, bestand darin, dass ihre Eltern verarmten und sie mit acht Jahren in die Berthelsdorfer Mädchenanstalt, also zur Brüdergemeine kam. 15 Moritz Christian Friedrich von Schweinitz (1739–1822): Lebenslauf. Eigenhändig. Gemeinnachrichten 1823, 154–168, hier 155. 16 Anna Schulius, verh. Stegmann (1743–1827): Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.84.33, o.S.

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Papier brachte, verstand man es wohl schon besser, hatten doch mit Paul Eugen Layritz’ „Betrachtungen über eine verständige und christliche Erziehung der Kinder“17 philanthropische Ideen in die brüderische Erziehungstheorie Eingang gefunden.18 Ob sich die in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Anstalten der Brüdergemeine erzogenen Kinder im Allgemeinen hart, ja ungerecht behandelt fanden, lässt sich nicht sagen. Schweinitz könnte als Adliger und Amtsträger der Brüdergemeine das nötige Selbstbewusstsein gehabt haben, um eine derartige Kritik zu formulieren, zumal sie darin eine Relativierung fand, dass er den Plan, zum Militär zu gehen, nicht umsetzte, im Unterschied zu seinem Vetter, der bald auf einem Feldzug tödlich verletzt wurde. Insofern bleibt seine Kritik letztlich in die Erzählung einer Bewahrung eingebettet. Die kritischen Anmerkungen von Schulius mögen darauf zurückzuführen sein, dass sie sich durch ihre eigene Tätigkeit als Lehrerin und Erzieherin, die ihr am Herzen gelegen zu haben scheint, dazu legitimiert fand. Auf einen Aspekt der brüderischen Anstaltserziehung möchte ich noch kommen: auf die zum Teil sehr frühe Weggabe der Kinder, die sicher nicht ohne Auswirkung auf die Kinder und späteren Erwachsenen blieb. Die Herrnhuter Lebensläufe gehören zu den ganz raren Quellen, in denen sich diese verbreitete Praxis – Kinder wurden z. B. nach dem Tod eines Elternteils nicht selten zu Verwandten oder Bekannten gegeben – dokumentiert findet und die unter dieser Fragestellung noch systematisch zu erforschen wären. Zwar kamen manche Kinder auf eigenen Wunsch, ja eigene Initiative in die Kinderanstalten,19 auch gibt es Belege, dass Kinder, deren Eltern in der gleichen 17 Paul Eugen Layritz: Betrachtungen über eine verständige und christliche Erziehung der Kinder. Barby 1776. 18 Für einen milderen Umgang mit Zöglingen sprechen folgende Charakterisierungen im Catalogus der Herrnhuter Knäbgen-Anstalt aus dem Jahr 1765: „Ist sehr activer Art, Arbeitsam, Fladderhaft, besizt Fähigkeit zum Zeichnen. Ist in Sprachen ganz zurück, sonst grade u. lenksam“ oder „in seinen Handlungen ist er sehr unüberlegt u. präcipitant. Wenn er mit Verstand behandelt wird nicht durchsetzig, sondern freiherzig u. grade“. Zu den Erziehungsmaximen heißt es: „Hauptsächlich wird mit dahin gesehen ihre Gemüther durch unvorsichtige Behandlung ia nicht zu deprimiren; im Gegentheil aber auch allem ungeziemend freyen und frechen nach Möglichkeit Einhalt zu thun, so daß indes so viel an uns ist den gemeinmäßigen Kinder-Character nach allen Theilen conservirn und dazu angeleitet werde.“ (Catalogus der Knäbgen-Anstalt in Herrnhuth den 1ten May 1765. UA R.4B.Va. No 7.3) Mit der ‚unvorsichtigen Behandlung‘, die die Gemüter des Zöglinge ‚deprimiere‘, könnte auf die oben kritisierten harten Erziehungsmethoden angespielt worden sein. 19 Elisabeth Ernestine Fassius (1736–1781), war als Säugling mit ihren Eltern nach Marienborn gekommen, und berichtete, sie hatte zuerst ihre Mutter, dann den Vater verloren, von ihrem „senliche[n] Verlangen unter den Kindern auf dem Herrnhaag zu wohnen, der Trieb dahin wurde so stark, daß mir ofte war, als sollte ich eilen, bald dahin zu kommen. Deswegen bat ich den sel. Herrn Grafen von Zinzendorf um die Erlaubniß dazu, und erhielt sie auch. Ich zog Anno 1748 auf den Herrnhaag ins Mädgen-Hauß, und war sehr dankbar und vergnügt darüber“. (Elisabeth Ernestine Fassius [1736–1781]: Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.62.89, o.S.) Für sie als Waise scheint die Kinderanstalt attraktiv gewesen zu sein, und sie betrieb ja auch aktiv ihre Aufnahme in das Mädchenhaus.

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Gemeine lebten, gerne in den Anstalten waren.20 Aber ein Teil der Zöglinge, vielleicht sogar der größere Teil, wurde von den Eltern in die Anstalten gegeben, dies zum Teil sehr früh, vermutlich oft kurz nach der Entwöhnung. Wie wir von der Entwicklungspsychologie wissen, dürfte das für die seelische Entwicklung der Betroffenen in aller Regel ein tiefer, nicht verstehbarer Lebenseinschnitt gewesen sein, eine Verlusterfahrung. Die Notwendigkeit, die eigenen Kinder wegzugeben, ergab sich, wenn die Eltern in andere Orte oder in die Mission entsandt wurden. Da hätten kleine Kinder nur gestört. Wir wissen nicht, wie diese Kinder die frühe Weggabe erlebten oder was sie für ihr weiteres Leben bedeutete, aber Andeutungen dazu finden sich. Ich möchte dem am Lebenslauf von Anna Dorothea Elisabeth von Schweiniz (1754–1813), einer Enkelin Zinzendorfs, nachgehen. „Schon von meiner Geburt“, schrieb sie, „weihten mich meine lieben Eltern ganz dem Heiland zu seinem Eigenthum. Da aber ihre Lage und Dienst bey der Gemeine und ihre vielen Pilgerschaften ihnen die eigene Erziehung ihrer Kinder unmöglich machten, so gaben sie mich schon im Jahre 1755 den 22ten May in die damals so schön blühende Mädchenanstalt, wo ich allerdings die besondere Pflege einer treuen Wärterin zu genießen hatte, und mich noch jetzt mit dem innigsten Dank alles des Guten erinnere, was ich über 14 Jahre in diesem lieben Hause für Leib und Seele genossen habe“.21 Ihre Eltern mussten sie, so die Fünfzigjährige im Rückblick, weggeben. Der Dienst am Heiland hatte Vorrang vor der Erziehung, eigentlich der Sorge um die eigene Tochter. Gleichwohl lassen sich Details dieser Passage als Einwände lesen: sie schrieb ja, dass sie schon früh weggegeben worden sei, allerdings eine treue Wärterin gehabt habe, genauer: die besondere Pflege einer treuen Wärterin zu genießen gehabt habe. Diese Passivkonstruktion könnte markieren, dass mit ihr schon früh, ja zu früh etwas geschehen sei, sie allerdings, was auf einen Gegensatz verweist, insofern Glück hatte, als sie einer aufmerksamen und zugewandten Person übergeben wurde. Um auf meine Frage nach Erleben und Folgen der frühen Weggabe zurückzukommen, so wird das davon abgehangen haben, ob das betroffene Kind

20 Anna Elisabeth Enderlein (1745–1786) kam mit ihrem Eltern im Altern von vier Jahren nach Neusalz und dort „so gleich in die Anstalt, wo ich mich“, so Enderlein, „auch bald eingewohnte, ich mußte aber bald wieder zu meinen Eltern ziehen, weil ich sehr krank wurde, daß man meinen Heimgang [befürchtete]. [. . .] Als ich wieder gesund worden war, zog ich zu meinem großen Vergnügen wieder in die Anstalt. Was ich da manchmal für eine unaussprechliche Nähe des l. Heilands in meinem Herzen gefühlt, kann ich nicht beschreiben, so daß ich (. . .) wohl noch in der Ewigkeit ihm dafür danken werde, daß ich das Glück gehabt, meine Zeit in der Gemeine als ein seliges Kind zu verbringen.“ (Anna Elisabeth Enderlein, geb. Förster [1745–1786]: Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.62.83, o.S.) Enderlein erinnerte sich ausgesprochen gerne an die Kinderanstalten, vielleicht auch, weil ihre Eltern in Reichweite geblieben zu sein scheinen, sonst hätten sie sie während ihrer Krankheit nicht pflegen können. Trotzdem scheint es sie danach wieder in die Kinderanstalt gezogen zu haben. 21 Anna Dorothea Elisabeth von Schweiniz, geb. von Watteville (1754–1813): Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.79.37, o.S. Hervorhebungen von d.Vf.n.

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bedeutsame Dritte fand, Menschen, zu denen es eine enge Beziehung entwickeln konnte. Die Wärterin der kleinen Anna Dorothea Elisabeth von Schweiniz scheint solch ein Mensch gewesen zu sein, und sie traf auf weitere in ihrer Kindheit und Jugend.22 Vielleicht lag es daran, dass sie als Erinnerung festhalten konnte: „Meine Kinderjahre verbrachte ich glücklich und vergnügt, und weiß mich wenig trüber Stunden zu erinnern, ich hatte gern lieb, und wurde auch von meinen Gespielen wieder geliebt“.23 Ihre Eltern scheint sie so gut wie nie gesehen zu haben, zumindest berichtete sie, außer zwei Hinweisen, ihre Eltern mit 17, dann wieder mit 24 Jahren gesehen zu haben, nur von einer einzigen Begegnung mit ihrem Vater, und zwar folgendes: „Im Jahr 1765 wurde ich durch eine sehr ernstliche Unterredung mit meinem lieben Vater, in dem er sich unter anderm sehr nachdrücklich der Worte bediente: Wüßte ich meine Tochter, daß du nicht vor den Heiland gedeihen wolltest, so wünschte ich du gingest auf der Stelle heim; zu einem nach meiner damaligen Einsicht gründlichen Nachdenken über mich veranlaßt, und ich übergab mich dem Heiland ganz aufs neue unter vielen Thränen.“24 „Heimgehen“ bedeutet in brüderischer Diktion „Sterben“, und in der Herrnhuter Theologie markiert das Sterben den Übergang von der unteren in die obere Gemeine, wo sich die Seele mit dem Heiland vereinigt. Nichts desto trotz wurde in dem Lebenslauf eine harte Szene festgehalten: vom eigenen kaum jemals gesehenen Vater zu hören, es wäre ihm lieber, dass man in der oberen Gemeine wäre als nicht so fromm, wie er es für richtig erachtete, auch wenn dies in eine geläuterte Beziehung zum Heiland geführt haben mag. Explizite Hinweise, dass die Schreiberinnen oder Schreiber mit der frühen Weggabe gehadert oder auch nur, dass die Eltern ihnen gefehlt hätten, habe ich nicht gefunden. Das mag daran liegen, dass sie es hinnahmen bzw. hinnehmen mussten. Hader oder gar Kritik verboten sich ja auch deshalb, weil die Eltern nicht aus freien Stücken, sondern im Dienst der Brüdergemeine, und das hieß: des Heilands so gehandelt hatten. Dagegen ließ sich als Mitglied der Brüdergemeine nicht ernstlich etwas einwenden. Hinzu kam, dass Eltern in aller Regel jeglicher Kritik enthoben waren, das vierte Gebot sorgte bis weit in das 20. Jahrhundert hinein dafür. Anna Dorothea Elisabeth von Schweiniz verstand ihr Leben rückblickend als eines, in dem ihr „das Glück“ widerfahren sei, „an der Hand des Heilandes und in der Pflege der Gemeine einen egalen ruhigen Gang durch dieses Leben zu gehen“,25 im Grundton zeugt ihr Lebenslauf, trotz gelegentlichem Sünderbewusstsein, von Zufriedenheit, ja Munterkeit. So 22 Zwei Verwandte erwähnte sie namentlich: eine Tante von Watteville, von der sie „wahre mütterliche Liebe und Vorsorge [. . .] genossen“ habe. Nach deren Heirat „ließ [sie] der Heiland“, wie sie schrieb, „in der Mariannel von Watteville wieder eine treue Freundin finden“ (Schweiniz [s. Anm. 21], o.S.). 23 Schweiniz [s. Anm. 21], o.S. 24 Schweiniz [s. Anm. 21], o.S 25 Schweiniz [s. Anm. 21], o.S.

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wie ihr der Heiland immer wieder vergab, war es ihr ja auch gelungen, ‚zu lieben und geliebt zu werden‘, wie sie vermerkt hatte. Wie es gewesen sein mag, wenn dies nicht gelang, etwa wenn ein Kind kränklich war oder von einer Anstalt in die andere gegeben wurde bzw. umziehen musste, vor allem, wenn sich keine bedeutsamen Dritten fanden, lässt sich nur vermuten.26 5. Frömmigkeitspraktiken Im Weiteren geht es darum, was den Lebensläufen an Frömmigkeitspraktiken zu entnehmen ist. Dabei unterscheide ich zwischen Praktiken im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, und Praktiken des einzelnen Kindes oder Jugendlichen mit sich selbst. Diese erinnerten Praktiken befrage ich auf Handlungsspielräume von Kindern und Jugendlichen in der Brüdergemeine hin und diskutiere sie abschließend als Technologien des Selbst. Praktiken im Umgang mit Kindern Von Zinzendorf wissen wir, dass er immer wieder mit Kindern und Jugendlichen seelsorgerische Unterredungen führte.27 In mehreren Lebensläufen fin26 Die nicht eigenhändigen Lebensläufe der beiden Geschwister Anna Elisabeth (1744–1785) und Christian Ludwig Lachenall (1753–1801) sind in diesem Zusammenhang von Interesse. Die Eltern, Werner Lachenall, Arzt aus Basel, und Charlotta Henrietta Erdmuth von Seydewitz, die als Kind in das Berthelsdorfer Fräuleinstift gekommen war, waren 1743 auf dem Herrnhaag getraut worden, die Kinder waren also in der Brüdergemeine geboren und aufgewachsen. Anna Elisabeth Lachenall, in Marienborn geboren, erkrankte als Kind schwer, wurde von ihrem Vater, der sie, wie es heißt, „lieb hatte“ gepflegt, doch behielt sie einen gelähmten Arm und eine Nervenschwäche. Mit fünf Jahren, die Gründe werden nicht genannt, kam sie in die Lindheimer Kinderanstalt und mit deren Umzug ein Jahr darauf nach Herrnhut. Von der etwa 20jährigen heißt es: „Da aber ihre Nerven je länger je schwächer wurden, sodaß auch ihr Verstand dabey sehr litte, und durch allerley verkehrte Phantasien benebelt wurde, so konnte sie das heilige Abendmahl nicht mehr genießen und mußte von da an mit außerordentlicher Geduld und Mitleiden behandelt werden. So lange als möglich hielt sie sich unter den Mädgen auf; dann aber wurde sie beständige Einwohnerin der Krankenanstalt.“ Mit 25 Jahren kommt sie ins Schwesternhaus „und wurde als eine Kranke nach Gemüth und Hütte so gut als möglich gepflegt“. Auch wenn sie „als ein Object des Mitleidens durchgängig geliebt [wurde], und man [. . .] ihr gerne alles aus dem Plaz [räumte], was ihr Gelegenheit zu Mißvergnügen geben konnte“, blieb sie vom Abendmahl, der wichtigsten Vergemeinschaftung in der Brüdergemeine, fast durchgängig ausgeschlossen. Sie war psychisch krank. Ihr Bruder Christian Ludwig, in Marienborn geboren, wurde „früh“, eine Jahreszahl wird nicht genannt, in die Großhennersdorfer Unitätsknäbgenanstalt gegeben. Auch hier wird kein Grund für die Weggabe genannt. Er führte als Apotheker zwar ein ‚normales‘ Leben, wurde aber als „ein schüchterner, schweigsamer Mensch“ beschrieben, „über dessen Leben man wenig sagen“ könne. Beides, die psychische Erkrankung der Schwester und die Schüchternheit, vielleicht Schwermut des Bruders könnten eine Folge der frühen Weggabe gewesen sein. (Anna Elisabeth Lachenall [1744–1785]: Lebenslauf. Nicht eigenhändig. UA R.22.63.71, o.S.; Christian Ludwig Lachenenall [1753–1801]: Lebenslauf. Nicht eigenhändig. UA R.22.108.123, o.S.) 27 Unter dem Titel Sammlung Einiger von dem Ordinario Fratrum während seines Aufenthalts in den

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den solche Unterredungen Erwähnung als eine Art biographische Schlüsselerlebnisse, wobei die herausgehobene Stellung Zinzendorfs in der Brüdergemeine diese Wirkung sicher befördert hat. Zinzendorfs Enkelin, die oben im Zusammenhang mit der Weggabe von Kindern erwähnte Anna Dorothea Elisabeth von Schweiniz (1754–1813) erinnerte sich, wie der Großvater sie an ihrem sechsten Geburtstag „allein zu sich nahm, und“, wie sie schrieb, „auf eine mir unvergeßliche liebreiche väterliche Art sich mit mir unterhielt, mir [. . .] bewies, wie glücklich man sey, wenn man sich dem Heiland ganz ergebe, und ich mußte ihm mit meinen Handschlag versprechen, auch mein Herz dem Heiland ganz hinzugeben, worauf er über mich betete, und mich mit Handauflegen einsegnete, unter einem mir unvergeßlichen Gefühl“; in der Erinnerung wurde dieser Tag zu ihrem ersten „ganz besonders ausgezeichneten Segenstag“.28 Während Schweiniz eine ruhige, wohltuende Erfahrung festhielt, brachte Johanna Sophia Molther, eine geborene von Seidewitz (1718–1801), eine eher aufrüttelnde zu Papier. Sie war seit einem reichlichen Jahr im Berthelsdorfer Fräuleinstift, wo sie sich eingestandenermaßen mit dem „zurückgezogene[n], stille[n] Leben“ schwer tat, als Zinzendorf bei einer der „wöchentlichen Kinderstunden, die jedoch“, wie sie schrieb, „anfangs mit Gleichgültigkeit angehört wurden“, derart eindringlich sprach, dass seine „Worte [. . .] uns so mächtig zu Herzen drangen, daß wir alle in Thränen zerfloßen. Von dem Tag an wurde ich um meine Seligkeit bekümmert, weinte u. betete oft in der Stille zu dem Heiland, daß er mich zu einem Ihm wohlgefälligen Kinde machen wolle.“29 Auch wenn die Wirkung auf die Kinder je unterschiedlich beschrieben wurde - hier eine beschauliche Aufgehobenheit in der Liebe des Großvaters, dort eine eher dramatische Szene mit Tränen - ist das Ergebnis insofern gleich, als die Kinder, herrnhutisch gesprochen, „in connexion mit dem Heiland“ kommen. Von außen betrachtet, adaptierten sie erfolgreich die Frömmigkeitsstandards der Lebensgemeinschaft, in der es, wie oben gesagt, das Wichtigste im Leben darstellte, in „wahrer connexion“ mit dem Heiland zu sein und zu bleiben. Dass Zinzendorf persönlich mit den Kindern umging, bildete die Ausnahme. Im brüderischen Alltag waren für die seelsorgerischen Belange der Kinder spe-

Teutschen Gemeinen von Anno 1755 bis 1757 gehaltenen Kinder=Reden (Barby 1758) wurde ein Teil dieser Unterredungen veröffentlicht. 28 Schweiniz [s. Anm. 21], o.S. Diese Passage über die „liebreiche väterliche Art“ ihres Großvaters, der sie mit dem Handschlag auch Ernst nahm, steht unmittelbar vor der oben angeführten einzigen erzählenden Passage über ihren Vater Johannes von Watteville, in der dieser ihr sagte, es sei ihm lieber sie sei tot als nicht so fromm, wie er es richtig finde. Bedenkt man, dass in Lebensläufen Ereignisse erzählerisch arrangiert werden, Schreiberinnen und Schreiber überlegen, was sie aufeinander folgen lassen, so lässt sich die Dramaturgie von Schweiniz’ Lebenslauf als Kontrastierung des verständigen „guten“ Großvaters mit dem verständnislosen „harten“ Vater lesen und darüber hinaus als Aussage zu Eltern, Vätern, die ihre Kinder weggeben. 29 Molther [s. Anm. 14], o.S.

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zielle Arbeiter und Arbeiterinnen zuständig. Meist nur wenige Jahre älter als die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen, dürften sie in aller Regel leicht Zugang zu ihnen gefunden haben. So erinnerte sich Anna Maria Andresen lebhaft der „vielen Liebe und Pflege, sonderlich von der damaligen Arbeiterin [bei den ledigen Schwestern, d.Vf.n], der sel. Schwester Layrizin“,30 die gerade einmal fünf Jahre älter als sie selbst war. Den Kindern und Jugendlichen standen diese jungen Erwachsenen vermutlich näher als erwachsene Gemeindemitglieder, etwa Pfarrer oder auch Lehrerinnen und Lehrer, und sie konnten für sie sogar role models darstellen.31 Zumindest wurde Andresen selbst auch Arbeiterin, also ihrerseits für die Seelsorge von jüngeren Mädchen zuständig. Besonders wichtig erscheint mir eine bestimmte brüderische Praktik im Umgang mit den Heranwachsenden zu sein, das so genannte „Sprechen“. Darunter wurde das individuelle Gespräch mit der Chorarbeiterin oder dem Chorarbeiter verstanden. Gegenstand war vordringlich der geistliche Zustand, der daran, modern gesagt, diskutiert wurde, wie es um die Beziehung zum Heiland bestellt war. Beim „Sprechen“ war darüber Rechenschaft abzulegen, ob diese Beziehung intakt, die Connexion mit dem Heiland gegeben (und tief gefühlt) war, oder aber, ob sie aus welchen Gründen auch immer, getrübt war. Christiane Friederique Sophie von Schulenburg (1726–1787), mit 13 Jahren in die Marienborner Mädchenanstalt gekommen, wurde von ihrer Arbeiterin in einer der wöchentlichen Unterredungen gefragt, ob sie „denn Vergebung ihrer Sünden habe“. „Ich antwortete“, schrieb sie, „daß ich mir keiner Sünde bewußt wäre, und nicht glaubte, daß der Herr Jesu um meinetwillen so jämmerlich hätt leiden müssen, ich dächte zu seinem Tode nichts beygetragen zu haben. Diese Erklärung that ich gleichwol unter vielen Thränen.“ Allein, diese Erklärung, wohlgemerkt: unter Weinen, stellte die Arbeiterin nicht zufrieden, so plausibel es scheint, dass ein Mädchen im Jahr 1739 sich nicht sozusagen persönlich für das Leiden Christi verantwortlich sehen kann. Als Schulenburg kurz darauf an einer gemeinsamen frommen Unternehmung teilnehmen wollte, wurde sie von ihrer Chorarbeiterin folgendermaßen beschieden: „[D]u willst auch mit kommen, und glaubst doch nicht, daß der liebe Heiland für deine Sünden gestorben ist. Du gehörst hierzu noch nicht. Das fuhr mir durchs Herz“.32 Sie musste also die Erfahrung machen, dass als nicht ausreichend eingeschätzte Frömmigkeit zum Ausschluss von etwas Gemeinsamen führen

30 Es handelte sich um Anna Elisabeth Layritz, geb. Günther (1718–1764), die später Diakonin und Presbyterin wurde, also die höchsten Frauen zugänglichen Ämter in der Brüdergemeine innehatte. Mit ihrem Mann Paul Eugen Layritz führte sie mehrere pädagogische Einrichtungen der Brüdergemeine, zuletzt das Großhennersdorfer Pädagogium. Wie Andresen stammte sie aus einer angesehenen Frankfurter Familie. 31 Vgl. Beverly Prior Smaby: Forming the Single Sisters’ Choir in Bethlehem. In: Transactions of the Moravian Historical Society 28, 1994, 1–14. 32 Christiane Friderique Sophie von Schulenburg (1726–1787): Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.64.81, o.S.

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konnte, eine vermutlich beschämende Erfahrung, waren die Mädchen ihres Chores doch Zeuginnen dieses Ausschlusses.33 Aber es gab in ähnlichen Fällen auch ganz andere Reaktionen der Arbeiterinnen. So erinnerte sich Anna Maria Andresen (1729–1793) aus ihrer Anfangszeit in der Brüdergemeine Marienborn, sie war 18 Jahre alt, dass ihre „liebe Arbeiterin“ bei ihrer „Verlegenheit“, ein Topos des religiösen Selbstzweifels, darüber, noch keine „Gewißheit der Vergebung [ihrer] Sünden“, kein „Trostwort“ des Heilands erhalten zu haben, sie „aufs liebreichste zu trösten, und der Liebe des Heilands zu versichern [suchte]“.34 Hier wurde, anders als bei Schulenburg, nicht ermahnt bis zur Konsequenz eines Ausschlusses, sondern versucht, die Zuversicht zu vermitteln, dass eine ungetrübte Beziehung zum Heiland sich schon einstellen werde. Das Sprechen diente hier dazu, das irritierte Gegenüber darin zu bestätigen, auf dem rechten Weg zu sein, allgemeiner gesagt, den Frömmigkeitsstandards mehr oder weniger zu genügen. Um noch einmal allgemeiner auf das Sprechen zurückzukommen: diese Gespräche unter vier Augen dienten in der Regel der „Vorbereitung auf die Teilnahme am Abendmahl“35 bzw. wie oben gesagt, der Reflexion des geistlichen Zustandes mit einem Gegenüber. Aber dabei konnten auch, wie Katherine Faull36 gezeigt hat, eher persönliche Probleme, besonders im Zusammenhang mit der Pubertät, zur Sprache kommen. Das war ganz im Sinne Zinzendorfs, der den Hörerinnen und Hörern seiner Kinder-Reden verschiedentlich den Ratschlag erteilt hatte, sich mit Bedenklichkeiten oder Irritationen an Erwachsene, an ihre Arbeiter zu wenden.37 Das lässt sich als Kontrolle 33 Allerdings lässt nichts in Schulenburgs Lebenslauf auf eine Beschämung schließen, sie wurde, vermute ich, wie auch in anderen Lebensläufen, dethematisiert, und zwar dadurch, dass das Vorkommnis als Auslöser eines Durchbruchs zur Frömmigkeit, wie sie gefordert war und wie sie selbst sie vermutlich auch haben wollte, interpretiert wurde. Weiter heißt es nämlich: „Ich ging in einen Winckel, weinte und bat den Heiland, er möchte mir doch die Gnade schenken zu glauben, daß er auch für mich gestorben, und hielt so 3 Tage und Nächte mit Weinen und Beten an; denn nun fühlte ichs ganz, daß ich auch eine arme Sünderin war [. . .] ich ließ auch nicht nach mit Bitten, bis ich die Versicherung und den Trost ins Herz bekam, daß er mir alle meine Sünden vergeben.“ (Ebd., o.S.) 34 Anna Maria Andresen, geb. Stauber (1729–1793): Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.76.01, o.S. 35 Sprechen, in: Paul Peucker: Herrnhuter Wörterbuch. Kleines Lexikon von brüderischen Begriffen. Herrnhut 2000, 49. 36 Katherine Faull: ‚Girls Talk‘ – das „Sprechen“ von Kindern. Herrnhutische Seelsorge an den großen Mädchen im 18. Jahrhundert. In: UnFr 57/58, 2006, 183–196. 37 „Sobald man an euch die geringste veränderung merkt, daß ihr schüchtern und bedenklicher seyd, als sonst, so ist unsre schuldigkeit, daß wir euch fragen, wies geht. [. . .] Ihr [sollt] alle gemüths- alle euch fremde sachen, die euch in euerm leben das erste mal vorkommen, ja, wenn ihr etwas gehört habt, das euch neu ist, da ihr nicht wißt, obs wahr ist, ob ihrs glauben sollt, gehörigen orts wieder sagen [. . .] aber nichts euers gleichen, sondern denen, die dazu gesezt sind, daß sie euch bewahren, euern sichtbaren engeln, die euch dazu gegeben sind, über eure seelen zu wachen, die, wenns sie über eins und das andere bey euch gefragt werden, red und antwort sollten geben können.“ (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Samlung einiger von dem seligen ORDINARIO FRA-

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interpretieren, was es sicher auch beinhaltete, zumal Kinder ja angehalten wurden, derartiges nicht untereinander zu besprechen.38 Aber das war nur die eine Seite. Das „Sprechen“ eröffnete den Heranwachsenden auch Handlungsspielräume. Es stellte ja ein Angebot dar, sie wurden ernst genommen und ihnen von Erwachsenen Raum und Zeit zugestanden, Irritierendes unter vier Augen zu besprechen, Einzelseelsorge zu erfahren. Bedenkt man, dass die Brüdergemeine eine Lebensgemeinschaft war, in der alles in Gruppenzusammenhängen geschah – beten, singen, schlafen, essen, arbeiten, dann dürfte das „Sprechen“ eine der ganz wenigen „intimen“ sozialen Konstellationen gewesen sein, in denen individuellen Erfahrungen und der Erfahrung eines persönlichen Gegenüber Raum gegeben wurde39. An den Frömmigkeitspraktiken im Umgang mit Kindern und Jugendlichen ist mir, um es zu wiederholen, die Dimension der Handlungsspielräume wichtig. Heranwachsende fanden ein – mal strenges, mal mildes – Gegenüber, sie konnten sich mitteilen, vielleicht sogar erproben; die aufmunternde Reaktion der Arbeiterin auf Andresens „Verlegenheit“ könnte so verstanden werden. Praktiken des einzelnen Heranwachsenden im Umgang mit sich selbst Neben diesen Frömmigkeitspraktiken im Umgang mit Heranwachsenden finden sich in den Lebensläufen auch Praktiken des Umgangs des einzelnen Kindes oder Jugendlichen mit sich selbst. Von „Umgang“, was ja ein SubjektTRUM während seines Aufenthalts in den Teutschen Gemeinen von Anno 1755 bis 1757 gehaltenen Reden an die Kinder. 2., rev. Aufl. Barby 1761. In: Ders.: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Bd. 6. Hg. v. Erich Beyreuther u. Gerhard Meyer. ND Hildesheim 1965, 238 f. [43. Rede, an die Mägdlein in Herrnhut, den 14. May 1756]). – In einer anderen Rede, an Knaben, heißt es: „Eine grosse weisheit ist, daß ihr in diesen bedenklichen jahren ja nichts bedenkliches und zweifelhaftes für euch behaltet, sondern euch gleich durch offenherzigkeit an gehörigem ort frey und los davon saget, das geringste, das euch beschwerlich und unschklich deucht, für seel und hütte, verklaget, gegen das innerliche gemüthsverderben beym Heiland schutz suchet [. . .] gegen äusserliche beschwerlichkeiten aber auch bey den Brüdern, die dergleichen proben selig überstanden haben, rath suchet, daß sie für euch bitten, und ihr gut durchkommt.“ (Ebd., 90 f. [17. Rede, an die Knaben in Bethel den 11. Jan. 1756]) 38 Allerdings habe ich in keinem der Lebensläufe einen expliziten Hinweis darauf gefunden, dass das „Sprechen“ in Kindheit und Jugend als Kontrolle erlebt wurde, auch keine Erinnerungen daran, sich beim „Sprechen“ oder als Folge davon ungerecht behandelt gefühlt zu haben; vielmehr findet es durchwegs positiv Erwähnung. Aus der Zeit als erwachsene Mitglieder der Brüdergemeine lassen sich dagegen manchmal Andeutungen finden, dass „Geschwister“ vorschnell geurteilt oder hart gewesen seien, z. B. im Lebenslauf von Susanna Hennig, geb. Kühnel. 39 Im Entwurf für ein Gemeinhaus und Chorhaus für die ledigen Schwestern und Mädchen in Herrnhut (1755) war im Mädchentrakt eine kleine „Stube vor die Pflegerin“ vorgesehen, die vermutlich für das Sprechen genutzt werden sollte; allerdings kam dieser Plan nicht zur Ausführung. Vgl. UA TS.Mp.15.12. Ein weiterer Aspekt der Frömmigkeitspraktik „Sprechen“ liegt darin, dass hier der Blick auf das Innere geschult wurde, indem das Reden, die Reflexion darüber in einer Zweierkonstellation eingeübt wurde

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Objektverhältnis voraussetzt wie beim „Sprechen“, rede ich auch hier, um kenntlich zu machen, dass auch bei diesen individuellen Frömmigkeitspraktiken ein Gegenüber im Spiel war. Dies Gegenüber war weniger unmittelbar personal greifbar als beim „Sprechen“, aber doch im frommen Alltag der Brüdergemeine allgegenwärtig: der Heiland (manchmal ist auch von Gott oder dem Heiligen Geist die Rede). Der Umgang mit sich selbst geschah im Medium des Umgangs mit dem Heiland. Im Wesentlichen finden sich zwei Modi dieses Umgangs bei Kindern wie Erwachsenen, nämlich Selbstzweifel, wenn die Beziehung als gestört, und Selbstgewissheit, wenn sie als intakt erlebt wurde. Die Lebensläufe berichten in aller Regel vom Wechsel zwischen diesen beiden Zuständen, von Annäherung und Entfernung vom Heiland,40 in einem Lebenslauf wird dafür das Bild des Fallens und Aufstehens gebraucht.41 Dazu eine Passage aus dem Lebenslauf von Antoinette Elisabeth Schemel (1739–1769). Sie war vierjährig mit Eltern und Geschwistern in die Gemeine Herrnhaag in der Wetterau aufgenommen worden, war also brüderisch aufgewachsen. Sie schrieb: „Anno 1745 wurde ich in die Kindergemeine aufgenommen, und freute mich von Herzen, weil ich seine Liebe fühlte. A. 51 bin ich ins Mädchen-Chor gekommen, da wurde mir mein Elend und Verderben offenbahr, ich hatte aber kein Herz, mit meinen Schwestern zu reden. Weil ich nun unruhig blieb, und nicht vergnügt seyn konnte, so bat ich den lieben Heiland, daß er mir die Gnade der Offenherzigkeit schenken möchte, das that er auch.“42 Hier finden sich in einer Art religiöser Pendelbewegung unterschiedliche fromme Regungen beschrieben. Auf derartige innere Regungen zu achten, sie beschreiben zu können, um sie mitteilen zu können, wurde früh kultiviert, oder erscheint zumindest in der Erinnerung als etwas, das der betreffenden Person schon früh – Schemels Erinnerungen betrafen ihr fünftes Lebensjahr, ja eigentlich soweit die eigenen Erinnerungen reichen, zu Gebote stand. Für die Beschreibung der frommen inneren Regungen stand ein breites Repertoire an Chiffren und Topoi zur Verfügung. Schemel ‚fühlte die Liebe zum Heiland‘, kannte aber genauso das Gefühl von ‚Elend und Verderben‘, auch das ‚ Unruhig-Sein‘. Bei der Beschreibung innerer Regungen, genauer: bei der Beschreibung innerer Regungen von höchster Intensität, fällt zweierlei ins Auge.43 Wenn fromme Selbstgewissheit zur Darstellung gebracht werden soll, wird immer

40 41

Vgl. Seibert [s. Anm. 5]. Peter Birk (1740–1818): Lebenslauf. Eigenhändig. Gemeinnachrichten 1819, 324–341, hier

330. 42

Antoinette Elisabeth Schemel (1739–1769): Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.114.41, o.S. Ich nehme hier eine Argumentation aus meinem Artikel auf: „wie glücklich man sey, wenn man sich dem Heiland ganz ergebe“. Selbstzweifel und Selbstgewissheit in Herrnhuter Lebensläufen des 18. Jahrhunderts. Zur Genese von Subjektivität im Medium religiöser Vergemeinschaftung. In: Alter Adam [s. Anm. 10], 305–324. 43

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wieder beschworen, dass die Erfahrung der gefühlten Nähe des Heilands unsagbar, unbeschreibbar sei. Dazu eine Passage aus dem Lebenslauf von Anna Elisabeth Enderlein (1745–1786). Sie war als Vierjährige mit ihren Eltern in die schlesische Gemeine Neusalz gekommen und dort kurz darauf so schwer erkrankt, dass mit ihrem Tod gerechnet wurde. „Als ich wieder gesund geworden war“, erinnerte sie sich, „zog ich zu meinem großen Vergnügen [. . .] in die (Kinder-)Anstalt. Was ich da manchmal für eine unaussprechliche Nähe des lieben Heilands in meinem Herzen gefühlt, kann ich nicht beschreiben, so daß ich diese Tage in meinem Leben nicht vergessen [werde]“. Auch ihr erstes Abendmahl am 24. August 1758, sie war mittlerweile dreizehneinhalb Jahre alt, war ihr ein „Moment, den ich mein Leben nicht vergessen werde“.44 Die Unsagbarkeitsformel tritt bei der Beschreibung des ersten Abendmahls relativ häufig auf, oder auch, wenn es um das erste Abendmahl in einer neuen Gemeine oder einem neuen Chor geht. Die Unsagbarkeit scheint ein Topos gewesen zu sein. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Unsagbarkeit sich mit dem Abendmahl an dem wichtigsten Ereignis, an der hervorgehobenen Vergemeinschaftung innerhalb der herrnhutischen Lebensgemeinschaft festmachte. Hier sollte und konnte sich die Beziehung zum Heiland realisieren und zugleich das Ineinanderaufgehen von frommem Individuen und religiöser bzw. sozialer Gruppe. In der Unsagbarkeitsformel wurde das, was die Brüdergemeine als Ganzes zusammenhielt und für deren einzelnes Mitglied den Lebenssinn ausmachte, die, um es zu wiederholen, geglückte Beziehung zum Heiland, gruppenintern als letztlich nicht kommunizierbar qualifiziert, ein Merkmal, das bekanntlich das Numinose kennzeichnet. Wenn es andererseits um die Erfahrung der Ferne vom Heiland ging, berichteten die Schreiberinnen und Schreiber häufig davon, verzweifelt unter Tränen und Seufzen den Dialog mit dem Heiland gesucht zu haben und dafür, das ist wichtig, in einen „Winkel“, zu ergänzen wäre: im Chorhaus, oder „in den Busch“, ins Freie, gegangen zu sein, sich also aus der Gemeinschaft zurückgezogen zu haben.45 Diese Topographie verweist darauf, dass die Erfahrung der Wiederherstellung der Beziehung zum Heiland ganz für sich alleine gemacht und vermutlich auch gesucht wurde. Wer „Busch“ oder „Winkel“ aufsuchte, scherte aus der Lebensgemeinschaft aus, in der ja stets alles gemeinsam getan wurde. Diese Praktiken scheinen sozial akzeptiert gewesen zu sein; ich habe nirgends einen Hinweis gefunden, dass sie zu Ermahnungen oder Verweisen geführt hätten. Diese beiden Aspekte brüderischer Lebensläufe, die Unsagbarkeitsformel und die Topographie von Winkel und Busch stellen Praktiken des Umgangs mit sich selbst dar, die Foucault Technologien des Selbst genannt hat. Die 44

Anna Elisabeth Enderlein (1745–1786): Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.62.83, o.S. So erinnerte sich Elisabeth Ernestine Margarethe Fassius (1736–1781), in ihrer „Noth in den Busch“ gegangen zu sein und „flehentlich zum Heiland [geseufzt]“ zu haben. Elisabeth Ernestine Margarethe Fassius (1736–1781): Lebenslauf. Eigenhändig. UA R.22.62.89, o.S. 45

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Technologien des Selbst stellen eine der Technologien dar, „die Menschen gebrauchen, um sich selbst zu verstehen“.46 Die Technologien des Selbst, so Foucault, ermöglichen es dem Individuum, auf sich selbst so einzuwirken, dass es einen gewissen als höher und besser qualifizierten Zustand erreicht, in unserem Fall durch die „Entzifferung innerer Prozesse“47 die ungestörte Beziehung zum Heiland. Auch wenn hier kein einzigartiges Ich, wie es die bürgerliche Biographik spätestens seit der Empfindsamkeit bevölkerte, exponiert wurde (das wäre zu weit gegangen, weil die Passung zwischen der religiösen Lebensgemeinschaft und der schreibenden Person gewährleistet bleiben und schreibend hergestellt werden musste), so belegen die Lebensläufe doch eine religiöse Individuation in der Wahrnehmung eines inneren Menschen,48 in der Selbstbeobachtung, mit Foucault in der „Selbsthermeneutik“.49 Um noch einmal auf die Unsagbarkeitsformel und auf die Rede von ‚Winkel‘ und ‚Busch‘ zurückzukommen: Die Unsagbarkeitsformel verstehe ich als Hinweis auf die Einzigartigkeit der jeweiligen religiösen Erfahrung. Wichtig ist, dass über diese Unkommunizierbarkeit Einverständnis herrschte. Ich hatte oben gesagt, dass darin ein Merkmal des Numinosen zu Tage trete. Die Unkommunizierbarkeit lässt sich darüber hinaus aber auch als Verweis auf eine individuelle, auf Einzigartigkeit angelegte Erfahrung des frommen Individuums lesen. Die Topographie von Winkel und Busch belegte ja Praktiken aktiver Vereinzelung, die in die gleiche Richtung weisen. Einen Lebenslauf zu Papier zu bringen, was in der Brüdergemeine von den Mitgliedern erwartet und gegebenenfalls von anderen erledigt wurde, lässt sich als Verfahren sehen, in dem die religiöse Individuation eingeübt und praktiziert wurde. Die Herrnhuter Lebensläufe, als Genre und als Technologie des Selbst, sind damit Zeugnis der Genese von Subjektivität im Medium religiöser Vergemeinschaftung.

46 Michel Foucault: Technologien des Selbst. In: Technologien des Selbst. Hg. v. Luther H. Martin [u. a.]. Frankfurt/Main 1993, 24–62, hier 26. 47 Foucault [s. Anm. 46], 61. Foucault hat im zweiten Band von Sexualität und Wahrheit (Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/Main 1986, franz. Orig. 1984) den Versuch unternommen, eine Geschichte der Sexualität als eine „von den Selbstpraktiken ausgehende Geschichte ethischer Problematisierungen zu schreiben“ (21) und dabei bei der „langsame[n] Formierung einer Selbsthermeneutik in der Antike“ (13) angesetzt. Ihm geht es dabei um ein bestimmtes Verhältnis [des Individuums, d.Vf.n] zu sich selbst, um die „Konstitution seiner selbst als Moralsubjekt“. Dafür, so Foucault, „wirkt es auf sich selber ein, geht es daran, sich zu erkennen, kontrolliert sich, erprobt sich, vervollkommnet sich, transformiert sich“ (40). 48 Vgl. Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Göttingen 2005, 66 f. 49 Foucault [s. Anm. 46], 13

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MALTE VAN SPANKEREN

Halles letzter Pietist?! Georg Christian Knapp (1753–1825) und das Doppeldirektorat der Franckeschen Stiftungen 1. Einleitung Will man sich über Georg Christian Knapp (1753–1825) näher informieren, stößt man in einem Artikel aus dem Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon von 1992 auf die bemerkenswerte Auskunft, Knapp sei „letzter Vertreter des hallischen Pietismus“ gewesen und habe zwar beim führenden Vertreter der halleschen Aufklärungstheologie, Johann Salomo Semler studiert, „jedoch ohne, daß die Neologen ihn nachhaltig prägten“.1 Knapp, geboren und gestorben in Halle, war vier Jahrzehnte in verantwortungsvoller Position für die Leitung der Franckeschen Stiftungen tätig, zunächst als Kondirektor, seit 1799 dann auch als Direktor, wobei er sich beide Ämter jeweils mit dem ein Jahr jüngeren August Hermann Niemeyer teilte. Außerdem wirkte Knapp mehr als fünf Jahrzehnte als akademischer Dozent an der Friedrichs-Universität in Halle, seit 1782 zumal als ord. Theologieprofessor. Trotz dieser vielfältigen Tätigkeitsfelder und seiner theologiehistorisch beachtenswerten Stellung am Ausklang der Aufklärungstheologie fristet Knapp in der Forschung bislang ein Schattendasein. Dafür scheinen vor allem zwei Faktoren ursächlich: ein fremd- und ein selbstverschuldeter. Weil sich die Forschung bislang vorwiegend auf Knapps Kollegen Niemeyer und dessen Tätigkeit als Direktor der Franckeschen Stiftungen konzentriert hat, – diese Schwerpunktsetzung ist aufs Ganze gesehen, hält man sich Niemeyers Bedeutung vor Augen, zweifellos berechtigt2 – wurde Knapp in der neueren wie 1 Klaus-Gunther Wesseling: Art. „Knapp, Georg Christian“. In: BBKL 4, 1992, 116–119, hier 117; sehr knapp informiert Angela Nüsseler: Art. „Knapp, Georg Christian“. In: RGG4 4, 2001, 1462. Dem Urteil von Wesseling schließt sich Nüsseler, ebd., beinahe wortgleich an: „Knapp war letzter akademischer Vertreter des Halleschen Pietismus“. 2 Angesichts des vielfältigen Engagements Niemeyers ist die Forschung, insbesondere in den letzten Jahren, zu Recht verstärkt auf diesen bedeutenden Direktor der Franckeschen Stiftungen konzentriert gewesen und hat wichtige Studien vorgelegt. Vgl. „Seyd nicht träge in dem was ihr

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älteren Forschung vorwiegend als Mann im Schatten Niemeyers wahrgenommen, der diesem jahrelang hilfreich zur Hand gegangen ist.3 Zum andern ist ein Zugang zu Knapp über die Quellen dadurch nachhaltig erschwert worden, dass Knapp eine Drucklegung seiner Vorlesungsmanuskripte zu seinen Lebzeiten abgelehnt und überdies einen Teil seiner Mitschriften selbst vernichtet hat. Diese selbstverantwortete Suspendierung aus der Theologiegeschichte der späten Aufklärung hat Knapp jedoch nur inkonsequent durchgeführt. Es ist seinem Schwiegersohn Johann Karl Thilo (1794–1853), selbst nachmaligem Theologieprofessor in Halle, zu verdanken, dass einige Schriften Knapps in der Folge dennoch auf uns gekommen sind, anhand derer man aussagekräftige Erkenntnisse hinsichtlich seines theologischen Profils gewinnen kann.4 Darüber hinaus können anhand von Hunderten Briefen5 Knapps Aktivitäten als Direktor der Franckeschen Stiftungen näher beleuchtet werden. Zunächst ist auf den Stand der bisherigen, schnell zu überblickenden Forschung zu Knapp hinzuweisen (2), sodann wird Knapps Leben biographisch skizziert (3), wobei insbesondere seine Tätigkeit als Hochschullehrer näher beleuchtet wird (3.3). Anschließend wird Knapps theologisches Profil analysiert (4), bevor abschließend seine Tätigkeit für die Franckeschen Stiftungen näher in den Blick genommen wird (5). Ein kurzes Resümee wird die Ergebnisse dieser Studie bündeln (6). 2. Knapp als stiller Helfer Niemeyers, oder: Die Sicht der Forschung Das Bild, welches sich die Forschung bislang von Knapp gemacht hat,6 ist zu einem Gutteil durch die Kontrastierung Knapps mit Niemeyer perspektivisch

thun wollt.“ August Hermann Niemeyer (1754–1828): Erneuerung durch Erfahrung. Hg. v. Christian Soboth. Tübingen 2007; s. auch Brigitte Klosterberg: Licht und Schatten. August Hermann Niemeyer, ein Leben an der Epochenwende um 1800. Halle 2004 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 13). 3 Auch wenn es unbestritten ist, dass Niemeyer als begnadeter Öffentlichkeitsarbeiter die Franckeschen Stiftungen nach außen verkörperte und Entscheidendes dazu beitrug, sie aus ihrer Wirtschafts- und Ansehenskrise, in die sie zwischen circa 1770 und 1800 geraten waren, zu führen, sollte deshalb der Beitrag Knapps nicht vergessen werden. Denn Knapp war mehr als nur ein geräuschloser Zuarbeiter Niemeyers. 4 Auch Knapps Schüler, der Breslauer Theologieprofessor Johann Gottfried Scheibel (1783– 1843), der später als einer der Gründerväter der altlutherischen Bewegung vehement gegen konkrete Unionspläne angehen sollte, hatte nachdrücklich darauf insistiert, dass Knapps Schriften publiziert wurden. Er hatte seit 1801 in Halle vorwiegend bei Knapp studiert. 5 Der Nachlass von Knapp ist heute ein wichtiger Bestandteil des Hauptarchivs der Franckeschen Stiftungen und liegt dort zur weiteren Einsichtnahme bereit. 6 Weitere Forschungsbeiträge zu Knapp sind: Art. „Knapp, Georg Christian“. In: Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden Schriftsteller [. . .]. Hg. v. Johann Georg Meusel. Bd. 4. Hildesheim 51797, 158–160; Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers Bd. 1. Berlin, Leipzig 1922, 722–725; Heinrich Doering: Art. „Knapp, Georg Christian“. In: Die gelehrten Theologen Deutsch-

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beeinflusst. Exemplarisch für diese Perzeption ist die von Wilhelm Fries verfasste Doppelbiographie zu Niemeyer und Knapp, in der Niemeyer dreißig Seiten und Knapp gerade einmal ein Fünftel davon eingeräumt wird.7 Die von Fries eingenommene Perspektive hat sich in der Forschung perpetuiert: Dort, wo man sich für Knapp interessierte, war er vor allem als Mitarbeiter Niemeyers von Interesse. So heißt es auch in der neueren Forschung noch bezeichnenderweise über Knapp: „Er [Knapp] [. . .] unterstützte selbstlos und sicherlich auch umsichtig Niemeyer in seinen [!] Bemühungen, das Waisenhaus zu retten“.8 Aus dem langen Schatten, den Niemeyer bis heute geworfen hat, konnte Knapp bislang nicht heraustreten.

3. Konturen 3.1. Bildungsweg und Berufstätigkeit Am 30. Oktober 1825 hielt Niemeyer auf der Gedenkfeier für Knapp eine Rede, in der er den anwesenden Waisenkindern und Schülern der Stiftungen das Beispiel seines kurz zuvor verstorbenen Kollegen zur Nachahmung vor Augen stellte: „In eben den Räumen wo ihr itzt von Stufe zu Stufe diesem Ziel entgegeneilt, hat auch er, von der niedrigsten bis zur höchsten, ein lehrbegieriger Schüler, die Hoffnung und die Freude seiner Lehrer, gesessen. Eben da hat er in beyden gelehrten Schulen dieser Stiftungen den Grund jenes reichen Wissens gelegt“.9 Knapp wurde als einziger Sohn des Theologieprofessors Johann Georg Knapp am 17. September 1753 im Halleschen Waisenhaus, wo seine Eltern lands im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert 2. Neustadt/Orla 1832, 134–142. Ein illustratives Zeugnis ist auch: Friedrich Ranke: Jugenderinnerungen mit Blick für das spätere Leben. Stuttgart 1877, hier 93. 7 Wilhelm Fries: Die Franckeschen Stiftungen in ihrem zweiten Jahrhundert. Halle 1898. Zu Niemeyer s. ebd. 85–116, zu Knapp s. ebd. 116–122. Die bisherige Vernachlässigung Knapps zeigt sich ferner in den wenigen Stellungnahmen der Forschung bezüglich der von Knapp vertretenen Theologie. Beispielsweise heißt es über sein theologisches Profil lediglich: „Er war ein offenbarungsgläubiger, biblischer Theologe“ (Fries, Die Franckeschen Stiftungen, 120), womit allerdings so gut wie nichts ausgesagt ist. Die bis heute einzige Biographie zu Knapp stammt im Übrigen aus der Feder Niemeyers, der ihm eine insgesamt ausgewogene, noch heute lesenswerte kurze Schrift gewidmet hat. August Hermann Niemeyer: Epicedien. Dem Andenken des weil. Hochwürdigen Herrn Georg Christian Knapp [. . .]. Halle 1825. 8 Die Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale). Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Paul Raabe u. Helmut Obst. Halle 2000, 114. Allerdings hatte schon Fries vorsichtig auf die Gefahr eines Vergessens der Aktivitäten Knapps hingewiesen: „War es für die Stiftungen ein großes Glück, in der Zeit schwerer Drangsale, wo ihre ganze Existenz in Gefahr stand, durch einen Niemeyer vertreten zu sein, der sie heldenhaft beschirmte, so darf darüber doch das bescheidenere Verdienst seines langjährigen Kollegen nicht unbeachtet bleiben.“ (Fries, Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 7], 116) 9 Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 14.

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lebten, geboren.10 Knapps Vater war seit 1733 Theologieprofessor und übernahm 1769 die Direktion der Franckeschen Stiftungen, bis zu seinem Tod 1771. In beiden Ämtern sollte ihm sein Sohn später nachfolgen. Nach dem Besuch der Latina und des Pädagogiums studierte Knapp seit 177111 zunächst in Halle, später in Göttingen.12 Seinen Magisterabschluss machte er 177513 in Halle, wo er 1777 zum ao. Professor der Theologie ernannt wurde.14 Nach dem Erwerb des Doktorgrades 1780 wurde er am 26. September 1782 ebendort zum ord. Professor befördert. Seit Juli 1785 amtierte er zusammen mit Niemeyer als Kondirektor, seit dem 01. Mai 1799 als Direktor der Franckeschen Stiftungen. Rektor der Friedericiana war er 1792/1793. Zwei Wochen nach dem Tod seines Lehrers Nösselt übernahm er zusätzlich im März 1807 die Direktion des theologischen Seminars.15 Kurz vor seinem Tod am 14. Oktober 1825 erlebte er noch die Jubelfeier zu seinem fünfzigjährigen Jubiläum als akademischer Dozent.16 Sein Nachfolger wurde August Tholuck. 3.2 Knapp als Privatmann Über den Privatmann Knapp weiß man wenig, bekannt sind lediglich einige Äußerungen, die von Niemeyer und Thilo stammen. Demnach soll sich Knapp durch Ernst und Gründlichkeit ebenso ausgezeichnet haben,17 wie durch seine Bescheidenheit.18 Solche Charakterisierungen sind freilich bezogen auf die halleschen Theologen häufig gebrauchte Allgemeinplätze: ernst und gründlich 10 Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 28. Niemeyer berichtet, es sei Knapp vergönnt gewesen, eine behütete und finanziell sorgenfreie Kindheit zu verleben. 11 Knapp hatte über seinen Studienbeginn festgehalten: „Sic in scholis praeparatus, anno 1771 ad academicam accesssi“. (Zit. n. Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 101). Dass Knapp auch in Jena studiert haben soll, konnte nicht verifiziert werden. 12 Seit dem 22.04.1774 studierte Knapp in Göttingen. Über seine Studienzeit schreibt Knapp: „Privato studio politoris humanitatis litteras tractavi, Graecos Latinosque scriptores lege, meque cum amicis inter aequales in dicendo, scribendo atque interpretando exercere studui.“ (Zit. n. Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 101) 13 Am 01.05.1775. 14 Am 30.12.1777. 15 1816 wurde er Vorsitzender der Hallischen Bibelgesellschaft, und an der halleschen Kirche St. Ulrich wirkte er, ebenfalls wie Nösselt vor ihm, als Senior des Kirchenkollegiums. Seine internationale Vernetzung zeigt sich an zwei Mitgliedschaften. So war er Mitglied der Londoner SPCK sowie in der Stockholmer „Gesellschaft pro fide et christianismo“. 16 Es war erst das zweite Mal, dass ein solches Jubiläum an der Friedrichs-Universität gefeiert werden konnte. 17 Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 14 f. 18 Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 15. „Et quanti hac praesertim tempestate facienda est amabilis Tua modestia, quae ut ab omni arrogantia et ostentatione, ita maxime ab ambitiosa eorum importunitate abhorret“. Diese Bescheidenheit hat Knapp nicht davon abgehalten, seinem späteren Nachfolger Tholuck, als dieser ihn zu Hause besuchte, stolz einen stattlichen Packen von Briefen zu zeigen, in denen seine Studenten ihm ihren Dank für die erhaltene theologische Bildung abstatteten. Vgl. Fries, Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 7], 121.

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war laut Niemeyer auch ihrer beider Lehrer Johann August Nösselt.19 Wohnhaft war Familie Knapp seit 1780 am Großen Berlin, die heutige Hausnummer ist die 14.20 Seit 1785 war er mit der Tochter eines Kriegsrats namens Weinschenk aus Magdeburg verheiratet. Ihre Kinder hießen Caroline und Carl.21 Ernsthaft krank war Knapp zwar nie, kontinuierliche Beschwerden verursachten ihm indes seine mit zunehmendem Alter nachlassende Sehkraft.22 Täglich ging Knapp zu einer festen Uhrzeit spazieren und intensivierte diesen rezeptiven Erholungswert durch Ausflüge nach Leipzig, vor allem aber nach Schlesien, in die Lausitz und nach Gnadau um dort die Brüdergemeine zu besuchen. Seine Kontakte zu den Herrnhutern waren derart eng,23 dass es unter seinen Zeitgenossen Gerüchte gab, Knapp würde seine Ämter niederlegen, um sich der Brüdergemeine anzuschließen. Dies blieben allerdings Gerüchte; sein Amt als Hochschullehrer hat Knapp bis an sein Lebensende ausgeübt. 3.3. Knapp als Hochschullehrer 3.3.1. Die komplizierte Berufungsangelegenheit Seit 1777 wirkte Knapp als ao., seit 1782 zumal als ord. Theologieprofessor für über 45 Jahre an der Friedrichs-Universität. Dabei hatte er zunächst eine andere Profession im Sinn.24 Als sich aber der Theologe Johann Jakob Griesbach 1775 von Halle nach Jena veränderte, ließ Karl Abraham von Zedlitz in seiner Eigenschaft als Minister Friedrichs II. für das brandenburgisch-preußische Unterrichts- und Hochschulwesen zuständig, nachfragen, ob Knapp sich nicht künftig auf eine theologische Karriere konzentrieren wolle. Knapp verstand diese Möglichkeit als „Winck der göttl. Vorsehung“25 und änderte seine Karrierepläne entsprechend ab. Allerdings zeigte sich schon bald, dass Zedlitz beileibe kein selbstloser Förderer war. Knapp erhielt 1777 einen Ruf nach Erlangen, jedoch, so berichtet Knapp, als der Kurator der Erlanger Universität 19 Vgl. z. B. August Hermann Niemeyer: Leben Charakter und Verdienste Johann August Nösselts. Königl. Preuß. Geheimraths, Doctors und Professors der Theologie. Nebst einer Sammlung einiger zum Theil ungedruckten Aufsätze Briefe und Fragmente. Erste Abteilung. Halle, Berlin 1809, 51, 93 f., 144 f., 207. 20 Sein Haus kann heute noch besichtigt werden. Es befindet sich auf der Ecke Großer Berlin und Jerusalemer Platz. Sein Schwiegersohn Thilo sollte später dieses Haus übernehmen. 21 Sein Sohn Carl wurde später Jurist. 22 Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 76. An der mit den Jahren immer kleiner werdenden Handschrift lässt sich der Anstieg seiner Dioptrinzahl in seinen Briefen luzide nachvollziehen. 23 Fries, Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 7], 121. Knapp hat auch eine für sein eigenes Selbstverständnis aufschlussreiche Spangenbergbiographie geschrieben. S. Georg Christian Knapp: Beiträge zur Lebensgeschichte August Gottlieb Spangenbergs. Hg. v. Otto Frick. Halle/Saale 1884. 24 Wenige Wochen vor seiner Berufung zum ord. Professor schrieb er darüber in einem Brief an seinen Lehrer Nösselt: „Es war meiner Neigung nicht gemäß, Professor der Theol. zu werden. Ich wünschte, als ich Magister wurde, künftig Professor Philosophiae zu werden, und hätte am liebsten einmahl die Professionem eloquentiae gehabt.“ (AFSt/N Knapp 1 : 14 1r) 25 AFSt/N Knapp 1 : 14 1r).

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bei Zedlitz nachfragte, „ob man mich aus Halle laßen werde“ habe er ein „nein!“ erhalten. Zedlitz erklärte diesbezüglich, Knapp müsse in Halle bleiben, weil er vorhabe ihn zum Nachfolger des gerade verstorbenen Gruner zu ernennen.26 Allerdings ließ sich Zedlitz mit dieser Nachfolgeregelung viel Zeit, sodass sich Knapp nach zwei Jahren veranlasst sah, höflich nach der in Aussicht gestellten ordentlichen Professur zu fragen. Zedlitz aber bot ihm stattdessen eine Professur in Königsberg an sowie 500 Taler Gehalt. Knapp, der sich mittlerweile um seine kranke Mutter kümmern musste, lehnte ab und insistierte auf der ursprünglich in Aussicht gestellten Professur in Halle.27 In der Folge nutzte Knapp private Kanäle: Über Carl Christoph von Hoffmann28 versuchte er die Entscheidung zu seinen Gunsten zu beeinflussen, und erhielt 1782 die gewünschte Professur29 – sieben Jahre nach dem Erlanger Angebot –, und überdies erhielt er erst seit 1784 ein fixes Gehalt.30 Als Hochschullehrer hat Knapp 15 Mal über die Kirchengeschichte, 14 Mal über das Neue Testament und elf Mal über die Glaubenslehre gelesen.31 Zusätzlich las er über die Psalmen und Jesaja. Die zugrunde liegenden alttestamentarischen Vorlesungsmanuskripte hat er später verbrannt. 3.3.2. Knapp und das Woellnersche Religionsedikt Während seiner über vierzigjährigen Tätigkeit als Hochschullehrer forderte insbesondere die Auseinandersetzung um das Woellnersche Religionsedikt, in 26 „[I]ch würde vielmehr an die Stelle des sel. Dr. Gruner’s [hallescher Theologieprofessor, der 1777 verstorben war] rücken.“ (AFSt/N Knapp 1 : 14 1r) 27 In einem Brief an Nösselt brachte Knapp angesichts dieser diffizilen und für ihn wohl belastenden Verhandlungen mit Zedlitz seine Vermutung zum Ausdruck, dass er mit dieser Ablehnung des Königsberger Lehrstuhls das Verhältnis zu Zedlitz für die Zukunft entscheidend getrübt haben könnte. „Nun hatte ich aber Ursach zu fürchten, daß der Minister meine abschlägige Antwort übel aufnehmen, und mir hier wohl gar einen andern vorziehen würde“. (AFSt/N Knapp 1 : 14 1r). Diese Verstimmung spielte möglicherweise auch bei seiner Ernennung zum Vizedirektor sechs Jahre später eine Rolle. Siehe dazu 5.1. 28 Carl Christoph von Hoffmann (1735–1801) wurde nach seinem Studium der Kameralwissenschaften in Halle im Jahr 1786 zum Kanzler der Friedrichs-Universität ernannt. Er bemühte sich erfolgreich darum, die finanziellen Zuwendungen an die Fridericiana zu steigern. Er sorgte für den Bau einer Sternwarte und legte ein Naturalienkabinett an. Zu Hoffmann s. Hans-Joachim Kertscher: Der vierte hallesche Universitätskanzler Carl Christoph v. Hoffmann – „ein Freund alles Guten, ein eifriger Beförderer der Künste und Wissenschaften“. In: Ders.: Literatur und Kultur in Halle im Zeitalter der Aufklärung. Aufsätze zum geselligen Leben in einer deutschen Universitätsstadt. Hamburg 2007, 199–225. 29 Dass es Knapp primär um finanzielle Motive ging, erscheint insofern unwahrscheinlich, als er einen 1784 an ihn ergangenen Ruf auf eine Professur in Göttingen, der mit 800 Talern Salär ausgestattet gewesen wäre, ausschlug (AFSt/N Knapp 1 : 14r). 30 Niemeyer berichtet, dass Knapp die 200 Taler Fixum erst zwei Jahre nach Antritt seiner Professur erhalten haben soll. Vgl. Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 68. Bis dahin musste sich Knapp demnach als ord. Theologieprofessor vorwiegend von seinen Hörergeldern finanzieren. 31 Seine Glaubenslehre [s. Anm. 51] hielt er 1790 vor 254 Zuhörern. Vgl. Glaubenslehre XVII Anm. 2.

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deren Verlauf auch Knapp über seine Lehrtätigkeit Rechenschaft geben musste, seine Aufmerksamkeit. Unter dem Nachfolger Friedrichs des Großen, Friedrich Wilhelm II., wurde seit 1788 eine theologisch konservative Religionspolitik dominierend, die, exemplarisch verkörpert in der Person Johann Christoph von Woellner als dem Nachfolger Zedlitz’ als Minister des Geistlichen Departements, zunehmend versuchte, weitgehenden Einfluss auf die Theologischen Fakultäten der brandenburgisch-preußischen Universitäten zu gewinnen.32 Unter anderem sollte überprüft werden, ob einige als glaubensgefährdend eingestufte Auffassungen über die historische Entwicklung traditioneller Theologoumena in den theologischen Hörsälen gelehrt würden. Auch Knapp wurde diesbezüglich befragt und rechtfertigte sich in einem Brief vom 09.05.1794 gegenüber dem König. Knapp erklärte, er habe „jederzeit die einzelnen Glaubensartikel selbst, sowohl nach der heil. Schrift [. . .] als auch nach der Lehrform der evangelischen Kirche, nebst den dazu gehörigen Beweisen ausführlich vorgetragen, und die Zuhörer zugleich auf den praktischen Gebrauch der Lehren aufmerksam gemacht.“33 Allerdings müsse man, um bezüglich bestimmter Lehren ihren Umfang, ihren Zusammenhang mit anderen Lehren und die spezifische Terminologie zu verstehen, ihre „Geschichte [. . .] und die unumgänglich nöthigen Sacherläuterungen [i.O. Unterstreichungen, d.Vf.]“34 zumindest kennen.35 Diese Methode sei überdies protestantische Tradition36 und schon von Melanchthon praktiziert worden.37 Mit seiner Rechtfertigung hatte sich Knapp zwar selbst vorläufig aus der ‚Schusslinie‘ genommen, allerdings sollte die Auseinandersetzung zwischen Woellner und der Halleschen Fakultät an Schärfe noch zunehmen. Denn am Himmelfahrtstag des Jahres 1794, am 29. Mai, traf eine von Woellner eingesetzte Kommission, die so genannte Immediatexaminationskommission in

32 Zum Woellnerschen Religionsedikt siehe: Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010. 33 AFSt/N Knapp 1 : 43 1r. 34 AFSt/N Knapp 1 : 43 1r. S. dazu auch 4. 35 AFSt/N Knapp 1 : 43 1r. „Denn nur auf diese Art lernen die Studierenden [. . .] warum dieses oder jenes, gerade so, und nicht anders in der Glaubenslehre unserer Kirche vorgetragen wird.“ So könne beispielsweise die Kenntnis der historischen Bedingtheit und Kontingenz der Entwicklung der Lehren von Christi Erlösungswerk dabei helfen, zu einem sachgerechten Verständnis dieses Theologoumenons zu gelangen. (Vgl. ebd.) Ohne diese historischen Erläuterungen könne man z. B. die gegenwärtige Form der Trinitätslehre nicht sachgerecht erfassen. Unterließe man diese historischen Erklärungen, so Knapp, würde einem sachwidrigen Umgang mit der Heiligen Schrift die Tür geöffnet. 36 Vgl. AFSt/N Knapp 1 : 43 1v. Außerdem seien auch die Epitome von S.F.N. Morus, die „jetzt beym Vortrag der Glaubenslehre gebraucht wird, [. . .] nach diesen Grundsätzen geschrieben.“ Dieses Argument Knapps hätte man nur widerlegen können, wenn man Knapps Vorlesungsmitschriften, die nur in seinem Privatbesitz greifbar waren, mit dem lateinisch geschriebenen opus magnum von Morus, das mehr als 1.000 Seiten umfasste, Wort für Wort abgeglichen hätte. 37 Vgl. AFSt/N Knapp 1 : 43 1v.

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Halle ein, um persönlich die dortigen Lehrinhalte auf ihre Übereinstimmung mit der von Berlin präferierten Theologie zu überprüfen. Noch vor ihrer Ankunft machte unter den Studenten folgendes Spottgedicht die Runde: Sonst sandte man die Invaliden/ gelähmt an Fuß und Hand/ Jedoch gesund an Kopf und an Verstand,/ Zu wittern durch das ganze Land/ Wo selbst gebrannter Kaffee wär;/ denn selbst gebrannt war damals contreband [scil. Schmuggel]./ Jetzt sendet man zwei Invaliden/ Gesund an Fuß und Hand,/ Jedoch gelähmt an Kopf und an Verstand,/ zu wittern durch das ganze Land,/ Wo selbst gedachte Lehre wär;/ denn selbst gedacht ist jetzo Contreband.38

Die beiden Kommissionsmitglieder Hermes und Hillmer stiegen in der Gaststätte „Goldener Löwe“ ab, blieben aber nicht lange ungestört. Denn mehrfach kam es zu von Studenten veranstalteten Tumulten gegen die Immediatexaminationskommission. Die Studenten pfiffen und sangen nicht nur, sondern beleidigten überdies den Oberkonsistorialtitel der Räte, hielten eine Schmährede und warfen den Räten schließlich die Fenster ein. Dieses angeblich fast eine halbe Stunde dauernde Bombardement am zweiten Abend ihres Aufenthalts wurde erst beendet, als die Stadtwache anmarschierte. Zum Sturm des Gasthofs kam es zwar nicht, doch Hermes und Hillmer waren anscheinend dermaßen verschreckt, dass sie am nächsten Morgen vorzeitig abreisten. In einem noch am selben Tag verfassten Bericht erklärten sie explizit, sie seien nicht aus Feigheit geflohen, sondern damit die Ehre ihres Amtscharakters nicht weiter beschmutzt werde. Dabei verkannten sie offensichtlich, dass das Fenstereinwerfen von den Studenten als ihr angestammtes Recht angesehen wurde. Nicht umsonst war in der Universitätskasse der Friedrichs-Universität seit ihrer Gründung extra eine Rubrik für die Reparatur eingeworfener Fenster eingerichtet geworden.39 Durch diese studentischen Tumulte war allerdings die Konfrontation zwischen Berlin und Halle weiter zugespitzt worden. Im Juli 1794 sandte Woellner der Theologischen Fakultät eine Instruktion zu. Diese war scharf formuliert und in der Sache entschieden. Unter Berufung auf Siegmund Jacob Baumgarten40 forderte man künftig eine neutestamentliche Exegese, welche die dogmatischen Hauptlehren stützen solle,41 beispielsweise das Theologoumenon der Heilsnotwendigkeit der Opferung Christi.42 Die Zuliefererfunktion der Exegese für die Dogmatik herauszustellen sei not38 Zit. n. Heinz Kathe: Geist und Macht im absolutistischen Preußen. Zur Geschichte der Universität Halle von 1740 bis 1806. Halle/Saale 1980, 222. 39 Auch beim jährlichen Prorektoratswechsel am 12.07. machten die Studenten regelmäßig von diesem traditionellen „Recht“ ausgiebigen Gebrauch. 40 Allerdings bemängelte man an Baumgartens Exegese, er hätte doch „den Fehler zu vieler Subdivisionen und Zersplitterungen des Textes“ (UAH Rep. 27, Nr. 1108, 8r) vermeiden sollen. Da Hermes bei Baumgarten studiert hatte, kannte er dessen akademische Lehrmethode aus eigener Anschauung. 41 Vgl. UAH Rep. 27, Nr. 1108, 7v-8r. 42 Vgl. Anm. 41, 8r.

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wendig, weil vor allem diejenigen Lehren, welche „von der wahren Bekehrung durch Busse und Glauben“43 handelten, sträflich vernachlässigt würden.44 Die Instruktion schloss mit der verbindlichen Anweisung, es sei der Wille Seiner Königlichen Majestät: dass von nun an alle bisherigen Modewillkührlichkeiten in Dogmatischen, Exegetischen und Homiletischen Vorlesungen, alle sogenannten populären Dogmatiken, alle auf blossen Hypothesen beruhenden Schrifterklärungen, und nach dem herrschenden Ton eingerichtete Anweisungen zum Predigen, auf immer wegfallen sollen.45

Daraufhin traten die halleschen Professoren mehrfach zusammen und beratschlagten, wie man angemessen auf diese Vorhaltungen reagieren solle. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang das von Knapp gegenüber seinen Professorenkollegen an den Tag gelegte Verhalten. Analysiert man die im Universitätsarchiv Halle lagernden Aktenbestände, zeigt sich, dass Knapp in früheren hochschulpolitischen Auseinandersetzungen in der Regel seinen älteren Kollegen bereits in vorauseilendem Gehorsam sein Einverständnis mit ihrem Vorgehen signalisiert hatte. In der Regel setzte Knapp seine Erläuterungen stets hinter Nösselts vorhergehende Notiz und schloss sich meistens dessen Meinung an.46 Je schärfer der Konflikt zwischen Woellner und der Halleschen Fakultät allerdings wurde, desto eigenständiger argumentierte Knapp. So schlug er, als die Auseinandersetzung im Sommer 1794 ihrem konfliktträchtigen Kulminationspunkt entgegenstrebte, seinen Kollegen eine taktische Alternative zu ihren Plänen vor. Denn während Nösselt und Niemeyer auf die Beschuldigungen aus Berlin den Vorschlag unterbreitet hatten, die Fakultät solle sich geschlossen in einer gemeinsamen Protestschrift gegen diese Vorhaltungen wehren, brachte Knapp eine andere Variante in Anschlag. Zunächst verwies er darauf, dass jeder sein ihm eigentümliches Profil als Hochschullehrer besitze: „So einig wir auch in Absicht der allgemeinen Grundsätze und Gesinnungen sind [. . .] so verschieden sind wir doch in einzelnen Meinungen.“47 Aufgrund dieser unterschiedlichen theologischen Profile schlug Knapp vor, die von der Immediatexaminationskommission und Woellner angegriffenen Professoren – vor allem Niemeyer und Nösselt waren gemeint – sollten doch für sich allein sprechen und gegenüber Berlin Rechenschaft über die von ihnen vertretene Theologie ablegen. Knapp erklärte, es sei „wirklich beßer, daß die einzelnen Mitglieder, an denen man in Berlin dieses zu tadeln findet, befragt werden und sich für ihre Personen [sic] verantworten“48. Knapps Vor43

S. Anm. 41, ebd. S. Anm. 41, 8v-9r. 45 S. Anm. 41, 9r. Hätte sich die Theologische Fakultät dieser Beschränkung unterworfen, wäre ein Großteil der Schriften Nösselts, Niemeyers und Semlers wohl in den Giftschrank gewandert. 46 Exemplarisch dafür ist UAH Rep. 27 Nr. 1108, 2v. Vgl. auch UAH Rep. 27, Nr. 1108, 2v; 3r; 3v; 10r; 14v; 15r. 47 UAH Rep. 27, Nr. 1108, 15v. 48 UAH Rep. 27, Nr. 1108, 15v. 44

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schlag wurde aber nicht realisiert, sondern man entschloss sich, gemeinsam eine Klageschrift zu verfassen, der dann auch Erfolg beschieden war.49 Die Vorwürfe gegen die Professoren sollten später fallengelassen werden. Warum Knapp die Linie seiner Fakultät verlassen wollte, ist schwer abschließend zu beantworten. Man könnte einerseits Knapps Begründung Glauben schenken, er habe mit diesem Vorgehen nur den Druck von der Fakultät nehmen wollen.50 Andererseits war ihm natürlich bewusst, dass die Vorwürfe sich vor allem gegen seine prominenten Kollegen Niemeyer und Nösselt richteten. Knapp wäre vom Berliner Bannstrahl, wenn überhaupt, dann wohl als einer der letzten halleschen Theologen getroffen worden. Vielleicht aber wollte Knapp tatsächlich nur einen Gedankenanstoß liefern, für ein aus seiner Sicht effektiveres Vorgehen. Eigentümlich bleibt, dass Knapp in der wichtigsten hochschulpolitischen Auseinandersetzung Preußens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus bereit war, den Zusammenhalt des Professorenkollegiums zu gefährden. 4. Knapps theologisches Profil Knapps Aussage bezüglich der Differenzen zwischen ihm und seinen Kollegen lässt die Frage nach seinen theologischen Überzeugungen virulent werden. Um Knapps theologisches Profil näher zu charakterisieren, kann insbesondere sein opus magnum, die postum publizierte Glaubenslehre herangezogen werden.51 Die über eintausend Seiten starke Glaubenslehre52 setzt ein mit einem propädeutischen Abschnitt,53 in dem Knapp unter anderem die Unterscheidung von Theologie und Religion erläutert.54 Theologie wird von Knapp defi49 Vgl. zu diesem ganzen Vorgang: Malte van Spankeren: Johann August Nösselt (1734–1807) – ein Theologe der Aufklärung. Halle/Saale 2012. 50 Diese Begründung nennt Knapp in UAH Rep. 27, Nr. 1108, 15v. 51 Georg Christian Knapp: Vorlesungen über die christliche Glaubenslehre nach dem Lehrbegriff der evangelischen Kirche. Aus der hinterlassenen Handschrift unverändert herausgegeben und mit einer Vorrede begleitet von Carl Thilo. 2 Bde. Halle 1827. 52 Die Glaubenslehre wurde erstmals 1827, zwei Jahre nach Knapps Tod von Thilo herausgegeben und erlebte 1840 ihre Zweitauflage. Die dieser Schrift zugrunde liegenden Vorlesungen hatte Knapp 1785 begonnen. Knapp hatte die Erlaubnis zum Druck seiner Schriften zu seinen Lebzeiten stets verweigert. Vgl. Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], Zweite Vorrede XI. 53 Der Aufbau der Glaubenslehre ist folgender: „Unterscheidung zwischen Religion und Theologie (3–7); Von der Religion als Mittel zur sittlichen Besserung und Vervollkommnung des Menschen (7–10); Von den Religionsgeheimnissen (26–29). 1. Von der heiligen Schrift, als Erkenntnisquelle der Glaubenslehre (48–115); 2. Von dem Daseyn Gottes und dem Begriff von Gott (116– 134); 3–6. Gottes-und Schöpfungslehre: Eigenschaften Gottes, Wesen Gottes, ausführliche Behandlung der Trintitätslehre (135–342); 7. Engellehre (343–406); 8. Vorsehungslehre (407– 448); 9. Sündenlehre (3–112); 10. Christologie (113–322); 11. Heilsordnung (323–381); 12. Gnadenwirkungen (382–417); 13. Ekklesiologie (418–508); 14. Taufe und Abendmahl = Sakramentenlehre (439–508); 15. Die Lehre von den letzten Dingen (509–600).“

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niert als „gelehrte oder wissenschaftliche Erkenntniß von Gott“,55 und ein Theologe „ist also derjenige, der nicht nur die Lehren von göttlichen Dingen weiß und versteht, sondern auch die Geschicklichkeit und Fertigkeit besitzt, sie gründlich zu erklären, zu beweisen, zu vertheidigen, und andere darüber zu belehren“.56 Im Verlauf seines dogmatischen Hauptwerks verwirft Knapp unter anderem die Inspirationslehre57 und erklärt die Irrelevanz trinitarischer Spekulationen, indem er die Trinitätslehre hinsichtlich ihrer neutestamentlichen Anhaltspunkte untersucht und dabei feststellt: „Nirgends im neuen Testamente wird die Trinitätslehre in einer einzelnen Stelle mit allen ihren Bestimmungen deutlich und in ihrem ganzen Umfange vorgetragen“58. Beachtenswert ist, dass die Knappsche Bestimmung der Religion typisch neologisch ist. Knapp definiert Religion als „Mittel zur sittlichen Besserung und Vervollkommnung des Menschen“59. Er erklärt: „Wir kennen und haben keine stärkere Kraft, als diese, zur moralischen Vervollkommnung des Menschengeschlechts.“60 Damit eng zusammen hängt Knapps Überzeugung hinsichtlich der „Bestimmung des Menschen“61 – ein seit der 1748 erschienenen, namensgleichen Schrift von Johann Joachim Spalding zunehmend wichtiges 54

Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 3–7. Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 5. 56 Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 5. 57 So stellt er in § 10 fest: „[D]ie heiligen Schriftsteller sagen auch selbst nirgends, daß sie eine solche Eingebung während des Schreibens immer gehabt hätten“ (Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 90). 58 Er erklärt programmatisch: „[D]iese Lehre ist uns nicht zur Spekulation gegeben bloß für unsern Verstand, sondern zum Genuß für das Herz“ (Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 210). Angesichts dieser Ausführungen über die historische Entwicklung der Trinitätslehre bestätigen sich Knapps Ausführungen in seinem Brief an Friedrich Wilhelm II. Dabei nutzte Knapp, wie sich erst bei einem genaueren Studium seiner 1794 noch nicht in gedruckter Form zugänglichen Glaubenslehre zeigt, durchaus die Skizzierung der theologiehistorischen Entwicklung um die Kontingenz der gegenwärtigen Gestalt des Trinitätsdogmas aufzuzeigen. Bezüglich der theologischen Relevanz dieser Lehre für seine Gegenwart zog Knapp allerdings aus seinen Ausführungen keine direkten Rückschlüsse, sondern überließ diese seinen Hörern. 59 Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 4. Ein konstantes Merkmal seiner Ausführungen in der Glaubenslehre ist Knapps Bestreben, die unterschiedlichen theologiegeschichtlichen Einschätzungen eines theologischen Problems stets gleichberechtigt nebeneinander zu stellen und die zugrunde liegenden Kontraste luzide aufzuzeigen. 60 Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 10. Zum Religionsbegriff bei Knapp vgl. die weiteren Ausführungen ebd., 3 f., 7 f., 10, 17, 73. 61 Es sei „Anlage und Bestimmung des Menschen, immer moralisch vollkommener zu werden; dazu muß er also auch gelangen können“ (Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 8). Zum Begriff der Bestimmung des Menschen s. ebd., 8, 35 f., 163, 302 f., 428, sowie Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 187, 514, 586. „Diese Anlage zum Glückseligwerden über moralische Besserung ist allen Menschen von Natur aus eigen: ‚Es giebt also etwas, worauf uns unsre vernünftige Natur hinweist, als auf das Beste für unsere Wünsche und Bestrebungen, und dies Beste besteht in der sittlichen Vervollkommnung (Heiligung) mit der ihr untergeordneten und bey ihr allein möglichen Fähigkeit zum Glücklichseyn. Also, wachsende Heiligung und die damit im gleichen Verhältniß ste55

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Thema der Aufklärungstheologie. Knapp erläutert diesbezüglich: „Die wahre Bestimmung des Menschen als eines Vernunftwesens ist die immer wachsende moralische Vervollkommnung, (biblisch: Heiligung,) und die damit verbundene verhältnißmäßige Glückseligkeit.“62 Schließlich trägt auch Knapps Christusbild unverkennbar neologische Züge. So stellt er Jesus als exemplarischen Religionslehrer dar, der jeweils die Akkommodationsmethode angewendet habe.63 Analysiert man diese Schrift im Ganzen, wird die Frage virulent, ob man von Knapp noch berechtigterweise als einem pietistischen Theologen sprechen kann. Diese Schwierigkeit ist auch der Forschungsliteratur bewusst gewesen. Auffällig ist, dass dort, wo Knapp erwähnt wird, eine Bestimmung seines theologischen Denkens in der Regel als zwischen Pietismus und Neologie stehend charakterisiert wird,64 oder man tituliert Knapp als „milde[n] Supranaturalist“65. Für diese Skrupolosität der Forschung gibt es gute Gründe. Denn neben den gerade dargelegten neologisch geprägten Äußerungen Knapps finden sich in seiner Glaubenslehre beispielsweise bezüglich der Sündenlehre auch folgende Aussagen: „Der wahre Grund, warum viele sie nicht predigen, ist [. . .] der, weil sie vielen ihrer Zuhörer nicht gefällt [. . .] und weil sie [die Pfarrer] selbst gern sich den Menschen gefällig machen wollen.“66 Knapp fordert aber, dass die Lehre von der Sünde „so vorgetragen wird, wie [sie] in der heiligen Schrift“67 steht, denn seiner Wahrnehmung nach würde die Erkenntnis der hende Glückseligkeit ist die Bestimmung des Menschen.‘“ (Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 303) 62 Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 8. Der Begriff der Glückseligkeit wird von Knapp vielfach in seiner Glaubenslehre angesprochen. S. beispielsweise Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 306, wo Glückseligkeit und Christologie eng verbunden werden. S. dazu auch ebd., 312 f. Zum Begriff der Glückseligkeit s. ebd., 355, 586. Vgl. dazu auch seine Aussage: „Da übrigens der höchste Zweck einer Gottesoffenbarung der seyn muß, den Menschen zu seiner höhern Bestimmung zu führen (moralische Vervollkommnung und Glückseligkeit [. . .]) so kann sie durchaus nichts enthalten, was diesem Zweck entgegen wäre. Keine Schrift, die dergleichen enthielte, könnte inspiriert sein. So weit Kant und Fichte u. a. richtig“ (Knapp, Glaubenslehre I [s. Anm. 51], 93 Anm. 1). 63 Sein Schwiegersohn Thilo schrieb: „Sein Religionsunterricht, den er öffentlich gab, war übrigens in hohem Grade gemeinfaßlich, durchgängig praktisch, den Bedürfnissen seiner Zuhörer angemessen [. . .] und so, daß er immer die Gelegenheit, den Ort, und die Zeitumstände weise benutzte“ (Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 156 f.). 64 Exemplarisch sei hier auf den von seinem Nachfolger Tholuck begonnenen und von Georg Müller zu Ende geschriebenen Artikel aus Band 10 der RE3, 588–590, hier 588, verwiesen, wo es heißt, Knapp habe „einerseits die Stärke und die Schwäche des Pietismus überkommen [!], andererseits manche Einflüsse der Aufklärungstheologie der Zeit an sich erfahren“ (August Tholuck [Georg Müller]: „Art. Knapp, Georg Christian“. In: RE3 10, 588). 65 Martin Brecht schreibt über Knapp, dieser gelte theologisch als „milder Supranaturalist [. . .der] der herrschenden Aufklärungstheologie zumindest keinen erheblichen Widerstand entgegenzusetzen vermochte“ (Martin Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Geschichte des Pietismus 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 320. 66 Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 67. 67 Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 67.

