Der Westen im Osten: Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783-1939) 9783666570292, 9783525570296, 9783647570297, 9783525570295, 9783647570296

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Der Westen im Osten: Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783-1939)
 9783666570292, 9783525570296, 9783647570297, 9783525570295, 9783647570296

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Jüdische Religion, Geschichte und Kultur

Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher Band 19

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Tobias Grill

Der Westen im Osten: Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783 – 1939)

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Für Lorenz und Jona

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525- 57029-5 ISBN 978-3-647-57029-6 (E-Book)  2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Jüdische Geschichte und Kulturtransfer . . Zur Methodik des Kulturtransfers . . . . . . . . . Kulturtransfer und Historiographie des Judentums Grundlegende Anmerkungen . . . . . . . . . . . .

I.

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Der Kalender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transliteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellennachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Eigene und das Fremde: Kulturelle Distinktionen und gegenseitige Wahrnehmung von deutschem und osteuropäischem Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Der Beginn der jüdischen Bildungsrevolution in West und Ost . . 1. „Am Anfang war Moses Mendelssohn“: Die Reform des Bildungswesens im deutschen Judentum . . . . . . . . . . . . . 2. „Judenschulen im Sinne Mendelssohns“? Erste Reformversuche des jüdischen Bildungswesens in Osteuropa . . . . . . . . . . . 2.1 „Durch Vermittlung des gelehrten Moses Mendelssohn“: Jakob Hirschs Reformvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Aufklärung oder Germanisierung? Die Errichtung jüdisch-deutscher Schulen in Galizien (1787 – 1806) . . . . 2.3 „Kann ein Jude ein guter und nützlicher Bürger werden?“ Erste Anläufe zur Reform des jüdischen Bildungswesens im Zarenreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 „[U]nsere Jugend in gemeinnützigen Kenntnissen zu üben, und zur Gottesfurcht, Sittsamkeit und zu allen gesellschaftlichen Tugenden anzuleiten“: Die Gründung der Israelitischen Freischule im galizischen Tarnopol . . . 2.5 Die Gründung einer modernen jüdischen Schule in Odessa 2.6 Die Bedeutung der modernen jüdischen Schulen in Tarnopol und Odessa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

III. Reformorientiertes deutsches Judentum und die jüdische Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 1. Im Zarenreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die „Lilienthalsche Epoche“: Zur Gründung staatlicher jüdischer Schulen im Zarenreich . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Die Gründung einer modernen jüdischen Schule in Riga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 „Millionen Juden zu einem höhern Standpunkte zu erheben“: Lilienthals Aufenthalt in St. Petersburg . . 1.1.3 „Stunde der Wiedergeburt der geistigen Erziehung Israels“: Lilienthal und der Aufbau einer Musteranstalt für die Reform des jüdischen Bildungswesens in Riga . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Deutsche Juden als kulturelle Mittler? Zur Frage der Anstellung deutscher Juden als Lehrer im Zarenreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.5 Wilna und Minsk als Testfall für die jüdische Bildungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.6 Reaktionen auf Lilienthals Sondierungsreise in St. Petersburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.7 Das Sendschreiben Maggid Jeschu’a: Aufklärung durch Drohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.8 Lilienthals zweite Reise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.9 Lilienthals Vorschlag für das jüdische Schulgesetz . 1.1.10 Die Rabbinerkommission in St. Petersburg . . . . . 1.1.11 Lilienthals Verhältnis zu den russländischen Maskilim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.12 Die jüdische Bildungsreform tritt in Kraft . . . . . . 1.1.13 Was von Lilienthals Reformvorschlag übrig blieb . . 1.2 „Der Moses gleich, in einem fremden Lande, Zerreißt des schwachen Wissens finst’re Bande“: Abraham Neumann in Riga und Kurland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Abraham Neumann als Nachfolger Lilienthals in Riga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Abraham Neumann und der Auf- und Ausbau des staatlichen jüdischen Schulwesens in Kurland . . . . 1.3 Die Reform der Odessaer Talmud-Tora: Vorbild für die Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Sabbatschulen – ein neuer Schultyp zur Vermittlung von Bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Gründung von Volksschulen: Ein Ausweg aus der Bildungskrise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

1.6 Abraham Neumann und die Gründung einer modernen jüdischen Schule in St. Petersburg . . . . . . . . . . . . . . 2. In Galizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 „Das Volk soll und muß gebildet werden“: Abraham Kohn und die Bildungsreform in Lemberg und Galizien . . . . . 2.2 „Civilisatorische Arbeit“: Das erzieherische Wirken der Israelitischen Allianz zu Wien . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Eine „culturelle Mission“: Die Baron-Hirsch-Schulen in Galizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Über die „Zivilisierung“ der galizischen Juden: Bertha Pappenheims Reise nach Galizien . . . . . . . . . . . . . . IV. Orthodoxes deutsches Judentum und die jüdische Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Tora im derech erets-Ideal des orthodoxen deutschen Judentums: Ein Vorbild für den Osten? . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Reform des Chederschulwesens im Generalgouvernement Warschau (1916 – 1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die „Massen der jüdischen Töchter vor dem Untergang zu retten“: Die Reform der Mädchenerziehung im traditionsorientierten osteuropäischen Judentum . . . . . . . . 4. Die Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland (1915 – 1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.

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„Heimkehr ins Judentum“: Auf der Suche nach einer jüdischen Tradition in Osteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336

Schlussbetrachtung: Deutsche Rabbiner und deutsch-jüdische Pädagogen in Osteuropa und die Bildungsreform . . . . . . . . . . . . 355 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur . . . . . . . . . Enzyklopädien, Handbücher . . . . . . . . . . . . . . . Zeitgenössische Zeitungen, Zeitschriften und Periodika Zeitgenössische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Darstellungen, Monographien und Zeitschriftenaufsätze

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Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

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Vorwort Das vorliegende Buch ist die stark gekürzte und überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Sommersemester 2009 von der Fakultät für Geschichtsund Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Meinem Doktorvater Michael Brenner bin ich zu tiefstem Dank verpflichtet. Nicht nur hat er über all die Jahre meine Arbeit mit großem Interesse und wertvollen Ratschlägen begleitet und mir alle Freiheiten gelassen, diese zu entwickeln, sondern er war und ist ein wahrer Mentor, der mich in entscheidender Weise gefördert hat und fördert. Ebenfalls herzlich danken möchte ich Martin Schulze Wessel, der nicht nur Zweitkorrektor der Dissertation war, sondern mir während der Promotionsphase auch die für mich außerordentlich wichtige Möglichkeit gab, ein Jahr lang bei ihm als Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Vertretung arbeiten zu dürfen. Schließlich gilt auch Michael Wolffsohn größter Dank, da er mir (nicht nur) während der ersten Zeit als sein Wissenschaftlicher Mitarbeiter viel Freiraum bot, um die Dissertation fertigstellen zu können. Alle drei haben für mich – und dies soll alles andere als floskenhaft sein – derart viel getan, mir so viel Menschlichkeit zuteil werden lassen, dass ein Danke kaum ausreicht. Freilich waren noch viele Andere am Zustandekommen dieser Arbeit beteiligt, die ich namentlich anführen möchte, um ihnen zu danken: Alexis Hofmeister, Lida Barner, Martina Niedhammer, Dominik Petzold, Reinhard Frötschner, Julia Mahnke-Devlin, Georg Holzer, Anette Bauer, Verena Dohrn und FranÅois Guesnet. Darüber hinaus bin ich auch den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Archiven in Odessa, L’viv, St. Petersburg, Riga, Vilnius, Cincinnati, Berkely, Berlin, Jerusalem und Ramat-Gan für ihre enorme Hilfsbereitschaft äußerst dankbar. Dass die Studie jetzt als Buch vorliegt, ist vor allem dem Lektor des Vandenhoek & Ruprecht Verlags, Christoph Spill zu verdanken, der äußerst freundlich und hilfsbereit die Drucklegung begleitete. Die Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius übernahm nicht nur einen großen Teil der Druckkostenbeihilfe, sondern gewährte mir auch für zweieinhalb Jahre ein großzügiges und sehr unbürokratisches Promotionsstipendium. Weitere Förderung für die Bestreitung der Publikationskosten bekam ich vom Schroubek Fonds östliches Europa. Zu tiefstem Dank verpflichtet bin ich auch Gisela Barner. Sie lektorierte die Arbeit für die Buchfassung, und sie nahm mir viel Arbeit ab, für die ich neben dem Beruf keine Zeit mehr hatte.

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Vorwort

Zuletzt möchte ich meiner Mutter, meinem Großvater, meinen beiden Kindern und Katharina für ihre persönliche Unterstützung danken, ohne die vieles nicht möglich (gewesen) wäre. München, im Januar 2013

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Tobias Grill

Einleitung: Jüdische Geschichte und Kulturtransfer Die historische Forschung beschäftigt sich schon seit geraumer Zeit mit den vielfältigen Aspekten der Emigration osteuropäischer Juden nach Westeuropa – insbesondere nach Deutschland – am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts.1 Demgegenüber fand die Niederlassung oder der längere Aufenthalt deutscher Juden in Osteuropa in der Historiographie bislang kaum Beachtung. Dies verwundert möglicherweise zunächst nicht, da es sich bei den deutschen Juden, die den Weg in den Osten Europas fanden, nur um eine sehr kleine Gruppe handelte. Doch dieser beschränkte Personenkreis bestand aus Persönlichkeiten, die in der Geschichte des osteuropäischen Judentums eine erhebliche Bedeutung erlangten. Deutsche Juden gleich welcher religiösen Richtung verkehrten sowohl mit hochrangigen Vertretern der nichtjüdischen Obrigkeit als auch mit Repräsentanten des osteuropäischen Judentums und nahmen, wenn auch mitunter nur für kurze Zeit, in bedeutender Weise an der Gestaltung jüdischen Lebens in Osteuropa teil. Im vorliegenden Buch sollen zwei Berufsgruppen von deutschen Juden, die in Osteuropa gewirkt haben, im Zentrum des Interesses stehen: Zum einen deutsche Rabbiner, zum anderen deutsch-jüdische Lehrer. Die Wahl dieser beiden Gruppen als Untersuchungsgegenstand ist keineswegs willkürlich, sondern dem Umstand geschuldet, dass mit der Berufung von deutschen Rabbinern und deutsch-jüdischen Lehrern nach Osteuropa im Regelfall die Absicht einherging, bestimmte kulturelle Praktiken und Wertvorstellungen des osteuropäischen Judentums zu modernisieren. Als Referenzkultur galt dabei immer das deutsche Judentum, wie es sich im Zuge der jüdischen Aufklärungsbewegung, der Haskala, und der sich daran anschließenden religiösen Reformbewegung herausgebildet hatte. Freilich soll damit nicht suggeriert werden, dass das deutsche Judentum dieser Zeit homogen gewesen sei. Dies traf ebenso wenig für das deutsche wie für das osteuropäische Judentum zu. Trotz einer nicht zu leugnenden Heterogenität lassen sich jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, gewisse kulturelle (idealtypische) Charakteristika feststellen, die eine allgemeine Differenzierung zwischen dem deutschen und dem osteuropäischen Judentum ermöglichen. Gleichzeitig wird aber den unterschiedlichen Strömungen innerhalb des deutschen und des osteuropäischen Judentums Rechnung getragen, indem das Engagement sowohl reformorientierter wie auch neo-orthodoxer deutscher Rabbiner und deutsch-jüdischer Pädagogen in Osteuropa untersucht wird. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich vom Ende des 18. Jahrhunderts, 1 Vgl. etwa Adler-Rudel, Ostjuden; Aschheim, Brothers; Maurer, Ostjuden; Wertheimer, Strangers.

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Einleitung: Jüdische Geschichte und Kulturtransfer

als auch in Osteuropa erste Anzeichen der Haskala auftraten, bis zum Ende der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Zweiter Weltkrieg und Holocaust bewirkten einen gewaltsamen Abbruch kultureller Austauschprozesse zwischen deutschen und osteuropäischen Juden in Europa. Alles, was in dieser Hinsicht nach 1945 geschah, fand unter gänzlich anderen geographischen und kulturellen Bedingungen statt und kann daher nicht mehr Gegenstand der Untersuchung sein. Der dieser Arbeit zugrundeliegende Begriff des osteuropäischen Judentums umfasst sowohl eine geographisch-politische als auch eine kulturelle Dimension. Als osteuropäische Juden kommen zunächst alle Bekenner mosaischen Glaubens in Frage, die im Zuge der Teilungen der polnisch-litauischen Adelsrepublik (1772 – 1795) unter preußische, habsburgische oder russische Herrschaft gelangten. Allerdings darf bei einer solchen Definition die zeitgenössische Wahrnehmung nicht vernachlässigt werden. Als „polnische Juden“ – ein weitgehend negativ konnotiertes Synonym für osteuropäische Juden – wurden in erster Linie diejenigen Juden bezeichnet, die seit Ende des 18. Jahrhunderts dem Russländischen und dem Habsburgerreich unterstanden, während die zu Preußen gehörenden Posener Juden eine Zwischenstellung einnahmen, quasi eine Brücke zwischen deutschem und osteuropäischem Judentum bildeten. Aufgrund ihrer im Laufe des 19. Jahrhunderts erfolgten weitgehenden Anpassung an die deutsche Kultur legten die Juden Posens schließlich die Fremdzuschreibung „polnisch“ ab und sahen sich selbst nunmehr als „Pioniere deutscher Kultur“.2 Insofern sollen sie in der vorliegenden Arbeit nicht unter dem Begriff des osteuropäischen Judentums subsumiert werden. Konkret gesagt, umfasste das osteuropäische Judentum die Gebiete Galizien, Podolien, Wolhynien, Weißrussland, Litauen, Livland, Kurland und das seit 1815 mit dem Zarenreich in Personalunion verbundene Königreich Polen („Kongresspolen“). Hinzu kommen noch diejenigen Regionen des Zarenreichs, die einer starken jüdischen Binnenzuwanderung ausgesetzt waren: das vom Osmanischen Reich eroberte sogenannte Neurussland nördlich des Schwarzen Meeres und einzelne kernrussische Städte wie Moskau und St. Petersburg. Die vorliegende Darstellung will sich nicht darauf beschränken, das bloße Wirken der deutschen Rabbiner und der deutsch-jüdischen Erzieher zu rekonstruieren. Vielmehr stellt sich die Frage, inwiefern die beiden erwähnten Gruppen als kulturelle Mittler bei der Reform des traditionellen jüdischen Bildungswesens – eines Kernbereichs der jüdischen Aufklärungsbewegung – auftraten, also in gewisser Weise versuchten, bestimmte Aspekte des Bildungswesens aus ihrer Herkunftskultur in das osteuropäische Judentum zu transferieren, und wie Rezeption und Übernahme solcher Elemente durch die osteuropäischen Juden funktionierten. Fragestellung und methodischer Zugang dieser Arbeit sind demnach in der Kulturtransferforschung verortet. 2 Toller, Jugend, 6. Zu diesem Prozess allgemein vgl. Kemlein, Juden, insbes. 327.

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Zur Methodik des Kulturtransfers

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Als Voraussetzung für eine Kulturtransferuntersuchung werden zunächst in groben Zügen die unterschiedliche Entwicklung des deutschen und des osteuropäischen Judentums seit dem 18. Jahrhundert wie auch die gegenseitige Wahrnehmung nachgezeichnet, um aufzuzeigen, dass und inwiefern es sich hierbei um zwei unterschiedliche kulturelle Räume handelte. Der Hauptteil befasst sich mit den vielfältigen Aspekten der Modernisierung des jüdischen Erziehungswesens in Osteuropa nach deutsch-jüdischem Vorbild, wobei die Mittlertätigkeit deutscher Rabbiner und deutsch-jüdischer Pädagogen sowie die Rezeption durch die osteuropäischen Juden zwar im Vordergrund stehen sollen, jedoch auch der weitere Kontext dabei nicht außer Acht gelassen werden darf. Schließlich soll unter dem Titel Heimkehr ins Judentum auch die umgekehrte Richtung von kulturellen Übertragungsprozessen, also deutsche Juden als Rezipienten, in den Blick genommen werden. Am Ende werden in einem kurzen Resümee die einzelnen Forschungsergebnisse bündig zusammengefasst.

Zur Methodik des Kulturtransfers Das noch junge Forschungsfeld des Kulturtransfers entwickelte sich seit etwa Mitte der 1980er Jahre zunächst im Rahmen eines interdisziplinären Forschungsprogramms am Pariser Centre national de la recherche scientifique. Die beiden Initiatoren – Michel Espagne und Michael Werner – wollten diesen neuen methodischen Zugang der Untersuchung interkultureller Beziehungen als Abkehr von als unzulänglich betrachteten älteren Ansätzen, allen voran dem klassischen historischen Vergleich, verstanden wissen. Gegenüber dem Vergleich scheint der Transfer mehrere Vorteile zu bieten. Zum einen ermöglicht er die Überwindung einer allzu sehr an nationalstaatlichen Grenzen orientierten Beschreibung von Beziehungen zwischen Kulturen, in der überspitzt formuliert das jeweils „Eigene“ betont und das jeweils „Fremde“ vernachlässigt wird. Zum anderen wird der Transferansatz eher der Wesenhaftigkeit von Zeit und Kultur gerecht. Während nämlich der Vergleich eine statische Komponente enthält, trägt der Transferansatz dem Phänomen der kulturellen und zeitlichen Dynamik Rechnung. In diesem Sinne berücksichtigt der Transferzugang sowohl die grundsätzliche Prozesshaftigkeit kultureller Übertragungen als auch die interkulturellen Vermittlungs-, Verwandlungs- und Anpassungsvorgänge.3 Darüber hinaus hat das Konzept des Kulturtransfers, so seine Verfechter, den Vorteil, dass „es sich von impliziten nationalen Hegemonieansprüchen älterer Kulturvergleiche distanziert“4. Gemäß der Kulturtransfer-Methodik steuert nämlich nicht so sehr der Wunsch nach einem Export, sondern viel3 Vgl. Lüsebrink/Reichardt, Kulturtransfer, 19. 4 Lüsebrink/Reichardt, Kulturtransfer, 20.

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Einleitung: Jüdische Geschichte und Kulturtransfer

mehr das Bedürfnis nach einem Import die kulturellen Übertragungsprozesse. Insofern habe man, so Espagne und andere, einen radikalen Perspektivenwechsel vorgenommen, indem nun der Wunsch der Empfängerkultur nach Aufnahme bestimmter kultureller Güter zum Ausgangspunkt genommen wird.5 Ein derartiger Perspektivenwechsel erzeugt allerdings eine problematische Einseitigkeit, da sowohl das Bedürfnis nach Modernisierung der eigenen Kultur durch Aufnahme fremder Kulturgüter als auch der Wunsch nach Verbreitung eigener kultureller Elemente am Beginn von Transferprozessen stehen kann.6 Offenbar scheint diese Problematik nur Michael Werner aufgefallen zu sein. Er räumt ein, „daß immer beides notwendig ist: ein Angebot von außen, das irgendwie ins Blickfeld der Rezeptionskultur geraten muß (hier kann die Vorstellung eines kulturellen ,Gefälles‘ in der Tat eine wichtige Rolle spielen), und eine interne Nachfrage, die primär auf die spezifische Interessenlage der Rezipienten zurückgeht. Vielfach wird übrigens von den Rezipienten das Argument eines wie immer gearteten fremden ,Vorsprungs‘ eingebracht, mit dem ein gewisser eigener ,Nachholbedarf‘ begründet werden soll.“7 Darüber hinaus könnten, betont Werner zu Recht, Existenz und Bedeutung von „Strategien des kulturellen Imperialismus und der Kolonisierung ,schwächerer‘ Kulturen“8 nicht geleugnet werden. Und doch werde sich auch in solchen Fällen die Kulturtransferuntersuchung „nicht so sehr auf den Kulturexport als solchen konzentrieren, sondern auf die Veränderungen, Uminterpretationen und Adaptionen, die bei der Rezeption notwendig anfallen“.9 Es stellt sich allerdings die Frage, mit welcher Begründung das Kulturtransferkonzept derart eingeschränkt wird. Was spricht dagegen, diese Methode in einem breiteren Rahmen einzusetzen, der die Bedürfnisse, Intentionen und Anpassungsprozesse der Ausgangs- und der Empfängerkultur in den Blick nimmt? Grundsätzlich darf nicht außer Acht gelassen werden, dass interkulturelle Übertragungsprozesse auf kulturelle Mittler angewiesen sind, die daher von zentralem Interesse für jede Kulturtransferuntersuchung sein müssen.10 Dabei sind zweierlei Trägergruppen zu unterscheiden: einmal diejenigen, die in ihre eigene Kultur „Fremdes“ zu vermitteln suchen, und zum anderen solche, die in eine fremde Kultur „Eigenes“ transferieren wollen. Obwohl auch Michel Espagne diese Unterscheidung als bedeutsam ansah und kritisierte, dass sie „nur selten als theoretisches Problem behandelt worden“11 sei, blieb er gleichwohl eine nähere Auseinandersetzung damit schuldig. Dabei weist gerade die Unterscheidung von zwei Kategorien kultureller Mittler auf die Problematik der 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. Espagne, Rolle, 310; Middel, Wechselseitigkeit, 18; Eisenberg, Kulturtransfer, 403. Implizit schlägt dies auch Klaus Hödl vor. Vgl. Hödl, Wandel, 75. Werner, Dissymetrien, 94. Werner, Dissymetrien, 94. Werner, Dissymetrien, 94; vgl. auch Eisenberg, Kulturtransfer, 399. Vgl. hierzu auch Espagne, Stand, 64. Espagne, Rolle, 309.

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Zur Methodik des Kulturtransfers

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Behauptung hin, dass in erster Linie der Wunsch nach einem Import kulturelle Übertragungsprozesse steuere. Denn selbst wenn sich ein bestimmter Kulturraum bewusst fremder Mittler zum Zweck der Modernisierung bedient, so bleibt doch dabei unbeachtet, dass der Transfer eine von der Rezeptionskultur nicht intendierte Eigendynamik entwickeln kann. Anders gesagt, am Beginn des Wirkens eines kulturellen Mittlers oder einer solchen Gruppe mag zwar das Bedürfnis der Empfängerkultur stehen, die eigene Kultur zu modernisieren. Doch schließt dies nicht aus, dass die „Kulturträger“ auch selbst die explizite Absicht haben, in bestimmte kulturelle Felder, die sie als rückständig betrachten, Elemente aus der eigenen Kultur zu transferieren. Der kulturelle Missionseifer „fremder“ Mittler darf also nicht unterschätzt oder gar negiert werden. In diesem Sinne sind die gescheiterten Kulturtransferversuche ebenso von Bedeutung wie die erfolgreichen, wobei freilich nach den Ursachen des Misslingens zu fragen ist.12 Umgekehrt darf aber nicht jede Deviation oder Neuerung vermeintlicher kultureller Mittler als Versuch eines Kulturtransfers gewertet werden. Die Abweichung von einer bestimmten kulturellen Praxis kann auch pragmatische Gründe haben, ohne dass damit eine Etablierung dieser Abweichung als kulturelle Norm beabsichtigt sein muss. Insofern muss bei der Untersuchung einer bestimmten kulturellen Mittlergruppe auch immer ihr Wirken insgesamt in den Blick genommen werden. Darüber hinaus scheint die bislang vertretene Kulturtransfertheorie mit ihrer Betonung des Rezeptionsbedürfnisses der Empfängerkultur eine entscheidende Tatsache zu vernachlässigen: ein bestimmter kultureller Raum ist keineswegs homogen. In der Praxis haben wir es in der Regel zumindest mit einer bipolaren Kultur zu tun, in der es einen Teil gibt, der die kulturellen Strukturen konservieren möchte und daher keinen Bedarf für einen Kulturtransfer sieht, sowie einen anderen Teil, der der gegenteiligen Ansicht ist, also eine Veränderung oder Modernisierung der eigenen Kultur anstrebt, wobei ein anderes, als fortschrittlicher angesehenes Kulturmodell Vorbild- und Referenzcharakter besitzt. Insofern ist generell davon auszugehen, dass der konservierende Teil einer kulturellen Gemeinschaft in dem Wunsch des anderen Teils nach Aneignung fremder Kulturgüter kulturelle Hegemoniebestrebungen sieht und die daraus resultierende Abwehrhaltung insbesondere auf die kulturellen Mittler projiziert. Dementsprechend ist also die Frage nach dem Rezeptionsbedürfnis weitaus komplexer. Bei einer Kulturtransferuntersuchung sind nicht nur die Herkunft der kulturellen Mittler und die Differenzierung des jeweiligen kulturellen Raumes zu beachten, sondern es ist auch die durch die Wahrnehmung konstruierte Beschaffenheit der Kulturgüter zu berücksichtigen. Mit Wolfgang Schmale lassen sich alle Kulturgüter, seien sie nun materieller oder ideeller Art, in Struktureme und Kultureme unterscheiden, wobei natürlich weder alle Struktureme noch alle Kultureme Übertragungsprozessen unterworfen wer12 Vgl. hierzu auch Steer, Einleitung, 16.

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Einleitung: Jüdische Geschichte und Kulturtransfer

den. Während ein Strukturem eine identitäre Potenz aufweist, ist einem Kulturem eine identitäre Essenz eingeschrieben. Demgemäß sind Kultureme kulturelle Güter, „denen kollektive Herkunftsidentitätsmerkmale eignen bzw. im Zuge von Transferprozessen zugewiesen werden, die personell (kleine oder große Kollektive) und geographisch radiziert sind“.13 Insofern ist also, wie Schmale betont, die „Herkunftsidentitätskonnotation […] für das Kulturem entscheidend“.14 Demgegenüber ist das Strukturem nicht herkunftskonnotiert, das heißt, den Rezipienten ist die Ausgangskultur des als Strukturem definierten Kulturguts nicht bewusst. Wie schon angedeutet, richtet sich die Bestimmung eines Kulturguts als Strukturem oder Kulturem nach der zeitgenössischen Wahrnehmung. Somit sind identitäre Konnotationen ein subjektiver Akt der Konstruktion und keineswegs unveränderlich. Gerade im Zuge eines Kulturtransfers kann durch die Anverwandlung eines fremden Kulturguts an das Eigene aus einem Kulturem ein Strukturem werden. Zwar mögen sowohl Struktureme als auch Kultureme kulturellen Übertragungsprozessen unterworfen sein, aber es liegt auf der Hand, dass die Transferuntersuchung von Kulturemen einen weitaus größeren Erkenntnisgewinn verspricht als die von Strukturemen, ist doch einem Kulturem die Alterität, die positiv oder negativ gewendete Fremdwahrnehmung, immanent. Insbesondere bei Kulturemen wird also der kreative Akt der Aneignung und Anpassung oder aber die Verweigerung durch die Rezeptionskultur deutlich. Am Rande sei erwähnt, dass die Aneignung kultureller Güter im Grunde genommen schon immer eines der zentralen Forschungsfelder der Ethnologie gewesen ist. Ebenso hat sich auch die Kultursemiotik schon lange vor den ersten Versuchen, eine Kulturtransfertheorie für die Geschichtswissenschaft aufzustellen, mit diesem Aspekt auseinandergesetzt. Hier sei insbesondere der Mitbegründer und herausragendste Vertreter der Moskauer-Tartuer Schule Jurij Lotman (1922 – 1993) angeführt, der beispielsweise mit seinem 1983 erschienenen Aufsatz Der Einfluß im kulturellen Feld15 eine differenzierte theoretische Grundlegung des Kulturtransfers geleistet hat, auch wenn er ihn nicht als solchen bezeichnet hat.16

Kulturtransfer und Historiographie des Judentums Trotz einer Art „Konjunktur“ von kulturtransfergeschichtlichen Arbeiten fand dieser methodische Ansatz bisher bei der Erforschung der jüdischen 13 14 15 16

Schmale, Einleitung, 46. Schmale, Einleitung, 46. Lotman, Einfluß, 5 – 19. Freilich mögen sich ausgewiesene Vertreter an einem Begriff wie „Einfluss“ stoßen, doch dies ändert nichts an der Tatsache, dass grundsätzlich ein ausgearbeitetes Modell des Kulturtransfers bereits vorlag.