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eigenen Sündhaftigkeit den Menschen erst dazu anspornen, sittlich besser zu werden.68 Um zu erklären, weshalb die Lehre vom sittlichen Verderben der Menschen zu seiner Zeit in Abgang geraten ist, erläutert er: „Auch sind [. . .] leider viele Religionslehrer selbst ungebesserte Menschen, schon im elterlichen Hause tief in sittliches Verderben versunken, dann noch mehr auf Schulen und Universitäten, und hernach haben sie im Predigerkleide oft nur ihre äußern Sitten und ihre Aufführung, nicht aber das Innerste des Herzens geändert. Solche sind dann blinde Führer der Blinden.“69 Diese Aussagen stehen zu einer potentiellen Einordnung Knapps als lupenreinem Neologen in einer gewissen Spannung. Hinsichtlich dieses eindeutig uneindeutigen Befundes kann man bezüglich des theologischen Profils Knapps festhalten: Knapp ist zweifellos von den wichtigsten theologischen Überzeugungen der Neologie, wie sie ihm insbesondere in den Seminaren eines Semler und Nösselt begegnet waren, nachhaltig geprägt worden.70 Seine Unterscheidung von Theologie und Religion und zumal sein Religionsverständnis tragen ausgeprägte neologische Züge. Daneben aber hält er in der traditionellen Sündenlehre an älteren, durch die Neologie zunehmend antiquierten Vorstellungen fest. Bezeichnend für Knapp ist ferner, dass er eine formale Religiosität, die auf äußeres Bezeigen Wert legt, strikt ablehnt. Dies zeigt sich beispielsweise in seiner Anleitung71, einer zeitgenössisch erfolgreichen Erbauungsschrift. Für Knapp ist es wichtig zu betonen, dass ein sich bekehrt Nennender nicht vor Rückfällen in sündige Verhaltensweisen gefeit sei: „[A]uch Bekehrte und Gebesserte, gehören, so lange ihre Erziehungszeit auf Erden dauert, zu den Sündern; sie sind den genesenden Kranken gleich, deren Besserung noch unvollendet ist; [. . .] sie sind auch, wie diese noch immer der Gefahr des Rückfalls ausge-

68 Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 67. S. zum Thema auch Georg Christian Knapp: Gehört die Lehre von dem sittlichen Naturverderben des Menschen in den Religionsunterricht für Volk und Jugend und wie ist sie darin vorzutragen? In: Ewalds Christliche Monatsschrift. Bd. 2. 1802, 3–19. 69 Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 68. 70 Von wem Knapp in seinen theologischen Vorstellungen geprägt worden ist, ist bislang nicht ermittelt worden. Neben dem Vater, der sich als prägende Gestalt naturgemäß nahe legt, dürfte insbesondere sein Hallenser Lehrer, J.A. Nösselt, dem Knapp in einigen Ämtern nachfolgen sollte, einen gewissen Einfluss auf Knapp ausgeübt haben. So verwies Knapp für ein besseres Verständnis des Phänomens der späten Besserung explizit auf Nösselts Schrift: Johann August Nösselt: Über den Werth der Moral, der Tugend und der späten Besserung. Halle 1777. Vgl. Knapp, Glaubenslehre II [s. Anm. 51], 377 Anm. 1. 71 Diese noch in der Zweitauflage mit 5.000 Exemplaren aufgelegte, 48 Seiten starke Schrift, Anleitung zu einem gottseligen Leben nach christlichen Grundsätzen, – eine der wenigen zu Knapps Lebzeiten erschienenen Schriften – wurde erstmals 1806 veröffentlicht und erfüllte offenbar ein zeitgenössisches Bedürfnis nach erbaulicher Lektüre. In den 19 Paragraphen dieser Schrift betont Knapp die Notwendigkeit, unbedingtes Vertrauen auf Christus zu setzen, der von ihm zwar traditionell Retter und Erlöser, daneben jedoch auch „Arzt und Helfer“ genannt wird. Georg Christian Knapp: Anleitung zu einem gottseligen Leben nach christlichen Grundsätzen. Eine weitere Ausführung der Betrachtung über die Frage: Was soll ich thun, daß ich selig werde? Halle 51827.

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setzt“.72 Damit wendet sich Knapp offenkundig gegen jedwede Form eines Bekehrungsschematismus.73 Knapp ist demnach stark neologisch geprägt, ohne dabei alle Grundüberzeugungen der Neologie zu teilen. Sein Auftreten darf nicht verwechselt werden mit seinem theologischen Denken. Auch von Knapp gilt, was analog über Nösselt und viele andere hallesche Theologen im 18. Jahrhundert zu sagen ist: Die pietistische Prägung des Elternhauses haben sie zeitlebens beibehalten, sobald sie allerdings den Katheder betraten, lehrten sie im Wesentlichen neologische Gedanken. 5. Knapp als Direktor der Franckeschen Stiftungen 5.1. Die Doppelbesetzung Am Freitag, dem 22. Juli 1785 ereignete sich ein Novum in der Geschichte der Franckeschen Stiftungen. Erstmals gab es in der Folge zwei Vizedirektoren, die dann seit 1799 auch gemeinsam für ein Vierteljahrhundert das Direktorat ausüben sollten: Knapp und Niemeyer. Knapp war für eine Leitungsfunktion innerhalb der Franckeschen Stiftungen prädestiniert. Geboren und aufgewachsen in den Stiftungen war er mit deren Spezifika und Problemen präzise vertraut und hatte durch die Direktorentätigkeit seines Vaters außerdem intime Einblicke in die administrative Verfasstheit des Waisenhauskomplexes gewonnen. Als Theologieprofessor war er überdies auch wissenschaftlich ausreichend präpariert. Insofern verwundert es, weshalb nach dem Tod von Gottlieb Anastasius Freylinghausen, in dessen Folge der bisherige Vizedirektor Johann Ludwig Schulze74 1785 zum Direktor der Franckeschen Stiftungen aufstieg, nicht sogleich Knapp zum alleinigen Vize ernannt wurde. Allerdings wäre auch eine Entscheidung zu Gunsten Niemeyers plausibel gewesen. Für Niemeyer sprachen nicht nur seine familiären Verbindungen mit den Franckeschen Stiftungen als Urenkel August Hermann Franckes, sondern außerdem, dass er durch seine Inspektorentätigkeit seit 1784 bereits mit einer Position in den Stiftungen betraut war. Schließlich galt Niemeyer als moderner Pädagoge, dem es mutmaßlich gelingen konnte, die Franckeschen Stiftungen vom zeitgenössischen Stigma einer vermeintlichen pädagogischen Rückständigkeit zu befreien. Insofern verwundert es sogar noch mehr, wieso statt einem sehr geeigneten Kandidaten erstmals zwei mit dem Amt des Vizedirektors und damit automatisch auch beide mit der Anwartschaft auf 72

Knapp, Anleitung [s. Anm. 71], 16. Bei seinen häufigen Begriffserläuterungen zentraler Termini wie Buße, Besserung und über den Status des Wiedergeborenen, fällt generell auf, dass er stets die praktischen Folgen, die aus diesen Begriffen abgeleitet werden, besonders hervorhebt. 74 Johann Ludwig Schulze (1734–1799) war ein pietistisch geprägter Theologe. Sein Theologiestudium begann er 1733 an der Friedrichs-Universität und war seit 1769 als Professor in Halle tätig. 73

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den Direktorenposten betraut worden sind. Welche Gründe waren für diese bis dato singuläre Doppelbesetzung ursächlich?75 Ein undatierter handschriftlicher Bericht Knapps, der im Archiv der Franckeschen Stiftungen aufbewahrt wird, gibt diesbezüglich Auskunft. Im Februar 1785, als Freylinghausen im Sterben lag, kam ein gewisser Fabricius zu Knapp und überbrachte ihm im Auftrag Schulzes die Anfrage, ob er künftig dessen Stellvertreter werden wolle.76 Knapp rechnete, laut eigener Aussage, allerdings mit Niemeyer als dem künftigen Vizedirektor.77 Deshalb will Knapp auch gegenüber Fabricius erklärt haben, er wolle niemanden, „der gegründete Ansprüche hätte, verdrängen“. Fabricius aber klärte ihn auf, dass es allein vom alsbald zum Direktor aufsteigenden Schulze abhänge, wen er als Stellvertreter vorschlage. Und dieser würde, auch wenn Knapp das Angebot ausschlagen sollte, auf keinen Fall Niemeyer zum Vize berufen.78 Den Grund dafür blieb Fabricius allerdings schuldig. Knapp wurde gebeten, sich rasch zu entscheiden, denn Freylinghausens Tod schien nahe, und man wollte eine Vakanz auf dem Stellvertreterposten vermeiden. Knapp entschloss sich, das attraktive Angebot anzunehmen, und am 18.02.1785, am Todestag Freylinghausens, ging ein Brief über die Berufung Knapps nach Berlin ab. Allerdings hatte Zedlitz bereits 1784 Niemeyer sein Wort gegeben, ihn künftig zum Mitdirektor zu ernennen.79 Weil Zedlitz durch die Berufung Knapps somit in Verlegenheit geraten war, wandte er sich an Schulze.80 75 Der spätere Direktor Kramer schreibt über dieses Novum lediglich andeutend: „Der bisherige Condirector Schulze folgte ihm [Freylinghausen] in der Direction, und erwählte, in der Folge einer durch den Minister v. Zedlitz veranlaßten sehr entschiedenen Königlichen Cabinetsordre, neben dem Professor der Theologie D. Christian Georg [sic] Knapp den D.A.H. Niemeyer zum Condirector.“ (Gustav Kramer: Kurze Geschichte des Stifters und seiner Stiftungen seit ihrem Entstehen bis auf die gegenwärtige Zeit. In: Die Stiftungen August Hermann Francke’s in Halle. Hg. v. Directorium der Franckeschen Stiftungen. Halle 1863, 57–150, hier 122. 76 „Der sel. Dr. Freylinghausen starb d. 18. Februar 1785, des Morgens um 5 Uhr. Etwa 3 oder 4 Tage vor seinem Tod kam der Herr Inspektor Fabricius [. . .] zu mir und trug mir im Namen des Herrn D. Schulze die Mitdirektion des Paedagogii und des Waisenhauses an, auf dem fall, wenn Hr. Dr. Freylinghausen sterben sollte.“ (AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r). 77 „Mir war dieser Antrag ganz unerwartet [. . .] Es war mir [. . .] ausgemacht, daß Hr. Professor Niemeyer der schon seit 1784, auf des Minister v. Zedlitz Vorschlag, Inspektor des Pädagogii gewesen war, Nachfolger sey, und also jetzt zur Condirektion gelangen müßte.“ (AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r). Ob hier lediglich Bescheidenheitstopik vorliegt, oder Knapp tatsächlich Niemeyer für den naheliegendsten Kandidaten hielt, ist schwer zu entscheiden. Auffällig ist jedoch, dass er in seinem Bericht ausdrücklich darauf hinweist, dass die Familie des Stifters – Niemeyer war bekanntlich Franckes Urenkel – ältere Anrechte habe, zumal auch mit Freylinghausen direkt davor schon ein Enkel Franckes das Amt innegehabt hatte. 78 AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r. 79 Knapp erzählt: „Man erfuhr bald darauf, daß der Minister des geistl. Departements, Freyherr von Zedlitz, dem Hrn. Prof. Niemeyer schon damals, als er ihn zum Inspektor des Pädagog. in Vorschlag gebracht hatte, versprochen habe, daß er einst Mitdirektor werden sollte.“ (AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r) 80 „In einem Privatschreiben an Hrn. D. Schulze gab er dies alles auch sehr deutlich zu erkennen, und verlangte, daß er seinen erstern Bericht zurücknahm und einen andern einreichen solle,

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Wochenlange Korrespondenzen zwischen Halle und Berlin waren die Folge. „Hr. D. Schulze ließ sich durch alle Vorstellungen des Minister v. Zedlitz nicht bewegen, seinen Vorschlag zurückzunehmen; sondern berief sich auf die Privilegia“81. Nachdem Zedlitz einsehen musste, dass der neue Direktor selbstbewusst das althergebrachte Privileg, seine Nummer zwei und damit den mutmaßlichen Nachfolger selbst zu bestimmen, nicht aufgeben würde, wandte sich Zedlitz schließlich direkt an Knapp. Er bat ihn, berichtet Knapp „daß ich auf die Stelle selbst Verzicht thun möchte, da er Herrn N[iemeyer] die Versprechung“ schon gegeben hatte. Knapp aber wollte nunmehr ebenfalls nicht mehr verzichten: „Ich suchte es aber dem Minister deutlich zu machen, daß ich mein dem Hrn. D. Schulze einmahl gegebenes Wort [Streichung] [. . .] nicht zurücknehmen könne“82. Dieses Argument war geschickt gewählt, denn Zedlitz konnte Knapp kaum bitten, ein einmal gegebenes Wort zurückzuziehen, wenn er selber dazu nicht bereit war. Weil Zedlitz offensichtlich Knapp nicht abschlagen konnte, dasselbe Recht in Anspruch zu nehmen wie er selbst, wandte er sich wiederum an Schulze und schlug ihm als Kompromiss vor, den Antrag dahingehend abzuändern, dass Knapp hinter Niemeyer als dritter Direktor der Franckeschen Stiftungen berufen würde. Der Waisenhausdirektor aber konnte oder wollte offenbar in diesem Vorschlag keine Kompromisslösung erkennen, sondern ging seinerseits in die Offensive. Angesichts der verfahrenen Situation wollte sich Schulze, so berichtet Knapp, direkt an Friedrich II. wenden. Das aber wollte Zedlitz wiederum verhindern, weil er laut Knapp befürchtete, der König könnte dem Direktor recht geben: „Dahin wollte es der Minister nicht kommen laßen, weil er wohl wußte, daß der König nicht wider die Privilegia entscheiden werde.“83 Zum ersten Mal schien in der Folge eine Doppellösung als Kompromiss in Sicht und Knapp wurde gefragt, ob er Einwände habe, wenn Niemeyer „auch ins Direktorium käme“. Knapp erklärte verbindlich: „Ich antwortete darauf, daß ich für meine Person nichts dagegen hätte, sondern daß ich vielmehr mit dem Hn. Prof. gern gemeinschaftlich arbeiten wolle.“84 Der Kompromiss wurde beschlossen und Knapp

worin Hr. Prof. N. in Vorschlag gebracht würde: an meiner Person habe er nichts auszusetzen, wolle auch auf ander Art für mich sorgen, nur wolle er nicht gern in die Verlegenheit kommen, sein einmahl gegebenes Wort zurücknehmen zu müßen; zumahl da Hr. Prof. Niemeyer die Stelle als Inspektor bloß unter der Bedingung angenommen habe.“ (AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r) 81 AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r. 82 AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r. 83 Laut Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 8], 130, lag das Recht zur Ernennung des Nachfolgers beim Direktor. 84 Knapp erläutert, er habe versucht, Schulze zum Umdenken zu bewegen: „Ich suchte ihn aber durch Vorstellungen davon [scil. dem Widerstand gegen die Doppelbesetzung] abzubringen“. Besonders betonte Knapp die geringen Erfolgsaussichten, wenn man gegen den erklärten Willen eines Ministers an den König appellieren wolle: „Er entschloß sich daher endlich, einen Bericht nach Berlin abgehn zu laßen, worin er mich und Hn. Prof. Niemeyer zur Mitdirektion vorschlug, und um Confirmation ansuchte.“ (AFSt/N Knapp 1 : 26, 1r)

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für sein Verhalten von Zedlitz belobigt.85 Mit dem Novum einer Doppelbesetzung des Vizedirektorenpostens schien das Problem, die Kontinuität der Leitung zu wahren, offenbar zur Zufriedenheit von zumindest drei Beteiligten gelöst: Zedlitz hatte den von ihm favorisierten Niemeyer zumindest als einen von zwei künftigen Nachfolgern für den Direktorenposten durchsetzen können.86 Niemeyer hatte die ihm ein Jahr zuvor bereits in Aussicht gestellte Position nunmehr erhalten, und Knapp hatte ein weiteres zusätzliches Amt inne, für das er prädestiniert war. Außerdem hatte er durch sein vermittelndes Verhalten in diesem Konflikt die langjährigen Spannungen zu Zedlitz offenbar abmildern können. Lediglich der neue Direktor der Franckeschen Stiftungen, Schulze, hatte sich nur partiell durchsetzen können. Zwar war es ihm gelungen, den von ihm favorisierten Kandidaten als potentiellen Nachfolger zu installieren, jedoch musste er sich auch mit einem Nachfolger Niemeyer gedanklich anfreunden. Auch wenn Schulze mit diesem Kompromiss auf den ersten Blick so viel gewonnen zu haben schien wie Zedlitz, erscheint er doch insgesamt als derjenige, dem es nicht gelungen war, Niemeyer als Vize zu verhindern. Glaubt man der Darstellung Knapps, war es Schulze im Kern weniger darum gegangen, Knapp durchzusetzen als vielmehr darum, Niemeyer zu verhindern. Letzteres aber war ihm nicht gelungen. Ob die eigentliche Konfliktlinie zwischen Schulze und Niemeyer verlief, oder aber sogar zwischen Schulze und Zedlitz – man könnte sich gut vorstellen, dass es hier um die Frage nach der Vollmacht des Direktors oder des Ministers bei der Leitung der Franckeschen Stiftungen ging – ist letztlich schwer zu entscheiden. Dafür bräuchte man sehr viel mehr Informationen über den bislang völlig unbekannten 85 Von Zedlitz, erzählt Knapp, habe „schriftlich gegen mich [. . .] auch mündlich gegen andere zu erklären gegeben, daß er mit meinem Verhalten in dieser Sache, völlig zufrieden sey.“ 86 Zedlitz’ Engagement für Niemeyer dürfte durchaus auch seiner Einschätzung geschuldet gewesen sein, durch Niemeyer einer pädagogischen Modernisierung der Stiftungen zu initiieren. Diese schien insofern Mitte der 1780er Jahre notwendig, weil die Stiftungen neben einer Wirtschaftskrise zunehmend auch für ihre Pädagogik teils heftig kritisiert wurden. Im von Karl Philipp Moritz herausgegebenen Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 1783 wird der vermeintliche Lebensweg eines Robert G***. geschildert: „Vierzehn Tage leb’ ich nun in Halle, doch nein, in Halle nicht, sondern auf dem Waisenhause! [. . .] O wie sind meine Vorstellungen getäuscht – dieß Hauß scheint für Diebe und Mörder bestimmt zu sein“ (Zit. n. Christian Soboth: Ein „Wunder unsers Jahrhunderts“ oder „ein Hauß für Diebe und Mörder“? Innen- und Außenansichten von den Glauchaschen Anstalten im 18. und 19. Jahrhundert. In: Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe. Hg. v. Holger Zaunstöck. Halle/Saale 2010 [Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 25], 145–150). Ich danke Christian Soboth (Halle) für sachdienliche Hinweise. Ein weiterer Zeitgenosse, Johann Georg Brieger, der 1788 seine Historisch-topographische Beschreibung der Stadt Halle im Magdeburgischen publiziert hatte, kommt zu der Einschätzung: „Auswärtige halten dafür, das Hallische Waysenhaus sey eine bewährte Tugendschule und mit dem Unterricht darinn könne keine bessere Einrichtung getroffen werden; allein die Erfahrung hat es gelehrt und lehret es täglich, daß Sittenverderbniß der Jugend nirgends so im Schwange sey, als eben in dieser Tugendschule, – die Erfahrung lehret es, daß hier Laster geübt werden, für denen der Menschenfreund sich entsetzt!“ (Johann Georg Brieger: Historisch-topographische Beschreibung der Stadt Halle im Magdeburgischen. Grottkau 1788, 177)

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Schulze. Zumindest kann festgehalten werden, dass die einmalige Doppelbesetzung des Vizedirektorenpostens, die schließlich 1799 auch zu einer erstmalig geteilten Leitung führen sollte, aus einem Konflikt resultierte, den der damalige Direktor Schulze berechtigterweise gesucht hatte, auch um dabei seine Privilegien als Direktor zu wahren. Obskur bleibt die Rolle von Zedlitz, der offenbar schon hinter Schulzes Rücken und noch ein Jahr vor Freylinghausens Tod Niemeyer eine Stelle versprochen hatte, ohne dabei den künftigen Direktor Schulze in die Verhandlungen mit einzubeziehen. 5.2. Knapps Engagement für die Franckeschen Stiftungen Rechnet man ihre Zeit als Vizedirektoren ein, sollte niemand bis dato so lange an der Spitze der Franckeschen Stiftungen tätig sein wie Niemeyer und Knapp. In einem schriftlichen Bericht formulierten sie die Ziele ihrer Zusammenarbeit. Sie erklärten darin, diese Doppelspitze sei explizit als Ausnahmeregelung zu verstehen.87 Offenbar waren sie bemüht zu verhindern, dass durch diese Doppelbesetzung ein Präzedenzfall geschaffen wurde. Vermutlich wollten sie ganz schlicht einer Situation vorbeugen, in der künftig mehrere Kandidaten um den Vizedirektorenposten konkurrieren könnten. Außerdem wollten sie wohl für ihre Person das Privileg des Direktors, sich seinen Nachfolger selbst auszusuchen wieder in Kraft setzen, erkannten sie darin doch zu Recht ein wichtiges Element der autonomen Selbstverwaltung der Stiftungen. Des Weiteren erklärten beide, sich stets über alle für die Franckeschen Stiftungen relevanten Angelegenheiten gegenseitig in Kenntnis zu setzen, öffentliche Stellungnahmen gemeinsam zu unterzeichnen und die verschiedenen Geschäftsbereiche paritätisch untereinander aufzuteilen. Knapp erhielt die Oberaufsicht über das Waisenhaus, die Latina, die Bibliothek und das Missionswesen, Niemeyer übernahm die Aufsicht über die deutschen Schulen, insbesondere über das Pädagogium und die Buchhandlung. Personalentscheidungen in einem dieser Bereiche fielen zwar grundsätzlich in den Zuständigkeitsbereich des jeweils verantwortlichen Vizes, der das „ius praesentandi et denominandi“ inne hatte, sein Kollege besaß allerdings ein Vetorecht. Finanzielle Angelegenheiten und die Gesamtverwaltung sollten die Vizedirektoren gemeinsam verhandeln. Es lässt sich hier deutlich erkennen, dass die Grundlagen für eine effektive Verwaltungstätigkeit zwar einerseits verbindlich festgelegt wurden, allerdings andererseits flexibel gehandhabt werden konnten. Insgesamt scheint die Zusammenarbeit zwischen Niemeyer und Knapp im Wesentlichen reibungslos von Statten gegangen zu sein, von größeren Kon87 In einem auf den 21.06.1785 datierten Schreiben heißt es diesbezüglich, es dürfe, „in casu mortis des zeitigen Directoris 1) keiner von ihnen in Absicht der Ansprüche und Rechte auf die Directionem und des damit verbundenen Namens, Ansehens und Einflusses vor den andern etwas vorauszuhaben begehre[n] und alsdann beide, ebenso wie bisher der erste Director, als Director konsideriert werden sollen“ (Zit. n. Fries, Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 7], 41 f.).

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flikten zwischen den Beiden ist zumindest nichts bekannt geworden.88 Von ihren Zeitgenossen sollen die beiden im Übrigen öfter als Luther und Melanchthon bezeichnet worden sein.89 Ein wichtiges Feld der gemeinsamen Tätigkeit war die Steigerung der Einnahmen. Diese waren unter anderem infolge eines Einbruchs des Medikamentenabsatzes90 und allgemeiner Preisteuerungen schon seit Beginn der 1770er Jahre im Absinken91 begriffen.92 Dieser Steigerung des Finanzaufkommens war eine von Niemeyer, Knapp und Schulze seit 1792 gemeinsam herausgegebene Zeitschrift verpflichtet, welche die Spendeneinwerbung stimulieren sollte. In Frankens Stiftungen wurde die

88 In seiner 1825 auf Knapp gehaltenen Gedenkrede berichtet Niemeyer, dass er oft den nur wenig Älteren um Rat gefragt hatte. Niemeyer sieht sich selbst als denjenigen, „der ih[m] in so vielen Beziehungen am nächsten stand, der einer der unmittelbarsten Zeugen seiner unermüdeten Thätigkeit in seinem Lehrerberuf war, dem so manches stille Verdienst, das sich dem Auge der Welt entzog, nicht unbemerkt bleiben konnte, der es hier selbst dankbar anerkennt, daß er oft für seine eignen Gedanken, Versuche, Entwürfe, wo er zweifelhaft blieb, in seinem Urtheil und Rath eine beruhigende Sicherheit fand“ (Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 8 f.). 89 Offenbar handelte es sich dabei um eine Anspielung auf ihre unterschiedliche körperliche Konstitution: Während Niemeyer groß und stattlich war, war Knapp eher hager mit „bescheidenem Ausdruck“ (Fries, Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 7], 117). 90 Der Medikamentenverkauf, der 1770 noch 25.000 Taler eingebracht hatte, war derart eingebrochen, dass die Erlöse 1796 nur noch 7.400 Taler betrugen. Kramer erläutert: „Nachdem aber der Vertrieb derselben durch medicinalpolizeiliche Verbote in den meisten Ländern mehr und mehr erschwert und eingeschränkt worden war, und zugleich die medicinische Wissenschaft allmählig eine andere Richtung als früher genommen hatte, sank er stets von Jahr zu Jahr“ (Kramer, Geschichte [s. Anm. 75], 122 f.). 91 Hinzu waren Viehseuchen und finanzielle Belastungen während des Siebenjährigen Krieges und in den Jahren 1771/1772 getreten, als man trotz verminderter Einnahmen und Spendenzuwendungen, die Ausgaben für die Anstalten permanent auf ihrem vorherigen Niveau hielt. Die finanzielle Situation wurde zusätzlich durch ein strukturelles Einnahmendefizit verstärkt. Die Einnahmen der Stiftungen sanken zwischen 1780 und 1795 um ein Drittel. Vgl. Klosterberg, Niemeyer [s. Anm. 2], 112. 92 Im Vorwort des ersten Bandes ihrer Zeitschrift Frankens Stiftungen erwähnen die Herausgeber die aus ihrer Sicht in der Vergangenheit notwendigen, aber finanziell belastenden Entscheidungen ihrer Vorgänger. Insbesondere während des Siebenjährigen Krieges und in den Jahren 1771 und 1772 drückte einerseits Teuerung die Stiftungen, andererseits behielten diese aber ihre Ausgaben auf konstant hohem Niveau: „Diese großen Anlagen sind zurückgeblieben, aber die Mittel sie zu erhalten, haben uns unsere Vorgänger nicht hinterlassen können, da sie selbst nicht von sichern Fonds, sondern von dem lebten, was ihnen die Vorsehung Gottes jedes Jahr zufließen ließ. Daher litt das Waisenhaus zu solchen Zeiten doppelt, wo Theurung das Land drückte. Denn es hatte keine Quellen für die Zeit der Noth. Man glaubte auch, es sey seiner Bestimmung angemessen, gerade zu solchen Zeiten am meisten Gutes zu thun. Daher ward weder in den schweren Jahren des siebenjährigen Krieges, noch in den noch schwereren der großen Theurung, unter welcher 1771 und 1772 ganz Deutschland seufzte, die Wohlthätigkeit vermindert. Die vielen Hunderte, welche freye Kost genießen, wurden nach wie vor zweymal des Tages gespeiset. Der Anblick so vieler Elenden auch in dieser Stadt, die fast vor Hunger verschmachteten, war den damaligen Directoren so rührend, um nicht das Aeußerste zu thun.“ (Frankens Stiftungen. Eine Zeitschrift zum Besten vaterloser Kinder. Hg. v. Georg Christian Knapp [u. a.]. Bd. 1. Halle 1792, 6)

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Geschichte der Stiftungen und ihres Gründers erzählt.93 Damit sollten die Belange und Sorgen der Stiftungen94 einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden.95 Die Herausgeber schilderten darin die Geschichte des Waisenhauses und ihres Gründers, streuten dabei biographische Studien96 und Anekdoten ein und beschrieben deutlich die wirtschaftliche Schieflage, in der sich die Stiftungen immer noch befanden. Die Vorwürfe, im Waisenhaus würden veraltete pädagogische Methoden angewendet, parierten die Direktoren mit dem Verweis auf die ungenügende Kenntnisnahme der mittlerweile dort praktizierten Modernisierung. So sollen viele Zeitgenossen der Meinung gewesen sein, dass die Stiftungen „unabänderlich bey der Erziehungs- und Lehrmethode blieben, welche vor einem halben Jahrhundert in ihnen geherrscht hatte. Im Pädagogium war dies in der That nicht der Fall. Aber man glaubte es im Publicum. Man hatte von manchen zweckmäßigen Abänderungen und Fortschritten nicht gehört, weil sie ohne Geräusch vorgenommen und öffentlich nie davon die Rede gewesen war.“97 Die Gründung dieser Zeitschrift war auch insofern folgenreich, weil künftig der jeweilige Direktor die Geschichte und Geschicke der Franckeschen Stiftungen populärwissenschaftlich einem breiteren Publikum bekannt machen sollte. Diese Zeitschrift erlebte jedoch nur zwölf Bände und wurde bereits 1798 eingestellt. In eine bedrohliche Lage gerieten die Stiftungen im Herbst 1806, als französische Truppen Halle eroberten.98 Der Schutz der Anstalten wurde durch Napoleon garantiert, wobei ein ehemaliger Zögling der Stiftungen offensichtlich eine wichtige Rolle als Vermittler spielte.99 Allerdings wurde die Situation in den folgenden Tagen zunehmend kritisch: Die für die Kranken auf dem 93

Vgl. Anecdoten aus Frankens Leben [. . .]. In: Frankens Stiftungen [s. Anm. 92] 3, 97–102. Ursächlich für die finanzielle Misere der Stiftungen sind laut den Herausgebern insbesondere, „daß die Güter, die das Waisenhaus würklich besitzt, bey weiten keinen hinreichenden Fond zur Erhaltung der Schulen geben, geschweige denn unsre große Oekonomie zu bestreiten; daß die milden Wohlthaten beynah ganz aufgehört haben; daß endlich das Waisenhaus in neueren Zeiten sich weder reicher Erbschaften, noch irgend einer außerordentlichen Unterstützung des Staats, gleich andern Anstalten, zu erfreuen gehabt hat.“ 95 Mit dieser Zeitschrift stiegen die Franckeschen Stiftungen relativ spät in die Zeitschriftenpublikation ein, konnten aber dennoch in der Folge Gewinn erzielen sowie zusätzliche Spenden eintreiben. Vgl. Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 8], 116 f. 96 S. dazu beispielsweise Georg Christian Knapp: Speners Leben, Verdienste und Streitigkeiten. In: Franckens Stiftungen [s. Anm. 92] 1, 79–114. Zu Knapps Einschätzung Speners s. Georg Christian Knapp: Philipp Jacob Spener. Geboren den 13. Januar 1635. Gestorben den 5. Febr. 1705. In: Der Biograph. Bd. 4. Halle/Saale 1804, 127–160. 97 Frankens Stiftungen [s. Anm. 92], 289 f. 98 Der Augenzeuge Föhlisch schildert das Kampfgeschehen im Oktober 1806: „Eine nicht ferne Batterie erschütterte das Wohngebäude heftig und die Waffentrümmer, welche man am folgenden Morgen in den nahen Gärten vorfand, bewiesen die Größe der Gefahr, worin die Anstalt während des blutigen Kampfes geschwebt hatte“ (Johann Gottlob Erdmann Föhlisch: Erinnerungen an Dr. August Hermann Niemeyer, vormaligen Kanzler der Universität zu Halle, als Pädagogen: Ein Beitrag zur neuern Geschichte der Pädagogik und der gelehrten Schulen. Wertheim 1834, 75). 99 „Nach der Ankunft des Kaisers eilte ein Ordonanzoffizier desselben, ein ehemaliger Zögling 94

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Waisenhaus vorgesehenen Weinvorräte wurden von den Franzosen beschlagnahmt und getrunken, und plötzlich verbreitete sich die Nachricht von der Schließung der Universität.100 In dieser kritischen Situation entwarf Knapp, dem in Abwesenheit Niemeyers, welcher sich gerade auf einer Reise nach Münster befand, die alleinige Leitung oblag, eine an Napoleon adressierte Bittschrift um den Erhalt der Stiftungen. Anders als die Professoren, die mit ihrer Bitte um den Weiterbetrieb der Universität bekanntermaßen keinen Erfolg hatten, drang Knapp mit seinen Anliegen beim Kaiser durch. Die Bittschrift, in der Knapp Napoleon vor Augen führte, dass eine Schließung der Stiftungen unweigerlich dazu führen würde, dass eine Vielzahl von Waisenkindern schutzlos und ohne Versorgung in den Kriegsgebieten sich alleine durchschlagen müssten, wurde wohlfällig aufgenommen. Der Betrieb der Franckeschen Stiftungen wurde aufrechterhalten.101 Infolge der überraschenden Deportation Niemeyers nach Frankreich zwischen Mai und Oktober 1807 war dann Knapp noch einmal alleinverantwortlich für die Aufrechterhaltung der Arbeit der Stiftungen unter Besatzungsbedingungen.102 6. Ein Resümee Georg Christian Knapp war nicht Halles letzter Pietist. Zu eindeutig hat er neologische Überzeugungen vertreten, als dass man ihn berechtigterweise einen pietistischen Theologen nennen könnte. Zugleich haben seine Überlegungen zur Sündenlehre gezeigt, dass er, im Gegensatz zur Mehrheit der Neologen, bezüglich dieses Theologoumenons an einer älteren Lehrvorstellung

des Pädagogiums, seinen Lehrern freudig und dankbar entgegen, und stellte die Anstalt durch eine Schutzwache sicher.“ (Föhlisch, Erinnerungen [s. Anm. 98], 76) 100 Knapp berichtet, unter den Zeitgenossen verbreitete sich in Folge der Schließung der Universität die Befürchtung, dass „das Pädagogium, was als ein Annexum derselben Schutz und Schirm zu finden gehofft hatte, in Gefahr sei, mit ihr aufgelöst zu werden“ (Föhlisch, Erinnerungen [s. Anm. 98], 77 f.). 101 Wie sehr Knapp diese Angelegenheit beschäftigt hat, wird auch daran deutlich, dass er seine ansonsten sehr reichhaltige Briefkorrespondenz zwischen dem 11.10.1806 und dem 10.01.1807 nahezu völlig eingestellt hat. Anfang November 1806 ließ Knapp eine Anzeige in den wichtigsten Zeitungen schalten, dass auch neue Schüler wieder aufgenommen werden könnten, jedoch sorgten die unsichere Gesamtlage sowie die Kosten für die Einquartierung von Soldaten für eine deutliche Verschlechterung der finanziellen Situation der Stiftungen. Insbesondere die Schulen der Stiftungen waren von der Auflösung der Universität betroffen, denn infolgedessen mangelte es an Lehrern für den Unterricht. Außerdem stockten die königlichen Zahlungen und die Einkünfte aus Verpachtungen und Buchverkäufen waren auf ein sehr niedriges Niveau gesunken. Vgl. Fries, Die Franckeschen Stiftungen [s. Anm. 7], 63. 102 Insofern ist die Einschätzung von Fries, während dieser unsicheren Übergangszeit und in den Folgejahren seien die Spenden aus England und den USA zur Unterstützung der Stiftungen „das einzige Verdienst Niemeyers, dessen Beharrlichkeit allein der schließliche Erfolg zu verdanken ist“, gewesen, mit einem großen Fragezeichen zu versehen.

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festgehalten hat. Daraus aber die Schlussfolgerung zu ziehen, er sei kein Neologe gewesen, sondern könne beispielsweise mit einem Begriff wie „Supranaturalist“ präziser gefasst werden, erscheint unplausibel. Knapp verkörperte in seiner Theologie ein Denken, das von den grundlegenden Begriffsprägungen und Überzeugungen der Neologie stark beeinflusst war, ohne dabei alle ihre Überzeugungen zu teilen. Vielmehr zeigt sich an einem Theologen wie Knapp, dass Pietismus und Neologie nicht als epochenspezifische Kampfbegriffe mit Ausschließlichkeitscharakter verwendet werden sollten. Diese eigentümliche theologiegeschichtliche Melange lässt für eine künftige Beschäftigung mit Knapp vertiefte Rückschlüsse über die spätere Aufklärungstheologie erwarten. Auch Knapps Engagement für die Franckeschen Stiftungen harrt einstweilen noch einer intensiven Aufarbeitung.103 Hier könnte beispielsweise Knapps Tätigkeit im Bereich der Mission untersucht werden.104 Dafür warten hunderte von Briefen von und an Knapp auf eine Auswertung. Da Knapp die zeitgenössisch spezifisch enge Verbindung zwischen der Universität und den Franckeschen Stiftungen exemplarisch verkörpert hat, sind ferner weitere Aufschlüsse hinsichtlich der gegenseitigen institutionellen Verflechtungen dieser zwei wichtigsten halleschen Institutionen von einer biographischen Studie zu Knapp zu erwarten. Dabei sollte auch noch einmal vertieft auf Knapps ungewöhnliche Rolle im Konflikt um das woellnersche Religionsedikt eingegangen werden. Auch dafür liegen noch umfangreiche Aktenbestände im Universitätsarchiv Halle für eine weitere Einsichtnahme bereit. Deren Analyse könnte Teil einer umfassenderen monographischen Studie sein, die dann auch Knapps gedruckte Schriften, die im Archiv der Stiftungen aufbewahrt sind, berücksichtigt. Von einer solchen, weiter ausgreifenden Studie ist ein gewichtiger theologie- und universitätsgeschichtlicher Ertrag zu erwarten. Man kann sich diesbezüglich Niemeyers Worten anschließen, der unter Bezugnahme auf seine eigenen biographischen Ausführungen zu Knapp einst seiner Hoffnung Ausdruck verliehen hatte: „Da es [. . .] noch an einem Biographen fehlt, der mit dem inneren und äußeren Leben des vollendeten Knapp gleich vertraut gewesen, und dem Zeit zur Arbeit vergönnt wäre, so darf man hoffen, daß, bis eine solche Darstellung geliefert werden kann, wenigstens eine kurze summarische Uebersicht [. . .] nicht unwillkommen seyn werde.“105 103 Hier wäre z. B. zu eruieren, ob Knapp seine ehemaligen Studenten zu Missionaren beförderte und wie er sie auf ihre künftigen Aufgaben vorbereitete. Dadurch ließe sich zeigen, wie das Missionswesen von Halle aus unter Knapp zentral gesteuert wurde. 104 S. dazu auch Georg Christian Knapp: Nachricht von dem Fortgange der evangelischen Mission in Ostindien, und von den zur Erhaltung derselben in den Jahren 1808 bis 1813 eingegangenen milden Beyträgen. Den Freunden und Wohlthätern der Mission gewidmet von Georg Christian Knapp. Halle/Saale 1814. 105 Niemeyer, Epicedien [s. Anm. 7], 66. – Diese Studie wurde ermöglicht durch ein Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung der Franckeschen Stiftungen, für dessen Zuerkennung ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte.

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FRANK STÜCKEMANN

Missliebige Quellen: Die Erweckungsprediger Minden-Ravensbergs in der aufklärerischen Publizistik Das 18. Jahrhundert, insbesondere dessen letztes Drittel, gehörte bis vor einigen Jahren nicht gerade zu den Forschungsschwerpunkten westfälischer Kirchenhistoriker. Die Minden-Ravensbergische Kirchengeschichte von Hugo Rothert (4 Bde., 1927–1930) wurde hinsichtlich dieser Zeit erst 1995 durch den Beitrag von Christian Peters zum zweiten Band der Geschichte des Pietismus grundsätzlich in Frage gestellt.1 Dieser zeigte vor allem bestehende Forschungslücken auf und versuchte sie sukzessive zu schließen. Der ebenfalls von Peters herausgegebene Aufsatzband Zwischen Spener und Volkening. Pietismus in Minden Ravensberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert präsentiert die Biographie des nachmaligen Bielefelder Superintendenten Israel Clauder (1670–1721), welcher als Erzieher der Söhne von Philipp Jakob Spener und vor allem als Briefpartner von August Hermann Francke über einschlägige Verbindungen verfügte, um den Hallenser Pietismus in der Grafschaft Ravensberg nachhaltig durchzusetzen; weitere Beiträge von Martin Brecht und Rüdiger Bremme befassen sich mit dem Gohfelder Erweckungsprediger Friedrich August Weihe (1721–1771) bzw. dem Falkendieker Schulmeister Johann Heinrich Broyer (1743–1820).2 Für den Bereich des Fürstentums Minden konnte Peters durch Erschließung

1 Vgl. Christian Peters: Pietismus in Westfalen. In: Geschichte des Pietismus 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 358–371. 2 Vgl. Christian Peters: Israel Clauder (1670–1721), Hallischer Pietismus in Minden-Ravensberg. In: Zwischen Spener und Volkening, Pietismus in Minden-Ravensberg im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Hg. v. dems. Bielefeld 2002, 9–127; ferner: Martin Brecht: Friedrich August Weihe (1721–1771). Pietistischer Pfarrer, Liederdichter und Vorläufer der Minden-Ravensberger Erwekkungsbewegung. In: Ebd., 129–200; ferner: Rüdiger Bremme: Johann Heinrich Broyer (1743– 1820), vom Leben eines armen, in Gott reichen Dorfschulmeisters in Falkendiek. In: Ebd., 201– 261. Der seit Clauder überwiegend pietistisch geprägte Bielefelder Magistrat suchte bis in die neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts immer wieder massiven Einfluss auf die Schulpolitik und Rechtsprechung der Stadt zu nehmen; vgl. Frank Stückemann: Der Bielefelder Prozeß des Klosters Marienfeld gegen den Publizisten Peter Florens Weddigen aus dem Jahre 1788/89 im Spiegel der Zeitgenössischen Presse. In: 97. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 2012 (vorgesehen).

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von Quellen, insbesondere von Briefmaterial, den Rektor des dortigen Gymnasiums, Johann Carl Opitz (1688–1756) als Gewährsmann August Hermann Franckes und als Multiplikator von dessen Ideen vorstellen.3 Sodann vermochte er das schon von Brecht umrissene Netzwerk der Korrespondenten und Freunde um F.A. Weihe – vgl. Anm. 2 – genauer zu analysieren, zu ergänzen und als einen ganzen Schülerkreis aus erweckten Theologen darzustellen, dessen Einfluss bis tief in das 19. Jahrhundert hineinreichte.4 Weitere Briefe aus dem Kreis um Weihe erschloß Peters in seinen folgenden Publikationen.5 Eine frühe Erweckung, die ab 1748 unter dem Einfluss schwarmgeistig-separatistischer Strömungen in Versmold entstand, wies Peters 2006 nach.6 In jüngster Zeit machte sich Klaus Richter um die Erfassung der tatsächlich in Minden-Ravensberg verwendeten pietistischen bzw. erwecklichen Erbauungsliteratur verdient.7 All diese und weitere, über den engeren Bereich Minden-Ravensbergs hinausgehende Arbeiten zu Pietismus und Erweckung in Westfalen stehen nunmehr vor der Bündelung.8 Schwerpunktthemen dabei sind Speners Berührungen mit Westfalen, sodann August Hermann Francke und der hallische Pietismus, Separation und Inspiration sowie Zinzendorf und die Brüdergemeinde jeweils in ihrer Wirkung auf Westfalen und schließlich der Weg vom Pietismus des 18. zu den Erweckungen des 19. Jahrhunderts.9 Bei allem Verdienst – vor allem von Peters – um die Erweiterung der Quellenbasis und das Erschließen von bislang unbekanntem Briefmaterial erweckt die bisherige kirchengeschichtliche Pietismusforschung in Westfalen indessen den Eindruck einer auf ein letztendlich selbstreferentielles Quellensegment reduzierten Sichtweise. Dieses liegt nicht nur darin begründet, dass es sich bei den behandelten Personen samt und sonders um eine durch Abgrenzung von der „Welt“ qualifizierte Minderheit frommer Gesinnungsgenossen handelt, 3 Vgl. Christian Peters: Johann Carl Opitz (1688–1756): August Hermann Franckes Gewährsmann in Minden. In: JWKG 99, 2004, 153–181. 4 Vgl. Christian Peters: Zur Vorgeschichte Volkenings. Die Frommen Minden-Ravensbergs auf dem Weg ins 19. Jahrhundert. In: PuN 30, 2004, 62–90. Wiederveröffentlicht in: JWKG 100, 2005, 143–172. 5 Vgl. Christian Peters: Erweckung auch im Osnabrücker Land. Aus den Briefen des Hoyeler Pfarrers Anton Gottfried Hambach (1736–1819) an den Zentralausschuß der Deutschen Christentumsgesellschaft in Basel. In: Zwischen Spener und Volkening [s. Anm. 2], 173–225; ders.: Ganz Vlotho scheint sich aufzumachen. 10 Aktenstücke zu den durch Friedrich August Weihe (1721– 1771) angestoßenen Erweckungen in Vlotho, Exter und Lippstadt. In: JWKG 103, 2007, 75–108 6 Christian Peters: Die „Versmolder Bewegungen“ von 1748 ff. Eine westfälische Erweckung vor der Erweckung. In: JWKG 102, 2006, 139–216. 7 Vgl. Klaus Richter: Evangelische Erbauungsliteratur vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Familien aus Preußisch-Oldendorf. Eine Untersuchung über die in der Minden-Ravensberger Erweckung benutzten Erbauungsbücher. In: JWKG 107, 2011, 173–196. 8 Vgl. Christian Peters: Das Projekt „Pietismus in Westfalen“. Der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts in seiner Ausstrahlung auf die Region. In: JWKG 105, 2009, 191–223. 9 Vgl. Peters, Projekt [s. Anm. 8], ebd.

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sondern auch, weil deren kirchenhistorische Nachlassverwalter weltliche Quellen vorsätzlich ignorieren oder ausblenden, sobald sie eine andere Sprache als die der Frommen sprechen. Anders als die ausschließlich durch Pietisten und nur für Pietisten betriebene und monopolisierte Pietismusforschung Westfalens muss sich darum für einen „weltlichen“ Profan- oder Kirchengeschichtler grundsätzlich die Frage nach der historischen Stichhaltigkeit und Verwertbarkeit pietistischer Quellen überhaupt stellen. Ein dieser Frömmigkeitsrichtung nahe stehender Kirchenhistoriker wie Brecht konstatierte sogar: „Das erbauliche Interesse hat so gut wie alle persönlichen Angaben anonymisiert oder gestrichen, so daß die Adressaten, Orte und Umstände nur noch in einigen wenigen Fällen identifiziert werden können, für die Geschichte des Pietismus in Westfalen ein enormer Verlust an Informationen.“10 Brecht bezog seine Aussage auf die von Karl Justus Friedrich Weihe (1752– 1829) herausgegebene Briefsammlung seines Vaters Friedrich August und dessen Biographie aus der Feder eben dieses Sohnes, die immer wieder kritiklos kolportiert wurde.11 Gleiches gilt aber auch für weitere und selbst für neuere Biographien. So ist etwa der Aufsatz von Christoph Windhorst über den Weihe-Schüler Gottreich Ehrenhold Hartog (1738–1816) weithin von der ein Jahrhundert zuvor erschienenen Biographie aus der Feder des Herforder Superintendenten Johann Friedrich Niemann (1869–1945) abhängig, welche ihrerseits fast gänzlich auf der von K.J.F. Weihe fußt.12 Auch die erbauliche Lebensbeschreibung von F.A. Weihes Schüler und Schwiegersohn Hilmar Ernst Rauschenbusch, die dessen Amtsbruder Johann Wilhelm Jakob Leipoldt (1794–1842) aus Unterbarmen 1840 verfasste, wurde bis in die Gegenwart hinein immer wieder ungeprüft abgeschrieben.13 Hiervon wird weiter unten noch ausführlich zu reden sein. 10

Brecht [s. Anm. 2], 131 f. Vgl. Sammlung erbaulicher Briefe, vornehmlich Ermahnungen zum Glauben enthaltend. Hg. v. Karl Justus Friedrich Weihe. Bd. 1. Minden 1774, Bd. 2. Minden 1776 ND 1840 bzw. 1847; ders.: Leben und Charakter Friedrich August Weihes, Prediger zu Gohfeld im Fürstenthume Minden. Ein Beytrag zu den Nachrichten von dem Charakter und der Amtsführung rechtschaffener Prediger und Seelsorger. Minden 1780, mit Ludwig Thiesmeyer: Friedrich August Weihe. Eine Prophetengestalt aus dem achtzehnten Jahrhundert. Bethel 1921; Zeugen und Zeugnisse aus MindenRavensberg. Hg. v. Wilhelm Heienbrock. Bd. 1. Bielefeld 1931. 12 Vgl. Christoph Windhorst: Gottreich Ehrenhold Hartog (1738–1816). Schüler Friedrich August Weihes und Freund der Herrnhuter. In: JWKG 105, 2009, 161–189, mit: Johann Friedrich Niemann: Pastor Gottreich Ehrenhold Hartog, Pfarrer der Jakobigemeinde-Herford 1769–1814. Ein Zeuge des Evangeliums in dürrer Zeit. Herford 1914; sowie Gottreich Ehrenhold Hartog, der als verdienter Prediger auf der Radewig in Herford, nach funfzigjähriger Amtsführung im 78sten Lebensjahre den 2ten Januar 1816 gestorben, in seinem Leben und Wirken geschildert: nebst Beantwortung einiger Fragen über Pietismus von Karl Weihe, Prediger zu Mennighüffen im Fürstenthum Minden. Herford 1820. 13 Vgl. Hilmar Ernst Rauschenbusch, weiland Pastor der evangel.-lutherischen Gemeinde zu Elberfeld, in seinem Leben und Wirken dargestellt durch handschriftliche Familiennachrichten. 11

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Bereits F.A. Weihes Zeit- und Altersgenosse Johann Bernhard Basedow (1724–1790) mokierte sich über die geistige Sterilität der pietistischen „Kreuzluftvögelein“ mit ihrem ewig gleichen Zungenschlage, ihrer bornierten Arroganz und die durch programmatische Bildungsferne autistisch gewordene Perspektive ihrer Kreuzestheologie.14 Johann Moritz Schwager (1728–1804), der gleich mit drei ehemaligen Mitarbeitern Basedows in Altona bzw. am Dessauer Philanthropin eng befreundet war15 und auch mit Joachim Heinrich Campe (1746–1818) korrespondierte, kam im Jahre 1768 als Pfarrer in das weitgehend vom Pietismus geprägte kirchliche Umfeld Minden-Ravensbergs. Dass er trotz Insinuationen schon im Vorfeld seiner Pfarrwahl16 überhaupt Prediger zu Jöllenbeck werden konnte, hatte er dem hochadligen Damenstift Schildesche zu verdanken, das bei Ausübung ihres Patronatsrecht – wie übrigens auch schon bei Schwagers Vorgänger und dann bei seinen beiden Nachfolgern – aufgeklärte Kandidaten bevorzugte. Mit Schwager war ein keineswegs konfliktscheuer, selbständig denkender und urteilender Theologe von Format, ein vielseitiger Schriftsteller und wirkungsvoller Publizist in die Region gekommen. Von Jöllenbeck aus unterhielt er Beziehungen zu Schriftstellern und Aufklärern wie Justus Möser (1720– 1794), Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), Johann Joachim Spalding (1714–1804), Johann Salomo Semler (1725–1791), Anton Friedrich Büsching (1724–1793), Friedrich Eberhard v. Rochow (1734–1805), Anton Matthias Sprickmann (1749–1833), Friedrich Justin Bertuch (1747–1822, Erich Biester (1749–1816), Friedrich Gedike (1754–1803) und Friedrich NicoHg. v. W. Leipoldt, Pastor der evangelischen Gemeinde Unterbarmen. Barmen 1840. Schon der Elberfelder Pfarrer Albert Siegismund Jaspis (1809–1885) versah seine erwecklich gefilterten Mitteilungen aus dem Tagebuch von Hilmar Ernst Rauschenbusch (Elberfeld, Iserlohn 1852), mit dem Untertitel: Ein Beitrag zur Pastoraltheologie zugleich als Anhang zur Lebensbeschreibung von Rauschenbusch. Weitestgehend von Leipoldt abhängig ist auch dessen Aufsatz Hilmar Ernst Rauschenbusch, der unvergleichliche Pastor. In: Zeugen und Zeugnisse [s. Anm. 11], 58–71. Von Leipoldt abhängig sind ferner: Johann Christian Friedrich Burk: Spiegel edler Pfarrfrauen. Eine Sammlung christlicher Charakterbilder als Seitenstück zur „Pastoraltheologie in Beispielen“. Stuttgart 1842, 344– 350; Ludwig Tiesmeyer: Die Erweckungsbewegung in Deutschland während des XIX. Jahrhunderts. Bd. 1. Kassel 1903, 21–27; sogar noch Hans Martin Thimme: Hilmar Ernst Rauschenbusch – ein Vater der Erweckung. In: JWKG 97, 2002, 65–103. 14 Vgl. Johann Bernhard Basedow: Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung dem denkenden Publico eröffnet. Bd. 1. Altona 1764, 388: „Die Kreuzluftvögelein haben eine ganz enthusiastische Denkart und Sprache; noch tadelnswürdiger, als diejenigen, die nichts wissen und hören wollen, als daß wir arme Sünder sind und eine unverdiente Gnade brauchen. Ich nenne diejenigen Pietisten, welche sich in eine solche selbstgewählte Denkart und Redensart nicht allein selbst verliebt haben, sondern eben dieselben auch von einem jeden rechtschaffenen Christen verlangen, und alle andern für ruchlos oder für Pharisäer halten.“ 15 Hierbei handelt es sich um Christian Wilhelm Dohm (1751–1820) sowie die Brüder Johann Lorenz Benzler (1747–1817) und Friedrich August Benzler (1752–1810). 16 Vgl. Johann Moritz Schwager: Johann Moritz Schwager (Autobiographie). In: Niederrheinische Blätter für Belehrung und Unterhaltung 1801, 67 f.

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lai (1722–1811). Er war seinen pietistischen Kontrahenten geistig derart überlegen, so dass es zur Durchsetzung der Erweckung im 19. Jahrhundert einer damnatio memoriae der Aufklärung auf breiter Front bedurfte.17 Erst 2009 sollte die erste Monographie über den Aufklärer Schwager und dessen publizistisches Netzwerk erscheinen.18 Obwohl diese als „quellenorientiertes Standardwerk“19 bzw. „Referenzwerk“20 „die Themenvielfalt, die Weite der Interessen und Arbeitsfelder als Schwagers Lebensleistung für künftige Forschungen in vorbildlicher Weise erschlossen hat“,21 stieß sie bei manchem westfälischen Kirchengeschichtshüter schon im Vorfeld der Veröffentlichung auf heftige Ablehnung. Die Publikation der Schwager-Monographie erfolgte deswegen nicht wie ursprünglich geplant im Rahmen der „Roten Reihe“ „Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte“, sondern als 36. Band in den „Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen“ und sprengte damit erfolgreich den engeren kirchenhistorischen Rezeptionsrahmen zugunsten weiterer Bereiche der Geistesgeschichte. In der Tat stellen die neu erschlossenen Quellen der Schwager-Monographie die bisherige splendid isolation der westfälischen Pietismus-Forschung in Frage und erschüttern deren Deutungsmonopol. Den exklusiv tradierten Selbstdarstellungen der Frommen steht nunmehr ein völlig anderes Quellenmaterial gegenüber, welches sich nicht länger ignorieren lässt. Erstmals wird deutlich, wie heftig die theologischen Kontroversen zwischen Aufklärern und Pietisten im preußischen Westfalen aufeinander prallten. Sie entzündeten sich geradezu leitmotivisch an der Frage nach der metaphysischen Existenz des Teufels und – damit verbunden – an den ewigen Höllenstrafen wie überhaupt an dem von der augustinischen Erbsündenlehre geprägten Menschenbild. Dieses lässt sich bereits anhand der Querelen um Schwagers Erfolgsroman Leben und Schicksale des Martin Dickius (3 Bde., Bremen 1775 f., 21777, 31779, Leipzig 41784, Repr. 2010) nachweisen.22 Es handelt sich hierbei um eine 17 Vgl. Hans Kastrup: Die überfällige Rehabilitation des bemerkenswerten Ravensberger Aufklärers Johann Moritz Schwager (1738–1804). In: Ravensberger Blätter 2011/I, 44: „Unglückliche familiäre und lokalhistorische Umstände ließen diesen wegweisenden ‚Leuchtturm‘ der Aufklärung bald nach seinem Tod im Nebel pietistischer Vorurteile verschwinden und sogar in Verruf geraten.“ Ähnlich Dirk Fleischer in seiner Schwager-Rezension; vgl. Das „Historisch-Politische Buch“ 58, 2010, 578 f.: „Daß diese Verbreitung aufklärerischer Ideen auf den scharfen Widerstand des Pietismus und der Erweckungsbewegung in Minden-Ravensberg stieß, kann nicht überraschen.“ 18 Vgl. Frank Stückemann: Johann Moritz Schwager (1738–1804). Ein westfälischer Landpfarrer und Aufklärer ohne Misere. Bielefeld 2009. 19 Peter Heßelmann: Rezension. In: Westfälische Forschungen 60, 2010, 772. 20 Cem Sengül: Rezension. In: Germanistik 51, 2010, 319; ähnlich Holger Böning (Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 2010, 203 f.) zur „bemerkenswerten Quellenarbeit“, die „nicht nur eine Biographie Schwagers, sondern auf hohem Niveau auch eine Darstellung seines Wirkens“ sei. 21 Hanno Schmitt: Rezension. In: Das achtzehnte Jahrhundert 35, 2011, 120. 22 Außer den bekannten ersten Auflagen des Dickius von 1775/76 und 1777 erfolgte 1779 eine dritte und 1784 eine vierte, diese erschien aufgrund des Konkurses von Johann Henrich Cramer

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Satire auf die Bildungsferne mancher Erweckungsprediger in Minden-Ravensberg, die wie ihr Schulhaupt Friedrich August Weihe (1721–1771; seit 1751 Prediger in Löhne-Gohfeld) unter leicht zu entschlüsselnden Kryptonymen verspottet werden.23 Schwagers Goetheparodie Die Leiden des jungen Franken, eines Genies (Minden 1777, Minden und Frankfurt 21797, Repr. 1913) kombiniert die religiöse Schwärmerei der Epigonen von August Hermann Francke – der sprechende Titel ist eine Anspielung auf dessen völlig ungenialen Sohn Gotthilf August Francke (1696–1769) – mit dem schwärmerischen Geniekult des Jungen Werther.24 Schwagers eigentliche Beiträge zum Teufelsstreit sind Übersetzungen einschlägiger Werke: Die Übersetzung von Hugh Farmers Versuch über die Dämonischen des NT (Bremen 1776, Repr. Waltrop 2000) hatte er veranlasst und die von dessen Untersuchung Ueber die Beschaffenheit und Absicht der Versuchung Christi in der Wüsten (Bremen 1777, Dresden 21782) selbst getätigt. Seine engagierte Biographie des niederländischen Theologen Balthasar Bekker (1634– 1698) und seine dreibändige Neuübersetzung von dessen Bezauberter Welt wurden von Semler mit einem Vorwort versehen und herausgegeben.25 Die Einführung des sog. Berliner (Myliusschen) Gesangbuchs in Ravensberg 1782/82 zieht die liturgische Konsequenz aus der theologischen Abschaffung des Teufels und macht den Streit darüber als Vorgeplänkel zum Preußischen Religionsedikt und den Auseinandersetzungen über die verschärften Zensurmaßnamen des Ministeriums Wöllner verständlich. Überhaupt erscheint die repressive Religionspolitik unter Friedrich Wilhelm II. und seinem Minister Wöllner eine Fortsetzung des Teufelsstreits mit politischen Mitteln, wobei sich die argumentativ unterlegenen Pietisten und

nicht in Bremen, sondern in Leipzig; vgl. Journal aller Romane und Schauspiele, zweytes Stück, Leipzig 1784, S. 62 (dritte Auflage des Dickius) und: Des Gottlieb Andreas Rehberger, Professors am königlichen Gymnasium zu Nürnberg nachgelassene Sammlung von Büchern und Kunstblättern welche vom 24ten März 1818 an den Meistbietenden einzeln überlassen werden sollen, Nürnberg (Lechner) 1817, S. 128, Nr. 2746 (vierte Auflage des Dickius). 23 Vgl. neben dem einschlägigen Kapitel „Martin Dickius, ‚Ein Dorn im Auge der Schwärmer und Devoten‘“ in Stückemann [s. Anm. 18], 225–247, vgl. ferner auch ders., Rezension über den Anfang 2010 erschienenen Reprint von Johann Moritz Schwager: Leben und Schicksale des Martin Dickius. Milton Keynes 2010. In: Ravensberger Blätter 2010, 2, 64 f. 24 Stückemann erweiterte das Kapitel „‚Einem Schwärmer Vernunft zu empfehlen, heißt Wasser in ein Sieb zu schöpfen‘; die Leiden des Jungen Franken eines Genies“ [s. Anm. 18], 248 ff.) zu dem Aufsatz Unflätiges Machwerk oder Gegengift: Johann Moritz Schwagers Die Leiden des Jungen Franken, eines Genies als Seitengänger zu Friedrich Nicolais Freuden des Jungen Werther. In: Forum Nicolai. Beiträge zu Leben und Werk Friedrich Nicolais und seiner Zeit 6, 2010, www.friedrich-nicolai.de (unpaginiert) vor allem um die Diskussion über Schwagers Werther-Parodie zwischen Johann Wilhelm Appell (1829–1896) und Hermann Schauenburg (1819–1876) aus dem Jahre 1865. 25 Vgl. Johann Moritz Schwager: Beytrag zur Geschichte der Intoleranz oder Leben, Meynungen und Schicksale des ehemaligen Doct. der Theologie und reformirten Predigers in Amsterdam Balthasar Bekkers meist nach kirchlichen Urkunden. Leipzig 1780, sowie ders.: D. Balthasar Bekkers reformirten Predigers in Amsterdam bezauberte Welt. 3 Bde. Leipzig 1781 f.

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Erwecker in einer unheiligen Allianz mit Rosenkreuzern, Lavaterjüngern und Ex-Jesuiten zu einem „Hofobskurantismus“ zusammenfanden und sich dem pfäffischen Regime des nachfriederizianischen Preußen als Spione, Denunzianten, Gesinnungsschnüffler und Erfüllungsgehilfen andienten. Ausgerechnet die bislang so hoch gelobten Weihe-Schüler und -epigonen aus Minden-Ravensberg geben hierbei kein gutes Bild ab. Mit wenigen Ausnahmen hatten sie sich als Parteigänger des Religionsedikts und der entsprechend repressiven Religionspolitik kompromittiert. Dieses ist symptomatisch bei Karl Weihe selber nachzulesen: „Man wird mitleidig die Achseln zucken oder spöttisch den Kopf schütteln, über den Mann, der das altmodische Christentum in Schutz zu nehmen und gar des Religions-Edikts im Besten zu gedenken wagt.“26 Die Verstrickungen der Minden-Ravensbergischen Erwecker in das Wöllnersche Religionsregime zählen zu den bittersten Pillen, die von den Kirchengeschichtshütern des westfälischen Pietismus zu schlucken und deshalb bislang verschämt übergangen worden sind. Einer der wenigen Weihe-Schüler, die sich in dieser Zeit weder dem weltlichen Arm andienten noch durch Denunziations- bzw. Verfolgungseifer gegen aufklärerische und neologische Amtsbrüder auszeichneten, war Gottreich Ehrenhold Hartog. Deshalb konnte nach dem nächsten preußischen Thronwechsel von 1797 und der im Januar 1798 erfolgten ungnädigen Entlassung Wöllners aus dem Ministeramt überhaupt an ihn angeknüpft werden. Während die Hartog-Biographie aus der Feder von Karl Weihe – vgl. Anm. 12 – wie zu erwarten sehr goldgrundig und parteiisch bleibt, findet sich ein unverdächtiges Lob über den Pfarrer an der Jakobikirche zu HerfordRadewig und dessen Predigtbände in zwei Rezensionen, welche 1807 unter dem Kürzel „– lm –“ in der „Quartalschrift für Religionslehrer“ erschienen.27 Dieses renommierte westfälische Predigerjournal wurde von dem aufklärerischen Theologen und später für die westfälische Kirchenprovinz zuständigen Vizegeneralsuperintendent Bernhard Christoph Ludwig Natorp (1774–1846) herausgegeben. Hartogs Predigten finden darin eine ausgesprochen positive 26 Karl Westphal (d. i. Karl Weihe): Briefe über die Berliner Deisten. Minden 1789, unpaginierter Vorbericht. Zum Religionsedikt heißt es ebd., 62: „Der König, der in seinen Staaten die Rechte jeder öffentlich bestehenden Gesellschaft schützt und handhabt, will durch sein Edikt, den Lutheranern, Reformirten, und andern einmal eingerichteten Religionspartheyen das billige Recht zusichern, daß sie von jedem ihre respectiven Lehrer fordern können, er solle der bey ihnen autorisirten Confession gemäß lehren.“ Jedwede Kritik am König, seinem Minister und dem Religionsedikt apostrophiert er ebd., 85, „als ein Werk der Finsternis“. Das Preußische Religionsedikt wurde von einzelnen Weihe-Schülern sogar noch nach dem Sturz Wöllners verteidigt, der 1794 oktroyierte Landeskatechismus sogar jahrelang nach dem Thronwechsel von 1797 benutzt; vgl. Stückemann [s. Anm. 18], 142 u. 556 f. 27 Vgl. Quartalschrift für Religionslehrer 1807/08, Bd. 4, 2. Quartal, 143–162 (G.E. Hartog: Drey Predigten von dem dreyfachen Stuffen-Alter im Christentume. Gehalten und auf dringendes Verlangen einiger Freunde als Andenken zum Druck befördert. Bielefeld 1806, 78 S. 8°); vgl. ferner ebd., 4. Quartal, 178–180 (G.E. Hartog: Sechs Predigten vom Heimweh der Kinder Gottes, zum Theil am Himmelfahrtstage gehalten [. . .]. Bielefeld 1807, 126 S. 8°).

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Würdigung. Dieses ist um so bemerkenswerter, als der Rezensent nach eigenen Worten „mit dem Verfasser [Hartog] in manchen dogmatischen Ansichten und Vorstellungen nicht übereinstimmt, indem der Verf. dem System der älteren Theologen treu bleibt und sich zur pietistischen Schule hält“.28 Das Hintergrundwissen des Rezensenten über Hartog deutet auf eine Person aus dessen geographischer Umgebung bzw. Synode hin. Vergleicht man das Kürzel mit dem Subskribentenverzeichnis der Zeitschrift, so findet man besagte Buchstabenkombination lediglich in der Mitte des Namens von Heinrich Christian Friedrich „Bröckelmann, Consistorialrath und Prediger zu Petershagen“29 (1763–1817). Als „Würdiger Mann und Freund“ hatte er Schwagers Friedrich Bickerkuhl. Ein Roman aus dem Leben und für dasselbe (Dortmund 1802) gewidmet bekommen. 1806 gab Bröckelmann gemeinsam mit Franz Karl Rischmüller (1745–1811) und Adolph Georg Kottmeier (1768– 1842) das „rationalistische“ Gesangbuch für das Fürstenthum Minden, nebst einer Sammlung von Gebeten für die öffentliche und häusliche Andacht (Minden 1806) heraus.30 Beide Rezensionen wurden von den westfälischen Kirchengeschichtlern bislang ebenso ignoriert wie die Karikatur ostwestfälischer Erwecker in Schwagers o.g. Pietistensatire Leben und Schicksale des Martin Dickius.31 In diesem dreibändigen Roman mit seinem Spott über die Bildungsrenitenz mancher WeiheSchüler schwingt jedoch wie in jeder Parodie ein gerütteltes Maß an Wertschätzung mit: „Niemals würden Sachen parodiert werden, die unbekannt geblieben sind; denn die Wirkung der Parodie beruht zum großen Theil darauf, daß der Leser oder Hörer sie, bewußt oder unbewußt, im Innern vergleicht mit ihrem Vorbild, mit dem parodierten Objekt. Daher bildet die Parodiedichtung einen wertvollen, weder von der Literaturgeschichte noch von der Ästhetik zu übersehenden Bestand des historischen Quellenmaterials.“32 Der nach dem Vorbild englischer Satiretradition (Swift, Butler, Sterne, Fielding) konzipierte Roman war derart treffend, dass sich Karl Weihe noch 1781 in seiner anonym veröffentlichten Biographie über seinen Vater diesbezüglich ereiferte.33 Nicht nur vier Auflagen und ein gutes Dutzend Rezensionen, son-

28

Quartalschrift für Religionslehrer 4, 1807/08, 144. Quartalschrift für Religionslehrer 1, 1804, 14. 30 Vgl. Paul Graff: Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands. Bd. 2: Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus. Göttingen 1939, 11. 31 Vgl. Stückemann [s. Anm. 18], 225 ff. 32 Wolfgang Stammler: Matthias Claudius und sein ‚Rheinweinlied‘. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 29, 1915, 197. 33 Vgl. Weihe, Leben und Charakter [s. Anm. 11], 187: „Weihe gab auch bey seinem Leben schon einige kleine Schriften heraus, die bloß die Erbauung zum Zweck hatten: Nemlich eine kleine Liedersammlung, einige gereimte Gebete und fliegende Briefe. Er hatte die Freude, vieles von dem Segen zu erfahren, den Gott auf diese Arbeit gelegt hat, so geringfügig dieselbe auch in gewissen Augen scheinen könnte. Ueber solche Schriften, kleinere oder grössere, zu spötteln, die 29

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dern vor allem die dänische Übersetzung Martin Dickius’s Levnet og Händelser spricht für einigen publizistischen Erfolg.34 Carl Arnold Kortum (1745–1824) bearbeitete und entschärfte Schwagers Dickius dann vor einem pietistischen bzw. aufklärungskritischen Hintergrund zur Jobsiade (Jobs, Hieronimus, des Candidaten, Leben Meinungen und Thaten. Münster 1783).35 Bei all seiner satirischen Kritik wusste Schwager Friedrich August Weihe durchaus zu schätzen, denn ansonsten hätte er als Schriftleiter der „Mindenschen Beyträge“ dessen Briefe und Biographie daselbst nicht anzeigen lassen.36 Ebenda rezensierte er 1781 in der 43. Kalenderwoche letztere sogar unter dem Kürzel „P.Q.R.“: „Diese kleine Schrift verdienet Aufmerksamkeit, und da sie ein Produkt dieser Gegend ist, so denk’ ich, gehört sie zunächst vor das Tribunal dieses Wochenblattes.“37 Die anschließende Würdigung des Gohfelder Erweckungspredigers fällt erstaunlich positiv aus.38 Dessen Biographen atteschristliche Gesinnungen und Empfindungen ausdrücken und befördern sollen, das ist bey manchen Leuten der Modeton. Ich denke aber nicht, daß Weihe jetzt im Himmel sich derselben zu schämen Ursach haben, oder sich wünschen wird, statt ihrer lieber einen M[arti]n D[ickiu]s, oder so etwas geschrieben zu haben.“ Zu Schwagers Weihe-Parodie im ersten Band des Dickius [s. Anm. 22, 57– 60] unter dem Kryptonym Krigelius vgl. Stückemann [s. Anm. 18], 228 f.; zu dessen Parodie des Versmolder Erweckers Johann Anton Clamer Löning (1709–1774) als „Schuster Lüning“ (Anspielung auf Jakob Böhme) vgl. ebd., 232; zu Hartog, dem „Prediger Thiele“ in Schwagers Dickius, vgl. ebd., 233 f. 34 Archiviert in der Königlichen Bibliothek zu Kopenhagen sowie im Hadeland Folkemuseum am norwegischen Randsfjord. Das Titelblatt weist weder Erscheinungsort noch -jahr aus. Johann Samuel Ersch (1766–1828) in seinem Allgemeinen Repertorium der Literatur für die Jahre 1791– 1795, Bd. 5, enthaltend des systematischen Verzeichnisses in- und ausländischer Schriften zweyte Hälfte. Weimar 1800, 2334, Nr. 2314, gibt „Kopenhagen 1791“ an. Diese Übersetzung ist ein starkes Indiz für die mutmaßliche anonyme Mitarbeit Schwagers am Deutschen (gemeinnützigen) Magazin, welches zu dieser Zeit in Dänemark herausgegeben wurde; vgl. Stückemann [s. Anm. 18], 489 ff. u. 505 ff. 35 Vgl. Stückemann [s. Anm. 18], 246 f. Die literarische Abhängigkeit Kortums von Schwager steht seit Hans Dickerhoff: Die Entstehung der Jobsiade. Münster 1908, 20 ff., außer Frage. 36 Vgl. Martin Gottfried Franke: Neue Bücher (Anzeige von F.A. Weihe, Sammlung erbaulicher Briefe [s. Anm. 11]. In: Mindensche Beyträge, 1773/26, 205–208; Vorabdruck in: Lippische Intelligenzblätter 1773/19, 293–295; ders.: Nachricht (Anzeige der Weihe-Biographie, [s. Anm. 11]). In: Mindensche Beyträge, 1780/49, 391 f. Für letztgenanntes Werk warb sogar das Leipziger Intelligenzblatt 1781/43, 144: „Im hiesigen Intell[igenz]-Comt[oir] ist in Kommißion zu haben: Leben und Charakter Friedrich August Weihe [. . .].“ Es folgt der vollständige Titel. 37 Mindensche Beyträge 1781/43, 339. 38 Vgl. ebd., 341: „[Friedrich August] Weihe hatte ohne Streit [i. e.: unstreitig] grosse Eigenschaften, womit er auch wucherte, er hatte aber auch wohl Fehler, die hier übergangen werden; (und ich kann das dem Biographen[,] der so nahe an ihn gekettet war, auch nicht verdenken.) Von aller Schwärmerey kan[n] man ihn wo[h]l nicht lossprechen, und seine Briefe fallen oft augenscheinlich in den Zinzendorfischen Ton.“ Gemeint sind die in Anm. 33 genannten Erbaulichen Briefe Weihes. Diese waren übrigens durch dessen Schwager, den Mindener Pfarrer und – ab 1768 – Bützower Professor und Konsistorialrat Friedrich Maximilian Mauritii (1724–1799) in den dort erscheinenden Kritischen Sammlungen zur neuesten Geschichte der Gelehrsamkeit 1775, 291–294, rezensiert worden. Zu Mauritii vgl. dessen Kurzbiographie in Peter Florens Weddigen: Westphälischer historisch-geographischer National-Kalender zum Nutzen und Vergnügen auf das Jahr 1804.

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tierte er feinen Beobachtungsgeist. Der Wert werde allerdings dadurch vermindert, wo der Verfasser augenscheinlich und vor allem die besonderen Grundsätze seiner verbrüderten Partei vertrete. Dieses habe er angesichts der durch und durch herrschenden gesunden Begriffe vom praktischen Christentum gar nicht nötig: „Ich halte den H[err]n Verf[asser] für zu einsichtsvoll, als daß er Leute, welche sich gegen unwürdige Sektirerei und Andächtelei erklären, sogleich für Feinde des praktischen Christenthums halten sol[l]te und könnte. [. . .] Den Ausfall auf den H[err]n Schwager (187) hätt’ ich freilich lieber weggewünscht, indessen da der H[er]r V[erfasser] einmal zu denen gehört, welche glauben, ihn und jeden ähnlichen um Gotteswillen hassen und meiden zu müssen, so macht ihm die sanfte Schonung, welche er wirklich beweiset[,] viel Ehre.“39 Vor allem die pro domo geschriebene letzte Passage weist Schwager zweifelsfrei als Rezensenten aus. Eine zweite Rezension brachte das bedeutende „Journal für Prediger“ im folgenden Jahr. Darin wird F.A. Weihe ausnahmslos positiv gewürdigt und dessen Biographie ein hoher Wert attestiert – wenngleich auch nicht kritiklos: Der ehrwürdige Charakter des seligen Weihe ist freylich oft etwas ausgemahlt, doch ohne der Wahrheit, wie der Rec[ensent] aus sicheren Nachrichten weiß, zu nahe zu treten. Wir sind mehrmals auf Stellen gestoßen, wo zwar Weihe recht handelte, weil er seiner Ueberzeugung gemäß sich verhielt, aber wo wir doch sein Verfahren nicht so durchaus wie der Verf. gebilligt und in Schutz genommen haben würden, weil es aus Mangel an richtigen Einsichten herkam. Doch dies hätten wir dem Herrn Verf[,] der es für sich vielleicht unschicklich gefunden haben mag, Weihen zu tadeln[,] eher vergeben, als die unzeitigen zum Theil heftigen und langen Ausfälle gegen anders denkende S. 82. 222. und anderwärts. Diese schaden in einer solchen Schrift um so mehr, weil sie den Eindruck, den die simpele Vorstellung des Charakters eines Mannes, der ein Muster ist, haben würden, schwächen. Ueberdem bessern sie auch nicht, denn um solcher Vorwürfe willen ändert kein einziger seine Meinung.40

Der Rezensent – ein intimer Kenner und Verehrer des Gohfelder Erweckungspredigers – gehörte demnach nicht zum eigentlichen Schülerkreis F.A. Weihes.41 Das belegt seine o.g. Kritik an dem ihm durchaus bekannten anonymen Verfasser42 ebenso wie auch seine verklausulierte Distanz zum esprit de corps der doktrinären Epigonen, deren strukturkonservative Defizite aus folgendem Schlusszitat der Rezension ablesbar sind: „Viele Nacheiferer wünschen wir dem vortrefflichen Weihe, der vom Geist der Religion Jesu immer belebt ward, aber solche, die im Stande sind[,] sein Verhalten nach ihren FähigPaderborn 1804, 169–172. Auch als Pränumerantensammler für Wielands Teutschen Merkur in Bützow ist Mauritii neu zu entdecken. 39 Mindensche Beyträge [s. Anm. 37], 341 u. 343. 40 Journal für Prediger. Zwölften Bandes drittes Stück. Halle 1782, 378 ff. 41 Zu den Namen der Weihe-Schüler vgl. Peters, Vorgeschichte Volkenings [s. Anm. 4], 169. 42 Vgl. Journal für Prediger [s. Anm. 40], 380: „Hier hätte aber der Biograph selbst ein beständiger Zuschauer des Lebens dieses Mannes seyn müssen, und das konnte er nicht seyn [. . .].“

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keiten und der Lage der Umstände und den Zeitbedürfnissen gemäß zu modificiren.“43 Dazu waren viele Anhänger Weihes in Minden-Ravensberg offenbar nicht gewillt oder nicht in der Lage. Bei dem Rezensenten dürfte es sich um den bereits oben genannten F.K. Rischmüller handeln. Er wurde 1771 zu Weihes Nachfolger im Pfarramt zu Gohfeld gewählt und war von daher bestens über diesen unterrichtet. Zudem arbeitete er regelmäßig und nach Auffassung des Publizisten Peter Florens Weddigen (1758–1809) auch sehr erfolgreich am „Journal für Prediger“ mit.44 1789 wechselte Rischmüller auf die zweite Pfarrstelle an Sankt Martini zu Minden, wurde indessen trotz seiner wissenschaftlichen Verdienste 1792 unter dem Religionsregime Wöllners bei der Besetzung der dortigen ProvinzialExaminations-Kommission übergangen, und zwar zugunsten der Weiheschüler Dietrich Heinrich Kottmeier (1732–1795) und dessen Bruder Friedrich Wilhelm Kottmeier (1739–1799) sowie Heinrich Gottlieb Friedrich Frederking (1749–1824).45 Er gehörte eben nicht mit zur „Partei“. Ähnlich wie Rischmüller wusste auch Weddigen den Gohfelder Erweckungsprediger Weihe sehr zu schätzen, ohne dessen engerem Schülerkreis anzugehören.46 Weddigen war zunächst Bielefelder Gymnasiallehrer und 43

Journal für Prediger [s. Anm. 40], 380. Vgl. Peter Florens Weddigen: Briefe eines Reisenden über Westphalen. In: Westphälisches Magazin 2, 1786, 39 f. Im Journal für Prediger veröffentliche Rischmüller folgende Aufsätze: Gedanken über die Einrichtung der Predigten nach den Umständen des Ortes und der Zeit (Bd. 14, 1783, 257–291); Abhandlung über die rechte Art, evangelische Menschenliebe kräftig vorzutragen (Bd. 15, 1784, 129–144); Pastoralbemerkungen über den Brief der Philipper (Bd. 16, 1785, 129– 151; Abhandlung über das große Augenmerk des christlichen Predigers, nicht glänzen, sondern nutzen zu wollen (Bd. 19, 1787, 1–21); Ueber die Beurtheilung und Würdigung des Menschen von Predigern nach dem Verhalten unsers Herrn; eine Abhandlung (Bd. 20, 1788, 282–303); Nachricht über die Frickische Jubelfeier zu Minden (Bd. 28, 1794, 183–188). In Bd. 24, 1791, 376, wurde seine Rede über Philipp. 2,4.5. in der Kirche des Nicolai Armenhauses bey einer neuen Stiftung für dasselbe; am Sonntag Jubilate den 15. May 1791 gehalten rezensiert; in Band 29, 1795, 247, sein Rath für die heranwachsende Jugend; bey Beschluß des Religions-Unterrichts, Minden 1792; beide Schriften sind ebenso verschollen wie sein Denkmal der sel[igen] Kanzleydirektorin Charlotte Antoinette Borries geb. Rischmüller, Minden 1786. 45 Vgl. Schwagers Brief an Friedrich Nicolai vom 06.09.1792. In: Frank Stückemann: „Ihre Freundschaft ist mir unendlich schätzbar“ – Friedrich Nicolai als Geschäfts-, Korrespondenz- und Verlagspartner des Jöllenbecker Pfarrers und Aufklärers Johann Moritz Schwager (1738–1804). In: JWKG 103, 2007, 188; vgl. auch Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010, 354–356. Kottmeier senior und junior waren Brüder, nicht aber Vater und Sohn (gegen Wiggermann, 355). Wenn Kottmeier junior vom „Strom des Unglaubens“ und „Aufklärungsschwindel“ schreibt und sein Bruder „Woellners zuvorkommende Anerkennung“ findet, so zeigt das hinlänglich, wessen Geistes Kinder beide sind; vgl. ebd. 46 Vgl. Weddigen [s. Anm. 44], 41: „Ich darf Gohfeld nicht verlassen, bevor ich Sie nicht mit einem verstorbenen Manne bekannt mache, der die Hochachtung eines jeden Patrioten und Menschenfreundes verdient. Und dieser ist der selige Weihe, der vor mehreren Jahren hier als Prediger starb. Ich beurteile ihn hier nicht als Gelehrter, wiewohl er auch in den Wissenschaften nicht ungeübt war, die sich geschickte Theologen zu erwerben pflegen, ich mache Ihnen denselben blos als 44

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wurde durch die Protektion Wöllners 1793 auf die Pfarrstelle zu Buchholz an der Weser und 1798 auf die zu Kleinbremen berufen (beides im Fürstentum Minden). Er trat mit der Herausgabe des „Westfälischen Magazins“ und dessen Nachfolgeorganen sowie mit dem an Gellert erinnernden Titel Geistliche Oden und Lieder für Christen (Hamburg, Leipzig 1798, 21801, 31812, 41879) hervor. Hierfür erhielt er eigenhändige Dankesschreiben des Geistlichen Departements und des preußischen Königspaars Luise und Friedrich Wilhelm III. (der „Liturgiker auf dem Thron“), Gold- und Silbermedaillen sowie die Verleihung eines Doktortitels. Vier seiner Lieder wurden dem o.g. Mindener Gesangbuch von 1806 inkorporiert. Obwohl mehrheitlich Pietisten und Erwecker seine Geistlichen Oden und Lieder subskribierten und dieser Gedichtband auf der anderen Seite in Nicolais Neue Allgemeine Deutsche Bibliothek 72, 1802, 72 f., wegen seiner angeblich viel zu traditionellen und darum überholten Dogmatik sogar verrissen wurde, diffamierte man Weddigen trotz seines pietistischen Erbes letztendlich doch als „Rationalist“.47 Dieses Urteil ist wie so vieles im Bereich der westfälischen Geschichtsschreibung des ausgehenden 18. Jahrhunderts dringend revisionsbedürftig, zumal sich Weddigen als Gesangbuchdichter im Westfalen des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert niemand an die Seite stellen lässt. All diese Beispiele zeigen, dass die Aufklärer Westfalens sowohl den wissenschaftlichen Leistungen als auch der echten Herzensfrömmigkeit ihrer pietistischen Amtskollegen einiges haben abgewinnen können. Die Rezensionen ihrer Werke in der aufklärerischen Publizistik ist von einem hohen Maß an Verständnis und kompetenter Urteilskraft geprägt. Auf der anderen Seite verfielen die ostwestfälischen Weihe-Epigonen spätestens seit ihrem Zusammenschluß innerhalb der 1780 gegründeten „Deutschen Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit“ („Basler Christentumsgesellschaft“) zunehmend auf ein fundamentalistisches Vereinschristentum, welches sich vor allem nach Verhängung des Preußischen Religionsedikts bei Konflikten mit ihren aufklärerischen bzw. neologischen Geg-

einen vormaligen Volkslehrer bekannt, der auf die Umstimmung und Umbildung des Charakters und Bekehrung des Herzens seiner Gemeinde einen ungemein großen Einfluß gehabt hat. Ich weiß sehr wohl, daß man ihn häufig einen fanatischen Pietisten und einen schwachen Kopf genannt hat. Aber bei Gott! mögte es viele solcher Pietisten geben, die mit so treuen [sic] und thätigem Eifer ihre Gemeinden zu bessern suchen[,] wie dieser Mann that; es würden der Heuchler weniger und der thätigen Verehrer der Religion Jesu mehr werden.“ Es folgt eine summarische Würdigung von Weihes Wirken als Pfarrer zu Gohfeld. Zu Weddigen orientiert Frank Stückemann: Peter Florens Weddigen; ein vergessener Publizist der Aufklärungszeit. In: 92. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, 2008, 35–90. Am 04.11.2008 referierte Stückemann in Kleinbremen über: Peter Florens Weddigen (1758–1809) als Pfarrer und Gesangbuchdichter im Fürstenthum Minden. In: Mitteilungen des Mindener Geschichtsvereins 80, 2008, 53–82. 47 Vgl. Hugo Rothert: Peter Florens Weddigen. In: Westfälische Lebensbilder 3. Münster 1934, 34–43.

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nern weniger der Argumente als vielmehr des weltlichen Arms von Friedrich Wilhelm II. und dessen Minister Wöllner bedienten. Vernunftgründe schienen dabei nur zu verunsichern und lösten mehr oder weniger aggressive Gegenreaktionen aus. So übersandte man J.M. Schwager 1783 eine anonyme Publikation. Sie trug den umständlichen Titel: Schreiben an den Herrn[,] welcher sich dem Verfasser der Stunde der Versuchung[,] die kommen wird über den ganzen Weltkreis[,] ohne Noth zum Reisegefährten aufgedrungen, worin zugleich das vortreffliche Lied Mein Heiland nimmt die Sünder an gegen die hämischen Angriffe vertheidiget und diesem muthwilligen Menschen der Kopf ein wenig zurecht gesetzet wird (O.O. 1782). Nach Angabe des anonymen Absenders sollte es vom Grafen Lynar48 verfasst worden sein. Das Begleitschrieben enthielt laut Schwager „recht derbe Angriffe auf mich. [. . .] Uebrigens habe ich angefangen, die anonymischen Briefe, mit welchen man mich von Zeit zu Zeit heimsucht, und solche frommen Wische, dergleichen dies Quodlibet ist, zu sammlen, sie das antihypochondrische Raritäten-Cabinet zu betiteln, und meine Zuflucht dazu zu nehmen, wenn ich meine Grillen habe“.49 Karl Weihe gilt als Verfasser des gleichfalls anonymen, leider nicht mehr erhaltenen Schreibens an den Herrn Pastor Schwager zu Joellenbeck in der Grafschaft Ravensberg, von einem Mitgliede der deutschen Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit, Westphalen (Minden, bei Körber 1785, 8°, 56 S.)50 Schwager äußerte sich zu dieser Schmähschrift sowohl in den Wöchentlichen Mindenschen Anzeigen – die zuvor selbständig paginierten Mindenschen Beyträge waren Ende 1784 dem dortigen Intelligenzblatt inkorporiert worden – als auch ein Jahr später in der Allgemeinen Literatur-Zeitschrift (im folgenden: ALZ), zu dessen regelmäßigen Mitarbeitern er gehörte.51

48 Rochus Friedrich Graf zu Lynar (1708–1781) war dänischer Statthalter von Oldenburg und Delmenhorst und verfasste pietistische Abhandlungen. Tatsächlich aber war der in Magdeburg wirkende Johann Matthias Wilker (1734–1794) Verfasser dieses Schreibens gewesen. Er trat ferner 1785 mit der Sammlung einiger geistlichen Gedichte und Lieder hervor. 49 Johann Moritz Schwager: Nachricht. In: Mindensche Beyträge 1783/43, 343 f. 50 Vgl. Wilhelm Bauks: Die evangelischen Pfarrer in Westfalen von der Reformationszeit bis 1945. Bielefeld 1980, 542, Nr. 6736a. 51 Vgl. Mindensche Anzeigen, 1785/30, 487 f.; Allgemeine Literatur-Zeitschrift, 1786/43, 350–352. Zur Zuweisung dieser anonymen Rezension vgl. Stückemann [s. Anm. 18], 407 f. Erstmals hatte sich Schwager im Januar 1784 über die Christentumsgesellschaft geäußert; vgl. J.M. Schwager, Etwas über die jetzige Orthodoxie und Heterodoxie. In: Mindensche Anzeigen zum Nutzen und Vergnügen 1784/4, 32: „Jetzt will man nun wieder das umstoßen, was die Kirche, die heilige Mutter, so lange gelehrt hat, und wodurch folglich das Glück der Menschen nur allein verursacht wird – ist das nicht schändlich? So sagt man, und deshalb bewaf[f]net man sich auch jetzt, und zieht zu Felde, wider die, welche solches thun, und zwar an Orten, wo der Feind gerade nicht steht. Man hat nemlich eine Congregatio pro conservanda fide errichtet. Nicht allein Prediger, sondern auch Schneider und alte Frauen sind Mitglieder derselben: denn auch diese können aus dem innern Menschen, dem Geiste Gottes, reden. In ihren Zusammenkünften greifen sie die neuen Lehren an, und zerstören sie mit wenig Mühe, indem sie ohne Feind kämpfen. Sie wollen auch die neuen Mey-

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Seine dort und in weiteren ALZ-Rezensionen geäußerte Kritik an der „Basler Christentumsgesellschaft“ provozierte deren Vorsitzenden Johann August Urlsperger (1728–1806) zu einem Brief an den Herausgeber Christian Gottfried Schütz (1747–1832), welchen dieser am 26. Juni 1786 ebd. veröffentlichte.52 Ähnlich rief Schwagers Schreiben vom Niederrheine, die deutsche Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit betreffend – eine mit gezielter Indiskretion betriebene Kommentierung von Insider-Protokollen der „Basler Christentumsgesellschaft“ – die Polemik eines ihrer Mitglieder, des Magdeburger Diakons (2. Pfarrer) Rudolf Friedrich Schulze (1738–1791) hervor.53 Diese beantwortete Schwager mit einem Zweiten Schreiben vom Niederrheine, die deutsche Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit betreffend 1788 im ersten Band des „Teutschen Museums“.54 Neben stilistischen Eigenarten und einigen Querverweisen im Werke Schwagers55 ist vor allem die genaue Kenntnis der kirchlichen Verhältnisse im preußischen Westfalen ein eindeutiges Indiz für die Zuweisung dieser beiden anonymen Schreiben. Im süffisanten Kommentar zum Mindener Protokoll der Gesellschaft vom 12. September 1784 findet sich beispielsweise ein Kurzporträt des „enfant terrible der Weihe-Schule“56 Anton Gottfried Hambach (1736– 1819), seines Zeichens Pfarrer im ravensbergischen Exter, ab 1777 im osnabrückischen Hoyel; es steht in scharfem Gegensatz zu den Quellen aus erwecklicher Feder.57 Darin heißt es: Die Brüder ventilirten diesmal die Frage: ‚wie ein Schwachgläubiger ohne besonderes Gefühl seines Gnadenstandes versichert sey könne?‘ und beantworteten sie auf ihre Weise. Die wahre Armuth des Geistes, das erste Requisit, leuchtet stark durch. Am 1[.] Dec. 1784 nahmen die Freunde Anlaß über eine im Ravensbergischen fabricirte Poesie über die falsche Toleranz auch ihre etwas vernünftigeren Gedanken zu sagen. nungen in ihrer völligen Blöße – zerstört – in den Druck heraus geben. Sie eifern um Gott, aber mit Unverstand.“ 52 Vgl. Schreiben des H[err]n Doctor Urlspergers zu Augsburg ab H[err]n Prof. Schütz als Redacteur der Alg. Lit. Zeit. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 1786/151b, 593–616. 53 Das einzige Exemplar von Rudolf Friedrich Schulze: Berichtigung desjenigen Schreibens vom Niederrhein, die deutsche Gesellschaft zur Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit betreffend, welches in der Allgemeinen Literaturzeitung Nro. 200, 201, 202 vom August-Monat 1786 befindlich ist, Magdeburg 1786, war in der Anna-Amalia-Bibliothek zu Weimar archiviert und ist 2004 verbrannt. Schulze hatte sich bereits 1781/82 mit Schriften gegen das Berlinische Gesangbuch profiliert. 54 Vgl. Teutsches Museum, 1788. Bd. 1, 88. 55 Vgl. hierzu Stückemann [s. Anm. 18], 381 ff. Die Ortsangabe „vom Niederrheine“ ist sowohl Mystifikation als auch Hinweis auf Schwagers Herkunft aus dem Oberbergischen. 56 So Peters, Zur Vorgeschichte Volkenings [s. Anm. 4], 156. 57 Vgl. Karl Weihe: Gedächtnis-Predigt zum Gedenken eines würdigen Christen-Lehrers des Herrn Anton Gottfried Hambach, der nach einer mehr als 50jährigen Amtsführung am 6sten März 1819 im 83sten Jahre seines Alters als Prediger zu Hoyel starb, gehalten von einem seiner ältesten Freunde. Herford 1819.

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Ich habe diesen elenden Wisch gelesen, eine wahre Satyre auf die Gesellschaft, den, wo ich nicht irre die Baseler drucken und cirkuliren liessen. Nach Versicherung eines Freundes in Osnabrück soll dieses elende Ding den Pastor Hambach in Hoyel, Hochstifts Osnabrück, zum Verfasser haben, einen Mann, der nicht auf den Kopf gefallen ist, – weil er keinen hat.58

Die Trennung einiger Ravensberger Freunde von der Gesellschaft nimmt Schwager zwei Jahre später in seinem Zweyten Schreiben vom Niederrheine zum Anlass, um deren Urteilskraft zu loben: „Jeder Denker geht fest seinen eignen Weg, den er sich selbst geebnet hat, und das ist der Natur unsrer Seele gemäß; nur Nichtdenker lassen sich in zahlreiche Gesellschaften zusammen drängen, und beten gedankenlos nach, was ihnen vorgebetet wird.“59 So lese sich der Ravenberger Gesellschaftsbericht noch am besten; die Männer dächten noch mitunter, und man sehe es ihren Protokollen an, dass es ihnen einigen Zwang koste, sich herunterzuhalten zu den Geringen.60 Wenigstens einige unter ihnen passten nicht in den Plan, da sie nicht genugsam der Einfalt empfänglich seien.61 Wenn sich die Herren Pastores Hartog und Scherr nach ihrer Trennung von der Christentumsgesellschaft wieder mit dieser vereinigt haben, so müssen sie für die Gesellschaft wichtige Männer sein.62 Eine pauschale Verurteilung sämtlicher Mitglieder der „Conföderation“ ist dieses wahrlich nicht, wiewohl Schwagers Gesamturteil über das Vereinschristentum Urlspergerischer Prägung sehr negativ ausfällt; die Mitwirkung jener Seilschaft an den Maßnahmen des Wöllnerschen Religionsregimes war für ihn schon 1786 und erst recht 1788 absehbar.63 Karl George Woltersdorf (1717–1809), Nachfolger des Oberkonsistorialrats Johann Esajas Silberschlag (1721–1791) in der Immediaten Examinationskom58 Johann Moritz Schwager: Erstes Schreiben vom Niederrheine. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 1786/201, 363. 59 Johann Moritz Schwager: Zweytes Schreiben vom Niederrheine. In: Teutsches Museum 1788. Bd. 1, 95. 60 Schwager, Zweytes Schreiben [s. Anm. 59], 93. 61 Schwager, Zweytes Schreiben [s. Anm. 59], 98. 62 Schwager, Zweytes Schreiben [s. Anm. 59], 102. Zu dem Lippstädter und Bielefelder Pfarrer Johann Christoph Scherr ( 1747–1804) vgl. Peters, Zur Vorgeschichte Volkenings [s. Anm. 4], 152. 63 Vgl. Schwager, Erstes Schreiben vom Niederrheine [s. Anm. 63], 376: „Immer ist es fast dieselbe Leyer, immer das eintönige Gewinsel, und immer guckt, bey aller Zerknirschung, der Pharisäer durch, der andere neben sich verachtet. Pietismus ist die ganze Sache mit herrnhutischem Getändel durchwirkt, Pietismus, aber nicht der sanfte eines Speners und Franken [sic], die doch noch dabei dachten und es nicht verschworen hatten, bessern Einsichten Platz zu geben. Unsre Socii dagegen wollen die Welt mit Brettern zunageln, allem Forschen ein Ende machen, und die unfehlbare Kirche seyn. [. . .] Daß die Deutsche Gesellschaft was grosses, wenigstens in gewissen Staaten im Schilde führt, weiss ich ohne Protocolle, und kann sie dazu kommen, zu sichten; wehe dann den ehrlichen Forschern, die den Coloss nicht anbeten wollen.“ In der Berlinischen Monatsschrift wird die Christentumsgesellschaft gar als „Schößling der Congregatio de propaganda fide“ bezeichnet; vgl. Anon.: Ueber die Vertheidigung der katholischen Messe von einem protestantischen Theologen und Mitgliede der Gesellschaft der reinen Lehre. In: Berlinische Monatsschrift 1786. Bd. 1, 332.

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mission zu Berlin, war wie sein jüngerer und jung verstorbener Bruder Ernst Gottlieb Woltersdorf (1725–1761) eng mit Friedrich August Weihe befreundet gewesen.64 So kam es – wie oben berichtet – 1792 zur Besetzung der Mindenschen Provinzial-Examinationskommission ausschließlich mit Weihe-Schülern. Sie hatten Gesinnung und Rechtgläubigkeit ihrer Amtsbrüder zu überwachen. Die Drangsalierungen der Aufklärer unter dem Wöllnerschen Religionsregime lassen sich am Beispiel Schwagers ablesen. Hierzu zählt 1790 die Denunziation und ein übler Strafprozess wegen angeblicher „Wehrkraftzersetzung“ (Verunglimpfung des Militärs) in einer Publikation, die – wie schon die „Berlinische Monatsschrift“ – das Elend des gemeinen Soldaten als häufigen Grund für den Suizid ausmachte. Sie endete mit Freispruch vor dem Berliner Kammergericht. Eine weitere Denunziation im Jahre 1792 erwies sich als gegenstandslos. Es folgte Ende 1793 die rein disziplinarisch zu verstehende Anordnung einer Visitationspredigt, die durch eine Vorabveröffentlichung derselben und deren Rezension in drei Periodika unterlaufen wurde.65 Die Erfüllungsgehilfen des antiaufklärerischen Religionsregimes unter Friedrich Wilhelm II. bedienten sich geheimdienstlicher Methoden wie in totalitären Überwachungsstaaten späterer Zeit: „So oft ich ein fremdes Gesicht in der Kirche sehe, kann ich darauf rechnen, daß es einem Spion gehört, der gekommen ist, mich zu belauschen, falsch zu verstehen und mich anzuschwärzen.“66 Indessen beschränkte sich die damalige Religions- und Kulturpolitik im preußischen Westfalen nicht nur auf die Verfolgung des dortigen aufklärerischen Schulhaupts; auch der schon genannte Georg Christoph Friedrich Gieseler, seines Zeichens zweiter Pfarrer in Petershagen und Leiter des dortigen Lehrerseminars, war ein direktes Opfer. Im Gegensatz zu der anlässlich seines 64 Vgl. Weihe, Leben und Charakter [s. Anm. 11], 210: „Er [F.A. Weihe] lernte den seligen Woltersdorff durch seine Schriften kennen, und beyde errichteten und unterhielten miteinander die zärtlichste Freundschaft.“ K. G. Woltersdorf beteiligte sich an dem Tombeau: Gedichte auf die Vollendung des Hochehrwürdigen und Hochgelahrten Herrn Friedrich August Weihe, zwanzig jährigen Predigers zu Gohfeld im Fürstenthum Minden, Minden 1781, 10–13. 65 Vgl. hierzu das Kapitel „Drangsalierungen: Prozeß über Selbstmord, Zensuranzeige und Visitation“ in Stückemann [s. Anm. 18], 448–459. Hierin ist lediglich von zwei Rezensionen in den Rintelschen Annalen und der Oberdeutschen allgemeinen Litteraturzeitung die Rede; eine weitere positive Besprechung wurde unterdessen im Intelligenzblatt der Neuen Allgemeinen Deutschen Bibliothek 10, 1794, 84 f. entdeckt. 66 Johann Moritz Schwager: Friedrich Bickerkuhl, ein Roman aus dem Leben und für dasselbe. Dortmund 1802, 290 f. Von einem solchen „Lauschangriff“ durch das Mindener ProvinzialExaminationsmitglied Heinrich Gottlieb Friedrich Frederking berichtet Schwager in einem Brief an seine Ehefrau Helene, geb. Go[e]sling (1747–1819); vgl. Hermann Schauenburg, Julie und ihr Haus; eine Reliquie, von einem Epigonen, Leipzig 1847, 63 f.: „Herr F[rederking] kam kurz vor Mittag, aß mit, was wir hatten, und strich sich dann. Mein Mann ist er gewiß nicht, aber Höflichkeit war ich ihm schuldig, und daß ich ihn höflicher aufnahm, als Du es vielleicht würdest gebilligt haben, geschah mit Vorbedacht. Jeder will mir platterdings auf die Fährte, und da hab’ ich’s von den Hasen gelernt, Seitensprünge zu machen, um die Spione von der Spur zu bringen.“

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fünfzigjährigen Amtsjubiläums entstandenen offiziösen Biographie67 verschweigt der Betroffene selbst diese unangenehmen Dinge nicht. In dem Aufsatz Ueber Schulconferenzen berichtet er in „GutsMuths Bibliothek der pädagogischen Literatur“, „daß ich schon seit 1798 bey dem Hochpr[eislichen] Oberconsistorio in Berlin zur nächstmöglichen Verbesserung notirt war, und daß das hiesige preiswürdige Provinzialconsistorium schon weit früher 1794 und 1797 bey Erledigung zweyer der besten Stellen einhellig für mich berichtet hatte, nur daß es bey dem damaligen geistlichen Minister v. Wöllner nicht durchdringen konnte“.68 Diese Liste der „mißliebigen Quellen“ erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mit welchen Risiken hingegen die kritiklose Übernahme pietistischer, von erbaulichem Interesse zensierter, geschönter oder gefilterter Quellen verbunden sind, zeigt sich schließlich am Beispiel von Hilmar Ernst Rauschenbusch (1745–1815) auf krasse Weise. Rauschenbusch, Schüler und Schwiegersohn von Friedrich August Weihe, seit 1771 Pfarrer zu Bünde, ab 1790 Pfarrer in Elberfeld, zählt (immer noch) zu den bedeutenden Erweckern MindenRavensbergs. Dessen Biograph Johann Wilhelm Jakob Leipoldt (1794–1842), seines Zeichens Pfarrer in Unterbarmen und „im Kreis um Volkening hoch in Ehren“ stehend,69 hatte laut Titel „Rauschenbusch [. . .] in seinem Leben und Wirken dargestellt durch handschriftliche Familiennachrichten“.70 Gleich nach Erscheinen wurde das Buch durch zahlreiche Rezensionen – vor allem in der frommen Presse – lanciert.71 Bereits 1843 übersetzte ihn der Oxforder Hochschullehrer Robert Francis Walker (1789–1854) neben Werken von Bengel, Lavater, 67 Vgl. August Heinrich Tschabran: Nachrichten aus dem Leben und Wirken des Jubilars Herrn Pastor primarius in Werther G. Christ. Friedr. Gieseler; herausgegeben von seinem Collegen und Amtsbruder Aug. Heinr. Tzschabran. Werther 1837. 68 G.C. Friedrich Gieseler: Ueber Schulconferenzen (in Beziehung auf eine Recension in dieser Bibliothek, Jahrg. 1802, II B[and], 45. St[ück], 374 f.). In: Bibliothek der Pädagogischen Literatur, verbunden mit einem Correspondenzblatte, welches pädagogische Abhandlungen, Aufsätze, Anfragen, Nachrichten, Wünsche, Zweifel, Vorschläge etc. enthält, und einem Anzeiger. Hg. v. Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Fürstl. N. Wiedischem Hofrath und Mitarbeiter an der Erziehungsanstalt zu Schnepfenthal. Dritten Bandes drittes Stück. November 1802, 300. 69 Peters, Zur Vorgeschichte Volkenings [wie Anm. 4], 156. Zu Volkening (1796–1877), Schwagers viertem Amtsnachfolger im Jöllenbecker Pfarramt und Erwecker Minden-Ravensbergs, vgl. die Biographie seines Schwiegersohns August Rische (1819–1906): Johann Heinrich Volkening, ein christliches Lebens- und Zeitbild aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1919. Es ist nach Horst Ulrich Fuhrmann (Jöllenbeck. Heimat im Wandel der Zeit. Bielefeld 1991, 122) „ein Machwerk übelster Geschichtsklitterung, das in dieser Form dem Verehrten selber nicht gefallen hätte. Es ist derart mit Verfälschungen versetzt, daß es nach Einsicht in die Quellen zur Jöllenbecker Geschichte nur noch Gebrauchswert als abschreckendes Beispiel behält.“ 70 Vgl. Leipoldt [s. Anm. 13]. 71 Vgl. Literarische Zeitung 7, 1840, 847; Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt. Hg. v. August Tholuck. 1841, 442 f.; Blätter für literarische Unterhaltung, 1841, 271 f. Kritischer: Zeitschrift für die gesamte lutherische Theologie und Kirche, 1840, 160: „Die Lebensgeschichte bietet nichts sonderlich Merkwürdiges dar, die Lebenserfahrungen und

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Krummacher, Blumhardt und Hofacker ins Englische, was ebenfalls einige Rezensionen zur Folge hatte.72 Diese bislang unbeachtete RauschenbuschRezeption in England resultierte offenbar noch aus dem direkten Kontakt dieses Erweckungspredigers zu Dr. Robert Pinkerton (1780–1859) und der von diesem 1804 mitbegründeten „British and Foreign Bible Society“.73 Leipoldts Biographie ist bis in die neueste Kirchengeschichtsschreibung hinein immer wieder ungefiltert als Quelle benutzt worden.74 Dass Leipoldt Vieles, Wichtiges und vor allem Peinliches aus dem Leben Rauschenbuschs unterschlagen hatte, scheint der westfälischen Pietismusforschung entgangen oder von ihr vorsätzlich ignoriert worden zu sein, damit „der eigentliche Fortführer der weiheschen Arbeit“,75 der „unvergleichliche Pastor“ und „Vater der Erweckung“76 weiterhin seinen Platz als Säulenheiliger Minden-Ravensbergs behaupten konnte. Wenn Leipoldt beispielsweise Rauschenbuschs Vater, den Meerbecker Pfarrer Johann Carl Rauschenbusch (1698–1777), als Lichtgestalt emporstilisiert, so vermag er dieses nur, indem er den Streit um dessen Kurze und Schrifftmäßige Einleitung in der Lehre von der Höllen-Fahrt Christ und Derselben beyden wesentlichen Stücken (Bückeburg 1754) und das landesherrliche Verbot dieser völlig obskurantischen Schrift noch im gleichen Jahr unterschlägt.77 Unterschlagen werden ferner von ihm die Kanzelpolemik Hilmar Ernst Rauschenbuschs gegen seinen Jöllenbecker Kollegen Schwager im Zusammenhang des Teufelsstreites, die publizistische Fortsetzung dieser Kontroverse in den Mindenschen Beyträgen zum Nutzen und Vergnügen (1780/14–17) sowie in dem satirischen SchwagerRoman Stillbachs Leben, ein Zauberroman (Leipzig 1781).78 Unterschlagen wer-

Ansichten, z. B. über Pietismus, Union, Agende, Missionsvereine u.s.w., sind durchaus oberflächlich und seicht.“ 72 Vgl. A Memoir of Hilmar Ernst Rauschenbusch, late Pastor of the Evangelical Lutheran Church at Elberfeld, Prussia; by the late Wilhelm Leipoldt, M.A., Pastor of the Evangelical Church at Unterbarmen, Prussia; translated from the German by Robert Francis Walker, M.A., Curate of Purleigh, Essex (London 1843); Rezensionen in: Wesleyan-Methodist Magazine, 1843, 55; The Churchman’s Monthley Review, 1843, 891–895; The Christian Guardian and Church of England Magazine, June 1844, 220–227 und July 258–267; Hogg’s Weekly Instructor 2, 1849, 312–315; weitere Erwähnung in: George Robert Gleig: The Light Dragoon. London 1850, 19; Anon., Hilmar Ernst Rauschenbusch, A Picture of Patriachal Simlicity. In: Anon.: Men who were Earnest; the Springs of their Action and Influence; a Series of Bigraphical Studies, London, James Hogg and sons. O.O. 1860. 73 Vgl. Leipoldt [s. Anm. 13], 208, wo ein Besuch Pinkertons bei Rauschenbusch vier Wochen vor dessen Tod erwähnt wird. 74 Vgl. Anm. 13. 75 So Peters, Vorgeschichte Volkenings [s. Anm. 4], 155, über Rauschenbusch. 76 Vgl. die o.g. Titel von Jaspis und Thimme in Anm. 13. 77 Vgl. hierzu Frank Stückemann: Die Höllen-Fahrt des Johann Carl Rauschenbusch (1697– 1777). Bückeburger Auftakt zum Teufelsstreit. In: PuN 36, 2010, 141–222. 78 Vgl. hierzu das Kapitel „Stillbachs Leben, ein Zauberroman: Satire auf Rauschenbusch und Gothic Novel“. In: Stückemann, Schwager [s. Anm. 18], 330–344. Spätestens seit Verhängung des

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den von ihm schließlich auch Rauschenbuschs Beiträge zum Ravensbergischen Gesangbuchstreit von 1782 f. und die eigentlichen Motive für seinen Wechsel von Bünde nach Wuppertal im Jahre 1790.79 Die goldgrundige Darstellung Leipoldts von Rauschenbuschs Leben und Wirken wird noch durch weitere Fakten erschüttert: Ein anonymer Artikel aus dem Intelligenzblatt der ALZ vom 25. September 1790 berichtet die Begleitumstände, unter denen der Bünder Erweckungsprediger am 20. Januar des Jahres auf die Pfarrstelle zu Wuppertal gewählt und Anfang Mai daselbst eingeführt wurde.80 Demnach löste Rauschenbusch durch zelotische Enge und Intriganz schon vor seiner Installierung an der neuen Wirkungsstätte Zwistigkeiten aus. Diese geht aus folgender Passage hervor, die deshalb auch hier in ganzer Länge erscheint: Böddinghaus, der (nach dortigem Ausdruck ein moralischer Prediger, ein Vernunftmensch ist,[)] – Herr Böddinghaus schrieb an H[err]n Rauschenbusch, ‚daß er wahrscheinlich zum Prediger gewählt würde, weil so viele Stimmen für ihn wären.‘ Nach gehaltener Wahl empfahl er sich der Freundschaft des Hrn. R. und schilderte demselben zugleich offenherzig seinen Charakter und zum Theil seine Denkart, und bediente sich dabey der Ausdrücke: ‚Er sey kein Kopfhänger, kein Schwärmer; sondern auf erforderlichen Fall erklärter Feind derselben; er suche in seiner Gemeine wahres, praktisches Christenthum zu befördern‘ u.s.w. Dies nahm nun Hr. R. sehr übel auf, und glaubte, Hr. B. machte damit Anspielungen auf ihn. Er schrieb an ein Mitglied des Consistor[iums] nach Elberfeld, ‚dass er unter vielen andern Briefen, (welche oft zu Dutzenden an ihn kamen,) auch einen von dort aus erhalten hätte: der Ihm nicht nur unangenehm wäre, sondern auch geböte, behutsam in seinem Entschlusse zu seyn‘ u.s.w. und an Hn. B.‚was er (der Hr. P. Böddingh.) unter Kopfhänger und Schwärmer verstände? Man gebrauche oft Ausdrücke im gemeinen Leben, ohne ihren eigentlichen Sinn zu wissen; der würde doch wohl kein Kopfhänger seyn: der, wenn der Heyland mit seiner Gande bey ihm anklopfte, derselben sich theilhaftig mache; und sich der Einwirkung des heil. Geistes nicht widersetzte?‘ Der Consistorial säumte nicht Lärm zu blasen; er ließ den Brief cirkuliren, und das Consistorium versammelte sich. Man zerbrach sich nicht lange mit Vermuthungen, wer den Brief doch wohl möchte geschrieben haben, den Kopf, (vermuthlich hatte Hr. R. den Verfasser

Preußischen Religionsediktes musste Rauschenbusch als der erste gelten, der sich dem Wöllnerschen Regime in weit vorauseilendem Gehorsam angedient hatte. 79 Vgl. Stückemann, Schwager [s. Anm. 18], 344–352. J.M. Schwager wird von Leipoldt an keiner Stelle seines Buches genannt! 80 Vgl. Anon.: Vermischte Nachrichten: A[us] B[riefen] eines Reisenden d. 13 May 1790. In: Intelligenzblatt der ALZ 1790/120, 986: Rauschenbusch sei „durch die Schwierigkeiten mit dem H[er]rn Past. Schwager in Jöllenbeck, des neuen berlinischen Gesangbuchs wegen, und aus einer gedruckten Leichenpredigt über einen gewissen Schwärmer Lehmann [!; i. e.: Johann Heinrich Löhmann, 1721–1779] (worin er den Helden – canonisirt!) schon bekannt [. . .]. Es war schon dem größten Theile der dortigen Ev. Luth. Gemeinde genug, zu wissen, dass H[er]r Rauschenbusch ein Feind des n[euen] berlinisch. Gesangbuchs, und aller Neologie sey, um ihn sofort mit 66 Stimmen von 78, zu ihrem Prediger zu erwählen, (wozu denn freylich auch die oben angeführte Leichenpredigt gehört, die einem dasigen Fabrikanten zu 3½ Groschen in Commission gegeben worden.)“

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genannt?) sondern fo[r]derte Hn. B. vors Consistorium. Man war indiscret genug[,] Hn. B. trotzig alle Briefe abzufo[r]dern, die Er mit Hn. R. gewechselt hatte! Hr. B. las sämmtliche Briefe vor, worinnen man nun leyder! das nicht fand, was man so AltChristlich gerne darinnen gefunden hätte. Hr. Böddh. hatte schon die Definitionen über Kopfhänger und Schwärmer zur Antwort fertig, und darinnen die seichten Gründe des Hn. R. gegen das Berlinische Gesangbuch, und der oben ausgeführten Leichenpredigt erwähnt, sie litten aber von Seiten der Consistorial[en] gewaltigen Einspruch, weil Hr. R. (vielleicht um der Wahrheit willen? – ) sonst abschlägige Antwort ertheilen könnte. Hr. B. setzte dann auch in der Folge eine andere Antwort auf, weil ihm selbst daran liegen mußte, daß dieser für ihn schon verdriesliche Handel beygelegt werden möchte. Hr. R war nun seines Sieges gewiss und nahm den Ruf an.81

Dem steht folgende Bemerkung aus Leipoldts Rauschenbusch-Biographie gegenüber, welche beide Kontrahenten nunmehr in erbaulicher Eintracht zeigt: „Das letzte Ereignis seines öffentlichen Lebens war der Tod seines Collegen Böddinghaus, mit dem er 23 Jahre gearbeitet hatte, dem er der Engel seiner letzten Stunden ward, und der sterbend das schöne Zeugnis in seine Hand niederlegte: Mir ist Barmherzigkeit widerfahren!“82 Es fragt sich nur, mit welchen Mitteln dieser Sinneswandel bei Böddinghaus zuwege gebracht worden war.83 Der anonyme Verfasser des Rauschenbusch-Artikels im Intelligenzblatt der ALZ vom 25. September 1790 dürfte ein guter Bekannter Schwagers aus der näheren Umgebung Wuppertals gewesen sein. Das ausgezeichnete Wissen über Interna der bergischen Synode bzw. des dortigen Konsistoriums lassen auf einen Pfarrer schließen. Hinzu kommt ein bezeichnendes Interesse an dem schon mehr als ein Lustrum zurückliegenden Ravensbergischen Gesangbuchstreit. All diese Indizien verweisen auf Johann Wilhelm Reche (1764–1835), seit 1786 Pfarrer in Hückeswagen, ab 1796 Pastor in Mülheim bei Köln. Schwager und Reche hatten sich spätestens 1787 kennen und schätzen gelernt.84 In Schwagers Bemerkungen auf einer Reise durch Westphalen nimmt die Begegnung mit Reche über dreißig Seiten ein.85 Vor allem aber verweist das Interesse am Ravensbergischen Gesangbuchstreit auf Reches spätere hymnologische Lei81

Vgl. Anon., Vermischte Nachrichten [s. Anm. 80], 987 f. Leipoldt [s. Anm. 13], 296. 83 Vgl. folgende Äußerung von Johann Moritz Schwager über die kirchlichen Verhältnisse Wuppertals in: Bemerkungen auf einer Reise durch Westfalen, bis an und über den Rhein. [Leipzig, Elberfeld 1804]. ND 1987, 281: „Die fromme Clique will Anhänglichkeit an ihren eisernen Szepter, wenn sie sich nicht rächen soll, und sie hat es in der Gewohnheit, sich durch scharf einschneidende Verläumdungen zu rächen, selbst von der Canzel, und wäre es auch in einer Synodalpredigt.“ 84 Dieses geht aus folgendem offenen Briefwechsel hervor: Johann Moritz Schwager: Zur Erfahrungsseelenkunde. In: Niederrheinische Unterhaltungen, 1787. Bd. 1, 65–68; Johann Wilhelm Reche: Nachtrag zur Traumkunde; an Herrn Pastor Schwager. In: Ebd., 1787. Bd. 2, 25–29; ders.: Antwort auf Hrn. P. Schwagers Zuschrift, die Traumkunde betreffend. In: Ebd., 1788. Bd. 2, 17– 32. 85 vgl. Schwager, Bemerkungen [s. Anm. 83], 106–138. 82

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stungen als Herausgeber des Christlichen Gesangbuchs für die evangel. Lutherischen Gemeinden im Herzogthum Berg (Mülheim 1800, Elberfeld 21807, 31817).86 Auch dessen Gegnerschaft zu Schwärmerei und aufklärungsfeindlicher Enge lässt sich schon in besagtem Beitrag zum Intelligenzblatt der ALZ erkennen.87 Anhand vorstehender Beispiele dürfte klar geworden sein, dass die durch exklusive Tradierung eines ganz bestimmten Quellensegments entstandene und quasi kanonisierte Kirchengeschichtsschreibung des Pietismus in Westfalen – dieses wohlgemerkt als genitivus subjectivus wie auch als genitvus objectivus verstanden – nicht länger haltbar ist und letztlich als eine Form von erbaulicher Geschichtsklitterung bewertet werden muss. Eine kirchengeschichtliche Rezeption der erst in Ansätzen erforschten Aufklärung Westfalens könnte indessen umgekehrt auch der dortigen Pietismusforschung neue und notwendige Impulse geben – ob nun die engagiert aufgearbeiteten Quellen dem frommen Empfinden missliebig sind oder nicht, sollte für einen Historiker jedenfalls keine Rolle spielen.

86 Zu Reche als Herausgeber dieses Gesangbuches vgl. Uwe Eckardt: Johann Wilhelm Reche (1764–1835), ein Kantianer in Hückeswagen. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 59, 2010, 86 ff. Leider erwähnt Eckardt zu dem durch Reche ausgelösten Bergischen Gesangbuchstreit die Namen der Kontrahenten nicht. Einige Bemerkungen Schwagers scheinen nahe zu legen, dass Rauschenbusch auch hieran nicht ganz unbeteiligt war; vgl. Stückemann, Schwager[s. Anm. 18], 352. 87 Vgl. Eckardt [s. Anm. 86], 89: „Für die [. . .] aufkommenden Frömmigkeitsströmungen, insbesondere die neupietistische Erweckungsbewegung, hatte er [d. i. Reche] kein Verständnis.“

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VOLKER STOLLE

Zeitzeugnis aus der Erweckung in Jüterbog im 19. Jahrhundert 1. Einleitung Mitte des 19. Jahrhunderts wirkte die Erweckungsbewegung in Jüterbog so stark milieuprägend, dass eine Handwerkerfamilie von dem Wunsch beseelt war, der einzige Sohn möge die kirchliche Laufbahn einschlagen und Pfarrer werden. Wichtiger als die Fortführung der handwerklichen Tradition, welche die wirtschaftliche Grundlage ausmachte, erschien ihr, die geistliche Basis zu festigen und ein Weitergehen auf dem eigenen Weg christlicher Erkenntnis zu befördern. Wenn den sechs Töchtern damals auch eine theologische Ausbildung nicht zugänglich war, so wurde die älteste unter ihnen doch Diakonisse und verwirklichte ihren Glauben auf diese Weise auch beruflich. Die christliche Ausrichtung in der Familie war so intensiv, dass ein jüdischer Mitarbeiter aufgrund der Teilnahme an den Familienandachten angeblich konvertierte.1 Am 9. Februar 1834 wurden der Klempnermeister Friedrich Stolle und Charlotte Donat in der evangelischen Pfarrkirche St. Nicolai in Jüterbog getraut. Johann Christian Friedrich Stolle war am 23. April 1810 als Sohn des Hüfners Johann Gottfried Stolle (1774–1843) und seiner Ehefrau Johanna Louisa geb. Henze (1777–1837) in der Amtsvorstadt Damm von Jüterbog geboren und am 29. April in der dortigen evangelischen Liebfrauen- und Mönchengemeinde getauft worden. Johanna Charlotte Caroline Donat war am 20. April 1812 als Tochter des Maurers Johann Carl Donat (1787–1846) und seiner Ehefrau Johanna Friederike Wilhelmine verw. Weidemann geb. Lehmann (1769–1836) in Jüterbog geboren und am 21. April in der dortigen St. NicolaiKirche getauft worden. Friedrich Stolle gibt an, dass er seit seiner Heirat zu sei-

1 Lebensbild des heimgegangenen Pastors Friedrich Stolle. Gezeichnet von Kindeshand. In: Missions-Blatt des Westdeutschen Vereins für Israel, 59. Jg., Nr. 9, 1903, 141–144, dort 141. Der Name des Juden ist mir unbekannt, ebenso, wann und wo er sich taufen ließ. In Jüterbog lebten im fraglichen Zeitraum (1834–1855) nur einzelne Juden (Statistik 1834: 3; 1855: 0); durch eine rechtliche Auseinandersetzung 1847 ist die Kaufmannsfamilie Samuel Jaenisch bekannt, für die der Rat der Stadt in einem Gutachten als damals einziger Familie am Ort eintritt (Auskünfte von Gertraud Behrendt).

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ner bewussten Frömmigkeit gefunden habe. Man kann somit das Jahr 1834 als Zeitpunkt seiner Erweckung ansetzen. Die handschriftliche Hinterlassenschaft einiger weniger Blätter lässt deutlich die Frömmigkeitsmentalität erkennen, welche diese Eheleute in ihrer Lebenshaltung bestimmte. 1.1 Briefwechsel der Eheleute 1840 Im Herbst 1840 hielt sich Friedrich Stolle, durch Krankheit an der Heimreise gehindert, in Berlin auf. Es ist anzunehmen, dass Stolle während eines Besuches der Stadt erkrankt war und deshalb einige Zeit dort bleiben musste. Wo sein Krankenlager war, wird nicht erkennbar, vielleicht ist an ein Krankenhaus zu denken, obwohl zu der Zeit Patienten dort vor allem alleinstehende Handwerker und Dienstboten waren, die nicht von der häuslich-familiären Pflege erreicht wurden. Ein Briefwechsel mit seiner Frau zeigt, wie eine im Gebet und Bibellesen gegründete Frömmigkeit konstitutiv für die persönliche Gemeinschaft der Eheleute war. Hier wurde eine tragende Verbundenheit im christlichen Glauben wirksam. Die wiederholte Wendung „Gott sei Dank“ im Brief des Mannes vom Krankenbett aus ist keine reine Floskel, sondern bewusstes Bekenntnis. Der Briefschreiber begründet es in Gottes Trostzuspruch, den er im Gebet erfahren habe, und ist dabei überzeugt, mit der Briefempfängerin durch Gebetsgemeinschaft verbunden zu sein. Entsprechend hofft er auf Gottes weitere Hilfe bei der Rückreise, für die er im Übrigen auch ganz konkrete Vorkehrungen trifft. Seine Frau antwortet, indem sie diese Motive noch verstärkt. Ihren Trennungsschmerz beschreibt sie mit Hinweis auf die Einsamkeit der biblischen Hiobgestalt. Der Trost, den sie dennoch gefunden hat, ist ihr in der Hinwendung zum gekreuzigten Christus zuteil geworden. Indem sie den Unterschied des Leidens des unschuldigen Erlösers und des wohl verdienten Leidens der Seinen meditiert, begreift sie, dass ihr Leiden nicht abgrundtief ist. Bestätigung dieser Gewissheit hat sie in der Bibel gefunden, indem sie Psalm 77 gelesen hat: „Ich rufe zu Gott und schreie um Hilfe, zu Gott rufe ich und er erhört mich“ (Vers 2). Erneut erweist sich in ihrer eigenen Situation: „Du bist der Gott, der Wunder tut“ (Vers 15a). Sie schreibt dies in der ausdrücklichen Erwartung, dass ihr Mann ihre Erfahrung in eigenem Bibellesen nachvollzieht. Der Gruß des Pastors Karl Straube in der Nachschrift dokumentiert den persönlichen Kontakt zu diesem für eine neu belebte Kirchlichkeit vielfältig tätigen Mann von besonderer musikalischer und organisatorischen Begabung, der von 1836 bis 1856 in Werder (Kirchenkreis Luckenwalde), heute Ortsteil von Jüterbog, erster Pfarrer war und dort eine christliche Vereinstätigkeit begründete.2 Straube gab „zum Besten der Bibel-, Missions- und Traktatsache“ die 2

Karl (August Friedrich Victor) Straube (18.10.1807 in Mittenwalde–02.03.1881), 1826 Abitur

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Liedersammlung Reisepsalter3 heraus mit dem dazu gehörigen Melodienbuch Reiseharfe4 und ließ seit 1834 jährlich den Werderschen Bibellesezettel, der in immer höheren Auflagen gedruckt wurde,5 erscheinen. Ab Herbst 1841 erschien eine Zeitschrift mit Berichten über die Aktivitäten des christlichen Vereinswesens.6 „Werder wurde bald der Sammelpunkt aller suchenden und gläubigen Seelen der Umgegend.“7 Straube hatte zusammen mit seinem Vetter Gustav Knak8 in Berlin studiert und dort Anschluss an den Kreis der Erweck-

in Berlin, dann dort Theologiestudium, danach Kandidat in Mittenwalde bei Zossen in der Mittelmark, am 05.12.1835 Ordination in Berlin und Übernahme der Pfarrstelle in Werder bei Jüterbog (heute Ortsteil), Eheschließung am 08.12. mit Caroline (Henriette Sophie) Zwarg (gest. 1844; vgl. Theodor Wangemann: Gustav Knak. Ein Prediger der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Basel 21881, 12, 87–90, 207), am 23.05.1845 Eheschließung mit Bertha (Margarethe Wilhelmine) von Rappard (Wangemann, 207), 1856 Pfarrer in Falkenhagen/Mark (Kirchenkreis Frankfurt/Oder). Am Ende seines letzten Universitätssemesters erlebte Straube zusammen mit seinem Vetter Gustav Knak im Frühjahr 1829 seine Bekehrung, von der ein Sonett zeugt, das Knak seinem Freunde Straube widmete: Wie uns der Herr zu einem heißen Streben, / Zu einem heil’gen Kampfe fest verband, Daß wir uns Ihm mit Herzen, Mund und Hand / Zu treuem Glauben demuthsvoll ergeben, So wollen wir vereint, in Tod und Leben, / An Ihm nur hangen still und unverwandt, Gedenken an Sein theures Liebespfand, / In Ihm nur hoffen, dichten sein und weben! Ja, Alle wollen wir in Ihm umfassen, / Und so in Freude wie in Angst und Nöthen Vertrauensvoll zu Ihm und kindlich beten. / Und sieht ER dann erbarmend auf uns nieder – So weinen wir und singen uns’re Lieder – / Und können uns in Ewigkeit nicht lassen! (zit. n. Wangemann, 12). Schon in Mittenwalde gründete Straube mehrere Vereine für Enthaltsamkeit, zur Förderung der Sonntagsheiligung, Hausfrauenverein, Gesellenverein, Bibellesekreise (vgl. ebd., 21 f.), dann auch in Werder: Werdersche Bibelgesellschaft (1838), Traktatverein (1841), Enthaltsamkeitsverein (1845) „Rettungshaus Emmaus“ mit Mädchen (1853) und Missionsverein (ebd., 204–208). Literatur: ebd.; Ludwig Tiesmeyer: Die Erweckungsbewegung in Deutschland. Bd. 3: Berlin und Provinz Brandenburg. Kassel 1909, 377–379; Gustav Adolf Benrath: Die Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen 1815–1888. Ein Überblick. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Gäbler. Göttingen 2000, 150–271, dort 166 f.; Wilhelm Gundert: Geschichte der deutschen Bibelgesellschaften im 19. Jahrhundert. Bielefeld 1987, 210. Weitere Auskünfte verdanke ich Herrn Superintendent Hans-Jochem Göbel in Jüterbog. 3 Reisepsalter. Werder 1842; 1852 bereits in 8. Aufl., 63. Aufl. Berlin 1939. 4 Reiseharfe. Melodienbüchlein zum Reisepsalter. Zum Besten der Bibel- und Missionssache. Werder 1853, 2. Aufl. Falkenhagen 1858, 3. Aufl. 1863, 7. Aufl. Berlin 1895. 5 Für das Jahr 1869 wird die Zahl von 180 000 Exemplaren angegeben (Gundert [s. Anm. 2], 210). 6 Titel zunächst: „Berichte der Werderschen Bibelgesellschaft“, später: „Werdersche Bibelberichte“, nach seinem Weggang aus Werder: „Christliche Vereinsberichte“. 7 Wangemann [s. Anm. 2], 204 (zit. bei Tiesmeyer [s. Anm. 2], 376). 8 Gustav Friedrich Ludwig Knak (12.07.1806 in Berlin–27.07.1878 in Dünnow/Pommern) wuchs nach dem Tode seines Vaters 1819 in der Familie des Propstes Straube, des Bruders seiner Mutter, in Mittenwalde auf, erhielt dort seine Schulbildung, die er dann am Gymnasium in Berlin abschloss; 1826 Beginn des Studiums in Berlin, 1834 Pastor in Wusterwitz/Hinterpommern, in Berlin an der Bethlehemskirche der böhmisch-lutherischen Personalgemeinde. Literatur: Wange-

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ten um Baron Hans Ernst von Kottwitz9 gefunden. Neben Emmanuel Christian Gottlieb Langbecker10 und anderen beteiligte sich auch Knak 1832 an der durch Samuel Elsner veranstalteten Herausgabe des Geistlichen Liederschatzes,11 1850 wurde er als Nachfolger von Johannes Evangelista Gossner12 Pfarrer an der Bethlehemskirche in Berlin und zählt zu den großen Bekehrungs- und Missionspredigern. Straube hielt seinem Freunde13 am 11. August 1878 die Gedächtnispredigt.14

1.2 Bericht über das Sterben von Friedrich Stolle 1855 Friedrich Stolle stirbt 1855 in seinem 46. Lebensjahr. Mit der Aufzeichnung „Die wichtigsten Worte aus den letzten Lebenstagen meines lieben Mannes“ hat die Witwe das christliche Bekenntnis und die geistliche Ermahnung ihres früh verstorbenen Ehemannes als ein Vermächtnis für sich selbst und für ihre Kinder festgehalten.15 Als Vorlage durchaus denkbar sind die Aufzeichnungen, mann [s. Anm. 2], bsd. 1–13, 41–49; Wolfdietrich v. Kloeden: Art. „Knak, Gustav Friedrich Ludwig“. In: BBKL IV, 1992, 109–112. 9 Freiherr Hans Ernst von Kottwitz (01.09.1757 in Tschepplau–13.05.1843 in Berlin), Gründer mehrerer sozialer Projekte, beteiligt an der Gründung der „Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft“ 1814 und der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ 1822. 10 Emmanuel Christian Gottlieb Langbecker (31.08.1792–24.10.1843 jeweils in Berlin), Hymnolog und Liederdichter, Verfasser der Lebensgeschichtlichen Nachrichten über die Liederdichter im Geistlichen Liederschatz. Berlin 1832, 889–920. 11 Samuel Elsner (11.12.1778 in Berlin–30.08.1856 in Berlin), einer böhmischen Exulantenfamilie entstammend und Kaufmann von Beruf wurde 1814 einer der Sekretäre der neu ins Leben tretenden Berliner Bibelgesellschaft, 1816 Sekretär des von Pastor Johannes Jänicke (1748–1827) begründeten „Hauptvereins für christliche Erbauungsschriften in den preußischen Staaten“ und gab seit 1817 bis zu seinem Tode die „Neuesten Nachrichten aus dem Reiche Gottes“ (NNRG) heraus, dem „wichtigsten Kommunikationsmittel der Erweckungsbewegung“ (Peter Maser: Hans Ernst von Kottwitz. Göttingen 1990, 22). Über die Mitarbeit Straubes am Liederschatz vgl. Wangemann [s. Anm. 2], 53 f. 12 Johannes Evangelista Gossner (14.12.1773 in Hausen zwischen Günzburg und Krumbach30.03.1858 in Berlin), 1796 Priesterweihe in der römisch-katholischen Kirche, 1826 Übertritt zur evangelischen Kirche in Schlesien, 1829 bis 1847 Pastor der Bethlehemskirche in Berlin als Nachfolger von Johannes Jänicke, Gründer von Vereinen christlicher Sozialarbeit, 1836 Begründer der nach ihm benannten Mission. 13 Schon zu dem Bändchen von Gustav Knak: Simon Johanna, hast du Mich lieb? Geistliche Lieder und Sonette. Berlin 1829, hatte Straube 6 Melodien beigetragen und ihn auch später kompositorisch unterstützt (vgl. die Beispiele bei Wangemann [s. Anm. 2], 481–490). 14 Wangemann [s. Anm. 2], 478. 15 Vgl. ähnliche Schilderungen vom seligen Sterben aus dem Umfeld, z. B.: Sterben von Propst Straube am 21.08.1841 (Wangemann [s. Anm. 2], 204 f.) oder die folgende Schilderung des Sterbens von Caroline Straube, in den ein weiterer Sterbebericht „die Geschichte von dem seligen Heimgang einer gläubigen Jungfrau“ aufgenommen ist, der der Sterbenden zur Stärkung vorgelesen wird. Zum „Interesse der Erweckungsbewegung für das Lebensende eines Menschen“ vgl. Jan Carsten Schnurr: Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815 bis 1848. Göttingen 2011, 106 f. (Zitat dort 106).

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die Straube seiner Gemeinde über die letzten Tage seiner Frau Karoline (gestorben am 11. September 1844) in einer Predigt vorgetragen und die er dann auch in seinen „Bibelberichten“ veröffentlicht hat.16 Deutlich tritt in Charlotte Stolles Bericht der kirchliche Charakter dieser erwecklichen Frömmigkeit hervor. Durch das Abendmahl bereiten sie sich auf das Sterben vor und erfahren eine Heilsfreude, die den Abschied erleichtert. Dem Sterbenden ist es ein wichtiges Anliegen, seine Verwandten zur Sonntagsheiligung anzuhalten. Dazu gehört vor allem der Gottesdienstbesuch, und zwar in seiner vollen Länge, wie die besondere Verpflichtung zeigt, die der Sterbende seiner Frau und seinen Kinder auferlegt. Als entscheidendes Gebet benennt er in gleichsam liturgischer Ordnung das Vaterunser.17 Das Zwei-Wege-Schema, das für die Erweckung dieser Zeit charakteristisch ist,18 bietet grundlegende Orientierung auf dem Lebensweg, der als Pilgerreise zum Himmel hin verstanden wird.19 Vom breiten Weg, der in die Hölle führt, ist Stolle selbst in seiner Bekehrung auf den beschwerlichen schmalen Weg abgebogen, der seiner Glaubensüberzeugung nach allein zum Ziel führt, unter Gebet und Tränen Fortschritte ermöglicht, glücklich macht und schließlich auch eine innere Bereitschaft zum Sterben schafft. Seinen Verwandten empfiehlt er eindringlich, auch in ihrem eigenen Leben eine solche Wende zu vollziehen und ihr Leben ebenso auszurichten, wie er selbst es getan hat. In seiner Weise, sich ins Sterben zu fügen, sieht er sowohl die Bestätigung seines eigenen Glaubensweges als auch ein Vorbild für diejenigen, die es miterleben. Ein gleichsam missionarischer Impetus ist unverkennbar.20 16 Vom Sterbebette der Frau Pastorin Caroline Straube (Mittheilungen aus einer Predigt des Past. C. Straube), in: Theodor Wangemann: Gustav Knak. Teil 2: Zeugnisse aus und von dem Leben des theuren Gottesmannes Gustav Knak. Berlin 1879, 272–284 (der darin referierte Sterbebericht, 275). Die enge Milieu-Verwandtschaft zeigt sich etwa in den Bezügen auf Phil 1,23 mit dem Stichwort Auflösung, auf die Abendmahlsfeier oder auf das Lied Ich zieh’ mich auf den Sabbath an mit Verweis auf den Liederschatz als Fundort. 17 Das Typische dieses Berichtes tritt etwa im Vergleich mit dem Bericht von Sterben der Pfarrerswitwe Rosalie Heinersdorff geb. Friedländer (1806–1889) hervor, den ihr Sohn in seiner Trauerpredigt gibt (SaH 1889, 161–168, dort 166–168): Leidensbereitschaft, letzte Verfügungen, Abendmahlsempfang, Brautbereitung zur Sabbatruhe mit Lesen des Liedes Ich zieh’ mich auf den Sabbath an (mit Verweis auf den Berliner Geistlichen Liederschatz als Fundort). 18 Das Zwei-Wege-Motiv wurde im Christentum früh aus alttestamentlich-jüdischer Tradition (Dtn 30,15–20) rezipiert (vgl. Mt 7,13 f.; Didache 1–6; Barnabasbrief 18–20). In der Zeit der Erweckungsbewegung bekam es eine besondere Note und eine reiche, auch bildhafte Ausgestaltung (vgl. die vielfältigen Bildblätter „Der breite und der schmale Weg“, die der katechetischen Veranschaulichung dienen, z. B. das von der Stuttgarter Diakonisse Charlotte Reihlen [1805–1868] entwickelte), die als Kulturexport durch die Missionsbewegung weltweite Verbreitung fanden (vgl. Josef Franz Thiel u. Heinz Helf: Christliche Kunst in Afrika. Berlin 1984, Abb. 397 u. 399). 19 Vgl. Titel Reisepsalter (Liedsammlung von Karl Straube), Reise-Paß und Wanderbuch eines Christen (Berliner Traktat, abgedruckt in Reisepsalter. Falkenhagen 271863, 313–319); breit gefächerte Wegmetaphorik mit „Sabbat“ als endgültigem Zu-Ruhe-Kommen nach der Reise. 20 Dieser Zug ist durchaus typisch. „Vom Lebensende her zu denken und vom Lebensende bereits ‚vollendeter‘ Glaubensgeschwister zu lernen, war deshalb ein Motiv der Erweckungsbewe-

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Geistliche Lieder verleihen dieser Frömmigkeit sprachlichen Ausdruck; die drei genannten Lieder gehören zum Repertoire der geistlichen Liedsammlungen der Erweckungsbewegung. Mit ihnen vergewissert sich der Sterbende seiner innigen Gemeinschaft mit Gott, der sein Vaterherz für ihn aufschließt, und mit dem Heiland Jesus Christus, der ihm Frieden schenkt. So vergewissert er sich immer aufs Neue im Gebet der Gnade Gottes und der Liebe Christi. Letzten Halt findet er in mystischer Vorstellungsweise in den Wunden Jesu sowie in der Einkleidung der Braut Christi, der Kirche. Die Christusgemeinschaft sucht innig-personalen Ausdruck.21 1.3 Lebensweg des Sohnes Friedrich Stolle Als sein Vater starb, besuchte sein Sohn das Gymnasium in Wittenberg. (Johann) Friedrich (Wilhelm) Stolle, das dritte überlebende Kind und einziger Junge im Kreis der sieben Geschwister,22 war am 1. November 1840 in Jüterbog geboren und am 15. November in der dortigen St. Nikolai-Kirche getauft worden. Den weiterführenden Schulbesuch und eine Ausbildung zum Pfarrer wurde ihm durch Carl Traugott Schale (geb. Februar 1828, vermutlich in Torgau) ermöglicht, den seine Mutter am 21. November 1856 in zweiter Ehe heiratete und der seinen Stiefsohn mit aller Liebe förderte. 1861 konnte Friedrich das Theologiestudium in Halle beginnen, wo er in enge Beziehung zu Professor August Tholuck,23 den akademisch-theologischen Vertreter der Erweckungsbewegung, trat, ab 1863 setzte er sein Studium in Berlin24 fort. 1867 wurde er Pfarrverweser in Obersitzko an der Warthe (Obrzycko), 1868 Pfarrer in Neubrück an der Warthe (Wartosław)/ Provinz Posen. Er heiratete am 18.

gung, das zugleich als Antriebskraft sozialer und missionarischer Aktivität wirkte“ (Schnurr, Weltreiche [s. Anm. 15], 107). 21 Auch dies ist typisch für Sterbeberichte der Erweckungszeit. „Der Blick auf das Lebensende von Gläubigen spiegelt zugleich die Überzeugung wider, dass Christus als der Überwinder des Todes gerade diesen schwersten Teil der menschlichen Lebensgeschichte in einen zeugnishaften Abschied vom diesseitigen und Übergang ins zukünftige Leben verwandeln könne“ (Schnurr, Weltreiche [s. Anm. 15], 107). 22 Früh starben die Brüder Friedrich August Ferdinand (27.07.1836–10.03.1837), Samuel (22.08.–30.10.1839), Friedrich Gotthold (25.05.–26.08.1846) und die Schwester Josephine Ephraemine Emma (12.01.1849–08.08.1850), heranwuchsen die Schwestern Caroline Marie (geb. 24.11.1835), Maria Lydia (geb. 28.03.1838), Maria Martha (geb. 23.04.1842), Charlotte Wilhelmine (geb. 13.09.1843), Elisabeth Martha (geb. 22.01.1845), Maria Martha (geb. 26.10.1851; nach Kirchenbuch namensgleich mit der älteren Schwester, vermutlich nach Rufnamen unterschieden). Für die Erkundung familiengeschichtlicher Daten danke ich Hans-Jochem Göbel. 23 Friedrich August Gottreu Tholuck (30.03.1799 in Breslau–10.06.1877 in Halle), erlebte seine Bekehrung in Berlin unter dem Einfluss von Baron von Kottwitz, 1823 dort Professor, 1926 in Halle. 24 Prägend wirkten auf ihn die Professoren Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869), Christian Wilhelm Niedner (1797–1865) und Isaak August Dorner (1809–1884).

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Februar 1870 Minna Kloß25 in Kloster Zinna. Schon in der Provinz Posen hatte er auf Bitten der Berliner Judenmissionsgesellschaft eine Reise durchgeführt, um Juden das Evangelium zu predigen, dann folgte er zum 1. November 1877 einer Berufung zum Missionsprediger im „Rheinisch-Westfälischen (später: Westdeutschen) Verein für Israel“ mit Sitz in Köln. In dieser Wirksamkeit starb er am 30. Juli 1903 in Köln.26 Der Lebensweg des Sohnes entsprach ganz den Hoffnungen seiner Eltern: Er verband deren Frömmigkeit mit dem kirchlichen Amt; er verfolgte die Anregungen, die er in seinem Elternhaus im Umgang mit einem jüdischen Mitarbeiter bekommen hatte und die sein Mentor Tholuck nachdrücklich unterstützt hatte, indem er seine Lebensaufgabe im Evangeliumsdienst an Juden sah; dabei trat das gesungene Zeugnis besonders hervor.27 – Seine älteste Schwester Caroline wurde Diakonisse in Bethanien in Berlin.28 1.4 Abschiedsschreiben der Mutter an ihre Kinder In eigener Todesahnung hat Charlotte Schale verw. Stolle dann Jahrzehnte später der aufbewahrten Aufzeichnung über das Sterbenszeugnis ihres ersten Mannes ihr eigenes Glaubenszeugnis hinzugefügt, um beides zusammen ihren inzwischen erwachsenen Kindern zu übergeben.29 Die Stimmungslage zeigt sich deutlich anders als in dem vorangehenden Bericht aus früherer Zeit. Nicht die jubelnde Glaubensfreude tritt beherrschend hervor, sondern das Bewusstsein eines „allererbärmlichsten Glaubens“ und eigener Hinfälligkeit, wohl auch von Altersschwäche. Ja, offenbar fühlt sie sich auch kritischen Angriffen ausge25

Mathilde Wilhelmine Clara Kloß (20.06.1849 in Stadt [Kloster] Zinna–08.11.1930 in Köln). Zum Lebenslauf und zur Würdigung vgl. die drei Beiträge in Heft 9 (September) des Missions-Blattes des Westdeutschen Vereins für Israel 59, 1903, 130–144, besonders das Lebensbild des heimgegangenen Pastors Friedrich Stolle, gezeichnet von Kindeshand, ebd., 141–144; vgl. weiter Volker Stolle: „Um Einen lieb ich Alle aus Israels Geschlecht“. Liebe zu Israel in (Missions-)Liedern des 19. Jahrhunderts. In: LuThK 24, 2000, 45–67. 27 Vgl. neben seinen in Missionsblättern abgedruckten Gedichten die Liedsammlungen: J.Fr.W. Stolle: Israel, vergiss mein nicht! Lieder, Gedichte und Psalmen, Norden 1883, 21885; ders.: Küsset den Sohn! Neue geistliche Lieder und Gedichte zur Ehre des Herrn. Barmen 1893; Friedrich Stolle: Hosianna. Kleiner Missions-Liederschatz für Freunde Israels gesammelt und herausgegeben. Köln 1898. „Von je hat das Reich Gottes, insonderheit die Ausbreitung des Evangeliums von Christo, in dem Gesange der Gemeinde einen mächtigen Förderer gehabt. So nicht minder auch die Christianisierung des alten Gottesvolkes Israel, dem die Verheißung gilt, daß es wird wiedergebracht werden aus seinem Irrsal und sich zu Christo bekehren. Lasset uns darum zu dieser Arbeit und Liebespflicht einander selbst ermahnen mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen lieblichen Liedern!“ (im Vorwort zu: Hosianna). 28 Caroline Marie Stolle, geb. 24.11.1835 in Jüterbog, 30.03.1852 Eintritt in das Diakonissenhaus Bethanien in Berlin, 13.04.1853 Einsegnung, gestorben am 25.01.1922. – Möglicherweise war Diakonisse Auguste Stolle, geb. 06.01.1831 in Luckenwalde, 22.05.1850 Eintritt in das Diakonissenhaus Bethanien in Berlin, 10.10.1861 Einsegnung, gest. 03.12.1902, eine Verwandte (Quelle: Schwesternbuch der Stiftung Diakonissenhaus Bethanien, Berlin). 29 Welche zeitliche Nähe zu ihrem Tod am 25.04.1881 in Groß-Lichterfelde (1920 nach Berlin eingemeindet) besteht, geht aus dem Dokument nicht hervor, da es keine Datumsangabe enthält. 26

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setzt. Diese eher trübsinnige Selbstwahrnehmung ist jedoch mit Dankbarkeit für die Kinder, die das Sterben dennoch schwer macht, sowie mit der Zuversicht gepaart, dass auf das Wort Christi Verlass ist und er gerade denen beisteht, die nicht auf ihr eigenes Vermögen setzen. In hohem Alter fühlt sie sich „wie ein Kind“30 unter Gottes Schutz. Und in diesem zuversichtlichen Vertrauen auf die Barmherzigkeit Christi möchte sie mit ihren Kindern verbunden sein. Das Lied von Paul Gerhardt (1607–1676) Ich bin ein Gast auf Erden gibt dieser Art, sich auf das Sterben einzustellen, passenden Ausdruck; das Anstimmen des Siegesliedes der Überwinder steht noch aus. In den weiteren Erfahrungen, die ihr Leben belastet und beschwert haben, hat sich ihr Glaube als angefochtener Glaube durchgehalten. In ihrer stark empfundenen letzten Hilfsbedürftigkeit hat sich der Blick noch stärker vom eigenen Ich ab- und Christus zugewendet. Der Glaube ist gereift. In doppelter Weise dokumentiert sich in diesem Schriftstück ein seliger Abschied aus diesem irdischen Leben. Der Aufbruch der Erweckung hat sich in zwei Lebenswegen bewährt. Und auch die nächste Generation ist davon erfasst und geprägt worden. Im Rahmen gelebter Kirchlichkeit konnte sich eine persönlich-innerliche Frömmigkeit entfalten, die in den Erfahrungen des Alltags durchtrug und aus der Bibel und dem geistlichen Liedgut schöpfend ihre eigene Sprache fand. 2. Edition der Schriftstücke31 2.1 Brief Friedrich Stolle vom 24. September 1840 (Briefadresse) An Madame Stolle Jüterbogk (Briefstempel) Berlin 24. 9. 6–7 Berlin den 24t. Septb 40 Vielgeliebte Frau Mit großer Freude nehme ich die Feder zur Hand[,] ach Gott sey Dank[,] das[s] ich wieder so kraftvol[l] bin[,] das[s] ich mit Wahrheit mein jetziges 30 Vgl. den Bezug dieser Wendung im Abschiedsschreiben auf die biblische Episode, wie Jesus die Kinder segnet (Mk 10,13–16). 31 Brief vom 24.09.1840: ein auf die Größe 17,5 x 21 cm gefalteter Bogen, Seite 1–2 Text des Briefes, Seite 3 vacat, Seite 4 postalische Adresse; Brief vom 2. Oktober 1840: beidseitig beschriebenes Blatt 19 x 22,5 cm; Bericht vom Lebensende Friedrich Stolle und Glaubenszeugnis Charlotte Stolle: ein auf die Größe 17 x 21 cm gefalteter Bogen mit angeheftetem Blatt gleicher Größe, Seite 1–3 Bericht vom Sterben des Ehemannes, Seite 4–5 eigenes Glaubenszeugnis von Charlotte Stolle, Seite 6 vacat. – Schrägstriche markieren den Seitenwechsel, runde Klammern überzählige Buchstaben im handschriftlichen Original, eckige Klammern editorische Ergänzungen. Mundartliche Eigentümlichkeiten werden nicht ausgeglichen.

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Befinden dir kundthun kann, ach herzvielgeliebte Frau[,] am Son[n]tagmorgen erhielt ich den Brief nebst 6 rp[;] da lag ich gerade in die größte Schmerzen schon von Freitag an und mußte bis Montag durch noch aushalten[,] schmerzhaft auf eine Stelle ganz still liegen[.] Das war die schlim[m]ste Zeit[,] die ich nun Gott sey Dank ausgestanden habe[.] Die ganze[n] 14 Tage[,] die ich in Berlin zubringe[,] mußte ich immer im Bette liegen[,] auch diesen Brief schreibe ich wieder im Bett so wie die andern. Gestern Abend sagte mir der Do(c)ktor[,] ich werde nun bald können aufstehen und sollte dir nun mit ein Schreiben erfreuen[,] das[s] ich in 14 Tage kön[n]te zu Hause reisen[;] dann bin ich also im ganzen 4 Wochen in Berlin. Die Zeit wird mir sehr lang[,] ich bin aber auch der Meinung[,] es wird mir sehr dienlich sein, sol[l]te Bischoff viel[l]eicht zu dann her kommen[,] dann frage ihn doch[,] ob ich kann mit ihm runder fahren[,] blos[s] um meine Sachen[:] es ist sehr weit von hier abgelegen[,] wo Bischoff einkehrt[,] mu[s]st ihm sagen[,] er soll gleich herschicken[,] sobald er herkom[m]t[,] damit ich fertig bin zu dan[n,] wenn er abfä[h] rt, meine schmerzen habe ich nun wohl ausgestanden[;] das[s] aber mein Lidchen krank ist[,] betrübte mir auf mein schmerzen Lager sehr[;] ich hätte gern gleich geschrieben[,] es war mir aber vor Schmerz nicht möglich, Die Tränen rol[l]ten aus die Augen und jeden Augenblick war mir meine liebe Frau mit meinen Kinderchen vor die Augen und kon[n]te mir nicht ergetz(getz)en[,] an dir zu schreiben, nun bin ich aber Gott sey Dank recht munter[;] der Allgütige Gott sprach mir auch Trost zu in meiner Seele[,] er wolle euch auch gesund erhalten[;] dafür danke ich Gott hertzlich so wie auch Du, im Gebet sind wir gewiß zusammen / Liebes Weibchen, sol[l]te aber mit Dir eine veränderung32 vorfallen[,] dann hoffe ich gewiß, es von Dir sehr schleunig zu erfahren[,] und ich werde ganz geschwind zu Hause kommen, fäl[l]t aber nichts vor[,] so bleibt es dabey[,] den 11ten Septb bin ich in Berlin angekommen und will auch in Gottes Namen wieder den 11ten Octb abreisen, sollten euch meine paar Zeilen bey Gesundheit antreffen und weiter nichts vorfallen[,] so werde es wohl nicht von Nöthen[,] noch ein Brief zu schreiben[,] und kan[n]st fest drauf hoffen[,] wenn auch Bischoff nicht herkommt den 11ten Octb.[,] mit der Gotteshilfe auch mit 2 gesunden Füßen, mein Hoffen und Freude auf diesen Tag ist sehr groß[,] und Du mein Weibchen wirst Dich gewiß recht freuen[;] das ist gerade[,] als sehe ich es schon, der liebe Gott wolle seinen Segen dazugeben und wolle uns für allem Unglück behüten und bewa[h]ren und uns in Gebet stärken[,] auf das[s] wir fest werden. Die Lampen u. Kaffebrett33 habe ich den Tag gleich hier besorgt bey Köppen u. Wenken34 N. 42 in Königsstraße[.] Liebe Frau[,] schreibe doch von zu Hause aus[,] indem es mir viel kost von hier bis da ein Brief hinzuschicken[,] und schreibe 1.) die alte Sachen 2.) um die 1 neue Studierlampe u. 3.) 4 Stück Mittle Fränkse[?] Lampen und 6 Stück 32 33 34

Die Ehefrau war hochschwanger; am 01.11. wurde der Sohn geboren. Tablett für Kaffeegeschirr, auch aus Messing gefertigt, vgl. Teebrett. Köppen & Wenke, Berliner Lampen- und Lackierwarenfabrik.

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Piräle[?,] und das Geld wollen wir zusammen entricht(ig)en, fertig wird es nun wohl sein[,] schreibe an Köppen u. Wenke[,] sobald Bischoff wieder nach Berlin fä[h]rt[;] sol[l]te viel[l]eicht noch was fehlen[,] so besorge es sogleich mit. Ich verbleibe Dein Dich liebender Mann F. Stolle grüß alle guten Freunde und beka[nnten] zuerst unsre Eltern und Geschwister 2.2 Brief Charlotte Stolle vom 2. Oktober 1840 Jüterbogk den 2ten October 1840 Vielgeliebter Mann! Wenn Dir mein geringes Schreiben bei guten Befinden antreffen wird[, wird] es mir innig freuen[;] was uns betrif[f]t[,] wir sind Gott sei Dank alle noch gesund und wohl. Du wirst es mir doch nicht übel nehmen[,] geliebter[,] daß ich Dir noch einen Brief schreibe[;] ich kann es mir nicht enthalten und es ist mir wieder eine rechte Erquickung in meiner Kümmerniß[;] denn hier kann ich keinen mein Herz ausschütten[,] sondern es geht mir wie Hiob[:] leidige Tröster fand ich, auch da mein Kummer den höchsten Gipfel erreicht hatte, sogar unter Freunden, doch einen Freund fand ich – ich stieg auf Golgatha unters Kreutz[,] schaute hinauf zu den[,] der beide Arme für uns ausgebreitet und ein Herz voll strömender Liebe für uns hat, da erst fand mein Herz ruhe und meine Seele Trost[,] als ich meinen lieben leidenden Mann ansah und dann wieder ihn[,] der auch das(s) schwerste vol[l]bracht hat[,] nur um uns Sünder zu erlösen[;] er war so unschuldig, ich dachte[,] wir müssen mit recht das leiden[,] doch die rechte Hand des Herrn kann alles ändern. Da wandte ich [mich] zum Wort des Herrn und schlug auf den 77sten Psalm[;] ach Geliebter[,] du siehst hier[,] daß es nur der Herr war[,] und ich empfehle Dir diesen Psalm auch[,] so auch die Bi(e)bel / Vielgeliebter Gatte[,] Du schreibst[,] den 11ten mit Bischoffen herunter zu kommen, Bischoff ist jetzt in Berlin und wird zum 11ten wohl nicht rauf kommen[;] wenn Du die reise nicht verzögern wolltest[,] kön[n]test Du mit Lorenz[,] welcher in Montag35 hier fortfährt und Krausenstraße No 28 ausspannt[,] herunter kommen, doch solltest Du andere Gelegenheit haben oder es noch zu früh sein[,] so stelle ich es in Deinen Willen. Doch Du wirst wohl wißen[,] wie sehnlich ich auf Dein bald[ig]es Ankommen hoffe, ach! keine Stunde vergeht, die ich nicht im Geist bei Dir bin – ich sehe mich schon in Deinen Armen[;] ist Dir Geld vonnöthen[,] so habe die Güte und thue mir es zu wissen[;] oder wirst Dus vielleicht nachher abmachen[,] ist mirs auch recht. An Köppen und W. habe ich noch nicht 35

Gemeint ist wohl Montag, der 05.10.1840.

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geschrieben[,] weil es noch so lange Anstalt haben konnte[,] bis Du kommst[;] daher sei so gut und bringe es dan[n] mit[,] auch 18 m Messing vergiß nicht[,] lieber Mann[,] den[n] Türbis wollen gerne eine Thür überzogen haben. Geliebter Mann[,] ich könnte heute nich[t] viel mehr schreiben[,] aber die Zeit ist ja nur noch kurz und wir werden dann wieder uns alles mittheilen können und ich werde Dir meine dankbare Liebe gewiß nicht schuldig bleiben, könntest Du also[,] Geliebter[,] und es wäre um die paar Tage Deiner Lage nicht schädlich[,] so erwartet mit großer Sehnsucht den Donnerstag36 Abend Dir Dein Dich treuliebendes Weib C. Stolle Lieber Schwager Ich wünsche ein nochbaldiges wiedersehn J.G. Weidemann37 viele Grüße von Herrn Prediger Straube38 2.3 Bericht über das Sterben von Friedrich Stolle 1855 mit Abschiedsschreiben von Charlotte Schale verw. Stolle an ihre Kinder Die wichtigsten Worte aus den letzten Lebenstagen meines l[ieben]. Mannes. Ungefähr 4 Wochen vor seinem Tode39 sagte der selig Entschlafene: „ach, welche Gnade ist mir wi(e)derfahren; ich soll morgen das h[eilige] Abendmahl genießen; möchte doch d[er] Herr seinen Segen geben, daß es zum letzten Mal nicht zum Gericht, sondern zum ew[igen] Leben geschehe, denn sonst bin ich ja verloren.“ Danach hat er mir Alles Irdische übergeben mit sehr großer Wichtigkeit u. nachdem er mit Allem fertig war, sagte er: „Mutter, wollen wir nicht zusammen d[as] h[eilige] theuere Abendmahl genießen? so wollen wir uns doch recht herzlich darauf vorbereiten.“ Sonntag d. 29. Mai40 genossen wir dann auch d[as] h[eilige] Sakrament in Segen, wonach er sehr große Freudigkeit hatte. Am zweiten Mai (Bußtag)41 war mein Schwager aus Luckenwalde hier, um ihn noch einmal zu besuchen. Als derselbe Abschied nahm, hielt er ihm noch eine recht ernste Predigt, besonders von der Sonntagsentheiligung; er setzte ihm alles sehr klar auseinander, zuletzt führte er ihn in d[ie] 36 Gemeint ist wohl Donnerstag, der 08.10.1840, als Tag der Rückkehr von Lorenz aus Berlin und das heißt dann drei Tage früher, als von Friedrich Stolle geplant. 37 J.G. Weidemann war offenbar ein Halbbruder von Caroline Stolle geb. Donat; ihre Mutter Johanna Friederike Donat war in erster Ehe verheiratet gewesen mit Johann Caspar Ernst Weidemann. 38 Karl Straube war von 1835 bis 1856 Pfarrer in Werder, heute Ortsteil von Jüterbog. 39 15.06.1855 in Jüterbog 40 Es muss wohl heißen: 29.04.; der fiel tatsächlich auf einen Sonntag. Die folgende Zeitabgabe schließt sich dann richtig an. 41 Runde Klammern im Original.

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Hölle zu allen Verdammten u. stellte besonders den reichen Mann42 als ein warnendes Beispiel vor seine Augen. Dann sagte er: „Lieber Schwager, schlage von nun an den schmalen Weg ein, der wird dich durch die enge Pforte43 zum armen Lazarus führen u.s.w.[“] – Als ich nachher sehr weinte, sprach er: „Mutter, schaue nur immer nach oben.[“] Dann bekam er heftige Schmerzen; danach fing er an zu beten mit etwa folgenden Worten: „Ach! ist denn nicht bald mein Auflösungstag? nun vielleicht morgen. Ach ja, mein l[ieber] Heiland, laß es doch bald geschehen; löse mich doch bald ab und laß mich nur ja nicht wieder zurücke kommen, denn / Du weißt ja, daß ich große Lust habe, abzuscheiden um zu sein[,] wo Du bist, mein liebster Herr Jesu44, auch laß es doch recht bald geschehn, amen.“ Dabei glänzten seine Augen vor Freude. Nun bat er mich um das Lied: [„]Laß mich gehen, laß mich gehen pp[“]45, welches ich ihm auch vorlas, und hernach auch: „Ich zieh mich auf den Sabbath an pp[“]46. Nach Beendigung dieses Liedes brach er aus in die Worte: „Halleluja, Lob, Preis u. Dank für alle diese Gnade. Ach, lieber Heiland, gieb doch Gnade, daß der Teufel nicht eine Beute an mir kriegt; ach nein, mein Heiland, das willst Du nicht, denn Du hast mich als Dein Kind den Dornenweg47 geführt. 42 Bei dem „reichen Mann“ ist offensichtlich nicht an das Gleichnis vom reichen Kornbauern gedacht (Lk 12,16–21), sondern an das Gleichnis von reichen Mann und armen Lazarus, wie die entsprechende Wendung „zum armen Lazarus“ im Folgenden zeigt (Lk 16,19–31). 43 Das Bild von der weiten und engen Pforte und dem breiten und schmalen Weg (Mt 7,13; vgl. auch Lk 13,24). 44 Vgl. Phil 1,23; im Griechischen steht „auflösen“ (= aufbrechen, euphemistisch für sterben), von Luther mit „abscheiden“ übersetzt (ebenso 2Tim 4,6); dieser bildliche Ausdruck hat in der Erbauungsliteratur eine breite Ausdeutung erfahren; daher die Ausdrücke „Auflösungstag“ und „auflösen“ in diesem Zusammenhang. 45 Laßt mich geh’n, laßt mich geh’n,/ daß ich JEsum möge seh’n; Meine Seel’ ist voll Verlangen,/ Ihn auf ewig zu umfangen und vor Seinem Thron zu steh’n. (erste von 5 Strophen; zitiert nach: Reisepsalter Nr. 206). Verfasst wurde dieses Lied 1840 von Gustav Knak. 46 Ich zieh’ mich auf den Sabbath an/ so brünstig, wie ich immer kann; denn meine Seele ist die Braut,/ die ihrem Manne wird vertraut: bald kommt der Bräutigam und holt sie hin,/ wo sie in Ewigkeit ist Königinn. (13., letzte) Hier fall’ ich hin vor’s Lammes Thron,/ da lieget nochmals meine Kron’, Preis, Lob, Ehr’, Ruhm Dank, Kraft und Macht/ sey dem erwürgten Lamm gebracht! Dies ist das Lamm, dem ich gefolget bin,/ so sieht es aus, mein Herz! schau’ ewig hin. (Verfasser: Christoph Anton Müller. Das Lied findet sich zuerst in: Nachlese zum Wernigeroder Gesangbuch 1735; zit. n.: Geistlicher Liederschatz. Sammlung der vorzüglichsten geistlichen Lieder. Hg. v. Samuel Elsner. Berlin 1832, Nr. 989). Das Lied findet sich auch in der Sammlung von Friedrich Stolle: Hosianna. Kleiner Missions-Liederschatz für Freunde Israels. Köln 1898, Nr. 107 mit der Änderung von „so brünstig“ in „so prächtig“ in der ersten und von „nochmals“ in „vor ihm“ in der letzten Strophe. – „Sabbath“ meint die ewige Sabbatruhe im Himmel nach Hebr 4,9 (im Urtext „Sabbatruhe“, neben „Ruhe“ in Vers 10). 47 Zu diesem Motiv des dornenreichen Weges vgl. die Strophe im Lied „Ich weiß, mein Gott, dass all mein Tun und Werk in deinem Willen ruhn“ von Paul Gerhardt: Der Weg zum Guten ist gar wild,/ mit Dorn’ und Hecken ausgefüllt;

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Ach, Dank sei Dir, daß ich nun so weit gekommen bin, daß ich in kurzer Zeit bei Dir sein soll. Ach, lieber Herr, mache nicht mehr so lange, denn ich begehre aufgelöst und bei dir zu sein.[“]48 Am Mittwoch kamen seine Geschwister zu ihm. Da war er so voll vom Worte des Lebens, daß er’s nicht lassen konnte, mit starker Stimme viel von der Gnade Jesu zu zeugen. Als sie weggehen wollten, fragte er sie: „Wollt ihr auch so ein Sterbebett haben?“ Sie antworteten „ja!“ – „Nun, dann müßt ihr den schmalen Weg suchen zu gehen, sonst kommt ihr nicht dazu; er ist zwar mit viel Dornen belegt, aber es geht sich je länger je besser darauf. Thut mir zum Abschied noch die große Liebe und sucht Jesum, denn sonst sind wir ja ewig geschieden.“ Und darauf machte er ihnen die Höllenpein klar, wie sie ihn vom Heiland selbst gezeigt sei; er ermahnte sie, von allen Sünden sich loszureißen und den Heiland zu suchen. Das müsse aber mit viel Gebet u. Thränen geschehen.49 Da bekannte er, daß er seit seiner Verheirathung den Herrn gefunden habe und in dieser Zeit sehr glücklich gewesen sei. Und so glücklich könnten sie auch werden, sie sollten nur recht kindlich zum Heiland darum bitten. Besonders empfahl er ihnen das Vaterunser, das sei so der rechte Schlüssel zu Gottes Vaterherz. – Meine Kinder hat er mir dann sehr ans Herz gelegt, daß ich ihnen nun doppelt sein soll, was ich ihnen bisher gewesen. Auch hat er mich sehr ermahnt, fleißig zur Kirche zu gehen; ohne dringende Noth keine zu versäumen u. ja nicht zu spät (erst nach der Liturgie) zu kommen.50 Den letzten Tag seines Lebens waren seine Gedanken schwankend, aber ich bemerkte doch, daß er sich sehr mit d[er] h[eiligen] Schrift beschäftigte. Vormittag fragte er meine älteste Tochter: „War Melchisedek ein frommer Mann?“51 „ach ja“! antwortete diese, denn man mußte Alles sehr kurz fassen, was gesprochen wurde. Eine Stunde vor seinem Tode sagte er zu mir mit gebrochener Stimme: „Fange mir doch etwas an von den Wunden Jesu.“ Als ich es nicht schnell genug that, sagte er selbst(, sagte er selbst): „Jesu, deine tiefe Wunden“, welches ich ihm dann auch vorsagte.52 Dann hat er mehrere Male seinen Heiland gerufen, was wir kaum verstehen konnten. Drauf ging es schnell zu Ende. Als ich nun sah, daß die Seele

doch wer ihn freudig gehet,/ kommt endlich, Herr, durch deinen Geist, wo Freud und Wonne stehet. 48 Vgl. noch einmal Phil 1,23. 49 Anspielung auf das Beispiel Jesu (Hebr 5,7). 50 Runde Klammern im Original. – In der Zeit des Rationalismus hatte es sich eingebürgert, den Gottesdienstbesuch auf das Anhören der Predigt zu beschränken. 51 Vgl. die Episode Gen 14,18–20 mit der Bezugnahme darauf Ps 110,4 und Hebr 5,6.10; 6,20; 7,17.21. 52 Jesu, deine tiefen Wunden,/ deine Qual und bitt’rer Tod geben mir zu allen Stunden/ Trost in Leib’s- und Seelennoth. Fällt mir etwas Arges ein,/ denk’ ich bald an deine Pein, die erlaubet meinem Herzen/ mit der Sünde nicht zu scherzen. (erste von 6 Strophen), Verfasser: Johann Heermann (1585–1647); zit. n.: Geistlicher Liederschatz, Nr. 1001.

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sich allmählich vom Leibe trennte, habe ich ihn einige Male gefragt, ob er wo[h]l Frieden in seiner Seele fühle, was er durch Zeichen bejahete. –.–/ 53

54

Ich komme bald. Es summt mir seit längerer Zeit schon immer in Herz und Ohr [„]und wenn ich ausgehauchet[,] so scharrt man mich ins Grab![“]55 – Hätte ich Euch sieben Kinder nicht, und was mir Gott sonst liebes und wieder liebes gegeben hat und trauern und zagen würde[,] wenn Er mich abriefe, ich könnte[,] deucht mir[,] frohlocken[,] wenn Er sagen würde[:] es ist genug56; denn [„]die Herberg ist zu böse, des Sündigens zu viel, ach komm mein Gott und löse mein Herz[,] wenn Dein Herz will[“].57 Doch die Tage und Jahre eilen, und ein kurzes Warten reißt uns ohnehin zum Ziel.58 Darum nur noch eine kleine Weile[,] bis die Nebel fallen, und die Seele durchbrechen wird mit dem Jubelliede[: „]Sieg[,] Sieg[,] mein Kampf ist aus[“]59, und[: „]ich habe überwunden[“]60. Meine lieben Kinder[,] das(s) alles sage ich aus dem allererbärmlichsten Glauben, der im Gebete ist wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln[,] dem um Trost sehr bange ist61[,] der in der That nichts aufzuweisen hat, der wie [ein] / Lahmer nur zu oft strauchelt62[,] der matt und träge ist zum 53

Anspielung auf Apk 22,7.12.20. Gemeint ist das Kommen Jesu in der Sterbestunde. Die Melodie des folgenden Liedes ist dieselbe wie für O Haupt voll Blut und Wunden. 55 Schlusswendung einer Strophe im Lied Ich bin ein Gast auf Erden von Paul Gerhardt: Wo ich bisher gesessen,/ ist nicht mein rechtes Haus. Wenn mein Ziel ausgemessen,/ so tret ich dann hinaus; und was ich hier gebrauchet, das leg ich alles ab,/ und wenn ich ausgehauchet, so scharrt man mich ins Grab. 56 Vgl. 1Reg 19,4. Anders als Elia wartet die Schreiberin darauf, dass Gott diese Feststellung trifft. Vgl. auch das Lied Es ist genug von Franz Joachim Burmeister (1633–1672). 57 Anspielung auf die weitere Strophe aus dem Liede Ich bin ein Gast auf Erden: Die Herberg ist zu böse,/ der Trübsal gar zu viel. Ach komm, mein Gott, und löse/ mein Herz, wenn dein Herz will; komm, mach ein seligs Ende/ an meiner Wanderschaft, und was mich kränkt, das wende/ durch deinen Arm und Kraft. – Wie sich die varia lectio „des Sündigens zu viel“ ergibt, bleibt fraglich. 58 Zum Topos der eilenden Zeit der Vergänglichkeit vgl. die klassische Bibelstelle Ps 90,1–12. – Das Motiv des Zieles ist durch den zuvor aufgenommenen Liedvers von Paul Gerhardt vorgegeben. 59 Sieg! Sieg! Mein Kampf ist aus!/ Nun hab ich meine Krone; hier ist das Himmelshaus,/ ich steh vor Gottes Throne, in reiner weißer Seiden,/ so heißt mich Jesus kleiden. (erste Strophe; zit. n. Vermehrtes Kirchen- und Haus-Gesangbuch für Neu-Vorpommern und Rügen, Stralsund 1848, Nr. 464), Verfasser: Peter Vehr d. J. (1644–1701), Rektor und Pastor in Stralsund. 60 Ich hab nun überwunden/ Kreuz, Leiden, Angst und Not; durch seine heilgen Wunden/ bin ich versöhnt mit Gott. (Strophe aus dem Liede „Christus, der ist mein Leben“, vor 1608). 61 Vgl. Jes 38,17. 62 Vgl. Hebr 12,12 f. 54

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Worte Gottes und zum Dienste des Herrn, wohl aber im Sinken und Unterliegen immer nicht lassen kann von dem Namen Jesu Christo, und auch nicht losgelassen wird von den treuen Hirten, der sich wie ein Küchlein unter die Flügel der Henne flüchtet und darin nicht verzagt, wenn tausend Verkläger und Sünden ihn anklagen und zehntausend Teufel ihn Hohn spr[echen].63 Ich weiß nichts mehr zu rühmen und will nichts mehr sein und haben, als daß Jesus Christus mir Barmherzigkeit schenkt, und mich um seines Namens Willen annimmt[,] wä[h]rend ich weiß, daß ich nichts werth bin[,] darin bin ich sorglos und fröhlich wie ein Kind, und finde immer[,] daß, wenn es auch tausendmal Nacht in mir und um mich war, dieses Gnadenlicht meines Helfers immer wieder in mich aufgeht. Dieses verhelfe der dreieinige Gott Euch[,] meinen th[euren] Kindern[,] mit mir bis in alle Ewigkeit Amen Eure Mutter

63 Anspielung auf Ps 91,3–8; Stichworte: Er wird dich mit seinen Fittichen decken – und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln – wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen. – Vgl. auch Mt 23,37; Lk 13,34.