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Kulturtransfer und Historiographie des Judentums

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Geschichte kaum Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als die moderne jüdische Geschichte hierfür geradezu prädestiniert zu sein scheint.17 Vor allem seit der Zeit der Aufklärung waren nicht nur die Beziehungen zwischen dem Judentum und der nichtjüdischen Umwelt, sondern auch die zwischen den einzelnen Judenheiten mit ihren unterschiedlichen religiösen Strömungen von wechselseitigen kulturellen Transfervorgängen oder -versuchen geprägt. Die weitgehend unterbliebene Rezeption des Kulturtransferansatzes in der jüdischen Geschichtsschreibung mag sicherlich auch damit zusammenhängen, dass zumindest in der Anfangsphase der Kulturtransferforschung in erster Linie nur kulturelle Übertragungsprozesse zwischen Nationalkulturen untersucht wurden. Insofern musste das Judentum als ein transnationales Phänomen schon fast zwangsläufig unberücksichtigt bleiben. Wenn man allerdings, wie Hödl zu Recht bemerkt, „das Verständnis von Kultur etwas auflockert und eine kulturelle Konfiguration nicht an eine Nation beziehungsweise ein religiöses System bindet, sondern damit auch die Symbolwelt einer kleineren Gruppe umschreibt, deren Mitglieder aufgrund einer spezifischen Gedächtniskultur und anderer konnektiver Faktoren ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, eine kollektive Identität besitzen, dann sind Forschungen zur jüdischen Geschichte mit dem Kulturtransfer-Modell nicht nur leichter durchführbar, sondern eigentlich auch schon vorhanden“.18

So weist Hödl beispielsweise auf Steven Bellers Monographie über die Juden in Wien hin, in der die Implikationen der imperialen Binnenmigration vor allem böhmischer und mährischer Juden in die Hauptstadt untersucht werden. Ebenso könnte man die Werke von Aron Rodrigue zum Wirken der Alliance Isralite Universelle im Osmanischen Reich anführen, in denen insbesondere der Transfer kultureller Güter mittels des Schulwerks der Alliance Gegenstand der Betrachtung ist.19 Gerade viele der Beiträge, die sich mit „Einflüssen“, „contributions“ oder „impacts“ von emigrierten Juden beschäftigen, greifen im Grunde die Kulturtransferproblematik auf. So enthält ein Sammelband zur zweihundertjährigen Geschichte deutschsprachiger Juden in Großbritannien20 unter der Rubrik Social and Cultural Impact solche Titel wie The Contributions of German-speaking Jewish Immigrants to British Historiography oder The Contribution to Law by German-Jewish Refugees in the United Kingdom, aber eben auch Beiträge, die den innerjüdischen Kulturaustausch beleuchten, wie zum Beispiel The German Influence on Progressive Judaism in Great Britain oder The Impact of German Jews on Anglo-Jewry–Orthodoxy, 1850 – 1950. Im letztgenannten Beitrag über den Einfluss deutscher Juden auf die englische Orthodoxie schreibt Julius Carlebach: „The real agents of social 17 18 19 20

Vgl. auch Steer, Einleitung, 13. Hödl, Wandel, 60. Vgl. Rodrigue, Jews; Rodrigue, Images. Mosse (Hg.), Chance.

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Einleitung: Jüdische Geschichte und Kulturtransfer

change here are not dramatic and charismatic leaders, but the innovators whose convictions and tenacity lead to chain reactions which eventually transform the environments in which they take place.“21 Was Carlebach hier beschreibt, ist nichts anderes als ein von „Kulturträgern“ (kulturellen Mittlern) vermittelter Kulturtransfer. Dass sich die jüdische Geschichtsschreibung nunmehr direkt mit der Kulturtransferforschung befasst, ist in erster Linie das Verdienst von Martina Steer, die zusammen mit Wolfgang Schmale 2004 eine Konferenz zu dieser Thematik veranstaltet hat. Der daraus hervorgegangene Sammelband bietet nicht nur einige gelungene Beispiele, wie die Methodik des Kulturtransfers gewinnbringend im Bereich der Historiographie zum Judentum angewandt werden kann, sondern auch eine höchst lesenswerte Einführung Steers zum Forschungsfeld Kulturtransfer und jüdische Geschichte.22 Insofern versteht sich das vorliegende Buch als ein weiterer Beitrag bei der Etablierung der Kulturtransferforschung in der jüdischen Geschichtsschreibung.

Grundlegende Anmerkungen Der Kalender Die Datierung der Ereignisse, die sich auf das Russländische Reich beziehen, folgen dem bis 1918 geltenden Julianischen Kalender, der zu dem im Westen geltenden Gregorianischen Kalender im 19. Jahrhundert eine Differenz von minus zwölf Tagen, im 20. Jahrhundert von minus dreizehn Tagen aufweist.

Transliteration Die Übertragung der kyrillischen Schrift in lateinische Buchstaben folgt den in der deutschen Slawistik üblichen wissenschaftlichen Transliterationsregeln, die, angelehnt an das Tschechische, diakritische Zeichen zur Darstellung von speziellen Buchstaben verwenden. Im Deutschen gebräuchliche Eigennamen wie Nikolaus, Wilna oder Warschau werden wie im Deutschen generell üblich geschrieben. Bei der Transliteration von hebräisch- und jiddischsprachigen Zitaten und Titeln wird auf eine der deutschen Phonetik angepasste, vereinfachte Über21 Carlebach, Impact, 405. 22 Vier Jahre zuvor war ein französischsprachiger Sammelband erschienen, der aber kaum rezipiert wurde. Auch fehlt dort eine Auseinandersetzung mit dem Kulturtransferansatz. Vgl. Bourel/Motzkin (Hg.), voyages. Zwei weitere Aufsätze, die sich mit der Kulturtransferproblematik in der jüdischen Geschichte auseinandergesetzt haben, sind: Bechtel, Transfers, 67 – 83 sowie Petersen, Ärzte, 111 – 120.

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Grundlegende Anmerkungen

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tragung zurückgegriffen, wobei vor allem der Unterschied zwischen stimmhaften und stimmlosen Lauten beachtet wurde. Das heißt, dass Samech (E) als „s“, Zajin (:) als „z“ und Tsadi (J) als „ts“ transliteriert werden.

Quellennachweis Bei allen Quellennachweisen, die sich auf Archive der ehemaligen Sowjetunion beziehen, wird die sowjetische Unterteilung verwendet, die auch heute noch in den Nachfolgestaaten üblich ist. Die erste Zahl verweist auf den Fonds, die zweite auf den Opis’, die dritte auf das Delo und die letzte auf das oder die entsprechenden Blätter, wobei die Abkürzung ob (oborot) die Rückseite eines Blattes bezeichnet. Auf eine landessprachliche Angabe dieser russischen Begriffe wurde verzichtet. Bei den übrigen Quellen wird die von dem jeweiligen Archiv vorgegebene Art des Nachweises verwendet.

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I. Das Eigene und das Fremde: Kulturelle Distinktionen und gegenseitige Wahrnehmung von deutschem und osteuropäischem Judentum Da der in dieser Arbeit angewandte Begriff des Kulturtransfers als eines „interkulturellen Übertragungsprozesses“ idealtypisch von separat existierenden Kulturbereichen ausgeht, werden im Folgenden die grundlegenden Unterscheidungsmerkmale zwischen dem deutschen und dem osteuropäischen Judentum, die letztlich das Eigene und das Fremde generierten, herausgearbeitet. Bis ungefähr zur Mitte des 18. Jahrhunderts bildeten die mittel- und osteuropäischen Juden eine relativ homogene Gruppe, die sich vor allem durch ihre Zugehörigkeit zum aschkenasischen Judentum definierte. Die weitgehende Einheit in religiöser und kultureller Hinsicht fand laut Israel Bartal ihren Ausdruck im gegenseitigen Austausch von Rabbinern, Gelehrten und religiösen Funktionsträgern, in einer aktiven Beteiligung an den Angelegenheiten des jeweils Anderen sowie im Gebrauch der gleichen jiddischsprachigen Bücher.1 Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts setzte bei den Juden Mittel- und Osteuropas eine auseinanderstrebende Entwicklung ein, die ihren Ausgangspunkt in einer stetigen Abnahme der Gemeindedisziplin – bis dahin Garant für weitgehende Kohäsion und Uniformität des europäisch-aschkenasischen Judentums – hatte.2 In Deutschland wie auch in anderen Staaten und Gebieten Mittel- und Westeuropas wurde das dadurch entstandene Vakuum durch die wachsende Kontrolle des rationalistisch orientierten absolutistischen Staates ausgefüllt. Gleichzeitig wies die innerjüdische Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Abgeschiedenheit den Weg zur jüdischen Aufklärungsbewegung, der Haskala, die den „dramatischen Eintritt“ der deutschen Juden „in das soziale und kulturelle Leben Deutschlands“3 markierte. Im Gegensatz dazu eröffnete die Mehrheitsgesellschaft in Osteuropa laut Jacob Katz keine Möglichkeit der Integration, so dass die Schwächung der Gemeindedisziplin Platz für eine autochthone jüdische Entwicklung bot. 1 Vgl. Bartal, Image, 4. Aber erst durch die Anstellung von renommierten jüdischen Gelehrten aus Polen erhielten, so Wilke, „fast alle der später bedeutendsten rabbinischen Zentren des Westens […] ihren Ruf als Bildungsstätten zurück.“ Wilke, Talmud, 85. Vgl. hierzu auch Schulvass, East; M. Graetz, Austausch, 80. 2 Vgl. Katz, Ghetto, 43. 3 Carlebach, Juden, 56.

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Kulturelle Distinktionen deutscher und osteuropäischer Juden

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Während in Mittel- und Westeuropa die an Rationalität orientierte Haskala entstand, formierte sich in Osteuropa, ausgehend von Polen, die mystische Bewegung des Chassidismus.4 Beides waren Reformbewegungen, die jedoch ganz unterschiedliche Inhalte formulierten. Die Anziehungskraft der Lehren des Chassidismus erwies sich in Osteuropa als so stark, dass innerhalb weniger Jahrzehnte ein erheblicher Teil der dortigen Juden Anhänger dieser Bewegung wurde. Die Ausbreitung des Chassidismus nach Westen stieß erst in Litauen auf energischen Widerstand der rabbinischen Juden, deren künftige Bezeichnung als Mitnaggdim (hebr. für Gegner) aus dieser Konfrontation resultierte. Als Antwort auf die vermeintliche Bedrohung durch den Chassidismus leiteten die Mitnaggdim eine Renaissance des Talmudstudiums ein und gründeten zahlreiche neue Jeschivot (Talmudhochschulen). Ungefähr zur gleichen Zeit verbreitete sich die jüdische Aufklärungsbewegung von Deutschland aus über ganz Mittel- und Westeuropa, wobei sich letzten Endes alle jüdischen Schichten an diesem Projekt der Moderne beteiligten. Eine Reihe spezifisch jüdischer Merkmale, die als Ausdruck des Ghettolebens verstanden wurden, sollten den Assimilations- und Akkulturationsbestrebungen der deutschen Juden weichen. Die traditionelle jüdische Kleidung wurde aufgegeben und Deutsch an Stelle des nun als abstoßend empfundenen Jiddisch zur Umgangssprache der deutschen Juden. Herausragende Bedeutung erlangte die (säkulare) Bildung, was zu einer Abkehr von der traditionellen Dominanz jüdisch-religiösen Wissens sowie zu Bemühungen um Integration in die Mehrheitsgesellschaft führte. In zunehmendem Maße besuchten die deutschen Juden allgemeine Schulen oder errichteten eigene moderne Lehranstalten, in denen die Vermittlung weltlicher Kenntnisse im Vordergrund stand, während der religiöse Unterricht gegenüber früheren Zeiten einen stark komprimierten Charakter aufwies. Damit war, um mit Julius Carlebach zu sprechen, die „schnelle und dramatische Säkularisierung der Juden in Deutschland“5 eingeleitet. Die durch die Haskala gewandelte Haltung zur Religion mündete schließlich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in eine religiöse Reformbewegung innerhalb des deutschen Judentums. In Anlehnung an den Protestantismus wurde eine Ästhetisierung und Modernisierung des Gottesdienstes angestrebt, die sich in der Einführung von Synagogenordnungen, Chören, der deutschen Predigt, des Ornats für Rabbiner, des Orgelspiels (partiell) und der Verkürzung des Gebetsbuchs sowie in der Abschaffung als nicht mehr zeitgemäß empfundener Bräuche niederschlug. Im Zuge dieser religiösen Reformen entwickelte sich seit den 30er Jahren 4 Vgl. Katz, Ghetto, 43 – 44. Diese zeitliche Koinzidenz hinsichtlich der Entstehung von Aufklärung und Chassidismus hat Graetz mit folgenden Worten kommentiert: „Die Aufklärung und die kabbalistische Mystik reichten einander die Hände, um das Werk der Zerstörung zu beginnen. Mendelssohn und Israel Baal-Schem, welche Gegensätze! Und doch haben beide unbewußt den Grundbau des talmudischen Judentums unterwühlt.“ Graetz, Geschichte, Bd. 11, 96. 5 Carlebach, Juden, 68.

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Das Eigene und das Fremde

des 19. Jahrhunderts innerhalb des deutschen Judentums auch ein neuer Rabbinertyp, der jüdische Gelehrsamkeit mit einem hohen Maß an säkularem Wissen verband. Im Unterschied zu früheren Zeiten befasste sich der moderne deutsche Rabbiner nunmehr weniger mit rituellen Fragen, dafür aber um so mehr mit Rhetorik, Repräsentation, Wissenschaft, Erziehung und sozialer Fürsorge. Hatte er früher in erster Linie als Gesetzesausleger und Richter fungiert, so verstand sich der deutsche Rabbiner, selbst der orthodoxe, nun vor allem als Prediger, Seelsorger und Lehrer sowie allgemein als moralisches Vorbild. Schon bald waren ein abgeschlossenes Hochschulstudium und die Promotion eine Selbstverständlichkeit für deutsche Rabbiner jeder religiösen Richtung.6 Für den herausragenden Vertreter der Wissenschaft des Judentums Leopold Zunz (1794 – 1886) markierte dieser Prozess die „Verbannung der östlichen Barbarei“,7 da sich damit die Anstellung polnischer Rabbiner und Lehrer in deutsch-jüdischen Gemeinden erledigt hatte. Gegner der Rabbinatsreform quittierten dies hingegen nicht selten mit folgendem despektierlichem Diktum: „Seit die Rabbiner ,Doktoren‘ sind, ist das Judentum krank.“8 Im Gegensatz dazu verlief die Entwicklung der osteuropäischen Juden seit der Mitte des 18. Jahrhunderts weitgehend in anderen Bahnen. Zwar war es dort zur Spaltung des Judentums in Chassidim und Mitnaggdim gekommen, jedoch blieben beide Strömungen einer traditionalistischen alljüdischen Lebensweise verhaftet, die sich auch weiterhin in einer weitgehend strikten Abgeschlossenheit von der Kultur der Mehrheitsgesellschaft äußerte. Erst etwa ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Haskala in Deutschland lassen sich auch in Osteuropa erste äußerst zaghafte Anzeichen einer jüdischen Aufklärung erkennen.9 Diese neuen Ideen waren in erster Linie durch Vermittlung osteuropäischer Juden, die sich zu geschäftlichen oder wissenschaftlichen Zwecken eine gewisse Zeit in Deutschland aufgehalten hatten, nach Osteuropa transferiert worden.10 Dass es sich hierbei vor allem um „importierte“, also „fremde“ Ideen handelte, wird insbesondere auch an der Wahrnehmung der traditionalistisch gesinnten osteuropäischen Juden deutlich, die weiterhin die große Mehrheit bildeten. So bezeichneten sie nahezu jede Neuerung in abwertender Weise als „daitsch“, und selbst die relativ wenigen osteuropäischen Repräsentanten der jüdischen Aufklärung, die Maskilim, erhielten den Spitznamen „daitsch“ oder „Berliner“.11 In diesem Sinne

6 Zur Entwicklung eines modernen Rabbinats im deutschen Judentum vgl. den exzellenten Aufsatz von Schorsch, Emancipation, 205 – 248. 7 Zunz, Rede, 110. 8 Vgl. Breuer, Rabbinat, 22; Meyer, Model, 78. 9 Vgl. hierzu bspw. Stanislawski, Tsar, 50. 10 Vgl. hierzu Meyer, Mendelssohn, 67; Ochs, Aufklärung, 16, 92, 114 – 121; Sinkoff, Shtetl, 45 – 202. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass auch „interne“ Faktoren im osteuropäischen Judentum die Etablierung der Haskala dort ermöglicht haben. Vgl. hierzu Etkes, Factors, 13 – 32. 11 Vgl. Bartal, Image 5 – 6.

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Kulturelle Distinktionen deutscher und osteuropäischer Juden

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waren die Haskala selbst und alle mit ihr verbundenen Wertvorstellungen und Praktiken Kultureme. Die Mehrheit der osteuropäischen Juden blieb gegenüber den Ideen der Aufklärung indifferent, wobei es regionale Unterschiede gab. Während in den osteuropäischen Gebieten, die im Allgemeinen stark von der deutschen Kultur beeinflusst waren, die Haskala bedeutende Anziehungskraft entwickeln konnte – so zum Beispiel in Liv- und Kurland oder auch in galizischen Städten –, blieb sie insbesondere in den Gegenden, die vom Chassidismus geprägt waren, eine Randerscheinung. Neben einer verhältnismäßig geringen Akzeptanz unterschied sich die osteuropäische Haskala auch in ihrer weiteren Entwicklung insofern prägnant von ihrem deutschen Vorbild, als sie einen deutlich „jüdischeren“ Charakter aufwies. Dies zeigte sich in erster Linie im Festhalten an der traditionellen Diglossie, indem die beiden jüdischen Sprachen Hebräisch und Jiddisch als sprachliche Medien zur Verbreitung der Aufklärung herangezogen wurden, woraus letztlich sogar eine Zweisprachigkeit entstand.12 Während Hebräisch nicht nur im religiösen Bereich, sondern bei den osteuropäischen Maskilim (später ebenfalls bei den zionistisch orientierten Anhängern) auch als Literatursprache große Bedeutung besaß, blieb Jiddisch weiterhin für den überwältigenden Teil der osteuropäischen Juden die Umgangssprache. So bezeichneten noch 1897 bei der im Zarenreich durchgeführten Volkszählung knapp 97 % der russländischen Juden Jiddisch als ihre Muttersprache.13 Ganz anders gestaltete sich hingegen die Entwicklung in Deutschland. Dort spielte schon zu Beginn der Haskala die deutsche Sprache eine herausragende, das Hebräische hingegen nur eine untergeordnete Rolle, während das Jiddische als zu überwindender „Jargon“ völlig abgelehnt wurde. Nach nur wenigen Jahrzehnten war Deutsch zum alleinigen Idiom des deutschen Judentums geworden. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass zunächst auch die deutsche Sprache in der osteuropäischen Haskala von großer Bedeutung war, was die Orientierung der osteuropäischen Maskilim an ihrem deutschen Vorbild besonders augenscheinlich demonstriert. Das Zeitalter der Aufklärung markierte nicht nur den Beginn unterschiedlicher Entwicklungen innerhalb des bis dahin weitgehend homogenen aschkenasischen Judentums, sondern hatte auch ein gewandeltes Selbstverständnis zur Folge, das vor allem aus der Wahrnehmung des jeweils „Anderen“ seine Bestätigung erfuhr. Zweifellos war die neue Sicht der deutschen Juden auf ihre osteuropäischen Glaubensgenossen Teil eines allgemeinen westeuropäischen Phänomens, das Larry Wolff sehr prägnant wie folgt beschrieben hat:

12 Vgl. Bechtel, Transfers, 68; Katz, Ghetto, 45; Grözinger, Literatur, 76. 13 Vgl. Bauer/Kappeler/Roth (Hg.), Nationalitäten, 200.

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Das Eigene und das Fremde

“It was Western Europe that invented Eastern Europe as its complementary other half in the eighteenth century, the age of Enlightenment. It was also the Enlightenment, with its intellectual centers in Western Europe, that cultivated and appropriated to itself the new notion of ,civilization‘, an eighteenth-century neologism, and civilization discovered its complement, within the same continent, in shadowed lands of backwardness, even barbarism. Such was the invention of Eastern Europe.”14

Auch Jurij Lotman hat darauf hingewiesen, dass das Verständnis von Kultur als „geschlossenem Begriff“ zwangsläufig einen „Antipoden, eine ,NichtKultur‘, voraus[setzt], die sich jenseits ihrer Grenzen befindet“. Das von der Aufklärung konstruierte Bild des „zivilisierten“, kultivierten Westeuropas und des „barbarischen“, unkultivierten Osteuropas als dessen Antipode fand, wie bereits erwähnt, auch im deutschen Judentum seine Entsprechung. Tatsächlich existierte laut Sander Gilman seit dem späten 18. Jahrhundert ein negatives Bild des osteuropäischen Juden im deutschjüdischen Bewusstsein: „der nicht assimilierte Jude, der ungeschlachtes Deutsch sprach; er wurde ,der mauschelnde Jude‘, der Lumpensammler, schmutzig, unwissend, am Rande der ordentlichen Gesellschaft. Er war eine Variante der Standard-Stereotype vom Juden, wie er in der europäischen antisemitischen Propaganda seit dem frühen Mittelalter zu sehen war.“15

Ähnlich wie sich Westeuropa seit der Aufklärung als Inbegriff der „Zivilisation“ wahrnahm, schuf man innerhalb des aufgeklärten deutschen Judentums das „Bild des schwerarbeitenden, gelassenen, intellektuellen Juden“,16 der sich positiv von seinem als „unzivilisiert“ perzipierten osteuropäischen Glaubensgenossen abhob. Insofern war auch für die deutschen Juden das osteuropäische Judentum nicht geographisch bestimmt, sondern eine Chiffre für Rückständigkeit, Kulturlosigkeit, Nutzlosigkeit und „Verwilderung“; es bedurfte daher einer „Regeneration“ – ein häufig von deutschen Juden dieser Zeit in Bezug auf das osteuropäische Judentum verwendeter Begriff.17 Wenn deutsche Juden im 19. Jahrhundert von osteuropäischen Juden sprachen, wurden diese ungeachtet ihrer tatsächlichen Herkunft zumeist als „polnische“ Juden bezeichnet, wobei der „polnische“ Jude alle positiven Eigenschaften vermissen ließ, deren sich der deutsche Jude sehr wohl glaubte rühmen zu dürfen. Insoweit lassen sich die Stereotype des Orientalismus, wie sie Edward Said in seinem 1978 erschienenen gleichnamigen Werk dargestellt 14 Vgl. Wolff, Inventing, 4. 15 Gilman, Wiederentdeckung, 12 (Am Rande sei darauf hingewiesen, dass es problematisch ist, im frühen Mittelalter von antisemitischer Propaganda zu sprechen). 16 Gilman, Wiederentdeckung, 12. 17 Im Übrigen war diese Haltung keineswegs auf das deutsche Judentum beschränkt. Auch das französische Judentum verwandte im 19. Jahrhundert ständig den Begriff der „rgnration“, wenn es von der Reformnotwendigkeit der Juden Nordafrikas oder des Osmanischen Reichs sprach. Vgl. Rodrigue, Jews, 5 – 8.

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Kulturelle Distinktionen deutscher und osteuropäischer Juden

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hat, auch auf das Verhältnis der aufgeklärten deutschen Juden zu ihren osteuropäischen Glaubensgenossen übertragen. Ähnlich wie der Blick des Westens auf die Völker des Vorderen Orients oder der arabischen Welt von einem grundsätzlichen Überlegenheitsgefühl bestimmt war, das sich im politischen und kulturellen Umgang mit dieser Region manifestierte und bis in die Gegenwart andauert, war auch die Sichtweise der aufgeklärten deutschen Juden auf das osteuropäische Judentum von diesem Diskurs geprägt. Immerhin erkannten aber die deutschen und die deutschakkulturierten Juden die Möglichkeit einer „Zivilisierung“ des osteuropäischen Judentums durch den Transfer deutscher Kultur, hauptsächlich in Form von Bildung, an. Prägnant auf den Punkt gebracht hat dies der aus Galizien stammende jüdische Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848 – 1904), der das osteuropäische Judentum kulturell in „Halb-Asien“ verortete und literarisch für eine Übernahme der deutschen Kultur durch seine osteuropäischen Glaubensgenossen, also den Übergang nach Europa, warb. Worin bestand nun in der Wahrnehmung der aufgeklärten deutschen Juden ihre vermeintliche kulturelle Überlegenheit im Einzelnen? Zunächst zeigte sich dies schon allein in der Verwendung einer neuen Umgangssprache. Zum einen propagierten die deutschen Maskilim die Verbreitung der deutschen Sprache unter ihren Glaubensgenossen als wichtigen Schritt zur Annäherung an die nichtjüdische Gesellschaft, zum anderen waren sie zugleich vom Jiddischen, dem sogenannten „Jargon“, zutiefst abgestoßen. Moses Mendelssohn (1729 – 1786), zweifellos der erste und hervorragendste Vertreter der deutschen Haskala, war der Auffasung, das jüdische Sprachgemisch habe erheblich „zur Unsittlichkeit des gemeinen Mannes“ beigetragen.18 Insofern wurde dem Jiddischen nicht nur eine unästhetische, sondern auch eine unmoralische Wirkung beigemessen. Zwar hatten sich die deutschen Juden schon bald dieser angeblich so verderblichen Sprache entledigt, doch ihre ablehnende Haltung verfestigte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in gewisser Weise zu einer Phobie, die im Grunde die Tatsache reflektierte, dass in Osteuropa noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu alle Juden das Jiddische als ihre Muttersprache bezeichneten. Für den großen deutsch-jüdischen Historiker Heinrich Graetz (1817 – 1891) war Jiddisch nichts anderes als eine „häßliche Mischsprache“, „ein lallendes Kauderwelsch“, ja eine „Sprachverderbnis“.19 Wie kompromisslos die Haltung des Historikers in dieser Hinsicht war, wird vor allem daraus ersichtlich, dass er es verbot, sein monumentales Werk über die Geschichte der Juden ins Jiddische zu übersetzen, da er den „Jargon“ als größte Schande für (s)ein Volk betrachtete.20 Damit gab er überdeutlich zu verstehen, was er von der Muttersprache der großen Mehrheit der osteuropäischen Juden hielt, für die eine solche Übersetzung bestimmt gewesen wäre. 18 Graetz, Geschichte, Bd. 11, 12. 19 Graetz, Geschichte, Bd. 11, 38, 12. 20 Vgl. Wertheimer, Strangers, 150.

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Das Eigene und das Fremde

Entsprechend dieser Haltung gegenüber dem Jiddischen konnten nach Meinung der deutschen Juden die Probleme der osteuropäischen Juden nur dadurch gelöst werden, dass diese zunächst die Landessprache lernten. Und solange sie nicht die Sprache und Kultur ihres Landes verinnerlicht hätten, könnten sie auch nicht die Staatsbürgerschaft oder die Bürgerrechte des Staates, in dem sie lebten, erlangen. Zuallererst sollten sie daher das Jiddische aufgeben, da dieser „geschmacklose Jargon“ nicht als „Kultursprache“ gelten könne.21 Indirekt stellten sich die deutschen Juden damit natürlich selbst als historische Vorbilder für die osteuropäischen Juden dar. In den Augen der deutschen Juden war neben dem Jiddischen ein weiteres für das osteuropäische Judentum sehr charakteristisches Element besonders negativ konnotiert. Dies war die um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene und in der Folgezeit stark anwachsende religiös-mystische Bewegung des Chassidismus. Der jüdische Historiker Isaak Marcus Jost (1793 – 1860) erklärte zwar in den 1820er Jahren noch, dass „die Grundlagen dieser Sekte nichts Verwerfliches enthält [sic!]“, wies aber auch auf die schon sehr früh aufgetretenen zahlreichen Missbräuche im Chassidismus hin.22 Hatte Jost zumindest in den Grundlagen des Chassidismus noch nichts Negatives erblickt, so stellte sein Kollege Heinrich Graetz diesen gar als abstoßenden Gegenentwurf zur lichtbringenden Aufklärung dar : „Die neue Sekte, eine Tochter der Finsternis, ist im Dunkel geboren und wirkt auch heute noch auf dunkeln Wegen fort.“23 Wie sehr die deutschen Juden des 19. Jahrhunderts die chassidische Bewegung verachteten, tritt schließlich besonders drastisch im Artikel eines gewissen Horwitz zu Tage, der die Chassidim als „Ausgeburt eines religiösen Wahnes“ und als „Krebsschaden der polnischen Judenschaft“ bezeichnete und mit tiefstem Bedauern konstatieren musste, dass sie die Mehrheit der polnischen Juden repräsentierten.24 Eine derartige Aversion gegenüber dem Chassidismus war übrigens nicht auf liberale und reformorientierte Juden beschränkt, sondern wurde auch von der deutschen (Neo-)Orthodoxie in ähnlicher Weise artikuliert. So bezeichnete 1866 das Organ des orthodoxen deutschen Judentums Der Israelit in einem Leitartikel die „Bekämpfung des sogenannten Chassidismus, der die jüdische Welt zu überfluthen und in Wahn und Aberglauben zu versenken 21 Vgl. Wertheimer, Strangers, 149. 22 Jost, Geschichte, Bd. 9, 47 – 48. 23 Graetz, Geschichte, Bd. 11, 96. An zwei anderen Stellen spricht Graetz vom „Verdummungssystem der Chaßidäer“ und bezeichnet ihre Bewegung als „hässliche[n] Auswuchs des Judentums“. Graetz, Geschichte, Bd. 11, 117, 563. Vgl. zum negativen Bild des Chassidismus auch Friedländer, Verbesserung, 38 – 39 sowie Aus Galizien, in: Der Israelit des 19. Jahrhunderts 6, 8. 2. 1846, 46 – 47. Für Leopold Zunz waren die Chassidim im Übrigen auch ein Beispiel völliger Unzivilisiertheit bzw. Kulturlosigkeit. In einem Brief aus dem Jahre 1820 hatte er geäußert, dass sie „so schreien, rasen und singen wie etwa die Wilden auf Neuseeland….“ Brief Zunz’ an S. M. Ehrenberg, 3. 10. 1820, in: Glatzer (Hg.), Zunz, 112. 24 Horwitz, Ein Opfer des Fanatismus, in: AZJ 28, 11. 7. 1889, 438.