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FRED VAN LIEBURG

Die Bentheimer reformierte Fromme Geesjen Pamans (1731–1821) Ein Beitrag zur Genderforschung im Pietismus Frauen spielten eine wichtige Rolle im Pietismus. Zur Erkennung dieser historischen Gegebenheit braucht die Pietismusforschung keine spezielle Frauengeschichte oder Genderforschung.1 Mit einer wachsenden Reihe von Monographien, Artikeln und Tagungen erweist sie sich als eine Korrektur der traditionellen, überwiegend auf Männer bezogenen Kirchengeschichte und ebenso als die einer modernen, genderarmen Sozialgeschichte.2 Zwar sind es häufiger Frauen als Männer, die sich bemühen, den Rückstand der „Herstory“ zur „History“ aufzuholen.3 Angesichts der Beiträge von Martin H. Jung und von anderen Kollegen können Kolleginnen sich in qualitativer Hinsicht nicht beklagen.4 Als niederländischer Pietismusforscher kann ich mich der relativen „Geschlechterindifferenz“ in Sachen Frömmigkeitsgeschichte anschließen.5 Es ist aber zu betonen, dass die Integration des Genderaspekts in die histori1 Ruth Albrecht: Frauen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 522–555. 2 Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus. Hg. v. Ulrike Gleixner u. Erika Hebeisen. Korb 2007. Im Oktober 2011 fand in Halle am Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung eine Konferenz zu „Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen“ statt. Ein Tagungsband wird in der Reihe „Hallesche Forschungen“ erscheinen, eine Anschlussveranstaltung ist für den Frühsommer 2014 geplant. 3 Im Sammelband 2007: 13 Frauen und ein Mann; Konferenz 2011: 18 Frauen, 5 Männer. 4 Martin H. Jung: Frauen des Pietismus. Zehn Porträts von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf. Gütersloh 1998; „Mein Herz brannte richtig in der Liebe Jesu“. Autobiographien frommer Frauen aus Pietismus und Erweckungsbewegung. Eine Quellensammlung. Hg. v. dems. Aachen 1999. 5 F.A. van Lieburg: Vrouwen uit het gereformeerde piëtisme in Nederland. In: DNR 9, 1985, 78–87 u. 119–127; 10, 1986, 94–104 und 12, 1988, 116–127; ders.: Vroomheid kent geen sekse. Piëtistes in de achttiende eeuw. In: Vrome vrouwen. Betekenissen van geloof voor vrouwen in de geschiedenis. Hg. v. Mirjam Cornelis [u. a.]. Hilversum 1996, 109–128; ders.: Sara Nevius (1632– 1706): the pietist ministry of a Dutch Reformed minister’s wife. In: Studia Historiae Ecclesiasticae 30, 2004, 52–74. Ein Sonderfall einer niederländischen Pietistin ist Pietje Baltus (1830–1914), die in der reformierten Kirchenhistoriographie als geistliche Mutter von Abraham Kuyper (der Begründer des Neocalvinismus) bekannt ist. S. über sie meine biographische Studie in: Jacob Kamphuis u. Fred van Lieburg: Geboeid door Pietje Baltus. Twee opstellen rond de theologie van Abraham Kuyper. Kampen 2012.

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schen Wissenschaften aufmerksam macht für die komplexen Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit (sowie von Weiblichkeit als von Männlichkeit) in einer Gesellschaft. In ihrer Untersuchung des Gendergehalts der Forschung zum lutherischen Pietismus fordert Ulrike Gleixner ‚Gegengeschichten‘ für die gängige, an Männern, ihren Ideen und Werken orientierte Historiographie und empfiehlt die gendersensible Lektüre bzw. Relektüre neuer und bereits bekannter Quellen.6 Ich möchte hier einen Beitrag zu einer unbekannten Figur aus dem deutsch-niederländischen Grenzgebiet, die Bentheimer reformierte Fromme Geesjen Pamans (1731–1821), anbieten. Ihr Leben und ihr Werk gleichen zunächst dem bekannter Heldinnen des lutherischen Pietismus. Doch versuchen wir im Folgenden ohne die Voraussetzung einer Konfession und eines Ismus ihre spezifische ‚weibliche Frömmigkeit‘ in den Blick zu bekommen. Die Auswertung dieser Einzelgeschichte soll nicht allein die regionale Bedeutung dieser ‚merkwürdigen‘ Frau aufzeigen. Der Name von Geesjen Pamans hat für ultra-orthodoxe Reformierte in den Niederlanden seit jeher einen guten Klang. Ihre Bücher wurden noch 1999 neu aufgelegt.7 Im heute deutschsprachigen Gebiet, in dem sie lebte, ist sie weniger bekannt. Erst 1988 widmete der niederländische Pfarrer Pieter de Jong ihr einige Seiten in einem Sammelband zur 400 Jahr Feier der Reformierten Kirche in der Grafschaft Bentheim.8 Ich selbst schrieb – als Erforscher pietistischer Autobiographien und als Ururenkel einer Bentheimer „Pietistin“9 – mehrmals über ihr Leben und Werk auf der Grundlage archivalischer Quellen und nachgelassener Schriften.10 Ihre Persönlichkeit erlangte auch im Emsland eine gewisse

6 Ulrike Gleixner: How to Incorporate Gender in Lutheran Pietism Research: Narratives and Counternarratives. In: Pietism and Germany and North America. Hg. v. Jonathan Strom [et al.]. Farnham 2009, 271–278. 7 Ein Verzeichnis ihrer Werke kann man finden in: J. van der Haar: Schatkamer van de gereformeerde theologie in Nederland (c.1600–c.1800). Veenendaal 1987, 359. Die richtigen Angaben der ersten Auflagen ihrer Werke folgen hiernach in den Fußnoten. Am meisten verbreitet ist die Neuauflage ihres ganzen Werks in zwei Bänden unter dem Titel: Gods genade verheerlijkt: echt verhaal van geestelijke bevindingen, bzw.: Zielsverlustiging in Jehova: als herder en verbondsgod van zijn volk, von P. Stuut in Rijssen in 1979 und 1980. Der Verlag Snoek in Ermelo machte davon 1999 einen Reprint. 8 P.L. de Jong: Die Bentheimer Kirche im 18. und 19. Jahrhundert. In: Reformiertes Bekenntnis in der Grafschaft Bentheim 1588–1988. Bad Bentheim 1988, 113–162; über Geesjen Pamans: 138–141. 9 Meine Ururgroßmutter Hermanna Geertruida Strick (1823–1887) war gebürtig aus Neuenhaus und Nachkomme von Hermann Strick (1563–1640), dem ersten reformierten Pastor in dieser Stadt und Mitbegründer des Calvinismus in der Grafschaft Bentheim. 10 Fred van Lieburg: Levens van vromen. Gereformeerd piëtisme in de achttiende eeuw. Kampen 1991 (vgl. Living for God. Eighteenth-Century Dutch Pietist Autobiography. Lanham 2006; ders.: Geesjen Pamans (1731–1821): Geistliche Mutter des Bentheimer reformierten Pietismus. In: P.H.A.M. Abels [u. a.]: Nederland en Bentheim. Vijf eeuwen kerk aan de grens. Die Niederlande und Bentheim. Fünf Jahrhunderte Kirche an der Grenze. Delft 2003, 159–173.

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Bekanntheit.11 Hier sei nun versucht, sie als Gegenstand der internationalen, interkonfessionellen und kulturgeschichtlichen Pietismusforschung auszuweisen. 1. Jugendzeit und Bekehrung Geesjen Pamans wurde im Dorf Gölenkamp geboren und am 23. Dezember 1731 in der reformierten Kirche in Uelsen getauft als Tochter von Hendrik Paman(s). Der Name der Mutter ist nicht bekannt. Sie war das fünfte Kind aus der ersten Ehe ihres Vaters. Merkwürdigerweise hat die Familie zwei Töchter mit Namen ‚Gese‘ gehabt, vermutlich weil es gleichnamige Großmütter gab. Die ‚erste‘ Gese, geboren in 1727, soll diejenige Gese Paman sein, die 1747 Hendrik Völkers heiratete. Die jüngere Gese ist die Hauptperson unseres Artikels. Mutter Paman wurde am 13. August 1736 bestattet. Der Witwer Hendrik Paman heiratete bald wieder und ließ in Uelsen noch eine Tochter taufen. Der Name der Stiefmutter von Geesjen Pamans ist ebenfalls unbekannt.12 Aus Geesjens Schriften erfahren wir nicht viel über den sozialen Hintergrund ihrer Eltern. Wir wissen, dass sie aus einer einfachen und armen Familie stammte und dass sie, durch die Umstände bedingt, nur zwei Wochen zur Schule gegangen ist. Sie wuchs nicht in einer besonders frommen Umgebung auf, doch als Mädchen sei ihr Herz schon zu den Dingen Gottes getrieben gewesen. Sie brachte sich selbst das Lesen bei und las vor allem in der Bibel. Gern suchte sie die Einsamkeit, um zu beten, und es schien ihr nicht angebracht, mit anderen Kindern zu spielen. „Ich versuchte auch, meinen Eltern zu gehorchen, weil der Herr es befiehlt; in der Welt hatte ich nicht viel Vergnügen. Ich wollte gern früh sterben, wenn ich nur bekehrt wäre“.13 Diese Bemerkungen, die Geesjen Pamans später in ihrem Selbstzeugnis äußert, erinnern an das Phänomen der ‚frühen Gottseligkeit‘, das es im Protestantismus häufiger gab oder zumindest in erbaulichen Lektüren angepriesen wurde. Im 17. Jahrhundert veröffentlichten englische Puritaner Biographien frommer früh verstorbener Kinder. Viele dieser Beispielgeschichten wurden ins Niederländische übersetzt, es gab auch Broschüren über niederländische gottesfürchtige Jugendliche. So kennen wir die Geschwister Susanna und Jacob Bickes, die 1664 während einer Pestepidemie in der Stadt Leiden im Alter von Diddo Wiarda: Art. „Pamans, Geesjen“. In: Emsländische Geschichte 12, 2005, 364–378. Kinder von Hendrik Paman: Jan (getauft 17.06.1724); Kind (bestattet April 1725); Janna (getauft 17.03.1726), Gese (getauft 21.12.1727), Gese (getauft 23.12.1731); aus seiner zweiten Ehe: Aale (getauft 08.05.1766). Jan heiratete etwa 1747 N. N. und 1752 Geerdjen Oortman; Janna heiratete April 1744 Jan (Brüggeman) Wolbers; Gese Paman heiratete 30.07.1747 mit Hendrik Völkers; Aale Paman heiratete am 19.04.1721 in Uelsen Hendrik Beniering. Alle Daten beziehen sich auf Uelsen; ursprünglich stammte das Geschlecht Paman aus Emlichheim. Mit Dank an Theo Davina in Neuenhaus für die genealogischen Angaben. 13 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 1.1. 11 12

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14 bzw. 7 Jahren verstorben waren. Sehr beliebt wurde ein Sammelband von Pastor Wilhelmus Eversdijk, Des Heeren lof verkondigt uit den mond der kinderen, erschienen im Jahre 1723 und vielmals neu aufgelegt. Es ist nicht unmöglich, dass auch Geesjen Pamans ihn gekannt hat. Jedenfalls war sie selbst auch ein solcher Ausbund der geistlichen Frühreife, einer Biographie würdig, wenn sie jung gestorben wäre.14 Als Geesjen älter wurde, muss sie auch immer mehr mit anderen jüngeren und älteren Frommen in Verbindung gekommen sein. Wahrscheinlich besuchte sie neben vielen Gottesdiensten die Konventikel, private Versammlungen am Sonntagabend oder mitten in der Woche, wo im kleinen Kreis Predigten besprochen, Bücher vorgelesen oder geistliche Erfahrungen ausgetauscht wurden. Der Bentheimer Pietismus, wie er ihr vertraut wurde, unterschied sich von der großen Bewegung innerhalb der deutschen lutherischen Kirche und war ganz auf die niederländische reformierte Frömmigkeitsrichtung orientiert, die auch Nadere Reformatie genannt wird. Ihr Einfluss auf die Bentheimer Nebenströmung lief namentlich über die Verbreitung zahlreicher Bücher zur praxis pietatis, die unter manchen Pastoren und Gemeindegliedern einen günstigen Nährboden fanden. Die Kontakte der jungen Geesjen Pamans zu reformierten Frommen der Umgebung konfrontierten sie mit einem Problem, das typisch ist für die pietistische Glaubensweise. Infolge Betonung der persönlichen Erfahrung der Gnade Gottes und ihres besonderen Ausdrucks im Alltag verbanden die meisten Frommen die ‚wahre‘ Bekehrung mit einer geistlichen Krise und einer durchgreifenden Wandlung ihrer Existenz. Die eindrucksvollen Berichte der Frommen über ihre Bekehrungsgeschichten brachten Geesjen anfänglich in geistliche Zweifel, weil sie einen solchen ‚Sonderweg‘ nicht erzählen konnte. Zwar hatte sie eine Erkenntnis ihrer ‚verlorenen Lage‘ vor Gott, konnte jedoch keine konkrete Jugendsünde nennen.15 Die Liebe zu Jesus war von Jugend an wie von selbst in ihrem Herzen gewachsen. Sie musste gestehen, dass sie ‚den richtigen Zeitpunkt, wo und wie Gott seine Gnadenhand auf sie gelegt hatte‘, nicht bestimmen konnte.16 Dieser Glaubenskampf war für den Pietismus typisch, weil Geesjen im Vergleich mit anderen ihres Alters ein außerordentliches Mädchen mit einem vorbildlichen Wandel war. Als sie etwa zwanzig Jahre alt war, ein Alter, in dem

14 Vgl. Leendert Frans Groenendijk: Von zwei frommen Kindern, die von der Pest heimgesucht wurden. Kind und Kinderbuch im niederländischen reformierten Pietismus. In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung. Hg. v. Josef N. Neumann u. Udo Sträter. Tübingen 2000, 111–129; ders., Fred van Lieburg u. John Exalto: „Away with all my pleasant things in the world“. Model deathbed accounts of two young victims of the plague of 1664 in the Dutch town of Leyden. In: Paedagogica Historica 46, 2010, 271–288. 15 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 1.7. 16 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 1.1.

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die meisten Jüngeren sich konfirmieren ließen, damit sie zum Abendmahl zugelassen würden, erwartete man von ihr dasselbe. Sie wurde auch von den Frommen dazu ermutigt. Wie in der damaligen niederländischen reformierten Kirche war die Konfirmation eine Formalität. Etwas Kenntnis der reformierten Lehre und eine anständige Lebensweise genügten, um in die kirchliche Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Aber Geesjen schreckte zurück: Sie wollte erst ihres Anteils an Christus versichert sein, sonst würde sie sich – nach der paulinischen Warnung in 1Kor 11,29 – ein Urteil essen und trinken.17 Die Glaubensversicherung ließ einige Jahre auf sich warten. Sie bekam die Sicherheit schließlich nicht durch eine besondere Offenbarung oder eine ‚empfindliche Liebesäußerung‘ Jesu, sondern durch einen ‚Glaubensschluss‘. Anhand der Kennzeichen der Gnade in der Bibel stellte sie fest, sie dürfe sich ein echtes Kind Gottes nennen. In diesem Prozess wurde sie von ihrem Pastor Johan Lippinkhof begleitet (Pastor in Uelsen von 1736 bis 1774), obwohl sie auch irgendwo vom Segen schreibt, den sie in diesen Jahren unter der Predigt des benachbarten Pastors Bernard Everwijn van Wiel genoss (Pastor in Wilsum von 1737 bis 1777).18 Weihnachten 1750 konnte die 23–jährige Geesjen Pamans schließlich mit einem ruhigen Herzen ihr Jawort in der Gemeinde Uelsen geben und darauf ein ‚süßes Abendmahl‘ halten.19 Ihren pietistischen Geistesverwandten gegenüber verglich sie sich gerne mit der Lydia, der Purpurhändlerin in Philippi, die unter den Predigt von Paulus auch ‚auf eine sanfte und ruhige Art‘ zur Bekehrung gekommen war.20 2. Geistliche Jungfernschaft Wir sahen, dass Geesjen Pamans von Kindheit an den Himmel auf Erden wünschte, und diese Sehnsucht scheint im Lauf ihres Lebens nur stärker geworden zu sein.21 Nach eigener Aussage hatte sie auch eine schwache Gesundheit und war sie manchmal buchstäblich krank vor Liebe zu Jesus.22 Sie hoffte, dass sie statt als „unnützes Möbelstück“ in diesem „Land der Fremdlinge“ zu verkehren, bald „zu Hause“ sein möge.23 Der Tod „einer lieben Freundin von mir im Herrn“ und anderer Frommer in ihrer Gegend erweckte

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Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 4.1. Vgl. Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 4.2. 19 Konfirmationsdatum Gliederbuch Uelsen; vgl. Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 3.4 u. 5.4. 20 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 1.6. 21 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 4.4. 22 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 13.1, 13.6 u. 13.16. 23 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 4.9, 5.7, 5.11, 7.1, 8.1, 11.6, 11.7 u. 12.7. 18

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Gefühle von Neid und Heimweh.24 Aber sie fügte sich in Gottes Willen, um als „ein gesegnetes Werkzeug in Seiner Hand“ Heil suchenden Seelen noch zu dienen.25 Sie wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass sie 90 Jahre alt werden würde: Erst am 25. Januar 1821 würde sich ihr Verlangen, auch im ‚Schauen‘ mit Christus verbunden zu sein, erfüllen.26 Ihre lange Lebenszeit hat Geesjen Pamans nicht in Uelsen, sondern großteils in Neuenhaus verbracht. Wann genau sie sich dort niedergelassen hat und warum, ist nicht bekannt. Wegen ihres ausführlichen Lobes der Predigt von Gerhardus Johannes Tineken, Pastor ebenda von 1754 bis 1762, war sie vermutlich schon in diesen Jahren in Neuenhaus.27 Sie verdiente ihr Einkommen mit einem Handwerk – vielleicht war sie Näherin –, indes darf wohl auch vermutet werden, dass ihr Lebensunterhalt auch aus Spenden stammte. Wir wissen, dass sie 36 Jahre lang bei einem gottesfürchtigen Bruder gewohnt hat, der ihr ein ‚Seitenzimmer‘ zur Verfügung stellte. Es war das 1984 abgebrochene Haus der Zinngießerfamilie Arends an der Hauptstraße 60.28 Am prägendsten für ihre soziale Position war, dass sie unverheiratet blieb. Obwohl wir noch sehen werden, dass sie kein einsames oder isoliertes Leben führte, ist ihr zölibatärer Status kennzeichnend für ihre geistliche Identität. Sie gab selbst dem Ganzen eine religiöse Deutung, die den Eindruck erweckt, sie sei ein protestantisches Gegenstück zu dem, was für katholische Christen die ‚geistliche Jungfernschaft‘ bedeutet – ein Leben als Nonne außerhalb des Klosters, als Laiin in Absonderung von der Welt.29 Später beschrieb Geesjen Pamans in ihrem Selbstzeugnis ihre Bekehrung oder Glaubensversicherung im jungen Alter als eine geistliche Trauung mit Christus. Nie würde sie vergessen, wie sie sich „so erfreut und selig, im vollen Bewusstsein (nach dem ich tausendmal geseufzt und mich gesehnt hatte) verlieren durfte an den Dreieinigen Bundesvermittler, meinen Goel und Erlöser, ja an den einigen Blutsbräutigam meiner Seele“.30 Der Umgang mit einem

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Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 6.1. Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 4.5, 5.7, 6.1 u. 11.9. 26 Begräbnisbuch Neuenhaus 30.01.1821. 27 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 4.2, wo sie schreibt, dass sie in Kapitel 11 vom Egt verhaal (1. Teil) an Tineken gedacht hat. Als Pastoren in Neuenhaus nennt sie weiter nacheinander: Everhardus Arnoldus Cappenberg (Pastor 1760–1790); Reinhard Carel Staverman (Pastor 1763– 1822); Johan Noach Büchler (Pastor 1780–1808). 28 Siegfried Warda: Neuenhaus in alten Ansichten. Bd. 2. Zaltbommel 1981, Abb. 18. Vgl. Diddo Wiarda: Het huisje van Geesjen Pamans. In: DNR 29, 2005, 65–67. Siegfried Wiarda berichtet, dass zu einer Zeit, als das alte Haus noch stand, in dem Geesjen Pamans gewohnt hatte, des öfteren Holländer nach Neuenhaus kamen, um sich die ehemalige Wohnung der Pietistin und Schriftstellerin anzusehen. (Das Haus stand zwischen den heutigen Anwesen Hauptstr. 58 und 66. Dort befindet sich jetzt ein Parkplatz.) 29 Vgl. Marit Monteiro: Geestelijke maagden. Leven tussen klooster en wereld in Noord-Nederland gedurende de zeventiende eeuw. Hilversum 1996. 30 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 3.5. 25

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Lebenspartner war für sie nichtig im Vergleich mit „jenem geistlichen Heiratsbund mit Christus, dem Schönsten der Menschenkinder“.31 In ihrem Frauenherzen lebte vor allem die Hoffnung, „dass durch mein Zutun Kinder in Zion geboren würden, [. . .] um hier eine frohe Mutter vieler geistlicher Kinder zu sein“.32 So beschrieb sie sich selbst als Braut, Magd und Mutter. Wie sich das in der Praxis ihres Lebens auswirkte, werden wir noch sehen. Die Schriften Geesjen Pamans’ zeigen, dass ihr Glaube stark von der Einheit von Leib und Seele bestimmt wurde. Dem Schreiben ihres ersten Buches gingen sogar drei ganze Tage und Nächte der ‚Mortifikation‘ oder ‚Versterbung‘ vorweg. „Ich wartete sehnsüchtig auf das Kommen des Bräutigams in meiner Seele, und war hierin so krank vor Liebe, dass meine anfänglich erneuerten Körperkräfte vergingen.“ Wir begegnen hier einer ‚Liebesmystik‘, die außer vom Hohelied Salomos namentlich aus der mittelalterlichen Klosterwelt bekannt ist. Geesjen kannte auch Lieder von Bernardus de Clairvaux. Sie zitiert aus den Gedichten dieses ‚Altvaters‘ „jene süßen und teuren Verse, sehr passend, um mit ihnen meine eigene Befindlichkeit und meine Herz- und Gemütsverfassung damit desto klarer auszudrücken“.33 Mystische Elemente waren in der protestantischen Frömmigkeit nicht fremd; auch in der Literatur des niederländischen Pietismus wurde öfters aus römisch-katholischen, vorreformatorischen Quellen geschöpft. Ein vollblütig reformierter Pastor wie Theodorus à Brakel schrieb ein erbauliches Werk mit dem Titel Die Stufen des geistlichen Lebens, das bis heute immer wieder Anlass gibt zu theologischen Disputen über die Grenzen zwischen (unerlaubter) Mystik und (rechtgläubigem) Pietismus. Vielleicht stand dieses oft gedruckte Buch in der Bibliothek von Geesjen Pamans oder ein anderes beliebtes Werk wie die Einzelgespräche „eines andächtigen Jüngers des Herren Jesus“ von Sara Nevius (Pastorenfrau und Schwiegertochter von Theodorus à Brakel), ebenfalls ein Werk, das wegen des dialogischen Charakters – ein Gespräch zwischen Gott und der Seele – genau dieselbe Luft atmet wie die Werke der niederländische Pietistin in der Grafschaft Bentheim.34 Geesjen Pamans verweist nur sporadisch auf prosaische Werke religiöser Autoren, obwohl sie sehr belesen gewesen sein muss.35 Zwar zitiert sie in ihren Schriften regelmäßig Strophen von Liedern, wobei sie meist vorher auf „bestimmte Dichter“ verweist, manchmal nennt sie Namen pietistischer reformierter Dichter. Meistens geht es um die Uytspanningen von Jodocus van

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Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 3.5, s. a. Par. 13.17. Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 6.5. 33 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 12.19, 13.10, 13.12 u. 13.19. 34 Zu spätmittelalterlichen Einflüssen im niederländischen Reformiertentum s. Arie de Reuver: Sweet Communion: Trajectories of Spirituality from the Middle Ages through the Further Reformation. Grand Rapids 2007. 35 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 6.3 (Abraham Hellenbroek); Par. 13.2 (Samuel Rutherford); Band 2, Par. 6.4 (Wilhelmus à Brakel). 32

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Lodenstein, dessen Dichtung auch in der niederländische Literaturgeschichte eine hohe Qualität zugeschrieben wird.36 Daneben war sie vertraut mit den Lofzangen Israëls der Gebrüder Jacob und Johannes Groenewegen und mit Gedichten von Wilhelmus Schortinghuis, Hendrik Uylenbroek, Willem Sluyter und Herman Witsius.37 Derartige Liederbücher waren in der pietistischen Kultur sehr beliebt, um daraus in den Konventikeln gemeinsam zu singen. Selbstverständlich konnten sie daneben auch individuell und meditativ genutzt werden. Die geistlichen Lieder gaben der Jesusmystik unbändigen Ausdruck und bildeten umso mehr auch eine Ergänzung des Psalters, weil diese Lieder in den Gottesdiensten nicht gesungen werden durften. Neben pietistischen Schriften und Liederbüchern blieb die Bibel die Hauptquelle für den persönlichen Glauben und der Leitfaden für das Alltagsleben von Geesjen Pamans. Sie schrieb, dass sie manchmal bis tief in die Nacht gegen den Schlaf kämpfte, um die Heilige Schrift zu studieren.38 Ihre Texte sind gekennzeichnet von unzähligen Schriftzitaten, und ihre Gedankenwelt muss vom Wort Gottes durchtränkt gewesen sein. In theologischer Hinsicht liegt darin auch der biblische Charakter ihrer Mystik begründet. In ihrer schriftlich verfassten Spiritualität gibt es öfter Dialoge zwischen Gott und der Seele, aber meistens geht es um das ‚sich berufen auf die Bundesverheißungen‘. Sie stellt sozusagen Gott zur Rede über seine Versprechungen für seine Kinder, weil sie deren Erfüllung persönlich erfahren möchte. Die Dreieinigkeit spielt darin eine wichtige Rolle: Als Braut Christi ‚verhandelt‘ sie mit ihrem ‚Bräutigam‘ und ‚Vermittler‘, ob er ihrer Seele durch das Werk des Heiligen Geistes den Segen Gottes, des Vaters, schenken will. 3. Bekanntheit im weiteren Kreis Geesjen Pamans war gern ‚gemeinsam mit Gott einsam‘, sie zeigte sich aber gleichzeitig als ‚Gefährtin aller, die den Herr fürchteten‘. Nach eigenen Aussagen war sie als junge Frau in der Zeit ihrer ‚Glaubensversicherung‘ und kirchlichen Konfirmation in Gesellschaft mit anderen ziemlich schüchtern. Das galt übrigens auch von den Bentheimer Frommen im Allgemeinen, weil sie öffentliche Verachtung und Widerstand zu erdulden hatten.39 Mit ‚Weltlichen‘ hielt sich Geesjen möglichst wenig auf, „nicht aus Lieblosigkeit meinen Mitmenschen gegenüber, aber weil ich nicht mit ihn verkehren konnte zur Ehre und

36 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 3.7, 7.11, 8.5, 12.7, 12.8, 13.2, 13.8 u. 14.1. Bd. 2, Par. 1.5, 3.1, 3.2, 5.1, 10.10, 11.10, 11.11 u. 11.12. 37 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 12.17 (Groenewegen); Par. 9.3 u. 13.16 (Schortinghuis); Par.12.14 (Uylenbroek); Par.12.19 (Sluyter); Par. 14.4 u. 14.6 (Witsius). 38 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 10.6 u. 10.8. 39 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 1.1 u. 1.2.

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Verherrlichung Gottes und zur Förderung unseres ewigen Seelenheils“.40 Die unverheiratete Frau lebte in einer Nähe zu Jesus, die anderen Frommen fehlte oder die sie eigentlich nicht verstanden, weil sie von Unglauben und geistlicher Finsternis bedrückt oder von den Mühseligkeiten des Alltagslebens beansprucht wurden.41 Geesjen stellte ihr Licht nicht unter den Scheffel. Durch ihre tiefe Glaubenserfahrung wurde sie in der weiteren Umgebung immer bekannter. Dies geschah zunächst während einer Erweckung, die etwa 1752 in der deutschen Grafschaft stattfand – so wie auch in den Niederlanden und in anderen Teilen Europas und Amerikas.42 Dann ereignete sich das, worum die junge Frau aus Uelsen schon vielmals gebeten hatte, nämlich „dass Gott hier und in einigen umliegenden Orten viele Seelen an ihnen selbst entdeckte und bekannt machte“. Diese Leute suchten bald Gemeinschaft mit Geesjen Pamans, um erbauliche Worte über ihre geistliche Situation zu vernehmen oder um gemeinsam Psalmen und Lieder zu singen. Diese Konventikel waren vielen zum Segen, auch wenn später eine Menge der ‚Bekehrten‘ wieder in die ‚Welt‘ ging, während bei anderen das fromme Feuer erlosch.43 „Diese Seelen waren damals mehrheitlich noch im ersten Eifer, der viele von ihnen nun wohl verlassen hat“, so Geesjen.44 Seit ihrem Auftreten schien Gott unter den Bentheimern deutlich mehr als früher zu wirken. „Viele dieser lieben Freunde sind fortwährend zu mir nichtigem Erdwurm gekommen, um von mir Unterricht und Führung zu empfangen; ja so geht es noch täglich“, schrieb sie 1774. Jahrelang war Geesjen mit ihren mündlichen und schriftlichen Kontakten mit allerlei Menschen beschäftigt.45 Ihre evangelistischen und pastoralen Tätigkeiten erregten auch wohl Schmach und Lästerung.46 Sie wusste sich aber von Gott unterstützt: „Der Herr hat dazu auch öfter durch andere seine Zustimmung gegeben, dass nämlich Geesjens Gespräche und Briefe ihnen merklich zum Segen gewesen und selbst einige anfänglich ein Mittel zur Bekehrung gewesen sind. Besonders dienten sie auch zur Leitung, Ermutigung, Tröstung und Erhebung bekümmerter und heilsuchender Seelen oder Trauernder in Zion, die nach dem Herrn fragen, und den Weg nicht wissen, wie sie ihn finden können.“47 Das Beispiel Geesjen Pamans zeigt, dass Weltvermeidung und Missionsdrang einander im Pietismus nicht ausschließen mussten. Von biblischen Glaubens40

Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 7.10. Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 9.5 u. 10.2. 42 S. für Bentheim: De Jong, Die Bentheimer Kirche [s. Anm. 8], 135–137. Allgemein der Sammelband Een golf van beroering. De omstreden religieuze opwekking in Nederland in het midden van de achttiende eeuw. Hg. v. Joke Spaans. Hilversum 2001. 43 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 12.1. 44 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 12.19. 45 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 6.5. 46 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 12.12. 47 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 6.7. 41

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helden inspiriert, widmete sie Jesus auch ihr Leben für andere.48 Sie betete für Nöte der Nation und hielt sich selbst für „eine Stütze und Hilfe für Land und Kirche“.49 Sie war fast den ganzen Tag mit Fragen der Frommen beschäftigt. „Ich musste meinen Beruf entsprechend einrichten, weil er mit sich brachte, dass ich unter Menschen verkehrte und mein Brot verdiente“.50 Ohne in einem Amt die Möglichkeiten zu haben, ‚Seelen zu gewinnen‘, erfuhr sie großen Segen für ihre Arbeit, auf den Pastoren wohl neidisch werden konnten. Sie glaubte, dass der Dienst im Reich Gottes zwar primär „den von ihm berufenen und gesandten Hirten und Lehrern“ vorbehalten sei, aber doch auch besonderen Gemeindegliedern.51 Zeigt sich an Geesjen Pamans nicht, dass im Pietismus gerade allein stehende Frauen viel für die Praxis des gemeindlichen Lebens leisteten? 4. Schriftstellerin und Autorin Die Bedeutung von Geesjen Pamans als ‚Leiterin‘ der Frommen in Bentheim wurde viel breiter und dauerhafter durch ihre schriftstellerische Tätigkeit und schließlich durch ihre Buchveröffentlichungen. Dass es so weit kam, war für jemanden, der kaum zur Schule gegangen war, etwas ganz Besonderes. Lesen hatte sie als Kind gelernt, Schreiben aber nicht. Als Geesjen als zwanzigjähriges Mädchen immer mehr Umgang mit dem Volk Gottes bekam, wollte sie lernen, die Feder zu gebrauchen, um mit bekehrten und „anfänglich Heil suchenden Seelen“ korrespondieren zu können.52 Schließlich würde sie ein Werk von 1.100 Druckseiten hinterlassen, zudem unzählige Briefe, die sie in ihrem langen Leben geschrieben haben muss, aber von denen merkwürdigerweise kein Buchstabe erhalten geblieben ist. So ist Geesjen Pamans in einen niederländischen Sammelband über Autorinnen der Frühen Neuzeit aufgenommen worden.53 Die Entwicklung dieser Seite ihrer Persönlichkeit hängt mit Besonderheiten der pietistischen Kultur zusammen. Lesen und Schreiben waren darin ganz wichtig, und Unterschiede nach Stand und Geschlecht spielten kaum oder gar keine Rolle. Jede Fromme hatte zwar Kontakte, die durch Briefwechsel unterhalten wurden. Daneben konnte aber die Feder der Übung in der Frömmigkeit selber dienen. Viele schrieben für sich selbst erbauliche Texte ab, oder sie machten während des Gottesdienstes Notizen: Manche Predigtbände sind so 48

Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 14. Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 6.5 u. 7.1. 50 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 11.11. 51 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 6.7. 52 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], unpaginierte Vorrede. 53 Met en zonder lauwerkrans. Schrijvende vrouwen uit de vroegmoderne tijd 1550–1850: van Anna Bijns tot Elise van Calcar: teksten met inleiding en commentaar. Hg. v. Riet Schenkeveld-van der Dussen [u. a.]. Amsterdam 1997, 589–591: „Geesjen Pamans. Schouwen door de ’verrekijker des geloofs“. 49

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durch Zutun von Zuhörern entstanden und herausgegeben worden. Aber vor allem das Führen eines geistlichen Tagebuches oder das Schreiben einer Autobiographie oder Bekehrungsgeschichte war eine weit verbreite Praxis. Es ist kein Zufall, dass die pietistische Schreibkultur gerade auch viele Frauen in Bewegung gebracht hat.54 Wie Geesjen Pamans dazu gekommen ist, ihr erstes Buch zu schreiben, hat sie in dessen Vorrede vom 1. August 1774 ausführlich dargestellt. Während in vielen anderen pietistischen Selbstzeugnissen oft auf bestimmte Bibeltexte verwiesen wird, die zum Erzählen oder Gedenken der Taten des Herren anspornen (wie Ps 66,16; 77,12 oder 90,12), fiel bei ihr aller Nachdruck auf die persönliche, innerliche Anregung durch den Himmel. Sie fühlte sich jahrelang von Gott berufen, um die ihr geschenkte Aufmerksamkeit und Mühe zu verewigen. Daraus wurde aber nichts, weil sie sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt war, mit dem Schreiben von Briefen und dem Empfang von Besuchern. Als sie 1768 eine Krankheit durchlitt und sich heftig nach dem Himmel sehnte, empfing sie eine Offenbarung, sie solle nicht sterben, bevor sie nicht ein Selbstzeugnis geschrieben haben würde. Es dauerte noch einige Jahre, bevor sie ihren Echten Bericht geistlicher Erlebnisse, aus einem starken Gemütsandrang, um zu erzählen, was der Herr an der Seele getan hat zu Papier brachte.55 Am 13. April 1774 wurde in einer zu Laar gehaltenen Versammlung der reformierten Classis Bentheim gemeldet, dass „ein sicheres Mitglied, Geesjen Pamans, wohl beabsichtige, ihre geistliche Wirksamkeit durch den Druck der Öffentlichkeit zugänglich zu machen“. Diese Notiz markiert den Schritt von der Handschrift zur Veröffentlichung, der von Anfang an wohl beabsichtigt war und der sie in mancher Hinsicht noch außergewöhnlicher machte als die fromme Schreibtätigkeit an sich. War es schon nicht sehr gebräuchlich, dass religiöse Selbstzeugnisse noch zu Lebzeiten der Verfasser in Druck erschienen, so war es sicher ungewöhnlich, dass eine Frau ohne sozialen Status, wie zum Beispiel den einer Pastorengattin, ein Buch herausgab. Geesjen war sich dessen wohl bewusst, das zeigen die Stellen, die in ihrer Vorrede von Schwäche und Niedrigkeit reden. Natürlich hatte der Leser keine Schrift einer theologischen Autorität in Händen. „Aber der Herr kann es segnen, auch wenn es kein Männerwerk ist“.56 Die Prediger-Classis, die die Veröffentlichung nach der Bentheimer Kir54 Zu Autobiographien von Frauen: Barbara Becker-Cantarino: Pietismus und Autobiographie. Das ‚Leben‘ der Johanna Eleonora Petersen (1644–1724). In: ‚Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‘. FS zum 60. Geburtstag von H.-G. Roloff . Hg. v. J. Hardin und J. Jungmayr . Bern [u. a.] 1992. Bd. 2, 917–936; Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Tübingen 1996; Moravian Women’s Memoirs. Their Related Lives, 1750– 1820. Ed. by Katherine M. Faull. Syracuse NY 1997; Jung, „Mein Herz brannte richtig in der Liebe Jesu“ [s. Anm. 4]; Ulrike Gleixner: Pietismus, Geschlecht und Selbstentwurf. Das „Wochenbuch“ der Beate Hahn, verh. Paulus (1778–1842). In: Historische Anthropologie 10, 2002, 76–100. 55 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], unpaginierte Vorrede. 56 Pamans, Zielsverlustiging [s. Anm. 7], Par. 12.10.

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chenordnung beurteilen musste, war bereit, das Werk gutzuheißen. Drei benachbarte Pastoren (Van Niel senior aus Wilsum, Henricus Strick aus Nordhorn und Jan Gerhard Schultz aus Veldhausen) sahen das Manuskript durch und stellten am 24. März 1775 die Zulassungsurkunde aus. Außerdem erhielt das Buch einen Vorbericht an den Wahrheit und Gottesfurcht liebenden Leser der beiden Neuenhauser Pastoren, datiert auf den 1. Mai 1775. Diese Prediger waren Everhardus Arnoldus Cappenberg und Reinhard Carel Staverman, die Geesjen Pamans gut kannten. Das umfangreiche Werk erschien beim Buchhändler Simon Clement in der niederländischen Stadt Zwolle, und zwar auf Rechnung der Autorin.57 Die erwähnte Vorrede der beiden Pastoren kann übrigens mehr Licht auf den religiösen und kirchlichen Hintergrund dieser Veröffentlichung einer einfachen frommen Frau in der Grafschaft Bentheim werfen. Die Pastoren wussten, dass es viel Kritik und Spott für die Selbstzeugnisse der ‚Wunder der freien Gnade‘ geben würde. Sie meinten, es gebe viele Menschen, die nur aufgrund eitler Einbildung lange reden und viel Aufhebens von ihren Empfindungen machen. Die Pastoren betonten, dass die Erfahrungen, die Geesjen Pamans beschrieb, auf dem verborgen Leben mit Christus gründeten, auf der Wirkung des Geistes Gottes und vor allem auf Gottes Wort. Sie kannten Geesjen als einen ‚Menschen Gottes‘, der sich vollkommen Gott gewidmet habe. Sie hielten sie für orthodox in der Lehre und erbaulich im Wandel. Sie hätten viel mit ihr gesprochen, ihr Manuskript ein ums andere Mal gelesen und versicherten die Echtheit ihrer Auskünfte. Die Vorrede zeigt die angewachsene Spannung zwischen pietistischen und stärker ‚aufgeklärten‘ reformierten Pastoren und Gemeindegliedern in Bentheim. Noch im Jahre 1773 hatte der Oberkirchenrat Maßnahmen gegen die Konventikel ergriffen, die in den vorhergehenden Jahrzehnten immer mehr aufgekommen waren oder immer mehr Widerstand erfahren hatten.58 Geesjen Pamans Buch war stark autobiographisch geprägt, obwohl es nicht streng chronologisch ist, sondern mehr eine Aneinanderreihung geistlicher Erinnerungen und Betrachtungen. Der vierzehn Kapitel lange Text wird abgeschlossen von einer weitläufigen Anwendung, nacheinander für „Unbekehrte“, „wahrlich Überzeugte“ und „Kinder Gottes“.59 Das Egt verhaal van geestelijke bevindingen bekam jedoch noch eine Fortsetzung in einem Werk, das man als Sammelband von Meditationen über die Tugenden Gottes in der Natur, in seinen Namen, Eigenschaften und Vollkommenheiten kennzeichnen kann. Es wird nochmals abgeschlossen mit einer Toepassing (Anwendung) für Unbekehrte und wahre Gläubige. Dieser zweite Teil erschien, nachdem er am 30. 57 Geesjen Pamans: Egt verhaal van geestelyke bevindingen, uit een sterken gemoeds aandrang, om te vertellen wat de Here aan de ziele gedaan heeft [. . .]. Zwolle: Simon Clement, voor de auctrice, 1775, [LXIV], 764, [1] S. 58 Vgl. für Konventikel: De Jong, Die Bentheimer Kirche [s. Anm. 8], 137 f. 59 Pamans, Egt verhaal [s. Anm. 57], 589–764.

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April 1783 nach der Bentheimer Kirchenordnung genehmigt worden war, wieder bei dem Buchhändler Simon Clement in Zwolle, aber dieses Mal nicht auf Rechnung der Autorin, sondern in einem ‚echten‘ Verlag, bei den Erben Aegidius Valckenier in Kampen.60 Auch nach diesem zweiten Buch war die Lust zum Schreiben bei Geesjen Pamans nicht weniger geworden, ganz im Gegenteil. Sie fing ein weiteres Werk an, über Psalm 23. Neben dem Hohelied Salomos war kein anderes Buch der Bibel mehr ihr geistliches Eigentum geworden als dieser Trostpsalm. Weil aber das Hohelied komplex und sehr tiefsinnig und überdies schon von Abraham Hellenbroek in einem Buch behandelt worden war,61 entschied sie sich für Davids Hirtenlied, um anhand dessen ihre geistlichen Erfahrungen zu beschreiben. In ihrem Vorwort betont sie, dass sie absolut nicht meine, mehr und Besseres sagen zu können als die gelehrten Autoren. Sie kannte die Bücher über Psalm 23 von Zaunslifer („Souslijver“) und Elgersma, wie auch einige Predigten von Hellenbroek über diesen Stoff, die sie auch manchmal zitiert.62 Später hörte sie, dass es noch mehr Bücher darüber gebe.63 Aber es handelte sich nur um ihre eigenen Erfahrungen mit diesem Psalm, die sie vor allem bei Abendmahlsfeiern in ihrer Gemeinde in Neuenhaus erlebt hatte. Das Werk über Psalm 23, mit dem Titel Zielsverlustiging in Jehova, als herder en verbondsgod van zijn volk, ist in zwei Teile geteilt. Beide bestehen aus zwei Kapiteln und werden mit einer Toepassing abgeschlossen. Beide Teile erschienen gleichzeitig in einem Band in Druck. Das geschah ‚auf Rechnung der Verfasserin dieses Werkes‘ beim Buchhändler François Clement in Zwolle, Sohn des oben genannten Simon Clement.64 Das Buch erwähnt kein Erscheinungsjahr, aber nach den Listen mit neu herausgekommenen Büchern von Saakes muss es 1812 gewesen sein.65 Eine kirchliche Genehmigung hat es dieses Mal nicht gegeben. Große Auflagen werden alle Veröffentlichungen von Geesjen

60 Geesjen Pamans: Egt verhaal van geestelyke bevindingen, uit een sterken gemoeds aandrang, om te vertellen wat de Here aan de ziele gedaan heeft [. . .] tweede deel. Kampen: Erven Aeg. Valckenier; Drucker: Simon Clement, Zwolle, 364 S. 61 Abraham Hellenbroek: Het Hooglied van Salomo. 2 Bde. Rotterdam 1718–1720, Neuauflagen 1725–1728, 1731 und Amsterdam, 1737–1739. 62 Petrus Zaunslifer: Godts kerk getroost en behouden in haeren uittogt, ofte beknopte uitbreiding over den XXIII. psalm. ’s-Gravenhage 1711; Neuauflage Leiden/Amsterdam 1730; Franciscus Elgersma: De Herder Israëls. Leeuwarden 1664; Neuauflage Leeuwarden 1670; Abraham Hellenbroek: Bijbelsche keurstoffen. Bd. 2. Amsterdam 1733, Predigten zu Ps 23,1.2.3 bzw. 6. 63 Zum Beispiel Johannes d’Outrein: Godvrugtige zielsbetragting voor, onder en na het houden van het heilig nachtmaal. Dordrecht 1721, 1732, 1746 und 1753; und natürlich viele andere Werke zum Abendmahl. 64 Geesjen Pamans: Zielsverlustiging in Jehova, als herder en verbondsgod van zijn volk, naar aanleiding van psalm 23: in twee deeltjes, zijnde een vervolg van het Echt verhaal van geestelijke bevindingen, door haar voor enige jaren geschreven. Zwolle: François Clement, 2 Teile in einem Band, XVI, VIII, 355, 421, [2] S. 65 Antonij Bernard Saakes: Lijst van nieuw uitgekomen boeken 5, 1812, 317.

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Pamans nicht gehabt haben. Von daher werden sie auch selten gewesen sein, als sie, wie wir noch sehen werden, um 1855 ‚wieder entdeckt‘ wurden. 5. Mutter in Israel Geesjen Pamans hegte das Ideal, eine ‚geistliche Mutter‘ zu sein, um ‚Kinder Gottes‘ zu erwecken. Dieses Verlangen drückt sich in ihrem Gebet für und in ihrem Umgang mit Menschen und in dem Ratschlag an diejenigen aus, die nach dem Schriftwort ‚wiedergeboren (sind) aus unvergänglicher Saat‘ (1Petr 1, 23). Eine besondere Form ihrer inspirierenden Rolle in der Bekehrung von Mitmenschen war ihr Einfluss auf Pastoren, Theologiestudenten und eben Schüler, Jüngere, die noch nicht wussten, wie sie dem Ruf, das Evangelium zu verkündigen, Folge leisten sollten. Wir kennen zwei Zeugnisse von Pastoren, die auf Begegnungen mit Geesjen Pamans zurückschauen, beide auf die Zeit, als es in Nordhorn eine theologische Bildungsanstalt unter Leitung von Jan Friederich Schultz (1755–1830), Pastor in Nordhorn von 1777 bis 1830, gab. Eine Erinnerung stammt von Bernardus Moorrees, Student bei Schultz von 1800 bis 1802, die andere von Jan van Velsen, von dem nicht sicher ist, ob er diese Schule besucht hat, der aber jedenfalls in diesen Jahren in der Grafschaft Bentheim lebte. Zunächst Jan van Velsen (1789–1860): Er kam aus Amsterdam und besuchte Geesjen Pamans in Neuenhaus zum ersten Mal 1803, als er etwa vierzehn Jahre alt war. Danach sprach er häufiger mit ihr „über den Weg zum Leben, wie dieser in Christus ist, und von jedem Sünder geistlich erkannt werden soll, will er behalten werden“. Er erinnerte sich sein ganzes Leben lang zum Beispiel an ihren Ansporn, immer weiter um mehr Licht des Heiligen Geistes zu beten. „Der Weg zum Himmel“, sagte sie, „ist und bleibt für alle Kinder Gottes eine Entdeckungsreise bis zum Ende“. „Noch fühle ich die Freude und von ganzem Herzen Übereinstimmung mit ihrem mir gegebenen Rat und ich erkenne Gottes Liebe für mich darin“. Jan van Velsen sprach sie das letzte Mal nach seinem Auftritt als theologischer Kandidat am Sonntag, dem 16. Juli 1809 in Uelsen. Er predigte über Heb 13, 8. Sie erzählte, dass diese Predigt sie besonders erbaut habe. Van Velsen wurde im Jahre 1811 Pastor in Nigtevecht in der Provinz Utrecht und ging 1816 in das Dorf Hoogeveen in Drenthe. Dort zwangen ihn Gesundheitsprobleme, bereits 1834 in den Ruhestand zu treten.66 Danach wohnte er in Amsterdam, wo er viele Kontakte mit orthodoxen Frommen unterhielt. Öfters wechselte er auch noch Briefe mit Menschen in Bentheim, mit Freunden von Geesjen Pamans, unter anderem mit dem Bruder, bei dem

66 T.A. Romeijn: De hervormde predikanten van Drenthe, sedert de Hervorming tot in 1861. Groningen 1861, 191.

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sie 36 Jahre gewohnte hatte. Dieser Bruder oder ein anderer Korrespondent berichtete van Velsen, dass Geesjen bis auf ihrem Sterbebett, trotz ihrer Schwachheit, nicht aufgehört habe, ihren König zu bezeugen. Auch wusste er, dass bei ihrer Bestattung am 30. Januar 1821 in Neuenhaus der dortige Pastor Everhardus Sikkens eine Leichpredigt über Ps 73,26 gehalten hatte, „in Anwesenheit einer erstaunlich großen Menge“. Ähnlich emphatisch schrieb der niederländisch-reformierte Pastor Bernardus Moorrees (1780–1860) über seine Kontakte zu Geesjen Pamans. In den zweieinhalb Jahren, die er in Nordhorn Theologie studierte, unternahm er regelmäßig gern die Fußreise von zwei Stunden über die Heide nach Neuenhaus, um mit „der Leiterin nahezu aller in der Grafschaft Bentheim, denen das Heil ihrer Seele zu Herzen ging“, zu sprechen. Moorrees war kurz vorher bekehrt worden und kämpfte noch mit Zweifel und Ungewissheit. Geesjen Pamans wusste Rat für jede Glaubensfrage. Sie gab ihre Meinung immer in Liebe und Treue, auch wenn sie kritisch reagieren musste. „Obschon sie nach meiner Überzeugung die höchste Gnadenstufe hier auf Erden erreicht hatte, konnte man keine Spur von Herrschsucht bei ihr entdecken“. Für Moorrees war sie eine einzigartige Frau, wie er sie sein Leben lang nicht mehr getroffen hat. Sowohl Van Velsen als auch Moorrees schrieben ihre Erinnerungen 1855 auf Bitten ihres Kollegen Alphonse Pierre Antoine du Cloux (1808–1890) nieder. Moorrees wohnte damals als Pastor i. R. in Wijk in Nord-Brabant. Er hat auch einiges über Geesjen Pamans in seiner Autobiographie aufgezeichnet, die erst nach seinem Tod 1862 im Druck erschienen ist.67 Vieles davon deckt sich mit seinem Brief an Du Cloux. So wiederholt er eine Äußerung aus ihrem Mund, die ihn offenbar sehr beeindruckt hatte. Weil sie für ihn „eine Mutter ersten Ranges in Christus“ war, die scheinbar den Zustand geistlicher Vollkommenheit erreicht hatte, habe er einmal gefragt, ob sie die Sünde schon überwunden habe. Darauf hätte sie geantwortet: „O nein! Ich trage dieselbe böse Natur in mir wie andere Menschen auch, aber die Liebe Christi verbrennt die Sünden.“ Moorrees fasst in seinem Selbstzeugnis noch einmal die Bedeutung von Geesjen Pamans als pastorale Beraterin und erbauliche Verfasserin für Menschen in breiten Kreisen und in allen Rängen und Ständen zusammen. Sie hat drei Bücher geschrieben, die nicht nur von den Frommen in der Grafschaft Bentheim, sondern auch im Vaterland und in verschiedenen Teilen Deutschlands hochgeschätzt wurden. In der Grafschaft war sie derart geachtet, dass der Name von Geesjen Pamans durch die ganze Gegend klang und sie die Leiterin von allen wurde, die über ihr Seelenheil bekümmert waren. Von allen Seiten empfing sie Besuche in ihrem Zimmer, auch von den Großen der Welt; ich bin dort sogar Gräfinnen und Edelfräulein begegnet und auch Predigern

67 Bekeering en eerste levensjaren van [. . .] Bernardus Moorrees. Hg. v. W.J. Geselschap. Amsterdam 1862; viele Neuauflagen.

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aus verschiedenen Gemeinden. Wer aus Holland oder Deutschland in die Grafschaft kam und ihre Frömmigkeit schätzte, unterließ es nicht, Geesjen Pamans einen Besuch abzustatten.

6. Weiterleben im Grenzgebiet Dass die Schriften von Geesjen Pamans sehr gefragt blieben, ergibt sich daraus, dass das Echt verhaal 1855 vom Buchhändler J.W. Swaan in Arnheim neu aufgelegt wurde.68 Bei dieser Gelegenheit wurde der oben genannten Pastor Du Cloux, damals in Oldebroek, um ein Vorwort gebeten. Er selbst hat Geesjen nicht gekannt, empfing aber die nötigen Auskünfte über ihr Leben von seinem Freund Jan van Velsen und von dem ihm nicht persönlich bekannten, doch wegen seines Rufes und seiner Veröffentlichungen sehr verehrten Kollegen Moorrees. Gern und ausführlich leitete er das so erhaltene Zeugnis über „die alte Mutter Israels“ weiter an die Leser ihres Buches. Er selbst preist die Schriften von Geesjen Pamans als Monumente der innerlichen Frömmigkeit, als Niederschlag des geistlichen Lebens, das von den ‚aufgeklärten‘ Theologen seiner Zeit oft und leicht als Schwärmerei verachtet würde. Du Cloux, Moorrees und indirekt auch Van Velsen sind in der Literatur bekannt als Pastoren, die sich trotz innerer Sympathie nicht an der Afscheiding beteiligten, der Bewegung, mit der ab 1834 viele orthodoxe Gläubige aus der reformierten Kirche austraten, weil sie ihrer Meinung nach der alten calvinistischen Konfession und Kirchenordnung untreu geworden war.69 Obwohl sie der rationalistischen und moralistischen Predigt kritisch gegenüber standen, blieben sie der ‚vaterländischen‘ Volkskirche als der ‚kranken Mutter‘ treu. Bei Du Cloux war übrigens dieser Standpunkt sehr deutlich: Er war anfangs gerade der persönliche Ankläger des ‚Vaters der Afscheiding‘, Pastor Hendrik de Cock in Ulrum. Nach einer persönlichen Bekehrung wurde Du Cloux bekannt als Streiter für die reformierte Wahrheit und Verfasser von empfindsamen Predigten. Man könnte meinen, die Aufmerksamkeit für die Schriften von Geesjen Pamans im 19. Jahrhundert würde mit dieser kirchlichen Stellungnahme zusammenhängen. Diese Frau aus der pietistischen Tradition war der traditionellen Landeskirche, ungeachtet des geistlichen Verfalls, nachdrücklich treu geblieben. Wir wissen natürlich nicht, was sie getan haben würde, wenn sie die Abscheidungsbewegung erlebt hätte. Aber ein zweifellos Geistesverwandter wie der in Bentheim mindestens ebenso maßgebliche Laienprediger Eelke Jans 68 Geesjen Pamans: Gods genade verheerlijkt of echt verhaal van geestelijke bevindingen enz. tot eer van God en stichting van den evenmensch. Arnhem: J.W. Swaan, 1855, XII, 817 S. 69 Vgl. über Du Cloux und Moorrees die Biographien in: K. Exalto, W. van Gorsel, H. Harkema: Zij die bleven. Schetsen over leven en werk van acht predikanten die niet met de Afscheiding meegingen. Nijkerk 1981.

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Büma widersetzte sich auch dem Separatismus, der sich im Kielwasser der niederländischen Entwicklungen auch in der Grafschaft zeigte.70 Es wäre nicht richtig, hier eine Verbindung zu behaupten. Auch in der Vorrede von Du Cloux findet man davon keine Spur. Es gibt nur die allgemeine Empfehlung namentlich an junge Pastoren, alte Fromme zu besuchen und von ihren reifen Glaubenserfahrungen geistlichen und pastoralen Gewinn zu ziehen. Die Spiritualität der Geesjen Pamans war und blieb gerade etwas, was reformierte Fromme über die Kirchenmauern hinweg verbinden konnte. In den Niederlanden fanden ihre Bücher auch Absatz unter orthodoxen Reformierten innerhalb der großen Kirche wie auch außerhalb in den verschiedenen kleinen reformierten Freikirchen.71 In diesen Kreisen müssen wir die Abnehmer der aufeinander folgenden Nachdrucke suchen, die es bis in die jüngste Zeit gegeben hat. Auf deutscher Seite dürften namentlich Gläubige der evangelisch-altreformierten Kirche der Grafschaft Bentheim die Erbschaft von Geesjen Pamans bewahrt haben. Ist der traditionelle Pietismus in den verschiedenen Gremien des reformierten Bentheims mittlerweile zu etwas aus Großmutters Zeit geworden, auch in den Niederlanden hat sich ohne Zweifel die Leserschaft, die noch die Mut hat, hunderte Seiten mit geistlichen Erfahrungen durchzuackern, auf eine Randgruppe von Verehrern der ‚alten befindlichen Wahrheit‘ reduziert. 7. Weiblichkeit oder Heiligkeit? Zum Schluss lässt sich vorerst feststellen, dass eine bestimmte Region in der Pietismusforschung zwischen Wal und Schiff fallen kann. Man könnte sagen, dass niederländische Autoren wegen eines eng-nationalen und deutsche Autoren wegen eines eng-lutherischen Blickes der Grafschaft Bentheim und ihrer reformierten Frömmigkeitstradition nur geringe Aufmerksamkeit widmen.72 Neben dem Wechsel der Sprache seit dem 19. Jahrhundert spielt dabei auch eine Rolle, dass der Bentheimer Pietismus keine großen Vertreter oder einflussreiche Autoren hervorgebracht hat. Aber was heißt groß oder einflussreich, wenn es um das profilierte Auftreten einer einfachen Frau im Schatten des kirchlichen Lebens und um die langfristigen Nachwirkungen ihres Werkes geht? Im Licht der von der Genderforschung aufgeworfenen Hypothese der

70

S. De Jong, Die Bentheimer Kirche [s. Anm. 8], 143 f. Etwa 1870 erschien noch eine Neuauflage der Ausgabe von 1855: Gods genade verheerlijkt of echt verhaal van geestelijke bevindingen enz. tot eer van God en stichting van de medemens. Leeuwarden: H. Bokma o.J. 72 „Nur in den nordwestdeutschen, den Niederlanden benachbarten Gebieten hat die strenge reformierte Orthodoxie Fuß gefasst“, so Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen 2000, 113. Eine Art Pietismus in Bentheim war diesem Pietismuskenner, wie er mir mitteilte, unbekannt. 71

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populären und wissenschaftlichen Konstruktion einer Geschichte des Pietismus als Geschichte ‚männlicher Helden‘ während des 19. Jahrhunderts würde man die relative Vergessenheit von Geesjen Pamans als eine Reduzierung weiblicher Frömmigkeit auf einen private Marge neben dem öffentlichen Religionsbereich interpretieren können. Gleichzeitig äußerten verschiedene Theologen sich durchaus positiv über die kirchliche, soziale und regional grenzüberschreitende Bedeutung dieser weiblichen ‚Stillen im Lande‘.73 Zur Erklärung des Aufstiegs von Geesjen Pamans als fromme Frau in der religiösen Kultur der Frühen Neuzeit ist zu betonen, dass informelle Netzwerke die Möglichkeiten boten, sich von einem armen Kind zu einer von vielen Leuten in allen Ständen respektierten religiösen Persönlichkeit zu entwickeln. Ohne fromme Erziehung und ohne nennenswerte Bildung, aber angetrieben von ihrer Frömmigkeit, führten persönliche Kontakte und Begegnungen in Konventikeln zu ihrer Aufnahme in einen supralokalen und nebenkirchlichen Freundes- und Bekanntenkreis. Zum Prozess ihrer Sozialisation und Anerkennung in dieser Kommunikationsgemeinschaft erweckter Reformierter gehörten Glaubensversicherung, Belesenheit, Schreibfähigkeit und mündliche Sprachgewandtheit. Dank einer umfangreichen Korrespondenz, einer beständigen Gastfreiheit für Besucher zur geistlichen Beratung und schließlich dank der von ihr als ‚Männerwerk‘ bezeichneten Niederschrift mehrerer erbaulicher Büchern wuchs Geesjen Pamans zu einer geistlichen Autorität in ihrem Netzwerk. Ohne Zweifel vollzog sich diese Entwicklung ohne die Absicht, die kirchliche oder gesellschaftliche Ordnung zu durchbrechen. Insofern Geesjen Pamans geschlechtsspezifische oder gendergebundene Motive und Pratiken verwendete, lassen sie sich am besten aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeit herleiten. Zwar lebte sie nicht in einem Kloster, verrichtete oder erfuhr keine Wunder, trat nicht als eine visionäre Prophetin oder als geistliche Sektenleiterin auf. Sie kannte aber einen mystischen und manchmal leiblichen Umgang mit Gott und sah ihre Rolle als die einer Braut Christi, einer geistlichen Mutter vieler Kinder und einer Ratgeberin für fromme Gemeindeglieder, Pastoren und Theologen, darunter Männer und Frauen von allerlei Stand und Alter. Eine Hagiographie über sie ist nicht verfasst worden, es hat sich kein Bildnis von ihr erhalten. Aber durch ihre Schriften spricht sie noch immer. Sie war sozusagen eine pietistische ‚lebendige Heilige‘ und wurde eine Ikone der ‚befindlich reformierten Frömmigkeit‘, namentlich in den Niederlanden. Als solche überragte sie ihre Zeit, und sie ist nicht nur für die Religionsgeschichte der Grafschaft Bentheims, sondern auch für die Geschichte des internationalen Pietismus von bleibender Bedeutung.74 73 Vgl. Ulrike Gleixner: Wie fromme Helden entstehen. Biographie, Traditionsbildung und Geschichtsschreibung. In: Werkstatt Geschichte 30, 2002, 38–49. 74 Zur „protestantischen Heiligkeit“ s. Confessional sanctity. Sanctity in North-Western Europe during the Early Modern Period. Ed. by Jürgen Beyer [et al.]. Mainz 2003.

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JÖRG-ULRICH FECHNER

Matthias Claudius und Paul Gerhardt* Darf man Matthias Claudius mit Paul Gerhardt vergleichen? Gern und häufig habe ich über jeden dieser beiden hier in Frage stehenden Dichter gesprochen, unterrichtet und auch veröffentlicht, aber nie habe ich einen solchen Vergleich als Vortrag gewagt. Matthias Claudius und Paul Gerhardt – geht das überhaupt als Titel eines Vortrags? Thomas Mann nutzte bei einer ähnlichen Fragestellung nach dem Vergleich zweier Autoren die ungewöhnliche Behauptung, dass ein ‚und‘ in solchen Titeln häufig nur den Charakter einer ‚adversativen Konjunktion‘ hat. Gilt das etwa auch hier? Meine folgenden Ausführungen werden mehr philologische und historische Fragen eines Germanisten stellen, als dass sie eine verbindliche und abschließende Antwort bieten können. Das zeigt jedoch nur die Schwierigkeit, die sich aus meiner Sicht mit diesem Thema verbindet. Matthias Claudius, der am 15. August 1740 in Reinfeld im Holsteinischen als Sohn des dortigen Pfarrers geboren wurde, war nach der damaligen politischen Gegebenheit ein Däne und gehörte zu der Schicht der in jener Zeit vorherrschend deutschsprachigen Dänen. Durch seine sprachliche Heimat wie durch das Elternhaus eines Pfarrers war Claudius gewiss seit seiner Kindheit mit dem dortigen Gesangbuch bestens vertraut. Aber welches Gesangbuch war das? Auf diese philologisch notwendige Frage ist die Forschung zu der Rezeption und Wiederaufnahme der Lieder Gerhardts bei Matthias Claudius so gut wie überhaupt nicht eingegangen. Gern schließe ich mich den bisherigen Forschungen an und erwähne hier dankbar besonders die jüngeren Arbeiten von Ada Kadelbach, Christian Bunners und Reinhard Görisch. Das älteste Zeugnis, das sich bisher hat finden lassen, ist ein pathetisches kleines Prosastück, das in der Nummer 104 des von Claudius herausgegebenen Wandsbecker Bothen vom Dienstag, dem 30. Juni 1772, am Ende, also – modern gesehen – als Feuilleton, erschien. Es heißt da – und dieser Text sei hier vollständig zitiert:1

* Überarbeiteter Text eines Vortrags bei dem Konventstag der „Kirchlichen Sammlung um Bibel und Bekenntnis“, der am 10. April 2011 in Soest-Meiningsen stattfand. 1 Der Wandsbecker Bothe. Zweiter Jahrgang 1772, redigiert von Matthias Claudius. Neu hg. v. Karl Heinrich Rengstorf u. Hans-Albrecht Koch. Hildesheim, New York 1978, No. 104, [4].

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Den 8ten Junius 1772. aber das Laubgewand der Natur ist doch wunderschön, wenn die Blume im Grase steht und die Nachtigal singt! So ein heller Decembertag ist auch wohl schön und dankenswerth, wenn Berg und Thal in Schnee gekleidet sind, und uns Bothen in der Morgenstunde der Bart bereift; aber das Blumen- und Laub-Gewand der Natur ist doch wunderschön — und der Wald hat Blätter, und die Nachtigal singt, und die Blume steht im Grase, und die Saat schießt Aehren — und dort hängt die Wolke mit dem Regenbogen vom Himmel und der fruchtbare Sommer Regen rauscht herab — —— Barmherzig —— und Gnädig —— „Heint als die dunkeln Schatten, mich ganz umgeben hatten. Adam hat im Paradies, seinen Bund mit Gott gebrochen etc. In allen meinen Thaten etc.“ — du wirst das nicht verschmähen — ich habe nichts beßers — Barmherziger — — — Es ist mir als ob er hinter jedem Baum stünde, als ob er im Lispel der Luft vorüberwandle, und die Natur habe sein Kommen von ferne gefühlt und stehe am Wege in ihrem Feyerkleide und frolocke —————

Boten, die ihre Zeitung austragen, sind sommers wie winters, das ganze Jahr über und meist morgens früh, auf dem Weg ihrer Arbeit. So kommt es für den Boten im frühen Juni zu dem seelisch geprägten Vergleich des jetzigen Frühlings und des vergangenen Winters anhand der Naturerscheinungen. Aber zwischen diesen Überlegungen zitiert der Sprecher auch gleich drei Kirchenlieder: die zweite Strophe von Paul Gerhardts Wach auf, mein Herz, und singe, dann den Anfang eines achtstrophigen Weihnachtschorals aus dem frühen 18. Jahrhundert von Caspar Neumann (1648–1715), der schon damals kaum noch in den regionalen Gesangbüchern aufgenommen war, und schließlich den Anfang von Paul Flemings berühmtem Liedtext.2 Wüsste man genau, wo damals zu Claudius’ Lebzeit das Lied von Neumann noch im Gesangbuch stand, könnte man eine Quelle seines Wissens aufzeigen. Ada Kadelbach hat es im seit 1731 erschienenen Anhang des Plönischen Gesangbuchs gefunden, und zwar als ersten Nachdruck nach dem Erstdruck Breslau und Liegnitz 1711. Ich kann das Lied Neumanns für Nachdrucke jedoch auch im Porstschen Gesangbuch, das seit 1709 erschien, dann in dem Magdeburgischen ab 1737, dem Klosterbergischen, Wittenbergischen und Suhler Gesangbuch nachweisen, nicht aber bei Freylinghausen.3 Matthias Claudius hätte auch diese Gesangbücher etwa in Kopenhagen an der Petrikirche kennenlernen können, als er dort nach seinem Studium in Jena ab 1764 ein Jahr im Dienst eines der dänischen Adligen, des Grafen Ulrich von Holstein, verbrachte und wo einer seiner Onkel, Josias

2 Reinhard Görisch: Die Sprache des Kirchenlieds in Matthias Claudius’ Werk. In: Matthias Claudius – 250 Jahre – Werk und Wirkung. Hg. v. Friedhelm Debus. Göttingen 1991, 91–104, hier 96. 3 Ada Kadelbach: Matthias Claudius und die Gesangbücher im dänischen Gesamtstaat. In: Matthias Claudius 1740–1815. Leben – Werk – Zeit. Hg. v. Jörg-Ulrich Fechner. Tübingen 1996, 209– 238, hier 214. – Albert Friedrich Wilhelm Fischer: Kirchenlieder-Lexikon. Hymnologisch-literarische Nachweisungen [. . .]. Gotha 1878. Bd. I, 31.

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Lorck, Pfarrer an der deutschen Friedenskirche im Kopenhagener Hafenviertel Christianshaven war. Für den ersten und zweiten Teil seiner Sammlung ASMUS omnia sua SECUM portans oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, die 1775 bei Bode in Hamburg erschien, hat Claudius diesen Prosatext dann intensiv überarbeitet. Nun lautet er so:4 Jm Junius. Aber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunderschön; wenn der Dornstrauch blüht und die Erde mit Gras und Blumen pranget! So ’n heller Dezembertag ist auch wohl schön und dankenswerth, wenn Berg und Thal in Schnee gekleidet sind, und uns Bothen in der Morgenstunde der Bart bereift; aber die Lenzgestalt der Natur ist doch wunderschön! Und der Wald hat Blätter, und der Vogel singt und die Saat schießt Aehren, und dort hängt die Wolke mit dem Bogen vom Himmel, und der fruchtbare Regen rauscht herab – Wach auf mein Herz und singe Dem Schöpfer aller Dinge etc. ’s ist, als ob Er vorüberwandle, und die Natur habe Sein Kommen von Ferne gefühlt und stehe bescheiden am Weg’ in ihrem Feierkleid, und frohlocke!

Neben den vielen stilistischen Abwandlungen, auf die hier nicht näher einzugehen ist, fällt besonders die Änderung der Liedzitate auf. Nun ist es das berühmte, bis heute bekannte Lied Paul Gerhardts, das noch im jetzigen Gesangbuch in dem Abschnitt ‚Glaube – Liebe – Hoffnung‘ als Morgenlied enthalten ist. Und eins gilt für beide Texte von Matthias Claudius: Der schlicht sprechende, aber deutlich naturempfindsame Bote nimmt diese Natur seiner Heimat in ihren jahreszeitlichen Erscheinungen nicht als Zeichen der Schöpfung und des Schöpfers auf, denn das wäre pantheistisch, sondern er bringt die Natureindrücke als physikologische Hinweise auf den Schöpfer und nutzt dafür die schlichte Vergleichsform des ‚als ob . . .‘. Nicht nur in seinen Werken, sondern auch in der Korrespondenz von Claudius gibt es Zitate auf Kirchenlieder, und zwar in der Regel eben auf den Anfang des Liedtextes. Auch das verdiente noch nähere Beachtung, denn schon zu Lebzeiten von Claudius wurden viele der älteren evangelischen Lieder ja nicht mehr mit allen Strophen wiedergegeben. Als Claudius nach nur einem Jahr seine Stelle als Oberlandeskommissar am Darmstädter Hof aufgab, um sich dem dortigen, privilegisch geordneten Mitarbeiterstab zu entziehen, musste er einen Vorwurf von Herder, der ihm diese Anstellung besorgt hatte, entkräften. Da heißt es in seiner Antwort aus Darmstadt vom 18. März 1777 auf einen nicht erhalten gebliebenen Brief, der wohl von Caroline Herder geschrieben 4 Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmliche Werke des Wandsbecker Bothen, I. und II. Theil. Hamburg, gedruckt bei Bode. 1775, 50 f. – Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Hg. v. Jost Perfahl, mit Nachwort und Bibliographie v. Rolf Siebke, Anmerkungen v. Hansjörg Platschek. 5., überarb. Aufl. München 1984, 32.

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worden war:5 „Was in Wandsbeck anfangen? Uebersetzen, Fortsetzung vom Asmus herausgeben, und Befiehl du deine Wege pp.“ Wieder ist es ein Lied von Paul Gerhardt, das hier als Lebenssymbol eingesetzt wird. Darin zeigt sich erneut die Vertrautheit von Matthias Claudius mit den Liedern Gerhardts. Nur wie genau oder vollständig er sie kannte, geht aus solchen Briefstellen eben nicht hervor. Der Grund ist, um es nochmals zu unterstreichen, die heutige Unkenntnis über die Bibliothek von Claudius. Wir wissen nur, dass er in späteren Jahren in Hamburg bei einem Ungenannten und dann auch während seiner Flucht vor den napoleonischen Kriegstruppen in Lübeck bei dem reformierten Pastor Johannes Geibel Zugriff auf deren große Bibliotheken hatte.6 Diese Fragen müssen auch im Blick bleiben, wenn es nun um das berühmteste Gedicht von Matthias Claudius geht, sein Abendlied: Der Mond ist aufgegangen. Man weiß nicht, wann und wo das Lied entstanden ist, nur, dass Claudius es seinem Freunde Johann Heinrich Voß für dessen Musen Almanach für 1779 zur Verfügung stellte.7 Musenalmanache mit einem Kalender für das auf dem Titel angegebene Jahr erschienen in der Regel zur Michaelsmesse des Vorjahres; so muss das Lied spätestens im Jahre 1778 entstanden sein. Es hat sieben Strophen, während das gleichfalls als ‚Abendlied‘ betitelte Nun ruhen alle Wälder von Paul Gerhardt neun Strophen hat. Beide Lieder haben dasselbe Metrum und dieselbe Reimfolge. Allerdings ist diese traditionelle Sechszeilerstrophe in der deutschen Lyrik seit dem sechzehnten Jahrhundert häufig verwendet worden.8 Unbekannt ist, welche lyrischen Texte dieser Tradition Claudius kannte. Paul Gerhardt hingegen kannte er nachweislich seit seiner frühen Zeit. So wäre es leicht möglich zu erwägen, dass Claudius, wenn er sein Abendlied mit dem Blick auf das Gerhardts gedichtet hätte, an die Singbarkeit auch seines Textes auf die Melodie des Gerhardt-Liedes dachte. So hat es 1781 auch der Herausgeber einer Sammlung von Gedichten von Claudius in Halle gehalten, August Hermann Niemeyer, der sich in dem Buch aber nicht namentlich nannte,9 son5

Matthias Claudius: Briefe an Freunde. Hg. v. Hans Jessen. Berlin 1938, 213 f., hier 214. Nicht einsehen konnte ich das erst kürzlich erwähnte Verzeichnis verschiedener sehr interessanter Bücher-Sammlungen [. . .]. Hamburg 1833, das in der „Dritten Sammlung“ Bücher aus dem Nachlass von Claudius enthält. Vgl. Annelen Kranefuss: Matthias Claudius. Hamburg 2011, 25 u. 303 Anm. 12. 7 Musen Almanach für 1779. Hg. v. Joh. Heinr. Voss. Hamburg. bey L. E. Bohn, 184–186. – Der Titel wiederholt den von Daniel Chodowiecki für den Musenalmanach für 1777 gestochenen Kupferstich nur mit geänderter Jahreszahl. Vgl. Wilhelm Engelmann: Daniel Chodowieckis sämmtliche Kupferstiche. Leipzig 1857, Nr. 168 bzw. Jens-Heiner Bauer: Daniel Nikolaus Chodowiecki Danzig 1726–1801 Berlin. Das druckgraphische Werk. Hannover 1982, Nr. 301. Der Wiederabdruck verzichtet dabei auf den zuvor für den Musenalmanach für 1777 gegenüberstehenden zweiten Kupferstich. Vgl. Engelmann, Nr. 175 bzw. Bauer, Nr. 302. 8 Vgl. Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen, Basel 21993, 422–424. 9 [Ohne Angaben zum Herausgeber:] Lieder für das Volk und andere Gedichte von Matthias Claudius genannt Asmus. Halle: In Commißion der Buchhandlung des Waisenhauses 1781. – Das 6

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dern nur darauf hinwies, dass der Erlös dieser Ausgabe zur Unterstützung an den Verfasser gehen sollte. Claudius kannte diesen Plan überhaupt nicht und wurde erst im Laufe des Sommers 1781 auf diesen Nachdruck aufmerksam. Als Claudius dann von Niemeyer einen Betrag in Höhe von fünfzig Reichstalern erhielt, schrieb er ihm – und dieser Brief sei ebenfalls hier zitiert, auch wenn er keinen Hinweis auf das Abendlied ausdrückt:10 Wandsbeck, d. 22. Juni 81 Sie haben vermutlich keine ungute Absicht gehabt, als Sie auf Gedichte von Claudius ohne sein Wissen Subscription sammelten und ausschrieben u. als Sie bei der Gelegenheit schriftl. und hernach ohne zu wissen, ob es sein Geschmack sei, etwas, was ihm das Publikum schon einmal abgekauft u. bezahlt hat, auf eine andre Manier abermal zum Kauf anzutragen, in der Vorrede gedruckt anzeigten, daß diese Entreprise zu seinem Vorteil geschehe u. die ungläubigen deshalb an ihn, der bis zum Juni 81 von nichts wußte, verwiesen. Sie haben vermutlich bei dem allen keine ungute Absicht gehabt. U. darum ist es mir leid, mit Ihnen darüber zu wortwechseln. Sie wissen am besten, lieber H. Professor, daß ich an diesem Wiederdruck u. an allem, was ad vocem desselben hie u. da erzählt wird, unschuldig bin, ich denke auch unschuldig daran zu bleiben u. so schicke ich Ihnen die übermachten 50 Tlr. Louisd’or hier zurück u. gebe Ihnen volle Freiheit darüber zu disponieren. Uebrigens danke ich Ihnen für Ihren guten Willen. Leben Sie wohl. Matthias Claudius

Claudius geht hier auf kein einzelnes der von Niemeyer wiederabgedruckten Gedichte ein, so auch nicht auf sein Abendlied. Was dieses anbelangt, hat die Forschung längst festgestellt, dass zumindest zwei Stellen direkte Übernahmen aus Gerhardts Abendlied sind.11 Bei Claudius heißt es in der ersten Strophe: Der Mond ist aufgegangen | Die goldnen Sternlein prangen | Am Himmel hell und klar | [. . .].

Dem entspricht bei Gerhardt in der dritten Strophe: Der Tag ist nun vergangen | Die güldnen Sterne prangen | Am blauen Himmels-Saal [. . .].

Dann heißt es bei Claudius in der letzten Strophe: So legt euch denn, ihr Brüder, | In Gottes Namen nieder | [. . .]. | Und laß uns ruhig schlafen | [. . .]. Abendlied steht dort Seite 12 f. – Vgl. ferner Karl Menne: August Hermann Niemeyer. Sein Leben und Wirken. Halle 1928. 10 Claudius, Briefe an Freunde [s. Anm. 5], 282 f. 11 Vgl. zuletzt Ada Kadelbach: Matthias Claudius, Paul Gerhardt, Thomas Mann – verborgene Beziehungen. In: Jahresschriften des Claudius-Gesellschaft 10, 2001, 5–18, hier 6.

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Das bezieht sich auf eine Stelle bei Gerhardt ebenfalls am Ende des Liedes in der sechsten und neunten Strophe: Nun geht, ihr matten Glieder, | Geht hin, und legt euch nieder | [. . .]. GOtt laß’ euch selig schlafen | [. . .].

Aber es gibt in Claudius’ Abendlied nicht nur Bezüge zu Paul Gerhardt. Annelen Kranefuss hat in ihrer bedeutenden Dissertation über die Lyrik von Claudius weitere Literaturbezüge, auch zur zeitgenössischen damaligen Lyrik, aufgezeigt; und in einem kleinen Artikel habe ich mich den literatur- und kirchengeschichtlichen Bezügen allein des Wortes ‚Abendhauch‘ zugewendet.12 Wie auch immer man diese Bezüge des bewusst naiv dichtenden Wandsbecker Boten einschätzt, was die Gerhardt-Bezüge anbelangt, muss er jedenfalls einen vollständigen Text aller neun Strophen dieses Liedes vor Augen und vor allem im Gedächtnis gehabt haben. Aber in welcher Ausgabe, in welchem Gesangbuch welcher deutschsprachigen Region? Die Rezeption des Abendliedes von Paul Gerhardt ist eine vielschichtige und bis heute noch längst nicht ausreichend erforschte Komplexität. Wer würde schon glauben, dass es in Bewunderung und Anerkennung des Gerhardtschen Liedes mehr als eine Nach- und Umdichtung gab, die in Anlehnung an Gerhardts Text nun den Morgen besingt. Ich zitiere beispielhaft ein Lied aus der Ausgabe der Praxis Pietatis Melica von 1690:13 Mel. O Welt / ich muß dich lassen. Nun wachen alle Wälder / Vieh / Menschen / Städt und Felder / Und was die Welt erhält: Ihr aber / meine Sinnen / Auf / auf / ihr solt beginnen / Was eurem Schöpffer wolgefällt. 2. Wo seyd ihr Sterne blieben? Der Tag hat euch vertrieben / Der Tag der Nächte Feind. Fahrt immerhin / die Sonne / Und Jesus meine Wonne / Mich itzt an eurer Stell anscheint. 3. Der Tag kom[m]t angebrochen / Die Nacht hat sich verkrochen Am hellen Himmelslauff: So müssen dort ingleichen Die Jammernächte weichen Dem Tag / der rufft: Ihr Todten / auf! 12 Annelen Kranefuss: Die Gedichte des Wandsbecker Boten. Göttingen 1973; Jörg-Ulrich Fechner: Abendhauch. Erwägungen zu einem Wort im „Abendlied“ von Matthias Claudius. In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 15, 2006, 21–30. 13 Praxis Pietatis Melica. | Das ist | Vbung der Gottse-|ligkeit in Christlichen und trost-|reichen Gesängen / | Herrn D. Martini Lutheri fürnemlich / wie | auch anderer seiner getreuen Nachfolger und reiner | Evangelischer Lehre Bekenner: | [. . .] angeordnet | von | Johann Crügern [. . .]. EDITIO XXIV. Zu Berlin / Gedruckt und verlegt von David Salfelds Sel. Witwe / 1690, 63 f., Lied Nr. 49, ohne Verfasserangabe, in der Rubrik „Tägliche Morgengesänge“. Gerhardts Abendlied steht ebd., 106–108 als Lied Nr. 80 in der Gruppe „Tägliche Abendgesänge“. – Zu näheren bibliographischen Angaben und zum Nachweis erhaltener Exemplare vgl. Das deutsche Kirchenlied. DKL. Kritische Gesamtausgabe der Melodien. Band I, Teil 1: Verzeichnis der Drucke von den Anfängen bis 1800. Hg. v. Konrad Ameln [u. a.]. Kassel [u. a.] 1975, 408 f. unter der Sigle 169016.

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4. Der Leib geht aus der Ruhe / Legt an das Kleid und Schue / Damit er sey bekleidt: So geht uns auch entgegen Dort / Jesus / anzulegen Das Kleid der Ehr und Herrlichkeit. 5. Dem Haupte / Händ und Füssen muß nun die Lust versüssen Die saure Arbeitslast. Frisch auf! durch unser mühen Der Faulheit wir entfliehen / Die nur des Teuffels Rott nicht hasst. 6. Nun geht / ihr muntern Glieder / Greifft an die Arbeit wieder / Es ist genug geruht. Es kommen Stund und Zeiten / Da man nicht darff arbeiten / Für Freuden nicht weiß / was man thut. 7. Mein Augen / Ohren / Munde / Lobt Gott aus Andachtsgrunde / Befehlt ihm Leib und Seel / Daß er in allen Gnaden Sie schützen woll für Schaden / Das Aug und Hüter Israel. 8. O Jesu! Meine Freude / Behüt mich heut für Leide / Zeig mir den Gnadenschein. Will Satan mich verschlingen / Laß Engel mich umringen / Ein Schutz un[d] Wagenburg mir seyn. 9. Auch meine Freund und Lieben Nicht laß den Tag betrüben Ein Unfall noch Gefahr: Der Noth und Klagen wehre / O Jesu! mich erhöre / Und mach mein sehnlich bitten wahr!