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Kulturelle Distinktionen deutscher und osteuropäischer Juden

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droht“, als „Pflicht“ traditionsorientierter deutscher Juden.25 Besonders in Rage brachte den Verfasser dieses Artikels das „wahnsinnige Dogma“ eines Rebbe, wonach ein „wahrhafter Jude“ kein „richtiges, reines Deutsch“ sprechen oder schreiben dürfe.26 Erst um die Jahrhundertwende sollte sich die Haltung der deutschen Orthodoxie gegenüber dem Chassidismus langsam wandeln. Nicht viel weniger als die Chassidim wurden ihre Gegner, die sogenannten Mitnaggdim, von den deutschen Juden verachtet. In deren Augen war die leidenschaftliche Auseinandersetzung zwischen dem „irrationalen“ Chassid und dem „überrationalen“ Talmudisten völlig unerheblich, denn in beiden manifestierte sich, so die Wahrnehmung der deutschen Juden, der Geist des Ghettos und der von der Religion bestimmten Engstirnigkeit und Abgeschiedenheit. Keiner zeigte die geringsten Anzeichen für eine Annäherung an das von der deutschen Haskala geschaffene Ideal der Bildung.27 Vor dem Hintergrund ihres Bildungsideals war es daher auch nicht verwunderlich, dass die deutschen Juden im 19. Jahrhundert das noch intakte traditionelle Erziehungssystem der osteuropäischen Juden, das fast ausschließlich von der Vermittlung religiösen Wissens bestimmt war, nicht nur als großes Unglück für ihre Glaubensgenossen, sondern sogar als regelrechte Schande betrachteten. Im Juni 1799 wurde David Friedländer (1750 – 1834), der ein Schüler Mendelssohns war und nach dessen Tod die Führungsrolle der Haskala beanspruchte, vom Provinzialminister für Südpreußen Otto Karl Friedrich von Voß (1755 – 1823) beauftragt, ein Gutachten über die Organisation des jüdischen Schulsystems in den ehemals zur polnischen Adelsrepublik gehörenden neuen preußischen Gebieten zu erstellen.28 In diesem Gutachten fällte Friedländer ein vernichtendes Urteil über die Erziehung der polnisch-jüdischen Knaben. Entsprechend der utilitaristischen Vorstellung der deutsch-jüdischen Aufklärer wie auch des aufgeklärt-absolutistischen Staates monierte Friedländer vor allem, dass die polnischen Juden keinen Sinn in einer geregelten, gewerbevorbereitenden Unterweisung sähen. Da, so Friedländer, allein dem bloßen Hersagen der Worte der rabbinischen Schriften „etwas höchst verdienstliches“ zugeschrieben werde, beschäftige der polnische Jude seine Jugend „,den ganzen Tag in der Schule, einzig und allein mit Lesen und Wiederlesen dieser Bücher, nicht um sie zu unterrichten, sondern, wie er glaubt, um sie pflichtmäßig mit der Thora zu unterhalten‘“.29 Demgegenüber werde aber nichts Sinnvolles wie Sprachen, Schreiben, Rechnen unterrichtet, was dazu führe, dass der polnisch-jüdische Knabe „,in diesen 25 Der sogenannte Chassidismus und dessen Vorkämpfer, in: Der Israelit 22, 30. 5. 1866, 375. Die andere Pflicht war freilich die Bekämpfung des Reformjudentums. 26 Der Israelit 22, 30. 5. 1866, 376. 27 Aschheim, Brothers, 15. 28 Südpreußen war die Bezeichnung für das durch die Teilungen Polens an Preußen gekommene Gebiet, dessen Hauptstadt zwischen 1795 und 1809 Warschau war. 29 Zitiert nach Lohmann, Kenntnisse, 103.

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Anstalten keine einzige Kenntniß die ihm in seinem bürgerlichen Leben nützlich seyn könnte‘“,30 erlange. Dieses ungeheure Bildungsdefizit der polnisch-jüdischen Jugend finde schließlich – so Friedländer in einem später verfassten Gutachten zur Jüdischen Frage im Königreich Polen – seine Fortführung in der Tatsache, dass sich die polnischen Juden im Gegensatz zu anderen Glaubensgenossen in wissenschaftlicher Hinsicht grundsätzlich nur mit dem Talmud beschäftigten, ein Werk, das mit Spitzfindigkeiten überfüllt sei, jedoch kaum für das Leben brauchbare Ansichten vermittele.31 Besonders extrem zeigte sich die Verachtung deutscher Juden für das jüdische Erziehungssystem in Osteuropa beim deutschen Rabbiner Isaak Rülf (1831 – 1902), der nicht nur von tiefer Sympathie für seine osteuropäischen Glaubensgenossen erfüllt war, sondern sogar über viele Jahre außerordentliche persönliche Anstrengungen unternahm, um ihre soziale Not zu lindern. Bei aller Begeisterung für die angeblich enge Verbundenheit der russländischen Juden mit ihrer Religion sah er sich doch zur Verdammung der „verpesteten Beth-Hamidrasch- und Chederluft“ genötigt. Seiner Meinung nach waren die „stupiden Männer […] im Cheder und Beth-Hamidrasch verdummt und verdorben und nur in seltenen Fällen noch für den Lebensverkehr und Wissenserwerb geschickt und geeignet“.32 In der Ablehnung des Cheder- und Jeschivaschulwesens der osteuropäischen Juden waren sich im 19. Jahrhundert deutsche Juden aller religiösen Richtungen einig, da dieses Erziehungssystem nach ihrer Auffassung mit seinem fast ausschließlichen Talmud-Unterricht weder auf eine Erwerbstätigkeit vorbereitete noch Bildung und ästhetisches Gefühl vermittelte. Selbst die orthodoxen deutschen Rabbiner sparten nicht mit Kritik am osteuropäischen Cheder. Gleiches galt auch für die Jeschivot, die traditionellen TalmudHochschulen, deren letzte in Deutschland in den 1830er Jahren geschlossen worden war. So forderten auch die orthodoxen deutschen Rabbiner immer wieder ihre osteuropäischen Kollegen zu einer Reform der Erziehungsinstitutionen auf, die allerdings im Einklang mit der Religion stehen sollte.33 Doch die große Mehrheit der osteuropäischen Rabbiner, die sowohl religiöse Reformen als auch die Vermittlung säkularen Wissens vehement ablehnte, sah sich keineswegs zu einer Umgestaltung des jüdischen Schulwesens veranlasst. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass nach Meinung der meisten deutschen Juden die osteuropäischen Rabbiner zweifellos das „größte Unglück“34 für die osteuropäischen Juden darstellten, da letztlich sie für einen Großteil der als verheerend erachteten Missstände verantwortlich schienen. Den osteuropäischen Rabbinern wurde angelastet, die als so dringend emp30 31 32 33 34

Lohmann, Kenntnisse, 103. Vgl. Friedländer, Verbesserung, 22 – 27. Rülf, Juden, 10. Vgl. Wertheimer, Strangers, 149. AZJ 5, 31. 1. 1871, 93.

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fundene Umgestaltung des jüdischen Lebens im Osten hartnäckig zu hintertreiben. In den Augen vieler deutscher Juden bestand ihre einzige „Leistung“ darin, ihre Gemeindemitglieder auf das Betteln in Deutschland – dem „gelobten Land der Schnorrer“ – vorzubereiten.35 Für die Mehrheit der osteuropäischen Juden waren jedoch gerade die von den deutschen Juden so scharf kritisierten Charakteristika ihrer Lebensgestaltung Garant für den Fortbestand des Judentums. Ihrer Ansicht nach war die Existenz des jüdischen Volkes über viele Jahrhunderte hinweg nur durch ein bedingungsloses Festhalten an der religiösen Tradition gewahrt worden. Insofern war für sie die grundlegende Umgestaltung des jüdischen Lebens in Deutschland – vor allem durch den Erwerb säkularer Bildung – gleichbedeutend mit einem Angriff auf die Grundfesten des Judentums, der in letzter Konsequenz den Untergang des jüdischen Volkes und seiner Religion bewirken würde. Während die traditionsorientierten Juden Osteuropas den Transfer kultureller Elemente aus dem aufgeklärten deutschen Judentum grundsätzlich als Gefahr für den Fortbestand des Judentums betrachteten, letztlich also davon ausgingen, dass die Aneignung „fremder“ kultureller Güter zu einer völligen Verdrängung des „Eigenen“ führen würde, sahen dies die deutschen Juden in ihrer „orientalistischen“ Sichtweise natürlich genau umgekehrt. Es mag paradox anmuten, dass beispielsweise der Mendelssohn-Schüler David Friedländer bereits 1799 und dann nochmals 1816 für das polnische Judentum ein regelrechtes Programm der „Regeneration“ entwarf, das sich an einem zielutopischen deutsch-jüdischen Kulturmodell orientierte, obwohl doch zu dieser Zeit die deutschen Juden in ihrer Mehrheit selbst noch in der Tradition verhaftet waren. Das spielte jedoch keine Rolle. Vielmehr ging es schon sehr früh darum, bei der Umgestaltung des jüdischen Lebens eine geistige Führerschaft in einem größeren geographischen Kontext zu beanspruchen. Dies galt für das deutsche Judentum ebenso wie beispielsweise für das französische. Der Wunsch nach einem Transfer des deutsch-jüdischen Bildungsmodells der Emanzipationszeit in das osteuropäische Judentum wurde auch von einer kleinen Minderheit osteuropäischer Juden sehr früh geäußert: Die despektierlich als „daitsch“ bezeichneten Maskilim Osteuropas waren dafür der lebende Beweis. Dabei ist aber mitunter übersehen worden, dass die deutsche Haskala zunächst in erheblichem Maße ein Gemeinschaftsprojekt des aschkenasischen Judentums war, an dem eben auch Juden aus Osteuropa, insbesondere Galizien, einen bedeutenden Anteil hatten. Mag Moses Mendelssohn unbestreitbar die zentrale Figur der deutschen Haskala gewesen sein, so darf doch der Beitrag von Persönlichkeiten wie Salomon Maimon (1753 – 1800), Mendel Lefin (1749 – 1826), Schalom Cohen (1772 – 1845), Salomo Dubnow (1738 – 1813), Baruch Schick (1752 – 1810), Isaak Satano¯w (1732 – 1805) und anderen nicht unter-

35 Vgl. Wertheimer, Strangers, 148 – 149.

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Das Eigene und das Fremde

schätzt werden.36 Dass aber im 19. Jahrhundert dieser Anteil kaum noch Erwähnung im deutschen Judentum fand, war Ausdruck des entstandenen Überlegenheitsgefühls gegenüber dem osteuropäischen Judentum, das allenfalls als Objekt einer „Zivilisierungsabsicht“ in Frage kam, nicht jedoch als schöpferisches Subjekt. Allerdings hatten auch die aufgeklärten osteuropäischen Juden inzwischen diese Haltung verinnerlicht. Man wollte sich nicht nur am aufgeklärten deutschen Judentum orientieren, sondern wies diesem vielmehr eine regelrechte „mission civilisatrice“ zu, die in einen gesamtjüdischen Kontext gestellt wurde. 1846 sollte der aus dem galizischen Brody stammende Julius Barasch (1815 – 1863) diesen Umstand mit folgenden eindrucksvollen Worten beschreiben: „Unsere Zukunft liegt in den Händen Oesterreichs, unsre politisch-geistige Wiedergeburt kann nur eine deutsche sein. In der That wie rührend! Wo giebt’s noch ein Volk, das uns mit so kalter systematischer Wissenschaftlichkeit von sich stieße, als das deutsche, wo noch ein Volk wie dieses, das sich die Mühe nicht verdrießen ließ, ewig neue Theoreme, Philosopheme und Argumente und Gott weiß was gegen unsre bürgerliche Erhebung, gegen unsre Verbrüderung ausfindig zu machen, und dennoch wir sind dem Geiste nach Deutsche. Wir wollen es sein, um uns gerade hier Anerkennung zu verschaffen, wo sie uns bisher am Meisten verweigert wurde, uns gerade hier eine Zukunft zu erkämpfen, wo uns eine mittelalterliche Vergangenheit grauenvoll entgegentritt; wir wollen, ja müssen aber auch darum schon Deutsche sein, um mit unseren erleuchteten deutschen Brüdern auf der Bahn geistiger Selbstemanzipation vorwärts zu schreiten, um den Reinigungsprozeß unsres höchsten Kleinodes – unsrer Religion – mit unseren deutschen Brüdern gemeinsam durchzumachen. Nicht etwa, daß wir die religiös-geistigen Errungenschaften unserer Brüder in Frankreich, England, Holland, Italien u. s. w. uns als die Unsrigen anzueignen verschmähen dürften; allein Deutschland liegt uns geographisch näher, unsre Sprache ist eine deutsche Mundart und, offen gestanden, auf dem Gebiete geistig-religiöser Entwicklung hatten die Juden Deutschlands von Mendelsohn [sic!] bis auf den heutigen Tag immer den Vorsprung. – Ist’s aber die Mission der Juden Englands und zum Theil auch Hollands ihre Brüder im Orient heranzubilden, die der Juden Frankreichs ihre Mitbrüder und nunmehr zum Theil auch Mitbürger, die Juden Nordafrika’s zu sich heranzuziehen, so ist es offenbar die Mission der deutschen Juden, den Hunderttausenden ihrer Brüder in den ehemaligen polnischen Landen ihre geistige Nahrung zu spenden, und sie einer künftigen Regeneration entgegen zu führen.“37

Ob und auf welche Weise deutsche Rabbiner und deutsch-jüdische Erzieher diesen „Erziehungsauftrag“ oder diese „Mission“ in Osteuropa erfüllten, sollen die folgenden Kapitel zeigen. 36 Vgl. hierzu M. Graetz, Austausch, 79 – 88, bes. 83, wo es heißt: „Die gepriesene Berliner Haskala ist viel weniger deutsch und europäisch als immanent-jüdisch und speziell ,polnisch-jüdisch‘.“ 37 AZJ 45, 2. 11. 1846, 659.

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II. Der Beginn der jüdischen Bildungsrevolution in West und Ost 1. „Am Anfang war Moses Mendelssohn“: Die Reform des Bildungswesens im deutschen Judentum „Mit dem Auftreten Moses Mendelssohns war das alte, von den deutschen Juden seit Jahrhunderten festgehaltene Bildungsideal, das ausschließlich auf die Lehre der 8L9N [hebr.: Tora] sich gründete und alle anderen Bildungselemente ausschloß, gestürzt. Er hatte den Juden seiner Zeit gezeigt, daß man an der jüdischen Kultur festhalten könne und dazu verpflichtet sei, daß es aber neben ihr andere Kulturgüter gäbe, deren Aneignung auch für die Juden erstrebenswert wäre. Damit hatte er freilich Probleme aufgerollt, über deren Tragweite er sich selbst nicht klar war.“1

Dieses Zitat aus einer jüdisch-orthodoxen Zeitschrift von 1931 beschreibt sehr anschaulich, was Michael Brenner (im Zusammenhang mit der Periodisierung des jüdischen Historikers Graetz) wie folgt umrissen hat: „Am Anfang war Moses Mendelssohn.“2 Im Zeitalter des berühmten deutsch-jüdischen Philosophen kam erstmals im aschkenasischen Judentum ein breiterer Diskurs über Notwendigkeit und Zulässigkeit säkularer Bildungsinhalte auf. Selbstverständlich gab es schon zuvor Juden, die ihren Kindern, in erster Linie den Söhnen, neben der religiösen Erziehung auch eine gewisse Profanbildung, insbesondere Sprachkenntnisse, durch Hauslehrer zukommen ließen. Damit war jedoch noch keineswegs ein öffentliches Infragestellen des traditionellen jüdischen Schulwesens, verkörpert durch Cheder (jüdisch-religiöse Elementarschule), Talmud-Tora (jüdische Gemeindeelementarschule für arme und verwaiste Knaben) und Jeschiva (Talmudhochschule), verbunden. Ebenso gab es auch schon vorher einzelne aschkenasische Rabbiner, die säkulare Kenntnisse nicht grundsätzlich ablehnten, sondern durchaus ihren Wert anerkannten, allerdings nur als Hilfsmedium zum besseren Verständnis der Tora. Von besonderer Bedeutung für einen Wandel der Haltung gegenüber der jüdischen Erziehung im deutschen Judentum waren in erster Linie zwei Werke: die Pentateuchübersetzung und der dazugehörige Kommentar (Bi’ur) Mendelssohns (und seiner Schüler) sowie das 1782 von dem Maskil Naphtali 1 Halberstadt, Das Bildungsideal S. R. Hirschs @’’J:, in: Nachalath Z’wi 7 (1931), 241. 2 Brenner, Propheten, 30. Mordechai Eliav hat in seinem 1960 erstmals auf Hebräisch erschienenen Werk zur Jüdischen Erziehung in Deutschland im Zeitalter der Aufklärung und Emanzipation es ganz ähnlich formuliert. Eliav, Erziehung, 19.

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Der Beginn der jüdischen Bildungsrevolution in West und Ost

Herz Wessely (1725 – 1805) veröffentlichte Sendschreiben Divrei Schalom veEmet (Worte des Friedens und der Wahrheit). Bereits 1778 war unter dem Titel Alim li-trufa (Blätter zur medizinischen Heilung) die erste Probe einer deutschsprachigen Übersetzung der Tora in hebräischen Lettern mit volkstümlichem, aber traditionsorientiertem Kommentar erschienen. Ursprünglich von Mendelssohn für seine Kinder als Mittel zum leichteren Verständnis der Heiligen Schrift gedacht, sollte sein Text nun der jüdischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, wobei zwei Ziele im Vordergrund standen. Erstens sollte er der jüdischen Jugend den Einstieg in die Tora durch eine quellengetreue Übersetzung erleichtern und sie insbesondere davon abhalten, fehlerhafte zeitgenössische Übertragungen christlicher wie jüdischer Provenienz heranzuziehen. In diesem Sinne zielte die 1783 erschienene vollständige Veröffentlichung einer deutschen Pentateuchübersetzung auf die Vermittlung eines möglichst textnahen Verständnisses der schriftlichen Überlieferung ab und stand somit im Kontext der jüdischen Tradition. Die zweite Absicht, die der Mendelssohn-Kreis verfolgte, bestand darin, mit Hilfe der hochdeutschen Tora-Übersetzung und des Kommentars zur Verbreitung der Aufklärung (und zur Zurückdrängung der als unästhetisch und unsittlich geltenden jiddischen Sprache) beizutragen. Die in hebräischen Lettern gedruckte Übertragung sollte auch als erster Einstieg in die deutsche Sprache und, wie Mendelssohn es selbst formulierte, als „erste[r] Schritt zur Cultur, von welcher meine Nation leider! in einer solchen Entfernung gehalten wird“,3 dienen. Damit war die Pentateuchübersetzung als Brücke zur nichtjüdischen Kultur gedacht, was schließlich nicht nur die Bekanntschaft mit ihrer Sprache, sondern auch mit ihren mannigfachen kulturellen Werten zur Folge haben sollte.4 Für die meisten traditionsorientierten Rabbiner der Zeit bestand gerade in dieser Absicht der Hauptkritikpunkt an dem Unternehmen, nahmen sie doch den zu erwartenden Einbruch der nichtjüdischen Kultur in die jüdische Umwelt als eine Bedrohung des Tora-Studiums und in letzter Konsequenz als zunehmende Abwendung vom überlieferten Glauben wahr.5 Dass diese Haltung keineswegs so unbegründet war, wie es vielen der zeitgenössischen jüdischen Aufklärer erschienen sein mag, sollte sich später zeigen. Zur Verteidigung Mendelssohns sei jedoch auf die eingangs zitierte Passage aus der orthodox-jüdischen Zeitschrift verwiesen, wonach dem Philosophen die „Tragweite“ der von ihm (und seinen Schülern) aufgeworfenen

3 Brief Mendelssohns an August von Hennings, 29. 6. 1779. Zitiert nach Eliav, Erziehung, 39. 4 Vgl. hierzu auch Dubnows folgende Feststellung: „Die fortschreitende Assimilation kam unter anderem in dem Verzicht der deutschen […] Juden auf ihre Volkssprache zum Ausdruck, für den nicht zuletzt die Propaganda der Mendelssohnschen Schule und insbesondere die deutsche Bibelübersetzung vorgearbeitet hatte;“ Dubnow, Weltgeschichte, Bd. 8, 76. 5 Hinzu kam noch der Vorwurf, dass es einer Entweihung der Heiligen Schrift gleichkäme, sie als „Deutsch-Lehrbuch“ zu missbrauchen.

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Die Reform des Bildungswesens im deutschen Judentum

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Frage des jüdischen Bildungsideals nicht bewusst war oder bewusst sein konnte. Vier Jahre nach der ersten Probe einer deutschsprachigen Pentateuchübersetzung veröffentlichte der an diesem Unternehmen beteiligte Wessely, ein enger Freund Mendelssohns, sein Sendschreiben Divrei Schalom ve-Emet und löste damit einen wahren Proteststurm bei den Rabbinern aus. In seiner Schrift, deren Grundzüge Wessely schon sieben Jahre zuvor in seinem Jen Levanon (Wein des Libanon), einer Auslegung der Sprüche der Väter, dargelegt hatte, unterschied der Maskil ausdrücklich zwischen Torat Ha-Schem, der Lehre von Gott, und Torat Ha-Adam, der Lehre vom Menschen. Während Erstere die den Juden geoffenbarte religiöse Lehre umfasst, bezeichnet die Letztere die Gesamtheit des dem Menschen zugänglichen natürlichen und empirischen Wissens, also jede Art von Profanbildung, wie Mathematik, Philosophie, Moral- und Sittengesetze, Geographie, Geschichte, Recht, Architektur usw. Das Revolutionäre lag nicht so sehr darin, dass Wessely eine Dichotomie von religiöser Lehre und Profanbildung vorlegte und somit den säkularen Kenntnissen erhebliche Geltung zuwies, sondern darin, dass er gleichsam weltliches Wissen über religiöse Gelehrsamkeit stellte. In seinen Augen sollte sich ein Mensch vor dem Torastudium zunächst allgemeine Kenntnisse aneignen, damit er die Tora überhaupt verstehen könne und außerdem nicht zu einem „unnützen“ und „schädlichen“ Mitglied der Gesellschaft werde. Nach seiner Meinung konnte der Mensch auch ohne Torat HaSchem nur aufgrund seiner Vernunft, indem er also die Torat Ha-Adam gelten ließ, ein sittliches und nützliches Leben führen, was eine unverhohlene Hierarchisierung der beiden Lehren bedeutete. In diesem Sinne war es nur konsequent, wenn Wessely in seiner Vorstellung von der Erziehung jüdischer Knaben das Talmudstudium der profanen Allgemeinbildung nach- oder unterordnete und für die meisten Knaben, die für die Unterweisung in der mündlichen Lehre nicht begabt waren, keinen derartigen Unterricht mehr vorsah. Stattdessen sollte man diese Knaben besser entsprechend ihren Neigungen zu nützlichen Bürgern erziehen, das heißt, ihnen also die nötigen säkularen Kenntnisse vermitteln. Auf Grund dieser Feststellungen rief Wessely zur Eröffnung von Schulen und zu einer grundlegenden Reform des jüdischen Bildungswesens auf. So sollten methodische Lehrbücher für die religiöse Unterweisung sowie für die Moral- und Sittenlehre herausgegeben werden, die in einem leicht verständlichen, reinen Hebräisch verfasst, bald aber ins Deutsche, in die Landessprache, übersetzt werden sollten. Damit würden die Schüler beide Sprachen gleichzeitig erlernen, und der Gebrauch des viel gescholtenen Jargons, des Jiddischen, würde zurückgedrängt werden. Immer wieder betonte Wessely den Vorteil hochdeutscher Sprachkenntnisse, die es in den Schulen zu erwerben gelte. Sie könnten zum besseren Verständnis der Bibel beitragen, wären eine der Grundvoraussetzungen für den Erwerb von Allgemeinbildung, ermöglichten den Austausch mit deutschen Aufklärern und wären nicht zu-

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letzt notwendige Vorbedingung für die Bestreitung des Lebensunterhaltes und die Erleichterung des Geschäftsverkehrs. Demnach war es nicht verwunderlich, dass er die Mendelssohn’sche Pentateuchübersetzung und den Bi’ur, an dem er selbst mitgearbeitet hatte, für das Tora-Studium empfahl. Das zentrale Problem lautete aber, woher man die Lehrer nehmen sollte, die sich durch ihre Religiosität auszeichneten und sowohl das Hebräische als auch das Deutsche beherrschten, um ihre Zöglinge von Anfang an dazu anhalten zu können, beide Sprachen perfekt zu lernen. Aus Polen konnten sie jedenfalls nicht stammen, hatte doch Wessely gerade die von dort kommenden ungebildeten Lehrer, deren Deutsch nach seiner Meinung nur ein Kauderwelsch war, für den schlechten Zustand der jüdischen Erziehung im aschkenasischen Judentum verantwortlich gemacht.6 Damit offenbarte sich – möglicherweise zum ersten Mal – implizit die Wahrnehmung eines kulturellen Gefälles zwischen den modernen, gebildeten und deutschsprechenden Lehrern im deutschen und den traditionellen, ungebildeten und jiddischsprechenden Lehrern im polnischen Judentum. Zu diesem Zeitpunkt handelte es sich freilich noch um eine Utopie, denn die Reform des jüdischen Bildungswesens stand im deutschen Judentum selbst noch am Anfang. Vor allem weil sie befürchteten, dass eine (zumindest zeitliche) Bevorzugung der profanen Gegenstände in den jüdischen Schulen zu einer massiven Zurückdrängung des Tora-Studiums und der religiösen Unterweisung führen werde, erhoben die Rabbiner, darunter so bekannte Autoritäten wie der Prager Jechezkel Landau (1713 – 1793), heftigen Protest gegen Wesselys Ausführungen, der jedoch die bereits in Gang gesetzte Entwicklung nicht mehr aufhalten konnte.7 Noch kurz vor Erscheinen der Divrei Schalom ve-Emet waren die ersten modernen Lehranstalten des deutschen Judentums gegründet worden, in denen versucht wurde, die von Wessely formulierten Prinzipien umzusetzen. Innerhalb weniger Jahrzehnte sollte sich, wenn auch nicht überall im gleichen Maße, ein deutlicher Wandel des deutsch-jüdischen Bildungsideals abzeichnen. Beruhte die traditionelle jüdische Erziehung vorher fast ausschließlich auf der religiösen Unterweisung, so erhielt nun die von Wessely verfochtene Torat Ha-Adam einen festen Platz im Bildungskanon und nahm mit der Zeit, wie die Rabbiner befürchtet hatten, auf Kosten des Studiums der religiösen Quellen immer mehr Raum in Anspruch. Aber auch die Torat Ha-Schem selbst hatte nur noch wenig mit der traditionellen Art und Weise der religiösen Erziehung zu tun. Nachdem bereits Mendelssohn und Wessely in dieser Hinsicht das Fundament gelegt hatten, entstand seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Sinne der Akkulturationsbe6 Zu Vorangegangenem vgl. Eliav, Erziehung, 50 – 53; Schulte, Aufklärung, 85 – 88. 7 Vgl. hierzu auch folgendes aussagekräftige Zitat von Breuer : „Mendelssohns Biur und Wesselys Sendschreiben hatten gemeinsam, daß sie die Umbildung der bisherigen Lehrmethoden und Lehrgegenstände in den jüdischen Kinderschulen bezweckten. Nichts konnte in der traditionellen Gesellschaft umstürzlerischer erscheinen als gerade dies.“ Breuer, Bild, 133.

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mühungen und in Anlehnung an das christliche Vorbild im deutschen Judentum ein neues Unterrichtsfach: der systematische jüdische Religionsunterricht.8 Dies war etwas völlig Neuartiges, bestand doch der Unterricht im traditionellen Cheder der Voremanzipationszeit zunächst vor allem aus der Übersetzung der Tora in die gesprochene Sprache, auf einer höheren Ebene schließlich aus Raschis Kommentar zur Tora.9 Ein gesonderter Religionsunterricht, der der jüdischen männlichen Jugend die Grundlagen ihres Glaubens näherbrachte, war in früheren Zeiten schlicht und einfach überflüssig, da das jüdische Leben in seiner Gesamtheit von der religiösen Praxis bestimmt war und somit das Wissen über die eigene Religion von frühester Kindheit an „automatisch“ aufgenommen wurde.10 Mit der Auflösung der Gemeindestrukturen, der Annäherung der Juden an ihre christliche Umwelt und der Einschränkung der religiösen Sphäre änderte sich dieser Umstand. Zwar wünschten noch viele Eltern, dass ihre Kinder grundlegende Kenntnisse in der Religion erhielten, doch dies sollte ihnen nicht mehr in den als „Winkelschulen“ verpönten traditionellen Chadarim vermittelt werden, sondern in modernen Unterrichtsanstalten, an denen, wie erwähnt, insbesondere auch die Aneignung von weltlichem Wissen im Vordergrund stand. Der aus diesem Bedürfnis hervorgegangene jüdische Religionsunterricht hatte zweifellos sein Vorbild im Christentum, wobei dies so weit ging, dass zunächst sogar die Art der religiösen Unterweisung mit Hilfe von Katechismen übernommen wurde. Neben dieser durch eine festgefügte Frage-und-Antwort-Technik geprägten Vermittlung religiöser Inhalte wurde die Bibel, die von den Aufklärern und Reformern als Quelle des wahren Judentums angesehen wurde, nunmehr weitgehend in der deutschen Übersetzung Moses Mendelssohns und anhand seines Kommentars, des Bi’ur, gelehrt. Besonderes Gewicht wurde auch auf die biblische und nachbiblische jüdische Geschichte gelegt. Zwar wurde der Unterricht des Hebräischen nicht aufgegeben, aber doch mit der Zeit deutlich eingeschränkt und vor allem auch unter philologischen, grammatisch fundierten Gesichtspunkten erteilt. Wie sehr das Wesen des neuartigen jüdischen Religionsunterrichts den Willen der deutschen Juden zur Annäherung an ihre christlich-bürgerliche Umwelt zum Ausdruck brachte, zeigt neben den bereits angeführten Punkten auch der Umstand, dass die Sitten- und Morallehre von zentraler Bedeutung war,11 um die Gemeinsamkeiten der Religionen zu betonen und die Juden auf ihre Pflichten als gute und nützliche Untertanen des Herrschers vorzubereiten. Demgegenüber war das Talmudstudium grundlegend zurückgedrängt worden, so wie es Wesselys seinerzeit in seinem Sendschreiben gefordert hatte. Sichtbarstes Zeichen hierfür war die Tatsache, dass 8 Zum Religionsunterricht als neues Lehrfach vgl. auch Eliav, Erziehung, 308 – 315. 9 Vgl. hierzu Petuchowski, Manuals, 48. 10 Vgl. z. B.: Dienemann, Der Rabbiner. Die Stellung der Geistlichen in der Gemeinde, in: Der Morgen 2 (1933), 93. 11 Vgl. z. B.: Lässig, Wege, 136.