Als Verfasser dieser Parodie von Gerhardts Abendlied gilt der Nürnberger Pfarrer Johann Ulrich Riedner (1642–1718). Seine Parodie ist nicht die einzige. Albert Friedrich Wilhelm Fischers Urteil gilt nach wie vor: „Die Sucht alle gebräuchlicheren Morgenlieder in Abendlieder zu verwandeln und umgekehrt ist in der Fülle guter Lieder gewiß zu tadeln und hat zu manchen Geschmacklosigkeiten geführt [. . .].“14 Ich verzichte darauf, hier näher auf dieses kaum noch barocke Lied und seine fortlaufende christliche Behandlung des Arbeitstages einzugehen. Ob Claudius auch solche Parodien gekannt hat? Es ist wohl zu bezweifeln, obwohl gerade diese Riednersche Parodie in mehr als einem Dutzend Gesangbücher des frühen 18. Jahrhunderts nachgewiesen ist. Wiederum weiß die Claudius-Forschung ja bis heute nicht, welche Bücher Matthias Claudius besaß; und so ist keinerlei dokumentarischer Nachweis möglich. Wohl aber ist fest davon auszugehen, dass Claudius in seiner Kindheit und Schulzeit das Plöner Gesangbuch kannte und benutzte. Und über es gibt es ein ungewöhnliches Zeugnis in einem Buch über die geistreichen Dichter des Barock. Dieses Werk trägt den Titel M. K. C. P. C. | Unvorgreiffliches | Bedencken / | Uber die Schrifften derer | bekantesten Poëten hochdeutscher | Sprache; | zusammen getragen | Und zum erstenmahl Anno 1681. ge-| druckt in Königsberg bey denen Reuß-|nerischen Erben. | Anitzo zum andern mahl gedruckt / | in Hamburg / | Bey Georg Rebenlein. und stammt von Martin Kempe (1637–1683), der in seiner Vaterstadt Königsberg Professor und zugleich auch preußischer Hofhistorio-

14 Fischer [s. Anm. 3] II, 131; ebd., II, 465 zu J.U. Riedner. – Riedners Lied findet sich nach dem Erstdruck bei Albert Fischer u. Wilhelm Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des siebzehnten Jahrhunderts. Gütersloh 1911. Bd. V, 344 f.

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graph war. In der Vorrede betont Kempe, dass er durch das im Druck befindliche Werk von Daniel Georg Morhof zu dem seinigen angeregt wurde. Morhofs Unterricht von der deutschen Sprache und Poesi erschien in Kiel erst 1682. Wie Kempe Kenntnis von diesem 1681 also noch ungedruckten Werk Morhofs hatte, ist nicht nachweisbar. Da Morhof jedoch keinerlei Erwähnung von Paul Gerhardt bietet, ist Kempes Gerhardt-Artikel umso aufschlussreicher. Er lautet:15 Paul Gerhard, gewesener Prediger zu S. Nicolai in Berlin / hat viel Geistliche Lieder geschrieben / welche voll Geistes und Krafft seind / und hat er meistentheils dieselben Materien aus denen PP. Hieronymo, Augustino und Taulero, wie auch aus D. Arnds Paradeis-Gärtlein hergenommen / Er thut es Hrn. Risten weit zuvor / und seind seine Lieder voller hertzbewegender Andacht / haben derohalben verdienet in die vollständigsten Gesang-Bücher / als Hrn. Krügers / hernach Hrn. D. Geyers zu Dreßden / Hrn. D. Oliarii in Halle / gebracht zu werde[n]. Es hat dieser selige und um die Christliche Kirche mit seiner Poësie wolverdienter Mann / sonderliche Gaben von GOtt gehabt, / was ihm beliebet hat / in wolklingende und ungezwungene Verse zu binden / das Lob Gottes freudig auszubreiten / in Creutz / Verfolgung und Trübsal die Hertze[n] auffzurichten / nach überstandener Noht dem HErrn Danck zu sagen / und hat er durch Observation des Numeri Poëtici denen Wörtern eine durch dringende Reitzung zu geben gewust / also daß er das Lob eines ausbündigen Geistlichen Poetens erworben; Dieses ist zu erinnern / daß der Autor des Plönischen An. 1674. heraus gegeben geistlichen Gesang-Buchs einige Lieder nach seiner Meinung / verbessern wollen / allein / er hat es nicht getroffen / und hat die guten Lieder verderbet / die Worte gezwungen und übel versetzet / und als eine Unwissenheit in der Kunst an den Tag gegeben / daß er also der Mühe bequemlich hätte überhaben seyn können; auch ihm nicht gebühret anderer Leute Arbeit mit verschweigung derer AutorenNamen sich gleichsam zu zueignen / und plagium damit zu begehen.

Kempe fällt bei seinem Gerhardt-Artikel nicht nur durch die Betonung der „Andacht“ auf, sondern vor allem durch die ungewöhnliche Wertschätzung der poetischen Leistung Gerhardts nach den Vorstellungen der Fruchtbringenden Gesellschaft, der Gerhardt ja nicht angehört hatte, dann durch seine Kenntnis der in ganz Deutschland wichtigsten Gesangbücher und im Zusammenhang unseres Themas auch durch seine Kritik an den Schlimmbesserungen eines ungenannten Herausgebers des Plönischen Gesangbuchs von 1674. Anscheinend gab es dies als verbindliches regionales Gesangbuch noch zur Kindheit und Jugend von Matthias Claudius. Dann hätte er dort die veränderten Texte der Lieder Gerhardts erstmals kennen gelernt. Ada Kadelbach spricht deutlich aus, dass Claudius in seiner Frühzeit eben aus diesem Gesangbuch in der Aus-

15 Hier zitiert nach dem Reprint in: Die Fruchtbringende Gesellschaft unter Herzog August von Sachsen-Weißenfels. Die preußischen Mitglieder Martin Kempe (der Erkorne) und Gottfried Zamehl (der Ronde). Reihe II, Abteilung C: Halle. Hg. v. Martin Bircher u. Andreas Herz. Tübingen 1997. Bd. 1, 345–378 (der Reprint) bzw. das Zitat im Original 61–63.

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gabe von 1731 – die mir bisher nicht zugänglich war – gesungen habe, dass 1753 das so genannte 1000 Lieder-Buch (Altona und Glückstadt 1752) in den schleswig-holsteinischen Herzogtümern – und also auch in Reinfeld– eingeführt wurde, bis auch dieses durch das aufklärerische Gesangbuch Johann Andreas Cramers (Altona 1780) in Wandsbeck 1782 ersetzt wurde.16 Das letztere mochte Claudius nicht; doch dazu später. Der von Kempe nicht genannte Herausgeber des Plöner Gesangbuchs von 1674 war Christopher Gensch von Breitenau, der, 1638 in Naumburg als Sohn eines dortigen Amtmanns geboren, seine Ausbildung in Schulpforta erhielt, dann in Naumburg und Leipzig studierte und anschließend bei dem HolsteinNorburgischen Prinzen in Dienst trat, bis er Hofrat des Herzogs Joachim Ernst zu Plön wurde, dann in dänischen Diensten geadelt wurde, später Kanzler in Oldenburg wurde und seinen Lebensabend in Lübeck verbrachte. 1747 wurde dort seine ansehnliche Bibliothek verkauft.17 Das Plöner Gesangbuch scheint sehr erfolgreich gewesen zu sein, denn es verkaufte sich schnell und erhielt bald danach eine zweite und dritte Auflage. Nur von letzterer ist heute noch ein einziges Exemplar in einer öffentlichen Bibliothek erhalten. Es hat den vollen Titel:18 Vollständiges | Gesang-Buch / | Darinnen | Nicht allein die alte | gewöhnli-|che Kirchen-Gesänge / sondern auch viel | neue / geist-reiche und theils vorhin | nie in Druck gekommene Lieder | zubefinden: | Alle auff bekandte Melodien / zu män-|nigliches / absonderlich der Einfälti-|gen desto bessern Gebrauch. | Deme zu Ende beygefüget ist ein kurtzes / | aber auff vielerhand Fälle / Zeiten und | Anliegen gerichtetes | GebetBüchlein. | Bey dem vorigen zweyten Druck nicht | allein an vielen Orten verbessert / sondern auch | mit einer mercklichen Anzahl geistreicher / meh-|rentheils neuen Lieder / und verschiedenen Gebeten vermehret. | Jtzo zum dritten mahl auffgeleget. | PLÖEN / | Gedruckt und verlegt von Tobias Schmidt. | Jm Jahr 1676.

In seiner Vorrede zitiert Breitenau die Vorrede der ersten Ausgabe. Darin wird darauf hingewiesen, dass die bisherigen Gesangbücher „zu weitläuffig und bey sich zu tragen unbequem“ gewesen seien, dass Lieder „wegen ihrer 16 Vgl. Kadelbach, Matthias Claudius und die Gesangbücher [s. Anm. 3], 17 Anm. 3. Nicht zugänglich war mir Emil Brederek: Geschichte der schleswig-holsteinischen Gesangbücher. 2 Bde. Kiel 1919, 1922. Vgl. ferner Götz Eberhard Hübner: Kirchenliedrezeption und Rezeptionswegforschung. Zum überlieferungskritischen Verständnis einiger Gedichte von Bürger, Goethe, Claudius. Tübingen 1969, besonders 112–122. Hübner versucht dabei – so die Kapitelüberschrift –, „die Aktualisierung des Kirchenliedtopos als quellen- und wirkungsgeschichtlicher Verstehenszugang zum ‚Abendlied‘ des Matthias Claudius“ zu erörtern und bezieht dafür neben dem Bezug zu Paul Gerhardt Aufnahmen auch klassischer Texte von Vergil und von Ovid ein. 17 Vgl. Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Reihenfolge von genannten Schriftstellern bearbeitet [. . .]. Hg. v. J[ohann]. S[amuel]. Ersch u. J[ohann]. G[ottfried]. Gruber. Leipzig 1824, Zwölfter Theil [. . .], 317. – Der Artikel ist mit Dörfer unterzeichnet. – Über den Auktionskatalog der Bibliothek Breitenaus fehlt es bisher an Untersuchungen. 18 Vgl. DKL I [s. Anm. 13], 167624.

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kürtze allzu unvollkommen“ waren, und dann heißt es – ich zitiere den Abschnitt, weil er eben den Gegensatz zu der Kritik Kempes aussagt –:19 [. . .] andere / die zwar viel neue / sehr anmuthige und erbauliche Lieder in sich halten / sind dem gemeinen Manne / dem es am hohen Verstand und der Sing-Kunst manglet / fast unnützlich / theils / wegen der unbekandten Melodeien / darauff sie gestellet / theils / wegen allzu hoher Poetischer Redens-Arten / die den Verstand verduncklen. Diesem nun fürzukommen / und denen Einfältigen auch die Gelegenheit zu machen / daß sie sich dergleichen geist-| reicher neuen Lieder möchten bedienen / und sie / zu ihrer Erbauung / nach Belieben singen können / hat man auff Einrathung einiger wohlmeynenden Personen gegenwärtiges Gesang-Buch / mit sonderbarer Mühe und Arbeit / also eingerichtet / und absonderlich dahin das Absehen genommen (1.) daß alle alte in denen Kirchen hiesiges Landes gewöhnliche Lieder / und dann (2.) so viel müglich auff allerhand Zeiten / Fälle und Anliegen eine sattsame Anzahl Gesänge darin möchten gefunden werden. Zu solchem Behuff hat man (3.) aus allen GesangBüchern / die zur Hand gewesen / und sonsten viel neue erbauliche Lieder mit eingerücket: Dabey aber (4.) sich höchstens beflissen / daß selbige nach lauter bekandten Melodeien möchten gesungen werden können / und deutlich / ohne Gebrauch hoher Redens-Arten / gestellet seyn. Welches dann unmüglich gewesen / ohne einige neue / in andern Gesang-Büchern enthaltene / und auff unbekandte Melodeien gerichtete Lieder in so weit umzusetzen / und zu verändern / biß sie auff eine bekandte Melodei sich reimen wollen. Deßgleichen auch / um der Einfalt zu Hülffe zu kommen / hat der Poetische Stylus in etwas gemindert / und deutlicher gegeben werden müssen. Beydes nicht zu dem Ende / als wann man die Dichter solcher Lieder übermeistern wolte / sondern bloß denen Einfältigen / zu deren Gebrauch dis gantze Werck gewidmet ist / alles so viel nützlicher und deutlicher zu machen. Dahero dann männiglich / deme dieses Buch zu Handen kömmet / sich obige gute Meynung wird wolgefallen lassen / und al- | les / was deßfalls geschehen / zum besten ausdeuten / danebenst auch sich versichert halten / daß darunter kein ander Absehen noch Zweck / als die Ehre GOttes und Erbauung der einfältigen Christen gewesen. Welches dem Leser / nebenst Anwünschung alles beliebigen Wohlergehens / zum Vorbericht eröffnet werden sollen.

Nach diesem Wiederabdruck des Schlusses der Vorrede der ersten Auflage wird auch die der zweiten zitiert, in der es heißt, dass die Erstauflage innerhalb von drei Monaten verkauft war, daß weitere Nachfragen, auch aus „fernen Orten“ erfolgten und so die zweite Auflage nötig wurde, die Verbesserungen enthielt und „auch mit einer grossen Anzahl neuer geistlicher Lieder / die mehrentheils in keinen andern | gedruckten Büchern zu finden“ sind, ergänzt wurde. Wie diese Änderungen des Herausgebers Breitenau ausfielen, möchte ich an einem Beispiel zeigen und wähle dazu das Lied von Paul Gerhardt Befiehl du deine Wege.20 19

Die folgenden Zitate finden sich in der angegebenen Ausgabe auf den Seiten ):( 3r-):( 4v. S. Anm. 19, 311–313, wo das Lied in die Rubrik „Trost-Lieder in Kreutz und Widerwertigkeit“ eingeordnet ist. 20

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231 Mel. Hertzlich thut mich verlangen Befiehl du deine wege / Und was dein hertze kränckt / Des HErren treuer pflege / Glaub / daß er an dich denckt. Er ists / der lufft und winden Gibt wege / lauff und bahn: Solt er nicht hülffe finden / Die dich erfreuen kan? 2. Dem HErren must du trauen / Wann dirs sol wol ergehn / Auff seinen willen schauen / Wann dein werck sol bestehn. Mit sorgen oder grämen Und mit selbst eigner pein Läßt GOtt ihm gar nichts nehmen: Es muß erbeten seyn. 3. In grosser treu und gnaden / O Gott / erkennest du / Was nutzen oder schaden Uns menschen bringe zu. Was dir nun wolgefället / Und uns zu nutzen kom[m]t / Das wird ins werck gestellet / Niemand ist / der es hemmt. 4. Rath hast du allerwegen: An mitteln fehlt dirs nicht: Dein thun ist lauter segen: Dein gang ist lauter liecht: Dein werck kann niemand hindern: Dein arbeit darff nicht ruhn / Wann du / was deinen kindern Ersprießlich ist / wilst thun. 5. Und ob gleich alle teuffel Dir wolten widerstehn / So muß doch ohne zweiffel Dein wille für sich gehn. Was du dir für genommen / Und was du haben wilt / Muß alles richtig kom[m]en Zu seinem zweck und ziel. 6. Drum solst du auff Gott hoffen Und trauen unverzagt / Im unglück das dich troffen / Und allem was dich plagt: Er wird dir hülffe schicken Und so erretten dich / Daß daraus wird erblicken / Wie er geliebet dich. 7. Wol auff! Gib deinem schmertze Und sorgen gute nacht: Laß fahren / was das hertze Betrübt und traurig macht: Bist du doch nicht regente / der alles führen sol / Gott sitzt im regimente / Und führet alles wol. 8. Laß ihn alleine walten / Er weiß den besten rath: Er wird sich so verhalten / daß du wirst nach der that Mit grossen freuden spüren / Wie er mit macht und krafft Hat können hinaus führen / Was dir itzt sorgen schafft. 9. Oft bleibt er zwar von weiten / Und schiebt die hülffe auff / Daß du in langen zeiten Umsonst wirst warten drauff: Da es dann fast wird scheinen / Als hab ers böse für / Und du auch wol wirst meynen / Nun sey es aus mit dir. 10. Doch / wann sich wird befinden / Daß du verbleibst getreu / So wird die noth verschwinden / Und Gott dich machen frey. Es wird also geschehen / Daß du loß wirst der last / Eh du es dich versehen / Und je gegläubet hast. 11. Wol deme, der vertrauet Dem HErren festiglich / Und sicher auff ihn bauet / Wenn noth erreget sich: Gott wird ihn so erlösen / Daß er ihm vielen danck / Nach überstandnen bösen / Wird sagen lebenslang. 12. Herr / laß sich auch bald enden Mein leyden / kreutz und noth: Es steht in deinen händen. Laß mich nur biß in todt Beständig dir vertrauen / Und dir gelassen mich / So hoff ich dich zu schauen / In freuden ewiglich.

Ein Vergleich mit Gerhardts ursprünglichem Lied ist überflüssig. Breitenau hat nicht nur den poetischen Stil und die Bilder getilgt, sondern auch das rhetorisch besonders schwierige Anagramm, das die ersten Wörter jeder Strophe so anordnet, dass dahinter eine Aufnahme des vorangestellten Spruches entsteht, der auf Psalm 37, 5 beruht: „Befiehl dem Herrn deine Wege; er wird’s wohl machen“. Zurück zu Claudius’ Der Mond ist aufgegangen und zu der Beziehung dieses Gedichts zu dem Lied Gerhardts Nun ruhen alle Wälder! In der Forschung wird das Gedicht von Claudius als Umarbeitung, als Nachdichtung, als Gegen221 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

gedicht, als antibarocke Variante und dergleichen mehr aufgefasst und interpretiert. Hier soll das nicht weiter erörtert werden, sondern nur auf einen historischen Hintergrund noch hingewiesen werden. Als in Berlin 1780 das nach dem Verleger so genannte Mylius-Gesangbuch erschien, also das von dem Pfarrer an der Marienkirche in Berlin, Johann Samuel Diterich (1721–1797), verfasste und deutlich rationalistische Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den Königlich Preußischen Landen, schrieb König Friedrich II. unter den Erlass zur Einführung dieses Gesangbuches vom 18. Januar 1781 eigenhändig: „Ein Jeder kann bei mir glauben, was er will, wenn er nur ehrlich ist; was die Gesangbücher angeht, so steht einem Jeden frei zu singen: Nun ruhen alle Wälder, oder dergleichen thöricht und dummes Zeug; aber die Priester müssen die Toleranz nicht vergessen; denn ihnen wird keine Verfolgung zugestatt werden. – Friedrich“.21 Ich weiß nicht, ob dieses Dictum Friedrichs des Großen schon damals allgemein bekannt wurde. Aber im Bereich der rationalistischen Kritik an der Bibel wie auch an den Gesangbüchern war die Zeile „es schläft die ganze Welt“ ein Dorn im Auge. Wie konnte man nach der kopernikanischen Wende und dem Wissen um die tägliche Drehung der Erde um die Sonne noch davon sprechen, dass die ganze Welt gleichzeitig schliefe? Sollte Claudius solche Argumente gehört oder gelesen haben – und darüber gibt es wiederum kein Zeugnis! –, dann wäre es nicht auszuschließen, dass er in Anlehnung an das Lied Gerhardts und mit seiner Bewunderung für es eine Gedichtform als Andachtstext angestrebt hätte. Aber auch über die Formen und die Verwirklichung der geistlichen Andacht, wie sie etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts aufgekommen waren und sich immer stärker ausgebreitet hatten, gibt es bis heute nur wenige Arbeiten der kirchengeschichtlichen Forschung.22 Ich verzichte auf weitere Behandlungen der kleinen Zitate aus Gerhardt-Liedern in den Werken und Briefen von Matthias Claudius und beschränke mich abschließend auf zwei besondere Texte. 1782 war auch in Wandsbeck das neue und rationalistische Gesangbuch von Johann Andreas Cramer (1723–1788) eingeführt worden, das seit 1780 gültige Allgemeine Gesangbuch für die schleswig-holsteinische Kirche. Es enthielt 225 Lieder allein von Cramer – also gut ein Viertel des Gesangbuchs –, sonst jüngere Liedtexte von Christian Fürchtegott Gellert oder auch von Friedrich Gottlieb Klopstock, während die alten Kirchenlieder wie im Mylius-Gesangbuch radikal umgearbeitet worden waren. Claudius mochte dieses Gesangbuch nicht. Deutlichster Ausdruck dafür ist ein Prosatext, den er in den fünften Teil 21 Vgl. J[ohann]. F[riedrich]. Bachmann: Zur Geschichte der Berliner Gesangbücher. Ein hymnologischer Beitrag. Berlin 1856, 216 und ebd., 204–217 das Kapitel „Die Berliner Gesangbücher unter der Herrschaft des Rationalismus“. 22 Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Paulus Gerhardt: Versuch einer literarhistorischen Annäherung. In: „Mach in mir deinem Geiste Raum“. Poesie und Spiritualität bei Paul Gerhardt. Hg. v. Winfried Böttler. Berlin 2009, 149–174, hier besonders 160–164.

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seines ASMUS omnia sua SECUM portans aufnahm, der 1790 erschien, also zwei Jahre nach Cramers Tod. Dieser Text lautet – und ich zitiere ihn wiederum vollständig –:23 Eine Correspondenz zwischen mir und meinem Vetter. Hochgelahrter, Hochzuehrender Herr Vetter, Es wird dem Herrn Vetter bekannt seyn, daß in den neuen Zeiten die alten Kirchenlieder verändert werden. Nun bin ich übezeugt, daß die Obrigkeit für die Untertanen nicht leicht beßer sorgen, und ihnen nicht leicht etwas beßers geben kann als ein gutes Gesangbuch. Denn über kräftige Kirchenlieder geht nichts; es ist ’n Seegen darinn, und sie sind in Wahrheit Flügel, darauf man sich in die Höhe heben und eine Zeitlang über dem Jammerthal schweben kann. Auch mögen wohl viele Lieder nicht so seyn, als sie seyn sollten etc. das ist alles wahr. Aber ich weiß nicht, obs an dem Verbeßern oder an den Verbeßerern liegt; genug, ich kann mir nicht helfen, daß es mich um einige alte Lieder nicht dauren und leid seyn sollte. Das Kleid macht, dünkt mich, den Mann nicht; und wenn der Mann gut ist, so ist alles gut. Ob da ein Knopf unrecht sitzt, oder eine Naht schief genäht ist, darauf kommt am Ende wenig an; und wer sieht darnach. Man ist einmahl daran gewöhnt, und oft steckts gerade darinn und muß so seyn. So ein: „Befiehl du deine Wege“ z. E., das man in der Jugend, in Fällen wo es nicht so war wie’s seyn sollte, oft und andächtig mit der Mutter gesungen hat, ist wie ein alter Freund im Hause dem man vertraut und bey dem man in ähnlichen Fällen Raht und Trost sucht. Wenn man den nun, anders montirt, und im modernen Rock wiedersieht; so traut man ihm nicht, und man ist nicht sicher: ob der alte Freund noch darinn ist – und ich sehne mich denn immer nach dem falschen Knopf und der schiefen Naht. Und da pfleg ich wohl bisweilen in der Kirche, wenn die Gemeine nach der Verordnung singt, still zu schweigen, und im Herzen die alte Weise zu halten; und da wollte ich nun gerne von dem Herrn Vetter wißen und vernehmen: „ob das auch gegen den Respect ist den ich der Obrigkeit schuldig bin, und ob ich das mit gutem Gewißen thun kann; samt, wenn ich ganz allein und für mich bin: ob ich denn nur rein heraus singen darf?“ Ich haße allen Ungehorsahm von Herzen, so viel Aufhebens auch von einigen davon gemacht wird. Der ich die Ehre habe mit besondern Estim zu verharren Hochgelahrter Hochzuehrender Herr Vetter Dero ergebenster Diener Asmus.

23 Asmus omnia sua secum portans, oder Sämmtliche Werke des Wandsbecker Bothen, V. Theil. Beym Verfasser, und in Commißion bey Carl Ernst Bohn in Hamburg [1790], 161–163. Vgl. Claudius, Sämtliche Werke [s. Anm. 4], 341 f.

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Antwort. Die öffentliche Ordnung müßt Ihr nicht stören, Vetter; im Herzen könnt Ihr singen wie Ihr wollt. Denn übers Herz hat die Obrigkeit nichts zu befehlen. Und die GradNähter24 noch weniger. Sein Diener etc.

Der Text ist in seiner Schlichtheit entzückend. Nicht nur, dass hier als Beispiel für Kirchenlieder als Trost und Rat wieder ein Lied von Paul Gerhardt angeführt wird, sondern ebenso in der bescheidenen Bildlichkeit der falschen Knöpfe und der schiefen Nähte. Dass die Gerade-Näher, die hier bei Claudius ‚Grad-Nähter‘ heißen, nicht nur auf den verstorbenen Cramer anspielen, liegt auf der Hand. Und weiterhin ist ebenso wenig zu übersehen, dass für die Schlichtheit des hier schreibenden Gläubigen das Herz schwerer wiegt als die Vernunft, mit welcher die Rationalisten die alten Lieder verändert und deren Aussagen über die Dreieinigkeit, über Jesus und auch über den Teufel verändert hatten. Damit verbindet Claudius seine Haltung für die alten und unveränderten Lieder – so die von Paul Gerhardt wie die von Martin Luther, auf die es in seinen Werken und Briefen noch mehr Anspielungen gibt als auf die von Gerhardt. Das letzte Zeugnis ist ein Brief von Matthias Claudius an einen nicht genannten Empfänger. Der Brief ist aus Lübeck vom 25. April 1814, datiert also nur ein Dreivierteljahr vor dem Tod des Wandsbecker Boten und stammt noch aus der Zeit seiner Flucht vor den napoleonischen Truppen. Der Brief hat die Anrede „Sehr lieber Herr Bürgermeister“ und enthält den wichtigen Abschnitt:25 Sie können den Paul Gerhard nicht lieber haben, als ich ihn habe; aber wir kennen ihn aus den Liedern, die in andre Gesangbücher aufgenommen und aus vielen ausgewählt sind. Herr Pastor Geibel, der alle Lieder des Paul Gerhard hat, meint zwar, daß noch manche für ein Gesangbuch ausgewählt werden könnten, aber eine eigne Sammlung würde kaum zu rathen seyn, oder sehr klein ausfallen müssen.

Als Empfänger dieses Briefes wurde der Bremer Jurist und zeitweilige Bürgermeister Franz Ti(e)demann ermittelt.26 Offenbar hatte Ti(e)demann bei Claudius angefragt, was er von einer Neuausgabe der gesamten Lieder Gerhardts halte. In der Tat hatte es im achtzehnten Jahrhundert neben den drei Auflagen der Gesamtausgabe von Johann Heinrich Feustking, die 1707, 1717 und 1723 in Wittenberg erschienen waren, nur noch eine weitere Ausgabe von 24 Zu der ungewöhnlichen, hier eben maskulinen Erwähnung des Wortes ‚Nähter‘ vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Siebenter Band. N.O.P.Q. Bearb. v. Mathias von Lexer. Leipzig 1889, 319. 25 Hans-Albrecht Koch u. Rolf Siebke: Unbekannte Briefe von Matthias Claudius nebst einigen Bemerkungen zur Claudius-Forschung. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1972, 1–35, hier 18 f.: Zitat: ebd., 19. 26 Vgl. Oskar Fambach: Brief des Matthias Claudius an einen Bürgermeister, und wie ich den Empfänger ermittelte. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 99, 1978, 287–292.

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Johann Philipp Treuner in Augsburg 1708 gegeben. Alle diese waren auf die Liedtexte beschränkt, enthielten also keine Melodien und sollten der privaten Andachtsübung dienen.27 Claudius’ Antwort ist deutlich: Er sieht keine Notwendigkeit einer Gesamtausgabe, sondern bevorzugt die Auswahl, die durch die Tradition der Gesangbücher seit der Ursprungszeit wirkt. So verwundert es nicht, dass Ti(e)demann sich auf 66 Lieder beschränkte, als er 1817 sein Buch herausgab, und in zweiter Auflage 1827 dann 69 Lieder von Paul Gerhardt veröffentlichte.28 Wenn Claudius schreibt, dass Johannes Geibel (1776–1853), der Pastor der reformierten Gemeinde in Lübeck, „alle Lieder des Paul Gerhard“ besaß, könnte es sich dabei eigentlich nur um ein Exemplar der Feustkingschen Ausgaben handeln. Denn diese allein bringt in der Vorrede auch den ersten Abdruck der Lebensregeln, die Paul Gerhardt 1676 – kurz vor seinem Tode – für seinen damals vierzehnjährigen Sohn aufgeschrieben hatte. Dieser Text aber bildet, wie Ada Kadelbach überzeugend nachgewiesen hat, die Quelle für das Vermächtnis „An meinen Sohn Johannes 1799“ von Matthias Claudius.29 Woher nur aber hatte Claudius schon damals Zugang zu einem Exemplar der Feustkingschen Ausgabe? Fasst man die Beobachtungen zusammen, wie Matthias Claudius die Lieder Paul Gerhardts rezipierte und in seinem Werk und in seinen Briefen verwendete, so ist von einer Vertrautheit mit den berühmtesten Kirchenliedern Gerhardts auszugehen. Aber waren dies wirklich von Anfang an Kirchenlieder? Im heute gültigen Gesangbuch ist Paul Gerhardt mit 28 Liedern vertreten, Matthias Claudius mit nur zwei. Gemeinsam ist ihnen meiner Auffassung nach, dass sie alle ursprünglich keine Kirchenlieder, sondern Texte für den privaten Andachtsgebrauch bildeten. Gerhardt gab seine Texte den beiden Kollegen, Organisten und Komponisten an der Nikolai-Kirche in Berlin, Johann Crüger und Johann Georg Ebeling, die ihre Vertonungen veröffentlichten, ohne damit Anspruch auf ein Gesangbuch zu machen. Matthias Claudius dichtete das Abendlied für den Vossischen Musenalmanach und das Erntelied Wir pflügen und wir streuen als Einlage und Gemeinschaftslied in dem langen Prosastück Paul Erdmanns Fest, welches das Dienstjubiläum eines bäuerlichen Arbeiters auf einem Gutshof behandelt. Beide Lieddichter haben also ihre Texte ohne einen Anspruch auf das öffentlich verordnete und vorgeschriebene Gesangbuch verfasst. Das ist nicht nur eine Gemeinsamkeit für beide, sondern mehr noch bedeutet es, dass ihre Texte der privaten Andachtsübung dienen sollten. Die Geschichtlichkeit der Andacht ist eine offene Aufgabe für die weitere Forschung – nicht nur zu diesen beiden Dichtern! Schon Kempe hatte einleitend Paul Gerhardt deshalb gelobt, weil „seine LieVgl. Christian Bunners: Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung. Berlin 1993, 255–261. Reinhard Görisch: „Sie können Paul Gerhard nicht lieber haben, als ich ihn habe“. Geburtstags-Gedenken mit Matthias Claudius. In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 16, 2007, 5– 10, hier 8 f. 29 Kadelbach, Claudius, Gerhardt, Mann [s. Anm. 11], 14 f. 27 28

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der voller hertzbewegender Andacht“ sind. Und die Ausgabe der Lieder Gerhardts mit Melodien stand 1667 unter dem Obertitel „Geistliche Andachten“.30 Eine Erforschung dieser historischen Andachtsliteratur ist trotz ihres häufig etliche Auflagen umfassenden Erscheinens bisher weder von der kirchengeschichtlichen Forschung31 noch von der Wortforschung etwa für das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm vorgenommen worden. Für die Entstehung dieser neuen Andachtsform und Andachtsliteratur um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts im deutschsprachigen Gebiet sei hier abschließend nur auf einen bedeutenden und wirkungsreichen Titel verwiesen, der von dem bedeutenden Nürnberger Verfasser Georg Harsdörffer (1607 – 1658) stammt:32 Hertzbewegliche Sonntagsandachten (Nürnberg 1649 und 1652), welcher die sprechenden Untertitel trägt: Erster Teil: Das ist Bild- Lieder- und Bet-Büchlein aus den Sprüchen der H. Schrifft nach den Evangeli- und Festtexten verfasset; Zweiter Teil: Das ist BildLieder- und Betbuch nach Veranlassung der Sonntäglichen EpistelTexten verfasset.

30 Vgl. Paul Gerhardt: Geistliche Andachten [1667]. Samt den übrigen Liedern und den lateinischen Gedichten hg. v. Friedhelm Kemp. Mit einem Beitrag v. Walter Blankenburg. Bern, München 1975. – In dieser Faksimile-Ausgabe findet sich auf Seite 202 f. unter der Nummer LXXXVII Nun ruhen alle Wälder mit der Angabe: „Im Thon: O Welt ich muß dich lassen. Oder wie folget“. 31 Vgl. zujüngst etwa den Artikel „Andacht“ von Ludwig Mödl und Gerhard Hennig in RGG4 1, 1998, 460–463. 32 Vgl. den Faksimiledruck, hg. u. mit einem Nachwort v. Stefan Keppler. Hildesheim 2007.

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RUDOLF DELLSPERGER

Von Schrenk zu Schrempf Ein Beitrag zu Hermann Hesses religiösem Werdegang In der vierten Auflage des Handwörterbuchs Religion in Geschichte und Gegenwart sind der Theologe und Philosoph Christoph Schrempf und der Evangelist Elias Schrenk, beide gebürtige Württemberger, Nachbarn.1 So will es das Alphabet. Wenn sie auch im Leben des jungen Hermann Hesse „Nachbarn“ waren, dann hat das hingegen tiefer liegende Gründe. Diese sollen hier in fünf Schritten dargelegt werden. Es wird von Hesses Krise von 1892, seinem Verhältnis zu den Eltern, vor allem demjenigen zur Mutter, dem Roman Unterm Rad, der Gebetsheilung der Mutter durch Elias Schrenk und von Christoph Schrempfs Bedeutung für Hermann Hesse die Rede sein. Dabei soll er anhand von Briefen, Texten aus dem Frühwerk und autobiographischen Rückblicken selber ausführlich zu Wort kommen. Da er auch das letzte Wort behalten soll, sei hier angedeutet, worum es geht: Dass sich der junge Hesse von den Glaubens- und Moralvorstellungen seines pietistischen Elternhauses entfernt hat, ist bekannt. Inwiefern aber kam diese Entwicklung einem radikalen Bruch mit dem Herkommen gleich und inwiefern einer eigenwilligen Aneignung des Überkommenen? Beides war, wie Hesse selber bezeugt hat, der Fall. Gelingt es, diesen Prozess mit Leben und Inhalt zu füllen? 1. Die Krise „Ihr seid Christen, und ich – nur ein Mensch.“ So steht es im Brief des Fünfzehnjährigen an seine Eltern vom 11. September 1892. Betrachtet man diesen Satz isoliert, dann lässt er verschiedene Interpretationen zu: Er kann gelassene Bescheidenheit, aber auch stolze Selbstbehauptung ausdrücken. Achtet man auf den Zusammenhang und die Situation des Schreibers, dann scheidet die erste Möglichkeit aus: Hesse ist aus dem Seminar Maulbronn, dessen Drill und Enge er nicht mehr ertrug, ausgebrochen und, deswegen als nervenkrank, ja geistesgestört taxiert, in die Obhut des jüngeren (Christoph) Blumhardt RGG4 7, 2004, 1003 f. – Vortrag im Rahmen einer kirchen- und kulturgeschichtlichen Exkursion ins Tessin, Herbst 2009. 1

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(1842–1919) in Bad Boll gelangt. Nach dem Scheitern von Blumhardts Behandlungsversuchen und einem misslungenen Suizid befindet er sich gegen seinen Willen in der Psychiatrischen Klinik in Stetten im Remstal.2 Hesse droht am Gefühl, „wie elend dieses Leben mit Allem ist“, zu zerbrechen und setzt sich gegen alle Versuche, auf sein Leben Einfluss zu nehmen, zur Wehr: „[. . .] ich gehorche nicht und werde nicht gehorchen“, hält er seinen Betreuern entgegen. Er fordert von den Eltern die Befreiung aus seinem Gefängnis und verbittet sich jeglichen christlich verbrämten Zuspruch: Wenn Ihr mir schreiben wollt, bitte nicht wieder Euren Christus. Er wird hier genug an die grosse Glocke gehängt. ‚Christus und Liebe, Gott und Seligkeit‘ etc etc steht an jedem Ort, in jedem Winkel geschrieben und dazwischen – alles voll Hass und Feindschaft. Ich glaube, wenn der Geist des verstorbenen ‚Christus‘, des Juden Jesus, sehen könnte, was er angerichtet, er würde weinen. Ich bin ein Mensch, so gut wie Jesus, sehe den Unterschied zwischen Ideal und Leben so gut wie er, aber ich bin nicht so zäh wie der Jude, ich!3

Drei Tage später distanziert sich Hesse von seinem Vater noch weiter. Er siezt ihn („Sehr geehrter Herr!“) und schreibt: „Ihre Verhältnisse zu mir scheinen sich immer gespannter zu gestalten, ich glaube, wenn ich Pietist und nicht Mensch wäre, wenn ich jede Eigenschaft an mir ins Gegenteil verkehrte, könnte ich mit Ihnen harmonieren. Aber so kann und will ich nimmer leben“. Er schiebt dem Vater, nächst sich selber, im Voraus die Schuld zu, sollte er aus Lebensüberdruss und Welthass zum Verbrecher werden.4 Kontrastiert er im ersten Brief sein Menschsein pauschal mit dem Christsein der Eltern, so setzt er sich hier präziser von ihrem pietistischen Christentum ab. Seine Mutter Marie (1842–1902), geb. Gundert, und sein Vaters Johannes (1847–1916) waren von längerer Erfahrung in der Indienmision ebenso geprägt wie von literarischer und verlegerischer Tätigkeit im Calwer Verlagsverein. Sie vertraten einen lebendigen, gebildeten Pietismus mit weltweitem Horizont. 2. Das Elternhaus Wenn Hesse sich im Jahr 1892 davon lossagte, tat er es, ohne auf Dauer mit den Eltern zu brechen, wie es zunächst den Anschein hatte. Über die Mutter schrieb er wenige Monate nach ihrem Tod an seine Schwester Adele, er ver2 Diese Ereignisse sind dokumentiert in: Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen, 1877–1895. Hg. v. Ninon Hesse. Frankfurt/Main 1984, 179–266. 3 Kindheit und Jugend [s. Anm. 2], 257–266. Eine gekürzte Wiedergabe dieses Briefes bei Hermann Hesse. Unterm Rad. Entstehungsgeschichte in Selbstzeugnissen des Autors. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/Main 2008, 189–196, die Zitate 194–196. 4 Abbildung und Transkription des Briefes vom 14.09.1892 in: Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/Main 2000, 56 f.

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danke ihr „das Beste, was ich geistig besitze“.5 Man wird das aber nicht vorschnell in christlichem oder gar pietistischem Sinn deuten dürfen, schreibt Hesse doch in einem autobiographischen Rückblick, der um 1937 entstanden ist, es sei der „frommen Erziehung (sie war / Grausam zuweilen, für mich wie die Eltern) / [. . .] am Ende missglückt, jenen Christen / Aus mir zu machen, der doch ich selbst / Oft so ernstlich wünschte und hoffte zu werden“.6 Den Grund für dieses Scheitern sah Hesse in der pietistisch-christlichen Überzeugung, dass des Menschen Wille von Natur und Grund aus böse sei und dass dieser Wille erst gebrochen werden müsse, ehe der Mensch in Gottes Liebe und in der christlichen Gemeinschaft das Heil erlangen könne. So wurden wir – denn unsre Eltern liebten uns sehr und waren beide nichts weniger als hart – zwar nicht spartanisch erzogen [. . .]; aber wir lebten unter einem strengen Gesetz, das vom jugendlichen Menschen, seinen natürlichen Neigungen, Anlagen, Bedürfnissen und Entwicklungen sehr misstrauisch dachte und unsere angebornen Gaben, Talente und Besonderheiten keineswegs zu fördern oder gar ihnen zu schmeicheln bereit war.

Hesse schrieb dies in Erinnerung an Hans, seinen 1935 aus dem Leben geschiedenen Bruder, in dem er ein Opfer dieses negativen, für die häusliche und schulische Erziehung und damit für die Entwicklung des Menschen schädlichen Vorurteils sah.7 In der Beziehung der Mutter zum Sohn lässt sich diese Mischung von herzlicher Mutterliebe und grundsätzlichem Unbehagen früh erkennen. Marie Hesse hat die außergewöhnliche Begabung ihres Sohnes von Anfang an gesehen, wenn auch oft schwer daran getragen. Schon dem Vierjährigen fürchtete sie nicht gewachsen zu sein, schrieb sie doch ihrem Mann: Bete du mit mir für den Hermännle, und bete für mich, dass ich Kraft bekomme, ihn zu erziehen. Es ist mir, als wäre schon die Körperkraft nicht ausreichend; der Bursche hat ein Leben, eine Riesenstärke, einen mächtigen Willen, und wirklich auch eine Art ganz erstaunlichen Verstand für seine vier Jahre. Wo will’s hinaus? Es zehrt mir ordentlich am Leben, dieses innere Kämpfen gegen seinen hohen Tyrannengeist, sein leidenschaftliches Stürmen und Drängen.8

Dies ist die eine Seite der Medaille. Die andere zeigt Übereinstimmung zwischen Mutter und Sohn. Hugo Ball hat schon 1927 auf sie hingewiesen, wobei er sich zweifellos auf Aussagen seines Freundes Hesse stützen konnte. Marie, die mütterlicherseits aus dem Westschweizer Calvinismus stammte, habe die Musik geliebt und eine Stimme wie eine helle Glocke gehabt; „doch sie liebt im Grunde nur Psalmen und Choräle“, schreibt Ball. „Eine warme Kälte 5 Zit. n. Siegfried Greiner: Nachwort. In: Adele Gundert: Marie Hesse – die Mutter von Hermann Hesse. Ein Lebensbild in Briefen und Tagebüchern. Frankfurt/Main 1997, 255. 6 Hermann Hesse [s. Anm. 4], 12. 7 Unterm Rad [s. Anm. 3], 87. 8 Marie an Johannes Hesse, 02.08.1881, in: Gundert [s. Anm. 5], 172–174.

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strömt von ihr aus. Ihr französisches Calvinistenblut hat eine Leidenschaft für das Unbedingte, das Letzte und Höchste im Leben; eine Leidenschaft, die der Sohn mit ihr teilt.“9 Diese Leidenschaft für das Unbedingte zeigte sich schon, als Marie anderthalb Jahre im Töchterinstitut Korntal zubrachte, wo sie engstirniger Bevormundung zähen Widerstand entgegen setzte – wie es später ihr Sohn in Maulbronn tun sollte.10

3. Unterm Rad Hermann Hesse hat die Erfahrungen seiner Jugend- und Seminarzeit im Roman Unterm Rad von 1905 literarisch gestaltet und verarbeitet. Darin lässt er die beiden Schulfreunde, den „gutwillig-strebsamen“ Hans Giebenrath und den „selbständig-phantasievollen“ Hermann Heilner, polare Seiten seiner eigenen Persönlichkeit verkörpern.11 Hans Giebenrath kommt am Ende um. Es bleibt offen, ob es sich um ein Unglück oder einen Suizid handelt. Dies ist auch nicht wichtig, geht es doch allein darum, dass Giebenrath im herrschenden Erziehungs- und Schulsystem nicht leben kann. Sein Ende steht für den Ernst von Hesses Krise, für seinen Bruch mit dem bisherigen und seine Entscheidung für ein anderes Leben. Der Roman hat autobiographische Züge, ohne eine Autobiographie zu sein. Das Städtchen, aus dem Hans herkommt, ein „Schwarzwaldnest“, ist Calw, der Fluss, den er zum Fischen, Träumen und Schlittschuhlaufen aufsucht, ist die Nagold, und das Seminar ist nicht nur, sondern heisst auch Maulbronn. Der fromme Schuhmachermeister Flaig, der „in den Versammlungen der Stundenbrüder [. . .] als strenger brüderlicher Richter und als ein gewaltiger Ausleger der Heiligen Schrift“ auftritt und Hans vor den Verführungen ungläubiger Wissenschaft warnt,12 ist ebenso aus dem Leben gegriffen wie der Rektor und der im Geist moderner Bibelkritik gelehrte Stadtpfarrer, in dessen Studierstube der Bücherfreund Hesse Hans Giebenrath merkwürdige Beobachtungen machen lässt: Wie in einer Pfarrerstube sah es eigentlich hier nicht aus. Es roch weder nach Blumenstöcken noch nach Tabak. Die ansehnliche Büchersammlung zeigte fast lauter neue, 9 Hugo Ball: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk. Hg. v. Volker Michels. Göttingen 2008 (Hugo Ball. Sämtliche Werke und Briefe, 8), 56. 10 Gundert [s. Anm. 5], 19–24. 11 Volker Michels: Unterm Rad der Fremdbestimmung. In: Unterm Rad [s. Anm. 3], 20 f. 12 Hermann Hesse: Unterm Rad. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 2. Frankfurt/Main 2001, 170 f., 143. Das Vorbild für Flaig war wohl der Schuhmachermeister und Calwer Kirchgemeinderat Zahnd. Vgl. Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen. Hg. v. Ninon Hesse u. Gerhard Kirchhoff. Bd. 2: 1895–1900. Frankfurt/Main 1985, 51 f. – Hesse schildert Pietisten wie Flaig bei aller Distanz mit unverkennbarer Sympathie.

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sauber lackierte und vergoldete Rücken, nicht die abgeschossenen, schiefen, wurmstichigen und stockfleckigen Bände, die man sonst in Pfarrbibliotheken findet. Wer genauer zusah, merkte auch den Titeln der wohlgeordneten Bücher einen neuen Geist an, einen andern, als der in den altmodisch ehrwürdigen Herren der absterbenden Generation lebte. Die ehrenwerten Prunkstücke einer Pfarrbücherei, die Bengel, Ötinger, Steinhofer13 samt frommen Liedersängern, welche Mörike im Turmhahn14 so schön besingt, fehlten hier oder verschwanden doch in der Menge moderner Werke. Alles in allem, samt Zeitschriftenmappen, Stehpult und grossem, blätterbestreutem Schreibtisch sah gelehrt und ernst aus. Man bekam den Eindruck, dass hier viel gearbeitet werde. [. . .] Die träumerische Mystik und ahnungsvolle Grübelei war von diesem Ort verbannt, verbannt war auch die naive Herzenstheologie, welche über die Schlünde der Wissenschaft hinweg sich der dürstenden Volksseele in Liebe und Mitleid entgegenneigt. Stattdessen wurde hier mit Eifer Bibelkritik getrieben und nach dem ‚historischen Christus‘ gefahndet.15

4. Elias Schrenk Im letzten Satz spricht Hesse zwar von der Forschung nach dem „historischen Christus“, meint aber die damals aktuelle Debatte um den „historischen Jesus“. Diese wohl absichtliche Unschärfe begegnet im Zusammenhang mit der Gestalt Jesu auch andernorts: Zweimal lässt Hesse Hans Giebenrath aus Markus 6, 54 f. im griechischen Urtext die Worte εὐθὺς ἐπιγνόντες αὐτόν περιέδραμον lesen und übersetzt sie mit „sie erkannten ihn sogleich und liefen herzu“.16 Im Evangelium steht dieser Satz nach der Geschichte von Jesu Gang 13 Der Herrnhuter Friedrich Christoph Steinhofer war wie der Exeget Johann Albrecht Bengel und der Theosoph Friedrich Christoph Oetinger ein bedeutender Vertreter des württembergischen Pietismus. Grundlegend für die Geschichte des Pietismus in Württemberg ist Hartmut Lehmann: Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Stuttgart 1969. 14 Im Gedicht Der alte Turmhahn von 1852 kam Eduard Mörike (1804–1875) mit der schweren Zeit, die er als Pfarrer in Cleversulzbach erlebt hatte, ins Reine, indem er sie zu einer Idylle verklärte. Darin schildert er das Leben eines Pfarrers aus der Perspektive des alten Turmhahns, den er in dessen Studierstube Unterschlupf finden und seine Beobachtungen machen lässt. Die beiden Stellen, auf die Hesse fast wörtlich anspielt, lauten bei Mörike: „Sogleich empfing mich sondre Luft,/ Bücher- und Gelahrtenduft,/ Gerani- und Resedaschmack,/ Auch ein Rüchlein Rauchtabak“. „Die Sonne sich ins Fenster schleicht,/ Zwischen die Kaktusstöck hinstreicht/ [. . .] Und gleitet übern Armstuhl frank/ Hinüber an den Bücherschrank./ Da stehn in Pergament und Leder/ Voran die frommen Schwabenväter:/ Andreä, Bengel, Rieger zween,/ Samt Ötinger sind da zu sehn./ Wie sie die goldnen Namen liest,/ Noch goldener ihr Mund sie küsst,/ Wie sie rührt an Hillers Harfenspiel –/ Horch! klingt es nicht? So fehlt nicht viel.“ (Eduard Mörike: Sämtliche Werke. München 5 1979, 141–149, hier 144, 148. 15 Hesse, Unterm Rad [s. Anm. 12], 166 f. 16 Hesse, Unterm Rad [s. Anm. 12], 216 u. 233. Hinsichtlich der griechischen Orthographie herrscht an dieser Stelle in den verschiedenen Ausgaben einige Verwirrung. Grammatikalisch korrekt ist sie in: Hermann Hesse: Die Romane und die großen Erzählungen. Bd. 1. Frankfurt/Main 1982, 254, 274. In den Sämtlichen Werken. Bd. 2 [s. Anm. 12], 217, 233, ist sie ebenso schwan-

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auf dem Wasser: Jesus und die Jünger gelangen bei Gennesaret ans andere Seeufer. Als sie dem Boot entsteigen, erkennen ihn die Leute sogleich. Sie laufen aber nicht „herzu“, wie Hesse übersetzt, sondern machen sich auf die Suche nach Kranken, die sie in der Hoffnung, „wenigstens den Saum seines Mantels berühren zu dürfen“, auf Bahren zu ihm bringen. „Und alle, die ihn berührten“, heißt es im Evangelium, „wurden gerettet.“ „Sie erkannten ihn sogleich und liefen herzu“: Von dieser von Hesse veränderten und isolierten Stelle fühlt sich Hans Giebenrath eines Tages ganz persönlich angesprochen. Er hat soeben die Zumutung des Ephorus, er solle sich von seinem Freund Heilner fern halten, von sich gewiesen. Er pflegt die Freundschaft weiter und macht die Zeit, die ihm deswegen für das Studium fehlt, durch erhöhte Intensität wett. Dabei stößt er auf die besagte Stelle. Da „sah auch er den Menschensohn das Schiff verlassen und erkannte ihn sogleich, weder an Gestalt noch Gesicht, sondern an der großen, glanzvollen Tiefe seiner Liebesaugen und an einer leise winkenden oder vielmehr einladenden, willkommen heißenden Gebärde seiner schlanken, schönen, bräunlichen Hand, die von einer feinen und doch starken Seele geformt und bewohnt erschien.“17 Während Hesse Hans Giebenrath anhand der Markus-Stelle eine nahe Begegnung mit Jesus machen lässt, erzählt der Evangelist von Menschen, welche die Gegenwart Jesu zum Anlass nehmen, das Land nach Kranken abzusuchen, um für sie bei ihm durch Berührung seines Gewandes Heilung zu finden. Eine derartige Heilung hat Marie Hesse im Januar 1896, sieben Jahre bevor ihr Sohn an seinem Roman zu arbeiten begann, an sich selber erlebt. Sie war an Osteomalazie, einer Knochenerweichung, erkrankt und konnte nicht mehr auf den eigenen Beinen stehen, geschweige denn gehen. Sie hatte sich mit ihrem Schicksal abgefunden, als sie durch das Gebet und die Handauflegung des Evangelisten Elias Schrenk (1831–1913) genas.18 „Ich habe Jesu Kleidessaum anrühren dürfen, und Er ist mir ganz nahe!“ schrieb sie in Anspielung auf Markus 6, 56 in ihr Tagebuch.19 Im Roman werden die Heilungswunder ausgeblendet, aber die Nähe des „Menschensohnes“, die Intensität der Begegnung mit ihm ist hier wie dort, bei Marie Hesse und Hans Giebenrath, dieselbe. Es muss offen bleiben, ob zwischen Maries Heilung und dem Eindruck, den Markus 6 auf Hans Giebenrath

kend wie in der Ausgabe suhrkamp taschenbuch 3368. Frankfurt/Main 2002, 97, 116. Es ist aber möglich, dass letztere Versionen editionsphilologisch korrekt sind, was ich jedoch nicht überprüfen konnte. 17 Hesse, Unterm Rad [s. Anm. 12], 97. 18 Hermann Klemm: Elias Schrenk. Der Weg eines Evangelisten. Wuppertal 1961. Zu Schrenks Berner Zeit vgl. Markus Nägeli: Die Evangelische Gesellschaft des Kantons Bern in der Auseinandersetzung mit der Heiligungsbewegung. In: Rudolf Dellsperger, Markus Nägeli, Hansueli Ramser: Auf dein Wort. Beiträge zur Geschichte und Theologie der Evangelischen Gesellschaft des Kantons Bern im 19. Jahrhundert. Bern 1981, 266–288. 19 Gundert [s. Anm. 5], 217–221, hier 219.

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macht, ein Zusammenhang besteht. Sicher ist, dass in der Welt, aus der Hermann Hesse herkam, solche wunderbare Erfahrungen vorkamen. Er hat darum gewusst, und sie werden nicht spurlos an ihm vorübergegangen sein.20 Einen schriftlichen Bekehrungsversuch hingegen, den Schrenk wohl auf Bitten der Mutter unternahm, hat Hesse an sich abprallen lassen. „Ich habe den Brief von Herrn Schrenk nicht missverstanden“, schrieb er aus Tübingen an die Eltern, ich weiss, ‚dass es aus Liebe floss‘, wie Mutter sagt; obwohl es mich anfangs befremdete. Ich bitte nur, lasst uns zusammenhalten und herzlich verkehren – weshalb durch Dritte? Wie ich zur Bibel stehe, dass ich sie mehr lese und liebe als jedes andre Buch, auch als Goethe, wisst ihr; es mag Euch schmerzlich sein, dass unsre Gottesdienste mich nicht fesseln, dass ich nicht zum Abendmahl gehe, überhaupt lieber im eignen Zimmer und Herzen mich erbaue als mit tausend andern, und vielleicht wird sich mein Empfinden auch hierin noch wesentlich ändern, aber dass dies durch eine Absicht Dritter in plötzlicher Weise geschehe, widerstrebt im Innersten meiner ganzen Eigenart.21

5. Christoph Schrempf Noch fehlt der Schritt von Schrenk zu Schrempf. 1892, in Hesses Krisenjahr, erregte ein „Fall“ in Württemberg und weit darüber hinaus großes Aufsehen. Hesse hat das Ereignis 1935 anschaulich beschrieben: Im Jahr 1891 wurde es dem württembergischen Pfarrer Schrempf in der Gemeinde Leuzendorf eines Sonntags ganz und gar zuwider und unmöglich, bei einer Kindtaufe auch diesmal wieder das ‚Apostolikum‘ zu verlesen, das für die Landeskirche offizielle Glaubensbekenntnis. Er glaubte ja nicht daran, er sah ja nicht in Jesus den Gott und den Gottmenschen, und wenn er auch zu eben diesem Jesus ein tief herzliches und lebendiges Verhältnis hatte und in diesem und jenem Sinne an ihn ‚glaubte‘, so glaubte er doch gerade im Sinn des Apostolikums nicht an ihn, und was er bisher, mit zunehmender Beklemmung und Gewissensnot, immer wieder auf sich genommen hatte, das warf er jetzt von sich: er vollzog die Taufe ohne Apostolikum, und meldete dies seiner Kirchenbehörde mit der Bemerkung, er werde auch künftig bei jeder Taufe das Apostolikum weglassen.22 20 Schrenk wohnte während der Predigtwoche vom 05. bis 16.01.1896 im Hause Hesse. Marie hat am 06.01. ihrem Sohn nach Tübingen über ihn berichtet und ihm am 16.01. von ihrer Heilung erzählt. Hermann wollte „den Frühling nicht vergehen lassen, ohne heimzukommen, weil ich jetzt das einzige Kind bin, das die liebe Mutter noch nicht gesehen hat, seit sie uns wieder geschenkt ist“ (Kindheit und Jugend [s. Anm. 12], 51, 58 f., 94). 21 Vgl. Schrenks Brief an Hermann Hesse vom 20.02.1896 und Hermann Hesse an seine Eltern, 27.02.1897: Ebd., 77–79. 22 Hermann Hesse, Registerband zu den Sämtlichen Werken. Hg. v. Volker Michels. Frankfurt/ Main 2007, 923–927, hier 923 f. Der Beitrag erschien erstmals in: Die neue Rundschau, Berlin, Mai 1935 zu Schrempfs 75. Geburtstag.

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Christoph Schrempf (1860–1944) – auch er stammte aus dem schwäbischen Pietismus, von dem er sich unter dem Eindruck der historischen Bibelkritik Carl Weizsäckers gelöst hatte – handelte aus Gewissensnot. Für ihn stand die Glaubwürdigkeit der Kirche auf dem Spiel, in deren Zustand er wegen der Unlauterkeit, zu der sie viele ihrer Pfarrer zwang, eine „böse sittliche Unordnung“ sah.23 Die Kirchenbehörde aber stellte die Amtspflicht über die persönliche Gewissensentscheidung, wies Schrempfs Bitte, man möge ihm eine ethisch vertretbare Wirksamkeit in der Kirche ermöglichen, ab und entliess ihn als Beamten fristlos und ohne Pension. Schrempf, dessen „Fall“ den Apostolikumsstreit ausgelöst hat, ist erst 1909, im Jahr seiner Habilitation für Philosophie an der Technischen Hochschule Stuttgart, aus der Kirche ausgetreten. Er hat mit seinen regelmässigen Vorträgen und mit seinen Büchern über Kant, Lessing, Goethe, Sokrates, Nietzsche, Paulus, Kierkegaard und Luther viele Gleichgesinnte angesprochen, ohne eine Sondergemeinschaft zu gründen. Der Kierkegaard-Forschung hat er als Übersetzer und Herausgeber unschätzbare Dienste geleistet.24 Hermann Hesse konnte sich als bald Sechzigjähriger an die „heftige Wirkung“ des „Falles Schrempf“ „auf die Gespräche in frommen schwäbischen Häusern und gar Pfarrhäusern“ noch sehr gut erinnern.25 Als Fünfzehnjähriger mochte er noch nicht vollumfänglich ermessen können, worum es dabei ging. Aber – und das ist mehr – Schrempfs Redlichkeit und Mut haben ihn tief beeindruckt: „Wir Jungen“, schrieb er in der Festschrift zu Schrempfs 70. Geburtstag, „noch halb Knaben, empfanden bei der Sache immerhin einigen Schauer. Mochte dieser Schrempf recht haben oder nicht: auf alle Fälle hatte da ein Mann sein Amt und Brot weggeworfen um seines Glaubens, vielmehr Unglaubens willen, und hatte sich auf die Strasse hinaus begeben, zu den Ausgestossenen und Verfehmten. Das war nichts Geringes, und so wurde 23 Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871 bis 1945. Hg. v. Karl Kupisch. München, Hamburg 1960, 103–107, hier 105. 24 Zu Christoph Schrempf vgl. Walter Nigg: Geschichte des religiösen Liberalismus. Entstehung, Blütezeit, Ausklang. Zürich, Leipzig 1937, 263–266 und passim. Heinrich Hermelink: Geschichte der Evangelischen Kirche in Württemberg von der Reformation bis zur Gegenwart. Das Reich Gottes in Wirtemberg [!]. Stuttgart, Tübingen 1949, 433–436. Der spätere Kirchenhistoriker Hermelink (1877–1958) besuchte zusammen mit Hermann Hesse in Göppingen die Lateinschule. Martin Müller: Persönliches Glaubenszeugnis und Bekenntnis der Kirche. „Der Fall Schrempf“. In: Der deutsche Protestantismus um 1900. Hg. v. Friedrich Wilhelm Graf u. Hans Martin Müller. Gütersloh 1996, 223–237; Andreas Rössler: Menschliche Freiheit und göttliche Vorherbestimmung nach Christoph Schrempf. Der deterministische Ansatz eines eigenwilligen württembergischen religiösen Denkers. In: Tradition und Fortschritt. Württembergische Kirchengeschichte im Wandel. FS Hermann Ehmer zum 65. Geburtstag. Hg. v. Norbert Haag [u. a.]. Epfendorf/Nekkar 2008, 301–326. 25 Hermann Hesse, Registerband [s. Anm. 22], 924. Der „Fall Schrempf“ war Thema in Hermann Gunderts Briefen: Vgl. Hermann Gundert an seinen Sohn Hermann, 18.01.1892. In: Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert [s. Anm. 2], 157 f., u. Siegfried Greiner: Hermann Hesse. Jugend in Calw. Berichte, Bild- und Textdokumente und Kommentar zu Hesses Gerbersau-Erzählungen. Sigmaringen 1981, 59 f. I, 157.

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Schrempf mir, ohne dass ich von seinen damaligen Problemen eine Ahnung gehabt hätte, doch zu einer Gestalt, die ich nicht vergass, die nach Höllenschwefel roch, aber auch nach Mut und Stolz.“26 Während seiner Tübinger Jahre gehörte Hesse zu den Lesern von Schrempfs Zeitschrift „Die Wahrheit“. Ein Text, den er in ihr unterbringen wollte, wurde von Schrempf zwar abgelehnt, aber so, dass Hesse später schreiben konnte, er habe „in s[m]einem ganzen spätern Leben [. . .] nie mehr von einem Herausgeber ein so gründliches, schonungsloses, aber verantwortungsvolles Schreiben bekommen“.27 Hesse hat mehrere Werke von Christoph Schrempf besprochen, und als er den Versuch unternahm, „die Grundstücke s[m]eines ‚Glaubens‘ zu formulieren“, stieß er in Schrempfs Buch mit dem bezeichnenden Titel Martin Luther, aus dem Christlichen ins Menschliche übersetzt auf einen Entwurf, der seinen eigenen skizzenhaften Aufzeichnungen „nahezu Satz für Satz“ entsprach.28 6. Theologie als Kunst? Von Schrenk zu Schrempf: Was ergibt diese Spielerei mit zwei ungleichen Lexikonnachbarn und Zeitgenossen des jungen Hermann Hesse für dessen religiös-geistigen Werdegang? Hesses Entwicklung ist nicht der Schritt aus einer Welt in eine andere, von einer kindlichen Pietät zu einem erwachsenen Unglauben, vom Glauben zur Wissenschaft oder von der Theologie zur Philosophie. Auch wird man ihn nicht, wie Schleiermacher es mit gutem Grund von sich tun konnte, als Herrnhuter oder als Pietisten „höherer Ordnung“ bezeichnen dürfen. Denn vom kirchlichen Bekenntnis hat er sich losgesagt,

26

Im Banne des Unbedingten. Christoph Schrempf zugeeignet. Stuttgart 1930, 5–13. Im Banne des Unbedingten [s. Anm. 26], 7 f. 28 Im Banne des Unbedingten [s. Anm. 26], 9: „Der Kern dieses Glaubens ist dieser: Alles, was an mir oder durch mich geschieht, ist gut. Es ist gut, auch wenn es mir weh tut, es ist gut, auch wenn es offensichtlich gegen das in Sitte und Recht formulierte Gute geht. Es ist gut, weil unser Leben nicht unser Werk und Eigentum ist, sondern weil wir gelebt werden. Wir werden gelebt von der unsrer Vernunft überlegenen Macht, vom Leben, von Gott.“ (Ebd., 9 f.) Dieses Credo kleidet Hesse auch in Gottes Antwort an den sterbenden, mit seinem Leben hadernden Knulp (1915): „Sieh, [. . .] ich habe dich nicht anders brauchen können, als wie du bist. In meinem Namen bist du gewandert und hast den sesshaften Leuten immer wieder ein wenig Heimweh nach Freiheit mitbringen müssen. In meinem Namen hast du Dummheiten gemacht und dich verspotten lassen; ich selber bin in dir verspottet und in dir geliebt worden. Du bist ja mein Kind und mein Bruder und ein Stück von mir, und du hast nichts gekostet und nichts gelitten, was ich nicht mit dir erlebt habe.“ (Zit. n. der Ausgabe suhrkamp taschenbuch 1571, Frankfurt/Main 1988, 123) – Ein eindrückliches Zeugnis für den Austausch zwischen Schrempf und Hesse ist ein sechs maschinenschriftliche Seiten umfassender, zwischen dem 29.01. und dem 03.02.1932 entstandener Brief, in dem Schrempf seinem Freund sein Kunstverständnis darlegt. (Hesse-Archiv im Schweizerischen Literaturarchiv Bern, Ms-L-83, Schachtel 49) Ich hoffe ihn, wenn möglich mit dem Brief Hesses, auf den Schrempf sich bezieht, veröffentlichen zu können. 27

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während er sich die franziskanische Geborgenheit, die er in seiner Kindheit und Jugend auch erlebt hat, zeitlebens bewahrt hat: „Und mich umhegte der Zauber/ Gläubiger Kindheit“, heißt es im bereits zitierten autobiographischen Rückblick, „es sprachen/ Garten und Bach, Himmel und Tierwelt den kleinen/ Bruder brüderlich an, es rauschten/ Wald und Brunnen, Mundart und Kirchenlied/ ihre alten heiligen Melodien/ mir ins Ohr und Herz, es umfing mich/ Freundliche Heimat, kreatürliche Welt.“29 Karl Barth war, als er ihm im Sommer 1921 in Zürich begegnete, von Hesses vermeintlichem Individualismus und Subjektivismus wenig erbaut. „Ich war wieder erstaunt über die pietistische Enge, mit der sich diese Künstler offenbar meistens um das Problem ihrer privatesten Existenz herumbewegen“, schrieb er seinem Freund Eduard Thurneysen. „‚Ich lege mir die Dinge, um durch das ziemlich schwere Leben meinen Weg zu finden, so zurecht [. . .]‘, das ist das Argument aller Argumente.“ Der Theologe und der Dichter waren über Lenin, Ludendorff und andere Zeitgenossen aneinander geraten, gegen die Hesse offenbar „ziemlich lebhaft hantierte“.30 Der Brief gewährt abgesehen davon, dass Barth Hesse als „Künstler“ apostrophiert und ihn auf „pietistische Enge“ fixiert, keine weiteren Einblicke in den Verlauf des Gesprächs. Lässt man den Vorwurf der „pietistischen Enge“ vorerst beiseite, so korrespondiert Barths abschätzige Redeweise von „diesen Künstlern“ recht gut mit dem Selbstverständnis des jungen Hesse. Der Autor von Unterm Rad befindet sich nämlich auf der Suche nach einer Theologie, die in dem Sinn Kunst ist, wie er sie nach Hans Giebenraths Besuch in der Bibliothek des gelehrten Stadtpfarrers beschreibt: Es ist eben in der Theologie nicht anders als anderwärts. Es gibt eine Theologie, die ist Kunst, und eine andere, die ist Wissenschaft oder bestrebt sich wenigstens, es zu sein. Das war vor Alters so wie heute, und immer haben die Wissenschaftlichen über den neuen Schläuchen den alten Wein versäumt, indes die Künstler, sorglos bei manchem äusserlichen Irrtum verharrend, Tröster und Freudebringer für viele gewesen sind. Es ist der alte, ungleiche Kampf zwischen Kritik und Schöpfung, Wissenschaft und Kunst, wobei jene immer recht hat, ohne dass jemand damit gedient wäre, diese aber immer wieder den Samen des Glaubens, der Liebe, des Trostes und der Schönheit und Ewigkeitsahnung hinauswirft und immer wieder guten Boden findet. Denn das Leben ist stärker als der Tod, und der Glaube ist mächtiger als der Zweifel.31 29 Hermann Hesse [s. Anm. 4], 12; Heinrich Hermelink (Das Christentum in der Menschheitsgeschichte von der Französischen Revolution bis zur Gegenwart. Bd. 3: Nationalismus und Sozialismus. 1870–1914. Stuttgart, Tübingen 1955, 439 f.) schreibt, Hesse habe „als Sohn und Enkel von grossen Missionaren ein Erbe aus dem schwäbischen Pietismus mitbekommen, das nie ganz verloren ging.“ 30 Karl Barth an Eduard Thurneysen, 20.06.1921. In: Karl Barth – Eduard Thurneysen. Briefwechsel. Bd. 1: 1913–1921. Bearb. u. hg. v. Eduard Thurneysen. Zürich 1973 (Karl Barth. Gesamtausgabe. V. Briefe), 497. 31 Hesse, Unterm Rad [s. Anm. 12], 167. Man beachte Hesses spielerischen Umgang mit dem Jesuswort vom Wein und den Schläuchen (Mt 9, 17).

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Kein Zweifel, dies war nicht weniger rechthaberisch und polemisch als Barths briefliche Äußerung und insofern Ausdruck des alten Antagonismus von Wissenschaft und Kunst. Was Hesse aber damit sagen wollte, lässt sich exemplarisch seinem Gedicht Jesus und die Armen von 1929 entnehmen. Zwar war er, als er es schrieb, bereits zweiundfünfzigjährig, also beileibe nicht mehr jung. Aber in diesem Gedicht sind prägende Jugendeindrücke wie Marie Hesses, Hans Giebenraths und Christoph Schrempfs „tief herzliches und lebendiges Verhältnis“ zum Mann aus Nazaret ebenso aufgehoben wie Schrempfs Mut, „sich auf die Strasse hinaus [zu] begeben, zu den Ausgestossenen und Verfehmten“,32 womit auch das Vorurteil der „pietistischen Enge“ hinfällig wird: Jesus und die Armen „Du bist gestorben, lieber Bruder Christ, Wo aber sind die, für die du gestorben bist? Du bist gestorben für aller Sünder Not, Aus deinem Leibe ward das heilige Brot, Das essen sonntags die Priester und die Gerechten An deren Türen wir Hungrigen fechten. Wir essen dein Brot der Vergebung nicht, Das der fette Priester den Satten bricht; Dann gehen sie, verdienen Geld, führen Krieg und morden, Keiner ist durch dich selig geworden. Wir Armen, wir gehen auf deinen Wegen Dem Elend, der Schande, dem Kreuz entgegen, Die andern gehen vom heiligen Nachtmahl heim Und laden den Priester zu Braten und Kuchen ein. Bruder Christ, du hast vergebens gelitten – Gib du den Satten, um was sie dich bitten! Wir Hungrigen wollen nichts von Dir, Christ; Wir lieben dich bloß, weil du unser einer bist.“33

32 Gunnar Hillerdal (Art. „Armut VII“. In: TRE 4, 1979, 112) hat dieses Gedicht zu Recht als „Vorankündigung eines [. . .] sozialrevolutionären Jesusbildes“ bezeichnet. Seine Wiedergabe des Textes ist hingegen unzuverlässig. 33 Hermann Hesse: Sämtliche Werke. Bd. 10: Die Gedichte. Bearb. v. Peter Huber. Frankfurt/ Main 2002, 306.

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JOHANNES WALLMANN

Warnung vor einem Phantom Zu der These von den zwei Übersetzern Johannes Deusing Vorbemerkung Der neue Mitherausgeber dieses Jahrbuchs Fred van Lieburg hat im letzten Band einen Beitrag Wege der niederländischen Pietismusforschung1 veröffentlicht, in dem er, wie er eingangs sagt, die in den Jahren 2002 bis 2005 in diesem Jahrbuch zwischen Hartmut Lehmann und mir geführte Diskussion über den Pietismusbegriff weiterführen will. Er folgt damit der Aufforderung Lehmanns, der „eine eindeutige Begriffserklärung und Begriffsbestimmung zu finden“ für notwendig hielt,2 über eine „eindeutige, Mißverständnisse ausschließende Terminologie nachzudenken“ aufforderte3 und zuletzt die Meinung vertrat: „Die Diskussion über den Pietismusbegriff ist nicht beendet. Sie hat eigentlich erst richtig begonnen.“4 Diese Aufforderung hat van Lieburg zu einer Reihe 2004, 2005 und 2006 unter maßgeblicher Mitwirkung Lehmanns durchgeführter internationaler Pietismustagungen inspiriert,5 bei denen der Definition des Pietismus besonderes Augenmerk geschenkt werden sollte. Ich habe damals diese Diskussion nicht fortgesetzt, habe Lehmann das letzte Wort überlassen und mich der gewünschten Weiterführung der Diskussion, vielleicht etwas unhöflich, verweigert, zur Verwunderung mancher, die wissen, dass ich Diskussionen nicht scheue. Den Streit um den der Geschichte des Pietismus zugrunde gelegten Pietismusbegriff, den ich aus konkretem Anlass ausgelöst hatte, weil durch den Anschluss an den erweiterten Pietismusbegriff F. Ernest Stoefflers nicht mehr Philipp Jakob Spener, sondern Johann Arndt der Begründer des Pietismus sein sollte, hielt ich für beendigt. Nachdem die an 1 Fred van Lieburg: Wege der niederländischen Pietismusforschung. Traditionsaneignung, Identitätspolitik und Erinnerungskultur. In: PuN 37, 2011, 211–253. 2 Hartmut Lehmann: Erledigte und nicht erledigte Aufgaben der Pietismusforschung. Eine nochmalige Antwort an Johannes Wallmann. In: PuN 31, 2005, 13–20, hier 18. 3 Hartmut Lehmann: Enger, weiterer und erweiterter Pietismusbegriff. In: PuN 29, 2003, 18– 36, hier 30. 4 Lehmann, Pietismusbegriff [s. Anm. 3], 33. 5 In meinem Bericht über diese Tagungen (Johannes Wallmann: Pietismusforschung. In: Theologische Rundschau 76, 2011, 223–254. 296–322) erwähne ich, welche Beachtung van Lieburg dem Streit um den Pietismusbegriff schenken will (303).

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Stoeffler orientierte Konzeption vom Pietismus als ein gleichzeitig um 1700 in England, den Niederlanden und Deutschland beginnendes kohärentes und konsistentes Phänomen in der vierbändigen Geschichte des Pietismus gar nicht durchgeführt wurde und vom Puritanismus bis zum Methodismus verwandte, aber terminologisch anders bezeichnete Bewegungen einbezogen wurden, hatte sich meiner Meinung nach die Unterscheidung zwischen einem Pietismus im weiteren und im engeren Sinn durchgesetzt. Ich halte nichts von theoretischen Diskussionen über den Pietismusbegriff und habe Lehmann freundschaftlich geschrieben, dass ich statt einer Antwort auf seine letzte Anfragen lieber an einem konkreten Beispiel zeigen will, in welche Aporien man mit der in Band 1 der Geschichte des Pietismus vorgeschlagenen Erweiterung des Begriffs Pietismus kommt. In meinem Beitrag über den neuerdings zum Pietismus gerechneten Johann Sebastian Bach, der 2009 in diesem Jahrbuch erschien,6 habe ich auf meine Weise diese Diskussion fortgeführt. Van Lieburg erinnert an den von mir 1976 ausgesprochenen Satz: „Der niederländischen Kirchengeschichtswissenschaft wird vermutlich eine Schlüsselrolle zufallen für die Beantwortung der Frage, wie wir es künftig mit dem weiteren Pietismusbegriff und mit der Rede von einem englischen Pietismus halten.“ Er übergeht aber, dass diese Frage von der niederländischen Kirchengeschichtswissenschaft inzwischen längst beantwortet worden ist. Seitdem die in gedruckten Prospekten für den Band 1 der Geschichte des Pietismus bereits angekündigte Überschrift von Kapitel II Der Pietismus in den Niederlanden auf Einspruch der niederländischen Seite geändert werden musste zugunsten der den Pietismusbegriff vermeidenden Rede von den „Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden“, redet niemand in der Forschung mehr vom Pietismus in den Niederlanden, auch nicht mehr vom puritanischen Pietismus in England, wie es die ältere deutsche Forschung und an sie anschließend F. Ernest Stoeffler tat. Bei den von van Lieburg angestoßenen internationalen Pietismustagungen ist Willem op ’t Hof der einzige, der an der Rede vom niederländischen und puritanischen Pietismus festhält. Während ich an der Geschichte des Pietismus für gut halte, dass sie sich in der Durchführung gar nicht an dem im Konzept zugrunde gelegten weiten, die Niederlande und England einbeziehenden Pietismusbegriff von Stoeffler hält, wird von op ’t Hof gerade umgekehrt dieses Abgehen von der Konzeption getadelt. Van Lieburg muss seinen Vorschlag, auf den Pietismusbegriff zu verzichten, eigentlich an die Adresse seines Lehrers op ’t Hof richten. Der deutschen Forschung vorzuschlagen, auf den Pietismusbegriff zu verzichten, gibt es keinen Anlass. Über den Vorschlag, auf den Begriff Nadere Reformatie zu verzichten, durch den sich van Lieburg in der niederländischen Kirchengeschichtswissenschaft m.W. isoliert, mögen andere entscheiden.

6 Johannes Wallmann: Neues Licht auf die Zeit Johann Sebastian Bachs in Mühlhausen. Zu den Anfängen des Pietismus in Mühlhausen. In: PuN 35, 2009, 46–114.

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Was mich zu dieser Vorbemerkung veranlasst, ist van Lieburgs über meine Unterscheidung von Pietismus im weiteren und im engeren Sinn gefällter Satz: „Diese Subtilität hilft der Forschung nicht weiter, wie Lehmann überzeugend dargestellt hat.“7 Dass van Lieburg die von mir vorgeschlagene Unterscheidung eine unnütze Subtilität nennt, ist mir schmerzlich, weil dadurch meine Beziehung zur niederländischen Kirchengeschichtswissenschaft schwer getroffen wird, auch wenn deren mir nahe stehende Repräsentanten heute nicht mehr leben. Aber das geht in Ordnung. Auch unter den Herausgebern dieses Jahrbuchs muss es verschiedene Auffassungen geben. Monopolstellungen wären nur schädlich, und wir haben unter den Herausgebern sogar literarische Streitigkeiten geführt. Doch der Streit muss fair geführt werden. Natürlich reicht es nicht aus, um das terminologische Schisma zwischen der niederländischen und der deutschen Forschung zu überwinden, die Nadere Reformatie analog der Arndtschen Frömmigkeitsrichtung nicht zum Pietismus zu rechnen, aber mit dem weiteren Begriff „pietistisch“ zu bezeichnen – es gibt bei historischen Bewegungen wie in der Familie Verwandtschaften zweiten und dritten Grades, was bei meiner Unterscheidung stärker zu berücksichtigen wäre. Aber darum geht es hier nicht. Dass Lehmann überzeugend gezeigt habe, dass diese Unterscheidung der Forschung nicht hilft, ist eine die Leser unseres Jahrbuchs und auch die niederländische Kirchengeschichtswissenschaft in die Irre führende, falsche Behauptung. Es findet sich an der für diese Behauptung genannten Stelle – van Lieburg gibt keinen genauen Ort, sondern nur einen Aufsatz an – nicht nur nichts, was in die von van Lieburg gemeinte Richtung weist, sondern das genaue Gegenteil. Lehmann weist hier darauf hin, dass diese Unterscheidung für ihn und andere eine nicht unwesentliche Hilfe gewesen sei. Als Martin Brecht, auf den sich van Lieburg allenfalls berufen könnte, sagte, meine Unterscheidung habe zwar in der Pietismusforschung Anklang gefunden, sei jedoch „nicht nur von mir allein, sondern von den Herausgebern der Geschichte des Pietismus bewusst nicht übernommen worden“,8 hat Lehmann, der meiner Kritik an Brechts Rezeption des Pietismusbegriff von Stoeffler zustimmt,9 diese Mitteilung über die Ablehnung meiner Unterscheidung durch den Herausgeberkreis verneint und sie allein auf das Konto von Brecht gesetzt.10 Durch van Lieburgs ausführlichen und bis in die Einzelheiten gehenden For7

Lieburg, Wege [s. Anm. 1] 245. Martin Brecht: Zur Konzeption der Geschichte des Pietismus. Eine Entgegnung auf Johannes Wallmann. In: PuN 22, 1977, 226. 9 Lehmann, Pietismusbegriff [s. Anm. 3], 22: „Es war nicht glücklich, daß Brecht [. . .] bei der Konzeption des Bandes [. . .] der Pietismusdefinition von Ernest Stoeffler folgte.“ 10 Lehmann, Pietismusbegriff [s. Anm. 3], 23: „Wenn ich mich recht erinnere, besaß Wallmanns nützliche Distinktion zwischen einem Pietismus im weiteren und im engeren Sinn aber nicht nur für mich, sondern auch für Deppermann, Lindt und nach dessen Tod für Ulrich Gäbler, der an Lindts Stelle in das Herausgebergremium einrückte, durchaus eine nicht unerhebliche Erklärungskraft.“ Von den Herausgebern bleibt hier nur Brecht ausgenommen. 8

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schungsbericht erfährt man vieles Neue und Unbekannte über die für uns Deutsche kaum zu durchschauende, wegen ihrer Vielgestaltigkeit schwer verständliche Kirchengeschichtsforschung unseres Nachbarlandes. Man bekommt anschaulich zu Gesicht, wie eng angelehnt an bestimmte kirchliche Gruppierungen Pietismusforschung in den Niederlanden betrieben wird, sehr viel anders als bei uns in Deutschland. Als ich 2005 von van Lieburg auf Beschluss der Stichting Studie der Nadere Reformatie nach Gouda eingeladen war, fühlte ich mich deplaziert, einem während der Woche in schwarze Anzüge, die Damen in schwarze Röcke und schwarze Strümpfe feierlich gekleideten Publikum meinen Vortrag in meinem normalen Straßenanzug vorzutragen. Van Lieburg macht auf den durch die Niederlande von Seeland bis Overijssel gehenden Bibelgürtel (Bible Belt) und auf die schwarze-Strümpfe-Kirchen aufmerksam, zu denen wir im Neupietismus Deutschlands kein Pendant haben. Seine Informationen über die niederländische Pietismusforschung sind überaus wertvoll und machen mir meine Erfahrungen in Gouda erst verständlich. Dass van Lieburg meinen Vorschlag, das terminologische Schisma zwischen der von Nadere Reformatie redenden niederländischen und der von Pietismus sprechenden deutschen Forschung durch meine Unterscheidung zu beenden, für eine unnütze Subtilität hält, rührt wohl aus einem Missverständnis her. Offensichtlich hat van Lieburg nicht verstanden, dass die Unterscheidung keine verwandten Phänomene ausschließt, sondern im Gegenteil sie einschließende Funktion hat. Wolfgang Sommer zeigt im gleichen Band unseres Jahrbuchs, dass es mir durch diese Unterscheidung gelungen ist, Johann Arndt in die Pietismusforschung hereinzuholen.11 Kaspar von Greyerz, der mit seinem bald ins Englische und Französische übersetzten Buch Religion und Kultur. Europa 1500–1800 die Pietismusforschung in den Kreisen der internationalen Geschichtswissenschaft bekannter machen wird, als unser Jahrbuch es vermag, und sich in hohem Maße den Forschungen Lehmanns verpflichtet zeigt, geht bei der Frage, was unter Pietismus zu verstehen sei, in Abkehr von anderen Definitionen von Wallmanns Unterscheidung aus.12 Durch diese Unterscheidung zwischen Pietismus im engeren und im weiteren Sinn wird der Kreis der Eingeladenen zu den in Halle veranstalteten Pietismuskongressen, an deren Gestaltung ich von Anfang an mitgewirkt habe, weit gezogen. Durch die Behauptung, Hartmut Lehmann habe überzeugend gezeigt, dass diese Unterscheidung eine Subtilität sei, die der Forschung nicht helfe, wird die Leserschaft unseres Jahrbuchs bei einer zentralen Frage der Pietismusforschung in die Irre geführt – ob aus Fahrlässigkeit oder mit Absicht, spielt hier keine Rolle; Probleme bei der Übersetzung aus der niederländischen Sprache können nicht die Ursache gewesen sein. Ich muss van Lieburg um Verständnis bitten, dass ich allein durch seine eklatante Fehlinformation, nicht durch seine 11 Wolfgang Sommer: Rez. von Johannes Wallmann: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II. In: PuN 37, 2011, 309–315, 309 f. 12 Kaspar von Greyerz: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Göttingen 2000, 127 ff., 275.

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von mir abweichende Meinung, zu dieser mir selbst schmerzlichen Vorbemerkung gezwungen bin. Ich habe wiederholt erklärt, nichts davon zu halten, neue oder veränderte Begriffe vorzuschlagen, weil dadurch die babylonische Sprachverwirrung der Wissenschaft nur vergrößert wird. Stattdessen möchte ich mich lieber mit einem konkreten Fall befassen, dem Beitrag eines niederländischen Forschers, der vor einigen Jahren in diesem Jahrbuch erschienen ist. *** Im Inhaltsverzeichnis des Bandes 33 dieses Jahrbuchs ist an erster Stelle ein großer, 35 Seiten langer Aufsatz von Jan van de Kamp angezeigt mit dem Titel Johann Deusing Bremensis. Die Bedeutung zweier Übersetzer für den reformierten und den lutherischen Pietismus in Deutschland.13 Obwohl ich Mitherausgeber dieses Jahrbuchs bin, habe ich den Aufsatz, den ich vor der Drucklegung nicht zu sehen bekommen habe, auch nach der Drucklegung nicht gelesen. Die Bedeutung für den lutherischen Pietismus, die van de Kamp im Titel seines Aufsatzes andeutet, ist so gering, dass ich den Aufsatz übergehen zu können meinte. Davon lasse ich mich auch nach Lektüre seines Aufsatzes nicht abbringen. Udo Sträter erwähnt den Übersetzer Deusing in seinem für die Rezeption englischer Autoren in die deutsche Sprache grundlegenden Buch Sonthom, Bayly, Dyke und Hall nur knapp und bemerkt gelegentlich der Vermutung, dass die Mehrzahl der englischen Autoren nicht aus dem Englischen, sondern aus dem Niederländischen übersetzt wurden, nur in einer Anmerkung, dass das auch für die zahlreichen Übersetzungen der Schriften Baxters durch Deusing überprüft werden müsste.14 Inzwischen habe ich durch die Übergabe der Edition der Spenerbriefe an die Sächsische Akademie der Wissenschaften nicht nur mehr Zeit für eigenes Arbeiten, sondern auch für die Lektüre von Arbeiten anderer. Beim Lesen dieses Aufsatzes habe ich bemerkt, dass die Rede von den zwei Übersetzern durch den Abdruck in unserem Jahrbuch, dessen Aufsätze wie in jeder wissenschaftlichen Zeitschrift einer strengen Prüfung unterliegen, als eine bewiesene Tatsache angesehen wird. Ich halte aber eine kritische Prüfung für nötig. Deshalb melde ich mich zu einem von diesem Jahrbuch angenommenen und vor fünf Jahren gedruckten Aufsatz noch einmal zu Wort. Im Aufsatz selbst, der in Überschrift und Text durchgehend von einem Johannes Deusing spricht (in der Literatur begegnen beide Schreibungen des Vornamens, und auch ich benutze beide Schreibungen) wird die These aufgestellt, bei dem als Freund und Mitarbeiter Theodor Undereycks bekannten Johannes Deusing (1654–1693), Übersetzer einer Reihe niederländischer und englischer Schriften in die hochdeutsche Sprache, handele es sich nicht um ein 13 Jan van de Kamp: Johann Deusing Bremensis. Die Bedeutung zweier Übersetzer für den reformierten und den lutherischen Pietismus in Deutschland. In: PuN 33, 2007, 13–47. 14 Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, 31 Anm. 46.