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neben staatlichen Repressionsmaßnahmen vor allem auch „religionsreformerische Agitation und gemeindliches Desinteresse“ bis etwa 1835 zur Schließung aller traditionellen Talmudausbildungsstätten führten.12 Außer der Einführung säkularer Gegenstände in den allgemeinen Bildungskanon des deutschen Judentums und des völlig neuartigen Religionsunterrichts gab es noch weitere wichtige Elemente bei der grundlegenden Reform des jüdischen Erziehungswesens. Hierzu gehörte auch, dass die Maskilim ihr Augenmerk mehr auf die bislang stark vernachlässigte Bildung des weiblichen Geschlechts richteten. Bereits Wessely, Friedländer und andere Anhänger der Haskala hatten auf die Notwendigkeit der Mädchenerziehung hingewiesen und die Forderung aufgestellt, eigens auf deren Bedürfnisse zugeschnittene Anstalten zu eröffnen. In erster Linie sollten diese Einrichtungen auf einen Beruf oder die Verrichtung nützlicher häuslicher Tätigkeiten vorbereiten, den jüdischen Töchtern aber auch Elementarkenntnisse der säkularen und religiösen Gegenstände vermitteln. Ein weiterer wichtiger Faktor der deutsch-jüdischen Bildungsreform bestand in der Professionalisierung des Lehrberufs. Während in der traditionellen jüdischen Erziehung keine formale Lehrerausbildung verlangt wurde und sich daher nicht wenige der Melamdim, der Chederlehrer, aus beruflicher Verlegenheit der Lehrtätigkeit zuwandten, ohne dafür besondere Qualifikationen zu besitzen,13 wollten die jüdischen Erziehungsreformer durch die Einrichtung von besonderen Lehrerbildungsstätten die künftigen Pädagogen auf ihre Aufgabe vorbereiten. So entstanden im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrere jüdische Lehrerseminare in deutschen Staaten, die allerdings mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Zum einen erfuhren sie sowohl von staatlicher als auch von traditionsorientierter jüdischer Seite mangelnde Unterstützung oder Widerstand, zum anderen reichten oftmals die finanziellen Mittel zur Unterhaltung der Anstalten nicht aus. Reformorientierte Juden wandten sich schließlich zunehmend der Simultanerziehung zu, also der gemeinsamen Ausbildung von christlichen und jüdischen Lehrern an staatlichen Seminaren. Verständlicherweise konnten jüdische Lehrer, die an solchen Anstalten ausgebildet worden waren, den Ansprüchen des orthodoxen deutschen Judentums nicht genügen, so dass die Initiative zur Gründung von jüdischen Lehrerbildungsstätten auf die traditionsorientierten 12 Brämer/Wilke, Ausbildung, 73. 13 Wie sehr der Beruf des Chederlehrers, des Melamed, eine Verlegenheitslösung war, die somit auch eine äußerst negative Rückwirkung auf das Prestige dieser Berufsgruppe hatte, hat der bekannte, aus dem Russländischen Reich stammende Zionist Shmarya Levin in seinen Erinnerungen deutlich gemacht. Levin, Kindheit, 55. Vgl. auch das Memorandum des Mitauer Rabbiners Pucher vom Juli 1864. Ajalooarhiiv, EAA 384, 1, 925, 368b. Selbst in den traditionsorientierteren Kreisen wurde der Melamed um die Wende zum 20. Jahrhundert zum Synonym für einen Batlan, einen Müßiggänger beziehungsweise Nichtsnutz, über den man sich lustig zu machen pflegte (z. B.: „Wenn alles schief läuft, dann kannst Du Dich umbringen oder Melamed werden, wobei das Erstere vorzuziehen ist.“). Vgl. hierzu Zipperstein, Imagining, 43.

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Juden überging. Herausragendstes Beispiel hierfür ist das 1864 von Rabbiner Seligmann Bär Bamberger (1807 – 1878) gegründete Seminar in Würzburg, das in den folgenden Jahrzehnten einen wesentlichen Beitrag zur qualifizierten Ausbildung von jüdischen Elementarschul- und Religionslehrern leisten sollte.14 Damit deutet sich schon an, dass die grundlegende Reform des Bildungswesens im deutschen Judentum nicht nur die reformorientierten, sondern eben auch die (neo-)orthodoxen Juden erfasst hatte. Bereits in der Aufklärungszeit waren die ersten modernen orthodoxen Schulen entstanden, die neben den jüdischen auch elementare weltliche Kenntnisse vermittelten. Aber erst mit dem Amtsantritt von Samson Raphael Hirsch als Rabbiner der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main (IRG) 1851 zeichnete sich ein fundamentaler Wandel des jüdisch-orthodoxen Bildungswesens in Deutschland ab. Mit der im Jahre 1853 erfolgten Gründung einer orthodoxen Unterrichtsanstalt hatte Hirsch das Ziel vor Augen, sein Ideal von Tora im derech erets, also „die innige Vermählung des religiösen Wissens und religiösen Lebens mit echter wahrhaft sozialer Bildung“,15 in die Praxis umzusetzen. Ganz in diesem Sinne begründete Hirsch die Eröffnung einer Schule auf orthodoxer Grundlage mit der bei der Jugend vorherrschenden Unwissenheit über die biblischen und rabbinischen Schriften, aber auch mit dem bei den Orthodoxen allgemein festzustellenden Mangel an „universaler sozialer Bildung“.16 Daher wurden an seiner Lehranstalt sowohl jüdische als auch profane Gegenstände gelehrt, wobei es für Hirsch besonders wichtig war, dass nicht nur jüdische Knaben, sondern auch jüdische Mädchen diesen umfassenden Unterricht erhielten. Zwar betonte Hirsch immer wieder den absoluten Vorrang des Torastudiums und bezeichnete die profanen Fächer nur als Hilfswissenschaften für die systematische Beschäftigung mit der Tora.17 Die Aufteilung der Wochenstunden an seiner Schule offenbarte jedoch insoweit von Beginn an ein deutliches Missverhältnis. Während dreißig Stunden in der Woche den profanen Fächern gewidmet waren, blieben den jüdischen Gegenständen nur zwanzig Stunden vorbehalten. Gemäß der zunehmend vertretenen Ansicht, dass ein derart großes Wochenpensum die Schüler überfordere, wurde die Zahl der Wochenstunden, die für die jüdischen Fächer bestimmt waren, zunächst auf fünfzehn, dann auf zehn und schließlich sogar auf sechs Stunden verringert.18 Dies hatte zur Folge, dass der Talmud ausschließlich in den hö14 Zur Professionalisierung der jüdischen Lehrerbildung in Deutschland vgl. Kaufmann, Professionalisierung, 129 – 154; Eliav, Erziehung, 372 – 392; Breuer, Orthodoxie, 133 – 137. 15 Hirsch, Gesammelte Schriften, Band 1, 262. Zitiert nach Kurzweil, Samson-Raphael-HirschSchule, 75. 16 Vgl. Kurzweil, Samson-Raphael-Hirsch-Schule, 75. 17 Vgl. Kurzweil, Samson-Raphael-Hirsch-Schule, 75; Breuer, Orthodoxie, 106 – 107. 18 Die starke Reduzierung derjenigen Wochenstunden, die den jüdischen Unterrichtsfächern gewidmet waren, lässt sich wohl vor allem damit erklären, dass die Schule danach strebte, staatlich

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heren Klassen unterrichtet wurde, und zwar nur in Schülergruppen, die sich die Befähigung dazu angeeignet hatten. Demnach hatte auch Hirsch, wenngleich unbewusst und ungewollt, die seinerzeit von Wessely erhobene Forderung nach Einschränkung des Talmud-Unterrichts umgesetzt. Und auch bei der Haltung gegenüber den „polnischen Lehrern“ zeigte sich eine Übereinstimmung zwischen Hirsch und Wessely, mokierte sich doch der orthodoxe Rabbiner immer wieder über die Melamdim Osteuropas, die seiner Meinung nach die Schüler quälenden Methoden des Tora-Studiums aussetzten.19 Auch wenn Hirschs Modernisierung der deutschen Orthodoxie zunächst auf erhebliche Kritik stieß, so zeigte sich doch bei seiner Schulgründung sehr schnell, dass er einem bei den Orthodoxen in Deutschland offenbar weit verbreiteten Bedürfnis Rechnung getragen hatte. Innerhalb kürzester Zeit avancierte die Hirsch’sche Schule in Frankfurt zu einem Vorbild oder Prototyp20 für weitere moderne orthodoxe jüdische Schulen. Für den überwiegenden Teil der orthodoxen deutschen Juden wurde das Ideal der Tora im derech erets zur Richtschnur ihrer Lebensgestaltung. Letztlich waren sich reformorientierte und orthodoxe deutsche Juden darin einig, dass das grundlegend umgestaltete jüdische Erziehungswesen des deutschen Judentums dem traditionellen jüdischen Bildungssystem in Osteuropa nicht nur überlegen war, sondern auch ein nachahmenswertes Vorbild darstellte.

2. „Judenschulen im Sinne Mendelssohns“? Erste Reformversuche des jüdischen Bildungswesens in Osteuropa 2.1 „Durch Vermittlung des gelehrten Moses Mendelssohn“: Jakob Hirschs Reformvorschlag Bereits 1783 erfolgte der erste Versuch eines deutschen Juden, in einem Gebiet des Zarenreichs das jüdische Bildungswesen zu reformieren. Jakob Hirsch, der 1776 aus Breslau nach Weißrussland gekommen war, hatte sich mit dem Vorschlag an die Behörden des Gouvernements Mogilev gewandt, alle Chadarim des Gouvernements unter die Aufsicht der im September 1782 eranerkannt zu werden, was nur möglich war durch die Angleichung des Curriculums an die preußischen Realschulen. Im Jahre 1867 wurde die Schule vom preußischen königlichen Unterrichtsministerium als Realschule Zweiter Ordnung anerkannt, im Jahre 1878 wurde schließlich die Bezeichnung „Zweite Ordnung“ gestrichen und die Schule in eine Realschule mit Lyzeum umgewandelt. Vgl. Kurzweil, Samson-Raphael-Hirsch-Schule,78 – 79. 19 Vgl. Heinemann, Hirsch, 44, 47; Wertheimer, Strangers, 149. 20 Vgl. den Titel von Kurzweils Aufsatz: Die Samson-Raphael-Hirsch-Schule in Frankfurt am Main als Prototyp der neo-orthodoxen Strömung.

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richteten Kommission für die Gründung von Volksschulen zu stellen und deren Lehrplan entsprechend den Vorgaben der Kommission zu ändern. Darüber hinaus sollte in Mogilev eine jüdische Hauptschule gegründet werden, die als Vorbild für die Errichtung weiterer jüdischer Schulen in Weißrussland dienen sollte. In diesen Lehranstalten sollten hauptsächlich Moral sowie zahlreiche notwendige und nützliche Wissenschaften und Künste vermittelt werden, die nach Hirschs Ansicht für ein Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft erforderlich waren. Möglicherweise war sein Vorschlag eine unmittelbare Reaktion auf die im Vorjahr erschienene Schrift Divrei Schalom ve-Emet des Berliner Maskil Wessely, in der dieser die vor allem im osteuropäisch-jüdischen Erziehungswesen übliche Beschränkung auf religiöse Inhalte kritisiert und daher eine generelle Bildungsreform, insbesondere aber die Unterrichtung profaner Gegenstände, gefordert hatte.21 Die Bitte Hirschs an die wenige Monate zuvor errichtete Kommission für die Gründung von Volksschulen, die Erlaubnis zu seinem Vorschlag zu erteilen, weist darauf hin, dass seine Initiative im Zusammenhang mit den Bemühungen der Zarin Katharina II. um den Aufbau eines allgemeinen Bildungssystems im Russländischen Reich stand. Doch sein weiterer Hinweis, die Lehrer für die von ihm geplanten Schulen könnten zum Teil aus dem Reich selbst, zum Teil aber auch aus Deutschland durch Vermittlung des gelehrten Moses Mendelssohn eingeladen werden,22 zeigt, dass das deutsche Judentum für sein Vorhaben Referenzcharakter hatte und er sich von deutsch-jüdischen Lehrern bei der Modernisierung des jüdischen Erziehungswesens positive Impulse erhoffte. Hirschs Vorschlag war alles andere als ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass sich nur drei Jahre zuvor Katharina II. bei ihren Gesprächen mit Joseph II. in Mogilev von der 1774 durchgeführten österreichischen Schulreform begeistert gezeigt hatte. Im folgenden Jahr empfahl das Mitglied der KaiserlichRussischen Akademie der Wissenschaften Aepinius in einem Gutachten, das österreichische Schulsystem ohne jede Änderung auf das Zarenreich zu übertragen. Schließlich wurde mit dem serbischen Pädagogen Jankovic´ ein Untertan des Habsburgerreichs eingeladen, der einen Gesamtplan für das neue Schulsystem ausarbeitete, ein Plan, der 1786 in Kraft trat. Die Eingabe Hirschs war also keineswegs aussichtslos oder realitätsfern, zumal er nach seinen Angaben über eine ausreichende finanzielle Unterstützung durch örtliche jüdische Kaufleute verfügte. Wie die Behörden auf seinen Vorschlag reagierten, ist nicht bekannt. Tatsache ist jedoch, dass die als Musteranstalt konzipierte jüdische Hauptschule in Mogilev nicht zustande kam23 und der Plan des Breslauer Juden somit wirkungslos blieb.

21 Vgl. Schulte, Aufklärung, 63. 22 Vgl. Regesty i nadpisi, Bd. 3, 240 – 243; Fishman, Jews, 62; Hundert, Jews, 35; Dohrn, Eliten, 105. 23 Vgl. Pozner, Evrei, 1903, 64; Dohrn, Eliten, 105.

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2.2 Aufklärung oder Germanisierung? Die Errichtung jüdisch-deutscher Schulen in Galizien (1787 – 1806) Nur vier Jahre nach Hirschs Vorschlag, in Mogilev eine moderne jüdische Hauptschule zu errichten, wagte die Regierung des Habsburgerreichs im 1772 von Polen annektierten Galizien die Einführung des österreichischen Schulwesens im dortigen Judentum. Unter der Aufsicht und Leitung von Herz Homberg (1749 – 1841), einem aus Böhmen stammenden Maskil, der zeitweise zum Kreis Moses Mendelssohns gehört und auch an dessen Kommentar zur Pentateuchübersetzung, dem Bi’ur, mitgearbeitet hatte, entstand in den folgenden Jahren in Galizien ein Netz von jüdisch-deutschen Normal- und Hauptschulen.24 Der Aufbau dieser Schulen muss im Kontext einer allgemeinen Germanisierungspolitik Habsburgs im neuen Teil des Reiches gesehen werden. Bereits 1775 hatte man dort das österreichische Normalschulwesen mit Deutsch als Unterrichtssprache eingeführt, so dass von nun an alle Kinder, also auch die polnischen und ruthenischen, in der Sprache der neuen Herrscher unterrichtet wurden. Der jüdischen Bevölkerung kam bei der Absicht Wiens, Galizien zu germanisieren, eine besondere Funktion zu, da von ihr aufgrund der Nähe des Jiddischen zum Deutschen eine Unterstützung der Germanisierung anderer Volksgruppen erwartet wurde. In diesem Sinne war auch der Lehrplan der jüdisch-deutschen Schulen, wie Sadowski betont, „ganz auf dieses Ziel ausgerichtet. Hauptlehrgegenstand war die deutsche Sprache“.25 Das Erlernen und die Verwendung der Sprache Mendelssohns standen zu dieser Zeit durchaus im Einklang mit den Forderungen der Maskilim. Zwar hat es sich möglicherweise nicht um die Landessprache gehandelt, die in dem hier behandelten geographischen Kontext ohnehin kaum eindeutig zu bestimmen gewesen wäre, aber es war die Sprache der Aufklärung und somit schon allein dadurch legitimiert. Abgesehen von einem intensiven Deutschunterricht, der im Interesse einer Zurückdrängung des verpönten Jiddisch auch die Einübung der „reinen Aussprache“ des Deutschen umfasste, und wenigen Wochenstunden Rechnen, enthielt das Curriculum der jüdisch-deutschen Schulen Galiziens keine weiteren Lehrgegenstände. Wenn man von der kurzzeitigen Erteilung eines Moralunterrichts absieht, „der mit seinen deutlich maskilischen Anmutungen die traditionellen Juden erzürnt zu haben“26 scheint und daher schon bald wieder abgeschafft oder im Lektionskatalog verborgen wurde, so konnte in diesen Schulen kaum von einer Vermittlung des maski24 Die nachfolgenden Ausführungen stützen sich in erster Linie auf Dirk Sadowski, den besten Kenner von Hombergs Wirken in Galizien. Seine herausragende Monographie zu diesem Thema ist kürzlich erschienen. 25 Sadowski, Bildungsideal, 153; Sadowski, Haskala, 171 – 174. 26 Sadowski, Bildungsideal, 154. Vgl. auch Sadowski, Haskala, 204.

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lischen Bildungskanons gesprochen werden. Gerade der Unterricht im Hebräischen und im jüdischen Religionsgesetz war ausgeklammert und blieb weiterhin in der alleinigen Verantwortung des traditionellen jüdischen Bildungswesens.27 Nach Sadowskis Meinung lag der Verzicht auf die Einführung eines aufgeklärten Religionsunterrichts an den staatlichen jüdischen Schulen nicht an einer vermeintlichen Rücksichtnahme Hombergs auf die Haltung der traditionsorientierten Juden, sondern vielmehr daran, dass es gar nicht in seine Kompetenz fiel, eine solche Entscheidung zu treffen. Hier scheinen die primären Interessen des aufgeklärt-absolutistischen Staates und der Maskilim in verschiedene Richtungen gegangen zu sein. Während Joseph II. die Juden Galiziens in erster Linie germanisieren und als Instrument der Germanisierung einsetzen, ihren Glauben jedoch nach Möglichkeit unangetastet lassen wollte, damit nicht eine die öffentliche Ordnung bedrohende Irreligiosität um sich greife, ging es jüdischen Aufklärern wie Homberg vor allem um die Verbreitung von Aufklärung und Bildung, insbesondere also auch um eine Reform der traditionellen religiösen Unterweisung. Insofern war es nur konsequent, dass Homberg schon kurz nach Amtsantritt als Oberaufseher über die jüdisch-deutschen Schulen in Galizien den Versuch unternahm, die Chadarim in Anlehnung an maskilische Prinzipien zu reformieren. Ebenso konsequent war es aber auch, dass die Wiener Hofkanzlei zwar bestätigte, „,daß die Aufsicht des Homberg über die hebräischen oder Religionsschulen […] sich erstrecken soll‘“, jedoch einschränkend hinzufügte, „,wenn anders die jüdische Verfassung dabey keinen Anstand erreget‘“.28 Ungefähr ein halbes Jahr nach Erteilung dieser eingeschränkten Vollmacht richtete Homberg ein hebräisches Sendschreiben an die Rabbiner und Gemeindevorsteher im Königreich Galizien und Lodomerien, in dem er – ähnlich wie wenige Jahre zuvor Wessely in seiner Schrift Divrei Schalom ve-Emet – auf Nutzen und Notwendigkeit profaner Kenntnisse hinwies und gleichzeitig den Unterricht im Cheder kritisierte, wobei er es auch nicht versäumte, konkretere Vorschläge für eine Umgestaltung der traditionellen jüdischen Elementarschule zu unterbreiten.29 „Es war“, schreibt Sadowski, „die Sprache der maskilischen Bildungsprogrammatik, die aus diesem Sendschreiben sprach, die Terminologie Wesselys und der Me’asfim, einschließlich der bekannten Topoi vom Kind, ,das nicht die Heilige Schrift verstehen und auslegen kann‘, und sich schon in der ,mündlichen Tora [Talmud], die doch so tief ist‘ auskennen muß, oder des ,sechs- oder siebenjährigen Kleinkind[s]‘, dem man die Gemara [Teil des Talmud] beibringt, ,und wenn das Kind zum Knaben 27 Sadowski, Haskala, 171, 174. 28 Zitiert nach Sadowski, Bildungsideal, 156. Vgl. auch Sadowski, Haskala, 214 – 215. 29 Das Sendschreiben ist in deutscher Übersetzung zu finden in: Lohmann/Lohmann (Hg.), „Lerne Vernunft!“, 351 – 357.

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geworden und doch noch nicht richtig lesen kann: so klagen wir doch mit voller Berechtigung darüber, und sind zum Spott aller Gelehrten geworden‘.“30 Trotz dieser eindeutigen Kritik am traditionellen Unterricht im Cheder machte Homberg im Großen und Ganzen nur maßvolle Reformvorschläge. Um nicht den Widerstand der traditionsorientierten galizischen Juden zu provozieren, nahm er in das von ihm verfochtene Curriculum auch die üblichen Unterrichtsgegenstände wie Tora, Mischna, Gemara, halachische Kommentare und Musar-Literatur auf, während er auf die Erwähnung von Mendelssohns deutscher Pentateuchübersetzung oder dessen Bi’ur tunlichst verzichtete. Homberg ging es in erster Linie um eine „angemessene Organisation“ und nicht so sehr um eine „Erneuerung der Inhalte“.31 Im Vordergrund stand für ihn die Einführung einer systematischen und geordneten Unterrichtsmethode in die Chadarim, die den unterschiedlichen Alters- und Kenntnisstufen der Kinder gerecht werden sollte. Die einzelnen „Fächer“ konnten viel gründlicher und vor allem auch effektiver vermittelt werden, so dass noch ausreichend Zeit für den Besuch der jüdisch-deutschen Schulen blieb. Darüber hinaus war es Homberg ein Anliegen, die ökonomische Lage der Melamdim, der Chederlehrer, zu verbessern, damit sie sich sorgenfrei auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren konnten.32 Mögen die Reformvorschläge Hombergs auch moderat gewesen sein, so beruhte seine Forderung, wie sie praktisch umzusetzen seien, doch auf einer unverhohlenen Drohung, die zum Widerstand geradezu herausfordern musste. Zwar überließ er es den Rabbinern und Gemeindevorstehern selbst, „,die rechte Ordnung und gezielte Reihenfolge‘“33 des Unterrichts in den Chadarim auszuarbeiten, stellte aber gleichzeitig unmissverständlich klar, dass er nicht jeden ihrer Vorschläge annehmen werde, sondern sich vorbehalte, diese mit seinen Vorstellungen in Einklang zu bringen, um sie dann der Regierung zu übersenden. Ihr Beschluss werde dann Gesetzescharakter haben und somit nicht mehr zu umgehen sein.34 Weil sie meinten, dass ihre Vorschläge ohnehin kaum die Zustimmung des Maskil und Beamten finden würden, beschlossen die angesprochenen Repräsentanten des galizischen Judentums, die von Homberg im Sendschreiben erhobene Forderung zu ignorieren. Zwei Jahre später beklagte sich Homberg in einem Brief an das galizische Gubernium über den weiterhin völlig unzureichenden Hebräisch- und Religionsunterricht in den Chadarim und schlug ihm – wie seinerzeit angedroht – vor, den galizischen Kreisrabbinern den Befehl zu erteilen, binnen sechs Monaten „,einen Plan zur Abhilfe aller im Sendschreiben erwähnten Unordnungen und Mängel‘“35 einzureichen. Au30 31 32 33 34 35

Sadowski, Bildungsideal, 158. Vgl. auch Sadowski, Haskala, 222 – 223. Sadowski, Bildungsideal, 161. Vgl. auch Sadowski, Haskala, 222, 225. Vgl. Sadowski, Bildungsideal, 158 – 161. Vgl. auch Sadowski, Haskala, 223 – 224. Sadowski, Bildungsideal, 161; Sadowski, Haskala, 226. Sadowski, Haskala, 226; Ochs, Aufklärung, 72 – 73. Zitiert nach Sadowski, Bildungsideal, 163; Sadowski, Haskala, 227.

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ßerdem sollten die Rabbiner den Entwurf eines Religionslehrbuchs ausarbeiten. Doch auch dies konnte die galizischen Rabbiner kaum beeindrucken. Sie weigerten sich nicht nur, die Chadarim zu reformieren, sondern auch in zunehmendem Maße, ihre Kinder in die jüdisch-deutschen Normalschulen zu schicken. Dies begründeten sie zum einen damit, dass ihren Kindern beim Besuch dieser Lehranstalten nicht ausreichend Zeit für die religiöse Unterweisung zur Verfügung stünde, zum anderen aber auch mit der mangelnden religiösen Observanz der Lehrer der jüdisch-deutschen Schulen. Ob Letzteres tatsächlich zutraf oder nur als Vorwand diente, ist schwer zu beantworten. Laut Sadowski lassen sich aus den Quellen „nur wenige konkrete Fälle rekonstruieren, in denen die Lehrer Anlass zur Beschwerde gaben, die Mehrheit der entsprechenden Klagen beinhaltete sehr vage und häufig stereotype Anschuldigungen“, wobei sich, dies darf nicht übersehen werden, „die Klagen vor allem auf das nichttraditionskonforme Verhalten der Lehrer im außerschulischen Alltag“ bezogen.36 Wie dem auch sei, beide Argumente sollten auf jeden Fall den Eindruck erwecken, dass die Normalschulen zu einer Lockerung der religiösen Bindung, zu einer Abkehr vom Glauben beitrugen. Bereits im Mai 1785, also noch vor Hombergs Amtsantritt, war mit Einführung des josefinischen „Judensystems“ für Galizien die Verpflichtung, die jüdisch-deutschen Normalschulen zu besuchen, statuiert und das Fernbleiben von der Schule mit Strafen und Einschränkungen belegt worden. So wurden die Zöglinge in den Chadarim nur noch dann zum Talmud-Unterricht zugelassen, wenn sie nachweisen konnten, dass sie die Normalschule besucht hatten.37 Eine Nichtbeachtung dieser Vorschrift konnte seit Verkündung des galizischen Judenpatents im Mai 1789 zu dreitägigem Arrest sowohl des Vaters als auch des Talmudlehrers führen.38 Zudem mussten nach einer Verordnung vom April 1786 heiratswillige Juden vor ihrer Verheiratung das Zeugnis einer jüdisch-deutschen Schule vorweisen.39 Doch auch diese restriktiven Maßnahmen konnten den Widerstand der traditionsorientierten galizischen Juden gegen die Normalschulen nicht brechen. Man ließ sich zahlreiche Gründe einfallen, wie beispielsweise eine chronische Krankheit des Sohnes, um eine Befreiung vom Schulbesuch zu erwirken. Häufig wurden auch die Beamten, die den Besuch der Lehranstalten zu überwachen hatten, bestochen. Eine weitere Möglichkeit bestand darin, dem Lehrer das notwendige Schulzeugnis abzukaufen. Kurz gesagt, die jü36 37 38 39

Sadowski, Haskala, 257; zu diesen Vorwürfen vgl. auch Sadowski, Haskala, 242, 264, 306. Vgl. Sadowski, Haskala, 118. Vgl. Sadowski, Haskala, 331. Vgl. Sadowski, Haskala, 119. Hier liegt wohl der Ursprung für die spätere Verfügung, dass jüdische Brautpaare im Habsburgerreich nur dann getraut werden durften, wenn sie zuvor auf dem Kreisamt eine Prüfung über den Inhalt des 1812 von Herz Homberg anonym veröffentlichten Werks Bne Zion. Ein religiös-moralisches Lehrbuch für die Jugend israelitischer Nation abgelegt hatten (Dekret der K.K. Studien-Hof-Kommission vom 14. 10. 1810).

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disch-deutschen Schulen wurden auch weiterhin nur sehr spärlich besucht. Während Homberg darauf drängte, ihm und den Normalschullehrern die Bestrafung renitenter Väter zu erlauben, beließ das Gubernium das Sanktionsrecht auch in der Folgezeit in den Händen der Gemeindevorsteher, die allerdings in der Praxis weiterhin wenig Engagement zeigten, die von ihnen geforderte Bestrafung der Eltern oder Religionslehrer tatsächlich durchzuführen.40 Damit war das Schicksal dieser Schulen allerdings besiegelt. Sowohl die traditionsorientierten galizischen Juden als auch ein Teil der Normalschullehrer warfen Homberg bald Amtsanmaßung und -missbrauch wie auch Bestechlichkeit vor. Als er sich schließlich bei den Behörden anscheinend dafür aussprach, eine Steuer auf Schabbatkerzen einzuführen, und sofort das Gerücht aufkam, er selbst sei an den Einnahmen des Steuerpächters beteiligt, neigte sich sein Wirken in Galizien dem Ende zu. Einer bevorstehenden Untersuchung all dieser Vorwürfe entzog sich Homberg 1799 durch die Flucht nach Wien. Zeit seines Lebens sollte er nicht mehr nach Galizien zurückkehren.41 Die von ihm beaufsichtigten jüdisch-deutschen Schulen fristeten noch bis 1806 ihr kümmerliches Dasein und wurden dann aufgelöst oder in das allgemeine Volksschulwesen integriert. Der Grund für diesen Schritt war allerdings nicht so sehr die mangelnde Akzeptanz in der jüdischen Bevölkerung, sondern die durch Französische Revolution und Jakobinerherrschaft ausgelöste gegenaufklärerische Reaktion der Wiener Regierung. Die Furcht vor ähnlichen Entwicklungen im eigenen Reich wirkte sich nicht zuletzt auch auf das Schulwesen aus, das nun als vermeintlicher Hort von Aufklärung und Freidenkertum und damit als staatsgefährdend wahrgenommen wurde. Dies betraf ebenfalls die jüdischen deutschen Schulen in Galizien, glaubte man doch in Wien, „dass in ihnen der Geist der Aufklärung und der natürlichen Religion wirke und Aufruhr stifte, wenngleich“, wie Sadowski betont, „Homberg bereits 1799 das Land verlassen hatte und die Schulen seitdem in Agonie lagen“.42 Der große polnisch-jüdische Historiker Majer Bałaban (1877 – 1942) beschrieb in seinem 1916 erschienenen Aufsatz über Hombergs Wirken in Galizien die Gründung jüdisch-deutscher Schulen als „Kampf des Westens gegen den Osten, der Haskala gegen die Finsternis des Mittelalters“.43 Dies entsprach zweifellos dem damals gängigen Klischee jüdischer Geschichtsschreibung, die wesentlich von den Vertretern der Haskala und der Wissenschaft des Judentums geformt worden war. Letztlich geht diese Beurteilung jedoch an der Sache vorbei, denn die jüdisch-deutschen Schulen waren alles andere als 40 Sadowski, Haskala, 332 – 334. 41 Vgl. zu Vorangegangenem Sadowski, Haskala, 382 – 385. 42 Sadowski, Haskala, 377. Allerdings dürfte der unmittelbare Anlass für das Ende der jüdischen deutschen Schulen in dem Umstand liegen, dass man den gut ausgestatteten jüdischen Schulfonds für das allgemeine Volksschulwesen verwenden wollte, das chronisch unterfinanziert war. Vgl. Sadowski, Haskala, 379 – 381. 43 Balaban, Homberg, 196.

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Vermittler maskilischer Bildungsinhalte. Ihr wesentliches Ziel staatlicherseits bestand darin, den jüdischen Schülern die deutsche Sprache zu vermitteln. Mit Aufklärung oder Haskala hatten diese staatlichen Germanisierungsanstalten nur wenig zu tun. Darüber hinaus blieben Lehrinhalt und -methode in den Chadarim unangetastet, da Hombergs Versuch, diese einer ausgesprochen moderaten Reform zu unterziehen, erfolglos blieb. Zwar standen die sittlichmoralische Erziehung der jüdischen Schüler wie auch die Einführung eines aufgeklärten Religionsunterrichts ganz oben auf Hombergs Reformagenda, aber er scheiterte bei der Durchsetzung der beabsichtigten Maßnahmen in den jüdischen deutschen Schulen am lebensweltlichen Widerstand der galizischen Juden und an der Obrigkeit. Auch wenn der Deutschunterricht in diesen Anstalten aufgeklärte Moralvorstellungen zumindest en passant vermittelt haben mag, so kann von der Umsetzung eines genuin maskilischen Bildungsprogramms doch keine Rede sein. In erster Linie muss der Aufbau jüdisch-deutscher Schulen in Galizien im Kontext einer von der Regierung allgemein betriebenen Germanisierung des neuen Reichsteils betrachtet werden. Wenn sie dabei auf Maskilim zurückgriff, war damit keineswegs die primäre Absicht verbunden, Aufklärung zu verbreiten, sondern dieser Rückgriff insbesondere darauf zurückzuführen, dass die jüdischen Aufklärer über die notwendigen Kenntnisse zu verfügen schienen und sich zudem zur Mitwirkung bereit erklärten. Abgesehen von der Verbreitung der deutschen Sprache und dem Bestreben, die Juden zu nützlichen Untertanen des Reiches zu bilden, lassen sich kaum Übereinstimmungen in den Anliegen der aufgeklärt-absolutistischen Regierung auf der einen und den Maskilim auf der anderen Seite erkennen. Gerade die Toleranzpolitik Josephs II. und seine religiösen Vorstellungen schlossen unnötige Eingriffe in die innerreligiösen Angelegenheiten des Judentums, worunter auch das Erziehungswesen fiel, aus. Insofern waren die jüdisch-deutschen Schulen nicht als Konkurrenzanstalten zu den Chadarim konzipiert, wie es Bałaban suggeriert, sondern parallel zu ihnen, quasi als Ergänzung. Fatal für die weitere Entwicklung der Haskala in Galizien wirkte sich nicht nur der Umstand aus, dass sich Maskilim, allen voran Homberg, für die Germanisierungsbestrebungen der Regierung zur Verfügung gestellt hatten, sondern freilich auch ihr unkluges und zuweilen als arrogant empfundenes Auftreten. Ohne dass mit der Episode der jüdisch-deutschen Schulen ein wirklich ernsthafter Versuch zur Verbreitung der jüdischen Aufklärung verbunden gewesen wäre, waren die Haskala – und das deutsche Judentum – dennoch auf viele Jahre in großen Teilen des galizischen Judentums diskreditiert. Wie Sadowski treffend bemerkt, konnte der mit Homberg „in Verbindung gebrachte ,Export‘ der Berliner Haskala nach Galizien und ihre scheinbare Instrumentalisierung durch den österreichischen Staat in Gestalt der jüdischen deutschen Schulen […] nur als Kolonisierung erscheinen, als

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die gewaltsame Aufprägung einer dem traditionellen osteuropäischen Judentum fremden Kultur“.44

2.3 „Kann ein Jude ein guter und nützlicher Bürger werden?“ Erste Anläufe zur Reform des jüdischen Bildungswesens im Zarenreich Im selben Jahr, als Homberg das Scheitern der Germanisierungsmission in Galizien durch seine Flucht offen eingestand, verfasste der aus Berlin stammende jüdische Arzt Dr. Elias Jacob Frank, der seit vielen Jahren unter weißrussischen Juden lebte, ein Gutachten mit dem bezeichnenden Titel Kann ein Jude ein guter und nützlicher Bürger werden? In dieser Denkschrift tadelte der begeisterte Anhänger der Berliner Maskilim David Friedländer und Lazarus Ben-david (1762 – 1832) in typisch maskilischer Art die schädliche Wirkung talmudischer Erziehung, die sich vor allem daraus ergebe, dass die „jüdischen Volkslehrer“, gemeint waren die Rabbiner, häufig „Betrüger“ seien, die den „wahren Geist der jüdischen Glaubenslehre“ verfälschten. Daher schlug er vor, den angeblich negativen Einfluss des Talmuds durch Errichtung von allgemeinbildenden Schulen für jüdische Kinder zu bekämpfen, in denen vor allem Unterricht in russischer, deutscher und hebräischer Sprache erteilt werden sollte.45 Damit ging Frank in seinem Vorschlag deutlich über das Curriculum der zu dieser Zeit in Galizien noch bestehenden jüdisch-deutschen Schulen hinaus. Im Vordergrund stand für den Maskil, das macht schon der Titel seiner Denkschrift deutlich, das Utilitarismus-Prinzip des aufgeklärt-absolutistischen Staates. Insofern dürfte es kaum verwundern, dass der Senator und bekannte Dichter Gavriil Derzˇavin (1743 – 1816), der im Auftrag der Regierung die bäuerliche Armut in den Gouvernements Mogilev und Vitebsk untersuchte, die ihm unterbreitete Denkschrift Franks positiv rezipierte. In seinem noch im selben Jahr verfassten Gutachten über eine Reform des Judentums übernahm Derzˇavin, dem das zeitgenössische jüdische Leben weitgehend unbekannt war, die ihm von dem jüdischen Arzt übermittelten Informationen. So seien, schrieb er, die Rabbiner bezüglich ihrer „Talmude“ [sic!] fanatisch und stachelten die einfachen Juden zum Hass gegen Andersgläubige auf. Die Juden hielten sich fernab von der Mehrheitsgesellschaft und erzögen ihre Kinder in dieser Isolation allein in Religion und Aberglauben, brächten ihnen aber sonst nichts weiter bei, weder die Regeln des Anstands noch der Ehre.46 Daher schlug Derzˇavin eine grundlegende Reform des jüdischen Erzie44 Sadowski, Haskala, 41 45 Vgl. Frank, Il’ja, in: EE, Bd. 15, 358 – 359; Hessen, Regierung, Heft 5/6, 259; Bartal, Image, 9; Springer, Reform, 11 – 12. 46 Vgl. Fried, Derzhavin, 259.

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hungswesens vor, wobei er ausdrücklich auf das deutsch-jüdische Vorbild verwies. Nachdem er festgestellt hatte, dass man noch in keinem Land versucht habe, den Juden die Aufklärung näherzubringen und sie aus den Tiefen ihrer Unwissenheit zu befreien, führte er aus: „Erst kürzlich hat ein Jude, Mendelssohn, berühmt für seine Gelehrsamkeit in Deutschland, zum ersten Mal einen solchen Versuch unternommen. Was man so hört, war seine Arbeit sehr erfolgreich. Er legte den Aberglauben der fanatischen Ausleger seines Glaubens, d. h. der betrogenen Betrüger [eine von Frank übernommene Formulierung] bloß und unterrichtete einige seiner Glaubensbrüder in der reinen jüdischen Sprache [Hebräisch]; er übersetzte die Heilige Schrift in einfaches Deutsch und übergab die Bücher, die er übersetzte, einfachen Leuten zum Lesen. Die Bücher wurden verstanden, der Vorhang fiel und die Macht des Talmud sank. Seitdem sind in den deutschen Staaten weitere gelehrte und sozial anpassungsfähige Juden, die mit den gebildetsten Männern Europas auf einer Stufe stehen, in Erscheinung getreten. Es war einer von diesen Juden [Frank], der mir diesen Vorschlag unterbreitete; er behauptet, dass die Sitten seiner Glaubensgenossen allein durch die alten und die neuen Talmudisten, die das einfache Volk geblendet haben, um ihre Eigeninteressen zu verwirklichen, verdorben worden seien; er ist der Meinung, dass die Augen des jüdischen Volkes geöffnet und auf die reine Quelle gerichtet werden sollen, von welcher seine Achtung vor Gott herrührte. Kurz gesagt: Die Juden müssen gebildet und aufgeklärt werden; ihr Hass auf Nichtjuden muss ausgemerzt und sie müssen diesen angenähert werden.“47

Bevor auf die einzelnen Vorschläge Derzˇavins eingegangen wird, sei an dieser Stelle betont, dass der deutsche Maskil Frank offenbar einen Ideentransfer bewirkt hatte. Derzˇavin, der schon kurz darauf zum Justizminister aufsteigen sollte, hatte, wie er selbst bekannte, über Frank von der deutschen Haskala erfahren und sich deren Programmatik im Bildungswesen zu eigen gemacht. Anders als bei Jakob Hirsch 17 Jahre zuvor, dessen Plan wohl auf Provinzebene steckengeblieben war, setzte sich mit Derzˇavin nun ein hochrangiger Beamter des Zarenreichs dafür ein, eine Reform des jüdischen Erziehungswesens nach deutsch-jüdischem Vorbild durchzuführen. Nach Derzˇavins Vorschlag sollte den jüdischen Kindern nur bis zum zwölften Lebensjahr der Besuch der jüdischen Schulen, also der Chadarim und Talmud-Torot, gestattet werden, wobei ihnen nur die wahren Grundlagen des Glaubens in der „reinen jüdischen Sprache“, dem Hebräischen, beigebracht und alle „schädlichen Deutungen“ so weit wie möglich vermieden werden sollten. Derzˇavin wollte also das traditionelle jüdische Elementarschulwesen bestehen lassen, jedoch den Unterricht in diesen Schulen zumindest inhaltlich reformieren. Wie dies konkret aussehen sollte, ließ er weitgehend offen. Klar wurde nur, dass er in Anlehnung an die deutsche Haskala eine Zurückdrängung des Jiddischen zu Gunsten des Hebräischen vorschlug. 47 Zitiert nach der englischen Übersetzung in Fried, Derzhavin, 293.

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Nach ihrem zwölften Lebensjahr sollten die jüdischen Kinder schließlich reguläre Schulen besuchen, um dort in Russisch, Deutsch, Polnisch, Lesen, Schreiben, Arithmetik und anderen wichtigen Fächern unterrichtet zu werden. Auf die religiöse Unterweisung in den Chadarim und Talmud-Torot sollte also die Vermittlung säkularer Elementarkenntnisse in allgemeinen Lehranstalten folgen. Im Gegensatz zu den jüdisch-deutschen Schulen in Galizien, die zu dieser Zeit noch existierten, sah Derzˇavins Vorschlag ein deutlich erweitertes Lehrprogramm vor. Ob es aber wirklich praxistauglich war, Kindern erst ab dem zwölften Lebensjahr den Unterricht in den säkularen Fächern zu erteilen, steht dahin. Abgesehen davon, dass fraglich war, ob jüdische Eltern überhaupt bereit waren, ihre Kinder in Profanschulen zu schicken, schien eine parallele Erziehung in den religiösen und säkularen Gegenständen erfolgversprechender zu sein. Das aufgeklärte deutsche Judentum sollte nach Derzˇavins Vorstellung aber nicht nur als Vorbild für eine Umgestaltung der jüdischen Erziehung im Zarenreich dienen, sondern auch kulturelle Mittler zur Verfügung stellen. Mit Hilfe der aufgeklärtesten Juden, die aus Deutschland eingeladen werden sollten, und eines gewählten Oberrabbiners sollten unter Aufsicht eines Protektors die wichtigsten jüdisch-religiösen Werke in das Russische und andere Sprachen übersetzt und dann veröffentlicht werden, um sie dem einfachen Volk zugänglich zu machen. Diese Werke dürften, wie Derzˇavin erklärte, nichts mehr enthalten, was sich aufgrund des „schädlichen Aberglaubens“ eingeschlichen habe. Als staatliche „Gegenleistung“ stellte Derzˇavin den gebildeten Juden bestimmte finanzielle, ökonomische und rechtliche Erleichterungen in Aussicht. Insbesondere wollte er, der grundsätzlich starke antijüdische Ressentiments hatte, Juden, die sich ein hohes Maß an wissenschaftlichen Kenntnissen erworben hatten, den Zugang zu Akademien und Universitäten sowie den Erwerb akademischer Titel bis hin zum Professor erlauben.48 Derzˇavin war sich durchaus bewusst, dass sich Erfolge der Erziehungsreform vielleicht erst nach Verlauf einiger Generationen zeigen würden. Diese Erfolge aber, so machte er unmissverständlich deutlich, waren Vorbedingung für eine Anerkennung der Juden als vollwertige Untertanen des Reiches: „Und erst dann und nicht vorher, werden die verdorbenen Juden – falls sie ihre vollkommen vom Aberglauben bestimmte Art ändern – echte Untertanen des russischen Thrones werden.“49 Die vollständige rechtliche Emanzipation schien er mit dieser vagen Formulierung allerdings keineswegs gemeint zu haben, sondern allenfalls eine Besserstellung im hierarchischen Gefüge der Reichsuntertanen. Als im März 1801 der junge Alexander durch eine Palastrevolution auf den Zarenthron gelangte, wurde sofort eine Reformphase zur Modernisierung des 48 Vgl. Fried, Derzhavin, 293 – 294. 49 Fried, Derzhavin, 295.

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Reichs eingeläutet, die auch eine Behandlung der Jüdischen Frage einschloss. Schon im folgenden Jahr wurde ein Komitee für die Neuregelung der jüdischen Angelegenheiten bei der Regierung eingerichtet, dem neben Czartoryski, Potocki und Novosil’cev auch der eben erst zum Justizminister ernannte Derzˇavin angehörte. In diesem Komitee, das eine einheitliche Judengesetzgebung sowie Maßnahmen zur Veränderung der Berufs- und Sozialstruktur der jüdischen Bevölkerung ausarbeiten sollte, erhielt Derzˇavins zwei Jahre zuvor verfasste Denkschrift „das größte Gewicht“50. Am 9. Dezember 1804 trat das Polozˇenie dlja evreev (Statut für die Juden) in Kraft. Die ersten zehn Paragraphen waren der Aufklärung der Juden, insbesondere der Erziehung ihrer Kinder sowie der Verwendung des Russischen, Polnischen oder Deutschen in verschiedenen Lebensbereichen gewidmet und trugen die Handschrift Derzˇavins. Paragraph 1 gestand den jüdischen Kindern das grundsätzliche Recht zu, die Volksschulen, Gymnasien und Universitäten des Reichs zu besuchen, wobei die jüdischen Schüler nach Paragraph 2 in diesen Lehranstalten nicht ihrer „Religion abtrünnig gemacht noch genötigt werden [dürfen], das zu lernen, was ihr zuwiderlaufen und sogar nicht mit ihr übereinstimmen kann“.51 Der jüdische Glaube sollte also unangetastet bleiben. Und auch die jüdische Tradition wurde nur in einem Punkt eingeschränkt: Juden, die Gymnasien oder die Akademie der Künste (und wohl auch die Universitäten) besuchten, mussten ihre jüdische Tracht ablegen.52 Der Besuch der allgemeinen Lehranstalten durch jüdische Kinder und die Aneignung säkularer Grundkenntnisse waren allerdings keineswegs der freien Entscheidung der jüdischen Eltern überlassen. Zwar wurde keine Schulpflicht festgesetzt, jedoch enthielt der Paragraph 6 folgende unmissverständliche Drohung: „Falls trotz all dieser Anregungen Hebräer ihre Kinder nicht in die allgemeinen Volksschulen zu geben wünschen, dann sind auf ihre Kosten spezielle Schulen einzurichten, wo ihre Kinder unterwiesen werden, wenn nach Prüfung der Regierung hierfür eine notwendige Abgabe festgesetzt ist. Unter ihren Unterrichtsfächern muß unbedingt eine der Sprachen, Russisch, Polnisch oder Deutsch sein.“53

Die jüdische Bevölkerung im Ansiedlungsrayon hatte also – zumindest gemäß dem Polozˇenie von 1804 – nur die Möglichkeit, ihre Kinder in die allgemeinen Lehranstalten zu schicken oder aber selbst Schulen zu gründen und zu finanzieren, in denen dann auch säkularer Unterricht erteilt werden musste. Die Drohung verfehlte indessen ihre Wirkung. Die Mehrheit der russländischen Juden zog es weiterhin vor, ihren Kindern lediglich eine traditionelle jüdische 50 Rest, Judengesetzgebung, 146. 51 Zitiert nach Rest, Judengesetzgebung, 230. 52 Während sich diese Verfügung bei den Gymnasien und der Akademie der Künste findet, wird dies beim Universitätsbesuch nicht erwähnt, möglicherweise, weil es sich von selbst verstand, dass jüdische Studenten keine jüdische Tracht tragen durften. 53 Zitiert nach Rest, Judengesetzgebung, 230.

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Erziehung im Cheder (oder der Talmud-Tora) zukommen zu lassen.54 Damit war der erste Versuch des Zarenreichs, den Bildungskanon der jüdischen Untertanen nach deutsch-jüdischem Vorbild zu reformieren, gescheitert, da entgegen Paragraph 6 des Polozˇenie die russische Regierung in den nächsten dreieinhalb Jahrzehnten auch darauf verzichtete, die Juden zur Errichtung spezieller jüdischer Schulen mit säkularen Unterrichtsfächern zu zwingen. 2.4 „[U]nsere Jugend in gemeinnützigen Kenntnissen zu üben, und zur Gottesfurcht, Sittsamkeit und zu allen gesellschaftlichen Tugenden anzuleiten“55 Die Gründung der Israelitischen Freischule im galizischen Tarnopol Für die äußerst kleine, aber zunehmende Schar von osteuropäischen Maskilim blieb das moderne deutsch-jüdische Bildungsmodell weiterhin das herausragende Vorbild, an dem sie sich bei all ihren Reformüberlegungen orientierten. 1813 eröffnete der Maskil Joseph Perl mit der Israelitischen Freischule56 eine moderne jüdische Lehranstalt im galizischen Tarnopol, das zu dieser Zeit unter russischer Herrschaft stand. In dieser angeblich nach dem Vorbild der Berliner Freischule Chinuch Ne’arim (Erziehung der Knaben) gestalteten Einrichtung wurden sowohl religiöse als auch säkulare Gegenstände in großem Umfang unterrichtet. Der auf acht Jahre angelegte Lehrplan umfasste Unterricht in der Bibel mit der Mendelssohn’schen Übersetzung, im Talmud, in den jüdischen Zeremonien, im Hebräischen, aber auch in Religion, Ethik, Moral und im Lesen moralischer Traktate. Damit hatte die religiöse Unterweisung einen deutlich maskilischen Anstrich, indem gerade der Sittenund Morallehre ein bedeutender Raum zugewiesen wurde. Ebenso stand der Hebräisch-Unterricht im Einklang mit den Forderungen der deutsch-jüdischen Aufklärer, wurden doch nicht nur Lesen, Schreiben und Buchstabieren, sondern auch Übersetzen und Grammatik mit Hilfe des Werkes von Wilhelm Gesenius eigens gelehrt. Im klaren Widerspruch zu den Idealen der deutschjüdischen Bildungsprogrammatik stand hingegen der Unterricht im Schreiben des Jiddischen. Die Unterweisung im verpönten Jargon wäre in einer modernen deutsch-jüdischen Schule undenkbar gewesen. Neben dem religiös-sittlichen oder jüdischen Unterricht waren die profanen Fächer im Curriculum ebenfalls in starkem Maße berücksichtigt worden. So wurden Deutsch, das auch Unterrichtssprache war, Polnisch, Französisch, Arithmetik, Zeichnen, Kalligraphie, Buchhaltung, Naturgeschichte und Geo54 Vgl. Hessen, Regierung, Heft 5/6, 259. 55 Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 4, 276. 56 Ursprünglich wollte Perl die Anstalt Lehr- und Industrie-Schule nennen, um explizit auf den „Produktivierungsanspruch“ seiner Einrichtung zu verweisen. Vgl. Fridman, Perl, 173. Zunächst gab es an der Freischule auch eine „Schulfabrik“, wobei aber keine Einzelheiten bekannt sind. Fridman, Perl, 173 – 174.

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graphie unterrichtet. Darüber hinaus erhielten die Mädchen in einer eigens eingerichteten Industrie-Klasse täglich zwei Stunden Handarbeitsunterricht.57 Das Lehrprogramm an Perls Schule entsprach zweifellos dem maskilischen Bildungskanon, allerdings in moderater Form, wenn man bedenkt, dass die religiöse Unterweisung ausgiebig berücksichtigt wurde58 und vor allem auch der Talmud auf dem Lehrplan stand, wobei Perl die Schüler nicht selbst prüfte, sondern dies „einem dazu geladenen Talmudisten“59 oder dem Kreisrabbiner überließ. Damit hob sich die Tarnopoler Freischule eindeutig vom Berliner Vorbild ab, bei dem zunächst aus Rücksicht auf die traditionsorientierten Eltern keine religiöse Unterweisung eingeführt worden war und auch später in dieser Beziehung die Moral- und Sittenlehre sowie die Lehre im jüdischen Religionsgesetz im Vordergrund standen, während „kein wirkliches Talmudstudium angeboten“60 wurde. Im Gegensatz zu vielen Vertretern der Obrigkeit und auch nicht wenigen Maskilim enthielten sich Perl und seine Lehrer einer Verurteilung des vermeintlich schädlichen Einflusses des Talmud und betonten vielmehr die positiven Möglichkeiten seiner Unterrichtung, gerade was die Sittenlehre betraf.61 Prinzipiell hatte man bei der Gründung der Schule mit Bedacht großen Wert auf eine umfassende religiöse Unterweisung und auf religiöse Observanz gelegt, nicht zuletzt um die traditionellen Juden nicht vor den Kopf zu stoßen. In diesem Sinne wurde zusammen mit der Lehranstalt auch ein ihr angegliedertes Bethaus eingerichtet.62 Von welcher Bedeutung die Betonung des religiösen Elements grundsätzlich war, geht aus folgenden aufschlussreichen Worten eines Tarnopoler Juden hervor: „So wichtig ein guter Religions- und Moralunterricht, für die menschliche Gesellschaft auch ist, und so wenig bei dem gewöhnlichen jüdischen Unterrichte, darauf Rücksicht genommen wird: so schien man doch bei Errichtung mehrerer Bil57 Zum Lehrplan in Perls Schule vgl. Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 4, 271 – 276; Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 316; Gamoran, Conceptions, 170; Ochs, Aufklärung, 58 – 59; Fridman, Perl, 155; Sinkoff, Shtetl, 228 – 231. 58 Mit Ausnahme der Elementarklasse war zumindest am Anfang in allen Klassen den jüdischen Gegenständen mehr Wochenstunden als den säkularen Fächern gewidmet. Vgl. Tabelle bei Fridman, Perl, 156. 59 Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 4, 275. 60 Eliav, Erziehung, 95, FN 19. 61 Vgl. Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, Fortsetzung, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 3, 168. 62 Der mögliche Einwand, Perl habe dies nur getan, um auf diese Weise religiöse Reformen durchführen und die Zöglinge seiner Schule mit diesen bekannt machen zu können, trifft nicht zu. Wie wir aus dem 1836 verfassten Bericht wissen, war der Maskil, um eben die traditionsorientierten Juden nicht abzuschrecken, darauf angewiesen, „in Ansehung des Cultus jede wesentliche Abweichung von der hierlands üblichen Form auf das Sorgfältigste [zu] vermeiden“. Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 314.

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dungsanstalten für die jüdische Jugend, gänzlich zu vergessen, daß, erstens, keine wahre Bildung ohne gute Religionsgrundsätze möglich sei, und daß zweitens, bei diesen Glaubensgenossen, die so sehr gewohnt sind, alles, auch die geringste Handlung, mit religiöser Andacht zu begleiten, daß bei ihnen kein Unternehmen, am wenigsten eine Lehranstalt, aufkommen wird, ohne die Religion zum Grundpfeiler zu haben. Wenigstens kann man dieses von der polnisch-jüdischen Nation, unwidersprechlich behaupten. Durch diese Erfahrung belehrt, trug man bei der Stiftung der Israelitischen Freischule zu Tarnopol, die größte Sorgfalt, derselben nicht nur einen guten regelmäßigen Religionsunterricht zu Grunde zu legen, sondern auch die genaueste Aufmerksamkeit über die Ausübung aller Theile der Ceremonial-Gesetze zu erstrecken. So müssen die Kinder ihr Abend- und Morgengebet, mit Anstand und Andacht, unter den Augen der Lehrer verrichten; so werden sie zn [sic!] gewissen Zeiten im gebräuchlichen Ceremoniel unterwiesen, und immer zur Ausübung desselben angehalten. u. s. w. Dieses stellt auch die Eltern dieser Kinder so vollkommen zufrieden, daß sie von ganzem Herzen die Fortdauer dieser so nützlichen Anstalt wünschen.“63

Man hatte also aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und vor allem die angeblich größere Religiosität der polnischen und osteuropäischen Juden bei der Ausarbeitung des Lehrplans und der Ausgestaltung des Schulalltags berücksichtigt. Von welchen jüdischen Lehranstalten sich Perls Freischule in dieser Beziehung abheben wollte, hatte der galizische Maskil in seinem Memorandum an die russische Obrigkeit erkennen lassen. Er erklärte darin ausdrücklich, dass Hombergs Schulen durch eine Vernachlässigung der jüdischen Tradition großen Schaden angerichtet hätten und warf den Lehrern eine mangelnde oder verzerrte Erziehung wie auch eine oberflächliche Aufklärung vor, weshalb sie „finsterer“ (ungebildeter oder weniger aufgeklärt) seien als ihre Väter.64 Daher habe die neue Schule nach dem Bericht eines Tarnopoler Juden in Sulamith die Konsequenzen gezogen und achte nun „in dem Grade auf die Sittsamkeit der Zöglinge und ihre moralische Bildung, wie auf ihren Unterricht mit größter Sorgfalt“.65 Einerseits legte Perl großen Wert darauf, seine Lehranstalt als einen Ort von Religiosität und Observanz von den ehemaligen jüdischen deutschen Schulen in Galizien abzugrenzen. Andererseits griff er nicht nur auf einige ehemalige Lehrer dieser bei den traditionsorientierten galizischen Juden so diskreditierten Anstalten zurück,66 sondern gestaltete sogar „die Religionslehre nach Homberg und Bensew“,67 womit ein 63 Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, Fortsetzung, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 3, 167. 64 Vgl. Fridman, Perl, 137. 65 Vgl. Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, Fortsetzung, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 3, 169. 66 Vgl. Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 313; Fridman, Perl, 150. 67 Vgl. Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 316. Es ist allerdings nicht klar, ob der nach Homberg gestaltete katechetische Religionsunterricht von Anfang an bestanden

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katechetischer Unterricht anhand eines entsprechenden Lehrbuchs gemeint war. Insofern waren also gewisse Kontinuitäten nicht von der Hand zu weisen. Dass man sich – beeinflusst vom Philanthropismus – darum bemühte, in der Israelitischen Freischule in Tarnopol moderne pädagogische Ideen umzusetzen, zeigt sich nicht nur an einem systematischen und methodischen Unterricht, sondern auch in der „Rücksicht auf Fassungvermögen und die Fähigkeiten der Kinder“68 sowie im Anspruch, die Zöglinge freundlich und gut zu behandeln. Demgemäß verzichtete man auf körperliche Züchtigung als Disziplinierungsmaßnahme, wobei sich ein derartiger Umgang nicht nur positiv vom Cheder abhob, sondern auch einen wichtigen pädagogischen Effekt zu versprechen schien: „Diese Behandlung lehrt aber unsere Zöglinge auch die Würde des Menschen und was er thun soll, weit besser kennen, als jene unvernünftige rohe Behandlungsart der gewöhnlichen jüdischen Erziehung.“69 Kurz gesagt, die Israelitische Freischule in Tarnopol war eine ausgesprochen moderne jüdische Bildungsanstalt, die mit dem traditionellen jüdischen Schulwesen nur wenig gemein hatte. Zwar hatten in Anlehnung an die Berliner Freischule Chinuch Ne’arim und andere moderne deutsch-jüdische Lehranstalten die Ideen des Philanthropismus weitgehende Berücksichtigung im Lehrprogramm und der Lehrmethode gefunden, jedoch hatte Perl gleichzeitig im Unterschied zu diesen Schulen sorgfältig darauf geachtet, dem religiösen Element an seiner Schule einen herausragenden Platz einzuräumen.70 Insofern lässt sich ein Kulturtransfer, der darüber hinaus auch auf der Ebene der Lehrbücher sichtbar wurde, nicht bestreiten. Allerdings verstand es Perl, bei der Übernahme von Elementen aus dem aufgeklärten deutschen Judentum den besonderen Gegebenheiten des galizischen Judentums Rechnung zu tragen und somit den Transfer „verträglicher“ zu gestalten. Darin lag die große Leistung des galizischen Maskil, die wohl in erheblichem Maße zum Erfolg der Lehranstalt beitrug.71 Von Beginn an war die Gründung einer modernen jüdischen Schule in Tarnopol für Perl nur als erster Schritt zu einer grundlegenden Umgestaltung des jüdischen Bildungswesens in Galizien gedacht. Bereits in seinem Memorandum an die russische Obrigkeit hatte der Maskil darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, einige Schulen nach dem Tarnopoler Typ zu errichten.