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und dieselbe Person, wie man seit dem gründlichen Artikel „Undereyck“ von Wilhelm Goeters in der zweiten Auflage der Theologischen Realencyklopädie15 angenommen hat. Van de Kamp behauptet, herausgefunden zu haben, es gäbe zwei verschiedene Personen mit dem gleichen Namen Johannes Deusing, der eine ein Theologe und Pfarrer an St. Martini aus Bremen, der andere ein Jurist aus Kassel. Die meisten der von einem Johann Deusing übersetzten Schriften seien nicht von dem Bremer Pfarrer, sondern von dem Kasseler Juristen ins Deutsche übertragen worden. Willem op ’t Hof habe die beiden irrigerweise „vermischt“.16 Johannes Deusing ist mir nicht unbekannt. Van de Kamp erwähnt mich unter denjenigen, die Johannes Deusing, den Bremer Kollegen Undereycks, als Übersetzer niederländischer Literatur angegeben haben, nach Goeters an erster Stelle.17 In einem frühen Aufsatz Labadismus und Pietismus, den ich nicht in die Bände meiner Gesammelten Aufsätze aufgenommen habe, da ich darin noch der in der älteren Forschung üblichen, inzwischen durch den Begriff Nadere Reformatie und durch das Kapitel II der Geschichte des Pietismus überholten Rede von einem niederländischen Pietismus des 17. Jahrhunderts gefolgt bin, habe ich einen Johannes Deusing aus Bremen als einen auf Anregung Undereycks tätigen Übersetzer dreier Schriften von Willem Teellinck angeführt.18 Dass Deusing daneben auch Übersetzer zahlreicher englischer Erbauungsbücher war, ist mir erst später aus Edgar C. McKenzies Dissertation von 1984 British Devotional Literature and the Rise of German Pietism19 bekannt geworden. Diese in St. Andrews angefertigte Dissertation bringt in Band II einen Katalog der ins Deutsche übersetzten englischen Erbauungsbücher, in dem zehn englische Schriften (von Richard Baxter, Robert Bolton, Richard Sibbes) als von einem Johann Deusing übersetzt angeführt werden. Diese ungedruckte Dissertation,20 die McKenzie kurz nach ihrer Fertigstellung mit der Bitte um Drucklegung an die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus sandte, habe ich als damaliges Mitglied dieser Kommission auf ihre Druckwürdigkeit zu prüfen gehabt und gründlich gelesen. Aus unterschiedlichen Gründen, einmal wegen der hohen Druckkosten, aber auch, weil das im Mittelpunkt der Dissertation behandelte Rätsel um den Verfasser eines bekannten englischen Erbauungsbuches (Sonthom) inzwischen von anderer Seite gelöst war, habe ich nicht zur Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Arbei15

RE 20, 233, Z. 41. Van de Kamp [s. Anm. 13], 15. 17 Van de Kamp [s. Anm. 13], 14. 18 Johannes Wallmann: Labadismus und Pietismus. In: Pietismus und Reveil. Referate der internationalen Tagung: Der Pietismus in den Niederlanden und seine internationalen Beziehungen. Hg. v. Jan van den Berg u. J.P. van Dooren. Leiden 1978, 141–168, hier 149 Anm. 42. 19 Edgar C. McKenzie: British Devotional Literature and the Rise of German Pietism, 2 Bde. (masch.) St. Andrews 1984. 20 Van de Kamp nennt sie in einer Literaturangabe [s. Anm. 13], 27 Anm. 92, ohne sie wie üblich und wie es Sträter ([s. Anm. 14], 180) tut, als maschinenschriftlich zu kennzeichnen. 16

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ten zur Geschichte des Pietismus“ geraten, aber vorgeschlagen, den im zweiten Band enthaltenen wertvollen Katalog in die Reihe „Bibliographie zur Geschichte des Pietismus“ aufzunehmen. Im Auftrag der Kommission habe ich McKenzie, mit dem ich schon vorher in schriftlichem Kontakt stand und der sich damals längere Zeit in Deutschland (Seeheim) aufhielt, am 7. Januar 1985 in einem langen, von mir mitprotokollierten Telefongespräch geraten, auf den Druck des Textteils zu verzichten und den zweiten Teil als Katalog mit einer Einleitung zu versehen. Nach Rücksendung der Dissertation Ende 1985 ist der wieder vorgelegte Katalog an meinem Lehrstuhl, an dem damals mit Udo Sträter ein in die Übersetzungen englischer Autoren in die deutsche Sprache eingearbeiteter Mitarbeiter tätig war, gründlich durchgesehen und komplettiert worden. Auch McKenzie hat noch an der Verbesserung seines in jahrzehntelanger bibliographischer Forschung erarbeiteten Lebenswerks gearbeitet. Im Sommer 1989 haben wir noch einmal miteinander korrespondiert, weil ich seinen Katalog in das Literaturverzeichnis meiner im Druck befindlichen Gesamtdarstellung Der Pietismus aufnehmen wollte. Bei der Gelegenheit erklärte er mir, dass er im Titel das Wort Catalogue durch das in Bibliographien und Bibliotheken gebräuchliche Wort Catalog ersetzen wollte, was ich nicht mehr berücksichtigen konnte. Einen Termin der Drucklegung konnte er mir nicht nennen, da sein Werk auf Wunsch des Vorsitzenden der Pietismuskommission in veränderter Form neu auf Computer geschrieben werden müsse. Warum es erst viele Jahre später zur Drucklegung kam, erinnere ich nicht mehr, sondern nur, dass die Pietismuskommission, nachdem sie mit dem ersten Band der Reihe „Bibliographie zur Geschichte des Pietismus“ schlechte Erfahrungen gemacht hatte, bei der Herausgabe des zweiten Bandes besondere Skrupel hatte. Im vom Vorsitzenden der Pietismuskommission geschriebenen Geleitwort zum Katalog wird meine Mitarbeit nicht erwähnt.21 Bei der gründlichen Lektüre des Manuskripts war mir das häufige Vorkommen eines Johann Deusing aufgefallen. Ich kann aus meinem Zettelkatalog noch den großen Zettel vorzeigen, auf dem ich mir die vielen Titel der von Deusing übersetzten Schriften notiert und dabei bemerkt habe, dass es sich bei der gelegentlichen Angabe J.D.B. um Johannes Deusing aus Bremen handeln müsse. McKenzie hatte diese Auflösung des Kürzels nicht vorgenommen, hat es auch nicht im späteren Druck getan. Insofern ist die Bemerkung van de Kamps, McKenzie habe bei der bloßen Angabe Johann Deusing eine „Vermischung“ vorgenommen22 unzutreffend. McKenzie hat das große Verdienst, durch seine Bibliographie erstmals in der Forschung die in quantitativer Hinsicht überragende Übersetzertätigkeit Johann Deusings sichtbar gemacht zu haben. Bedauerlicherweise hat van de Kamp in seinem Forschungsbericht den Fortschritt, den die Bibliographie von McKenzie gebracht hat, nirgendwo 21 Edgar C. McKenzie: A Catalog of British devotional books in German translation from the Reformation to 1750. Berlin, New York 1997 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, 2). 22 Van de Kamp [s. Anm. 13], 16 Anm. 14.

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gewürdigt. Er nennt McKenzie neben anderen Bibliographien nur in Anmerkungen und erweckt den irreführenden Anschein, als habe er diese Übersetzungstätigkeit erstmals beachtet. Tatsächlich ist van de Kamp nur der erste, der dem Bremer Kollegen Undereycks Johannes Deusing die meisten Übersetzungen abspricht und sie einem anderen Johannes Deusing zuschreibt. Während der Drucklegung des Katalogs von McKenzie erhielt ich im Mai 1992 einen langen Brief von Jan van der Haar, emeritierter Prediger in Houten/Niederlande. Er sprach mich darauf an, dass ich durch Udo Sträter sicherlich von seinen Arbeiten über die Übersetzungen englischer, vor allem puritanischer Autoren in die niederländische Sprache Kenntnis habe und berichtete mir, dass er seine bibliographischen Forschungen seit mehreren Jahren auf die Übersetzungen englischer, französischer und niederländischer Autoren in die deutsche Sprache erweitert habe. Eingehend erzählte er mir von seinen Funden vor allem in Halle und Wolfenbüttel. Auch in Gotha, Weimar und Herborn habe er viel Material gefunden. Wenige Bücher gebe es in Heidelberg und Göttingen, praktisch nichts in Bremen und Gießen. Dagegen seien Düsseldorf, Emden, Oldenburg und Marburg besser sortiert. Gegenwärtig arbeite er mit viel Vergnügen in der Landesbibliothek in Hannover. Die nächsten Stationen seiner Reise seien Bonn, Tübingen, Erlangen, Basel und Zürich. Van de Haar fragte mich, ob ich eine Möglichkeit sehe, seine Bibliographie der Übersetzungen in eine der Reihen der Pietismuskommission aufzunehmen und ob ich auch für den Fall, dass das nicht möglich sei, bereit wäre, ein Wort der Einleitung für sein Buch zu schreiben. Einige Blätter mit bibliographischen Angaben, z. B. zu den von ihm aufgefundenen Ausgaben von Sonthoms Güldenem Kleinod, fügte er bei. In meinem Antwortbrief vom Mai 1992 machte ich van der Haar auf den Katalog von McKenzie aufmerksam, dessen Druck wir in der Pietismuskommission gegenwärtig vorbereiten würden und den ich in der zweiten Auflage meines Spenerbuchs auf Seite 16 bereits vorgestellt hätte. Mit Bezug auf die mir zugesandten Proben fügte ich hinzu, auch McKenzie bringe „eine Bibliographie sämtlicher Editionen von Emanuel Sonthom, ja sogar eine vollständigere Liste als die, die Sie mir zugesandt haben“. Ich sei sehr unsicher, ob sich nach Erscheinen dieser Bibliographie sein Projekt noch würde realisieren lassen. Zu überlegen wäre gegebenenfalls, ob man die englischen Titel streichen könnte, was zwar eine bedauerliche Reduzierung ergäbe, aber eine durchaus sinnvolle Bibliographie. Ich schloss mit den Worten: „Ich bitte um Verständnis, daß ich, nachdem ich mich bereits für die Drucklegung von McKenzie eingesetzt habe, nicht jetzt schon zugleich für ein Projekt eintreten kann, das sich mit diesem in großen Teilen überschneidet.“ Van der Haar schrieb mir daraufhin im Juni 1992, dass er auf meinen Rat McKenzies Dissertation inzwischen gelesen habe. Der erste Band habe uneingeschränkt seine Sympathie. Aber mein positives Urteil über den zweiten Band könne er nicht teilen. Unmöglich könne McKenzie alle genannten Werke gesehen haben. Er schreibe die großen Standardwerke aus und sei auch nicht zuverlässig in der Angabe der Fundorte. Unter den Bibliotheken sei Herborn vergessen (was nur 248 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

hinsichtlich der zu Beginn mit Codenummern aufgelisteten Bibliotheken gilt, Anm. von mir), und er könne noch mehr anführen. Ich erspare mir, die Liste weiterer Beanstandungen anzuführen. Sein Brief, in dem er mir in bewegten Worten seine in hohem Alter angestellten Forschungsreisen schilderte, ist mir sehr zu Herzen gegangen. Da ich kurz darauf wider meinen Willen und für mich überraschend aus der Pietismuskommission herausgedrängt wurde, konnte ich den Briefwechsel mit Jan van der Haar, der 2001 verstorben ist, zu meinem Bedauern nicht fortführen. Erst aus van de Kamps Aufsatz erfahre ich, dass van der Haars Bibliographie23, der ebenfalls die Vermischung der angeblich beiden Deusings vorgehalten wird, 1997 von einem niederländischen Antiquariat verlegt wurde.24 Deshalb möchte ich auf van de Haars viele Einzelpunkte anführende Kritik an McKenzie aufmerksam machen. Über Johann Deusings Übersetzungen englischer Erbauungsbücher kann man sich ein sehr viel besseres Bild bei McKenzie machen als bei van de Kamp. Erstens bekommt man bei McKenzie genaue Titelangaben und Fundorte der Bibliotheken, in denen er die Übersetzungen gefunden hat. Van de Kamp hätte mit Nennung der Nummer in McKenzies Katalog auf sie verweisen können. Stattdessen gibt van de Kamp in seinem Aufsatz und in der dort Seite 31 bis 35 aufgestellten Tabelle der Übersetzungen nur Kurztitel an, die er wählt, weil er aus seinem Interesse an statistischen Angaben die Übersetzungen notwendigerweise wiederholt zitieren muss. Durch die dauernde Wiederholung von Kurztiteln ist sein Aufsatz, wie jedermann feststellen wird, schwer lesbar und für einen normalen Menschen ausgesprochen schwierig zu verstehen. Zweitens gibt van de Kamp McKenzies Katalog ungenau und zuweilen falsch an. Er spricht von einer durchgängigen Angabe J.D.B. auf dem Titelblatt der zahlreichen Übersetzungen und räumt nur in einer Anmerkung ein: „Das stimmt nicht genau, weil JD2 auch zuweilen das B. wegläßt“.25 Tatsächlich ist das B. nicht zuweilen, sondern auf fast allen Übersetzungen fortgelassen, und das J.D.B. findet sich nur auf zwei Übersetzungen, einer von Richard Baxter26 und einer von Robert Bolton.27 Auch hat van de Kamp übersehen, dass die fünfte der Schriften in dem Band Ausgesonderte Schriften von Richard Baxter nicht von Baxter stammt, sondern eine Schrift von William Whately ist.28 Dadurch ist seine Angabe der Zahl der von Baxter übersetzten Schriften unrichtig. Van de Kamp spricht von den beiden Übersetzern als von einer durch ihn bereits bewiesenen Tatsache. Da der Aufsatz in unserem Jahrbuch aufgenom-

23

Van de Kamp [s. Anm. 13], 16 Anm. 14, vgl. 27, 29, 37. Jan van der Haar: Internationale ökumenische Beziehungen im 17. und 18. Jahrhundert. Bibliographie von aus dem Englischen, Niederländischen und Französischen ins Deutsche übersetzten theologischen Büchern von 1660–1800. Everdeen 1997. 25 Van de Kamp [s. Anm. 13], 22 Anm. 61. 26 McKenzie [s. Anm. 21], Nr. 259. 27 McKenzie [s. Anm. 21], Nr. 368–370. 28 McKenzie [s. Anm. 21], Nr. 236; vgl. Nr. 1743. 24

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men und gedruckt ist, müsste die künftige Forschung, die den Übersetzungen englischer Erbauungsbücher ins Deutsche neuerdings verstärktes Interesse zuwendet, von dieser Arbeit auszugehen und also von den zwei Übersetzern Johannes Deusing zu reden haben. Ich betrachte aber seinen Aufsatz nicht als Mitteilung eines Forschungsergebnisses, sondern als das Aufstellen einer interessanten These. Van de Kamp kommt dem insofern entgegen, als er die beiden Übersetzer nicht mit ihrem Namen, sondern mit der Abkürzung JD1 und JD2 2 benennt. Das ist bei der Vorstellung von historischen Personen ein ganz unübliches Verfahren. Van de Kamps mit erstaunlichen Quellen- und Literaturkenntnissen vorgetragene These, dass es sich bei dem Namen Johannes Deusing um zwei unterschiedliche Personen handelt, muss zunächst diskutiert werden. Van der Kamp geht davon aus, dass in zwei Artikeln in älteren regionalen Lexika aus dem 18. und dem frühen 19. Jahrhundert Unterschiedliches über Johannes Deusing ausgesagt wird. Im Bremer Gelehrtenlexikon von Heinrich Wilhelm Rotermund 1818 wird Johannes Deusing ein Prediger an St. Pauli in Bremen genannt, der eine Schrift des Niederländers Spranckhuysen übersetzt habe. Dagegen wird in Strieders Verzeichnis der hessischen Gelehrten und Schriftsteller, Band 3 aus dem Jahr 1783, ein Johannes Deusing genannt, der zwar „Bremer von Geburt“, aber 1666 Lehrmeister der Söhne des hessischen Landgrafen Wilhelm VI., Philipp und Georg, war, 1678 Kanzleisekretär und 1683 Rat und Archivar in Kassel wurde. Unter dem Namen J.D.B. (d. i. Johannes Deusing Bremensis) habe er ein Reihe von großenteils in Kassel erschienener Übersetzungen englischer und niederländischer Bücher herausgegeben. Dieser Johannes Deusing war also vermutlich Jurist. Van der Kamp stellt fest, dass „diese zwei Lexikonartikel auf zwei Übersetzer hinzuweisen scheinen“. Diese Feststellung ist richtig, und es ist nichts dagegen einzuwenden, dass van de Kamp bei seinen Untersuchungen die scheinbar zwei Übersetzer JD1 und JD2 nennt. Dass die bisherige Forschung nicht bemerkt hat, dass es scheinbar zwei Übersetzer gibt, ist auch zutreffend. Van de Kamp illustriert das durch ein Referat des Forschungsstandes. Der ältere und der jüngere Goeters, Wallmann, Faulenbach und andere reden allein von dem Bremer Pfarrer Johannes Deusing als einem durch seinen späteren Kollegen Theodor Undereyck angeregten Übersetzer, reden aber nicht davon bzw. verschweigen, insofern sie sich wie J.F. Gerhard Goeters auch auf Strieder berufen, dass bei Strieder von einem Kasseler Juristen geredet wird. Auch in den Bibliographien ins Deutsche übersetzter Bücher von Jan van der Haar und Edgar McKenzie sowie in Bibliothekskatalogen werde nur von einem Johannes Deusing geredet. „Fazit dieses Forschungsreferats ist, dass bisher kein Forscher die divergierenden Wege der beiden Lexikonartikel bemerkt hat. Dass es sich um zwei gleichnamige, aus Bremen gebürtige Übersetzer handelt, ist erst von dem Verfasser dieses Aufsatzes entdeckt worden.“ Der erste dieser beiden Sätze, dass niemand bisher die Divergenzen der beiden Lexikonartikel erkannt hat, ist richtig. Was im zweiten Satz gesagt wird, 250 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

müsste aber erst bewiesen werden. Der Schein kann, wie das Sprichwort sagt, auch trügen. Van de Kamp müsste nachweisen, dass die zwei Lexikonartikel nicht nur scheinbar auf zwei Übersetzer hinweisen, sondern dass es sich tatsächlich um zwei verschiedene Übersetzer handelt. Das Proton Pseudos seines Aufsatzes besteht darin, dass er einen solchen Beweis nicht führt, sondern dass er das erst zu Beweisende von Anfang an als bewiesen voraussetzt. Dass tatsächlich zwei Personen namens Johannes Deusing existierten, stellt van de Kamp nicht ans Ende, sondern an den Anfang seiner Beweisführung. Das nennt man in der Logik eine Petitio principii. Schon im Forschungsreferat wird nicht dargestellt, dass Willem op ’t Hof sich für Johannes Deusing auf die Artikel Rotermund und Strieder stützt, ohne ihre Divergenzen zu beachten, sondern van de Kamp behauptet, dass er JD1 und JD2 „vermische“. Bei der nun folgenden Nebeneinanderstellung der beiden Biographien wird die Existenz des in einem Lexikonartikel vorkommenden JD2 vorausgesetzt, ohne zu bedenken, dass sie erst bewiesen werden müsste. Wenn man von zwei Johannes Deusing spricht, muss man die Biographie beider festzustellen suchen. Van de Kamp stellt nacheinander in einem Abschnitt 2 die Biographie von JD1 und im folgenden Abschnitt 3 die Biographie von JD2 dar. Bei dem Bremer Pfarrer JD1 (16–21) ist alles klar, was man üblicherweise zur Identifizierung braucht. Die biographischen Daten sind aus dem zuverlässig in zweiter Auflage erschienenen Bremer Pfarrerbuch bekannt. Man kennt das Datum seiner Geburt (8. Januar 1644), Namen und Beruf seines Vaters, Namen der Mutter, die Dauer seiner Schulbildung am Bremer Gymnasium illustre 1661 bis 1664, ungefähr die Dauer seines theologischen Studiums in Marburg (1665/1666). Nach seinem Marburger Theologiestudium war er von 1666 bis 1670 hessen-kasseler Legationsprediger in Regensburg. Während seiner in Kasseler Dienst stehenden Zeit muss er Theodor Undereyck kennen gelernt haben, der 1668 bis 1670 Hofprediger bei der Gräfin Hedwig-Sophie in Kassel war. Gleichzeitig mit Undereyck, der im April 1670 von Kassel zum Pfarrer von St. Martini in Bremen berufen wurde, ging Deusing nach Bremen und war dort vom 11. August 1670 bis 30. September 1670 neben Undereyck Hilfsprediger an St. Martini. Am 2. Oktober erhält er seine Anstellung als Pfarrer von St. Pauli in Bremen. Das bleibt er bis zu seinem Tod am 3. Juni 1673. Am 4. Mai 1672 schließt Deusing die Ehe mit Wibbeke Stubbemann, der Witwe des Pfarrers Daniel Laelius (1639–1671), dessen Amtsnachfolger er an St. Pauli war. Die biographischen Daten sind aus dem Bremer Pfarrerbuch bekannt, so dass man sich wundert, dass van de Kamp noch umfangreiche Forschungen zur Biographie von JD1 anzustellen für nötig hält. Er hat sich eine Fotokopie der Leichpredigt schicken lassen, aus der er die im Pfarrerbuch enthaltenen Angaben für die Biographie so vorstellt, als ob es eigene Forschungsergebnisse sind. Zusätzlich erfährt man aus der Leichpredigt, dass Johannes Deusing vor seinem Tod eine niederländische Schrift von Dionysius Spranckhuysen übersetzt hat, dass auf seinen Tod eine große Zahl von Leichgedichten verfasst wurden, aus 251 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

denen deutlich wird, dass es sich bei JD1 um eine Gestalt aus dem gesellschaftlichen Leben Bremens handelt. Van de Kamp kann aus der Leichpredigt entnehmen, dass Deusing im Jahre 1670 Theodor Undereyck auf der Reise nach den Niederlanden begleitet hat und sogar eine Reise nach England beabsichtigte, die aber nicht ausgeführt wurde. Das spricht dafür, dass er auch der Übersetzer der englischen Schriften ist. Die Biographie von JD1 ist klar und gibt keine Rätsel auf. Schwierig wird es in Abschnitt 3 bei der Biographie des anderen Johannes Deusing, des Kasseler Juristen JD2 (21–31). Diese Biographie ist sehr viel länger als die über den Bremer Deusing, weil van de Kamp eine große Zahl anderer Pietisten einbezieht, zu denen JD2 in Beziehung gestanden haben soll. Über deren Verhältnis zu JD2 stellt er eine Reihe von Vermutungen an und geht schließlich über in eine Besprechung der zahlreichen von JD2 übersetzten Schriften. Die Biographie von JD2 ist schwer zu erstellen. „Die einzigen bis jetzt bekannten Daten vermittelt Strieder.“29 Strieder will sein Wissen aus „sichern geschriebenen Privatnachrichten“ erhalten haben. Seinen knappen Nachrichten, dass Deusing 1666 die Stelle eines Lehrmeisters der beiden Söhne des hessischen Landgrafen Wilhelm VI. übernommen hatte, am 16. Februar 1678 Regierungskanzleisekretär und 26. Mai 1683 Rat und Archivar zu Kassel geworden sei, fügt er die zur Beurteilung seiner Auskunftsfähigkeit nicht unwichtige Bemerkung hinzu: „Weiter kann ich nichts von ihm melden“. Van de Kamp, für den Strieders Artikel der Angelpunkt seiner Entdeckung von JD2 ist, müsste die Auskunft Strieders über die Quelle seines Wissen eigentlich angeben und angesichts des Bekenntnisses seiner weithinnigen Unkenntnis Vorsicht für angebracht halten. Er beachtet sie aber nicht, sondern lässt Strieders Bekenntnis seiner Unkenntnis, man möchte sagen mit einem Taschenspielertrick, in einer Anmerkung nahezu verschwinden.30 Über Strieder hinaus kann van de Kamp nur Vermutungen anstellen. Eigentlich ist es keine Biographie von JD2, was van de Kamp liefert, sondern eine Fülle von Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten, die van de Kamp an die behauptete Existenz des Kasseler Juristen JD2 anschließt. Bei JD2 ist alles, was man zur Bestimmung einer Biographie braucht, unbekannt oder unklar. Van de Kamps Biographie von JD2 fällt denn auch dadurch auf, dass nahezu jeder Satz mit einem „wahrscheinlich“ oder „es ist zu vermuten“ begonnen wird. Unbekannt ist das Datum seiner Geburt und der Geburtsort Bremen wird aus der Bemerkung Strieders, dass er Bremer von Geburt sei, erschlossen. „Auch das Todesjahr ist unbekannt“.31 Dass für das Todesjahr als terminus post quem das Jahr 1685 angegeben wird, wonach JD2 beträchtlich länger gelebt hätte als der 1673 gestorbene JD1, leuchtet nicht ein. Dass 1685 zwei Übersetzungen von ihm erschienen sind, ist kein Beleg dafür, dass er 1685 noch lebte. 29 30 31

Van de Kamp [s. Anm. 13], 21. Van de Kamp [s. Anm. 13], 22 Anm. 62. Van de Kamp [s. Anm. 13], 21.

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Ebenso wenig leuchtet der terminus ante quem 1697 ein, der gewählt wird, weil zwischen 1685 und 1697 keine weiteren Übersetzungen von JD2 erschienen. Daraus wird seltsamerweise gefolgert, dass die 1697 erschienene Übersetzung „wahrscheinlich eine postume Veröffentlichung“ ist. Für seine Schulbildung beruft sich van de Kamp auf einen Eintrag in die Matrikel des Bremer Gymnasiums von 1657, was JD2 mit JD1 ungefähr gleichaltrig macht, ohne dass man erkennt, warum es sich bei dem Eintrag um einen anderen als JD1 handelt. Dass von einem Johannes Deusing am Bremer Gymnasium eine juristische Vorlesung belegt worden ist, ist für van de Kamp ein Beleg, dass es sich hierbei nicht um den Theologen, sondern um den künftigen Juristen handelt. Doch ist die Belegung juristischer Vorlesungen am Bremer Gymnasium kein Beweis für ein Jurastudium. Man müsste Belege für ein akademisches Jurastudium von JD2 haben, wie sie van de Kamp für andere Freunde oder Bekannte von JD2, die in Duisburg, Marburg oder, wie der vermutlich mit JD2 bekannte Jurist Philipp Erberfeld, in Franeker studiert haben, aus den Universitätsmatrikeln beibringt. Für ein juristisches Studium von JD2 an einer deutschen oder niederländischen Universität gibt es aber keine Belege. Man darf annehmen, dass JD2 vielleicht in Marburg, wo JD1 Theologie studierte, Jura studiert hat. Beide müssen sich aus ihrer gemeinsamen Schulzeit am Bremer Gymnasium illustre gekannt haben. Van de Kamp hält sogar für möglich, dass sie beide miteinander verwandt waren und erwartet Aufschluss von weiteren genealogischen Untersuchungen.32 Beiden gemeinsam ist die enge Bekanntschaft mit Theodor Undereyck, die nach dem Studium stattgefunden haben muss. Im Unterschied zu JD1 ist es bei JD2 unbekannt, wann er Undereyck kennen gelernt hat, doch muss es in der Zeit gewesen sein, als Undereyck 1668 bis 1670 Hofprediger in Kassel war. Beide, JD1 und JD2, sind ungefähr zur selben Zeit durch die enge Beziehung zu Undereyck zu reformierten Pietisten geworden. Offensichtlich muss man sich die Lebensläufe als vitae parallelae zweier reformierter Christen vorstellen, die in Bremen aufgewachsen sind, deren Lebensläufe aber in verschiedenen Berufen und nach ihrer durch Undereyck bewirkten Hinwendung zum Pietismus in pietistischen Kreisen an verschiedenen Orten weiter laufen. Beide sind weitgehend vom reformierten Pietismus beeinflusst worden und haben vermutlich den gleichen pietistischen Kreisen angehört, über die van de Kamp bei JD2 weitergehende Vermutungen anstellt, so dass seine Biographie von JD2 sehr viel umfangreicher ausfällt als die von JD1. Nur muss man fragen, ob nicht das, was in der Vermutungsbiographie von JD2 mit erstaunlich umfangreichem Wissen angeführt, nicht im gleichen Maße auch bei der Realbiographie von JD1 ausgesagt werden könnte, die für van de Kamp nur deshalb nicht so interessant ist, weil JD1 nicht so viele für den Pietismus interessante Schriften übersetzt hat. Den Vermutungen über die Verbindungen von JD2 zu Pietisten wie Johann Jakob 32

Van de Kamp [s. Anm. 13], 16 Anm. 13.

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Schütz und anderen folgt die Feststellung: „Das gleiche gilt für JD1“. Wenn die weitere „Aufdeckung der pietistischen Bekannten von JD1 und JD2“ verlangt wird,33 werden die beiden in den gleichen Topf geworfen. Man bekommt den Eindruck, dass es sich bei JD1 und JD2 um so etwas wie siamesische Zwillinge handelt. In Anknüpfung an ein bekanntes Werk von Jean Paul kann man van de Kamps auf Vermutungen gestellte Biographie von JD2 eine auch die Existenz einbeziehende Konjekturalbiographie nennen. Neben der Biographie ist die Bibliographie zu untersuchen. Hier begeht van de Kamp die gleiche petitio principii wie bei der Biographie. Unbekümmert darum, dass für den Kasseler Juristen Johannes Deusing keine weiteren Zeugnisse existieren als die mageren Nachrichten in dem Artikel von Strieder, geht van de Kamp von Strieders Angaben der Übersetzungen des Kasseler Juristen Deusing aus, spricht folglich ohne Überlegung die Übersetzungen dreier Schriften Willem Teellincks dem Bremer Kollegen Undereycks ab und schreibt sie JD2 zu. In einer Tabelle aller unter dem Namen Deusing übersetzten Schriften, die van de Kamp auf den Seiten 31 bis 35 mit Kurztiteln angibt, bleibt nur eine einzige dem Bremer Pfarrer Johannes Deusing übrig. Alle übrigen Schriften, insgesamt handelt es sich um 18 niederländische und englische Schriften, sind von JD2 übersetzt worden. Dem Kasseler Juristen JD2 kommt also die eigentliche Bedeutung als Übersetzer pietistischer Schriften zu, während der Bremer Pfarrer JD1, der nur eine niederländische Schrift übersetzt hat, unbedeutend ist. Methodisch wäre es geboten, die unter den Namen Johann Deusing übersetzten Schriften daraufhin zu untersuchen, ob es in ihnen Spuren dafür gibt, dass sie nicht dem Bremer Pfarrer Johannes Deusing zuzuschreiben sind, sondern auf einen anderen Übersetzer, eben auf JD2, hinweisen. Am ehesten wird man das an den Widmungen und Vorreden, die den Übersetzungen beigegeben sind, feststellen können. Der Untersuchung der Widmungen und Vorreden gilt denn auch van de Kamps besondere Aufmerksamkeit. Angesichts seiner Untersuchung der Widmungen und Vorreden halte ich es nicht für notwendig, sie noch einmal durchzusehen, sondern verlasse mich auf seine Angaben. Ich übernehme auch die von van de Kamp gewählten Kurztitel. Statt zu untersuchen, ob es in ihnen Indizien gibt, dass sie von einem anderen als dem Bremer Pfarrer Johannes Deusing stammen, will er mit seiner Besprechung der Widmungen und Vorreden nur zeigen, dass sie allesamt nicht gegen die Verfasserschaft von JD2 sprechen, sondern mit der Verfasserschaft des Kasseler Juristen in Übereinstimmung gebracht werden können. Dass er durch die Heranziehung der Widmungen und Vorreden freiwillig sich selbst widerlegt und die Annahme eines von dem Bremer Pfarrer unterschiedenen Kasseler Juristen Johann Deusing als Übersetzer ganz unwahrscheinlich macht, ist nicht schwer aufzuweisen. 33

Van de Kamp [s. Anm. 13], 24.

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Zunächst widerlegt ihn die zeitliche Reihenfolge der Übersetzungen. Die Widmung zum Soliloquium Teellincks, der frühesten aller Übersetzungen, ist 1671 in Kassel entstanden, die Widmungen der folgenden Übersetzungen Teellincks zum Neuen Jerusalem und zur Klage Pauli 1672 sind in Bremen geschrieben. Dieser Wechsel des Orts erklärt sich leicht aus der Biographie des Bremer Pfarrers Deusing, der bis 1671 in Kassel tätig war, in diesem Jahr mit Undereyck als Hilfsprediger nach Bremen ging und Pfarrer an St. Pauli wurde. Van de Kamp lässt diese zeitliche Folge unbeachtet, wenn er die in Bremen verfassten Vorreden, vielleicht auch die Übersetzung, für die fortwährende Verbindung des Kasseler Juristen zu Bremen anführt, während er erst nachträglich und ohne besondere Beachtung verzeichnet, dass die Vorrede zum Soliloquium 1671 in Bremen entstanden ist. Die zeitliche Folge interessiert ihn nicht. Für van de Kamp ist das ein Beleg für etwas ganz anderes: „Obwohl später in Hessen ansässig, hat JD2 immer eine Verbindung zu Bremen gehalten“.34 Etwas Zweites: Die in Bremen verfassten Vorreden sind Bremer Bürgern und Bürgerinnen gewidmet. Das Neue Jerusalem und Die Klage Pauli sind der Bremerin Elisa Meyer, geborene Hake, gewidmet, der Frau des Bremer Bürgermeisters Heinrich Meyer. Die Widmung des Soliloquiums ist an die St. Martinigemeinde in Bremen gerichtet, an der der Bremer Theologe Deusing 1671 Hilfsprediger war. Das müsste doch ein klares Indiz für den Bremer Theologen Deusing sein. Für van de Kamp ist es ein Beweis, dass der Kasseler Jurist sich nostalgisch auch in der Ferne seiner Bremer Heimat verbunden wusste, und ein Beleg, „dass JD2 auf diese Weise die Übersetzungen über die Grenzen Hessens hinaus zu verbreiten suchte“.35 Um seine Übersetzungen in Bremen bekannt zu machen, muss sich JD2 sogar von Kassel nach Bremen begeben haben. Denn die Vorreden sind in Bremen geschrieben. Etwas Drittes: „Ein Indiz für die guten theologischen Kenntnisse des studierten Juristen JD2 ist, dass er wahrscheinlich des Hebräischen mächtig war“, bemerkt van de Kamp zu einer Widmung, wo bei einer Bibelstelle auf das Wort des hebräischen Urtextes zurückgegriffen wird.36 Nun sind gute theologische Kenntnisse bei Juristen im Umfeld des Pietismus nicht ungewöhnlich, ungewöhnlich sind aber hebräische Sprachkenntnisse bei Juristen. Der studierte Jurist David von Schweinitz und der Frankfurter Jurist Johann Jakob Schütz, der enge Freund Speners, hatten gute theologische Kenntnisse, haben sogar religiöse Schriften verfasst, waren aber des Hebräischen nicht mächtig. Mir ist nur – ein Sonderfall – aus dem 19. Jahrhundert ein Jurist bekannt, der lange nach seiner akademischen Studienzeit, durch seine Verbindung mit der Erweckungsbewegung motiviert, bei einem Kandidaten der Theologie privat Heb-

34 35 36

Van de Kamp [s. Anm. 13], 22. Van de Kamp [s. Anm. 13], 22. Van de Kamp [s. Anm. 13], 24.

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räisch lernte.37 Van de Kamp muss annehmen, dass JD2 nach seinem Jurastudium, vermutlich unter dem Einfluss Undereycks, die hebräische Sprache gelernt hat. Vermutlich hat er sie durch JD1, mit dem er zusammen das Bremer Gymnasium besuchte, gelernt, was wohl der Grund war, dass er 1672 von Kassel noch einmal nach Bremen ging. Man muss diesen Gedanken nur aussprechen, um die Unsinnigkeit dieser Argumentation offen zu legen. Die Hebräischkenntnisse sprechen dafür, dass der Bremer Theologe Verfasser des Widmungstextes war. Schließlich spricht das J.D.B. (= Johann Deusing Bremensis) gegen die Beziehung der Abkürzung auf den Kasseler Juristen. Dabei setzt van de Kamp voraus, dass die Bezeichnung Bremensis den Geburtsort und nicht den Herkunftsort bezeichnet. Das ist aber keineswegs klar. Wenn Johann Fischer die Übersetzung einer Schrift von Richard Baxter mit einem „übersetzt und herausgegeben durch J.F.L.“ (= Johann Fischer Lübeckensis) versieht,38 dann gibt er nicht seinen Geburtsort, sondern seine Herkunft und sein Bürgerrecht in Lübeck an, weil er zu dieser Zeit noch stellungsloser Kandidat in Stade und nicht im kirchlichen Amt war. Während seiner Amtszeit in Sulzbach, Riga oder Magdeburg hat er sich nicht mehr als Lübecker bezeichnet, so wenig Spener sich in seinen Veröffentlichungen als Rappoltsweiler oder Undereyck als Duisburger ausgegeben hat. Der Übersetzer Theodor Haak gibt sich meist als P. = Palatinus an, als Pfälzer, also mit seiner gegenwärtigen Herkunft, nicht mit seinem Geburtsort. Dass sich ein im Kasseler Dienst stehender Jurist mit der Angabe seines Geburtsortes als gebürtiger Bremer auf dem Titelblatt angegeben haben soll, ist schon deshalb undenkbar, weil er, wenn es ihn denn gegeben haben sollte, damit die einzige Karte, mit der er sich von dem ihm gut bekannten Bremer Theologen Johannes Deusing unterscheiden würde, aus der Hand gegeben hätte. Difficile est, satyram non scribere (Juvenal, Satiren I, 30). Van de Kamp mutet uns, wenn er dem Bremer Pfarrer die Vielzahl der Übersetzungen niederländischer und englischer Autoren abspricht, ein sacrificium intellectus zu. Er sollte sich lieber darum bemühen, die Existenz des Kasseler Kanzleisekretärs, Rats und Archivars Johannes Deusing nachzuweisen, was, wenn es ihn denn gegeben hat, aus den reichlich zur Verfügung stehenden Akten des Kasseler Hofes nicht schwer fallen dürfte. An seinem Aufsatz ist einzig interessant, dass Sträters in einer Anmerkung geäußerte Vermutung, dass Deusing die Schriften Baxters nicht aus dem Englischen, sondern aus dem Niederländischen übersetzt hat, bestätigt wird. Sonst ist van de Kamps Beitrag als ein mit viel Einzelwissen durchgeführter Irrweg der Pietismusforschung anzusehen und als Jagd nach einem Phantom.

37 Johannes Wallmann: Von der Erweckung zum konfessionellen Luthertum. Zum 200. Geburtstag von Missionsinspektor Johann Christian Wallmann. In: ZThK 108, 2011, 431–471, hier 441. 38 McKenzie [s. Anm. 21], Nr. 267.

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REZENSIONEN

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Jan Harasimowicz: Schwärmergeist und Freiheitsdenken. Beiträge zur Kunstund Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Matthias Noller u. Magdalena Poradzisz-Cincio. Köln [u. a.]: Böhlau 2010 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte, 21). – XVII, 418 S.; Ill. „Die wichtigste Botschaft dieses Bandes ist die aufrichtige Begeisterung für den Reichtum des schlesischen Kulturerbes der Frühen Neuzeit“ (XV). Diese im Begleitwort nachzulesende Intention spürt man Jan Harasimowicz, Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Renaissance und Reformation an der Uniwersytet Wrocławski, auf jeder Seite seines reich bebilderten Aufsatzbandes ab – und dies mit den besten Aussichten auf Erfolg beim Lesepublikum. In 19 quellengesättigten Studien aus den Jahren 1979 bis 2009, die in fünf thematische Blöcke gegliedert sind, führt er die Leser an die „‚schlesische Seele‘“ (XVI) heran, die er sich selbst in jahrzehntelangen Studien erschlossen hat. Dabei kennzeichnen die Begriffe „Schwärmergeist“ und „Freiheitsdenken“ aus seiner Sicht „zwei fundamentale Elemente der kulturellen Identität Schlesiens in der Frühen Neuzeit“: die unabhängig von der jeweiligen konfessionellen Zugehörigkeit zu konstatierende „Neigung zu Spiritualismus und Mystizismus“ und den „Widerstand gegen alle Versuche der Obrigkeit, Rechte und Privilegien des Landes und seiner politischen Eliten einzuschränken“ (XII). Schon der gewählte Titel zeigt also, dass sich Harasimowicz keineswegs auf rein kunstgeschichtliche Analysen beschränkt, sondern in einem umfassenden Sinn kulturgeschichtlich und somit faktisch interdisziplinär arbeitet: politische, sozial-, wirtschafts-, rechts-, frömmigkeits- und theologiegeschichtliche Aspekte werden ständig einbezogen. Der erste Block unter dem Thema Katholisch – evangelisch – schlesisch. Zur ‚schlesischen Einmaligkeit‘ bietet eine Einführung in die gerade in konfessioneller und daraus resultierend in kunsthistorischer Hinsicht besondere Situation Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Dabei betrifft der aus dem Jahr 1998 stammende Aufsatz Die Glaubenskonflikte und die kirchliche Kunst der Konfessionalisierungszeit in Schlesien (3–26) das 16. und frühe 17. Jahrhundert. Als markantes Charakteristikum der schlesischen Reformation und Konfessionalisierung konstatiert Harasimowicz hier das Anliegen des Bewahrens des vorreformatorischen Erbes, das lediglich „vorsichtig umgestaltet“ wurde (10). So sei gerade die „Kunst in den Dienst einer Legitimierung des Luthertums als des vollberechtigten Erben der christlichen Tradition“ getreten (13). Deutlich greifbar seien „in der Ausstattung und Ausschmückung lutherischer Kirchen“ hingegen „gegen Wiedertäufer und Calvinisten gerichtete[n] Tendenzen“, was der Autor aus der „Unlust“ der Lutheraner, „die Welt zu verändern, und aus dem Willen, den gesellschaftlichen und politischen Status quo zu erhalten“, erklärt (26). Unter Rekurs auf Max Weber interpretiert er diesen Befund als Beispiel dafür, „daß religiöse Konflikte nur dann zu grundlegenden Änderungen im materiellen und ideellen Erscheinungsbild der Kunst führen können, wenn sie zugleich Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Gegensätze sind“ (ebd.). 259 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

In seinem chronologisch anschließenden Überblicksbeitrag über Die Altranstädter Konvention und die Kunstlandschaft Schlesiens um 1700 (27–45) aus dem Jahre 2008 zeigt Harasimowicz, dass es in Schlesien infolge der Altranstädter Konvention zwischen 1707 und 1740 zu einer europaweit beispiellosen „Rivalität der Konfessionen auf dem Gebiet der Kunst kam“ (43). So lässt sich auf katholischer Seite eine „Welle von Stiftungen hervorragender Werke kirchlicher Architektur und Kunst“ feststellen (ebd.). Für das konfessionell-künstlerische Engagement auf evangelischer Seite in diesem Zeitraum stehen insbesondere die neu errichteten Gnadenkirchen – allen voran die Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz in Hirschberg, die „zum Manifest der Beständigkeit und der Macht der evangelischen Kirche in Schlesien“ wurde (35). Zu einer vergleichbaren künstlerisch fruchtbaren Konkurrenz der Konfessionen war es bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts in Reaktion auf die im Westfälischen Frieden zugestandene Errichtung der sog. Friedenskirchen in Glogau, Jauer und Schweidnitz sowie der Grenz- und Zufluchtskirchen gekommen. Der „Zustand permanenter Bedrückung“ habe bei den schlesischen Protestanten zugleich die Verbreitung „mystischer Neigungen“ gefördert und insbesondere in Teschen auch dem hallischen Pietismus Eingang verschafft (33; 37). Hier knüpft die den Überblicksdarstellungen folgende erste Beispielstudie zur Rolle der Zisterzienserklöster in der Bildung der Kulturidentität Schlesiens in der Frühen Neuzeit (46–64) an, die erstmals 1995 in englischer Sprache publiziert wurde. Harasimowicz zeigt, dass die Rezeption der Werke Bernhards von Clairvaux, die die Protestanten aufgrund ihrer Brautmystik und ihrer christologischen Schwerpunktsetzung ansprachen und die ihren Niederschlag in emblematischen Darstellungen fanden, ein die Konfessionen in hohem Maße verbindendes Element darstellte. In diesem Zusammenhang spricht Harasimowicz von einem „durch die Kunst vermittelte[n] interkonfessionelle[n] Dialog“ (64) und konstatiert darüber hinaus bei manchen Vorstehern schlesischer Zisterzienserklöster eine „zweideutige bzw. entschieden pro-lutherische Haltung“ (56). Ein spezifischer Beitrag der Zisterzienserklöster zur kulturellen Identität Schlesiens habe in dem antihabsburgischen Bestreben bestanden, teils symbolisch, teils tatsächlich die Nachfolge des ausgestorbenen Piastengeschlechts anzutreten und mit der Grüssauer Abteikirche und dem angeschlossenen Piastenmausoleum „einen Ersatz für den herzoglichen Hof zu schaffen“ (64). Die beiden letzten Beiträge im ersten Themenblock des Aufsatzbandes aus den Jahren 2008 bzw. 1997 widmen sich der evangelischen Schloßkirche St. Hedwig in Brieg als Zeugnis ständischer Repräsentation der Reformationszeit in Schlesien (65–76) sowie der Haupt- und Pfarrkirche zu St. Elisabeth in Breslau als ‚evangelischem Zion‘ einer multinationalen Metropole (77–89). Einen dezidiert kunst- und architekturhistorischen Schwerpunkt setzt darüber hinaus der vierte Teil des Aufsatzbandes unter dem Motto „Gott zu Ehren, uns allen zum ewigen Gedächtnis“. Zur Architektur und Kunst. Auch hier bietet Harasimowicz unter dem Thema „Paläste der Heiligen Dreifaltigkeit, Werkstätten des Heiligen Geistes“. Die Kirchen der evangelischen Schlesier in der habsburgischen 260 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Zeit (235–261) zunächst eine erstmals 1994 publizierte überblicksartige Einführung. Dabei zeigt er u. a., dass „Raum und Baukörper der schlesischen Kirchen des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts“ „stark von der mittelalterlichen Tradition abhängig“ blieben (242) und dass hinsichtlich der Innenraumgestaltung die Schlosskirche St. Hedwig in Brieg weitgehend das Vorbild darstellte „für die neugebauten oder adaptierten protestantischen Kirchen des schlesischen Adels“ (240). Der protestantische Altar – „‚Epitaph Christi‘“ und „‚sichtbares Wort‘“ – war als „‚Zeugnis des Blutes‘“ das wichtigste Element der liturgischen Trias Altar – Kanzel – Taufstein (244 f.). Zusammen mit der Kanzel als „‚Zeugnis des Geistes‘“ und dem Taufstein als „‚Zeugnis des Wassers‘“ wie auch den biblischen Bildern und Zitaten an Gewölben, Decken, Emporen und Logen bestätigte die Ausgestaltung und Ausstattung der Gotteshäuser „die Legitimität der wichtigsten Handlungen des lutherischen Gottesdienstes“ und verwandelte diese „in eine reale und zugleich wirksame ‚Werkstatt des Heiligen Geistes‘“ (255). Abschließend geht Harasimowicz auf die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts unter gegenreformatorischem Druck entstandenen Friedens-, Grenz- und Zufluchtskirchen ein, bei deren Ausstattung man „der Idee einer Gemeinschaft aller Bekenner des Evangeliums den Vorrang“ gab (ebd.). In der Teschener Gnadenkirche habe man auf ein jesuitisches Raumschema zurückgegriffen und dieses „im Geist“ einer „dem Pietismus gewogenen Frömmigkeit“ verarbeitet: „durch die dicht übereinander liegenden Fensteröffnungen“, die „auf die einander folgenden Stufen der Heilsordnung hinweisen“ sollten, wurde „das Kircheninnere mit einem beinahe mystischen Licht“ erfüllt (260 f.). Die übrigen drei in diesem Themenblock abgedruckten Beiträge zu einzelnen Künstlern und Architekten aus den Jahren 1992, 1980 und 2003 dokumentieren in ihrer Gründlichkeit und Detailtreue beispielhaft das Arbeiten von Harasimowicz in den letzten drei Jahrzehnten (Bernhard Nuiron – ein Brieger Baumeister der Renaissance, 262–270; Caspar Berger – ein Liegnitzer Bildhauer des Manierismus, 271–301; Nicolaus Goldmann Vratislaviensis Silesius – ein Leidener Mathematiker und Architekturtheoretiker des 17. Jahrhunderts, 302–312). Die Publikation dieser Beiträge ist für das deutschsprachige Lesepublikum deshalb von besonderem Wert, weil sie bislang nur in polnischer Sprache vorlagen. Der Beitrag über Berger stellt die mit Abstand älteste Studie im vorliegenden Band dar – entstanden noch vor der Dissertation von Harasimowicz. Hier betätigt sich der Autor bereits als Pionier der Forschung und „versucht zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg eine Charakterisierung der wichtigsten Bildhauerwerkstätten, die im ausgehenden 16. Jahrhundert im nördlichen Niederschlesien arbeiteten“ (271 f.). Dabei geht es ihm insbesondere um die Herausarbeitung der Rolle von Caspar Berger und dessen Werkstatt – auf der Basis zahlreicher vor Ort durchgeführter Studien. Die Themenblöcke zwei und drei widmen sich auf der Basis von Quellen verschiedenster Gattung zwei kultur- und konfessionsgeschichtlich äußerst aufschlussreichen Themen. So geht es im zweiten Teil unter der Überschrift 261 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

‚Blutige‘ und ‚unblutige‘ Märtyrer. Zur Heiligen- und Heldenverehrung um die Rezeption von Heiligengestalten im protestantischen Schlesien. Dabei bietet Harasimowicz im ersten, auf das Jahr 1991 zurückgehenden Beitrag unter der Frage Evangelische Heilige? auch zu diesem Teil eine umfassende Einführung (Die Heiligen in Lehre, Frömmigkeit und Kunst in der evangelischen Kirche Schlesiens, 94–125). Anhand von Einweihungspredigten, Kirchenordnungen, Katechismen, Gebetbüchern, Kirchenkalendern, Traktaten und bildlichen Darstellungen zeigt er das langwierige Bemühen der schlesischen Lutheraner, ein Heiligenverständnis zu vermitteln, nach dem von Gott geschickte Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer als Vorbilder zwar zu achten und nachzuahmen, nicht aber anzubeten seien. Er betont zugleich, dass die „erstaunlich zahlreichen Darstellungen von Evangelisten und Aposteln“ auch für die Reinheit der apostolischen Lehre standen, die das schlesische Luthertum in der Auseinandersetzung mit den radikaleren Strömungen der Reformation betonte (109). Christophorus als der „beliebteste ‚evangelische Heilige‘“ sei als Bild des rechten christlichen Bekenners, starken Gläubigen und „‚Vorbild eines guten Predigers‘“ gedeutet worden (115 f.). Harasimowicz geht davon aus, dass der „andauernde und im Vergleich zu anderen lutherischen Ländern wesentlich größere Stellenwert der Heiligen“ in Schlesien sich zumindest z. T. „durch den Druck der Gegenreformation erklären“ lasse (123). Es sei aber auch zu berücksichtigen, dass die „Hervorhebung einiger Ähnlichkeiten mit dem Katholizismus“ der Distanzierung von Calvinisten und Antitrinitariern dienen konnte (ebd.). Es folgen auch hier Studien zu markanten Beispielen. Die erste stammt aus dem Jahr 1996 und betrifft Die Hl. Hedwig von Schlesien aus evangelischer Sicht (126–142). Harasimowicz verdeutlicht, „wie tief“ insbesondere „das Andenken an die herzogliche Landesmutter und Heilige verwurzelt war, obwohl inzwischen die Reformation in der schlesischen Gesellschaft viel Zustimmung gefunden hatte“ (128). Somit stehe die Heilige Hedwig als Beispiel für die Kontinuität der Verehrung einer populären Heiligengestalt über die Reformation hinaus, die sich erst allmählich von der mittelalterlichen Tradition der Legenda maior absetzte und zu einer eigenständigen evangelischen Interpretation gelangte. Letztere kennzeichnet der Autor im Kern als eine Art Heldenverehrung: Hedwigs Leben wurde „vom Standpunkt universal begriffener Tugenden und Verdienste für die Heimat“ erklärt (140). Sie avancierte „beinahe bis zur preußischen Staatsheiligen“ und bildete insofern „eine wichtige und wirksame Grundlage, die konfessionell und national heterogene Bevölkerung Schlesiens schrittweise zusammenzuführen“ (141). Als ein weiteres Beispiel für die schlesische evangelische Heldenverehrung untersucht Harasimowicz im folgenden Beitrag Herzog Johann Christian von Brieg – ein unbeugsamer Fürst (143–155). Faktisch geht es in dieser Studie aus dem Jahr 2002 um eine Interpretation von Die „Europäische Allegorie“ von Bartholomäus Strobel dem Jüngeren im Museo del Prado in Madrid. Harasimowicz stellt fest, dass das 1640 bis 1642 geschaffene Bild von einem herrlichen Festmahl, 262 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

an dem wichtige Persönlichkeiten des damaligen Europa teilnehmen und bei dem der Kopf Johannes des Täufers auf einer Schüssel unbeachtet hereingetragen wird, als „erschütternde Allegorie des Schicksals, das dem schlesischen Herzog Johann Christian von Brieg und dem gesamten schlesischen Land nach dem durch den sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. und Kaiser Ferdinand II. im Jahr 1635 abgeschlossenen Separatfrieden zuteil wurde“, zu lesen ist (151). Es handelt sich also um ein „Schlüsselgemälde zur politischen Lage des Landes nach 1635“ (XI) und zudem um „die einzige Schöpfung der schlesischen bildenden Kunst vor Mitte des 17. Jahrhunderts, das dem Niveau der schlesischen Literatur der Zeit gleichkommt“ (155). So erklärt es sich, dass der zentrale Ausschnitt des Bildes mit dem Kopf Johannes des Täufers bzw. Herzog Johann Christians von Brieg auch auf der vorderen Umschlagseite des Buches zu sehen ist. Auf einem pluralen Quellencorpus basiert auch der dritte Teil des Bandes unter dem Thema ‚Der sanfte Tod‘. Zur ars moriendi und pompa funebris. Die drei hier abgedruckten Aufsätze stammen aus den Jahren 1992 bis 1994 – dokumentieren also eine konkrete Periode in Harasimowicz’ Schaffen. Der erste Aufsatz unter dem Thema Tod, Begräbnis und Grabmal im Schlesien des 16. und 17. Jahrhunderts (159–193) bietet unter Rekurs auf die lutherische Arsmoriendi-Lehre einen umfassenden kulturgeschichtlichen Überblick zum Umgang mit Sterben, Tod und Begräbnis in Schlesien am Beginn der Frühen Neuzeit. Als „größte Abweichung von der katholischen Begräbnispraxis“ konstatiert Harasimowicz hier „die Bestattung totgeborener, ungetaufter Kinder mit vollständigen Zeremonien“ und die zahlreichen von dieser Praxis zeugenden Grabplatten und Epitaphien für totgeborene Kinder in Schlesien (179). Zum charakteristischsten Element protestantischer Begräbnisordnungen sei die Leichenpredigt als Kern der Zeremonie avanciert, die in publizierter Form als „überaus nützliche ‚Todesschule‘“ galt und zur Lektüre empfohlen wurde (183). Grabdenkmale mussten den doppelten Zweck ständischer Repräsentation und der Darstellung des Verstorbenen als eifrigem Christen gerecht werden. Im Weiteren kombiniert der Autor in diesem Themenblock eine Untersuchung anhand von Kirchenordnungen und Leichenpredigten zu sich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts herausbildenden evangelischen Begräbnisritualen (Der evangelische Begräbnisritus der Frühen Neuzeit in Schlesien, 194–213) mit einem kunstgeschichtlichen Beitrag über Schlesische Epitaphien und Grabmäler der Reformationszeit als ‚Texte der Kultur‘ (214–231). Letzterer lag bislang nur in polnischer Sprache vor. Hier zeigt Harasimowicz, „daß es hauptsächlich Pfarrer waren, die die Wahl von bildlichen Darstellungen und Inschriften trafen, die auf Särgen, Trauerfahnen, Grabmälern und Epitaphien angebracht wurden“ (224). Allerdings habe dies dem Geistlichen „nicht einmal einen Bruchteil des Ruhms, den er nach dem Vortrag einer Trauerrede erntete“, eingebracht – zumal wenn diese auch publiziert wurde (ebd.). Deshalb galten die „‚Papierdenkmäler‘“ als ‚lebendige Texte‘ im Gegensatz zu den ‚toten Texten‘ 263 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

der Funeral- und Grabkultur (ebd.). Insgesamt konstatiert Harasimowicz, dass die Epitaphien und Grabdenkmäler der ersten Generation der schlesischen Lutheraner die Botschaft transportierten, „die bestehende Weltordnung nicht nur [zu] ‚bewahren‘, sondern gar in ihr [zu] ‚verharren‘“ (231). Der fünfte und letzte Block unter dem Titel Zusammenarbeit und Rivalität. Zur schlesisch-polnischen Nachbarschaft bietet ausschließlich Beiträge, die ab dem Jahr 2000 entstanden sind. Hier handelt es sich thematisch also um ‚das jüngste Kind‘ von Harasimowicz, einsetzend mit einem umfassenden Forschungsbericht aus dem Jahr 2002 unter dem Titel Die schlesisch-polnischen Beziehungen im 16. und 17. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der Forschung (315–330). Darin spricht der Autor die Beziehungen „zwischen den Obrigkeiten und Behörden beider Länder“ (315), zwischen den jeweiligen Ständevertretungen wie auch schlesischen Herzögen und polnischen Magnaten, Adelsvertretern und privilegierten Städten sowie „die allgemeinen Probleme beider Gesellschaften in vergleichender Perspektive“ als notwendige Betrachtungsebenen an (318). Als vierte Ebene benennt er die Geschichte der christlichen Kirchen aller Konfessionen in Schlesien – auf dem Hintergrund der Beobachtung, dass gerade deutsche Forschungen die schlesisch-polnischen Beziehungen an dieser Stelle weitgehend marginalisiert hätten. Die fünfte Ebene betreffe den weit gefassten „Kulturbegriff“: „von der Architektur und den bildenden Künsten, über Musik und Theater, bis hin zu Literatur, Verlagswesen, Wissenschaft und Bildung“ (324). Im Blick auf die Forschungsgeschichte konstatiert Harasimowicz eine mehr oder weniger deutliche Abhängigkeit „von den Schwankungen der politischen Konjunktur“ (326). Konkret benennt er nach einer weitgehend objektiven Auseinandersetzung der deutschen Geschichtsschreibung mit den schlesisch-polnischen Beziehungen im 18. und 19. Jahrhundert einen Objektivitätsverlust seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Auch die polnische Seite sei „nicht gänzlich frei von propagandistischem Eifer“ gewesen (327). Erst seit den 1970er Jahren habe sich in länderübergreifendem Dialog eine Schlesienforschung etabliert auf der Basis der „Überzeugung, daß die jeweils andere Seite weder zu ‚germanisieren‘ noch zu ‚polonisieren‘“ sei (328). Im Weiteren bietet Harasimowicz im fünften Themenblock drei konkrete Beiträge zu diesem Dialog, wobei der erste unter dem Thema Valentinus Orpiszewski von Koschmin – ein schlesischer Priester aus der Zeit der tridentinischen Erneuerung der Kirche (331–341) erstmalig 2002 in polnischer Sprache und der zweite mit dem Titel „Etsi daremus non esse Deum“. Irenische und pazifistische Ideen unter den Exil-Schlesiern in Danzig während des Dreißigjährigen Krieges (342–352) zuvor 2009 in englischer Sprache publiziert wurden. Mit seiner letzten Studie zu diesem Themenbereich und somit auch in diesem Band unter dem Thema Die ‚nahe‘ und ‚ferne‘ Vergangenheit in den ständischen Bildprogrammen der Frühen Neuzeit. Schlesien und Großpolen im historischen Vergleich (353–373) leistet Harasimowicz ausdrücklich einen Beitrag zur „Frage nach Inhalt und gesellschaftlicher Funktion der Kunst im 15. bis 18. Jahrhundert“ (353) und somit zu dem aus seiner Sicht nach wie vor defizitären Dialog zwischen Kunsthistorikern und 264 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Historikern. Genauer fragt er auf der Basis bildlicher und wörtlich-bildlicher „‚Kulturtexte‘ (‚Programme‘)“ und unter Einbeziehung der „neuesten Ergebnisse der kunsthistorischen Hermeneutik“ nach der Rolle der „‚Konstruktion der Vergangenheit‘ im Entwicklungsprozess der Ständeidentität der ostmitteleuropäischen Gesellschaften in der Frühen Neuzeit“ (355). Dabei konstatiert er „eine gewisse Diskrepanz, was die Haltung Schlesiens und Großpolens zur ‚nahen‘ und zur ‚fernen‘ Vergangenheit anbetrifft“, die „zugleich die jeweils unterschiedlichen Mechanismen der ständischen und regionalen Identität in beiden Ländern“ veranschauliche (370). Den schlesischen Fürsten von Liegnitz und Brieg, die direkte Nachkommen der ersten polnischen Herrscher gewesen seien, sei es gelungen, die „‚ferne‘ und die ‚nahe‘ Vergangenheit zu einem Kontinuum piastischer Herrschaft in Schlesien“ zu verbinden und „aus ihren polnischen Wurzeln ein Identitätsfundament der schlesischen Ständegesellschaft, die sich gleichsam als konfessionelle Opposition gegenüber den Habsburgern verstand“, zu bilden (371). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sei der Piastenmythos dann in Großpolen wieder aufgelebt und „zum Katalysator der nun freilich nicht mehr ständischen, sondern bereits nationalen Identität“ geworden – manifestiert in der Goldenen Kapelle am Posener Dom (373). Die eingangs benannte wichtigste Botschaft des Bandes, die „Begeisterung für den Reichtum des schlesischen Kulturerbes der Frühen Neuzeit“ ist also – so kann man resümieren – faktisch nicht seine einzige. Was die hervorragend recherchierten und quellennah gearbeiteten Studien auch transportieren, ist die Botschaft, dass es eben der interdisziplinäre Ansatz ist, der historischen Situationen und Konstellationen in einem breiten kulturgeschichtlichen Sinn erheblich authentischer auf die Spur zu kommen vermag, als eine einzelne Disziplin das leisten kann. Das Faszinierende am vorliegenden Band ist die Transparenz für den von Harasimowicz in dieser Hinsicht beschrittenen Weg, auf den er seine Leserinnen und Leser gewissermaßen mitnimmt. Damit in enger Verbindung steht der dezidiert wertungsfreie, überkonfessionelle Blickwinkel: „Dialog der Konfessionen in der Kunst“ nennt Harasimowicz das, was ihn schon seit der Abfassung seiner Magisterarbeit in den frühen 1970er Jahren in besonderer Weise interessiere (XII). Dieser Blick auf das Mit- und Gegeneinander der Konfessionen ist kein Euphemismus, sondern eine an den Realitäten der ‚schlesischen Einmaligkeit‘ geschulte Einstellung, die traditionell verstellte Horizonte öffnet. Und diese Öffnung korrespondiert wiederum eng mit einem ebenso wertungsfreien transnationalen Blickwinkel. Das betrifft in diesem Band explizit die schlesisch-polnischen Beziehungen, implizit und in Verbindung mit der Auseinandersetzung zwischen den Konfessionen aber immer wieder die polnisch-deutschen Beziehungen. Dabei darf man nicht übersehen, dass der Aufsatzband selbst eine Frucht langjähriger interdisziplinärer deutsch-polnischer Zusammenarbeit ist. Äußeres Zeichen dessen ist die Tatsache, dass er als 21. Band in den Neuen Forschungen zur Schlesischen Geschichte, einer 1992 begonnenen, von dem Historiker Joachim Bahlcke herausgegebenen Schriftenreihe des Historischen Instituts der Univer265 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

sität Stuttgart erschienen ist. Anliegen dieser Reihe ist es, so Herausgeber Bahlcke, „in Zukunft verstärkt Editionen, Monographien und Sammelbände“ von Wissenschaftlern aus Ostmitteleuropa zu publizieren, deren in der jeweiligen Muttersprache erschienene Arbeiten „im deutschsprachigen Raum unverändert selten wahrgenommen werden“ (VIIf.). Mit dem Aufsatzband von Harasimowicz öffnet sich die ursprünglich auf politik-, religions- und gesellschaftliche Themen ausgerichtete Reihe zugleich nicht nur der Kunstgeschichte, sondern einem insgesamt stärker interdisziplinären Ansatz. Hinsichtlich der Druckvorbereitung verdankt sich der hervorragend redigierte Band einer fast zweijährigen Kooperation zwischen Mirjam Mayer und Matthias Noller aus Stuttgart sowie Magdalena Poradzisz-Cincio, Aleksandra KijaczkoDereń und Agata Janiszewska aus Wrocław. Letztere hat die hervorragenden Übersetzungen aus dem Polnischen geleistet. Nicht zuletzt ist der Band eine Würdigung des Autors selbst – im Jahr seines 60. Geburtstages und der Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde durch die Theologische Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seine im Anhang des Bandes abgedruckte Liste ausgewählter Schriften für die Jahre 1979 bis 2010, aus denen die vorliegende Sammlung eine Auswahl darstellt, umfasst 147 Titel (374–389). Darüber hinaus sind sein beruflicher Werdegang und seine zahlreichen wissenschaftlichen Verdienste und Würdigungen im Vorwort des Herausgebers nachzulesen (IXf.). Harasimowicz selbst betrachtet es als seinen größten Erfolg, dass es ihm gelungen ist, andere zu selbstständiger Forschung anzuregen. Studierende und Doktoranden in Breslau und Thorn seien es gewesen, die ihm „immer als die wichtigste Kontrollinstanz und als der Personenkreis“ galten, „der die Meßlatte der Anforderungen und Erwartungen immer höher legte“ und dem er zu Dank verpflichtet sei (XVII). So ist der Band letztlich eine Einladung zu Grenzgängen: nach Schlesien und damit zum interdisziplinären, interkonfessionellen und zum polnischdeutschen Gespräch. Und er macht neugierig und gespannt auf die nächsten Forschungsergebnisse, die Jan Harasimowicz und seine Schüler und Schülerinnen vorlegen werden – engagiert für eine Wissenschaft, die sich nicht selbst genügt, sondern letztlich einen aktuellen Beitrag leisten will zu Dialog und Verständigung. Dieses Engagement ist es, was die Arbeiten von Harasimowicz so lebendig macht. Es fordert nicht nur Respekt, sondern regt zum Mitmachen an – und das ist wohl auch so gedacht. Veronika Albrecht-Birkner

266 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Siegen

Bettina Bannasch: Zwischen Jakobsleiter und Eselsbrücke. Das ‚bildende Bild‘ im Emblem- und Kinderbilderbuch des 17. und 18. Jahrhunderts. Göttingen: V & R Unipress 2007 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung, 3). – 381 S.; Ill. Bildung ist nicht nur Vermittlung und Zugewinn von Wissen, Bildung ist nicht nur ein diskursiver Prozess, Bildung bedarf der Bilder. Seit Johann Amos Comenius ist diese fundamentale, medienhistorisch wie anthropologisch bedeutsame Einsicht in ihrer kulturellen, pädagogischen und nicht zuletzt ästhetisch-literarischen Reichweite in den Bildungsauffassungen bewusst. Die vorliegende Studie (zugleich Habilitationsschrift an der FU Berlin 2005) untersucht im Blick auf Gedächtnistheorien, Medienverständnis, Bild-, Einbildungsund Bildungsauffassungen, wie sich dieser epochale Umbruch um 1700 in überaus vielschichtiger Weise zeigt und wie er sich in den weiteren Entwicklungen des 18. Jahrhunderts auswirkt. Bettina Bannaschs materialreiche Studie zeichnet dabei in differenzierter Weise und zugleich in einer großen klaren Linie nach, wie sich Bild-Text-Verhältnisse, die paradigmatisch für das Emblem sind, in Illustrationen von Texten verwandeln. Der Kultur- und Medien-Geschichte der so bedeutenden wie folgenreichen Aufwertung und Durchsetzung des Leitmediums Literatur bis um 1800 wird damit eine aspektreiche und wichtige Konkretisierung gegeben, die zugleich hilft, neue Fragen aufzuwerfen. Denn warum wird dieser Wandel von Bild-Text-Verhältnissen nicht einfach nur als ein Bedeutungswandel oder als eine textuelle, rhetorische oder kulturelle Transformation aufgefasst, sondern als ein Bedeutungsverlust erfahren, der in der Ausdifferenzierung des literarischen Marktes mit Abwertungsprozessen einhergeht? Warum geht dabei der charakteristische Status eines exemplarischen Produkts frühneuzeitlicher Gelehrtenkultur nicht einfach nur verloren, sondern findet sich schließlich in didaktisch eingesetzten Illustrationen im Medium des Kinderbuchs wieder? In den veränderten Darstellungsweisen und ihrem Stellenwert zeigt sich somit ein tief greifender kultureller und mentalitätsgeschichtlicher Wandel. Und, von diesem ausgehend, die Frage: Inwiefern schließlich lässt sich an diesen Prozessen und an den konkreten Beispielen tatsächlich noch eine Literatur- und Kulturgeschichte der Aufwertung der Sinnlichkeit im 18. Jahrhundert und einer kontinuierlichen Entfaltung der ästhetischen, medialen und anthropologischen Leistungen der Einbildungskraft, eines Siegeszugs von Fantasie und Imagination festmachen? Die klar gegliederte und gut lesbar geschriebene Studie Bannaschs zeichnet den Wandlungsprozess des ‚bildenden Bilds‘ vom emblematischen, sinnvollen Welt-Ausdruck zum nützlichen Bildungsmittel im Verarbeiten kindlicher Welt-Eindrücke in sieben Schritten detailliert nach. So wird im 1. Kapitel (Die Welt als Bilderbuch, 35–71) an den zentralen Emblemtheoretikern Justus Georg Schottel und Georg Philipp Harsdörffer herausgearbeitet, wie sie mit den Verweisen auf Naturallegorese und Hieroglyphik versuchen, „die Nähe 267 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

der emblematischen Bildersprache zur göttlichen Bildersprache zu behaupten“ (32). Die weitere Entwicklung sieht dann zuerst eine Kritik der äußeren Bilder, die in ihrer sinnlichen Anschaulichkeit problematisch erscheinen, wie das 2. Kapitel (Die Diskreditierung des äußer(lich)en Bildes, 73–108) ausführt, um dann in einem weiteren Schritt auch die inneren Bilder zu erfassen. So zeigt das 3. Kapitel (Kritik der inneren [Vor-]Bilder, 109–142), dass das „durch das ‚malende Wort‘ hergestellte innere Bild [. . .] zunehmend eine moralische und schließlich auch eine ästhetisch begründete Überlegenheit gegenüber dem inneren Bild [gewinnt], das durch das äußerliche Bild vermittelt über die Einbildung hergestellt wird. Insbesondere die frühpietistische Konzeption des ‚lebendigen Wortes‘ trägt dazu bei, dass die anschauliche Rede schließlich dem ‚bildenden Bild‘ vorgezogen wird. Die als äußerlich diskreditierte Bildlichkeit der emblematischen Pictura wird durch die Sprache, durch Metapher und Allegorie ersetzt.“ (32 f.) Aber die emblematische Pictura gerät auch in anderen Hinsichten unter Rechtfertigungsdruck. So wird ihre genuin visuelle Leistungsfähigkeit gegenüber dem bewegten Bild des Theaters als beschränkt erfahren, wie das 4. Kapitel (Die emblematische Pictura als ‚Bild‘, 143–183) zeigt. Und auch im Hinblick auf die mnemonischen und didaktischen Möglichkeiten der emblematischen Pictura (5. Kapitel: Emblematik und Mnemonik, 185–221) tragen die sich wandelnden Bildungsauffassungen zu einer moraldidaktischen Funktionalisierung bei, bei der „die ‚unmittelbare‘ Wirksamkeit der emblematischen Pictura [. . .] eine ethisch begründete Aufwertung erfährt, die sich mit dem moraldidaktischen Anspruch der Gattung verknüpfen lässt. [. . .] Aus einem kostspieligen (Herzens-)Bildungsmittel für gelehrte Erwachsene wird ein mit dem Buchdruck erschwingliches Erziehungsmittel für Kinder“ (34; vgl. dazu das 6. Kapitel: Das Emblembuch als Bilderbuch für Kinder, 223– 259). Die weitere Entwicklung von der emblematischen Pictura zur Buch-Illustration ergibt sich im 7. Kapitel dann ganz folgerichtig als umfassender und prinzipieller „Funktionswandel der Pictura“ (261–293). Bild- und Bildungsauffassungen zeigen dabei eine wechselweise aufeinander bezogene und wechselweise einander bedingende Entwicklung. In ihr „bezieht sich der Bildungsbegriff auf die Bedeutungsvariante des Bildes als imago im Sinne von Bild, Abbild, Ebenbild; im 17. Jahrhundert gewinnt sie durch die pietistische Lektüre der Schriften der mittelalterlichen Mystiker eine neue und neuartige Aktualität. Die zweite Bedeutungsvariante meint imitatio im Sinne von Nachbildung. Zum Dritten heißt Bildung auch forma im Sinne von Gestalt und formatio im Sinne von Gestaltung“ (295). Wie sich dieser Differenzierungsprozess von Bild und Bildung im pietistischen Kontext konkretisiert, führt Bannasch an der besonderen pietistischen Wertschätzung des ‚lebendigen Wortes‘, der Verlebendigung der Schrift im Glauben, aus: 268 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Jenseits der moralischen Abwertungen der Augenlust, denen aus guten – nicht zuletzt marktbedingten – Gründen gerade in Emblembüchern oftmals entschieden widersprochen wird, erfolgt mit der Auffassung vom lebendigen Wort eine weit wichtigere Akzentverschiebung. Das durch das Wort in Gang gesetzte Bildungsverfahren wird mit produktiver Bewegung, das mit der emblematischen Pictura bewerkstelligte Einbildungsverfahren mit unproduktiver Starre verknüpft. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich etablierende Bildungsbegriff, der mit einer Prozessualisierung der Einbildung zur Einbildungskraft einhergeht, distanziert sich vom prägenden Bildeindruck der Emblematik. Er trägt maßgeblich zum Bedeutungsverfall der emblematischen Pictura bei. (139 f.)