68 69 70 71

hat. Hier wird Bezug genommen auf einen Bericht aus dem Jahre 1836, also 23 Jahre nach Gründung der Schule. Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, Fortsetzung, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 3, 174. Neue Schule für Israeliten, zu Tarnopol in Galizien, Fortsetzung, in: Sulamith 4 (1812), Bd. 2, Heft 3, 176. Vgl. hierzu auch Fridman, Perl, 183. Friedmans Äußerung, wonach Perls Synthese von allgemeinen und jüdischen Bildungsidealen dessen größter Verdienst gewesen sei, geht im Grunde genommen in die gleiche Richtung. Fridman, Perl, 182.

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Nachdem Tarnopol wieder unter habsburgische Herrschaft gelangt war, schlug Perl 1819 dem Kultusminister vor, sein „Schulsystem“ über ganz Galizien zu verbreiten.72 Konkret sprach er sich dafür aus, die Chadarim abzuschaffen, „geordnete und zweckmäßige Schulen“ „gemäß dem Tarnopoler Muster“ zu errichten und darüber hinaus eine „Synode“ für die Juden Galiziens zu gründen, der die Leitung aller jüdischen Schulen, die Gründung neuer Lehranstalten, die Prüfung der Lehrer für die jüdischen Fächer, die Empfehlung der Pädagogen für die allgemeinen Fächer sowie die Inspektion der Schulen obliegen sollten. Die Regierung begutachtete zwar sein Projekt, hütete sich aber, seine Vorschläge umzusetzen. Wie Friedman meint, wollte die Regierung einige Jahre nach dem Scheitern der jüdischen deutschen Schulen unter Homberg kein neues Risiko eingehen.73 Perl gab jedoch nicht auf, sondern änderte nur seine Vorgehensweise. Schon im folgenden Jahr schlug er der galizischen Landesregierung vor, in Brody eine Deutsch-Israelitische Hauptschule zu gründen, da zu erwarten sei, „dass, wenn gegenwärtig in Brody eine israelitische Hauptschule nach Art der hiesigen [Tarnopoler] eingeführt werden sollte, sich der in Vorschlag gebrachten allgemeinen Einführung deutsch-jüdischer Schulen im [sic!] Galizien weniger Schwierigkeiten entgegenstellen werden, indem Brody gleichsam das Vorbild ist, nach dem sich die übrigen galizischen Israelitischen Gemeinden in allen ihren Handlungen zu richten pflegen“.74

Tatsächlich sollte in Brody kurz darauf eine Deutsch-Israelitische Schule gegründet werden, die aber der von Perl erhofften Vorbildfunktion in keiner Weise gerecht wurde. Mehr als zweieinhalb Jahrzehnte später bemerkte der in Lemberg amtierende deutsche Rabbiner Abraham Kohn (1807 – 1848), dass an der jüdischen Hauptschule in Brody „nur die dort vorgetragene religiöse Moral und der – Unterhaltungsfond jüdisch“75 seien, sie also grundsätzlich eines dezidiert jüdischen Charakters entbehre. Dies schlug sich auch im Schulbesuch nieder, war doch die große Mehrheit der Schüler Christen. Im selben Jahr, als Perl dafür warb, die Tarnopoler Schule in Galizien zu „multiplizieren“, wurde sie von den habsburgischen Behörden in den Rang einer öffentlichen Lehranstalt erhoben, die fortan die Bezeichnung DeutschIsraelitische Hauptschule trug. Die Integration in das österreichische Normalschulensystem hatte jedoch einen Pferdefuß. Denn nun forderten die Behörden auch eine Angleichung an das Curriculum der Normalschulen, was eine Reduzierung auf vier Klassen und eine Verringerung der Wochenstundenzahl der jüdischen Fächer zu Gunsten der allgemeinen Fächer bedeutete.76 72 Fridman, Perl, 176. 73 Fridman, Perl, 177. 74 Memorandum Joseph Perls an die galizische Landesregierung, 17. 7. 1820, abgedruckt in Mahler, kamf, 209 – 210, Zitat 209. 75 …m …n (Kohn), Briefe, Zweite Folge, 74. 76 Vgl. Fridman, Perl, 172 – 173, 178.

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Um Schülern, die kein Handwerk erlernen oder keine allgemeine höhere Schule besuchen wollten, eine Fortsetzung der Ausbildung in den jüdischen und teilweise auch in den säkularen Fächern zu ermöglichen, wollte Perl 1826 noch ein zusätzliches „Institut“ gründen. Dies zeigt abermals, wie ernst der Maskil eine fundierte religiöse Erziehung nahm. Zur gleichen Zeit trat auch die Regierung an Perl mit der Anfrage heran, ob die Gründung eines deutschjüdischen Lehrerseminars an seiner Schule möglich sei. Perl bejahte dies im Prinzip, gab aber zu bedenken, dass doch die Absolventen eines solchen Seminars auch Aussicht auf Anstellung haben müssen – ein Hinweis auf den Mangel an modernen jüdischen Schulen in Galizien. Darüber hinaus bemühte sich der Tarnopoler Maskil ebenfalls seit 1826 um die Gründung eines mit seiner Schule verbundenen Rabbinerseminars, als dessen Direktor er Salomon Juda-Leib Rapoport (1790 – 1867), den Schir, einen aufgeklärten und weithin bekannten galizischen Rabbiner, vorsah.77 Damit handelte Perl durchaus in Übereinstimmung mit der Obrigkeit. Nachdem bereits im Januar 1820 das Hofpatent erlassen worden war, dem zufolge „,nach einer festzusetzenden angemessenen Zeit in Meinen Staaten kein Rabbiner mehr angestellt werde, der nicht in einer vorläufigen Prüfung vollkommen zureichende Beweise einer gründlichen Kenntniß der philosophischen Wissenschaften und der jüdischen Religionslehre abgelegt hat‘“,78 begann das galizische Gubernium in Lemberg zwei Jahre später die Frage der Errichtung eines Rabbinerseminars zu erörtern. Grund hierfür war die Überzeugung, dass die jüdischen Gemeinden keinesfalls Rabbiner akzeptieren würden, die an christlichen Lehranstalten studiert hatten, sondern allenfalls solche, die an einer „philosophisch-theologischen Lehranstalt für die Juden“ ausgebildet worden waren. 1833 wurde aber auch dieser Vorschlag vom Gubernium als realitätsfern abgetan und stattdessen empfohlen, die Rabbinerkandidaten zum Besuch der Deutsch-Israelitischen Hauptschule in Tarnopol zu verpflichten.79 Mag dies auch ein erhebliches Lob der Landesbehörde für die Qualität der Perl’schen Lehranstalt gewesen sein, so lag darin doch eine klare Absage an die weitergehenden Reformpläne des Tarnopoler Maskil. Die Anerkennung der Obrigkeit für die Leistungen der Einrichtung in Tarnopol hatte durchaus ihre Berechtigung. Trotz der nicht geringen Widerstände gerade von Seiten der Chassidim schien Perl den Beweis zu erbringen, dass eine moderne jüdische Schule bei entsprechender Organisation Zuspruch in der jüdischen Bevölkerung finden konnte. Während bei der Eröffnung gerade einmal 16 Schüler den Weg in die neue Schule gefunden hatten, sollte sich innerhalb von 23 Jahren die Zahl der Zöglinge auf etwa 220 nahezu vervierzehnfachen.80 Trotz dieser eindrucksvollen Schülerzahl und der be77 78 79 80

Vgl. Fridman, Perl, 178. Wilke, Talmud, 325. Vgl. Wilke, Talmud, 326, 332 – 333. Vgl. Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 317.

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wussten Betonung des religiösen Elements an der Lehranstalt musste indessen ein mit der Schule verbundener Jude (offenbar ein Lehrer) einräumen, dass die Schüler in erster Linie aus armen Elternhäusern stammten, während die vermögenderen Gemeindemitglieder ihre Söhne nur dann auf die Schule schickten, wenn sie für ein „höheres Studium“ vorgesehen waren. Die anderen zögen es auch weiterhin vor, ihren Söhnen eine traditionelle Ausbildung im Cheder oder beim Hauslehrer zukommen zu lassen, da ihnen der TalmudUnterricht als unzureichend erscheine und sie nicht die Aussicht ihrer Söhne auf eine Karriere als Rabbiner sowie eine prestigeträchtige Verheiratung gefährden wollten. Allerdings seien auch diese Gemeindemitglieder nicht gänzlich „blind für die Wohlthaten“81 der Schule, da sie zumindest ihren Töchtern den Besuch der Anstalt gewährten. Auf die reservierte Haltung der bemittelten Tarnopoler Juden reagierte Perl in zweifacher Hinsicht. Zum einen setzte er fest, dass ein Mädchen nur dann in die von ihm geleitete Schule aufgenommen werden durfte, wenn die Eltern auch ihre Söhne in die Lehranstalt schickten. Zum anderen beabsichtigte er um die Mitte der 1830er Jahre die Gründung einer modernen höheren Schule zur Ausbildung von „Rabbinatsaspiranten“ und angehenden Kaufleuten, denen nach einem auf sechs Jahre angelegten Lehrplan „die ganze heilige Schrift, Exegetik, Thalmud, Logik des Thalmuds, Mephorschim [Kommentare] und Poskim [biblische Verse], dann Styl, Geschichte, Geographie, Naturgeschichte, höhere Rechenkunst, Buchhaltung, polnische und französische Sprache“82 beigebracht werden sollten. Mit dieser Anstalt – gleichsam einer Mischung aus modernem Rabbinerseminar und Handelsschule –, die der Deutsch-Israelitischen Hauptschule angegliedert sein sollte, strebte Perl im Grunde genommen eine völlige Ersetzung des traditionellen jüdischen Bildungswesens an, wie er es in seinem Memorandum an den österreichischen Kultusminister schon 1819 angeregt hatte. Erneut legte er der Regierung einen Plan vor, der offenbar zunächst auf positive Resonanz stieß. Am 1. August 1836 beantragte die Hofkanzlei, „daß für Galizien ein nach den Verhältnissen modificirtes Rabbiner-Bildungsinstitut in der Art errichtet werde, wie solches bereits in gleicher Tendenz in Padua für die italienische Judenschaft seit dem Jahre 1829 besteht, und daß von der Zeit der einstigen Eröffnung zu rechnen in einer mit Bedacht auch die Forderung der philosophischen Studien zu bestimmenden peremptorischen Frist kein Rabbiner mehr bei einer Gemeinde Galiziens aufgenommen werden dürfe, der nicht an dieser Anstalt (mit einem dreijährigen Unterrichtscurse wie in Padua) gebildet worden ist“.83

Doch erst 1841, zwei Jahre nach Perls Ableben, wurde der Antrag, ein modernes Rabbinerseminar in Galizien zu gründen, abschlägig beschieden. Be81 Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 317. 82 Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 318. 83 Wolf, Versuche, 43 – 44.

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gründet wurde dies damit, dass man nicht in die jüdischen Lehranstalten eingreifen wolle. Allerdings ließ die Regierung die Rabbinerausbildung trotzdem nicht gänzlich unangetastet, denn in diesem Bescheid hieß es auch, dass in fünf Jahren nur noch Rabbiner in ihrem Amt bestätigt würden, die „,philosoph. Studien besonders Pädagogik an einer innl. Lehranstalt‘“ absolviert hatten.84 Auch wenn Perls Ziel, eine grundlegende Reform des jüdischen Bildungswesens in Galizien ins Leben zu rufen, gescheitert war, so ist doch der Einfluss unbestritten, den die von ihm gegründete moderne jüdische Lehranstalt in Tarnopol ausübte. Bis in die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein diente die Anstalt als Vorbild für die Gründung der meisten modernen jüdischen Schulen in Osteuropa85 und erfüllte somit eine gewisse kulturelle Mittlerfunktion bei der Verbreitung der von der Haskala propagierten Bildungsreform. Als kulturelle Mittler konnten dabei auch die Absolventen der Perl’schen Schule fungieren, die sich als Lehrer und Erzieher in Galizien und im Russländischen Reich verdingten.86

2.5 Die Gründung einer modernen jüdischen Schule in Odessa Bestes Beispiel für den weitreichenden Einfluss der Tarnopoler Schule ist die junge Hafenstadt Odessa, seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Ziel jüdischer Emigranten aus Galizien. Die aufstrebende Elite der galizischen Juden beantragte im Oktober 1826 beim Generalgouverneur von der Pahlen (russ. Palen) die Erlaubnis, eine moderne jüdische Schule zu gründen, an der sowohl jüdische wie auch säkulare Fächer unterrichtet werden sollten. Noch bevor Ende des Jahres die Bestätigung vom Bildungsminister aus St. Petersburg eintraf, hatte die Schule mit Zustimmung des Generalgouverneurs ihre Tore geöffnet.87 Es ist davon auszugehen, dass die Petitenten mit Perls Schule in Tarnopol vertraut waren. Zum einen stammten sie selbst aus Galizien und hatten teilweise noch persönliche und verwandtschaftliche Verbindungen dorthin. Zum anderen waren auch die ersten Lehrer der neugegründeten Lehranstalt mehrheitlich aus Galizien und hatten überdies zum Teil die Schule in Tarnopol absolviert.88 Die Perl’sche Einrichtung diente also mit Sicherheit als Vorbild bei der Errichtung der Odessaer Reformlehranstalt. Die Frage ist allerdings, inwiefern die bewusst moderate Gestaltung des Lehrprogramms an der Tarnopoler Deutsch-Israelitischen Hauptschule, die sich vor allem zu Beginn, aber 84 85 86 87 88

Wolf, Versuche, 46; Wilke, Talmud, 333. Vgl. AZJ 23, 22. 2. 1838, 91; Weissberg, Aufklärungsliteratur, Heft 6, 748; Fridman, Perl, 182. Vgl. Joseph Perl und die Schule zu Tarnopol, in: WZJT 4/2 (1839), 318. Vgl. Zipperstein, Jews, 45 – 46. Vgl. zu den Lehrern und ihrem Hintergrund Zipperstein, Jews, 46 – 47.

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auch noch später in einer besonderen Betonung des religiösen Elements äußerte, in Odessa ebenfalls Anwendung fand. Wenn man den zusammen mit dem Gesuch um Eröffnung einer jüdischen Lehranstalt eingereichten Stundenplan mit dem in Tarnopol vergleicht, so zeigt sich, dass die Schulgründer in Odessa insgesamt ein reduziertes Curriculum ausgearbeitet hatten und die säkularen Fächer deutlich überwogen. Abgesehen von einem intensiven Hebräischunterricht waren der eigentlichen Unterweisung in den religiösen Gegenständen nur wenige Wochenstunden vorbehalten. Erst in der zweiten Klasse – im Grunde war dies die dritte Klasse, da der ersten Klasse noch ein vorbereitender Anfängerkurs vorausging – begegnete den Kindern mit dem Unterricht in der Heiligen Schrift zum ersten Mal ein rein religiöser Gegenstand. In den letzten beiden Klassen waren zwei oder drei Stunden am Tag dem Religionsunterricht gewidmet, hinzu kam in der dritten Klasse noch eine Stunde Hebräisch. Demgegenüber waren in den letzten beiden Klassen sechs Stunden am Tag für die profanen Fächer vorgesehen und somit doppelt so viel wie für die jüdischen Gegenstände.89 Damit war das Lehrprogramm der Odessaer Reformschule zweifellos auf die Bedürfnisse der galizisch-jüdischen Kaufleute zugeschnitten, wobei zwar beispielsweise das Fach Buchhaltung, das in Tarnopol unterrichtet wurde, zunächst fehlte, jedoch schon bald in den Lehrplan aufgenommen wurde. Während Perl in seiner Schule dem religiösen Element im Unterricht und im Schulalltag bewusst einen herausragenden Platz eingeräumt hatte, war dies bei der Schulgründung in Odessa keineswegs der Fall. In einer noch jungen Gemeinde, in der die aus Galizien stammenden und bereits mit der Aufklärung in Berührung gekommenen Immigranten immer mehr den Ton angaben, erschien es offenbar nicht mehr unbedingt notwendig, auf die Vorbehalte der traditionsorientierten Juden Rücksicht zu nehmen, zumal man sich der Unterstützung der Obrigkeit sicher sein konnte. So hatte der Generalgouverneur einem Protest Hunderter traditionsorientierter Odessaer Juden gegen die Errichtung einer modernen jüdischen Schule mit säkularem Unterricht eine scharfe Abfuhr erteilt. Dies bedeutete aber nicht, dass die traditionsorientierten Juden, allen voran die Chassidim, nach Eröffnung der Schule ihren Widerstand aufgegeben hätten. Es wurden sogar gerade zu Beginn die Lehrer und Schüler mit Steinen beworfen. Doch blieben die Proteste letztlich ohne Wirkung. Und geradezu das Gegenteil trat ein: Als 1829 Bezalel Stern (1798 – 1853), ein Absolvent der Tarnopoler Deutsch-Israelitischen Hauptschule und langjähriger Lehrer an dieser Einrichtung, die Leitung der Odessaer Reformschule übernahm, gestaltete er die Lehranstalt um, indem er den TalmudUnterricht, der wohl schon zuvor allenfalls rudimentär im Zusammenhang mit dem Fach Religion gelehrt worden war, aus dem Curriculum strich,90 dafür

89 Zum Lehrplan vgl. Belousova (Hg.), Evrej, 80 – 81; Hofmeister, Schulbesuch, 304. 90 Vgl. Zipperstein, Jews, 47 – 48. Wolfsohn, der selbst die Schule um diese Zeit besuchte, be-

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die Lektüre der Werke Isaak Ber Levinzons (1788 – 1860), Isaak Reggios und auch Herz Hombergs in den Lehrplan aufnahm und somit den Anspruch, maskilische Lehrinhalte zu verbreiten, nochmals unterstrich.91 Die Schülerzahlen sprechen trotz des Widerstands der traditionsorientierten Juden für sich. Wurden bei der Eröffnung der Anstalt 1826 gerade einmal 63 Schüler unterrichtet, so waren es im folgenden Jahr schon 250.92 1843 erhielten schließlich in den beiden Abteilungen – 1835 war eine für Mädchen hinzugekommen – 400 Schülerinnen und Schüler Unterricht, was immerhin 21 % der gesamten jüdischen Schülerschaft in Odessa entsprach.93 Zu dieser Zeit hatten bereits 1360 Knaben und 400 Mädchen die Odessaer Reformschule abgeschlossen,94 wobei sich laut dem ehemaligen Schüler Wilhelm Wolfsohn die einstige „Parthei der Aufwiegler und Frömmler“, die die Schule anfangs bekämpft hatte, „nun selbst dürstend nach der neuen Quelle der Bildung [wandte], um daraus für ihre Kinder zu schöpfen“.95 Folgt man einer Auflistung des weiteren beruflichen Werdegangs von 185 Absolventen aus dem Jahre 1844,96 so entsteht der Eindruck, dass die Schule ihren Zöglingen vor allem Fähigkeiten vermittelte, mit denen sie sich den Lebensunterhalt verdienen oder eine weiterführende Schule besuchen konnten.97 Das Vorbild der Odessaer Reformschule fand Anklang. Bereits 1838 wusste Wolfsohn zu berichten, dass der Direktor der Odessaer Schule Stern vom Generalgouverneur den Auftrag erhalten habe, im bessarabischen Kisˇinev eine weitere moderne „israelitische Lehranstalt“ zu eröffnen, die unter seiner Leitung und der „unmittelbaren Aufsicht“ eines Hauptlehrers der Odessaer Einrichtung stehen sollte. Schon im folgenden Jahr wurde diese Anstalt gegründet, in der neben religiöser Unterweisung auch Hebräisch, Russisch und Deutsch sowie Geschichte, Geographie, Arithmetik und Kalligraphie unterrichtet wurden. Im Gegensatz zur „Mutteranstalt“ konnte aber die Einrichtung in Kisˇinev kaum Schüler gewinnen, was ein mit der Haskala sympathisierender Korrespondent 1843 zum einen damit erklärte, dass die moldauischen und wallachischen Juden jegliche Bildung und europäische Gesittung ablehnten, zum anderen damit, dass von Beginn an ein Direktor gefehlt habe, der

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hauptete hingegen 1838, dass „auch vom Talmud und von mancher andern Wissenschaft […] Vieles gelehrt“ werde. Lpn. [Wolfsohn], Schul-Anstalten, 147; zuerst in der AZJ erschienen. Häufig wird betont, Stern habe sich bei der Reform der Odessaer Schule an der Lehranstalt in Tarnopol orientiert. Dies muss allerdings eingeschränkt werden, da dies in erster Linie nur für die säkularen Fächer galt. Vgl. Zipperstein, Jews, 46. Zu den Zahlen vgl. Hofmeister, Schulbesuch, 306. Vgl. Der Orient 32, 8. 8. 1843, 254. Lpn. [Wolfsohn], Schul-Anstalten, 147. Vgl. die Äußerung Finkels bei Hofmeister, Schulbesuch, 305. Bereits 1838 hatte der ehemalige Schüler Wolfsohn darauf hingewiesen, dass „viele ihrer Zöglinge […] theils als nützliche und gebildete Bürger dem Staate und der Menschheit dienen, theils auf den vorzüglichsten Universitäten Deutschlands sich in den Wissenschaften vervollkommnen“. Lpn. [Wolfsohn], Schul-Anstalten, 147.

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sich durch strenge religiöse Observanz die Achtung der Gemeinde hätte erwerben können.98 Wenn man sich schon bewusst war, dass die moldauischen und wallachischen Juden mehrheitlich noch sehr traditionsorientiert lebten, so ist es schwer verständlich, dass der Schuldirektor durch eine geringe Achtung der jüdischen Religionsgesetze die neue Anstalt diskreditierte und ebenso wenig, dass die jüdischen Fächer völlig unzureichend Berücksichtigung fanden. Das Tarnopoler Vorbild hatte also kaum Schule gemacht. 2.6 Die Bedeutung der modernen jüdischen Schulen in Tarnopol und Odessa Laut dem aus Lemberg stammenden jüdischen Historiker Filip Fridman (1901 – 1960) war die 1813 von Perl gegründete Lehranstalt in Tarnopol „die erste jüdische Haskala-Schule in Osteuropa“99. Diese Aussage mag in ihrer Pauschalität nicht ganz richtig sein, wenn man bedenkt, dass von 1808 bis 1811 und von 1818 bis 1820 eine staatliche jüdische Reformschule in Wilna bestand, die auf Initiative des Kurators des Wilnaer Lehrbezirks Adam Czartoryski zusammen mit einem staatlichen Seminar für jüdische Lehrer errichtet worden war.100 Ebenso wie die zur selben Zeit (1808 bis ca. 1810) in Warschau gegründeten modernen jüdischen Schulen101 existierten auch die in Wilna nur kurze Zeit, während sich diejenige in Tarnopol etablieren konnte. Darüber hinaus unterschied sich Perls Schule von den anderen in einem weiteren Punkt. Zu Recht hat Fridman darauf hingewiesen, dass mit der Tarnopoler Lehranstalt zum ersten Mal in Osteuropa „eine jüdische pädagogische Institution auf Initiative von Juden selbst und nicht auf den Druck von Oben hin gegründet wurde“.102 Gerade dieser Umstand scheint einer der Gründe für die Dauerhaftigkeit der Perl’schen Schule gewesen zu sein. Die Initiative ging von einem Gemeindemitglied selbst aus, das dieses Unternehmen kaum gewagt hätte, wenn es sich nicht bereits im Vorfeld eine gewisse Unterstützung in der jüdischen Bevölkerung gesichert hätte. Staatliche Maßnahmen zur Errichtung moderner Schulen scheinen hingegen in den Augen vieler Juden nicht nur den Beigeschmack von Zwang gehabt zu haben, sondern wohl auch als Versuch gewertet worden zu sein, die Lehranstalten in erster Linie als Mittel zur Konversion einzusetzen. Wenn die moderne jüdische Schule in Tarnopol die erste erfolgreiche Anstalt ihrer Art in Osteuropa war, so fiel der Odessaer jüdischen Reformschule diese Pionierrolle im Russländischen Reich zu,103 wobei auch sie auf eine 98 99 100 101 102 103

Vgl. Kischineff, Privatmittheilung des Gemeindevorstandes, in: AZJ 30, 24. 7. 1843, 449. Fridman, Perl, 181. Vgl. hierzu Zalkin, Megamot, 133 – 171; Zalkin, Ba-alot, 196 – 198. Vgl. Gamoran, Conceptions, 168 – 170; Dohrn, Eliten, 109 – 110. Fridman, Perl, 181. 1822 hatte Hirsch Ber Horowitz aus Uman’ bei der Obrigkeit den Antrag gestellt, eine jüdische Schule „nach dem System Mendelssohns“ errichten zu dürfen. Tatsächlich bestand diese

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Initiative der Juden selbst zurückging. Der Einfluss moderner deutsch-jüdischer Lehranstalten und der dort vorherrschenden maskilischen Bildungsprogrammatik waren unverkennbar. Zu betonen ist aber, dass die Schulen in Tarnopol und Odessa ohne einen „fremden“ Mittler gegründet worden waren. Zwar stand in Odessa mit Ephraim Sittenfeld die ersten drei Jahre ein aus Schlesien stammender Jude der Schule vor, doch scheint sein Einfluss sowohl bei der Gründung als auch bei der Leitung nur von untergeordneter Bedeutung gewesen zu sein. Grundsätzlich waren mit den beiden modernen jüdischen Schulen in Tarnopol und Odessa Musteranstalten entstanden, auf die die jüdischen wie die nichtjüdischen Bildungsreformer in Osteuropa Bezug nehmen konnten.

Anstalt schon, es ging also um eine Legalisierung. Letztlich sollte die Schule schon kurz darauf am anhaltenden Widerstand der traditionsorientierten Juden scheitern. Vgl. Bernard, German, in: EE, Bd. 4, 288.

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III. Reformorientiertes deutsches Judentum und die jüdische Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert 1. Im Zarenreich 1.1 Die „Lilienthalsche Epoche“1: Zur Gründung staatlicher jüdischer Schulen im Zarenreich 1.1.1 Die Gründung einer modernen jüdischen Schule in Riga Am 13. April 1835 wurde ein neues Statut für die Juden erlassen, das auch den Bereich des jüdischen Erziehungswesens betraf, aber im Grunde genommen wenig Neues enthielt. Schon im Statut von 1804 war die jüdische Bevölkerung im Reich unmissverständlich aufgefordert worden, ihre Kinder in die staatlichen Schulen zu schicken. Trotz der Drohung, andernfalls würden auf ihre Kosten spezielle Lehranstalten errichtet, hatte die überwiegende Mehrheit der Juden diese Aufforderung ignoriert. Dennoch verzichtete man in der neuen Gesetzgebung von 1835 darauf, die Gründung von jüdischen Schulen anzuordnen. Vielmehr setzte man auch weiterhin auf Freiwilligkeit und legte nur ausdrücklich fest, dass es den Juden neben dem Besuch der allgemeinen Lehranstalten ebenfalls erlaubt sei, „zur Bildung ihrer Jugend in den Wissenschaften und Künsten und zur Erlernung der Regeln ihres Glaubensbekenntnisses“ unter staatlicher Aufsicht eigene Privat- oder Gemeindeschulen zu gründen.2 Diese Bestimmung war zweifellos von den beiden erfolgreichen Schulgründungen in Tarnopol und Odessa beeinflusst worden und zielte darauf ab, die Juden dazu anzuregen, selbst moderne jüdische Lehranstalten zu errichten, in denen säkularer und religiöser Unterricht erteilt wurde. Insofern ist Verena Dohrn darin zuzustimmen, dass diese Regelung „eindeutig auf ein Reformkonzept“ abzielte, „selbst wenn ein solches von der Regierung damals (1835) noch nirgendwo formuliert worden war“.3 Besonders begrüßt wurde das neue Statut von den Juden in Riga. Sie leiteten daraus sowohl eine schon lange erhoffte Legalisierung ihrer Gemeinde als auch die Erlaubnis ab, eine moderne jüdische Schule zu gründen, was aber, wie 1 Wengeroff, Memoiren, 129. 2 Vgl. PSZ, Bd. 2/10, 1, 1835, Nr. 8054, 322. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in AZJ 29, 18. 7. 1840, 427. 3 Dohrn, Rabbinerseminar, 382.

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das Beispiel Odessa zeigt, auch schon zuvor möglich gewesen wäre. Kurz nach Verkündung des neuen Statuts setzte das von deutschakkulturierten Juden geführte Kahalsamt eine Schulkommission ein, der die Ausarbeitung einer Schulordnung übertragen wurde. Schon allein die Zusammensetzung dieser Kommission – zwei der drei Mitglieder waren Anhänger der deutsch-jüdischen Aufklärung, die auch im Gemeindevorstand saßen – deutete die Richtung an, in die sich das Projekt entwickeln würde. Erwartungsgemäß sah der 13 Punkte umfassende Plan Unterricht in Deutsch, Hebräisch, Russisch und Religion sowie in solchen Fächern vor, die auf den Übertritt in eine weiterführende Lehranstalt oder auf eine Lehre vorbereiteten. Damit orientierte man sich zweifellos an modernen jüdischen Erziehungsanstalten in Deutschland. Wie weit aber nach dem Willen der Kommissionsmitglieder diese Orientierung gehen sollte, zeigte sich in der Bestimmung, dass der Hauptlehrer, also der Direktor der künftigen Lehranstalt, ein ausländischer, das heißt deutscher Jude zu sein habe, „,welcher im Geiste der reinen Aufklärung gebildet sein muß‘“. Die Kommission ließ damit den Anspruch erkennen, nicht so sehr das Vorbild kopieren, als vielmehr selbst eine moderne deutsch-jüdische Lehranstalt errichten zu wollen, zu der eben auch die Anstellung eines aus diesem kulturellen Kontext stammenden Juden als Direktor und Lehrer gehörte. Darüber hinaus hatte man möglicherweise schon zu diesem Zeitpunkt die Absicht, einen deutschen Prediger einzustellen und sein Amt in Personalunion mit dem des Hauptlehrers zu verbinden, was ein weiterer Grund für diese Bestimmung gewesen wäre. Auf jeden Fall wollte man sich nur mit dem „Original“ zufriedengeben. Ein ausländischer Jude, der „im Geiste der reinen Aufklärung gebildet“ sein sollte, konnte weder ein galizischer Maskil noch ein Autodidakt, sondern musste wohl ein deutscher Jude sein, der sicher auch eine Universität besucht haben sollte. Besonders deutlich wurde dies, als sich im November 1837 der Vorstand der (immer noch nicht legalisierten) jüdischen Gemeinde Rigas an den Magdeburger Rabbiner Ludwig Philippson (1811 – 1889), den Herausgeber der AZJ, wandte und ihn um Empfehlung eines ausdrücklich „deutschen“ Lehrers und Predigers bat. Dies wurde damit begründet, dass die „Muttersprache“ der Rigaer Juden Deutsch sei – eine Übertreibung, wenn man an die vielen eingewanderten rajsischen Juden denkt – und außerdem der Kandidat „mit der geistigen Bewegung der Juden in Deutschland vertraut genug“ sein müsse. Darüber hinaus sollte er „durch eine bestandene Prüfung den Beweis abgelegt […] [haben], dass er dem Fache eines Pädagogen und Predigers gewachsen“ sei und zudem über eine „gründliche[r] jüdische[r] Gelehrsamkeit und wissenschaftliche[r] Bildung“4 verfüge. Damit zeichneten die Mitglieder des Rigaer Gemeindevorstands das Bild eines modernen, aufgeklärten deutschen Rabbiners, der seine Ausbildung an einer Universität erhalten hatte und nicht nur die neue Funktion eines Predigers, sondern auch die eines Schullehrers 4 AZJ 104, 30. 11. 1837, 414.

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64 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert wahrnahm – ein Rabbinertyp, der zu dieser Zeit im deutschen Judentum gerade aufkam. Die lokale Obrigkeit in Riga, die auch weiterhin versuchte, die Legalisierung der jüdischen Gemeinde zu hintertreiben,5 legte konsequenterweise auch in Bezug auf die Gründung einer modernen jüdischen Lehranstalt die gleiche Haltung an den Tag. Wie ernst es aber dem Gemeindevorstand mit seinem Vorhaben war, zeigte sich im Frühherbst 1838, als der russische Bildungsminister Sergej Uvarov (1786 – 1855) Riga besuchte. Die Gunst der Stunde nutzend, legte man dem Minister den Plan für die Errichtung einer jüdischen Gemeindeschule dar, den der Minister an den Zaren persönlich zur Begutachtung weiterleitete. Ungefähr ein halbes Jahr später wies Nikolaus I. den Kurator des Dorpater Lehrbezirks an, die entsprechenden Behörden davon in Kenntnis zu setzen, dass in Riga – im Einklang mit den Bestimmungen des Statuts von 1835 – eine jüdische Schule eröffnet werden dürfe.6 Diese jüdische Gemeindeschule für Knaben7 sollte, wie aus einem Schreiben Uvarovs an den Innenminister hervorgeht, zwei Kursstufen umfassen: In der ersten Klasse sah der Lehrplan Unterricht im Lesen und Schreiben der hebräischen, deutschen und russischen Sprache sowie in den Grundlagen der Arithmetik und das Erlernen der notwendigen Gebete vor. In der zweiten Klasse sollten jüdische Religion nach Mendelssohns Bibelübersetzung, hebräische, deutsche und russische Grammatik, Geographie, Arithmetik und Geschichte, insbesondere die vaterländische, gelehrt werden.8 Falsch ist aber die Behauptung Vestermanis, es sei „[e]twas völlig Neues“9 gewesen, dass in der Rigaer Gemeindeschule die Heilige Schrift in der deutschen Übersetzung von Mendelssohn gelehrt wurde. Wie wir wissen, war dies bereits in der Tarnopoler und wohl auch in der Odessaer Lehranstalt der Fall. Die Finanzierung der Schule sollte durch eine besonders für diesen Zweck verordnete „Korobka“ (Steuer) von 50 Kopeken auf jedes Stück geschlachtetes Hornvieh und durch Teile der Einkünfte aus den Passgebühren fremder Juden bestritten werden.10 Nachdem die Gründung der Schule von allerhöchster Stelle bestätigt wor5 Erst im Jahre 1842 wurde die Existenz der jüdischen Gemeinde zu Riga schließlich rechtlich anerkannt, während bis zu diesem Zeitpunkt der offizielle Name „Gemeinde der Juden zu Schlock“ lautete. 6 Vgl. Hinrichsen, Anfänge, 169 – 171. 7 Allerdings ist in einem Brief der Rigaer Gemeinde an Ludwig Philippson vom Jahre 1840 davon die Rede, dass 53 Knaben sowie 23 Mädchen Lilienthals Schule besucht hätten (vgl. AZJ 16, 18. 4. 1840, 221), obwohl eine Mädchenabteilung erst 1877 eingerichtet wurde. Die 1840 angegebene Zahl von 23 Schülerinnen deckt sich mit der im gleichen Jahr abgehaltenen Konfirmation von 23 jüdischen Mädchen. Wenn also hier von 23 Schülerinnen die Rede ist, dann ist damit der von Lilienthal auf die Konfirmation vorbereitende Religionsunterricht gemeint. Ein regelmäßiger Schulbesuch war damit allerdings nicht verbunden. 8 Vgl. Beleckij, Vopros, Nr. 1, 19; Hinrichsen, Anfänge, 171. 9 Vestermanis, Juden, 27. 10 Vgl. Wunderbar, Geschichte, 13; Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 6 – 7.

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den war und auch ihre Ausgestaltung feststand, wurde Philippson vom Vorsitzenden des Kahalsamts Scheinesson gebeten, in der AZJ die Stelle eines Hauptlehrers und Predigers auszuschreiben und dann einen Kandidaten zu empfehlen. Ludwig Philippson erfüllte die Bitte des Rigaer Kahals gerne und schlug ihm schließlich den jungen Münchener Rabbinatskandidaten Dr. Max Lilienthal (1814 – 1882) als künftigen Prediger und Lehrer vor. Die einzige Quelle, die über dessen Jugendzeit existiert, ist ein von ihm selbst verfasster Lebenslauf. Demnach wurde er zunächst in seinem Elternhaus von Privatlehrern unterrichtet und besuchte erst im Alter von 13 Jahren, als er in das neue Gymnasium in München eintrat, zum ersten Mal eine öffentliche Schule. Nach Abschluss des Gymnasiums immatrikulierte er sich 1834 an der Münchener Universität, um dort Philosophie zu studieren. Dieses Studium absolvierte er im Wintersemester 1836/37 als einer der sieben Besten seines Jahrgangs, was ihm sogar eine Empfehlung beim bayerischen Innenminister eintrug.11 Nach seinen eigenen Angaben hatte Lilienthal also eine den Idealen der Aufklärung entsprechende weltliche Ausbildung genossen, die er noch ergänzte, indem er die berühmte Jeschiva von Wolf Hamburg in Fürth besuchte.12 Denn er habe sich, so schrieb er in seinem Lebenslauf, schon in frühester Kindheit zu einer geistlichen Tätigkeit besonders berufen gefühlt, was dazu geführt habe, dass er von seinen Eltern für den Beruf des Rabbiners bestimmt worden sei.13 Die Befähigung zur Ausübung des Rabbineramts erwarb er schließlich unter anderen bei dem langjährigen Münchener Rabbiner Hirsch Aub (1796 – 1875).14 Damit war jedoch Lilienthals Studienphase keineswegs beendet. Er schrieb sich nochmals an der Universität in München ein und promovierte 1838 über den Ursprung der jüdisch-alexandrinischen Religionsphilosophie. Nachdem Lilienthal seine Universitätsstudien mit der Promotion zum Doktor der Philosophie abgeschlossen hatte, eröffneten sich ihm zunächst zwei Betätigungsfelder. Zum einen arbeitete er für die von Philippson herausgegebene AZJ, zum anderen hielt er als Rabbinatskandidat auch Predigten in der Synagoge, die jedoch mit keiner festen Anstellung verbunden waren.15 So veröffentlichte er seine 1839 gehaltenen Predigten für Sabbathe und Festtage, die er dem Vorstand der Münchener israelitischen Kultusgemeinde Eduard Marx widmete. Offensichtlich war Lilienthal jedoch mit seiner da11 Vgl. Lilienthal, Notice Biographique, in: Ginsburg, Activities, 42. Nach Aussage von David Philipson wurde Lilienthal auf Grund seines exzellenten Universitätsabschlusses sogar der Eintritt in den diplomatischen Dienst angeboten. Als Lilienthal aber erfuhr, dass er hierfür zum katholischen Glauben übertreten müsse, habe er das Angebot empört abgelehnt. Vgl. Philipson, Papers, 150. 12 Vgl. Philipson, Papers, 150. 13 Vgl. Ginsburg, Activities, 42. 14 Vgl. Philipson, Papers, 150. 15 Vgl. hierzu den von ihm auf Französisch verfassten Lebenslauf in: Ginsburg, Activities, 42.

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66 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert maligen Situation wie auch mit der politischen Lage in Bayern unzufrieden, so dass er sich nach einem anderen Wirkungskreis umsah. Nachdem ihm gemäß eigenen Angaben zunächst das „Predigtamt beim Tempel in Leipzig und in Szegedin in Ungarn“ angeboten worden war, wurde ihm schließlich die Stelle des Predigers und Direktors der künftigen Schule der jüdischen Gemeinde in Riga angetragen.16 Obwohl Lilienthal das vom Rigaer Vorstand geforderte Mindestalter von 30 Jahren17 noch nicht erreicht hatte – er war zu dieser Zeit erst 23 Jahre alt –, wurde er aufgrund seiner ausgezeichneten Referenzen als Prediger und Lehrer angestellt.18 Dass er die ihm angetragene Stellung in Riga vermutlich gerne annahm, war wohl kaum auf einen kulturmissionarischen Eifer zurückzuführen, sondern – wie seine eigenen Aussagen andeuten – auf handfeste pragmatische und ökonomische Erwägungen. Wegen mangelnder Rabbinatsstellen in Deutschland blieb Lilienthal wie so vielen anderen jungen Rabbinern der Zeit kaum eine andere Möglichkeit, als eine Anstellung im Ausland zu suchen. Im Zuge dieser „Überfüllungskrise“ (Carsten Wilke) in den 1830er Jahren hatten sich einige stellenlose Rabbiner und Rabbinatskandidaten in Bayern 1835, 1837 und 1838 zu gemeinsamen Petitionen an die königliche Regierung entschlossen, damit ihrer „,hilflosesten und traurigsten Lage‘“ abgeholfen werde. Einer der Unterzeichner der dritten Petition war dabei niemand anderes als Lilienthal,19 was seine Bemerkung, ihm sei auch in Leipzig das Predigeramt angeboten worden, etwas zweifelhaft erscheinen lässt.20

1.1.2 „Millionen Juden zu einem höhern Standpunkte zu erheben“: Lilienthals Aufenthalt in St. Petersburg Noch bevor Lilienthal seine Stelle als deutschsprachiger Prediger und Direktor der künftigen jüdischen Gemeindeschule in Riga antrat, reiste er nach St. Petersburg, um sich – ausgestattet mit Empfehlungsschreiben des russischen 16 Vgl. Lilienthal, Meine Reisen in Rußland, in: AZJ 48, 27. 11. 1854, 608. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei hier angemerkt, dass Lilienthal den Ruf nach Riga der Entscheidung Ludwig Philippsons verdankte, da die Rigaer Gemeinde ihm eine unbedingte Wahlvollmacht für die Berufung eines deutschen Predigers und Schuldirektors in die Hände gelegt hatte. Zur Biographie Lilienthals vgl. auch Brocke/Carlebach (Hg.), Handbuch, Teil 1, Bd. 2, 601 – 603 (allerdings sind hier einige Angaben, wie Geburtsdatum oder auch, dass Lilienthal in Riga Rabbiner wurde, fehlerhaft). 17 Vgl. AZJ 104, 30. 11. 1837, 414; Hinrichsen, Anfänge, 172. 18 Einen Überblick über Lilienthals Wirken im Zarenreich gibt Ruben in seiner Biographie. Vgl. Ruben, Lilienthal, 21 – 57. Allerdings gründet sich Rubens Darstellung auf einer sehr eingeschränkten und selektiven Quellenbasis. 19 Vgl. Wilke, Talmud, 495 – 496. 20 Selbst wenn es ihm tatsächlich angeboten worden ist, dürften die finanziellen Konditionen so schlecht gewesen sein, dass sich Lilienthal für Riga entschied.

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Gesandtschaftsrats in München Graf Maltiz sowie des bayerischen Ministers Fürst Wallerstein21 – beim Bildungsminister Sergej Uvarov vorzustellen. Wie der Rabbiner später selbst bekannte, träumte er schon zu diesem Zeitpunkt davon, „Millionen Juden zu einem höhern Standpunkte zu erheben“ oder „sofort an das große Werk der Civilisirung der russischen Juden zu gehen“22. Wenn man diesen im Rückblick getroffenen Feststellungen folgt, dann war Lilienthal von Beginn an von kulturmissionarischem Eifer beseelt. Er fühlte sich offenbar dazu berufen, als Mittler des aufgeklärten deutschen Judentums und seiner Ideale aufzutreten, weshalb er zunächst den Bildungsminister persönlich kennenlernen musste.23 Für Lilienthal war diese Angelegenheit von so großer Bedeutung, dass er bereit war, sechs Wochen lang auf Uvarovs Rückkehr in die russische Hauptstadt zu warten. Als der Minister endlich wieder in Petersburg weilte, empfing er den Rabbiner aufgrund seiner positiven Referenzen äußerst zuvorkommend. In einer Unterredung am folgenden Tag24 teilte ihm Uvarov mit, dass vor kurzem eine Kommission eingerichtet worden sei, die es sich zur Aufgabe gemacht habe, die russischen Juden, „dieses reichbegabte Volk, zu reformiren“.25 Denn die russländischen Juden stünden „aller und jeder europäischen Civilisation entgegen. Sie bewegen sich in ihrer eigenen Sphäre, unbekümmert um alles das, was außer ihnen und um sie herum vorgeht, und bis jetzt war kein Mittel ausreichend, um sie aus ihrer Lethargie zu wecken.“26 Uvarov soll im Anschluss an seine Ausführungen Lilienthal gebeten haben, ihm seine Ansichten hinsichtlich der moralischen Verbesserung des russländischen Judentums mitzuteilen. Ganz im Geiste deutscher Maskilim sprach sich dieser gegen die Dominanz des Talmuds in der jüdischen Erziehung und im Sinne einer gesellschaftlichen Integration für die Aneignung der Landessprache und den Erwerb von säkularem Wissen aus. Nach Meinung des Rabbiners kam jedoch ein Besuch der allgemeinen Schulen für die jüdischen Kinder nicht in Frage, weil sie nicht die nötigen Russischkenntnisse hätten, um dem Unterricht folgen zu können, und weil die allgemeinen Schulen bei den Juden, die die Entfremdung ihrer Kinder von der Religion befürchteten, grundsätzlich auf tiefes Misstrauen stießen. Daher schlug Lilienthal – das Beispiel Riga vor Augen – vor, spezielle jüdische Schulen zu errichten, damit Vgl. Lilienthal, Meine Reisen in Rußland, in: AZJ 48, 27. 11. 1854, 609. Lilienthal, Meine Reisen in Rußland, in: AZJ 48, 27. 11. 1854, 609. Vgl. hierzu auch J. Gessen, Istorija, 84. Während nach Lilienthals Darstellung diese Unterredung Ende des Jahres 1839 stattgefunden haben soll, geben Scheinhaus und Meisl das entsprechende Datum mit Januar 1841 an. Vgl. Scheinhaus, Ein deutscher Pionier, in: AZJ 35, 1. 9. 1911, 415. Welche dieser beiden Angaben nun zutreffen, ist nicht zweifelsfrei nachzuvollziehen, denn sowohl Ende des Jahres 1839 wie auch im Januar 1841 fanden Gespräche zwischen Uvarov und Lilienthal statt. 25 So Uvarov in der Unterredung mit Lilienthal. Lilienthal, Meine Reisen in Rußland, in: AZJ 21, 21. 5. 1855, 274. 26 Lilienthal, Meine Reisen in Rußland, in: AZJ 21, 21. 5. 1855, 274.

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68 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert die Juden einerseits „den Religionsunterricht überwachen könnten, und andrerseits die Regierung die Gewißheit habe, daß die Kinder in den verschiedenen Zweigen unterrichtet würden, welche zu ihrer künftigen bürgerlichen und politischen Entwickelung nothwendig sind“.27 Lilienthals Ausführungen fanden nicht nur die volle Zustimmung des Ministers, sondern sollen ihn angeblich darüber hinaus sogar dazu bewogen haben, dem Rabbiner die Absicht mitzuteilen, ihn mit der Ausarbeitung eines Plans zur Errichtung höherer und niederer Schulen für die russländischen Juden zu beauftragen. Diese Angaben, die Lilienthal selbst ungefähr 15 Jahre später gemacht hat, können allerdings nicht belegt werden. Es ist durchaus möglich, dass der Rabbiner hier zwei verschiedene Unterredungen mit Uvarov – Ende 1839 und Anfang 1841 – vermischte. Aktenkundig aus dieser Zeit ist allein Lilienthals Eingabe an die Regierung vom 15. Dezember 1839, in der er nicht nur auf die Notwendigkeit der Gründung eines jüdischen Konsistoriums und eines jüdisch-theologischen Seminars hinwies, sondern auch detaillierte Pläne für diese beiden Einrichtungen vorlegte. Wenn Lilienthal zu Beginn seiner Eingabe entsprechend seinem aufgeklärten deutsch-jüdischen Selbstverständnis die „finsteren und unwissenden Sitten“ der russländischen Juden erwähnte, die nun dank der Regierung „mit dem Lichte wahrhafter Aufklärung“ erleuchtet würden,28 dann war dies nicht nur den Erwartungen des Adressaten geschuldet, sondern entsprach, wie aus seinen Privatbriefen hervorgeht, durchaus auch seiner eigenen Meinung. Im Weiteren stellte er klar, dass die Gründung der beiden von ihm vorgeschlagenen Einrichtungen unerlässlich sei. Da es den Juden des Russländischen Reichs fast gänzlich an einer „moralischen und geistlichen Erziehung“ mangele, seien „diese Mitglieder des Staatskörpers vollkommen unfähig“, nach dem Ziel zu streben, „das die Regierung in ihrer wohlwollenden Absicht festgelegt hat“. Vielmehr seien „alle ihre Handlungen auf die eigenen Interessen gerichtet, die sie manchmal zum Eigennutz und zur Verschmähung der wohltuendsten Maßnahmen und Verordnungen der Regierung hinreißen ließen. Sie leben in Gemeinden; jede Gemeinde verwaltet sich selbst; in jedem Gottesdienst geht es nach eigenem Gutdünken zu; die Kinder werden unterrichtet, wie es gerade einfällt und wohin es auch führt.“ Angesichts solcher Defizite der russländischen Juden war es nicht verwunderlich, dass Lilienthal auf die positive Entwicklung des Judentums „in allen anderen Ländern Europas“ verwies, wo „die Juden mit den angestammten Untertanen der Staaten verschmolzen und zu nützlichen Bürgern“ geworden seien. Denn, so erklärte der deutschen Rabbiner, „nichts entferne die Juden so sehr von den 27 Lilienthal, Meine Reisen in Rußland, in: AZJ 21, 21. 5. 1855, 274. 28 Eingabe Lilienthals an das Innenministerium über die Notwendigkeit der Errichtung eines jüdischen Konsistoriums und eines jüdisch-theologischen Seminars vom 15. 12. 1839. RGIA, 821, 8, 493, 1 – 1ob. Die Eingabe liegt nur in russischer Übersetzung vor, dementsprechend wird eine vom Verfasser besorgte Rückübersetzung ins Deutsche zitiert.

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Vorteilen der christlichen Mächte, wie ihre verstockte Unwissenheit, die auf groben Vorurteilen beruht; nichts nähert sie so sehr dem Christentume an, wie der Glaube, der von Spekulation gereinigt und auf allgemeinen moralischen Grundsätzen einer universellen Bildung gegründet ist“. Dies habe man „beinahe in ganz Westeuropa begriffen“, so dass dort überall „die Juden allgemeinen Formen der geistigen Erziehung und allgemeinen religiösen Regeln einer geistlichen Leitung unterworfen sind, die (= geistliche Leitung) als Vermittler zwischen den Israeliten und den Gesetzen sowie den Regierungsansichten der Staaten und der religiösen Überzeugung besteht“29. Diese Ausführungen Lilienthals sind aufschlussreich. Zum einen geht daraus hervor, welche Vorstellungen aufgeklärte deutsche Juden offenbar von ihren Glaubensgenossen im Zarenreich und in Osteuropa hatten, selbst wenn sie mit ihnen kaum persönlich in Berührung gekommen waren: osteuropäische Juden galten als ungebildet, unzivilisiert, abergläubisch, fanatisch, egoistisch und vom staatlichen Standpunkt aus unnütz. Zum anderen ist das Bild zu erkennen, das Lilienthal von den Juden in Mittel- und Westeuropa hatte: sie waren das genaue Gegenteil ihrer Glaubensgenossen im Osten. Gemäß dieser Dichotomie dienten also die Juden in den westlichen Staaten als Vorbild bei der „Regeneration“ des osteuropäischen Judentums. Eine Lehranstalt, die nach Meinung Lilienthals als ein Mittel zur „Regeneration“ des russländischen Judentums errichtet werden sollte, war ein jüdischtheologisches Seminar. Zwar gab es zu dieser Zeit keine derartige Einrichtung im deutschen Judentum, die Idee hierzu hatte Lilienthal aber zweifellos in seiner Heimat aufgegriffen. Nachdem 1836 Abraham Geiger (1810 – 1874) auf die dringende Notwendigkeit der Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät „als Zweig einer Universität“30 hingewiesen hatte, rief im folgenden Jahr Philippson in seiner AZJ zur Gründung einer solchen Anstalt als Ausbildungsort für Rabbiner und Lehrer auf. Auch wenn der Magdeburger Rabbiner dies nie explizit äußerte, so steht doch außer Frage, dass sein Wunsch, eine solche Anstalt zu errichten, nicht nur durch die seit Jahren geführte Diskussion im Habsburgerreich, sondern auch durch Padua inspiriert war, wo mit dem Collegio Rabbinico bereits 1829 das erste moderne Rabbinerseminar gegründet worden war.31 Nach Philippsons Vorstellung sollte die künftige Fakultät des deutschen Judentums „Lehrstühle der hebräischen Sprache, des Talmuds, Rabbinismus, der jüdischen Religionsgeschichte, Exegese, Homiletik u.s.f.“32 umfassen, also im Grunde genommen eine moderne jüdische 29 RGIA, 821, 8, 493, 1ob–2. 30 Geiger, Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät – ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit, in: WZJT 2/1 (1836), 18. 31 Vgl. hierzu Vielmetti, Collegio, 23 – 35. Geiger hatte hingegen die Anstalten in Padua und Metz wahrgenommen, sie aber als unzulänglich abgetan. Vgl. Abraham Geiger, Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät – ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit, in: WZJT 2/1 (1836), 18. 32 AZJ 88, 24. 10. 1837, 350.

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70 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Hochschule sein, die sich organisatorisch an der deutschen „Staats-Universität“ orientierte. Zunächst musste aber die Finanzierung dieser Einrichtung sichergestellt werden. Philippson setzte hierzu die außergewöhnlich hohe Summe von 100 000 Talern als Kapitalstock fest, aus dessen Zinseinnahmen die künftige Anstalt unterhalten werden sollte. Das Statut der jüdisch-theologischen Fakultät sollte allerdings erst nach erfolgreicher Geldsammlung durch eine Delegiertenkonferenz verabschiedet werden. Daher nahm Philippson auch davon Abstand, selbst einen Entwurf für das Reglement auszuarbeiten. Im folgenden Jahr widmeten sich nicht weniger als 32 Ausgaben der AZJ der Errichtung einer jüdisch-theologischen Fakultät, wobei nicht nur die namentliche Auflistung der zahlreichen Spendenwilligen und die Höhe ihres Beitrags, sondern auch Auseinandersetzungen über das Wesen der zu gründenden Anstalt Gegenstand der Berichterstattung waren. Insofern war die interessierte jüdische Öffentlichkeit in Deutschland mit dem Projekt, das letztlich nicht realisiert werden sollte, bestens vertraut. Als Lilienthal der russischen Regierung im Dezember 1839 einen detaillierten Plan für die Errichtung eines jüdisch-theologischen Seminars vorlegte, war dieser grundsätzlich von der im deutschen Judentum geführten Diskussion und vom Collegio Rabbinico in Padua geprägt. Der Entwurf selbst war allerdings in seinen Einzelheiten das Werk Lilienthals selbst, da Philippson, wie erwähnt, keinen Statutenentwurf vorgelegt hatte und Lilienthal der Lehrplan der Paduaer Anstalt zu diesem Zeitpunkt (1839) noch nicht bekannt war.33 Ebenso wie für Philippson war auch für den aus München stammenden Rabbiner das Ziel des zu gründenden jüdisch-theologischen Seminars die Ausbildung von „gebildeten und gelehrten Rabbinern und Lehrern“ (§ 1). Das Seminar sollte von einem ebenfalls noch zu errichtenden israelitischen Konsistorium geleitet werden. Im Gegensatz zu Philippson, der mit seinem Projekt offenbar die Einrichtung einer Art Schule für die Wissenschaft des Judentums intendierte, in der die jüdischen Gegenstände nach modernen Kriterien unterrichtet wurden, die Studierenden ihre säkulare Ausbildung jedoch an der Universität erhalten sollten, sah Lilienthals Plan eine auf vier Klassen angelegte Einrichtung zur Vermittlung von religiösem und profanem Wissen vor. Während der Vormittag den jüdischen Gegenständen gewidmet sein sollte, war der Nachmittag den säkularen Fächern oder „Wissenschaften“ vorbehalten. Der Bereich „Theologie“ umfasste Hebräisch (und wohl auch Aramäisch, da eine Unterrichtseinheit als „Übungen in jüdischen Schriften“ angegeben wurde), Übersetzung und Lehre der Bibel mit den Kommentaren (wozu sicher auch Mendelssohns Übersetzung und sein Bi’ur gehörten), Talmud mit den Kommentaren, Religions- oder Moral- und Sittenlehre sowie Bekanntmachung mit

33 Erst später sollte Lilienthal den Direktor des Collegio Rabbinico Luzzato darum bitten, ihm das Curriculum der Schule zuzusenden.