So zeigen sich die Prozesse der Durchsetzung der Literatur als eines neuen Leitmediums im 18. Jahrhundert sowie das Entstehen eines neuen Bildungsbegriffs in einer Weise verknüpft, dass dabei das konkrete Bild im Blick auf die literarisch produktive Einbildungskraft in den Hintergrund der Bildungsdebatten tritt – einem Hintergrund, aus dem es erst in den medialen Umbrüchen der vergangenen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wieder stärker hervorgetreten ist, um die Frage aufzuwerfen, was denn heute das ‚bildende Bild‘ ist. So gewinnt die verdienstvolle Studie Bannaschs aus der Rekonstruktion eines historischen Problemzusammenhangs auch einen ganz aktuellen Ertrag. Lothar van Laak

Bielefeld

Geschichte des Pietismus. Band 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. – 826 S.; Ill. Im zweiten Band der Geschichte des Pietismus wird der Pietismus in seiner deutschen, europäischen und nordamerikanischen Ausstrahlung in den Blick genommen. Die 18 Beiträge differieren sowohl in ihrem Umfang als auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Durchdringung des jeweiligen Themas teilweise erheblich. In formaler Hinsicht ist v. a. auf eine gewisse Uneinheitlichkeit bei der Schreibung von Personennamen hinzuweisen, die manches Mal den Lesefluss stört. So verwundert die unterschiedliche Schreibweise mancher Namen, wie Horch oder Horche (203), der sogar auf ein- und derselben Seite unterschiedlich geschrieben wird (593). Auch die Uneinheitlichkeit in der Schreibweise von Eben-Ezer (347) neben Ebenezer (302) ist überflüssig. Ebenso störend ist es, dass manche Namen bei der Erstnennung keinen Vornamen beigefügt bekamen (628) und dass manchmal die Lebensdaten in Klammern dazu geschrieben werden (578), oft aber auch nicht. Dies alles ist zwar nicht gravierend, stört aber unnötigerweise. Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag von Dietrich Meyer über Zinzendorf und Herrnhut (5–106). M. zeichnet zunächst den Lebensweg Zinzendorfs 269 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

nach und beleuchtet anschließend die Gründung Herrnhuts 1727 sowie deren internationale Missionsarbeit. Da der Vf. seine Ausführungen, inklusive zweier zusätzlicher Kapitel zum 19. und 20. Jhd., kürzlich erweitert publiziert hat, sei an dieser Stelle auf die Rezension im vorliegenden Band von PuN verwiesen. Der zweite Beitrag, Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert von Hans Schneider (107–197) bietet einen anschaulichen Überblick über die verzweigten Spielarten des Pietismus. Der Vf. verweist darauf, dass innerhalb des radikalen Pietismus erstmals im 18. Jhd. feste Gemeinschaftsformen entstanden. Er geht auf die zunehmende Distanzierung des hallischen Pietismus von den Radikalen ein, je stärker ersterer zu einer kirchlichen Bewegung avancierte. Hinsichtlich einer zeitlichen Einordnung stellt S. fest: „Die Blütezeit nicht nur der radikalpietistischen Literaturproduktion, sondern auch des radikalen Pietismus an sich war spätestens um 1740 vorbei.“ (110) Die dafür ursächlichen Gründe hätten allerdings, bei aller Schwierigkeit einer distinkten Ursachenbenennung, noch deutlicher benannt werden können. Anhand zentraler Vertreter des radikalen Pietismus (Ehepaar Petersen, J.H. Horch, S. König) wird der radikale Pietismus in personengeschichtlicher und in geographischer (Wittgenstein, Wetterau) Perspektive in den Blick genommen. Dabei werden auch einzelne zeitgenössisch Aufsehen erregende Gruppierungen wie die Buttlarsche Rotte oder die Schwarzenauer Neutäufer vorgestellt, wobei letztere nicht nur die erste radikalpietistische Gemeindegründung darstellten, sondern überdies auch noch bis heute besteht (Church of the Brethren). Prophetische Einzelgänger wie J. Tennhardt, J.G. Rosenbach, J.M. Daut und C.A. Römeling werden ebenso vorgestellt wie einige der Inspirierten, die durch ihre Zuckungen und Bußrufe vielfache Aufmerksamkeit auf sich zogen und von vielen Pietisten ob ihres Gebahrens sehr kritisch betrachtet wurden. Über die nur kurz angesprochenen Offenbarungen der den Inspirierten nahe stehenden Bäckerstochter Anna von Büchel hätte man allerdings mehr ausführen können (152). Der weiten Verbreitung seiner Schriften und seines Einflusses entsprechend wird J.K. Dippel in einem eigenen Unterkapitel behandelt. Mit einem Blick auf Frankfurt/Main und Berleburg endet dieser, um einen resümierenden Rück- und Ausblick ergänzte, kenntnisreiche Beitrag, der m.E. immer noch als Standardlektüre zum radikalen Pietismus jederzeit mit Gewinn herangezogen werden kann. Einen geographischen Zugang wählt Friedhelm Ackva in seinem Beitrag über den Pietismus in Hessen, in der Pfalz, im Elsaß und in Baden (198–224). Wenig plausibel erscheint, warum trotz einleitender Erörterungen („In der Kurpfalz konnte der Pietismus noch weniger Fuß fassen als in Hessen.“ [211]; „Im lutherischen Straßburg, dem Studienort Speners, konnte der Pietismus weder an der Universität noch in der Pfarrerschaft bleibende Bedeutung erlangen“ [214]) diese Gebiete trotzdem in die Betrachtung aufgenommen worden sind. Stattdessen hätte man mehr Platz für den Pietismus in Hessen und Baden, der auf weniger als 15 Seiten gedrängt dargestellt wird, einräumen sollen. Den geographischen Blickwinkel ergänzt Martin Brecht um den „württem270 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

bergische[n] Pietismus“ (225–295). Sehr detailliert beleuchtet der Vf. damit dasjenige deutsche Gebiet, das so intensiv vom Pietismus geprägt worden ist wie kein anderes. Die politischen Rahmenbedingungen werden ebenso untersucht wie führende Vertreter (u. a. S. Urlsperger) und die Auseinandersetzungen mit den Radikalpietisten (v. a. in Stuttgart und Calw). Anschließend werden J.A. Bengel und sein weitverzweigter Schülerkreis näher betrachtet. Ausführlich wird in diesem Kontext F.Chr. Oetinger, der neben Bengel die zweite zentrale Gestalt des württembergischen Pietismus darstellt, beleuchtet. Eine Vorstellung seiner Schüler sowie ein kurzer Ausblick runden diesen für die Geschichte des württembergischen Pietismus grundlegenden Beitrag ab. Der erste von zwei Beiträgen von Horst Weigelt, hier zunächst über den Pietismus in Bayern (296–318), zeichnet sich gleich zu Beginn durch einen gelungenen Einstieg aus, der die „vorbereitende[n] Kräfte und Strömungen des Pietismus“ analysiert. Der von Spener beeinflusste, sich hauptsächlich in den Reichsstädten konzentrierende Pietismus wird als erstes vorgestellt (in der vorletzten Zeile auf Seite 297 muss es „Ende des 17. Jahrhunderts“ heißen). Anschließend wird der Einfluss des hallischen Pietismus auf Bayrisch-Schwaben angesprochen, um sodann auf den Einfluss Herrnhuts einzugehen. Eine kleine Detailkritik sei angemerkt: Beim vorgestellten Johann Porst (303) hätte man das von ihm herausgegebene, bis 1780 nicht nur in Berlin weithin gebrauchte Gesangbuch erwähnen sollen, um die Bedeutung dieses später in Berlin wirksamen Theologen präziser fassen zu können. Wichtig ist zwar der Hinweis, dass der radikale Pietismus in Franken und in Bayrisch-Schwaben deutlich größere Bedeutung erlangte als der kirchliche (309), die Gründe dafür hätten allerdings zumindest thesenartig erläutert werden sollen. In seinem zweiten Beitrag untersucht Brecht unter dem Titel Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts – seine Ausstrahlung und sein Niedergang (319–357) die Folgewirkungen des hallischen Pietismus. Das Ende des hallischen Pietismus, von Ausläufern abgesehen, auf das Todesjahr G.A. Franckes 1769 zu datieren (319), überzeugt freilich nicht. M.E. waren gerade in Halle (aber auch in Berlin, wie der Streit um das erwähnte Gesangbuch von Porst noch zu Beginn der 1780er deutlich zeigt) die pietistischen Prägungen weitaus länger wirksam, auch in der Breite in der Bevölkerung. Anhand von S.J. Baumgarten beleuchtet B. den Übergang zur Theologie der Aufklärung in Halle und verweist anschließend auf die Disparität der Baumgartenschüler, von denen er im Folgenden einige vorstellt. Dass allerdings der Vf. gerade bei dem von ihm näher betrachteten J.J. Spalding, wegen dessen fehlender Rezeption der arndtschen Frömmigkeitstheologie zu dem Urteil kommt: „Der Abbruch in Theorie und Praxis der Frömmigkeit ist markant“ (334) überzeugt nicht. Vielmehr hat Spalding seine Frömmigkeitspraxis lediglich weniger stark auf Emotionen gestützt, als es im Pietismus teilweise üblich geworden war, gerade auch um einem aus seiner Sicht unsachgemäßen, subjektiven Frömmigkeitsverständnis vorzubeugen. Auch für die erwähnten J.S. Semler und J.A. Nösselt wird man m.E. weniger von einem Bruch mit denjenigen Frömmig271 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

keitstraditionen, in denen sie sozialisiert worden sind (Nösselt lebte sein ganzes Leben in Halle), sprechen können als vielmehr von einer Transformation, welche diese durchlaufen haben. So hielt Nösselt lebenslang an täglicher, intensiver Bibellektüre, häuslichen Erbauungsstunden und – mit Ausnahmen – auch an einer asketischen Lebensweise fest. Den strengen Bußschematismus haben freilich alle drei hier genannten Theologen als antiquiert betrachtet. Anhand weiterer zunächst pietistisch geprägter Theologen (u. a. J.J. Hecker; J.F. Hähn) untersucht B. ferner den Pietismus in Brandenburg-Preußen und in den mitteldeutschen Territorien, wobei er auch auf die zeitlebens als Pietisten wahrgenommenen Berliner Theologen J.E. Silberschlag und K.G. Woltersdorf kurz eingeht (342 f.). Christian Peters Beitrag zum Pietismus in Westfalen (358–371) ist aufgrund von nur acht Seiten Fließtext (und 95 Anmerkungen) leider schlicht zu kurz, um einen aussagekräftigen Eindruck zum Thema zu bieten. Für kurze, verlässliche Informationen zum Pietismus in einzelnen Städten (u. a. Dortmund, Soest, Essen) kann er trotz des eng begrenzten Raumes gleichwohl herangezogen werden. Der unausgewogene Proporz bei der Seitenverteilung wird unmittelbar im Anschluss insofern deutlich, als dem nachfolgenden Beitrag von Johann Friedrich Gerhard Goeters, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, beinahe der vierfache Seitenumfang eingeräumt worden ist (372–427). Der Vf. veranschaulicht, wie Th. Undereyck und F.A. Lampe den Pietismus in Bremen verankerten, wie sich die niederrheinischen Synoden gegenüber dem Pietismus positionierten und skizziert anschließend W. Hoffmanns Aufbau pietistischer Gemeinschaftsformen. Ausführlich wird im Anschluss G. Tersteegen, der wichtigste Vertreter des deutschen reformierten Pietismus, biographisch und werkgeschichtlich vorgestellt. Ein Überblick zu den sich selbst Zionskinder nennenden Mitgliedern der Ronsdorfer Pietisten beschließt diesen Beitrag. Auch wenn er sehr detailliert über den reformierten Pietismus informiert, wird kaum problematisiert, ob und inwiefern einem reformierten Pietismus eigenständige Kennzeichnungen zuzusprechen wären. Manfred Jakubowski-Tiessen skizziert den Pietismus in Niedersachsen (428– 445) sodann in einem konzentrierten Beitrag. Er zeigt u. a. anschaulich, welche Anziehungskraft der radikale Pietismus im Harz auf die Bergleute ausübte, schildert die Blütezeit des Pietismus in Braunschweig-Wolfenbüttel und die aktive landesherrliche Unterstützung des Pietismus in Ostfriesland. Dieser Beitrag zeigt nicht zuletzt, wie fruchtbar eine geographische Zugangsweise zum Phänomen Pietismus sein kann. Einblicke in die internationale Dimension des Pietismus eröffnet derselbe Autor in dem anschließenden Beitrag Der Pietismus in Dänemark und Schleswig-Holstein (446–471). Über pietistisch geprägte Schulleiter wuchs der Einfluss des hallischen Pietismus zu Beginn des 18. Jhd.s in Dänemark rasch an und übte insgesamt, auch durch die Besetzung wichtiger Kirchen- und Regierungsämter mit Pietisten in Dänemark, bis in die zweite Hälfte des 18. Jhd.s einen Einfluss aus, der, abgesehen von einigen deutschen Territorien (Württemberg, Brandenburg-Preußen), bemerkenswert war. 272 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Weniger prägend wurde der Pietismus in Schleswig-Holstein, wo er sich auf die Zentren Flensburg, Husum und Tondern konzentrierte. Eine auffällige Besonderheit des schleswig-holsteinischen Pietismus lag in der späten Entstehung von Konventikeln, die sich erst ab den 1720/30er Jahren bildeten und in der Folge Gegenstand kontroverser Diskussionen werden sollten. Ingun Montgomery stellt den Pietismus in Norwegen im 18. Jahrhundert vor (472–488). Der übersichtlich gegliederte Beitrag beleuchtet die Voraussetzungen des norwegischen Pietismus, seine in drei Phasen (1705–1728/1728–1734/ 1735–1746) unterteilte Entwicklung und rekonstruiert die kurzzeitige Entwicklung zum Staatspietismus unter Christian VI. Anschließend stellt die Vf.n den „Pietismus in Schweden im 18. Jahrhundert“ vor (489 [nicht 490, wie im Inhaltsverzeichnis angegeben] -522). Dieser, i.W. von Halle und dort studierenden schwedischen Studenten beeinflusste Pietismus zeichnete sich zunächst durch seine Nähe zur Staatskirche aus. Unter dem Einfluss J.K. Dippels und zunehmend seit den 1730er Jahren radikalisierte sich ein Teil des schwedischen Pietismus allerdings derart, dass er schließlich per Zwangsedikt von 1735 aufgelöst werden sollte. Die Vf.n konstatiert: „Die Verordnung bedeutete somit einen formalen Übergriff auf die Gewissensfreiheit des einzelnen und auf die persönliche Rechtssicherheit. Zum erstenmal seit der Reformation kommt das Wort ‚Ketzerei‘ in der schwedischen Gesetzgebung wieder zur Anwendung.“ (513) Abschließend zeigt die Vf.n, wie der wachsende herrnhutische Einfluss in Schweden dazu führte, radikaler gesinnte Pietisten mit der Amtskirche auszusöhnen. Pentti Laasonen zeichnet die Entwicklung des Pietismus in Finnland im 17. und 18. Jahrhundert nach (523–541). Insbesondere der radikale Pietismus gewann seit Ende des 17. Jhd. hier größeren Einfluss, aber auch noch für die 1730er Jahre kann von einem separatistischen Jahrzehnt gesprochen werden. Gleichzeitig gingen Pietismus, Orthodoxie und Aufklärung in Finnland eine langanhaltende Synthese sein, die zunehmend von der Absicht, ein praktisches Christentum zu verwirklichen, zusammengehalten wurde. Unter dem unspezifischen Titel Die Frömmigkeitsbestrebungen in den Niederlanden (542–587) benennt Johannes van den Berg einige Voraussetzungen und geht sodann auf einzelne Vertreter einer „voetianisch-pietistischen Tradition“ näher ein. Anschließend werden u. a. zeitgenössisch Aufsehen erregende Ausformungen näher beleuchtet, wie die Anhänger des Laienpredigers Pieter Knabbenhouwer, der seine Konventikel parallel zum Sonntagsgottesdienst abhielt. Der Vf. zeigt ferner, wie nach der Jahrhundertmitte besonders J.K. Lavater und J.H. Jung-Stilling in den Niederlanden einflussreich wurden. Anschaulich zeichnet Rudolf Dellsperger die Geschichte des Pietismus in der Schweiz nach (588–616). Der schweizerische Pietismus, der sich erst gegen Ende des 17. Jhd. entwickelte, fand v. a. in Bern und Zürich seine Zentren. Zuerst trat er als kirchliche Reformbewegung auf, scheiterte allerdings an dieser Aufgabe und vollzog zunächst eine Wendung ins Separatistische, bevor er sich zwischen 1720 und 1730 ins kirchliche Leben integrierte und die Gemein273 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

schaftsbildung förderte. Am Beispiel von F. de Magny zeigt der Vf., wie fließend die Übergänge zwischen einem kirchentreuen und radikalen Pietismus waren (595). Interessant ist auch der Hinweis auf die „Gesellschaft guter Freunde“ die, 1756 gegründet, wesentliche Elemente der „Deutschen Christentumsgesellschaft“ bereits vorwegzunehmen schien (607). Auch wenn in dem Beitrag von Patrick Streiff, Der Methodismus bis 1784/ 1791, gleich zu Beginn explizit erklärt wird, es solle über den Einfluss John Wesleys hinaus der „breitere[] Strom] des Methodismus“ erfasst werden, konzentriert sich die Darstellung trotzdem vorwiegend auf J. Wesley (auf 37 von 40 Seiten dieses Beitrags wird auf ihn eingegangen). Der Einstieg des Beitrags ist gelungen: Präzise wird die politisch-soziale Situation Englands zu Beginn des 18. Jhd.s umrissen, wobei man sich hier durchaus auch den einen oder anderen Beleg gewünscht hätte, so zum angesprochenen „Zenit“ des Deismus in den 1730er Jahren (618). Ausführlich wird die theologische Entwicklung Wesley nachgezeichnet, schwierig erscheint mir dabei der Versuch, Wesleys Bekehrung auf 1725 früh zu datieren, da dafür ausschließlich Wesleys eigene Aussagen als Beleg herangezogen werden. Welcher Art der Eindruck war, den der Besuch Halles auf Wesley ausgeübt hat, hätte außerdem angesprochen werden können (625). Nachfolgend werden die Ausbreitung des Methodismus und die sich daraus ergebenden Konflikte nachgezeichnet, ebenso die äußeren Anfeindungen und die allmähliche Konsolidierung der Bewegung. Die vielfältigen Einwirkungen des Methodismus auf die englische Gesellschaft werden im Anschluss anschaulich dargestellt. Abschließend wird auf die zunehmende Eigenständigkeit des Methodismus bis zu Wesleys Tod 1791 eingegangen. Dieser Beitrag hätte ein sorgfältigeres Lektorat, insbesondere in stilistischer Hinsicht, benötigt. Dafür sei im Folgenden nur ein Beispiel zitiert: „John Wesley tat dies mit Eifer. Viele Zuhörer waren schockiert. Der Zutritt zu den Kanzeln wurde ihm verwehrt.“ (623) Auch fällt auf, dass insbesondere hier eine Uneinheitlichkeit bei der Nennung von Personen, zumal bei deren Erstnennung vorherrscht (628). Einen geschickten Einstieg wählt A.G. Roeber in Der Pietismus in Nordamerika im 18. Jahrhundert (666–699), indem er die Ausprägung des Pietismusbegriffs im Kontext politisch-sozialer Entwicklungen vom beginnenden 17. bis zum 19. Jhd. skizziert. Er verweist darauf, dass im Zuge der Lockerung der Verbindungen zwischen Nordamerika und Europa der Pietismus späterer Jahrzehnte in Richtung einer stärkeren Privatisierung der Frömmigkeit tendierte. Einen grundlegenden Unterschied zwischen nordamerikanischem und europäischem Pietismus sieht R. im Kirchenverständnis: „Anders als in Europa verstanden sich viele nordamerikanische Pietisten zwar nicht als Mitglieder einer staatlichen Kirche, akzeptierten aber eine – wenn auch lockere – Verbindung zwischen dem Interesse des Staates und dem eines wahren Christentums.“ (673) R. beleuchtet die nordamerikanisch-europäischen Kontakte am Beispiel C. Mathers, der Nachrichten über Francke, mit dem er korrespondierte, und den hallischen Pietismus verbreitete und verweist auf das Entstehen einer am 274 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

hallischen Vorbild orientierten Gemeinschaft in Georgia in den 1730er Jahren. Zentrum des nordamerikanischen Pietismus war Philadelphia, wobei seit der Ankunft H.M. Mühlenbergs 1742 die Lutheraner die führende religiöse Bewegung wurden. Bemerkenswert ist auch der Hinweis R.s, dass der nordamerikanische Pietismus „keine dauerhafte Sozialkritik“ (690) hervorgebracht hat, worin sich der „bürgerliche Charakter des Pietismus Nordamerikas“ (692) zeigte. Insgesamt schildert R. die Geschichte des nordamerikanischen Pietismus bündig und präzise, wobei er im Übrigen auf Fußnoten gänzlich verzichtet. Ein kleiner Hinweis sei gleichwohl gegeben: J.J. Spaldings Schrift Gedanken [nicht: Gedancken] über den Werth der Gefühle in dem Christentum wurde 1761 erstmals publiziert (694). Im achtzehnten und letzten Beitrag dieses Bandes untersucht Weigelt den Pietismus im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert (700–754). Er verweist eingangs darauf, dass zentrale Persönlichkeiten, anders als in früheren Jahrzehnten, fehlten, sodass die Bedeutung der Brüdergemeinen und der „Deutschen Christentumsgesellschaft“ stieg. Trotz dieser wichtigen Beobachtung orientiert sich der Beitrag dann allerdings zu 50% wieder an „religiöse[n] Einzelgestalten“ (719–744). Zunächst wird allerdings auf die Missionsarbeit der Herrnhuter näher eingegangen, deren Diasporaarbeit in den 1770/80er Jahren einen Höhepunkt erreichte. Auf die im gesamten Band immer wieder erwähnte „Deutsche Christentumsgesellschaft“ geht W. nachfolgend ausführlicher ein. Er beleuchtet ihre Entstehung und Ausbreitung, ebenso wie ihre theologische Entwicklung. Der Vf. verweist darauf, dass sie ein Desiderat ausfüllte, das insbesondere hallisch geprägte Pietisten empfanden (714), denen eine zentrale Identifikationsfigur fehlte. Auf die nur kurz angesprochene Kritik Berliner Aufklärer an der Christentumsgesellschaft hätte man näher eingehen können (716). Anschließend werden einflussreiche Persönlichkeiten, die auf pietistische Kreise eingewirkt haben, näher in den Blick genommen (u. a. J.K. Lavater; J.H. Jung-Stilling), bevor der Vf. sehr knapp eine sowohl theologie- als auch geistesgeschichtliche Einordnung des späten Pietismus unternimmt. Dieser Beitrag bietet v. a. für künftige Forschungen noch einiges Potential, zumal hinsichtlich der Beziehungen M. Claudius’ zum Pietismus, auf die kurz verwiesen wird (742). Offen bleibt, warum das Ende des Pietismus auf das Jahr 1815 datiert wird; hier wäre eine nähere Erläuterung nötig gewesen. Im Ganzen bietet der zweite Band der Geschichte des Pietismus einen durchaus repräsentativen Überblick zum Pietismus als deutschem und internationalem Phänomen des 18. Jhd.s. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wäre es allerdings wünschenswert gewesen, wenn einige der angesprochenen formalen Uneinheitlichkeiten behoben worden wären. Malte van Spankeren

Münster

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Les piétismes à l’âge classique. Crise, conversion, institutions. Ed. par Anne Lagny. Villeneuve-d’Ascq (Nord): Presses universitaires du Septentrion 2001 (Racines et Modèles). – 380 S. Der Band enthält die Referate eines internationalen und interdisziplinären Kolloquiums, das 1998 an der Universität Charles-de-Gaulle Lille III in Zusammenarbeit mit dem IZP der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg stattfand. Auf zwei Einführungsreferate folgen fünf Beiträge zu den Hauptgestalten und wichtigen Institutionen des deutschen lutherischen Pietismus. In neun Beiträgen werden Kontroversen um den Pietismus, die Verbreitung pietistischer Spiritualität, philosophisch-wissenschaftliche Interaktionen und Kontakte mit zeitgenössischen spirituellen Strömungen beleuchtet. Überlegungen zum Umgang mit dem Begriff und der Sache des Pietismus sowie ein Bericht über die italienische Forschung stehen am Schluss. In der Einleitung stellt die Herausgeberin Anne Lagny fest, die französische Forschung habe am Pietismus bisher ein vorwiegend literaturgeschichtliches Interesse gezeigt, ihn im Gefolge Albrecht Ritschls verstanden und in ihm als einer Form der vita contemplativa ein spezifisch deutsches Phänomen im Unterschied zur vita activa der französischen Aufklärung gesehen. Bedenke man, dass „Bewegung“ für sie mit der Geschichte der französischen Revolution verknüpft sei, und stelle man Frankreichs zentralistische, katholische und laizistische Tradition in Rechnung, so erfordere die Beschäftigung mit dem Pietismus von ihr nichts weniger als einen kulturellen Transfer. Lagny wünscht sich, dass sie nicht bei den Debatten über die Existenz bzw. Nichtexistenz (Jean-Baptiste Neveux) oder das Wesen bzw. den Begriff (Michel Godfroid) des Pietismus stehen bleibt, sondern sich auf ihn als ein Phänomen einlässt, „qui existe bien, puisqu’il a reçu un nom“ (17). Vor dem Hintergrund der Konzeptionen von Albrecht Ritschl und Max Weber und klassischer Arbeiten zu Arndt, Spener, Francke, den Leipziger Unruhen und Arnold stellt Johannes Wallmann die Geschichte der Forschung seit 1964, dem Gründungsjahr der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, dar. Er erinnert an die ursprüngliche, erst zum Teil realisierte Absicht, der Pietismusforschung durch die kritische Edition grundlegender Quellen und monographischer Studien in den Reihen TGP und AGP sowie durch das Jahrbuch PuN ein der Reformationsforschung vergleichbares Gewicht zu geben. Wallmann greift die mit dem Pietismusbegriff unlösbar verknüpfte Diskussion über die Anfänge des Pietismus auf und vermittelt instruktive Einblicke in die Forschung zu Spener, Schütz und Maria Sibylla Merian, zu Francke und dem Halleschen Pietismus, zum Württembergischen und dem Radikalen Pietismus. Die Unterscheidung in einen kirchlichen und einen radikalen Flügel sei für die Geschichte des Pietismus ebenso wichtig wie für diejenige der Reformation. Hartmut Lehmann führt in seinem Beitrag über die religiöse Krise des 17. Jahrhunderts die Analyse weiter, die er 1980 in seinem Absolutismus-Buch zur 276 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

strukturellen Krise der europäischen Gesellschaft und Kultur zwischen 1620 und 1640 und 1720 und 1740 vorgelegt hat. Er plädiert nun für zeitliche und räumliche Differenzierungen und dafür, Symptome nicht nur als Folgen der Krise zu begreifen, sondern auch als Versuche, diese zu überwinden. Als ein Beispiel erwähnt er die Hexenverfolgungen der sog. „kleinen Eiszeit“, bei deren Erklärung Dendrochronologie und Sozialpsychologie zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangt seien. Er stellt anregende Fragen, beispielsweise ob der Triumph des Absolutismus durch sein Krisenmanagement bedingt und ob die Kultur des Barock eine Kompensation der Krise gewesen sei. Lehmann zeigt zudem, wie die mit der Krise verbundene, von der gebildeten Mittelschicht getragene apokalyptische Endzeiterwartung im Pietismus Speners und Franckes und ihrer Nachfolger durch die tätige Hoffnung auf das Reich Gottes überwunden wurde. Er reflektiert die weit reichenden religiös-sozialen und politischen Folgen der kirchlichen Unterwanderung durch das fromme Individuum und das collegium pietatis, weist auf Puritanismus, Jansenismus und Quietismus als andere Versuche der Krisenbewältigung hin und bestimmt in dieser Hinsicht auch Nähe und Distanz des Pietismus zur Aufklärung. Markus Matthias geht der Frage nach, ob Spener als Antwort auf die Herausforderungen seiner Zeit eine spezifische Theologie entwickelt habe. Er zeigt, unter anderem am Beispiel der Kontroverse zwischen Spener und Johann Conrad Dilfeld, wie unterschiedlich Ritschl, Hirsch und Wallmann diese Frage beantwortet haben, und kann anhand von Texten des streng orthodoxen Dogmatikers Philipp Ludwig Hanneken von 1677 und 1678 nachweisen, dass dieser Spener in direktem Gegensatz zum Theologieverständnis der Lutherischen Orthodoxie sah. Spener habe die erkenntnistheoretischen und sozialpolitischen Voraussetzungen der Lutherischen Orthodoxie nicht mehr geteilt und zudem den neuen Frömmigkeitsformen des 17. Jahrhunderts Rechnung tragen wollen, indem er religiöse Erfahrung als für die Schriftinterpretation konstitutiv betrachtete und indem er die Unterscheidung zwischen Theologie und Glaube tendenziell nivellierte. Anne Lagny setzt in ihrer Interpretation von August Hermann Franckes Lebenslauff und Bekehrung eingehende Quellenkenntnis voraus. Sie untersucht den Text, in dem die beiden Gattungstraditionen der Gelehrtenvita und des Bekehrungsberichts nachwirken, auf seine Kohärenz. Der im ersten Teil bestimmende äußere Antagonismus von Wissenschaft und Glaube verlagert sich im zweiten Teil als Gegenüber von raison und coeur ins Innere des Subjekts. In der Erfahrung der Erhörung durch Gott gewinnt das Subjekt, das mit dem Ich im modernen Sinn nicht verwechselt werden darf, eine neue consistance, die es ihm ermöglicht, sich im Wortsinn erneut der Welt zuzuwenden. Udo Sträter zeichnet die Geschichte Halles als pietistischen Zentrums bis zur Zäsur der 30er Jahre nach. Er beginnt mit Franckes Werdegang, fordert aber zu Recht dazu auf, die nach ihm benannten Stiftungen nicht nur als sein Werk zu betrachten, sondern die Mitarbeiter und das weit verzweigte pietistische Netzwerk mit in Rechnung zu stellen. Ein Hauptfaktor bei der Entstehung des 277 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

pietistischen Zentrums Halle war das Miteinander von Universität und Stiftungen, das Francke im Großen Aufsatz als „reciproque Handreichung“ bezeichnet hat. Pietismus und Stiftungen hatten gute Wachstumsbedingungen, einmal im Rahmen der von der Stadt und Ständen unabhängigen Universität und zudem unter der Protektion des Kurfürsten, der sie vor der Opposition der orthodoxen Stadtgeistlichkeit in Schutz nahm. (Die Abfolge der Beiträge Lagny und Sträter im Band ist nachvollziehbar, aber man wird die Seiten 111 bis 113 bei Sträter mit Gewinn vor dem Beitrag Lagny lesen.) Carola Wessel steuert zu Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine eine zuverlässige und informative Einleitung bei, in der sie unter anderem über den Werdegang und die Person des Grafen, die Entstehung der Gemeine, ihre Theologie und Spiritualität, Verfassung und Organisation, Diasporaarbeit und Mission, Pädagogik und Arbeitsethik sowie über ihre Wirkungsgeschichte berichtet. Zum Schluss verwendet sie – es geschieht im Band zum ersten Mal – mit Rücksicht auf die Vielfalt pietistischer Ausprägungen in Anführungsstrichen den im Titel des Buches verwendeten Plural „piétismes“ (143). Hermann Wellenreuther zeigt die Unterschiede in den Missionskonzeptionen Halles und Herrnhuts auf und macht auf deren weit reichenden Folgen aufmerksam. War die Hallesche Mission in Tranquebar ein Werk von Theologen, für das Abstand zur indigenen Bevölkerung, Konfrontation mit deren Religion und katechetische Belehrung typisch waren, so war ihr Herrnhuter Pendant von Handwerker-Missionaren, von deren Nähe zu den Einheimischen und von der über die Losungen, das Chorwesen und den Festkalender transportieren Unterweisung geprägt. Beide Missionen sahen sich kolonialen Autoritäten gegenüber. Aber während die Missionsgemeinde in Tranquebar zur kolonialen Ortsgemeinde in Konkurrenz stand, waren die Herrnhuter Missionsgemeinden vergleichsweise autonom. Wellenreuther misst solchen environnement-Faktoren für das Profil der beiden Missionen, die bei allen Unterschieden das Interesse an der Kultur ihrer Umwelt teilten, große Bedeutung zu. Ein Spezifikum der Halleschen Mission sieht er im Katechetenamt. Es wurde von Einheimischen (anfänglich von konvertierten Katholiken) in den Dörfern der Region ausgeübt, während sich die Missionare auf erzieherische, zivilisatorische und theologische Aufgaben konzentrierten. Wellenreuther erkennt darin den Hauptgrund für das frühzeitige Ende der Halleschen Mission in Tranquebar – die Halleschen Missionare betrieben nie selber im eigentlichen Sinn Mission, sondern delegierten diese an die Katecheten –, aber auch den Grund für das Überleben des Luthertums in Indien: Das ordentliche Katechetenamt war mit der Zeit so gefestigt, dass es die Krise des Missionarsamts überleben und zum Kern eines autonomen indischen Klerus werden konnte. Anders verlief die Entwicklung in den unselbständigen Herrnhuter Indianergemeinden von Connecticut, Georgia und New York: Mit der Abreise der Missionare verschwanden auch die dortigen Gemeinden. Valerio Marchettis materialreiche Studie über die Lutherische Orthodoxie und den Pietismus ist für den fremdsprachigen Leser aus stilistischen Gründen 278 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

nicht leicht zugänglich, lohnt aber eine mehrmalige Lektüre. Marchettis These lautet: In der Auseinandersetzung mit dem Pietismus als einer Manifestation modernen Denkens ließ sich das deutsche Luthertum, indem es sich eines der Schultheologie ganz oder teilweise fremden argumentativen Instrumentariums bediente, seinerseits auf das Niveau modernen Denkens ein. Die Behauptung von Affinitäten zwischen Formen des Pietismus einerseits und Formen des dogmatischen Indifferentismus, konfessionslosen Christentums, des Deismus, Atheismus, der Aufklärung, des Rationalismus, Pantheismus und Mystizismus andererseits war weder in den Quellen noch im Pietismus selber begründet, sondern war das polemische Konstrukt des (von Rationalismus und Enthusiasmus bedrohten) orthodoxen Interesses an moderner Identität, nicht zuletzt mit dem Ziel, Heterodoxie statt als lehrmäßige Devianz mithilfe der Medizin und der Humanwissenschaften als psychischen Defekt zu diagnostizieren. Rolf Wintermeyer untersucht Adam Bernds 1728 unter dem Pseudonym Christianus Melodius erschienenes Buch Einfluß der göttlichen Wahrheiten in den Willen und in das gantze Leben des Menschen auf seine Bezüge zum Pietismus. Das Werk trug dem Verfasser wegen seiner Kritik an der zeitgenössischen Kontroverstheologie den Vorwurf des Indifferentismus ein, stand mit der Rehabilitation der guten Werke zudem zur Reformation quer und war auch wegen der These von der möglichen Seligkeit der Heiden unzeitgemäß. Bernd, der als Pfarrer an der Leipziger Peterskirche suspendiert wurde, konnte seine seelischen und körperlichen Leiden aber auch nicht auf pietistische Weise in einem einmaligen Durchbruch überwinden, sondern lernte und lehrte sie als anthropologische Phänomene mit Hilfe von Psychologie und Medizin begreifen. Seine Autobiographie passt deshalb, verglichen etwa mit Reitz’ Historie der Wiedergebohrnen, nicht ins Schema pietistischer Lebensbeschreibungen. Jean-Marc Rohrbasser befragt in Person und Werk des Theologen Johann Peter Süßmilch (1707–1767), der in Deutschland die Bevölkerungsstatistik begründete, die entstehende Sozialwissenschaft auf deren Beziehungen zum Pietismus. Süßmilch fand in der Statistik den Hinweis auf Gott, der in seiner Vorsehung nicht nur das physikalische, sondern zum Besten der Menschen auch das soziale Leben lenke. Sein Hauptwerk Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, Tod, und Fortpflanzung desselben erwiesen erschien 1741 und in zweiter Auflage (ohne Bezug zum Erdbeben von Lissabon) 1761/62. Süßmilch war von Leibniz, Wolff und der Physikotheologie beeinflusst, während seiner Ausbildung in Berlin und Halle aber auch von namhaften Pietisten, unter ihnen von August Hermann Francke, geprägt worden. In der Frage, wie Offenbarung und Vernunft miteinander zu vereinbaren seien, ließ er sich eher von Vernunft und Erfahrung als von pietistischer Herzensfrömmigkeit leiten (245). Jaques Sys – er folgt der Pietismus-Konzeption F. Ernest Stoefflers von 1965 – behandelt aufgrund von Grace Abounding of the Chief of Sinners (1666) und The Pilgrim’s Progress (1678) die Spiritualität des Puritaners John Bunyan. Ihr Sitz im Leben ist die auf Wort und Antwort konzentrierte, allein Christus 279 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

verantwortliche mündige Gemeinde. Kennzeichnend für diesen eher narrativen als diskursiven Frömmigkeitstypus sind Bunyans Zeugnisse gläubiger Christen („confessions de foi“), die nach dem Schema (1) Bewusstsein der eigenen Sündhaftigkeit angesichts des drohenden Gerichts, (2) Erkenntnis der Erlösung in Christus, (3) Vernehmen des Rufs und der Rechtfertigung, (4) Umkehr und Neuentdeckung der Welt im Horizont der göttlichen Verheißungen, (5) Bekenntnis und (6) Eintritt in die Gemeinschaft der Heiligen strukturiert sind (268 f., vgl. 272). Eine vergleichbare Struktur, wenn auch hinsichtlich Schriftautorität mit anderem Vorzeichen, findet sich in den religiösen Autobiographien der Quäker aus der Zeit zwischen 1647 und 1660. Dies geht aus Jacques Tuals Beitrag zum illuminisme quaker hervor (284 f.). Tual unterscheidet in der Geschichte der quäkerischen Theologie zwischen dieser ersten, radikalen Phase und der Periode des triumphierenden Quäkertums von 1660 bis 1700, die in Robert Barclays Apology for the True Christian Divinity (1678) ihren gültigen Ausdruck gefunden hat. Er rät aber davon ab, im Quäkertum einen „piétisme avant la lettre“ zu sehen: „Au fond [. . .] la parenté du quakerisme avec le piétisme radical demeure très incertaine“. (294) Roberto Osculati analysiert die Principia et documenta vitae christianae (1673) des Kardinals Giovanni Bona (OCist, 1609–1674), dessen Schriften Gottfried Arnold und August Hermann Francke geschätzt und empfohlen haben. Bona, der an eine lange monastische Tradition anknüpft, unterscheidet drei Arten von Katholiken: Gläubige Jünger, die Christi Lehre und Beispiel befolgen, Scheinchristen, die nur mit dem Mund bekennen und deren Kirchlichkeit bloß äußerlich ist, und Getaufte, deren Leben zum Glauben so klar im Widerspruch steht, dass sie weniger sind als Ungläubige. Das wahre Christentum selbstloser Gottesliebe, für das der Kardinal beim Mönchtum und Klerus seiner Zeit wirbt, ist, so sehr es neben dem Glauben die Natur, die Vernunft und die Geschichte umfasst, nicht Theorie, sondern beruht auf täglicher Praxis und Erfahrung. Ausgehend von ihrem Leben und Bildungsgang, ihren Quellen und ihrer Originalität bringt Jean-Robert Armogathe Madame Guyons quietistische Psychologie über François Malaval zur cartesianischen Physik in Beziehung. Marjolaine Chevallier bestimmt das Verhältnis Pierre Poirets zum Pietismus. Anfänglich von Descartes, der rheinischen Mystik und der Devotio moderna geprägt, wurde er zum Schüler Antoinette Bourignons und Editor spiritualistischer Schriften. In Frankfurt kam er zur Entstehungszeit der Pia Desideria mit Johann Jakob Schütz und vermutlich mit Spener in Kontakt. Ein Vergleich des spenerschen Manifests mit Poirets Oeconomie divine von 1687 ergibt Übereinstimmungen hinsichtlich der Hochschätzung einer verinnerlichten, gelebten Frömmigkeit und der Abwertung der Kontroverstheologie, nicht jedoch hinsichtlich der Bedeutung der Bibel. Mit dem Pietismus in Verbindung gebracht wurde Poiret anlässlich des Falls Horb in Hamburg und anlässlich der auch gegen ihn gerichteten Attacken des Tübinger Theologen Johann Wolfgang 280 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Jäger von 1709. Nach Chevallier sollte man in Poirets Fall nicht von „mystique quiétiste“ oder „piétisme quiétiste“ sprechen. Sie sieht Poiret auf der Linie einer ökumenischen Herzensfrömmigkeit, wie sie auch vom Pietismus vertreten wurde. Laurence Devillairs ermittelt den Stellenwert von Pietismus und Quietismus in Gottfried Wilhelm Leibniz’ Denken. Leibniz hatte ein kritisches Verhältnis zu beiden Strömungen, die er hinsichtlich ihrer negativen Folgen miteinander identifizierte: Er zählte Weigelianer, Böhmisten, Quäker, Quietisten und Labadisten zusammen und stellte ihrer in seinen Augen einseitig gefühlsbetonten Religiosität sein metaphysisches und optimistisches Konzept der wahren Liebe zu Gott und zum Nächsten entgegen. Der (immer im weiten Sinn verstandene) Pietismus konnte sich nach ihm nicht auf das Urchristentum berufen, weil er im Unterschied zur evangelischen Einfachheit Theorie und Praxis nicht miteinander verband, sondern trennte, indem er sich der Ergänzung der Lehre Christi durch die Erkenntnis natürlicher Wahrheiten verschloss. In Überlegungen zum Umgang mit dem Begriff und der Sache des Pietismus befasst sich Pierre-François Moreau zentral mit der Frage, ob und inwiefern im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des klassischen deutschen Pietismus und im Blick auf vergleichbare zeitgenössische Strömungen (Quietismus, Puritanismus, Nadere Reformatie, Mystik) von einer „sensibilité piétiste au sens large“ die Rede sein könne. Er arbeitet mit ihrer Zugehörigkeit zum Zeitalter des Absolutismus, der Individualisierung und der modernen Wissenschaften drei äußere und mit ihrer Zugehörigkeit zum postkonfessionellen Zeitalter, zum Zeitalter der Herzensreligion und der Glaubenspraxis drei innere Merkmale dieser „sensibilité piétiste“ heraus. Der Band – er enthält im Anhang einen Überblick über die italienische Pietismusforschung von Alessandro Salerno und ein Verzeichnis der Personennamen – dokumentiert eine fruchtbare Begegnung zwischen der Pietismusforschung im deutschen und im romanischen Sprachraum. Er erfüllt eine wichtige Brückenfunktion, und es ist ihm zu wünschen, dass er hüben und drüben gebührend zur Kenntnis genommen wird. Auffallend bleibt trotz der anregenden conclusion von Pierre-François Moreau der im Titel verwendete Plural „les piétismes“, und zwar nicht deshalb, weil er ungewöhnlich oder gar unstatthaft wäre, sondern weil die Forschung romanischer Sprache aus historischen Gründen tendenziell darunter nicht dasselbe zu verstehen scheint wie die Forschung deutscher Sprache. Aber diese Bemerkung erübrigt sich in einer verspäteten Besprechung, zumal mit dem von Hartmut Lehmann u. a. herausgegebenen Band Jansenismus, Quietismus, Pietismus (AGP 42) inzwischen weitere Klärung erfolgt ist. Gewiss hätte man sich auch eine stärkere Berücksichtigung von Entwicklungen im reformierten Raum (Inspirierte, Jean de Labadie, Pietismus in der Westschweiz) wünschen können. Aber der Band ist so schon reichhaltig genug. Rudolf Dellsperger

CH-Bern 281

© 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Friedrich Breckling (1629–1711). Prediger, „Wahrheitszeuge“ und Vermittler des Pietismus im Niederländischen Exil. Hg. v. Brigitte Klosterberg u. Guido Naschert. Bearb. v. Mirjam-Juliane Pohl. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen zu Halle 2011 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen, 11). – 156 S.; Ill., Kt. The past several years have seen renewed interest in Friedrich Breckling, an eclectic figure who straddled the worlds of radical spiritualism and Pietism. Exiled from Germany in 1660, he spent most of his long-career in the Netherlands, eking out an existence first as a pastor in a small congregation in Zwolle and following his dismissal there in printing houses in Amsterdam and the Hague. He produced a stream of tracts and carried on an extraordinary correspondence with religious figures in northern Europe from Johann Amos Comenius to August Hermann Francke. His extensive papers and correspondence have long appeared in the footnotes of works relating to dissenters and Pietists, but Breckling himself has remained something of a cipher. Recently, this has begun to change, most notably with Johann Anselm Steiger’s wellannotated publication of a key autobiographical manuscript in 2006 and now several DFG projects in Halle and Gotha that have provided new impulses for understanding Breckling’s literary legacy. One of the early results of these new investigations was an exhibition in Gotha and Halle and its published catalogue, which is the subject of this review. As an orientation to the possibilities and sources available for investigation of Breckling and his network of friends and correspondents, this slim volume will prove to be a welcome asset. It is divided into two parts. The first consists of brief essays on aspects of Breckling’s life and work. Guido Naschert’s article on Breckling’s network among Protestant nonconformists shows some of the early fruits of the project based in Gotha, correlating Breckling’s own travels with his web of correspondents and elucidating critical moments in Breckling’s biography with close readings of the sources, especially his lists of Wahrheitszeugen. Viktoria Franke analyzes the way Breckling presented himself to the public through his earliest tracts, which attacked the established church and its prelates and explained the controversies behind his exile, elucidating themes that would continue to reverberate in his work over the following decades. Miriam Rieger and Mirjam-Juliane Pohl provide local investigations of the Wahrheitszeugen and Pietisten that Breckling identified in Gotha and Halle in his geographically-based Catalogum testium veritatis. Especially the Gotha list shows the diversity of those Breckling identified as “witnesses of truth” and underscores how difficult it is to draw simple conclusions about affiliation or what Breckling intended as he constructed these catalogues. Martin Mulsow explicates one of Breckling’s manuscripts comprising intricate tables and diagrams in order to illustrate Breckling’s historical astrological perspective and his connection to theosophical and hermetic thought. These are rounded out by two essays on the sources themselves that make up Breckling’s legacy, one by Bri282 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

gitte Klosterberg on the books and manuscripts that Breckling sent to Halle and are now part of the archives and library of the Franckesche Stiftungen and another by Cornelia Hopf who explores the circuitous path that Breckling’s manuscripts took in becoming part of the collection at Gotha in the eighteenth century under the direction of the orthodox Lutheran Ernst Salomon Cyprian. The second section of the book contains two informative essays on the exhibit items themselves. Naschert discusses the items relating to Breckling’s life and work under a series of thematic headings from his early life and studies to his compilation of various catalogues of Wahrheitszeugen. Naschert’s close knowledge of Breckling’s letters and manuscripts allows him to elucidate the items insightfully. In another essay, Pohl describes the reconstruction of Breckling’s library on the basis of archival materials and volumes whose provenance can be attributed to Breckling. Grouping selected books from his library into different systematic categories, she provides brief reflections on the mental world that Breckling’s collection suggests. Because these essays work so closely with the sources, they will be valuable to anyone pursuing work on Breckling and his milieu. They open up new avenues for investigating Breckling and often provide striking new insights. As one might expect in a volume like this, few definitive answers emerge from these essays. Rather, they mostly serve to complicate our picture of Breckling. They suggest new methodological approaches and make long dormant source materials more easily available to a wider range of cultural and religious historians. Yet, as the conclusions of several essays suggest, major questions remain. What precisely did Breckling mean by “Wahrheitszeugen” in these different catalogues? How did Breckling’s views change over his career and how consistent were his publications with his private manuscripts? What was his relationship to Pietism, both radical and church-based, as well as to the theosophical Böhmists, especially his erstwhile ally Gichtel? Indeed, Breckling’s diverse public and private writings will not make things easy for scholars. As Manfred Jakubowski-Tiessen has noted, the portrait most have associated with him and, in fact, graces the cover of this volume is almost assuredly the likeness of another clergyman that the engraver borrowed. Likewise, Breckling’s writings often make it hard to pin down his position. Further research will undoubtedly supply answers to many of these questions. In the mean time, this volume provides new impulses and whets our appetite for further results. Jonathan Strom

USA-Emory University, Atlanta

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J. Jürgen Seidel: Baron Carl Joseph von Campagne und die Gichtelianer in der Schweiz. Ein Beitrag zum Radikalpietismus im Zürcher Oberland. Zürich: Dreamis Verlag 2006. – 191 S. Die Publikation dieses Buches verdankt sich einem seltenen Fund. 2001 wurde in einem Zürcher Bauernhaus der Nachlass des „Verein[s] der Freunde des seeligen Herrn von Campagne“ entdeckt. Diese im Jahr 1898 im Gedenken an Carl Joseph von Campagne (1751–1833) gegründete Vereinigung hatte mit dem Tod des letzten Mitglieds im Jahr 2000 aufgehört zu existieren. Aus diesem Nachlass hat Jürgen Seidel die zwischen 1815 und 1829 entstandenen Grüße zum Jahreswechsel des Barons Campagne publiziert. Einige Illustrationen und Verzierungen sind beigefügt. Dieses knapp 200 Seiten umfassende Büchlein bietet damit einen ausdrucksstarken Einblick in das theologische Denken eines bislang nahezu unbekannten Gichtelanhängers und seiner ebenfalls kaum bekannten Glaubensgemeinschaft. Der 1751 in Berlin geborene Campagne beschäftigte sich seit 1783 zunehmend mit den Schriften Johann Georg Gichtels. 1814 übersiedelte er nach Pfäffikon bei Zürich und lebte im Haus eines der dortigen Gichtelanhänger, die sich selbst Engelsbrüder nannten. Nicht nur durch materielle Wohltaten, sondern insbesondere durch seine Aufzeichnungen zum Jahreswechsel wurde Campagne im Zürcher Umland alsbald bekannt. Er starb 1833 im Haus seines Glaubensbruders. Die Engelsbrüder praktizierten eine von der Ortsgemeinde unabhängige Privatreligiosität und unterhielten intensive internationale Kontakte u. a. zu Glaubensverwandten im Baltikum und in den Niederlanden. Ihre Zahl soll 1841 noch ca. 500 Personen im Kanton Zürich betragen haben (42). Ihre selbst gewählte Isolation sorgte dafür, dass man bis heute kaum etwas über diese Glaubensgemeinschaft weiß. Ihre strikte Ehelosigkeit führte dazu, dass die Gemeinschaft nur durch die Hinzugewinnung neuer Mitglieder überleben konnte, und Campagne, der ebenfalls ehelos lebte, bezeichnete ehemalige Mitglieder seiner Glaubensgemeinschaft als „tief gefallen“ (37), vermutlich weil sie geheiratet hatten. Über den von Campagne insgesamt ausgeübten Einfluss auf diese Gemeinschaft erläutert S.: „Es ist von Campagne zu verdanken, daß entschieden separatistische Gläubige in der Schweiz zuweilen aus dem Gedanken der Nächstenliebe heraus wieder einen Zugang zur reformierten Landeskirche fanden und ihre radikal-kämpferische Natur gedämpft wurde.“ (35) Hier wäre es allerdings angebracht gewesen, auch namentlich Personen zu nennen, auf die Campagne diesen Einfluss ausgeübt haben soll. Campagnes Grüße zum Jahreswechsel werden auf insgesamt 142 Seiten wiedergegeben. Hilfreich für den Leser sind neben der bündigen Einleitung auch die zahlreichen Verweise auf inhaltliche Übereinstimmungen mit Gichtels Theosophia Practica (z. B. 121, 125). Die präzisen Hinweise zur Darstellungsweise des Textes (187) runden zusammen mit einer kurzen Auswahlbiographie (188–190) das Buch ab. 284 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Auffällig sind die vielen inhaltlichen Redundanzen der Texte. Immer wieder betont Campagne die Notwendigkeit der Christusnachfolge, der eigenen Seelenbetrachtung und des Wiedergeburtsstrebens. Er appelliert dabei an die besondere Verantwortung seiner Glaubensbrüder als den wahren Kindern Gottes: „Wir müssen Jesum im Wesen anziehen, nicht in leeren bildlichen Begriffen. Sein Leben ist ein lauter Kreüz in uns, welches Er in der Menschheit hat.“ (105 und wortgleich auf 145) Diese Neujahrswünsche erzeigen Campagne als einen ganz auf den inneren Glaubenseifer abzielenden radikalpietistischen Denker: „Alles was wir aus Büchern ins Gedächtniß einladen, kan im Feüer nicht bestehen, es muß aus unserm Seelen-Feüer selbst ausgebohren werden. Ja die H[eilige] Dreyheit mit der ewigen Wahrheit selbst.“ (104) Noch deutlicher formuliert er einige Jahre später: „Gott hat von uns keine Gelehrtheit nach Wissenschaft gefordert, vielmehr verbotten“ (160). Insgesamt tritt Campagne nicht als ein origineller theologischer Denker in Erscheinung, nichtsdestotrotz dürften seine Grüße für die Glaubensgemeinschaft der Engelsbrüder eine konstitutiv-verbindende Funktion erfüllt haben, auch wenn einige der von Campagne gewählten Bilder heute eher zum Schmunzeln anregen: „Gleichwie ein steter Umlauf des Bluts durch den gantzen Leib des aüßern Menschen ist, also ist es auch mit dem Blute Jesu der himmlischen Tinctur“ (159). Insgesamt sind die hier publizierten Aufzeichnungen ein erster Schritt zur besseren Kenntnis einer beinahe vergessenen Glaubensgemeinschaft und eines ihrer führenden Vertreter. Dem Hg. kommt dabei das Verdienst zu, der Forschung zur neueren Schweizer Kirchengeschichte ein künftig noch weiter auszuwertendes Material bereit gestellt zu haben, welches die lang anhaltende Rezeption der theologischen Gedankenwelt Gichtels rund um Zürich anschaulich belegt. Malte van Spankeren

Münster

Pfarrherren, Dichterinnen, Forscher. Lebenszeugnisse einer Zürcher Familie des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Regine Schindler in Zusammenarbeit mit dem Johanna Spyri-Archiv, Zürich. Vier Bände mit Quellenedition auf CDROM bzw. auf www.pfarrherren.ch sowie ein Essayband. Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung. Band 1: Regine Schindler: Die Memorabilien der Meta Heusser-Schweizer (1797–1876). Mit vier Stammbäumen zu den wichtigsten Personenkreisen. 2007. – 382 S. Band 2: Ruedi Graf: Die Tagebücher des Pfarrers Diethelm Schweizer (1751–1824). 2010. – 368 S. Band 3: Barbara Helbling: Jakob Christian Heusser (1826–1909). Briefe an die Familie. 2011. – 332 S. Band 4: Salome Schoeck: Johanna Spyri und die Familie Kappeler. Briefe. 2012. – 164 S. 285 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Mit den vier inhaltlich gewichtigen und schön gestalteten Büchern ist ein auf fünf Bände angelegtes Forschungsprojekt weit gediehen, das auf bisher unbekannten Quellen zu den Zürcher Familien Schweizer, Heusser und Spyri beruht. Der Mittelpunkt der Familie war die Arztfrau und Dichterin Meta Heusser-Schweizer (1797–1876). Mit Regine Schindlers Buch über sie beginnt die Reihe. Meta Heusser steht wegen ihrer Nähe zur Erweckungsbewegung auch im Zentrum dieser Besprechung. Aber auch auf die andern bisher erschienenen Bände soll kurz hingewiesen werden, zunächst auf den zweiten über Meta Heussers Vater. Das Bild des Pfarrers Diethelm Schweizer (1751–1824) war bisher weitgehend von Metas um 1870 entstandener Hauschronik geprägt. Nun kann Ruedi Graf dank Schweizers 10.000 handschriftliche Seiten umfassendem Tagebuch (1775–1805), das er für die Jahre 1797 bis 1801 gekürzt und für die Jahre 1802 bis 1805 vollständig ediert, ein genaueres Bild dieses Theologen im „Schlagschatten“ Lavaters und vehementen Gegners der Helvetik zeichnen. Charakteristisch für Schweizers Religiosität waren (mit Varianten) die Reduktion von Naturerfahrung auf ihren geistlichen Wert, ein ausgeprägtes Erwählungsbewusstsein und eine hochgespannte Naherwartung. Gegen Ende des Tagebuchs wird, auch wenn Schweizer die Hoffnung auf die Wiederkunft Christi nie ganz preisgab, „die Vorstellung der Geschichte der Erwählten als Fortsetzung der Apostelgeschichte und der Geschichte der ersten Christen [. . .] transformiert in die Idee der Vereinigung aller Christusfreunde und Christusfreundinnen im Jenseits“ (Graf, 256). Mit dem Jenseits kommt eine Dimension in den Blick, die für Meta, die vierte Tochter des Ehepaars Diethelm und Anna Schweizer-Gessner, als „Heimweh nach dem ewigen Leben“ (Schindler, 173), „Heimat bei Gott“, „zukünftiges Jerusalem“ (255) und „Himmelsleiter“ (295) wichtig wurde. Im Unterschied zu Ruedi Graf, der aus Schweizers Tagebuch eine Auswahl treffen musste, steht Regine Schindler mit Meta Heussers Memorabilien der Zeit eine auf den ersten Blick schmale Quelle zur Verfügung. Es handelt sich bei dem Duodezbändchen um ein bleibendes Tagebuch mit leeren Seiten für jeden Tag des Jahres, in das seine Besitzerin wie in ein Vergissmeinnicht Geburts-, Todes- und Hochzeitstage bekannter, verwandter oder nahe stehender Personen eintrug, Zeiten des Kirchenjahres und wichtige Ereignisse aus dem eigenen, familiären und gesellschaftlichen Leben festhielt sowie Bibel-, Gedichtund Liedzitate vermerkte, und dies stets in der gebotenen Kürze. Diese Aufzeichnungen „müssen einem Bedürfnis entsprochen haben, innezuhalten, Lebensabschnitte, Ereignisse, Begegnungen im Schreiben bewusst zu machen, zu ‚bedenken‘ und damit vor dem Vergessen oder [. . .] der ‚Gedankenlosigkeit‘ zu bewahren“ (287). Es sind persönliche, nur für den Eigengebrauch bestimmte Notizen. Während Meta Heusser in der für die Öffentlichkeit bestimmten Hauschronik beispielsweise den Suizid von Conrad Ferdinand Meyers Mutter Betsy verschweigt, kommt in den Memorabilien ihre Erschütterung über diesen Tod der Freundin ungefiltert zum Ausdruck (157–172). 286 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Derart beginnt die an und für sich spröde Quelle aber nur für diejenigen Leserinnen und Leser zu sprechen, die sie mit Regine Schindler unter Beizug von Meta Heussers Hauschronik, ihres Briefwechsels und ihrer Gedichte im Gespräch mit der historischen Forschung „neugierig, fast indiskret, wie Spione“ (287), „detektivisch“ (65) lesen. Tun sie es, wird vom Hirzel oberhalb des Zürichsees aus, wo Meta Heusser im Pfarrhaus und im Arzthaus lebte, neben ihrer Persönlichkeit und Familiengeschichte „eine Seite der zürcherischen, auch der ostschweizerischen Kirchen-, Frömmigkeits- und Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts lebendig, die in der Forschung und in Quellenausgaben [. . .] weitgehend unbeachtet blieb“ (15). Ihrer Ehe mit dem Arzt Johann Jakob Heusser (1783–1859), mit dem sie sieben Kinder hatte, fehlte nach Metas Verständnis die Mitte: die Gemeinschaft des Glaubens. Die Frömmigkeit der Hirzler Pfarrfamilie Schweizer – die Mutter las neben der Bibel und dem Gesangbuch Arndts Wahres Christentum – war dem Rationalisten Heusser fremd. Auch Meta Heussers Schreiben scheint zwischen den Gatten kaum ein Thema gewesen zu sein. Als Dichterin gefördert wurde sie durch die Vermittlung von Franz Zahn und Anna Schlatter vom späteren Zürcher Staatsarchivar Gerold Meyer von Knonau (1804–1858) und von Albert Knapp (1798–1864). Zunächst nahm Knapp einzelne ihrer Gedichte als Lieder einer Verborgenen in sein Taschenbuch „Christoterpe“ auf, bis er sie 1858 gesammelt, aber noch anonym, und 1863 ein zweites Mal, diesmal mit Namensnennung, herausgab. Meta Heussers Gedichte sind, so sehr es sich immer auch darum handelt, nicht nur geistliche Texte. Schreiben war für sie nach Regine Schindler „ein echtes Mittel im Kampf gegen die Not, die eigene und jene anderer. [. . .] Sie suchte Christus-Nähe, Gottes-Nähe, die sie als Trost empfand und immer neu in Worte fasste. Daneben wurde [. . .] auch ihre Liebe zur Natur, zu den Kindern, zu den Bergen verbalisiert“. So seien Gedichte entstanden, „die unabhängig von der Existenz ihrer Verfasserin eine Daseinsberechtigung hatten und haben“ (81). Die Leserinnen und Leser können sich dank einer repräsentativen Auswahl von der hohen Qualität von Meta Heussers Schaffen selber überzeugen. Nicht von ungefähr bezeichnete sie Philipp Schaff (1819–1893) als „the only Swiss poetess of any renown“ (78). Mit Schaff, dem in den USA tätigen, aus Chur gebürtigen Kirchenhistoriker und Ökumeniker, verband Meta Heusser trotz des Altersunterschieds eine tiefe „Seelenfreundschaft“. Die neun Seiten, die Regine Schindler dieser Beziehung widmet, gehören zu den kostbarsten ihres Buches (258–267). Diese Seiten beschließen das zentrale Kapitel über Meta Heussers Beziehungen zur Erweckungsbewegung. Regine Schindler gelingt eine präzise Charakterisierung des Phänomens „Erweckung“, und wenn sie die gängige Bezeichnung Meta Heussers als pietistische Dichterin gelten lässt, dann tut sie es im Wissen um die neuere Diskussion zum Pietismusbegriff (173 f., 336). Im Unterschied zur Hauschronik, in der es zurücktritt, ist das erweckliche Element in den Memorabilien unverkennbar. Minutiös werden die Spuren aufgedeckt, 287 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

die Alexander I. von Russland (1772–1825), Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) und Juliane von Krüdener (1764–1824) darin hinterlassen haben. Von Haus aus erwecklich prädisponiert, hatte Meta Heusser kaum Berührungsängste, selbst nicht mit exaltierten Formen der Religiosität. Sie hat aber ihren Weg in der Landeskirche letzten Endes mit großer Sicherheit gefunden. Wegweisend für sie war ihre Freundschaft mit der um eine Generation älteren Anna Schlatter-Bernet (1773–1826) in St. Gallen. Wichtig waren auch die Kontakte zur Schaffhauser Erweckung und deren Zentralgestalt David Spleiss (1786–1864). Diese Kontakte „haben fast alle mit erwecklich geprägten Erlebnissen und Menschen, die großenteils dem süddeutschen Pietismus entstammen, dann mit der Gründung wohltätiger Institutionen, auch mit einer Verbindung zur Christentumsgesellschaft in Basel, später mit der Basler Mission zu tun“ (217). Trotz des „Straussenhandels“ und des „Züriputschs“ (248–253) liess es sich Meta Heusser nicht nehmen, mit dem Hirzler Ortspfarrer Salomon Tobler (1826–1839), einem Befürworter von Strauss’ Berufung, Tholuck-Predigten zu lesen und mit ihm „offen und klar“, aber offensichtlich ohne gegenseitige Verurteilungen, über ihre „grundverschiedenen religiösen Überzeugungen“ zu sprechen (272). Der Abschnitt über Tobler gehört zu einem Kapitel über die drei Pfarrer, die Meta Heusser nach ihrem Vater als Seelsorger der Hirzler Gemeinde erlebt hat. In ihrer Wirksamkeit werden einmal mehr übergreifende Zusammenhänge sichtbar (267–286). Von Meta Heussers Kindern (112–155) seien nur die beiden erwähnt, denen (ganz oder zum Teil) der dritte und vierte Band der vorliegenden Reihe gewidmet sind. Jakob Christian Heusser (1826–1909) war nach Studien in Berlin Privatdozent für Mineralogie in Zürich, kam aber wegen seiner konservativen Herkunft und Couleur für eine Professur an der vom liberalen Alfred Escher beherrschten Eidgenössisch Technischen Hochschule nicht in Frage. Er wanderte nach Südamerika aus, wo er Inspektor von Kaffeeplantagen, Landvermesser und Großgrundbesitzer war. Barbara Helblings faszinierende Monographie über ihn fußt vorwiegend auf Briefen, die er aus Berlin, Brasilien und Argentinien an seine Familie schrieb. Er berichtet darin über bedeutende Zeitereignisse, heikle Missionen und historische Konfrontationen wie die Berliner Unruhen von 1848, die Revolte der Schweizer Kolonisten auf Ibicaba und den Konflikt zwischen Siedlern und indianischer Bevölkerung in Patagonien. Jakob Christian Heusser scheint sich nicht nur in geographischer, sondern auch in geistiger Hinsicht von seiner Mutter entfernt zu haben. Er hat sie aber als „wahrhaft und gesund fromme, nicht pietistisch frömmelnde Frau“ in Erinnerung behalten. Zu ihrem Gedenken bedachte er in seinem Testament die „Zürcher Evangelische Gesellschaft“, eine kirchliche Frucht der Erweckungsbewegung, mit einem Legat (Helbling, 186). Salome Schoeck befasst sich mit den Briefen, die aus der längeren Freundschaft zwischen Johanna Spyri, Meta Heussers zweiter Tochter, und der Frauenfelder Familie Kappeler erhalten geblieben sind. Sie gewähren Einblick 288 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

in das Jahr 1879, als Heidi entstand, das Johanna Spyris Weltruhm begründete, und in das Jahr 1884, als Johanna kurz nacheinander ihren Mann und ihren einzigen Sohn verlor. Die Briefe der jungen Hedwig Kappeler (1860–1932), die während ihres Besuchs der Höheren Töchterschule bei der Familie Spyri im Zürcher Stadthaus wohnte, vermitteln ein Stück Alltagsgeschichte und illustrieren Herkunft und Werdegang dieser jungen Frau, die später in der bürgerlichen Frauenbewegung („Verein zur Hebung der Sittlichkeit [‚Schweizerische Evangelische Frauenhilfe‘], Freundinnen junger Mädchen“) Bedeutung erlangen sollte. Und um auch im Fall der Verfasserin des Heidi an Meta Heusser zu erinnern: Regine Schindler spricht von einer „liebevollen“, aber nicht spannungslosen Beziehung zwischen Tochter und Mutter. „Die begabte, früh schreibende Tochter begann als Schriftstellerin erst nach dem Tod der Mutter aufzublühen, also als 50–Jährige.“ (133) Bis hier wurden die vier bisher erschienenen Bücher besprochen, nicht jedoch die zunächst auf CD-ROM und ab dem dritten Band für alle vier Bände auf www.pfarrherren.ch mit einem Passwort zugänglichen Editionen von Meta Heussers Memorabilien, Diethelm Schweizers Tagebüchern, Jakob Christian Heussers Briefen und der Kappeler Briefe. Diese Quellen werden von den Herausgeberinnen bzw. dem Herausgeber sorgfältig ediert und mit Sacherklärungen, weiterführenden Literaturangaben und Registern erschlossen. Dank der elektronischen Präsentation ist auch die Volltextsuche gewährleistet. Innerhalb von fünf Jahren sind somit nicht vier, sondern effektiv acht Bände erschienen. Es ist Regine Schindlers großes Verdienst, diese Quellen entdeckt, sie in ihrer Bedeutung erkannt und ihre Erforschung als Autorin und Projektleiterin tatkräftig gefördert zu haben. Der Gewinn für die Geschichte und Wirkungsgeschichte der Erweckungsbewegung – vor allem darauf sollte hier hingewiesen werden – ist groß. Man darf auf Regine Schindlers angekündigten Essayband über Johanna Spyri, der die Reihe beschließen wird, gespannt sein. Rudolf Dellsperger

CH-Bern

Toshio Ito: Kojitachi no Chichi Furanke. Ai no Fukushi to Kyôiku no Genten. [A. H. Francke, Waisenvater. Ursprung der Wohlfahrt und Erziehung]. Tokyo: Verlag Shueisha 2000. – 316 S. Der Autor des vorliegenden Werkes, Toshio Ito, ist einer der wichtigsten japanischen Germanisten und Pietismusforscher. Seine Forschungsbeiträge haben seit 1970 großen Einfluss auf die gesamte Pietismusforschung in Japan genommen (neben der Literaturwissenschaft vor allem in der Pädagogik und der Geschichtswissenschaft). Aufgrund dessen ist er als Doyen und Mentor der interdisziplinären Pietismusforschung in Japan anzusehen. Im Folgenden wird sein zweites Werk zur Pietismusforschung vorgestellt. 289 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

In diesem Buch bietet Ito einen Überblick über Franckes Schriften zur Pädagogik, er erläutert sie und setzt sich mit ihrer gegenwärtigen Bedeutung auseinander. Aus diesem Grund ist das Buch nicht nur für die Beschäftigung mit Franckes Pädagogik wichtig, sondern überhaupt für die Erforschung von August Hermann Francke. Itos Werk ist deswegen eher für diejenigen gedacht, die sich fächerübergreifend mit dem Pietismus beschäftigen wollen als speziell für die Erziehungswissenschaftler. Der Grund dafür hängt mit den bisherigen Forschungen zu Franckes Pädagogik zusammen: Seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich zwar einige Erziehungswissenschaftler, z. B. Sukeichi Shinohara (Die pädagogische Ideengeschichte in Europa [Ôshû Kyôikushisôshi]), mit der pädagogischen Bedeutung Franckes beschäftigt. Trotzdem ist Franckes Name im Bereich der Erziehungswissenschaft in Japan, im Vergleich mit Herbart und Fröbel, nicht so bekannt. Ito gibt aber nun einen Anstoß, Franckes Pädagogik sowohl in ihrer historischen Dimension als auch in ihrer gegenwärtigen Bedeutung interdisziplinär zu erforschen. Im ersten Kapitel geht es um die Geschichte des Halleschen Waisenhauses und der späteren Franckeschen Stiftungen in Halle, dargestellt anhand der Fußstapfen. Hier wird der Grundgedanke Franckes hervorgehoben, wonach die Verbreitung der christlichen Lehre für die Einrichtung des Staats, der Gesellschaft und der Gemeinde eine große Rolle spielt. Wie den Fußstapfen zu entnehmen ist, legte Francke großen Wert auf die Verbindung mit der städtischen Verwaltung in Halle und auch auf die Unterstützung durch das brandenburgisch-preußische Herrscherhaus, um die Genehmigung für sein Waisenhaus, seine Latein- und Deutschschule zu erhalten. Die finanzielle Unterstützung für dieses Vorhaben wurde von Anhängern seiner Idee erbracht, die laut Franckes Selbstauskunft von seinen frommen von Nächstenliebe getragenen Aktivitäten begeistert waren. Es wäre falsch, anzunehmen, dass Francke ‚nur‘ ein Geschäftsmann gewesen wäre. Er glaubte an die christliche Lehre und die Tugend zur wahren Gottseligkeit (den Willen, die Ordnung und Regierung Gottes), die der Ehre Gottes dient (55). Franckes Haltung ist nicht nur beim Aufbau des Waisenhauses, sondern auch im Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden zu finden. Darauf wird vor allem im dritten Kapitel des Buches eingegangen. Deutlich wird, wie intensiv Ito sich mit der Pietismusforschung beschäftigt hat, was es ihm ermöglicht, Geschichte und Gegenwart der Glauchaschen Anstalten darzustellen. Im zweiten Kapitel des Buches informiert Ito den Leser über Franckes Lebenslauf. Der Leser lernt aufgrund Itos fundierter und ausgezeichneter Übersetzung, vor allem der Lüneburger Bekehrung, Franckes Leben genauer kennen. Weiter wird Franckes Begegnung mit Waisenkindern während des Religionsunterrichts in Hamburg dargestellt. Diese Erfahrungen bildeten auch das Fundament für seine Aktivitäten in Halle. Das dritte Kapitel, „Der Erzieher August Hermann Francke“, welches sich eng auf den Untertitel dieses Werkes Ursprung der Wohlfahrt und Erziehung bezieht, steht im Zentrum des Werkes. Anhand der Quellen erläutert Ito für 290 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Francke die Bedeutung der Grundbegriffe Erziehung, Wille und Strafe. Er kommt zu dem Ergebnis, dass allein die Liebe, als Grundlage der christlichen Lehre, Wohlfahrt und Erziehung befördert und praktisch werden lässt. Dabei überlegt der Autor, wie man Franckes These auf die gegenwärtigen Probleme der Erziehung und Gesellschaft in Japan anwenden könnte. Dies möchte ich im Anschluss erklären. Bevor ich auf das dritte Kapitel eingehe, sei nun aus dem vorliegenden Werk zitiert. Nun habe ich mir überlegt, wie ich mich weiter mit meinem Forschungsgegenstand „Pietismus“ auseinandersetze. Daraus habe ich die folgende Schlussfolgerung gezogen, dass ich mich nicht nur an die etablierten Begriffe anlehne, sondern mich auf die Biographie einer Person näher konzentriere. Indem ich ihre Gedankenbildung sowie Aktivitäten erforsche, kommt das zur richtigen Erkenntnis, was man als Wesen des Pietismus verstehen kann. Als Möglichkeit dazu bieten sich mir die drei Namen Spener, Francke und Zinzendorf an [. . .] Dass ich zuallererst die Biographie Franckes vorstellen wollte, liegt daran, dass seine Gedanken auch in der Gegenwart noch inspirieren können. Da bin ich mir durch meine Feldforschungsreise in Deutschland sicher. Die historische Bedeutung Franckes ist nicht nur aus seiner Bekanntheit als bedeutender Pietist herzuleiten, sondern auch aus seinen auf die Praxis bezogenen Tätigkeiten. (9 f.)

Wie dieses Zitat aufzeigt, ist Ito davon überzeugt, dass vor allem das Waisenhaus für die pädagogischen Ideen Franckes einsteht. Ito legt viel Wert auf die Feldforschung und kam dazu oft nach Deutschland. Insofern leisten seine Forschungen für weitere Generationen einen wertvollen Beitrag. Folglich möchte ich mit Bezug auf das dritte Kapitel seines Werkes die pädagogischen Ideen Franckes und deren heutige Bedeutungen betrachten, wobei ich diese als Studentin der Erziehungswissenschaft kommentieren werde. Anhand des Kurzen und einfältigen Unterrichts, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und christlichen Klugheit anzuführen sind stellt Ito Franckes Erziehungstheorie dar. Er betont, dass die angeborenen Eigenschaften der Kinder durch die Erziehenden gefördert werden müssen und früh Liebe, Gehorsam und Fleiß zu lernen haben. Dies führe zu einem frommen Gemüt und diene der Ehre Gottes (188). Diese oben angeführte These gibt Anstoß zur Überlegung, die Begriffe in einem kulturell und zeitlich unterschiedlichen Kontext zu verwenden, wenn die pädagogischen Gedanken Franckes auf die Probleme der Erziehung im heutigen Japan angewendet werden. Hierfür möchte ich zwei Diskussionspunkte anführen: zunächst die Phänomene des „Willens“ und des „Willensbrechens“ bei Francke. Wird der Zeitunterschied berücksichtigt, gab es zwei pädagogische Richtungen, welche der Leser stets ins Betracht zu ziehen hat. Die neue Richtung geht von der Einstellung der Aufklärer wie Rousseau und Kant aus, welche die „Autonomie“ des Menschen als vornehmstes Erziehungsziel definieren, wobei vor allem bei Kant Menschsein Vernünftigsein bedeutet. Die zweite Richtung, der auch Francke angehört, fußt auf der Überlegung, mittels der christlichen Erziehung die Erb291 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

sünde und das Böse im Menschen, die keine Vernunft erreicht, zu bekämpfen. Unter dieser Prämisse ist vorstellbar, dass der Disput über die Anwendbarkeit der pädagogischen Gedanken Franckes auch im Anschluss an ethische und theologische Hintergründe geführt werden muss. Jedoch ist hier eine anthropologische Erläuterung notwendig: Rousseau und Zinzendorf, die ein neues Menschenbild (vor allem für Kinder) entwickelten, sahen das Wesen des Menschen als gut an. Francke hingegen hielt an der christlich-traditionellen Position fest, das Wesen des Menschen als böse anzusehen. Francke versteht unter dem Willen das Ego des Menschen, und Erziehung heißt bei ihm dementsprechend der Prozess der Führung zur Ehre Gottes. Daher habe ich den Eindruck, dass bei der Diskussion über das „Willensbrechen“ erwogen werden muss, ob das Wesen des Menschen gut oder böse ist. Ito vertritt die Auffassung, dass die Übersicht über die Geschichte daher unabdingbar ist. Diese These ist zwar vollkommen richtig, aber wir sollten bei der Anwendung der Studie in Japan die Interpretation der christlichen Anthropologie mit derjenigen der japanischen Philosophie und Religionswissenschaft vergleichen. Ohne diesen Vergleich wäre die Interpretation der pädagogischen Probleme in Japan anhand des Willensbegriffs bei Francke fehlerhaft. Zweitens ist die Anwendung der pädagogischen Idee Franckes auf die japanischen Verhältnisse aufgrund kultureller Unterschiede schwierig. Das liegt darin begründet, dass in Japan außerhalb der entweder katholischen, evangelischen oder buddhistischen Schulen der Religionsunterricht verfassungsgemäß verboten ist und dieser zudem eine andere Geschichte und Tradition hat. Der Pietismus hat keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Geschichte und den Traditionen Japans, weil Japan die liberale Theologie aus den USA übernommen hat. Jedoch äußert Ito, dass die nach dem pädagogischen Konzept Franckes in die Praxis umgesetzte Erziehung auch in der Gegenwart nicht unbedingt eine „spezielle“ Erziehung ist. Mit dieser neuen Perspektive überzeugt er bei der Erläuterung des Begriffes der Ehre Gottes (166). Diese Betrachtungsweise lässt sich wie folgt beschreiben: Das moralischethische Urteil über Gut und Böse im gesellschaftlichen Erziehungsbereich war im damaligen deutschsprachigen Kulturraum christlich geprägt. Dabei ist, unter dem Aspekt der anthropologischen Interpretation, zu beachten, dass bei der Auseinandersetzung mit der Menschenbildung bei Francke das Ebenbild Gottes als Ideal im Vordergrund steht. Das Erziehungsziel Franckes, die Ehre Gottes, bestand in der „allgemeinen“ Bildung der Mitglieder der Gesellschaft und nicht in der „speziellen“ Erziehung bestimmter Kinder. Aufgrund dessen, dass ein vertrautes Verhältnis zwischen Erziehenden und Erzogenen existiert, kann die These Franckes, nach der Auffassung Itos, auf die heutige Gesellschaft angewendet werden. Ito zieht somit die Schlussfolgerung, diese Idee sollte dementsprechend über die Gläubigen des Christentums hinaus wirken (196, 230 f.) Das vierte und letzte Kapitel mit dem Titel „Die Sonnen- und Schattenseiten des Pietismus“ handelt einerseits vom Pietismus, der aufgrund von Speners 292 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Anregungen zu den umfangreichen Tätigkeiten Franckes führte (Missionen nach Indien und in die heutigen USA), und andererseits vom Einflussverlust des Halleschen Pietismus infolge von Aufklärung und Rationalismus. Abschließend möchte ich hier aus meinem Blickwinkel Itos Schrift kommentieren. Der Leser stellt vor allem am ersten und dritten Kapitel fest: Ito schreibt zwar über die Entwicklung der Franckeschen Stiftungen, er stellt aber nicht dar, wie Franckes pädagogisches Gedankengut in die Gegenwart übernommen worden ist. Wenn Ito bei seiner Besichtigung der Franckeschen Stiftungen in Halle die Relevanz der Wohlfahrt und Erziehung bei Francke deutlicher erkannt hätte, wäre er womöglich in der Lage gewesen, die Praxisumsetzung der pädagogischen Idee vor Ort zu untersuchen. Ich selbst habe zwar nicht alle Bildungsinstitutionen in den Stiftungen besucht. Aber während meines einmonatigen Praktikums beim Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung in Halle konnte ich, dank Frau Liedtke, der Leiterin der Kindertagesstätte August Hermann Francke, den Kindergarten der hiesigen Stiftungen aufsuchen und ein Interview mit ihr führen. Hervorzuheben ist, dass die Lehre des Christentums den Kindern nicht als „spezielle“ Erziehung, sondern als „allgemeine“ Bildung, also unabhängig von Glaube und Konfession, erklärt wird. Hier zeigt sich, dass der Gedanke des Gründers der Stiftungen auch heute noch in die Praxis umgesetzt wird. Der Religionsunterricht ist zwar auch in Deutschland nicht mehr das zentrale Ziel der Erziehung. Dennoch sind Franckes pädagogische Konzepte im Sinne „allgemeiner“ Bildung noch lebendig, selbst im Kindergarten, für den es auf dem Gelände der Stiftungen kein historisches Vorbild gibt. De facto bietet diese Kindertagesstätte die Möglichkeit zur Ausbildung eines Vertrauensverhältnisses zwischen Erziehern und Kindern. Im Verlauf der Zeit haben sich einige Gedanken Franckes verändert. Beispielsweise war die Kunst laut Francke Zeitverschwendung und galt überhaupt als verwerflich. Jedoch genießen die Kinder in diesem Kindergarten Kunst, sie besuchen Theateraufführungen oder malen Bilder. Die Erziehenden sind stets in der Lage, mit ihrer Kenntnis, Aufmerksamkeit, Erfahrung und Liebe die Kinder zu fördern. Als Beispiel ist hier zu nennen, dass alle MitarbeiterInnen des Kindergartens einmal pro Jahr einen Ausflug an Orte machen, an denen Francke sich aufgehalten hat (z. B. Gotha, Erfurt), um seine Ideen besser kennen zu lernen. Auch die Eltern und die Stadt Halle haben die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Kindergarten unter Beweis gestellt. Die japanischen Forscher sollten demnach anhand von Itos Werk auch andere Erziehungseinrichtungen besichtigen und somit die Forschung über die gegenwärtige Bedeutung Franckes vorantreiben. Weiterhin gibt es die Möglichkeit, mit Blick auf die japanische Erziehungsgeschichte und -philosophie eine komparative Studie durchzuführen. Dies würde meiner Ansicht nach, die interdisziplinäre Forschung zwischen Deutschland und Japan verstärken. Hiromi Kora

Jena 293 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009. – 174 S.; Ill., graph. Darst. Dietrich Meyer schildert in seiner fünf Kapitel umfassenden Studie die Entwicklung Herrnhuts seit den Anfängen bis zur Gegenwart und untersucht dabei für die ersten drei Jahrzehnte schwerpunktmäßig den Anteil Zinzendorfs hinsichtlich der Konsolidierung der Brüdergemeine. Dieses 174 Seiten umfassende Buch ist als allgemeiner Einstieg in die Thematik zwar sehr geeignet. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass derjenige Leser, der bereits M.s Artikel Zinzendorf und Herrenhut aus Band 2 der Geschichte des Pietismus (1995) kennt, wesentliche Ausführungen aus den ersten drei Kapiteln überspringen kann, da es sich hier um wortwörtliche Übernahmen aus diesem Artikel handelt (v. a. 30–70). Im ersten Kapitel, „Zinzendorf und die Entstehung Herrnhuts (1700– 1731)“, zeichnet M. Zinzendorfs Leben bis zur Begegnung mit der Brüdergemeine nach (5–36). In einer gelungenen Symbiose aus Informationen über Zinzendorfs Bildungsweg und kleinen Anekdoten (so wurde dem jungen Zinzendorf vorgehalten, er sei „‚excessiv unordentlich‘“ [9]) zeigt der Vf. anschaulich, wie sich Zinzendorf, der laut M. anfangs „ganz als der Hallenser Pietist mit evangelistischem Eifer und gesetzlichem Lebenswandel“ (14) auftrat, infolge der Erfahrungen einer 1719/20 unternommenen Bildungsreise zunehmend für andere Konfessionen interessierte: „Sein Blick weitete sich, und er entdeckte die ökumenische Dimension einer biblischen, mystisch-pietistisch gefärbten Christusliebe, die er in allen Konfessionen wiederfand.“ (15) 1722 erlaubte Zinzendorf einer Gruppe Böhmischer Brüder sich auf seinem Gut Berthelsdorf niederzulassen. Die Siedlung wuchs, vor allem durch weiteren Zuzug kontinuierlich an, so dass sie bereits 1727 220 Einwohner zählte. Auch infolge von Zinzendorfs publikumswirksamem Engagement schlossen sich in den Folgejahren immer wieder junge Theologiestudenten – unter ihnen Gottlieb August Spangenberg – den Brüdern an. Spangenbergs Ausweisung aus Halle bedeutete 1733 den entscheidenden Bruch der Brüdergemeine und infolgedessen auch Zinzendorfs mit der Halleschen Theologischen Fakultät. Der Vf. pointiert: „Sein damaliges Ringen um eine pietistische Bekehrung wurde schließlich ‚eine Bekehrung vom Pietismus‘“ (32). Einen wichtigen theologischen Umschwung erkennt M. ferner bei Zinzendorfs Begegnung mit Johann Konrad Dippel und dessen Schrift Vera demonstratio evangelica. In der Folge veränderten sich Zinzendorfs theologische Vorstellungen zunehmend und übten nachhaltige Prägung auf die Ausbildung einer signifikanten herrnhutischen Frömmigkeit aus, die M. anhand dreier Merkmale charakterisiert: „1. die zentrale Stellung der Erlösung Christi, 2. die Ablehnung aller natürlichen Gotteserkenntnis und Moral, 3. die Alleinwirksamkeit der Gnade und die ‚Minutenbekehrung‘ des Sünders, oder die selige Sünderschaft“ (34). Mit der Abkehr von Halle ging eine Kontaktaufnahme Zinzendorfs mit der Tübinger Theologischen Fakultät einher, wo er insbesondere Kontakt zu Christoph 294 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Matthäus Pfaff suchte. Im Dezember 1734 trat Zinzendorf dort das Amt als Prediger der Stiftskirche an. Das zweite Kapitel, „Der Beginn der weltweiten Brüder-Unität (1732– 1760)“, zeichnet die internationale Ausdehnung der Brüdergemeine nach (37– 62). Entscheidend sei laut M. die Ausweisung Zinzendorfs aus Sachsen am 20. März 1736 für die neuen Gemeindegründungen, wie die in der Wetterau, gewesen. Bereits vier Jahre vorher waren die ersten Herrnhuter Missionare auf die mittelamerikanische St. Thomasinsel geschickt worden. Zinzendorf selbst reiste 1738 nach Westindien, wo er zunächst zwei Herrnhuter Missionare aus dem Gefängnis auslösen musste, bevor er die dortige 670 Mitglieder zählende Gemeinde inspizierte (41). Anschließend folgt ein Überblick über die vielfältigen missionarischen Aktivitäten der Herrnhuter in Nordamerika und Großbritannien, bevor die alltägliche religiöse Praxis in den Brüdergemeinen geschildert wird. Aufschlussreich ist dabei M.s Hinweis auf die Tropenidee Zinzendorfs, mit der er die administrative Verfasstheit der Gemeinden ordnen wollte: „Die Brüdergemeine bildete [. . .] eine Verfassungsunion bei Anerkennung der konfessionellen Unterschiede.“ (50) Im Anschluss werden einige Gegner Zinzendorfs, wie Johann Philipp Fresenius und Christoph Friedrich Brauer, kurz angesprochen (55 f.). Allerdings hätten diese Gegner, an denen es Zinzendorf wie Herrnhut bekanntermaßen nicht gemangelt hat, ausführlicher vorgestellt werden sollen. Insofern lässt das zweite Kapitel, das mit Zinzendorfs Londonaufenthalt und Tod 1760 endet, einige Fragen offen. Aussagekräftiger ist dagegen das dritte Kapitel, das den Titel „Der eigene Weg in der Gemeinschaft der Kirchen (1761–1800)“ trägt (63–93). Einen signifikanten Wandlungsprozess der Herrnhuter Gemeinden markierte die Synode in Marienborn im Juli 1769, an der u. a. auch Johann Wolfgang von Goethe, der den Herrnhutern bekanntermaßen eine gewisse Sympathie entgegenbrachte, als Gast hatte teilnehmen wollen – doch er kam zu spät, die Synodalen waren bereits abgereist. M. fasst zusammen: Jede Gemeinde wurde nun als selbständige ökonomische Einheit betrachtet, die für sich selbst wirtschaften und ihren Prediger sowie die von ihr eingesetzten Mitarbeiter besolden und ihre Einrichtungen unterhalten musste. Damit wurde die theokratischzentralistische Verfassung der Brüdergemeine zugunsten eines dezentralen, demokratischen Elementes abgebaut, um der Kritik an der zentralen Leitung entgegenzuwirken und so eine stärkere moralische Verantwortung für das Ganze zu fördern. (64)

In den folgenden Jahren wurde die Annäherung der Herrnhuter an die Landeskirchen wichtiger, v. a. um der Gefahr einer öffentlichen Wahrnehmung als Sekte entgegenzuwirken (66). In dieser Phase spielte Spangenberg eine entscheidende Rolle. 1779 erschien Spangenbergs Idea fidei fratrum oder kurzer Begriff der Christlichen Lehre in den evangelischen Brüdergemeinen, laut M. die „erste größere systematische Darstellung der brüderischen Theologie“ (68). Angesichts der führenden Position Spangenbergs, der vom Vf. als „‚Ordner der Unität‘“ bezeichnet wird, hätten die biographischen Informationen zu ihm 295 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

umfangreicher sein dürfen. Auch die persönlichen Kontakte Spangenbergs zu J.S. Semler, die M. lediglich am Rande streift (86), hätten hier ausführlicher dargestellt werden können. Und man hätte darauf hinweisen sollen, dass z. B. in der Person Georg Christian Knapp Mitglieder der Halleschen Fakultät auch in späteren Jahren intensive Kontakte zu den Herrnhutern pflegten. Außerdem wird die spezifisch herrnhutische Diasporaarbeit, die in den Fußstapfen Zinzendorfs stehend nicht die geistliche Betreuung eigener Konfessionsmitglieder, die in einer fremdkonfessionellen Mehrheitsgesellschaft lebten, intendierte, sondern vielmehr die Gemeinschaftspflege mit den „in allen Konfessionen lebenden Kindern Gottes“ (71) suchte, von M. näher charakterisiert (71–75). Bemerkenswert war der innerhalb des Missionswesens von Seiten der Herrnhuter aktiv betriebene Versuch, sich den Bestrebungen der jeweiligen Kolonialherren zu entziehen. Allerdings ist M.s Einschätzung bezüglich der von den Herrnhutern betriebenen Missionsstationen, diese seien „Inseln der Menschlichkeit in einer Welt der Sklaverei und wirtschaftlichen Ausbeutung“ (76) gewesen, zu hoch gegriffen. M. beschließt dieses Kapitel mit einem Einblick in das fortschrittliche Wirtschaftssystem der Brüdergemeinen (88–93), das die jeglichen Zunftzwang ablehnenden Brüder für ökonomisch fortschrittlich denkende Fürsten interessant werden ließ. Im vierten Kapitel, „Stillstand und neues Leben (1801–1899)“, erweitert M. die historische Perspektive (94–123) um instruktive Ausführungen, u. a. zur Geschichte der Herrnhutermission im 19. Jahrhundert und zeigt dabei, wie nachhaltig nunmehr der Akzent auf die „Erweckung“ als geistlichen Impuls gelegt wurde. Der Vf. veranschaulicht, wie intensiv die Verbindungen der Herrnhuter zur Inneren Mission wurden und beschließt dieses Kapitel wiederum mit einem interessanten Seitenblick auf die wirtschaftliche Verfasstheit der Gemeinden. Spezifisch für die Brüdergemeine war eine Spezialisierung ihrer Mitglieder auf Handwerk und Manufakturen, die anders als eine bäuerliche Tätigkeit mehr Möglichkeiten zur Mobilität und Anpassung bot und insbesondere bei missionarischer Betätigung half. Auch das abschließende fünfte Kapitel, „Die Brüdergemeine in Deutschland zwischen Bedrängnis und Hoffnung (1900 bis 2000)“, bietet vertiefte Einblicke in die Geschichte der Herrnhuter. M. zeigt die negativen Auswirkungen des ersten Weltkriegs für die Missionsarbeit und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu Beginn der 1920er Jahre. Abwägend im Urteil betrachtet der Vf. die Geschichte der Gemeinde unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft und entlarvt dabei so manche Selbsttäuschung, der sich herrnhutische Institutionen wie z. B. das Pädagogium in Niesky hingaben (139–141). Die zum Teil intensive Zusammenarbeit mit der Bekennenden Kirche wird ebenso präzise geschildert (142 f.) wie die weitere Entwicklung nach 1945, in der es infolge einer Ost-West-Verschiebung zu einer deutlich wachsenden Mitgliederzahl im Westen auf Kosten der östlichen Gemeinden kam (149). Die Teilung Deutschlands hatte auch für die Aufgabenbereiche der Herrnhuter langfristige Konse296 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

quenzen. Denn während sich im Osten die Brüdergemeine vor allem auf die diakonische Arbeit, insbesondere in der Alten- und Behindertenpflege einschränken musste, konnten die westdeutschen Gemeinden ungehindert ihre Missions- und Diasporaarbeit fortsetzen. Insgesamt hat M. mit seiner Studie einen verlässlichen und souverän geschriebenen Überblick vorgelegt, wobei v. a. die Kapitel vier und fünf neue Einblicke in die Geschichte der Brüdergemeine liefern. Der für weiterführende Forschungen hinderliche Verzicht auf Zitatnachweise ist dem Charakter der allgemeinen Einführung dieses Buches geschuldet. Malte van Spankeren

Münster

Geertruida Hendrika Bouman-Komen: Bruderliebe und Feindeshaß: Eine Untersuchung von frühen Zinzendorftexten (1713–1727) in ihrem kirchengeschichtlichen Kontext. Hildesheim, New York: Georg Olms Verlag 2009 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Leben und Werk in Quellen und Darstellungen. Hg. v. Erich Beyreuther [u. a.]. Bd. XXXIII). – 466 S. Truus Bouman-Koman provides an exhaustive examination of the earliest writings of Zinzendorf with special attention to the development of his understanding of brotherly love, rather than orthodox doctrine, as the mark of true Christianity. She concludes her study with the Brotherly Agreement signed by the residents of Herrnhut in 1727. As Bouman-Koman rightly points out, inclusion necessitates some type of exclusion; therefore one cannot discuss brotherly love without giving attention to its opposite concept of enmity. Bouman-Komen gives a “close reading” of Zinzendorf’s early poetry and surviving letters, and her systematic analysis of Zinzendorf’s writings is thorough, but it often seems repetitive and overly detailed. More synthesis prior to the final chapter would have been welcome. To a great extent, this volume functions as a biographical study of the count from his days at Halle to the experience of August 13 1727. Though much of this information is found in Erich Beyreuther’s biography of the count, Bouman-Komen provides a fresh perspective of Zinzendorf and his relationship to his peers through her close reading of Zinzendorf’s poems and letters. It is interesting to learn that Zinzendorf, like most adolescents, could be effusive in his expressions of love for friends and equally harsh in his criticism of his peers. Bouman-Komen may place too much weight on the writings of the immature Zinzendorf, but her analysis does demonstrate that many of the count’s lifelong objectives, most notably uniting Christians across confessional divides, were formed early in his youth. It is also evident that the young count was influenced by mystical and heterodox literature prior to his coming of age. After leaving school he was not only impressed with the Jansenist-leaning pri297 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

mate of France, but he celebrated the personal piety and writings of radical Pietists like the Petersens and Hochmann von Hochenau, whom he met at Ebersdorf. Based on Bouman-Komen’s analysis, it is clear that the religious milieu of Ebersdorf had a lasting impact on Zinzendorf. Much of the scholarship on Zinzendorf in the 20th century focussed on the issue of whether he was primarily a Lutheran theologian or should be considered a heterodox Pietist. Bouman-Komen relies heavily on the earlier work of Aalen, Schneider, and Vogt in her investigation of Zinzendorf’s early writings. She confirms that the young Zinzendorf deviated from the dogmatics of Lutheran scholasticism in his emphasis on love as a necessary component of faith. Philadelphian thought and mysticism appear in Zinzendorf’s writings from a very early age, but Zinzendorf did not adopt their ideas uncritically. He remained more respectful of the established church than most radical Pietists, affirming, for instance, the Augsburg Confession and taking Holy Communion in the state church. One of Bouman-Komen’s helpful insights is that Zinzendorf continually sought to reconcile opposing theological perspectives including those of radical Pietism, Halle Pietism, and Orthodoxy. Unlike Jane Leade and other Philadelphians, Zinzendorf was not content to wait for the reconciliation of the world’s Christians under the reign of Christ, he worked to bring various factions together, which meant he tried to bring Separatists back into fellowship with the established church. Bouman-Komen argues that Zinzendorf’s attitude toward the dialectic of Bruderliebe and Feindeshass grew more nuanced as he matured. He tried to distinguish between Jesus’ call for brotherly love among those united in Christ and the commandment to love one’s neighbor, for instance. After he became a landowner and public figure, he wrote about the need to love one’s enemies rather than hating them. After publishing the “Dresden Socrates” his language toward his opponents softened somewhat. Interestingly, though, he grew more critical of the aristocracy as he grew older, perhaps because he had greater first-hand experience of the world. In this regard, Bouman-Komen perhaps should have given greater attention to the role that the Moravian refugees in Herrnhut played in the development of his concept of Christian brotherhood in the 1720s. It was one thing for Zinzendorf to call a peer like Frederick von Watteville “brother” or even to call his wife “sister;” it was quite another thing to call Czech peasants and artisans by those same terms with similar meaning. Zinzendorf’s Philadelphian ideal seems to have been more spiritually egalitarian and ecumenical than his contemporaries. But as Bouman-Komen notes, this inclusiveness was based on Zinzendorf’s very exclusive Christocentricism. Brotherly love was extended only to those who shared his faith in Jesus as the Savior, not to the world at large. Craig Atwood

USA-Bethlehem, PA

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Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines GottesGelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. v. Dieter Ising. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010 (Edition Pietismustexte, 1). – 267 S. Ulrike Kummer: Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Untersuchung und Edition. Frankfurt/Main [u. a.]: Peter Lang 2010. – 264 S.; Ill. Mit der Autobiographie Oetingers liegt das bemerkenswerte Schriftzeugnis eines Theologen vor, der mit seiner eigentümlichen, schon den Zeitgenossen weithin bekannten Position zwischen lutherischer Theologie, böhmistischer Theosophie, hermetisch-alchemischer Naturphilosophie und -forschung, christlicher Kabbala, swedenborgischer Geisterweltlehre und nicht zuletzt aufklärerischer Rationalismuskritik auf den ersten Blick höchst disparate Strömungen der späteren Aufklärungszeit in sich vereint.1 Die Genealogie sieht aus wie ein planmäßig zusammengestelltes Florilegium, wie ein gelehrter Steinbruch, der sich durch nur angedeutete Lehrsysteme und deren Repräsentanten, aber vor allem durch die Reichhaltigkeit der Basis des großen Eklektikers Oetinger („man muss prüfen und das Gute behalten“,2 1Thess 5,21) auszeichnet. Nach der populären, auf K.C.E. Ehmanns Ausgabe von 1859 basierenden Edition der Genealogie Oetingers von Julius Roessle ist es lange ein Desiderat gewesen, dieses bemerkenswerte, erstmals sogar noch vor Oetingers Tod in Auszügen von J.K. Pfenninger gedruckte Dokument des lutherischen Theosophen Oetinger wissenschaftlich herauszugeben. Das lag nicht nur daran, dass Roessle Ehmanns Ausgabe folgte, der die Genealogie durch Kompilationen und Passagen aus anderen Schriften verändert hatte, ohne dies im Einzelnen kenntlich zu machen. Ehmanns Text wurde so immerhin zu Oetingers Text, sofern Oetingerforscher wie Ernst Benz auf ihn als auf einen Oetingertext zurückgriffen und ihre Forschungsergebnisse wenigstens teilweise auf der Basis kompilierten Materials erbrachten.3 So stellt sich die Frage, inwieweit die Oetingerforschung durch die Neuausgabe sogar korrigiert werden muss. Es lag also bisher nicht nur eine redaktionell von zweiter Hand überarbeitete Quelle vor, auch die Datierung war unklar und kann nun auf den langen Zeitraum von 1762 bis 1780 präzisiert werden, in dem Oetinger selbst redaktionell 1 Vgl. jetzt: Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011, 506–555. 2 Zit. n. Erich Beyreuthers Einführung in Oetingers Swedenborgs und Anderer irdische und himmlische Philosophie. Stuttgart 1977, XLII. 3 Ernst Benz (Swedenborg in Deutschland. F.C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinandersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs. Frankfurt/Main 1947) greift häufig auf Ehmanns Ausgabe zurück. Auf Seite 230 beispielsweise wird eine Stelle zitiert, die sich in Roessles 2. Auflage von 1978 (105) findet, aber nicht aus der Genealogie selbst, sondern aus dem Vorbericht einer anderen Schrift Oetingers stammt. Vgl. Stengel [s. Anm. 1], 580. Bei Kummer (111) und Ising (191 f.) ist die Passage nicht mehr enthalten, beide gehen nicht auf die Textverschiebung ein.

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an dem Text gearbeitet hat. Denn Oetingers „Fassung letzter Hand“ ist am Ausklang des 20. Jahrhunderts im Landeskirchenarchiv Stuttgart wiederentdeckt und in Martin Weyer-Menkhoffs Dissertation von 19904 schon verwendet worden. Es hat aber noch mehr als 20 Jahre gedauert, bis dieses Original 2010, nun aber gleich zweimal, eine wissenschaftliche Edition erfahren hat, wobei die eine Ausgabe (Kummer) neben der „Fassung letzter Hand“ auch die beiden in der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart und in der UB Tübingen befindlichen Manuskripte in einem eigenen textkritischen Variantenapparat hinzugezogen hat. Mit den beiden Editionen liegt aber keine Doppelung vor, denn beide verdanken sich verschiedenen, wissenschaftshistorisch gewichteten Interessen, die trotz der vermeintlich klaren und eindeutigen Ansprüche an Methode, Verfahren und Ziel wissenschaftlicher Editionen zu – unerwartet – verschiedenen Ergebnissen führen. Die Ausgabe des Stuttgarter Theologen Dieter Ising ist im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus als erster Band der Edition Pietismustexte herausgekommen; Ulrike Kummers literaturwissenschaftliche Dissertation ist bei dem Wissenschaftshistoriker Joachim Telle entstanden. Ising will die Facetten der Genealogie historisch und vor Oetingers literarisch-biographischem Hintergrund kontextualisieren, zugleich aber auch auf die aktuelle theologische Relevanz Oetingers und der Debatten aufmerksam machen, in die er eingebunden war (Ising 255, im Folgenden I). Genau diesem zweiten Vorhaben verdanken sich, wie noch zu zeigen ist, editorische Spezialisierungen und der besondere pädagogische Zweck dieser Ausgabe. Auf die Dissertation Kummers konnte der Editor gerade an den von ihm weniger bedachten Punkten noch zurückgreifen; dafür steht der besondere Hinweis auf ihr Interesse an Oetingers Alchemie und an der hermetischen (bei Ising heißt es 256 merkwürdig: „hermeneutischen“) Tradition. Denn dieser Aspekt in Oetingers theosophisch-alchemischer Arbeit, der einen großen Teil seines Gesamtwerks und seiner Biographie ausmacht (I 248), ist in Isings Edition deutlich unterrepräsentiert. Nimmt man ferner den großen Raum zur Kenntnis, den Oetingers Auseinandersetzung mit Swedenborg in der Genealogie ausfüllt, dann fällt auf, dass die umfangreiche internationale Swedenborgforschung in der Edition nicht erwähnt wird. Es bleibt bei minimalen Titelangaben. Nicht einmal die älteren Werke von Ernst Benz werden genannt. Zieht man ferner in Betracht, dass Oetinger seit Mitte der 1760er Jahre neun (darunter seine insgesamt wichtigsten) Schriften, die sich direkt oder auch der Auseinandersetzung mit Swedenborg verdanken, herausbrachte und überdies (teils auszugsweise) Übersetzungen von sechs Hauptwerken Swedenborgs anfertigte oder in Auftrag gab,5 dann nimmt die ambivalente und für Oetingers eigene Theologie substantielle Swedenborgdebatte in der Geneaologie 4 Martin Weyer-Menkhoff: Christus, das Heil der Natur. Entstehung und Systematik der Theologie Friedrich Christoph Oetingers. Göttingen 1990. 5 Vgl. Stengel [s. Anm. 1], 555–635.

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einen entsprechenden, in ihrer Edition durch Ising aber deutlich verkleinerten Raum ein. Mit Blick auf das Vorhaben der Ausgabe, die sich der historischen Einordnung und der theologischen Relevanz Oetingers verschrieben hat, ist daher festzustellen, dass die editorisch-kommentierende Marginalisierung der genannten drei Segmente nur einen bestimmten Teil Oetingers zurücklässt, der offenbar seine Relevanz für „heutiges theologisches Denken“ (I 255) erweisen soll, zu dem Alchemie, Hermetismus, Swedenborg – zu ergänzen wären für Oetinger überaus zentral: böhmistische Theosophie und Kabbala – offenbar nicht oder weniger gehören und als dann unfruchtbares historisches Erbe kommentararm stehen bleiben.6 Hängt diese Selektion mit der 1984 erhobenen und auf eine offensichtliche wissenschaftshistorische Vorentscheidung zurück gehende Forderung HansJürgen Schraders zusammen, man solle das „Eigenständige und Wirkmächtige“ strenger vom „Periphere[n] und Dilettantischen“ in Oetingers Werk scheiden (zit. n. Kummer 11, im Folgenden K)? Bereits die Arbeit von Weyer-Menkhoff folgte, sicherlich thematisch bedingt, im Hinblick auf die genannten Felder dieser Selektionsforderung, die dem „Kopfschütteln“ entsprach, mit der man bereits im 19. Jahrhundert Oetingers nun als unwissenschaftlich bewerteten naturkundlich-philosophischen Interessen begegnete (K 16). Während Kummer diesem Kopfschütteln aber mit nüchterner Historisierung entgegentritt und es zur besonderen Stärke ihrer Arbeit macht, die neueren Forschungen zur Theoalchemie und detaillierte und kenntnisreiche Erläuterungen in die Edition einfließen zu lassen, schlägt sich die ältere Position in Isings von seinem Standpunkt aus qualifizierender Kommentierung (I 145: „heute abwegig erscheinende Hypothesen“) und in der Auswahl der Referenzliteratur nieder, wo die neuesten Erkenntnisse über den Stellenwert der Alchemie- und Chemiegeschichte etwa Lawrence M. Principes, aber eben auch der deutschen Alchemieforschung im Umfeld Joachim Telles und Wilhelm Kühlmanns schlicht nicht bekannt zu sein scheinen. Das trifft auch auf neuere Literatur zum Komplex Hermetismus zu, die seit den Studien Rolf-Christian Zimmermanns oder Martin Mulsows durch die aktuelle Esoterikforschung erweitert worden ist, was Kummers Edition (K 195), die auch um den Hermetismus des alten Johann Salomo Semler weiß, wenigstens ästimiert. Auch Jakob Böhme wäre hier zu nennen. Während Kummer (K 13) gegen Albrecht Ritschls Fehlurteil die über Oetingers Hirsauer Zeit anhaltende Böhme-Rezeption als signifikanten Teil seiner Theologie betont und dieser Erkenntnis in ihren Kommentaren entspricht, beurteilt Ising (I 246) Böhmes – und der Inspirierten – Bedeutung für Oetinger in der Genealogie so, dass diese 6 In diesem Zusammenhang wäre zu ergänzen, dass die Formulierung (I 56), Knorr von Rosenroth habe mit der Kabbala denudata eine nähere Kenntnis der jüdischen Kabbala vermitteln wollen, zu präzisieren ist, sofern es sich um den seit Pico della Mirandola unternommenen Versuch handelt, die Übereinstimmung von Kabbala und Christentum nachzuweisen, nicht aber die jüdische Kabbala zu propagieren. Hinweise auf die reiche (moderne) Kabbala-Forschung fehlen hier.

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ihm lediglich der „Erinnerung“ wert waren. Hängt diese Marginalisierung damit zusammen, dass dem Leser an anderer Stelle die seit Heinrich Bornkamms und Eberhard Pältz’ Arbeiten bestrittene theologische Wertung Jakob Böhmes nahe gelegt wird, dass dessen Lehre nämlich substantiell der lutherischen Rechtfertigungslehre widerspreche (I 61)? Auf diese Weise wird die wohl etappenhafte, ambivalente und partielle Rezeption Böhmes durch Oetinger gleich mit qualifiziert und eine zeitgenössische Debatte, in der der Geltungsbereich des Lutherischen und damit die Deutungshoheit über dasjenige, was gerade im Hinblick auf die Rechtfertigungslehre für orthodox zu halten sei, in die normative Bewertung historischer Vorgänge überführt. Das mag dem Raum im Text selbst, nicht jedoch Oetingers böhmistischer Theosophie entsprechen, die sich gerade in der Auseinandersetzung mit Swedenborg und auf dem Weg zum Biblischen und Emblematischen Wörterbuch, also in der Zeit der Abfassung der Genealogie, noch einmal verstärkt hat. Dass diese wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich zentralen Segmente der Lehre Oetingers an die Peripherie gedrängt oder nichttheologischen Kommentatoren überlassen werden, erscheint wie eine katechetische Anleitung zum ‚richtigen‘ Verständnis dessen, was an Oetinger für den Leser bewahrenswert und was andererseits im o.g. Sinne als dilettantisch oder anti- oder vormodern anzusehen und zu vernachlässigen ist: seine hermetisch-alchemische, theosophische, kabbalistische oder swedenborgische Seite, wobei diese Empfehlungen sowohl deutlich ausgesprochen als auch durch Nichterwähnung ausgedrückt werden. Demgegenüber überzeugt Kummers (K 35 f.) treffende Beschreibung von Oetingers irenischem Programm als Synopse „böhmistisch-heterodoxer“ und „lutherisch-kirchlicher“ Lehre mit dem Anspruch auf Definitionshoheit über die kirchliche Lehre selbst. Aus dieser Warte ist der editorische Blick auf die o.g. disparaten Strömungen grundlegend geöffnet und nicht durch eine wie auch immer motivierte Vorentscheidung verengt. Die Dissertation Kummers folgt sachlich begründet nicht einem besonderen pädagogischen Interesse, ihr ist aber auch kein Übergewicht auf der alchemisch-hermetischen Seite Oetingers anzulasten, das den theologischen Feldern Abbruch getan hätte. Sie belegt eindrücklich, dass eine integrierende Forschung über die Bande der engen Fachgrenzen zu spielen vermag, auch wenn ihr kleinere Defizite und Lücken bei der Aktualität der zitierten Forschungsliteratur unterlaufen sind: Oetinger hat nicht die (achtbändigen) Arcana coelestia Swedenborgs übersetzt, sondern nur Teile aus dem ersten Band.7 Er gab sie auch nicht in zwei Bänden heraus (K 32); Band 2 von Swedenborgs und anderer irrdische und himmlische Philosophie besteht aus Exzerpten und Diskussionen verschiedener (natur-)philosophischer Systeme. Nicht näher erläutert wird der Zweifel an Oetingers Verfasserschaft des Höchstwichtigen Unterrichts (K 41). Zur Theologie des Aristoteles hätte ergänzt werden können, dass es sich um eine Para7

Vgl. Stengel [s. Anm. 1], 559.

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phrase der Enneaden Plotins handelt (K 169).8 Mit der Bemerkung, Oetinger habe im Gegensatz zu Bengel nur ein Millennium angenommen (K 158), wird dem nicht zutreffenden Befund Martin H. Jungs gefolgt.9 Bei der für den späten Oetinger typischen Rede von Gott als ens manifestativum (K 154 par. Ising) hätte Gottfried Ploucquet als Referenzautor herangezogen werden sollen. Gegenüber diesen kleineren Lücken fällt das wohl begründete Vorgehen Kummers in einem sachkundigen Durchgang durch die besonderen Problemlagen des Gesamtwerkes von Oetinger ins Auge: fehlende Editionen mancher Hauptwerke und seiner bemerkenswerterweise erhaltenen Korrespondenz (Zinzendorf, Lavater, Diviš!), die in der Oetinger-Forschung vernachlässigte (gegen Kummer: nicht nur physikotheologisch, sondern theosophisch) inspirierte und in ihrem Umfang nicht zu übersehende alchemische Schlagseite (K 16–20) sowie seine unerforschten Verbindungen zu den allerdings erst in jüngster Zeit untersuchten und mit Blick auf Oetinger noch besser zu erforschenden Gold- und Rosenkreuzern (K 20–26). Das hier und im Kommentarteil dargebotene Material bietet reichhaltige Anregungen für diese wichtige ‚praktische‘ Seite des lutherischen Theosophen. Schließlich ordnet Kummer die Genealogie in das Genre pietistischer Autobiographien ein und betont gegenüber den etwa bei Francke beschriebenen Berichten über ein einmaliges Bekehrungserlebnis die Dynamik der theologisch-philosophischen Genealogie (K 27–36, 30). Diese laufe nicht auf die Entwicklung von Ideen oder der Person selbst, sondern auf die mystische, man hätte hier durchaus schreiben können: empirische Gotteserkenntnis hinaus (K 35). Die Liste der Oetinger prägenden Personen (ebd.) könnte durchaus erweitert und präzisiert werden, wobei der Einfluss Speners gegenüber dem Böhmes, aber auch Leibniz’, Malebranches und Swedenborgs nicht überschätzt werden sollte. Oetingers bekannte und mehrfache Referenz auf Spener im Zusammenhang mit seiner Rechtfertigung seines Böhmismus (vgl. den gegenüber I 65 ausführlichen Kommentar in K 155 f.) ist ein typisches Beispiel für sein eklektisch-apologetisches Verfahren, das sich autoritativ absichert, darüber hinaus aber kaum inhaltliche Rezeptionen erkennen lässt. Bemerkenswert sind Kummers Ausführungen über die zeitgenössische Überlieferungsgeschichte (das wäre ein angemessenerer Ausdruck für Wirkungsgeschichte). Hier wird die tatsächlich nachweisbare – erstaunlich weite – Verbreitung der Genealogie nachgezeichnet, und es wird der Frage nachgegangen, ob bekannte Oetinger-Rezipienten mit ihr vertraut waren. Dabei werden eindrückliche Erkenntnisse über die Oetinger-Rezeption im 18. und 19. Jahrhundert bis hin zu Hermann Hesse geliefert (K 50 f.) Beide Editionen sind durch die fortlaufende Bezugnahme auf das Original gut vergleichbar. Und das ist wegen inhaltlicher und editorischer Differenzen 8 Vgl. Fritz W. Zimmermann: The Origins of the So-called Theology of Aristotle. In: PseudoAristotle in the Middle-Ages. Ed. by Jill Kraye [et al.]. London 1986, 110–240. 9 Vgl. Stengel [s. Anm. 1], 552.

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auch gewinnbringend. So löst Kummer gelegentlich (K 117) Adressatenkürzel wohl irrtümlich auf, wo Ising (I 212) zutreffender gelesen haben dürfte. Auch sind die auf verschiedenen Manuskriptseiten überlieferten Dokumente bei Kummer zusammengesetzt, bei Ising hingegen im Originalzustand belassen worden (z. B. I 202–213 par. K 114–118, oder I 93). Zuweilen macht Ising andere Handschriften aus (I 200.4 par. K 113.40), führt zusätzliche Verfasserangaben (I 202.11 par. K 114.20), Worterklärungen (I 82 Anm. 577 par. K 90.46) und Querverweise auf andere Werke Oetingers an (I 92 Anm. 477 par. K 170). An manchen Stellen sind über Oetingers Briefe und andere Werke von Kummer über Ising hinausführende Informationen erbracht worden, wie etwa im Falle von J. Korte oder W. Wolleb (K 175, 179 f.). Zu einigen Begriffen hätte man sich weitere Erläuterungen in beiden Ausgaben gewünscht, z. B. zu den zeitgenössisch viel diskutierten Stichwörtern „Natur und Gnade“ (I 112 par. K 177), zur (Nicht-)Ewigkeit der Höllenstrafen (I 142 par K 194), zu dem für Oetinger zentralen Begriff der Endelechie (I 108.1 par. K 177.16 f.). Im Großen und Ganzen sind die erwähnten Personen und Sachbegriffe aber in beiden Editionen umfangreich aufgeschlüsselt. Dass die Lesbarkeit der IsingEdition gegenüber Kummers Ausgabe erleichtert ist, weil sich die Anmerkungen auf der Textseite befinden, ist der Tatsache geschuldet, dass Kummers separater Kommentarteil umfangreicher und informativer gestaltet ist und dabei besonders auf die bei Ising eher am Rand liegenden Bereiche eingeht. Auf manche wichtigen Studien verweisen beide nicht, so auf W. Schoberths Geschöpflichkeit in der Dialektik der Aufklärung (1994) als dezidiert systematischtheologischer, innovativer Neueinordnung Oetingers in den Aufklärungsdiskurs. An mehreren Stellen wirkt sich die Provenienz des Pietismusforschers Ising produktiv aus, nämlich dort, wo über Kummer hinaus auf anderes Archivmaterial, besonders auf die von ihm bearbeitete Korrespondenz Bengels und auf Oetingers Kontakte nach Halle (z. B. I 37–39), aber auch auf kirchenpolitische Ereignisse in Württemberg (z. B. I 186) referiert wird. Trotz dieser Anmerkungen und der Ergänzungsfähigkeit beider auch komplementär nutzbaren Editionen gilt: für die Pietismus-, Aufklärungs- und Esoterikforschung im weiteren und für die Oetingerforschung im engeren Sinne ist ein Forschungsdesiderat eingelöst worden. Ein zitierfähiger, mit unterschiedlichen Akzentuierungen kommentierter Text liegt nun endlich vor. Forscher und Bibliotheken, die sich einschlägig historisch beschäftigen wollen, werden sich beide Editionen anschaffen. Am Ende sei dem Rez. noch die Frage gestattet, ob es sinnvoll ist, die nicht im engeren Sinne theologie- und kirchen-, also die philosophie- und literaturhistorischen Segmente von Werken, Biographien und Kontexten, die längst Gegenstand interdisziplinärer Arbeit geworden sind, nichttheologischen Kommentatoren zu überlassen. Das ist nicht nur eine wissenschaftspolitische Frage von Zuständigkeiten, und die bisher vorliegenden Editionen der Lehrtafel, der Theologia und des Wörterbuchs weisen solche Abdelegierungen auch nicht auf. 304 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Es wäre wünschenswert, dass diese Editionsarbeit, in die die Geneaologie mit aufgenommen werden könnte, für weitere zentrale Werke Oetingers, vor allem für die Metaphysic in der Connexion mit der Chemie und Swedenborgs und anderer irrdische und himmlische Philosophie fortgesetzt werden könnte. Gerade an Persönlichkeiten wie an dem lutherischen Theosophen Oetinger ist deutlich erkennbar, dass ein im engeren Sinne theologischer Zugriff die Komplexität der Debatten unzulässig zu reduzieren und die Ausschreitung des zeitgenössischen theologisch-philosophischen Diskurses zu erschweren droht. Die Rezeption neuerer esoterikgeschichtlicher Ansätze in der Erforschung des 18. Jahrhunderts könnte zugleich auch esoterischen Vereinnahmungen, wie sie im Falle der Arbeiten etwa von Gerhard Wehr vorliegen, entgegenwirken. Die Ausblendung vermeintlich vormoderner und daher zu ignorierender Kontexte aber hilft, solche Esoteriken mit zu produzieren. Eine konsequente Historisierung würde solchen Usurpationen widerstehen, sie würde der Komplexität des Historischen gerecht werden und nicht auf seine Selektion und Qualifizierung drängen. Friedemann Stengel

Halle a. d. Saale / Heidelberg

Charlotte E. Haver: Von Salzburg nach Amerika. Mobilität und Kultur einer Gruppe religiöser Emigranten im 18. Jahrhundert. Paderborn [u. a.]: Schöningh 2011 (Studien zur Historischen Migrationsforschung, 21). – 475 S.; Ill., Kt. In der gekürzten und überarbeiteten Fassung ihrer an der Universität Dortmund angenommenen Habilitationsschrift begleitet Charlotte Haver eine Gruppe der im 18. Jahrhundert berühmten Salzburger Emigranten auf ihrem Weg nach Nordamerika. Von den mehr als 20.000 in den Jahren 1731 bis 1732 aus dem Salzburgischen ausgewanderten Protestanten siedelten bis 1741 etwa 200 in der jungen britischen Kolonie Georgia. Mit substantieller europäischer Unterstützung gründeten sie unter Führung des Hallenser Theologen Johann Martin Bolzius die Gemeinde Ebenezer und entwickelten sich in den folgenden Jahrzehnten langsam, so die Verfasserin, von Kryptoprotestanten zu Amerikanern. In fünf Kapiteln beschreibt Haver die Situation der Protestanten in Salzburg sowie ihre Auswanderung aus dem Erzbistum, die Übersiedlung einiger Exulanten nach Nordamerika, das Verhältnis der Salzburger zu den anderen Gruppen in der Kolonie und schließlich ihre schrittweise Akkulturation in geistigen wie materiellen Belangen. Die Verfasserin verfolgt dabei ein doppeltes Erkenntnisinteresse. Zum einen stellt sie die Salzburger Emigration in den Kontext religiöser Auswanderungen in der Vormoderne. Immer wieder rekurriert sie auf die transatlantischen Migrationen anderer protestantischer Gruppen in der Frühneuzeit, etwa der 305 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Quäker und Herrnhuter, oder vergleicht die Salzburger beispielsweise mit den puritanischen Immigranten in Neuengland. Die Salzburger Amerikaauswanderer erweisen sich aus dieser Perspektive nicht mehr als kurioses Einzelfallphänomen, vielmehr illustriert ihr Fall die transformatorischen Dynamiken frühneuzeitlicher Gesellschaften. Zum anderen, und ausführlicher, zeichnet Haver den Akkulturationsprozess der Salzburger in Nordamerika nach. Sie geht dabei ebenso auf die Konfrontation mit dem Anderen in Gestalt von Briten, Indianern und Afrikanern ein wie auf den Aufbau und die Veränderung kirchlicher, edukativer, politischer und ökonomischer Strukturen und Institutionen in Ebenezer sowie auf den damit einhergehenden Mentalitätswandel. Der Veränderung der materiellen Kultur, von Werkzeugen über Siedlungsmuster bis zur Heilkunde, ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Auch hier bietet Haver umfangreiche Kontexte, schildert ausführlich das europäische ideelle, institutionelle und materielle Erbe der Salzburger, die allgemeinen kolonialen Traditionen und die zahlreichen spezifischen alt- wie neuweltlichen Einflüsse, denen die Einwanderer in Ebenezer ausgesetzt waren. In ihrer abschließenden Interpretation führt Haver diese beiden Erkenntnisstränge zusammen, indem sie die Salzburger Amerikaauswanderer als Teil einer zur Neuzeit hinführenden sozialen, kulturellen und politischen Mobilisierung deutet, welche ihren paradigmatischen Ausdruck fand in den Unabhängigkeitsbestrebungen der nordamerikanischen Kolonialgesellschaften. Auf diese Weise verbindet sie ein klassisches Bild der Migrationsgeschichte vom Wanderer als Motor gesellschaftlichen Wandels mit gängigen Vorstellungen vom 18. Jahrhundert als Transformationsperiode hin zur Moderne, in denen den aufbegehrenden Kolonien die Rolle von Vorreitern gesellschaftlicher Umbrüche zukommt. Die Verfasserin strebt erklärtermaßen nach einer lebendigen Darstellung des historischen Geschehens, geboren aus einem genuinen Interesse an den Menschen der Vergangenheit (vgl. 7, 9, 12 f.). Sie zitiert daher ausführlich aus publizierten sowie einigen handschriftlichen Quellen und lässt zeitgenössische Kenner der Salzburger und Ebenezers, vor allem den Kolonialprediger Bolzius, zu Wort kommen. Die empathische und zitatlastige Form der Darstellung geht zuweilen auf Kosten der argumentativen Präzision. Beispielsweise bleibt unklar, weshalb sich Haver in ihren Schilderungen des altweltlichen Erbes der Einwanderer auf das Salzburgische beschränkt (vgl. 102, 322–325), obwohl doch ab den 1740er Jahren nur mehr ein Teil, später nur noch eine Minderheit der Einwohner Ebenezers Salzburgische Wurzeln vorweisen konnte. Die Verfasserin erwähnt die Nicht-Salzburger in Ebenezer durchaus (vgl. 65, 69–73). Ihr in diesem Zusammenhang zentrales Argument, dass die Salzburger Mitglieder der ersten Migrantentransporte auch nach der Zuwanderung großer Gruppen aus anderen Teilen des Reichs noch die Gemeinde dominierten (vgl. 73), bleibt jedoch unbelegt und wäre nach meinem Kenntnisstand auch kaum zu belegen. Für eine umfassendere Beurteilung dieser Studie muss man die Tatsache berücksichtigen, dass die zugrunde liegende Habilitationsschrift bereits 1991 306 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

angenommen wurde. Zwar wurde die Arbeit für die Publikation überarbeitet. Die in der Habilitationsschrift1 für die Benennung ethnischer Minderheiten verwendeten, nicht mehr zeitgemäßen Begriffe etwa wurden durch heute gängige Termini ersetzt. Auch wurde das Literaturverzeichnis um in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten erschienene Titel ergänzt, allerdings fehlt sämtliche seit 1991 publizierte einschlägige Literatur zur transatlantischen Migration der Salzburger und zu Ebenezer. Das 1992 erschienene Standardwerk zu den ‚Georgia Dutch‘ von George Fenwick Jones sowie das umfangreiche wissenschaftliche Werk Renate Wilsons zu Ebenezer sind ebenso wenig aufgeführt wie neuere Aufsätze etwa von James Van Horn Melton oder dem Verfasser dieser Rezension.2 In ihrer Einführung scheint Haver zu suggerieren, dass die Quellen zur Geschichte der Salzburger Protestanten noch ihrer historischen Aufarbeitung harrten, auch seien die ‚Georgia Salzburgers‘ zumindest in der deutschen Forschung fast unbekannt (vgl. 11–13, 16). Diese Diagnose ist mittlerweile nicht mehr haltbar. Auch die Quellenauswahl muss auf der Grundlage des Forschungsstands hinterfragt werden. Havers wichtigste Quelle sind die Diarien, also das Berufstagebuch, des Gemeindegeistlichen, welches in 22 Bänden von 1738 bis 1767 in Halle und Augsburg herausgegeben wurde. Ergänzend zieht Haver neben verschiedenen Quellen aus deutschen und österreichischen (allerdings nicht aus amerikanischen) Archiven zeitgenössische Veröffentlichungen zur Salzburger Emigration und zur Kolonie Georgia aus deutscher und britischer Feder heran; hier leistet sie ohne Zweifel Pionierarbeit, denn keine bis dato publizierte Studie zu Ebenezer gründet auf einer so breiten Basis zeitgenössisch publizierter Quellen. Zu Recht verweist die Verfasserin auf die spezifische Schlagseite der Diarien als ihrer zentralen Quelle. Nach meiner Auffassung geht dieser Bias zwar auch auf Eingriffe der Editoren in Augsburg und Halle zurück, die der Anonymisierung und zum Teil auch der Schönfärberei dienten, wie Haver schreibt (vgl. 87, 399). Er resultiert aber in erster Linie aus der spezifischen Perspektive des Hauptautors Bolzius, welche seiner institutioneller Sozialisation in Halle mindestens ebenso geschuldet scheint wie seinen individuellen Präferenzen und persönlichen Erfahrungen. Eine Diskussion der genauen Produktionsbedingungen ihrer wichtigsten Quelle bleibt die Verfasserin leider schuldig. 1

Zu finden in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen unter der Signatur HS 77, 1 & 2. George Fenwick Jones: The Georgia Dutch. From the Rhine and Danube to the Savannah, 1733–1783. Athens, GA 1992. Zu den anderen Autoren s. etwa Renate Wilson: Halle and Ebenezer. Pietism, Agriculture and Commerce in Colonial Georgia I. Ann Arbor, MI 1988; dies.: Pious Traders in Medicine. A German Pharmaceutical Network in Eighteenth-Century North America. University Park, PA 2000; James Van Horn Melton: From Alpine Miner to Low-Country Yeoman. The Transatlantic Worlds of a Georgia Salzburger 1693–1761, in: Past & Present 201, 2008, 97– 140; Alexander Pyrges: Wüsten und Weinberge. Religiöse Raumbeschreibungen und Kolonisierungspraxis in einem transatlantischen protestantischen Kommunikationsnetzwerk des 18. Jahrhunderts. In: Topographien des Sozialen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. Hg. v. Susanne Rau u. Gerd Schwerhoff. München 2008, 370–392. 2

307 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Stattdessen konstatiert sie, die Diarien seien eine ungewöhnlich „anschaulich[e] und informativ[e]“ (13) Quelle, „weil sie den Migrationsvorgang von innen darstellen“ (87); entsprechend extensiv fußt ihre Darstellung auf den Tagebüchern. Der empirische Gehalt der Diarien soll hier nicht bestritten werden, vor allem Jones und Wilson haben ihn bereits eindrücklich unter Beweis gestellt. Allerdings wundert es, dass die Verfasserin ergänzend keinen der beiden großen Bestände an Manuskripten herangezogen hat, deren Autoren die Gemeinde Ebenezer ebenfalls aus der Nähe beobachteten, allerdings zum Teil aus anderen Blickwinkeln: Gänzlich unerwähnt bleiben die umfangreichen handschriftlichen Bestände im Georgia-Archiv der Franckeschen Stiftungen. Im Anhang findet sich lediglich das publizierte Findbuch zitiert. In diesem Bestand finden sich unter anderem Briefe der anderen Gemeindegeistlichen und sogar einiger Gemeindeglieder sowie Entwürfe der ausgehenden Briefe der Waisenhausführung. Ob die Georgia betreffenden Archivalien des Waisenhauses vor 1989/90 tatsächlich Forschern aus der Bundesrepublik in jedem Fall zugänglich waren, möchte ich nicht letztgültig entscheiden. Zumindest aber indirekt hatte man Zugriff auf sie über die Dissertationsschrift von Hermann Winde aus dem Jahr 1960, die Haver zwar bibliografiert hat, aus der sie aber nicht zu zitieren scheint. Lediglich vereinzelt (vgl. 328) zitiert die Verfasserin aus dem zweiten großen Archivbestand, in dem sich unter anderem reichhaltige Informationen zur rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation der Migranten finden: den Protokollen, Korrespondenzen, Verordnungen etc. der Kolonialregierung, abgedruckt in den 39 Bänden der Colonial Records of the State of Georgia. Somit ignoriert Haver faktisch die beiden umfangreichsten, zeitgenössisch nicht publizierten Quellenbestände, die mittlerweile von der Geschichtsschreibung zu Ebenezer nicht nur entdeckt, sondern bereits umfassend genutzt wurden. Das Ausblenden der neueren Forschungsliteratur und die letztlich enge Quellenbasis haben zur Folge, dass nicht nur Havers Narrativ der schrittweisen Eingliederung und Amerikanisierung der Immigranten, sondern dass auch die Details ihrer Darstellung bereits zu weiten Teilen bekannt sind. Die Arbeiten von Jones, Wilson und anderen zeichnen ein ähnliches Bild der Salzburger in Georgia. Ein Unterschied zu diesen Arbeiten liegt vielleicht in der Art, wie Haver ihr Amerikanisierungsnarrativ zuspitzt. Die Salzburger, die zunächst das Regime der katholischen Unterdrückung hinter sich ließen und sich in die Neue Welt wagten, dort dann langfristig den ferngesteuerten Einhegungsversuchen des kontinentaleuropäischen Pietismus widerstanden, um schließlich zu Teilhabern einer pluralistischen und protodemokratischen neuen Ordnung zu werden, verkörpern für die Verfasserin den gesellschaftlichen Fortschritt am Ende der Frühneuzeit in all seinen Facetten, den neuzeitlichen Aufbruch des Menschen par excellence. Dass zwischen dem Verfassen der Arbeit und ihrer Publikation eine so lange Zeitspanne verstrichen ist, erweist sich somit nicht nur mit Blick auf Quellen308 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

bestände und Forschungsliteratur als problematisch. Die Forschungslandschaft zur Frühneuzeit hat sich seit 1991 in vielen Belangen grundlegend gewandelt. Nicht nur haben die Geschichte des österreichischen Geheimprotestantismus, der (auch transatlantischen) Migration, des globalen Pietismus und der Kolonialgesellschaften vermehrt die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen. Auch haben sich die Perspektiven der Forscher, ihre Vorannahmen, ihre Fragen und ihre Interpretamente gewandelt. Die für Haver selbstverständlichen und daher nicht definierten oder diskutierten Konzepte der Akkulturation und der Amerikanisierung etwa sind schon seit längerem Gegenstand intensiver Reflexionen. Aktuelle Arbeiten oszillieren beispielsweise häufig zwischen dem Narrativ einer Amerikanisierung europäischer Siedler und dem Narrativ einer Europäisierung der amerikanischen Kolonien. Grundsätzlicher sind Vorstellungen von linearen oder teleologischen Prozessen, etwa der letztlichen Akkulturation von Einwanderern in Aufnahmegesellschaften, in der Forschung Ideen von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gewichen. In neueren Arbeiten sind darüber hinaus an die Stelle des Denkens in monolithischen Blöcken, wie es Haver noch pflegt, wenn sie mit der Kultur des ländlichen Salzburgs oder der amerikanischen politischen Mentalität argumentiert, Vorstellungen von komplexen Gemengelagen oder der Situativität kultureller Muster getreten. Alexander Pyrges

USA-Washington

Elizabeth A. Clark: Founding the Fathers: Early Church History and Protestant Professors in Nineteenth-Century America. Philadelphia, Oxford: University of Pennsylvania Press 2011. – 576 pp. Despite its prominent position in nineteenth-century American higher education, the theological seminary has received scant attention from historians compared to that given to colleges and universities. Elizabeth Clark’s Founding the Fathers brings the seminary under historical consideration, arguing that theological seminaries “were the first purveyors in the United States of postcollegiate education in any Humanities-oriented subjects” (18). The book’s specific concern is the emergence of the study of early Christian history as an academic discipline in the United States. Clark examines six professors at four of the most prominent Protestant seminaries and charts the evolution of the academic study of church history from its relative neglect at the beginning of the nineteenth century to its formation into something resembling a modern academic discipline at the end of the century. Founding the Fathers contributes to discussions of German influences in American higher education by showing that seminary professors not only modeled their methods (such as the seminar) on those of the German universities, but also borrowed German ideas of histo309 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

rical development in their study of church history. These imported ideas often sat uncomfortably alongside traditional Protestant assumptions about church history, prompting these professors to reevaluate early Christian history. After an introduction that locates theological seminaries within the wider landscape of nineteenth-century American education, Founding the Fathers begins with a first section on the institutional setting for the study of church history. Chapter One sketches the careers of the professors at their respective theological institutions. Clark’s selection of professors comprises Samuel Miller at Princeton Theological Seminary, George Fisher at Yale Divinity School, three professors at Union Theological Seminary in New York (Henry Smith, Philip Schaff, and Roswell Hitchcock), and Ephraim Emerton at Harvard Divinity School. Due to the prominence of Reformed denominations in nineteenth-century American education, all of these professors worked within Calvinist or post-Calvinist traditions, and all except for Emerton belonged to the broad evangelical wing of American Protestantism. The book’s second chapter examines the infrastructure that supported the study of church history. The professors had to overcome the “woefully inadequate” resources and methods available for teaching church history at the beginning part of the century (e. g., small libraries, meager funds, and a lack of textbooks) to help build institutions that could support rigorous scholarship (55). Growth in the study of church history was thus part of these seminaries’ transformation from small denominational schools designed to train ministers into larger institutions supporting advanced academic study and research. The book’s second section explores the transatlantic intellectual context that influenced these professors (especially at Union and Yale) in their study of church history. Chapter Three describes the range of new European ideas— including Hegelian philosophy and German “higher” biblical criticism—that challenged traditional Protestant understandings of the Bible, history, and theology. Except for Samuel Miller, all of Clark’s professors studied in German universities and afterward remained informed about European scholarship. The perceived threats to the authority of the Bible posed by ideas such as Ferdinand Christian Baur’s theories of the New Testament’s historical development made the evangelical professors cautious in their acceptance of European ideas. Chapters Four and Five explore the professors’ conceptions of historical development. Clark shows that by mid-century, German theories of organic historical development had begun to reshape the academic interpretation and teaching of church history in the United States. In particular, adopted ideas of development led the professors to modify traditional Protestant theories of rapid decline in early Christian history. The result was a somewhat awkward fusion of both decline and progress in their historical interpretations. A third and final section examines in detail how these American professors dealt with specific topics in early Christian history and the writings of the “Church Fathers.” Chapters on the professors’ treatment of subjects such as church polity, Roman Catholicism, women and the family, and Augustine 310 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

show that contemporary concerns often influenced their readings of early church history. They frequently appealed to early Christian history and the Fathers for support in their own denominational debates. The evangelical professors, for instance, tried to enlist Augustine in defense of their various positions in contemporary controversies, from debates over original sin to those concerning human origins. These final chapters also clarify how new ideas impelled the professors to reconsider parts of the Christian tradition that Protestants frequently dismissed as degeneration from the church of the New Testament. The resulting mixed evaluations of early Christian history demonstrate that ideas of progressive development often complicated anti-Catholic inclinations. Founding the Fathers is exhaustive in its research, using extensive unpublished archival sources—especially the neglected source of lecture notes made by students and professors—in addition to published materials. Given the enormous amount of extant material on Schaff alone, whose prolific publication record is matched by a mountain of archival material, Clark’s execution of such indepth research on all six professors is impressive. Another strength of the book is its transatlantic perspective. Classic treatments of nineteenth-century American theology such as William Hutchison’s The Modernist Impulse in American Protestantism, Bruce Kuklick’s Churchmen and Philosophers, and E. Brooks Holifield’s Theology in America have long acknowledged the significance of nineteenth-century European developments for American theology.1 By presenting the ideas of prominent German church historians such as Baur, August Neander, and Johann Gieseler alongside those of the Americans, Clark is able to fill out this transatlantic context in which the study of church history developed. Furthermore, her careful reading of the American professors nuances this story of intellectual transfer: their appropriation of German ideas was often selective and adapted to their own particular ends. The comparative approach of the book is interesting because the careers of the professors treated here overlap but were not strictly contemporaneous: those of Samuel Miller (1769–1850) and Ephraim Emerton (1851–1935), for instance, did not overlap at all. This diachronic comparison reveals a shift from confessional and providential interpretations of history at the beginning of the century to more naturalistic ones by its end. Emerton’s historical method, which limited historical inquiry exclusively to human causes and effects, contrasts starkly with the evangelical historians’ frequent appeals to divine intervention in history. The divide between these historical methods was so significant for the study of church history that it warrants further analysis, especially on the shifting opinions of what constituted “scientific” historiography. Both 1 William Hutchison: The Modernist Impulse in American Protestantism. Cambridge, MA 1976; Bruce Kuklick: Churchmen and Philosophers. From Jonathan Edwards to John Dewey. New Haven 1985; E. Brooks Holifield: Theology in America. Christian Thought from the Age of the Puritans to the Civil War. New Haven 2003.

311 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Schaff and Emerton applied this label to their very different approaches. Changes in the European context are significant here, and greater attention to them could help clarify the American developments. The theologians at Union and Yale derived very different ideals of historiography from their German teachers than those ideals that Emerton’s generation of historians learned from the Prussian school of historiography and from English positivist historians. Even within the German theological faculties, later Americans who studied under Adolf von Harnack at the end of the century encountered a significantly different approach to church history than that practiced by Neander during the first half of the century. Clark rightly identifies the transitional position of the evangelical theologians at Union and Yale in this historiographical shift among American church historians, raising interesting questions about their relationship to changing conceptions of history. Was there something inherently unstable in their fusion of providential, supernaturalist interpretations with newer ideas of organic historical development that furthered the movement toward more naturalistic historical methods among church historians? Or, as Henry Bowden’s Church History in the Age of Science suggests, did the dominance of new historiographical ideals outside of the seminaries simply make older views of church history academically obsolete and untenable?2 That Founding the Fathers leaves unanswered some questions concerning changes in nineteenth-century historiography does not detract from its achievement, but rather points to the richness and complexity of its subject matter. Its detailed case studies increase our historical knowledge about the infrastructure of theological education in the nineteenth century and the evolution of church history as an academic discipline, while also illuminating the significance of seminaries for American higher education more generally. The book’s transatlantic scope and careful attention to the institutional and intellectual environments in which the study of early Christian history developed make it a truly contextual intellectual history. It is a valuable resource for historians of higher education and theology, and offers a model for future contextual studies of religious thought. Andrew Z. Hansen

USA-University of Notre Dame, Notre Dame

2 Henry Bowden: Church History in the Age of Science. Historiographical Patterns in the United States, 1876–1918. Chapel Hill 1971.

312 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Uwe Glatz: Religion und Frömmigkeit bei Friedrich Schleiermacher. Theorie der Glaubenskonstitution. Stuttgart: Kohlhammer 2010 (zugleich Diss. Theol. Hochschule Neuendettelsau 2009). – 448 S. Uwe Glatz setzt sich in seiner im Sommersemester 2009 an der Theologischen Hochschule der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Augustana) eingereichten Dissertationsschrift mit der Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Glaubens auseinander. Er ist der Auffassung, dass die verbreitete Annahme, der Glaube sei dem Menschen unverfügbar und als Werk Gottes zu interpretieren, dahingehend korrigiert werden müsse, dass die Entstehung des Glaubens auch für Gott kontingent und unverfügbar sei. Diese gewagte These beruht auf zwei Vorannahmen. Zum einen ist Glatz der Überzeugung, dass der „Glaube als Beziehungsgeschehen“ begriffen werde müsse, das seinerseits in „Analogie zur Erfahrung der zwischenmenschlichen Liebe“ (398) vorzustellen sei. Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen sei es zum anderen erforderlich, von einem personalen Gottesverständnis auszugehen (vgl. 399). Wenn man sich diese im Schlussabschnitt (391–406) angestellten Überlegungen sowie die kategorialen Voraussetzungen vor Augen führt, unter denen sie stehen, ist es in gewisser Weise erstaunlich, dass im Mittelpunkt dieser Arbeit eine ausführliche Schleiermacherinterpretation steht. Glatz stellt jedoch ausdrücklich heraus, dass die soeben angedeutete Schlussthese sich nicht auf Schleiermacher berufen könne, sondern über Letzteren hinausführe. Denn dieser habe das Augenmerk allein auf den für den Menschen geltenden Kontingenzcharakter der Glaubenskonstitution gelegt (vgl. 390). Doch ist damit bereits das Ergebnis seiner Schleiermacherdeutung in das Blickfeld gerückt. Ausgangspunkt seiner Studie ist zunächst der Glaubensbegriff Luthers (19– 44). Die Beschäftigung mit dem Reformator dient der Problemexposition seiner Untersuchung, die – wie schon angedeutet wurde – um die Frage kreist, worin der Konstitutionsgrund des Glaubens bestehe. Ausgehend von den vielfältigen Aussagen Luthers zu diesem Thema konstatiert Glatz, dass es sowohl Anhaltspunkte dafür gebe, den Glauben allein als „Gabe/Werk Gottes“ zu verstehen, als auch dafür, ihn als „Werk, das vom Menschen gefordert werden kann“ (32), zu begreifen. Beide Dimensionen der Glaubenskonstitution paraphrasiert er mittels der Ausdrücke Passivität bzw. Rezeptivität auf der einen und Aktivität bzw. Spontaneität auf der anderen Seite. Auf diesen Überlegungen aufbauend zielt Glatz auf eine Konkretisierung des von ihm verwendeten Glaubensbegriffs (46–61). Er stellt explizit heraus, dass zu diesem Zweck die besonderen Herausforderungen berücksichtigt werden müssten, die durch die Ausdifferenzierungsprozesse und die plurale Verfasstheit der Moderne gestellt sind. Ausgehend von kurzen Bemerkungen zur derzeitigen Debatte um den Glaubens- bzw. Religionsbegriff spezifiziert er den christlichen Glauben als das „den ganzen Menschen umfassende Grundvertrauen auf den dreieinigen Gott“ (56). Abgesehen davon, dass eine solche Auffassung für eine Arbeit, in deren Zentrum das Werk Schleiermachers steht, 313 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

überraschend ist, muss gefragt werden, ob sie den selbstgesetzten Ansprüchen gerecht wird, den christlichen Glauben in einer Weise zur Sprache zu bringen, die auf „Pluralismusfähigkeit“ (53) schließen lässt. Im Anschluss daran kommt Glatz auf die für sein Glaubensverständnis zentralen Begriffe „Offenbarung“ und „Erfahrung“ zu sprechen. Diese Ausführungen sind für den weiteren Argumentationsduktus der Untersuchung insofern von Belang, als Glatz hier im Anschluss an Ingolf Dalferth den Aspekt der Deutung bzw. Interpretation einführt (59 f.). Auch wenn der Offenbarungsbegriff bzw. der der religiösen Erfahrung unter dem Primat des Gedankens eines Erschließungsgeschehens (vgl. 58) bzw. einer „Erschließungserfahrung“ (60) stehe, setze eine angemessene Beschreibung der religiösen Erfahrung die Berücksichtigung ihrer hermeneutischen Dimension voraus (vgl. 59). Ausgehend von diesen einleitenden Reflexionen wendet sich Glatz dann Schleiermacher zu. Seine Beschäftigung mit Schleiermacher ist am Leitfaden dreier Grundfragen orientiert. Dazu gehört die Frage nach dem Verständnis von Glaube, Frömmigkeit und Religion, sodann die nach dem Verhältnis der Passivitäts- und Aktivitätsdimension für die Glaubenskonstitution und schließlich das mit letzterer verbundene Problem von Notwendigkeit und Kontingenz (vgl. 62 f.). Auf diese Zuspitzung der Fragestellung folgt ein kurzer Überblick über Ansatz, Aufbau und die verwendeten Quellen der Arbeit (63–66) sowie eine extrem knappe Sichtung der Forschungslage (66–72). Im Anschluss an eine Skizze der werkbiographischen Entwicklung Schleiermachers (77–97) setzt sich Glatz sodann mit dessen philosophischem System auseinander (97–135). Dabei legt er auf die Dialektik, die Philosophische Ethik, die Psychologie und die Hermeneutik ein besonderes Augenmerk. In seinen Ausführungen zu Schleiermachers philosophischem Hauptwerk konzentriert er sich auf den Begriff des unmittelbaren Selbstbewusstseins, das Schleiermacher selbst als „‚Repräsentation des transcendenten Grundes‘“ (106) verstanden wissen will. Diese Bestimmung paraphrasiert Glatz dahingehend, dass das unmittelbare Selbstbewusstsein als „passiv konstituiert“ bzw. als dem transzendenten Grund entsprungen vorzustellen sei (106). Die hier angedeutete Interpretationsrichtung durchzieht den gesamten Teil zum philosophischen System Schleiermachers. Bezogen auf die Philosophische Ethik betont Glatz die Unverfügbarkeit der Glaubenskonstitution mit dem Hinweis auf ihre soziale Vermitteltheit. Der Psychologie meint Glatz entnehmen zu können, dass das religiöse Gefühl als „überwiegend rezeptiv bestimmt, d. h. (überwiegend) passiv konstituiert“ (119) begriffen werden müsse. Diese Vorordnung von Rezeptivität und Passivität vor Spontaneität und Aktivität gelte auch für den Akt des Verstehens, dessen Analyse Schleiermacher in der Hermeneutik vorgenommen hat. Mit diesen Überlegungen hat Glatz zugleich die entscheidenden Weichenstellungen für seine Interpretation der Reden (145–272) in erster und der Glaubenslehre in zweiter Auflage (273–386) vorgenommen, wobei die Beschränkung auf diese Auflagen sachlich unbegründet bleibt. Von den drei erwähnten Fragen, mit denen er an beide Werke herantritt, steht die zweite im Fokus seines 314 © 2012, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525559109 — ISBN E-Book: 9783647559100

Interesses. Seine Auseinandersetzung mit den Reden und der Glaubenslehre zielt darauf, die Differenz von Aktivität und Passivität in der Entstehung der Religion bzw. des Glaubens als einen relativen Gegensatz zu interpretieren und in einem asymmetrischen Verhältnis zu spezifizieren. Dabei wird die Aktivitätsdimension mit dem interpretatorischen Anteil religiöser Erfahrung koordiniert und in ihrer Bedeutung für die Glaubenskonstitution depotenziert. Glatz’ Untersuchung bildet somit ein Plädoyer für eine stärker offenbarungstheologische und weniger subjektivitätstheoretische Lesart von Schleiermachers Theorie der Religions- und Glaubenskonstitution. Diese Interpretationsmaxime wendet Glatz bezogen auf die Reden vor allem auf die zweite (158–221) und fünfte (241–263) und im Hinblick auf die Glaubenslehre in erster Linie auf die in den Prolegomena entfaltete Frömmigkeitstheorie (282–305) und die Soteriologie (342–374) an. In letzterer identifiziert er den „systematisch-theologischen Schluss- und Höhepunkt“ von Schleiermachers „Theorie der Glaubenskonstitution“ (357), den er erneut im Medium des Passivität-AktivitätSchemas reflektiert. Glatz leistet mit seiner Untersuchung einen interessanten Forschungsbeitrag, indem er die in der Sekundärliteratur kontrovers diskutierte Religions- und Frömmigkeitstheorie des frühen und späten Schleiermacher auf die klassische Frage nach dem Grund des Glaubens hin zuspitzt. Der von ihm eingeschlagene Weg, Schleiermacher als einen für seine Fragestellung zentralen Referenzautor zu plausibilisieren, wirft jedoch zugleich Fragen auf. Hier ist v. a. die keineswegs selbstverständliche Explikation der Passivitätsdimension als eines offenbarungstheologisch fundierten Erschließungsgeschehens zu nennen. Der Gedanke der Passivität mag zwar dazu einladen, bei einem Denker vom intellektuellen Profil Schleiermachers, der – wie Glatz selbst herausstellt – Zeit seines Lebens der Transzendentalphilosophie Kants verpflichtet war, müsste jedoch der Frage größeres Gewicht verliehen werden, ob ein solcher Explikationshorizont erkenntnistheoretisch abgegolten werden kann. Darüber hinaus sei noch einmal auf die im Titel der Studie verwendeten Begriffe Religion, Glaube und Frömmigkeit hingewiesen. Obwohl Glatz die unterschiedlichen Explikationsebenen dieser drei Begriffe andeutet, vermittelt die Lektüre seiner Arbeit den Eindruck, sie letztlich äquivok zu verwenden. Gerade auch mit Bezug auf Schleiermacher wäre es wünschenswert gewesen, ihre jeweilige Eigenbedeutung stärker zu profilieren. Schließlich sei unter theologiegeschichtlichem Blickwinkel darauf hingewiesen, dass Schleiermachers Verhältnis zur Aufklärung viel komplexer ausfällt als es die Ausführungen von Glatz erkennen lassen (vgl. 75, 241, 250 u. a.). In ihrer Plakativität werden sie weder jener Epoche noch Schleiermachers – oftmals stilisierter – Abgrenzung von derselben gerecht. Georg Neugebauer

Leipzig

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BIBLIOGRAPHIEN

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HIROMI KORA und KENICHI HASEGAWA

Pietismus-Bibliographie (Japan) Erläuterung der japanischen Wörter: Bungaku: Literaturwissenschaft Bunka: Kultur Chûsei: Mittelalter Daigaku: Universität Daigakuin: Aufbaustudium in Japan, Magister-, Master- oder Doktorandenabteilung an der Universität Dendô: Mission Doitsu: Deutschland Doitsu Bungaku: germanistische Literaturwissenschaft Hikakutoshi Kenkyû: Komparativstudien zur Stadtgeschichte Dokufutsu: Deutschland und Frankreich Keiken: 1) Erfahrung, 2) fromm Keikensei: Frömmigkeit Gaikoku: Ausland Gaikokugo: Fremdsprache Gakkai: wissenschaftliche Gesellschaft Gengo: Sprache Ippan Kyôyô: allgemeine Bildung Ningensôgôkagaku/ Jimbungaku: Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft, Humanstudien (Ningensôgôkagaku beinhaltet Sozial- und Geisteswissenschaft) Kaikaku: Reform Kan: Idee Keimôshugi: Aufklärung Keikenshugi/ Piethisumusu: Pietismus Keizai: Wirtschaft Kenkyû: Forschung, Studie Kenkyûjo/ Kenkyûka: Institut Kinsei: Neuzeit Kirisutokyô: Christentum Kiyô/ Ronshû: Zeitschrift Kyôiku: Erziehung Kyôikugaku: Pädagogik, Erziehungswissenschaft, Bildungswissenschaft Montô Kyôri: Katechismus Nempô: Jahreszeitschrift Nihon: Japan

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Ningenkeisei: Menschenbildung Ongaku: Musik Rinri: Ethik Ron: Frage, Beweis Seiyô: europäisch, Europa Seiten/ Seisho: Bibel Sezokuka: Säkularisierung Shakai: Gesellschaft, sozial Shigaku: Geschichtswissenschaft Shingaku: Theologie Shimpishugi: Mystik Shisô: Idee, Gedanke Shoki: die frühe Zeit Shûkyôgaku: Religionswissenschaft Shûkyô: Religion Shûkyôteki: religiös Shûkyôkaikaku: Reformation Tetsugaku: Philosophie Tsumi: Sünde Reihai: Gottesdienst Rekishi: Geschichte Rekishiteki: historisch (mit ‚-teki‘ werden Adverben oder Adjektive gebildet) Rinrigaku: Ethik Riron: Theorie Zassi: Zeitschrift Anm.: Die alphabetisch geordneten Verfassernamen sowie die von Herausgebern, von Personen und Orten erscheinen im Register mit dem den Nummernangaben vorangestellten Kürzel JNr.

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I. Allgemeines I.01 Bibliographien, Forschungsberichte 1. Hagiwara, Masue: Doitsu Keikenshugi [Der deutsche Pietismus]. In: Gakujyutsu Nempô 14, 1963, 1–23. 2. Ito, Toshio: Keikenshugi to Jikoshômei no Bungaku [Der Pietismus und seine Selbstzeugnisse]. Verl. Jinbunshoin 1994. – 534 S. 3. Murakami, Ryôko: Doitsu Piethisumusu Kenkyû no aratana Tenkai [On New Trends in German Pietism Studies]. In: Shigaku Zasshi 101, 3, 1992, 3–20.

II. Deutschland II.01 Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt 4. Ito, Toshio: Keikenshugi no Hanrei to Senku Wakaki Rutâ to Arunto no baai [Vorbild und Vorläufer des Pietismus: Der junge Luther und Arndt]. In: Bungaku Kenkyû 89, 1992, 39–71. 5. Fukazawa, Hidetaka: Keikenshugi to Kindai Shûkyô Keikengainen no ‚Kigen‘. Arnoruto „Jikken Shingaku“ ni okeru ‚Keiken‘ to ‚Kotoba‘ [Der Pietismus und der Ursprung des Begriffes der religiösen Erfahrung in der Neuzeit: Erfahrung und Wort in G. Arnolds Theologia Experimentalis]. In: Tokyo Daigaku Shûkyôgaku Nempô 10, 1993, 113–132. 6. Yamauchi, Sadao: Yohan Arunto „Kirisuto no Oshie no Sei“ [Johann Arndts Das Leben der christlichen Lehre]. In: Doitsu Shimpi Shugi Kenkyû [Studien zum deutschen Mystizismus]. Hg. v. Shizuteru Ueda. Verl. Soubunsha, 1982, 461–521. 7. Ders.: Doitsu Keikenshugi no Gensen. Yohan Arunto-Maruthin Rutâ to taihi shite [Der Ursprung des deutschen Pietismus. Ein Vergleich Johann Arndts mit Martin Luther]. In: Ryûkoku Daigaku Ronshû 408, 1976, 45–63. 8. Ders.: Yohan Arunto- Rutâ kara Keikenshugi e no Michi [Johann Arndt. Der Weg von Luther zum Pietismus]. In: Doitsu Bungaku Ronshû [Sondernummer anlässlich der Emeritierung von Professor Hiroo Ashidas], 1972, 11–22. 9. Ders.: Kinsei Shoki Doitsu Simpi Shugi Kenkyû Rutâ, Vaigeru, Arunto. „Doitsu Shingaku“ tono Kakawari wo Kiso to shite [Studie über die Anfänge des deutschen Mystizismus: Luther, Weigel, Arndt. Im Zusammenhang mit der Theologia deutsch], 1988. – 317 S.

II.02 Philipp Jakob Spener 10. Chôno, Tatsuhiko: Doitsu Keikenshugi to „Shûhashugi no Kokufuku“. Furankufuruto jidai no Shupênâ ni okeru shûkyôteki Kanyôron no Tenkai [Der deutsche Pietismus und die Überwindung der Konfessionalisierung. Die Entwicklung des religiösen Großmuts in Speners Frankfurter Zeit (4)]. In: Waseda Daigaku Daigakuin Bungakukenkyûka Kiyô 43, 1997, 149–160. 11. Ito, Toshio: Shupênâ no Keikenshugi Riron [Speners Pietismus]. In: Doitsu Bungaku 90, 1993, 45–104.

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12. Ders.: Shupênâ no „Minoue-Gaki“ [Philipp Jakob Spener: Personalia]. In: Kyûsyû Doitsu Bungaku 5, 1991, 33–59. 13. Nakatani, Hiroyuki: Doitsu Shoki Keikenshugishisô no Saikentô. Shupênâ no Erbauung Kan [Der frühe deutsche Pietismus: Speners Konzept der Erbauung]. In: Shirin [The Journal of history] 77, 4, 1994, 605–623. 14. Ders.: Doitsu Keikenshugi no Korêgia Pietatisu Kan. Shupênâ to J. J. Môzâ ni okeru [German pietism’s conception of Collegia Pietatis]. In: Kagawa Daigaku Ippan Kyôiku Kenkyû 33, 1988, 163–185. 15. Ders.: Saikin no Keikenshugi Kenkyû. Tokuni Shupênâ wo megutte [Studien zum (deutschen) Pietismus: Spener]. In: Shirin 01, 1985. 16. Umeda, Yoshio: Keikenshugi ni okeru Tsumirikai. Shupênâ o chûshin ni shite [An Understanding of Sin in Pietism]. In: Rutâ Kenkyû [Luther Studien] 8, 2002, 113– 125. 17. Uoki, Tadakazu: Shinshisôhattatsushi ni okeru firripu Yâkobu Shupênâ no Igi [Die Bedeutung Philipp Jakob Speners für die protestantische Ideenwelt]. In: Kirisutokyô Kenkyû 2, 2, 1925, 292–331.

II.03 August Hermann Francke und der hallische Pietismus 18. Ito, Toshio: Furanke no „Rirekisho“ [August Hermann Franckes Lebenslauf]. In: Kyûshû Doitsu Bungaku 6, 1992, 40–74. 19. Ders.: Kojitachino Chichi Furanke. Ai no Fukushi to Kyôiku no Genten [A.H. Francke. Waisenvater. Ursprung der Wohlfahrt und Erziehung]. Verl. Choueisha 2000. –316 S. 20. Kaneko, Shigeru: Furanke no Kyôiku Shisô ni mirareru Fuhenshugi to sono Genkai. [Der Universalismus im pädagogischen Konzept August Hermann Franckes und dessen Grenzen]. In: Sekai Kyôikushi Taikei 11. Bd. Hg. v. Satoru Umene. Verl. Kôdansha, 1976, 318–336. 21. Naruse, Osamu: Furanke. Kirisuto ni shitagaishi Hitobito [Francke. Diejenigen, die Jesus folgen]. In: Fukuin to Sekai: Fukuin to Sekai 7, 5. Verl. Shinkyô Shuppan 1952, 37–42.

II.04 Radikaler Pietismus 22. Ito, Toshio: Pêtâsen Fûfu no Keikenshugi [Die Eheleute Petersen und der Pietismus]. In: Bungaku Kenkyû 75, 1978, 67–82. 23. Ders.: Dipperu no Minouegaki-Keikenshugisha no „Hentai“ [Dippels Lebensgeschichte und die Entwicklung des Pietismus]. In: Bungaku Kenkyû 87, 1990, 105– 144. 24. Ders.: Adamu Bernto no Jijoden-Keikenshugi no Shinrigaku [Eine psychologische Studie zum ‚monologischen‘ Pietismus bei Adam Berndt]. In: Bungaku Kenkyû 76, 1979, 99–134. 25. Ders.: Êderuman no Jijoden. Keikenshugi kara Keimôshugi e [Edelmanns Lebensgeschichte. Vom Pietismus bis zur Aufklärung]. In: Bungaku Kenkyû 77, 1980, 1–28. 26. Ders.: Êthingâ no Jijoden. Aru Keikenshugisha no Monogatari [Oetingers Autobiographie]. In: Bungaku Kenkyû 80, 1983, 175–210.

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II.05 Zinzendorf und Herrnhuter Brüderunität 27. Hasegawa, Kenichi: Tsinzendorufu no „Shûkyôteki Konin“ ni okeru Shinkô, Jyosei, Sei [Glaube, Frau und Geschlechtlichkeit in Zinzendorfs „Ehe-Religion“]. In: Seminariumu [Seminarium] 24, 2002, 1–26. [mit deutscher Zusammenfassung] 28. Ders.: N.L. v. Tsinzendorufu no Shintaikan „Chi to Kizu no Shingaku“ to „Iesu no Karada“ no Shikakuka o megutte [Zinzendorfs Sichtweise des Körpers – Die Leiblichkeit Jesu in der Blut- und Wundentheologie und ihre Veranschaulichung]. In: Doitsu Bungaku Ronkô 45, 2003, 25–48. [mit deutscher Zusammenfassung] 29. Ders.: Jû-hasseiki ni okeru „Nekkyôshugi“ to Tsinzendorufu no Hyôka o meguru Ichikôsatsu. Shupangenberuku, J. G. Myurâ soshite Herudâ e [Eine Studie zum Enthusiasmus und das Zinzendorf-Bild im 18. Jahrhundert. Spangenberg, J.G. Müller und Herder]. In: Seminarium [Semunarium] 28, 2007, 1–28. [mit deutscher Zusammenfassung] 30. Ders.: K.A. Farunhâgen fon Enze no Tsinzendorufu Hyôka o meguru Ichikôsatsu. Uîn Taiseikano Puroisen ni okeru Seiji, Shûkyô, San-Simon Shugi tono Kanren kara [Über Das Leben des Grafen von Zinzendorf von Karl August Varnhagen von Ense. Bezüge zu Religion, Politik und den Saint-Simonismus in Preußen nach dem Wiener Kongress]. In: Seminariumu [Seminarium] 32, 2010, 21–45 [mit deutscher Zusammenfassung] 31. Ito, Toshio: Tsinzendorufu Jigazô [Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs autobiographische Fragmente]. In: Bungaku Kenkyû 74, 1977, 147–162. 32. Ders.: Tsinzendorufu. Herunfûto Dôhôdan o tsukutta Fûfu no Monogatari [Zinzendorf. Eine Geschichte der Eheleute und Begründer der Herrnhuter Brüdergemeinde]. Verl. Chôeisha 2006. – 295 S. 33. Kimura, Uichi: Nobârisu to Keikenshugi. Nobârisu Bungaku ni okeru Keikenshugiteki Akashi no hitotsu no Kaishaku. [Novalis und der Pietismus. Eine Interpretation der pietistischen Frömmigkeit in Novalis’ Literatur]. In: Doitsu Bungaku Ronkou 21, Hanshin Doitsu Bungaku Gesellschaft 1979, 21–44. 34. Nakamichi, Motoo: Tsinzendorufu no Sekkyou Ron to Sekkyou [Zinzendorfs Predigtlehre und seine Predigten]. In: Shingaku Kenkyû 47, Kansaigakuin Daigaku Shingaku Kenkyûkai 2003, 179–202. 35. Sadaie, Toshio: Morabia Kyôdaidan. Ikeru-Akashibito [Die Brüderunität]. Verl. Inochino Kotoba 1971. – 335 S. 36. Takeyasu, Tamotsu: Shuraierumahhâ to Herunfûto Kyôdaidan [Schleiermacher und die Herrnhuter Bruderunität]. In: Jimbun Ronkyû 42, 2, 1992, 82–94. 37. Udono, Hiroyoshi: Rutâ Ha Seitoushugi tai Tsinzendorufu [Die Lutherische Orthodoxie gegen Zinzendorf]. Meiji Gakuin Ronsô 458, Meiji Gakuin Daigaku 1990, 47–70. 38. Ders.: Tsuinzendorufu no Kirisutozô [Das Christusbild Zinzendorfs]. In: Kantôgakuin Daigaku Bungakubu Kiyô 78, 1996, 97–110. 39. Ders.: Tetsugaku to Shinkou. Tsinzendorufu no Sekkyô kara. [Philosophie und Glauben. Aus den Predigten Zinzendorfs]. In: Meiji Gakuin Ronsô 594, Meiji Gakuin Daigaku 1997, 221–239.

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II.06 Regionalgeschichte 40. Mori, Ryôko: Hare ni okeru Keikenshugi to sono rekishiteki Haikei. [Der Pietismus im frühneuzeitlichen Halle]. In: Hikakutoshishi Kenkyû 23, 1, 2004, 6 f. 41. Dies.: Berurin Kokkaiseki Funsou. Jyûnana Seiki ni okeru Syakai no Henyô to Pietisumus [Der Berliner Beichtstuhlstreit. Die Veränderung der Gesellschaft und der Pietismus im 17. Jahrhundert]. In: Ochanomizu Shigaku 32, 1988.

III. Andere Länder III.01 Niederlande 42. Ishihara, Tomohiro: Oranda Kaikakuha Shingaku ni okeru Keiken no Igi. Kirisutokyô tono Ketsugô o megutte [The significance of piety in Dutch Reformed Theology: on union with Christ]. In: Kaikakuha Shingaku 35, 2008, 102–116. 43. Makita, Yoshikazu: Saishû Kougi Shingaku o Seikatsu no nakahe. Oranda kaikaku Keikenshugi no konnichiteki Igi [Final lectures: Realizing theology in our daily life: the significance for today of the dutch second]. In: Kaikakuha Shingaku 34, 2007, 4–22.

IV. Übergreifende Themen IV.01 Theologie und Frömmigkeit 44. Hisano, Akira: Keikenshugi. majutsuteki Kann‘nenron no Haikei to shite [Der Pietismus von dem Hintergrund des magischen Idealismus]. In: Rinrigaku Nempô 7, Nihon Rinri gakkai 1958, 83–92. 45. Dies.: Majutsuteki Kannen no rinriteki Shikô. Zokujin kara Ningen ni, Ningen kara Kami ni [Der ethische Denken im magischen Idealismus. Vom Laien zum Menschen, vom Menschen zum Gott]. In: Rinrigaku Nempô 9, 1960, 50–59. 46. Kubota, Hiroshi: Seitenkaishaku to Shisôseisei. Doitsu Keikenshugi no Seishokaishakugaku ni okeru [Exegetik und Ideenbildung: Zur Exegetik im deutschen Pietismus]. In: Tôkyô Daigaku Shûkyôgaku Nempô IX, 1992, 37–58. 47. Mori, Ryôko: Keikenshatachito „Ji-Ishiki“ no Kakusei. Kindaidoitsu Shûkyô Undô no mikuro Hisutoria [Das erwachte Selbst der Pietisten. Eine Mikro-Historie protestantischer Frömmigkeit im frühneuzeitlichen Deutschland]. Verl. Gendaishokan 2006. – 379 S. 48. Nakazato, Satoshi: Kirukegôru to sono Shisoufudô—Hokuô Romanthîku to Keikenshugi [Kierkegaard und die Hintergründe seines Denkens. Nordeuropäische Romantik und Pietismus]. Sougensha Verlag 1994. – 293 S. 49. Nakatani, Hiroyuki: Jyûnana Seikimatsu Vyurutenberuku no Shûmatsuron [Die württembergische Eschatologie am Ende des 17. Jahrhunderts]. In: Kagawa Daigaku Kyôikugakubu Kenkyû Houkoku 1, 1989, 11–39. 50. Ders.: Jyûnana, Jyûhasseiki Vyurutenberuku no Seishokusha Ron (1) [Die württembergische Priesterlehre im 17. und 18. Jahrhundert (1)]. In: Kagawa Daigaku Kenkyû Houkoku 1, 1990, 1–23. 51. Shibata, Toyohiko: Doitsuniokeru shimpiteki- keikenteki Shisô no Shôsô. Shingakuteki-Gengoteki Kôsatsu [Aspekte des mystisch-pietistischen Denkens in Deutsch-

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land anhand theologischer und sprachlicher Analysen]. Verl. Kansaidaigaku Shuppanbu 2007. – 346 S. 52. Takamori, Akira: Piethisumusu Kyôkai to wa nanika. Kenkyû Fôramu, Nihon Kirisutokyô Gakkai Taikai. Kinsê ni okeru Kyôkai-Kaikaku no Rekishi [Pietismus: Was ist die Kirchenreform? Die 18. Tagung der Gesellschaft zum Studium des Christentums. Die Geschichte der Kirchenreform in der Neuzeit]. In: Nihon no Shingaku 10, 1971, 207–209. 53. Umeda, Yoshio: Jinbutsu de tadoru Reihai no Rekishi (13) Shupênâ to Tsinzendorufu [Die Geschichte des Gottesdienstes: (13) Spener und Zinzendorf]. In: Reihai to Ongaku 127 u. 128, 2005, 54–58.

IV.02 Sozial- und Staatslehre, Pädagogik 54. Chôno, Tatsuhiko: Doitsu Keikenshugi ni okeru Seido, Hôritsu, Jiyû—Keikenshugiteki „Seikatsu Chitsujo“ Keisei no Tokushitsu o meguru Kôsatsu [System, Gesetz und Freiheit im deutschen Pietismus. Eine Studie über die Formierung der pietistischen „Lebensordnung“]. In: Hikakuhôshi Kenkyû [Komparatistische Studien zur Rechtsgeschichte] 6, Mirai-sha, 1997, 69–87. 55. Hori, Takahiko: Doitsu Keikenha no Shisou to Undou. Shupênâ no Baai. [Das Denken und die Bewegung des deutschen Pietismus: Philipp Jakob Spener]. In: Shakai Rinri no Tankyû. Hg. v. Yasutarou Danno u. Noboru Shirotsuka. [Die Auseinandersetzung mit der sozialen Ethik]. Keisou Shobô 1968, 19–51. 56. Kageyama, Hiroshi: Doitsu Piethisumusu ni okeru Ningen to Shakai (1) Tsinzendorufu ni sokushite [Man and Society in German Pietism – especially in N.L. v. Zinzendorf (1)]. In: Hitotsubashi Ronsô 66, 2, 1971, 228–234. 57. Ders.: Doitsu Piethisumusu ni okeru Ningen to Shakai (2) Tsinzendorufu ni sokushite [Man and Society in German Pietism – especially in N.L. v. Zinzendorf (2)]. In: Hitotsubashi Ronsô 66, 4, 1971, 430–436. 58. Kaneko, Shigeru: „Kyôikugaku“ Gainen to A.H. Niemaiyâ Kyôikugakusetsushi no tameno Oboegaki. [Der Begriff der „Pädagogik“ und A.H. Niemeyer. Ein Memorandum zur Geschichte der Pädagogik]. In: Kyôikugaku Ronshû 48, Chuô Daigaku Kyôikugaku Kenkyûkai 1959, 153–183. 59. Ders.: Herubaruto Kyôikugaku o meguru Riron Jyôkyô. A.H. Nîmaiyâ tono Kankei o tôshite [Theoretical Circumstances around Herbart’s Pedagogy: From the point of View of Relation to A.H. Niemeyer]. In: Kyôikugaku Ronshû 45, 2003, 79–96. 60. Miyadera, Akio: A.H. Niemaiyâ no „Kyôikugaku“ Taikei ni okeru „Kyôjyu“ no Imi. Tokuni „Kyôiku“ tono Kankei wo Chûshin ni. [Die Bedeutung der „Lehre“ in der „pädagogischen“ Struktur A.H. Niemeyers, besonders im Zusammenhang mit der „Erziehung“]. In: Kyôiku Tetsugaku Kenkyû 28, Kyôiku Tetsugaku Gesellschaft 1973, 14–25. 61. Ders.: Kindaidoitsu „Kyôikugaku“ ni okeru Jidôkenkyû. Torappu, Nîmaiyâ, Herubaruto wo chûshin ni [Kindheitsforschung in der „Pädagogik“ der Neuzeit in Deutschland anhand Trapps, Niemeyers und Herbarts]. In: Miyazaki Daigaku Kyôikugakubu Kiyô Shakaikagaku 44, 1978, 73–90. 62. Miwa, Kimie: F.Ch. Êthingâ no Bildung Ron ni tsuite. „Saisei“ Ron o tegakari to shite. [Über die Bildungstheorie bei F.Ch. Oetinger anhand seiner Wiedergeburtstheorie]. In: Kyôikugaku Kenkyû 82, 2000, 1–17.

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63. Ders.: F. Ch. Êthingâ no Katekizumu Ron (1). Sono Tenkai ni okeru Kyôikuteki Gangi [Theorie des Katechismus bei F.Ch. Oetinger (1). Die pädagogische Bedeutung seiner Theorieentwicklung]. In: Shiga Daigaku Kyôikugakubu Kiyô 53, 2004, 27–44. 64. Ders.: F. Ch. Êthingâ no Katekizumu Ron (2). Sono Tenkai ni okeru Kyôikuteki Gangi [Theorie des Katechismus bei F.Ch. Oetinger (2). Die pädagogische Bedeutung seiner Theorieentwicklung]. In: Shiga Daigaku Kyôikugakubu Kiyô 53, 2004, 45–63. 65. Ders.: Vyurutenberuku Keikenshugi no Ningenkeiseiron. F.Ch. Êthingâ no Shisôsekai [Menschenbildungstheorie im Württembergischen Pietismus bei F.Ch. Oetinger]. Chisen Shokan 2007. [mit deutscher Zusammenfassung] 66. Ders.: Vyurutenberuku Keikenshugi-Kyôiku no Sisô-Keisyô (1). Êthingâ Fratthihi Ôfuku-Shokan o omona tegakaritoshite [Über die Pädagogik des württembergischen Pietismus (1), besonders im Briefwechsel zwischen Oetinger und Flattich]. In: Kyôikugaku Ronshû [The journal of doctoral program in education] 2009, 175– 199. [mit deutscher Zusammenfassung] 67. Ders.: Vyurutenberuku Keikenshugi-Kyôiku no Shisô-Keishô (2). B.G. Dentsueru no „Mondou Kyôri“ o megutte [Über die Pädagogik des württembergischen Pietismus (2), besonders anhand B.G. Denzels Katechismus]. In: Kyôikugaku Ronshû [The journal of doctoral program in education] 2011, 27–49. [mit deutscher Zusammenfassung] 68. Mori, Ryôko: Jyûhasseiki Puroisen no Minshu Kyôiku. Keiken na Shinto kara Kinben na Shimin e [Volkserziehung in Preußen des 18. Jahrhunderts. Vom frommen Gläubigen zum fleißigen Bürger]. In: Kyôiku no Shakaishi. Yôroppa Chû-Kinsei. Hg. v. Keiko Asano u. Hironobu Sakuma. [Sozialgeschichte der Erziehung. Mittelalter und Neuzeit in Europa], Chisen Shokan, 2006, 191–212. 69. Murakami, Toraji: Furanke no Gakkô Kyôiku [Franckes Schulerziehung]. In: Seinangakuin Daigaku Bungaku Ronshû 1, 1, 1955, 59–75. 70. Watanabe, Takuro: Kanto no Ningenkan to Teigenmeireihô—Keikenshugi to „Emîru“ no Eikyô [Kants kategorischer Imperativ. Unter dem Einfluss des Pietismus sowie des Emile]. In: Tetsugaku to Kyôiku 58, 2010, 23–32.

IV.03 Ökumene, Mission und Diakonie 71. Yamashiro, Jun: Keikenshugi to Diakonî. „Diakonî to Kindai ni okeru Naikoku Dendô no Rekishi“ Erich Bairoitâ chô no Honyaku o tôshite [Pietism and Diakonie: about the translation of History of Diakonie and inner mission in the modern times by Erich Beyreuther]. In: Kirisutokyô Shakai Fukushigaku Kenkyû [Christian social welfare science] 6, 1978, 66–69.

IV.04 Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik 72. Chôno, Tatsuhiko: Jû-nana seiki Doitsu ni okeru Zokujinkyôka no Tenkai to Keikenshugi no Kyôkashisô [Säkularisierung und aufgeklärtes Denken im Pietismus des 17. Jahrhunderts in Deutschland]. In: Shikan [Die Anschauung der Geschichte] 142, 2000, 59–75.

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73. Fujieda, Shin: Kirukegôru no Kyôkaihihan ni okeru Keikenshugi no Igi. Shupênâ tono Hikaku kara [Die Bedeutung des Pietismus für Kierkegaards Kritik an der Kirche. Im Vergleich mit der Kirchenkritik bei Spener]. In: Tetsugaku Ronsyû [The philosophical studies] 46, 1999, 81–89. 74. Hasegawa, Kenichi: Novârisu Bungaku to Herunfûto Dôhôkyôdan. Futatsu no Dampen ni okeru Herunfûto Mothîfu to “Aoi Hana” no Kaishaku o megutte [Novalis und die Herrnhuter Brüdergemeine: Über Heinrich von Ofterdingen und das Herrnhut-Motiv in den zwei Fragmenten: Die Sündflut und Novelle]. In: Seminariumu [Seminarium] 31, 2009, 25–49. [mit deutscher Zusammenfassung] 75. Ders.: Kekkon shita „Utsukushiki Tamashii“ no Jisatsu o megutte. Fontâne no Hernfûto Shôsetsu „Kaesuyoshinashi“ Unwiederbringlich [Über den Selbstmord der verheirateten „Schönen Seele“. Theodor Fontanes Herrnhut-Roman Unwiederbringlich]. In: Seminarium [Seminarium]28, 2006, 1–28. [mit deutscher Zusammenfassung] 76. Hayashi, Yuka: „Demian“ ni okeru Heruman Hesse to Keikenshugi [Hermann Hesse und der Pietismus in Demian]. In: Seiyôbungaku Kenkyû 22, 2002, 1–13. 77. Hori, Takahiko: Doitsu Keikennha no Shisô to Undô. Shupênâ no Baai [Konzept und Aktivitäten des deutschen Pietismus am Beispiel Speners]. In: Ders.: Kindai no Rinri Shisô. Verl. Aoki Shoten 1983. 78. Iijima, Takashi: J.S. Bahha to Keikenshugi ni tsuite [J.S. Bach und der Pietimus]. In: Morioka Daigaku Kiyô 4, 1985, 73–80. 79. Ders.: Bahha no Ongaku to Keikenshugi [Bachs Musik und der Pietismus]. In: Seikatsugakuen Tanki Daigaku Kiyô 3, 1980, 111–120. 80. Inamoto, Moe: J. Chr. Gyuntâ no Seikôkai go no Shi to Piethisumusu (Fukuoka Daigaku Sôritsu 45 Shûnen Kinenron) [J. Chr. Günthers ‚reuige‘ Gedichte und der Pietismus]. In: Fukuoka Daigaku Jinbun Ronsô 11, 2, 1970, 563–585. 81. Ito, Toshio: Doitsu Jidenshôsetsu to Keikenshugi. „Hainrich Shutiringu no Denki“ to „Anton Raizâ“ e no Kousatsu [Deutsche Lebensgeschichte und Pietismus. Überlegungen zu Jung-Stillings Lebensgeschichte und zu Anton Reiser]. In: Bungaku Kenkyû 79, 1982, 99–152. 82. Ders.: „Anton Raizâ“ ni okeru Gensinnshô Fûkei [Psychologische Aspekte in Anton Reiser]. In: Bungaku Kenkyû 81, 1984, 63–87. 83. Ders.: Môritsu no „Anton Raizâ“ ni okeru Geijutsuka Mondai [Fragmente über den Künstler in Moritz’ Anton Reiser]. In: Doitsu Bungaku 73, 1984, 73–82. 84. Ders.: „Utsukushiki Tamasî no Kokuhaku“ to Herunfûto Dôhôkyôdan [Die Bekenntnisse einer schönen Seele und die Herrnhuter Brüdergemeine]. In: Kyûshû Doitsu Bungaku 21, 2007, 1–32. 85. Kaneko, Haruo: Doitsu Keikenshugi no „Kontei“ Gakusetsu. Purotesutanto no Shimpishisou [Grundlagen des deutschen Pietismus. Der mystische Gedanke im Protestantismus]. In: Seigakuin Daigaku Ronsô [The Journal of Seigakuin University] 12, 1999, 37–64. 86. Kamitani, Tamotsu: Shinkô no Sezokuka to Bungaku. Doitsu Keikenshugi no Baai [Die Säkularisierung des Glaubens und die Literatur am Beispiel des deutschen Pietismus]. In: Dôshisha Gaikokubungaku Kenkyû 21, 1978, 113–128. 87. Kawabata, Jyunshiro: Bahha Koborebanashi (16) Bahha to Keikenshugi. Aizenaha kara Myûruhauzen (1) [Anekdoten über Bach (16) Bach und der Pietismus. Von Eisenach nach Mühlhausen (1)]. In: Reihai to Ongaku 146 (148), 2010, 56–60.

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88. Ders.: Bahha Koborebanashi (17) Bahha to Keikenshugi. Aizenaha kara Myûruhauzen (2) [Anekdoten über Bach (17) Bach und der Pietismus. Von Eisenach nach Mühlhausen (2)]. In: Reihai to Ongaku 147 (149), 2010, 60–64. 89. Ders.: Bahha Koborebanashi (18) Bahha to Keikenshugi. Bukusutefû de Taiken [Anekdoten über Bach (18) Bach und der Pietismus. Eine Begegnung mit Buxtehude]. In: Reihai to Ongaku 148 (150), 2011, 60–64. 90. Kawashima, Hidekazu: Kanto to Piethisumusu [Kant und der Pietismus]. In: Jimbungaku 47, 1960, 88–112. 91. Miki, Koji: Novârisu no Shoki Jyojyôshi. Piethisumusu to Shi no Imêji ni tsuite [Die Jugendlyrik des Novalis. Über da