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den jüdischen „Dogmatikern“34, systematische Dogmatik, jüdische Altertümer, praktische Übungen in Rhetorik (als Vorbereitung für das Predigen) sowie den halachischen Kodex Turim (Tur). Warum Lilienthal an Stelle des Tur nicht den damals wie heute gebräuchlicheren Schulchan Aruch angab, der die Struktur vom älteren Religionskodex übernommen hatte und als eine Art Kommentar dazu zu verstehen ist, lässt sich nicht sagen. Möglicherweise zog er den Tur deshalb vor, weil er „ausführlicher“ ist. Schon die Lehrgegenstände der „Theologie“ verweisen eindeutig auf einen von den Maskilim beeinflussten Kanon: (Mendelssohn’sche) Bibelübersetzung und -kommentar, Religions-, Moral- und Sittenlehre oder auch Rhetorikübungen wären in einer Jeschiva undenkbar gewesen. In noch größerem Maße galt dies freilich für die Gegenstände in den „Wissenschaften“. Nach Lilienthals Plan sollte die Schüler Folgendes gelehrt werden: Russisch, Deutsch und die jeweilige Literaturgeschichte sowie Arithmetik, Algebra, Geometrie, Logik, Geographie Russlands, Palästinas und Europas, Geschichte Russlands und des jüdischen Volkes von den Anfängen bis in die Neuzeit, Quellen der jüdischen Geschichte, lateinische Sprache und Literatur, Grundlagen der griechischen Sprache, Rhetorik, Pädagogik und Didaktik wie auch das Abfassen von Predigten.35 Dieses Programm entsprach einer soliden, humanistisch geprägten wissenschaftlichen Erziehung, die den Studierenden zusammen mit den religiösen Gegenständen eine überaus moderne Bildung vermittelt hätte. Grundsätzlich zielte Lilienthals Vorschlag für ein jüdisch-theologisches Seminar darauf ab, nach deutsch-jüdischem Vorbild einen grundlegenden Wandel des Rabbiner- und Lehrerberufs im russländischen Judentum zu initiieren. Der Rabbiner sollte vor allem auch weltlich gebildet, mit der Wissenschaft des Judentums in Ansätzen vertraut und fähig sein, vor seiner Gemeinde zu predigen. Der neue jüdische Lehrer sollte sowohl über religiöses wie profanes Wissen verfügen und beides die jüdischen Kinder lehren können. Auf lange Sicht war das Seminar darauf angelegt, das bisherige Leben des russländischen Judentums fundamental zu verändern. Insofern

34 Dieser aus dem Christentum übernommene Begriff war im Judentum schon seit einiger Zeit ein Streitpunkt. Auch im Zusammenhang mit der Diskussion über die Errichtung einer jüdischtheologischen Fakultät in Deutschland hatte ein jüdischer Schuldirektor dazu mit folgenden Worten Stellung genommen: „Ob wir eine Dogmatik haben oder nicht, darüber ist viel geredet worden, und es kommt hier nicht darauf an, die Frage zu erörtern; daß wir einen analogen Lehrgegenstand haben, daß bestimmte Lehrbegriffe, daß die Gesetzgebung zu erörtern, wissenschaftlich zu erörtern sei, das wird mir Jeder gern zugeben. Nie ist auch eine solche Darlegung unserer Gebote der Literatur fremd geblieben, und die berühmtesten Heroen derselben haben gerade hier ihre Lorbeeren gesammelt.“ M. Isler, Bemerkungen über die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät, in: AZJ 40, 3. 4. 1838, 158. Damit wird auch deutlich, was Lilienthal mit „Dogmatikern“ gemeint hat. 35 Vgl. Eingabe Lilienthals an das Innenministerium über die Notwendigkeit der Errichtung eines jüdischen Konsistoriums und eines jüdisch-theologischen Seminars vom 15. 12. 1839. RGIA, 821, 8, 493, 8 – 10ob.

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72 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert lassen sich gerade auch an diesem Plan die kulturellen Missionierungsabsichten des deutschen Rabbiners deutlich ablesen. Waren die Vorhaben aber auch realistisch? Zunächst stellt sich die Frage, wer denn die Zöglinge des künftigen Seminars sein sollten. Ging es nach Lilienthal, so hätte vor dem Eintritt in die Anstalt eine Aufnahmeprüfung abgelegt werden müssen, bei der neben grundlegenden Kenntnissen der russischen und deutschen Sprache, der Arithmetik, Kenntnissen der biblischen, allgemeinen und russischen Geschichte sowie der Geographie auch Elementarwissen im Hebräischen, in der russischen und deutschen Bibelübersetzung, im jüdischen Gesetz und in der Auslegung des Talmud nachzuweisen gewesen wären. Abgesehen davon, dass Lilienthal nicht wusste, dass im Zarenreich offiziell keine russischen Bibelübersetzungen erlaubt waren, reduzierten die von ihm verlangten Kriterien für die Aufnahme in das Seminar den Kreis der potentiellen Bewerber auf ein Minimum. Junge russländische Juden, die sowohl religiöses als auch säkulares Wissen, vor allem Russischkenntnisse, besaßen, waren eine seltene Erscheinung. Wer über den einen Bereich verfügte, hatte im Regelfall große Defizite im anderen. Aber selbst wenn das Seminar eine Reihe von modernen Rabbinern und Lehrern ausbilden konnte, so bleibt doch die Frage, wo sie eine Beschäftigung finden sollten. Die Gemeinden waren in ihrer großen Mehrheit noch sehr traditionsorientiert und hätten daher die Anstellung der aus diesem Seminar hervorgegangenen Rabbiner abgelehnt oder sie – als Kronrabbiner – ohne Einfluss gelassen. Ebenso war fraglich, wo die Lehrerabsolventen ein Unterkommen finden sollten, da es kaum moderne jüdische Lehranstalten gab, an denen religiöser und säkularer Unterricht erteilt wurde. Alles in allem mag Lilienthals Plan vielleicht die Realitäten des deutschen Judentums abgebildet haben, denen des russländischen Judentums wurde er jedenfalls kaum gerecht.

1.1.3 „Stunde der Wiedergeburt der geistigen Erziehung Israels“: Lilienthal und der Aufbau einer Musteranstalt für die Reform des jüdischen Bildungswesens in Riga Am 15. Januar 1840 wurde schließlich die neue Lehranstalt der jüdischen Gemeinde zu Riga in Gegenwart des russisch-orthodoxen Bischofs, des evangelischen Superintendenten, des Stadtkommandanten, des Gouvernementsschul-Direktors, des Polizeimeisters, einzelner Bürgermeister und anderer städtischer Honoratioren eröffnet.36 Kurz gesagt, die Eröffnung der modernen jüdischen Schule war ein gesellschaftliches Ereignis, das die Bedeutung dieser neuen Anstalt klar herausstellte. Und auch Lilienthal unterließ es nicht, den versammelten Gästen die seiner Meinung nach außerordentliche Tragweite des Ereignisses vor Augen zu 36 Vgl. Lilienthal, Rede bei der feierlichen Eröffnung, 3; AZJ 13, 1840, 174.

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halten: „Denn nennen wir diese Stunde nur gleich beim rechten Worte, so können wir sie nennen: die Stunde der Wiedergeburt der geistigen Erziehung Israels.“37 Zwar mag Lilienthal wie viele seiner Zeitgenossen auch zu eher pathetischen und übertrieben klingenden Formulierungen geneigt haben. Nimmt man aber seine Äußerung ernst, so bedeutet dies, dass der Rabbiner damit seinen Anspruch zum Ausdruck brachte, die Rigaer Gemeindeschule zu einer Musteranstalt für die anstehende Bildungsreform auszubauen. In diesem Sinne ging er im Folgenden auch ausführlich darauf ein, welchen Zweck die jüdische Erziehung in alten Zeiten hatte und welchen sie in der Gegenwart erfüllen solle. Da die Juden im Mittelalter Verfolgungen ausgesetzt gewesen seien, hätten sie Zuflucht in ihrer Religion gesucht und sich nicht um das „Wissen anderer Völker“ gekümmert. Die Zeiten hätten sich nun aber geändert, und mit der „Menschlichkeit“ erwache in den Juden auch der Wunsch nach säkularem Wissen, allerdings ohne dabei die Religion preiszugeben: „Der Zweck der israelitischen Erziehung in der Gegenwart ist kein anderer, als wahre, innige Religiosität unter ihnen zu verbreiten, und ihre Jugend bekannt zu machen mit dem, was ihr Noth thut, um würdige Glieder der bürgerlichen Gesellschaft, um Menschen im wahren Sinne des Wortes zu werden. Sie soll etwas mit hinaus in’s Leben nehmen, das mehr ist, als Geld und Gut; […] mit einem Worte, Ihre Kinder sollen religiöse und geistig gebildete Menschen werden.“38

Damit hatte Lilienthal seinen Zuhörern die Essenz der maskilischen Bildungsprogrammatik erläutert und gleichzeitig die anwesenden Juden dazu aufgerufen, der Schule, in der diese Programmatik umgesetzt werden sollte, ihr Vertrauen zu schenken. Wie ein Brief des Gemeindevorstands, der Schulund der Synagogenkommission an Philippson kurz darauf zeigte, waren zumindest diese Vertreter mit Lilienthal als Prediger und als Schuldirektor sehr zufrieden.39 Aber nicht nur die Gemeindevertreter lobten Lilienthals Wirken in den höchsten Tönen. Auch die nichtjüdische Umwelt zollte ihm schon bald Anerkennung für die von ihm geleitete Lehranstalt, insbesondere für die Vermittlung weltlicher Bildung. So lobte beispielsweise der Dorpater Professor Rosberg in seinem Bericht vom 30. Juli 1840 an Uvarov Lilienthal wie auch die von ihm geleitete Schule als „Pflanzstätte der Aufklärung“, die die „kühnsten Erwartungen“ übertreffe.40 Dieses Urteil über Lilienthals Schule hinterließ bei Uvarov offenbar einen derartig guten Eindruck, dass er die Schule in einem Brief an ihn nicht nur als

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Lilienthal, Rede bei der feierlichen Eröffnung, 5. Lilienthal, Rede bei der feierlichen Eröffnung, 13. Vgl. AZJ 16, 18. 4. 1840, 221 – 222. Zitiert nach Scheinhaus, Ein deutscher Pionier, in: AZJ 35, 1. 9. 1911, 405.

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74 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert herausragendste unter den jüdischen Lehranstalten im Zarenreich lobte, sondern implizit sogar zu einem Modell für künftige jüdische Schulen erhob.41 Der russische Bildungsminister war nicht zum ersten Mal auf Lilienthal aufmerksam geworden und schien zu bestätigen, was dieser selbst wenige Monate zuvor ausdrücklich als sein Ziel bezeichnet hatte. Wie schon in seiner Eröffnungsrede angedeutet, beabsichtigte der deutsche Rabbiner nichts Geringeres, als die von ihm geleitete jüdische Gemeindeschule in Riga zu einer „Musteranstalt“ für den nördlichen und westlichen Teil des Russländischen Reiches zu erheben und somit eine weitreichende Reform des jüdischen Bildungswesens im Zarenreich ins Leben zu rufen.42 Das Lob des Bildungsministers bestärkte Lilienthal wohl darin, sich für höhere Aufgaben bei der Regierung zu empfehlen. Als er kurz darauf eine Sammlung seiner Rigaer Predigten veröffentlichte, widmete er sie „mit den Gefühlen tiefster Verehrung und aufrichtigster Hochachtung“ Uvarov. Im Vorwort pries der Rabbiner die Regierung geschickt für ihren „Plane einer religiösen und sittlichen Aufklärung“, also ihre Absicht, moderne jüdische Schulen zu gründen, und lobte sie dafür, dass sie Widerstand seitens der Juden somit unmöglich mache.43 Wenn Lilienthal in einer dem Minister gewidmeten Veröffentlichung die von der Regierung angestrebte jüdische Bildungsreform derart vorbehaltlos unterstützte, dann legt dies die Vermutung nahe, dass er auch selbst eine persönliche Rolle hierbei spielen wollte. Nicht nur die Obrigkeit war auf Lilienthal und die von ihm geleitete Gemeindeschule in Riga aufmerksam geworden. Auch führende Maskilim in anderen Städten sahen in ihm offenbar einen Hoffnungsträger. So hatte beispielsweise einer der führenden Repräsentanten der Haskala im Russländischen Reich, der Wilnaer Maskil Mordechai Aaron Ginzburg (1795 – 1846), schon sehr früh den Kontakt zum deutschen Rabbiner gesucht. Obwohl die Lehranstalt in Riga erst am 15. Januar 1840 eröffnet worden war, antwortete Lilienthal schon am 21. März des Jahres auf einen Brief, den Ginzburg ihm in der Zwischenzeit geschrieben haben musste. War die Meinung des deutschen Rabbiners über das russländische Judentum, vor allem über das traditionelle Element, gerade zu Anfang seines Wirkens ausgesprochen negativ, so lag dies nicht nur an dem für deutsche Juden der damaligen Zeit typischen Vorurteil und natürlich auch an bestimmten Erfahrungen, die er in Riga gemacht hatte, sondern sicherlich vor allem auch an den Ausführungen russländischer Maskilim, die ihn in seinen Auffassungen zu bestätigen schienen. So hatte ihm Ginzburg offenbar in seinem Brief die „traurige geistige Verwilderung der russischen Juden mit so lebhaften Farben geschildert“, dass sich der deutsche Rabbiner zu einem kulturellen Vergleich zwischen den gebildeten, also kultivierten und zivilisierten deutschen Juden und den ungebildeten, religiös41 Vgl. AZJ 37, 12. 9. 1840, 527. 42 Vgl. AZJ 16, 18. 4. 1840, 222. 43 Lilienthal, Predigten, XIII.

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fanatischen, also unkultivierten (oder häretischen) russländischen Juden veranlasst sah und schließlich noch die Motive für das Lernen bei den „polnischen“ Juden kritisierte: Während diese Lernen nur als Selbstzweck betrachteten und sich über vieles, was sie nicht begriffen, hinwegsetzten, lernten die deutschen Juden um der Sache und des Wissens willen, wobei sie nichts zur Seite legten, was sie nicht begriffen, wodurch sie sich gründliche Kenntnisse aneigneten. Eine derartige Lernweise der „polnischen“ Juden bringe, so Lilienthal gegenüber Ginzburg, die Juden um eine Masse gründlicher Köpfe unter den „polnischen“ Juden, die sonst ganz Vorzügliches leisten würden. Damit hatte Lilienthal in aller Deutlichkeit seinen Bildungsanspruch formuliert. Dass man seine Meinung für relevant hielt, beweist der Umstand, dass Ginzburg Lilienthal offenbar auch um Mitteilung seiner Ansicht über seine Schule in Wilna gebeten hatte. Allerdings ist nicht überliefert, was der deutsche Rabbiner hierauf antwortete, da er dies auf einen weiteren, nicht vorhandenen Brief verschob.44

1.1.4 Deutsche Juden als kulturelle Mittler? Zur Frage der Anstellung deutscher Juden als Lehrer im Zarenreich Trotz seiner wohlwollenden Aufnahme war Lilienthals Aufenthalt in Riga nicht von langer Dauer. Nachdem er bereits im Dezember 1839 der Regierung einen detaillierten Plan für die Errichtung eines jüdischen Konsistoriums sowie einer jüdisch-theologischen Fakultät vorgelegt hatte und die von ihm geleitete moderne Schule in Riga überall auf derart positive Resonanz gestoßen war, schien er in den Augen der Regierung geeignet zu sein, an einer grundlegenden Umgestaltung des jüdischen Bildungssystems im Zarenreich mitzuarbeiten. Nach nur einjährigem Wirken in Riga wurde er im Februar 1841 vom Bildungsminister Uvarov zu Beratungen in die Hauptstadt berufen. Dass Uvarovs Wahl, wie der Verfasser von Maggid Emet später behauptete, völlig zufällig auf den deutschen Rabbiner fiel und der Unterstützung Nissan Rosenthals zu verdanken war,45 ist mehr als abwegig. Schließlich war Lilienthal, wie schon gesagt, dem Minister bestens bekannt und verkörperte all das, was er sich von einem Juden erwartete: Er war gebildet und kultiviert, sprach Deutsch und Französisch, war ein Anhänger der Aufklärung und vor allem, wie in der Praxis bereits bewiesen, mit dem Schulwesen vertraut. Lilienthal besaß in den Augen Uvarovs genau die Eigenschaften, die sich die russländischen Juden aneignen sollten und war insofern prädestiniert, ihm Vorschläge zur Reform des jüdischen Bildungswesens im Reich, insbesondere zur Errichtung moderner jüdischer Schulen, zu unterbreiten. 44 Brief Lilienthals an M. A. Ginzburg, 21. 3. 1840. Zitiert nach Scheinhaus, Vor 70 Jahren, 377 – 382. Eine russische Übersetzung dieses Briefes ist enthalten in: Perezˇitoe, Bd. 2, 289 – 293. 45 Vgl. Amitai, Maggid Emet, 7 – 9. Vgl. auch Cinberg, Levinzon, 525.

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76 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert In den Unterredungen und Schriftsätzen schlug der deutsche Rabbiner dem Minister Maßnahmen vor, die durchaus als radikal und revolutionär zu bezeichnen sind und die die Absicht eines Kulturtransfers offenbarten. Nicht nur sollten die Chadarim, die traditionellen jüdischen Elementarschulen, sowie ihre Lehrer, die Melamdim, verschwinden, sondern es sollten auch aus angeblichem Mangel an geeignetem Lehrpersonal im Inland jüdische Lehrkräfte aus Deutschland für die neu zu errichtenden Schulen verpflichtet werden, wobei Lilienthal dreißig als ausreichend ansah.46 Lilienthal wurde schließlich noch konkreter. Er meinte, in den zu gründenden staatlichen jüdischen Schulen solle anfänglich das für die Bevölkerung verständlichere Deutsch Unterrichtssprache sein. In Zukunft, wenn „,die Juden davon überzeugt sein werden, dass die Regierung keinerlei Absicht hat, ihren Glauben anzugreifen, kann sie [die deutsche Sprache] durch das Russische ersetzt werden‘“. Außerdem schlug er, um die russländischen Juden zu ermuntern, ihre Kinder in die neuen Schulen zu schicken, vor, den Unterricht unentgeltlich zu erteilen und praktische Fächer wie Gartenbau, Landwirtschaft und Zeichnen einzuführen. In seinen Randbemerkungen versah Uvarov diese Vorschläge mit „einverstanden“. Einwände hatte er jedoch gegen Lilienthals Vorschlag, jüdischen Schülern von Gymnasien und höheren Lehranstalten diejenigen Rechte einzuräumen, die auch Kleinbürger (mesˇcˇane), Kaufleute und persönliche Edelmänner besaßen. Uvarov war zwar einverstanden, wollte dieses Privileg aber nur jüdischen Studenten von russischen Universitäten gewährt wissen. Schließlich fand Lilienthal auch den beachtlichen Mut, anzuregen, dass den jüdischen Schülern, „wenn auch in Fernsicht“, die Möglichkeit eines Wegzugs aus dem Ansiedlungsrayon aufgezeigt werde. Dies beschied Uvarov mit einem glatten „unmöglich“. Die Regierung hatte also nie vor, das Los der jüdischen Schüler wirklich zu erleichtern, was Lilienthal aber keineswegs einfach hinnahm, wie noch zu sehen sein wird. Dass er von Beginn an Verständnis für die Befürchtungen der traditionellen Juden hatte, zeigen seine Vorschläge zum Religionsunterricht. Zum einen sollten für diesen Unterricht spezielle Inspektoren aus den Reihen der Rabbiner zuständig sein, zum anderen forderte er dazu auf, in die Instruktion für die Lehrer einen Artikel über die strenge Erfüllung der Glaubenspflichten aufzunehmen. Lilienthal wollte zudem nicht nur die schulische Erziehung der jüdischen Knaben im Zarenreich einer Reform unterziehen, sondern ebenso die der jüdischen Mädchen, deren Bildung und Ausbildung stark vernachlässigt wurden. Aus seinen Unterredungen mit Uvarovs Mitarbeiter DuksˇtaDuksˇinskij ging auch eine Aufzeichnung mit dem Titel Über die Ausbildung des weiblichen Geschlechts unter den Juden hervor, in der die Errichtung von jüdischen Mädchenschulen mit einem verkürzten Unterricht im göttlichen Gebot und der Einführung der Handarbeitslehre vorgeschlagen wurde.47 46 Vgl. Meisl, Haskalah, 88; Hessen, Regierung, Heft 7/8, 487; Lozinskij (Hg.), Opisanie, 87. 47 Lozinskij (Hg.), Opisanie, 87 – 88.

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Die offenbar angestrebte Beseitigung des traditionellen jüdischen Schulwesens wie auch die Anstellung fremder kultureller Mittler fanden die Billigung Uvarovs, der Lilienthal beauftragte, sich „mit den berühmtesten jüdischen Männern Deutschlands in Verbindung zu setzen, um die Anzahl derjenigen zu ermitteln, die einen Ruf an die neuzuerrichtenden Schulanstalten annehmen würden“.48 Sogleich widmete sich Lilienthal seiner neuen Aufgabe und schrieb an die einflussreichsten Juden – darunter Leopold Zunz, Abraham Geiger, Ludwig Philippson, Isaak Jost und Samuel David Luzzato (1800 – 1865) – mit der Bitte, ihm die Namen fähiger Pädagogen für den Schuldienst im Russländischen Reich mitzuteilen. Gleichzeitig wandte sich der deutsche Rabbiner in einem Brief vom Februar 1841 auch an die jüdische Öffentlichkeit, wobei er das Tauschgeschäft Bildung gegen rechtliche Emanzipation in Aussicht stellte, ein Geschäft, das die Regierung keineswegs zugestanden hatte: „An zwei Millionen, die in einem von uns Deutschen nie geahndeten Elend schmachten, sollen emancipirt werden; so lautet das Wort Seiner Majestät des Kaisers und Herrn; aber nur um den Preis einer moralischen und geistigen Durchbildung wird dieses Geschenk verabreicht. 200 [sic!] Schulen, Land- Bürger und höhere Schulen mit Gouvernementslehrern, Oberlehrern u. sollen nun gegründet und eröffnet werden, und die Jugend, die aus diesen Schulen kömmt, soll ohne Beschränkung alle Bürgerrechte erhalten. Es ist das ein großer und hochherziger Gedanke; nicht ungebildetes Volk soll diese Kaisergabe erhalten, nicht Gebildete nach diesem Rechte schmachten; nein, um Cultur Emancipation, um Menschenbildung auch Menschenrecht. Allein die Männer fehlen, denen diese Anstalten vertraut werden sollen; Rußland hat sie nicht, Deutschland soll sie liefern. Männer, die sich dazu berufen fühlen, bitte und fordere ich auf, an dieses große und heilige Werk Hand zu legen. Als Staatsdiener angestellt, vom Staate besoldet, gegen eine blinde Opposition durch ihn geschützt, erwartet sie eine Zukunft, wie sie sie in Deutschland nicht finden werden. So groß auch die Zahl immer sein mag, so verschieden auch die individuellen Bildungsstufen sein mögen; hier wird ein Jeder volle Beschäftigung haben.“49

Aufgrund der von Lilienthal in rosigen Worten angekündigten Reform des jüdischen Schulwesens im Zarenreich wurden die westeuropäischen Juden sogleich von einem regelrechten Begeisterungssturm erfasst, der sich schließlich zu einer übermäßigen Huldigung an den Zaren und seine Minister, die als Retter der russländischen Juden gefeiert wurden, steigerte.50 Daher gingen sie mit großem Eifer daran, dem Gesuch Lilienthals nachzukommen, so dass bald nach seiner Rückkehr nach Riga im März 1841 „die Namen von über 200 Männern ein[trafen], die unter günstig gestellten Anträgen ein48 Zitiert nach Lilienthal in AZJ 41, 8. 10. 1842, 603. 49 Brief Lilienthals, 4./16. 2. 1841, in: IA 11, 12. 3. 1841, 86. 50 Vgl. hierzu beispielsweise die Briefe Philippsons und Josts an Zar Nikolaus beziehungsweise an Minister Uvarov in: Hessen, Regierung, Heft 5/6, 265 – 267, 269 – 271.

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78 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert wandern und die zu errichtenden Stellen annehmen wollten“.51 Während Jost dem Bildungsminister zwei Listen mit insgesamt 73 Kandidaten zugesandt hatte, enthielt die Vorschlagsliste des Magdeburger Rabbiners Philippson nicht weniger als 130 Namen.52 Das deutsche Judentum war begeistert, nicht zuletzt wegen der Aussicht, zum kulturellen Retter des von vielen als degeneriert und unzivilisiert angesehenen russländischen Judentums zu werden. Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts frohlockte schon im Sommer des Jahres über die weitreichenden Konsequenzen der anvisierten Reform und wusste zu berichten, dass „an Dr. Zunz in Berlin Einladung ergangen [sei], die Stelle eines Professors der Theologie anzunehmen“.53 Trotz des vorherrschenden Enthusiasmus sollte der herausragende Vertreter der Wissenschaft des Judentums das Angebot Uvarovs, ihn als Direktor einer höheren Schule mit einem Gehalt von 1 300 bis 1 400 Taler in den Staatsdienst zu übernehmen,54 mit der Bemerkung ablehnen, „daß für meine Studien, in denen allein ich lebe, nur Deutschland der geeignete Boden“55 ist. In ganz ähnlicher Weise lehnte auch der liberale Rabbiner Abraham Geiger die Aufforderung, eine Berufung in das Russländische Reich anzunehmen, höflich ab. In seinem Brief an Lilienthal bemerkte er : „Sie wissen es, geehrtester Herr, dass der Mittelpunkt der fortschreitenden Bestrebungen der Juden in dem letzten halben Jahrhunderte und darüber Deutschland war und ist.“56 Vor diesem Hintergrund wollte Geiger auch weiterhin im Zentrum und nicht an der Peripherie wirken, zumal er sich, wie er bekannte, in Deutschland schon etabliert hatte. Ähnlich reagierte auch der Rabbiner Samuel David Luzzato, der Leiter des in Padua ansässigen Collegio Rabbinico Italiano. Zwar hatte Lilienthal ihm selbst keine Anstellung angeboten, ihn jedoch nach Namen von Absolventen seiner Lehranstalt gefragt, die noch keine Stelle hatten und daher als Lehrer im Russländischen Reich wirken könnten. Darüber hinaus bat er den Paduaer Kollegen um einen detaillierten Lehrplan seines Kollegs, da Uvarov die Errichtung eines ähnlichen Seminars plane. In seinem Antwortschreiben teilte Luzzato zwar die gewünschten Einzelheiten seines Rabbinerseminars in Padua mit, nahm aber Abstand von dem Angebot, einige an seiner Schule ausgebildete Rabbiner in das Zarenreich zu senden, da dies seiner Meinung nach wenig hilfreich war. Der italienische Rabbiner wies jedoch seinen deutschen Kollegen auf die Möglichkeit hin, einige Schüler aus dem Russländischen

51 52 53 54 55 56

Zitiert nach Lilienthal in AZJ 41, 8. 10. 1842, 604. Vgl. Hessen, Regierung, Heft 7/8, 490 – 491. INJ 33, 6. 6. 1841, 131 – 132. Vgl. Brief Zunz’ an S. Ehrenberg, 17. 3. 1841, in: Glatzer (Hg.), Zunz, 214. Brief Zunz’ an König Wilhelm IV., 28. 4. 1843, in: L. Geiger, Zunz, 324. Brief Geigers an Lilienthal, Datum unbekannt, in: Geiger, Schriften, Bd. 5, 164.

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Reich an seinem Seminar zu unterrichten, wodurch sie vielleicht in Zukunft ihrem Land nützlich sein könnten.57 Noch deutlichere Worte fand der Wiener Prediger Isaak Noa Mannheimer (1793 – 1865), der in einem Brief an Lilienthal die Probleme und Gefahren der beabsichtigten Schulreform, insbesondere die Schwierigkeit, geeignetes Lehrpersonal zu finden, schilderte. Schließlich wies er sogar auf das Scheitern der jüdisch-deutschen Schulen in Galizien und auf Hombergs unrühmliches Wirken hin, wobei er die Ansicht vertrat, dass die deutschen Juden kaum noch kulturelles Sendungsbewusstsein verspürten, um sich im Zarenreich niederzulassen, denn „,Rußland [hat] in Beziehung auf sein rauhes Klima und sonstige Verhältnisse gerade keine besondere Anziehungskraft für den Süddeutschen […], da das Leben unter polnischen Juden in dieser Sphäre für den, der unter gebildeten Menschen gelebt, ein Wagniß ist, zu dem nicht Alle Muth und Eifer haben, das Wort Beruf, Sendung hat den Klang nicht mehr, den es vor 20 Jahren zurück noch hatte.‘“58

Während Zunz, Geiger und Mannheimer die Übernahme einer kulturellen Mittleraufgabe im Zarenreich ablehnten, stimmten sowohl Jost als auch Philippson einer Anstellung dort, in welcher Funktion auch immer, grundsätzlich zu.59 Die Bereitschaft dieser beiden, einen Ruf anzunehmen, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass Uvarov den Erfolg einer kulturellen „Regeneration“ des russländischen Judentums von der Berufung ausländischer, insbesondere deutscher Juden abhängig machte. In einem Brief des Ministers an den Magdeburger Rabbiner von Ende März 1841 bekannte er sich zunächst in gewisser Weise zu einem Kulturtransfer, indem er erklärte, die Regierung strebe danach, „eine vollkommene Anordnung für Judenschulen im Sinne Mendelssohns zu bewerkstelligen“. Allerdings sei diese Absicht angesichts der „beinahe vollkommenen moralischen und intellektuellen Verwilderung“ der russländischen Juden mit großen Schwierigkeiten verbunden, so dass vor allem die direkte Mitwirkung deutscher Juden im Reich zu einer Realisierung des Planes führen könne: „Wenn die Bessern unter dem Volke, und namentlich die aus Deutschland Berufenen, sich nicht als Lehrer und Rabbiner zur Ausführung des Plans der Regierung willig und mutig darbieten, so ist auf keinen Erfolg zu rechnen. In diesem Sinne sind wir 57 Der Briefwechsel zwischen Lilienthal und Luzzato ist nachzulesen bei Philipson, Lilienthal, 826 – 837. 58 Brief Mannheimers an Lilienthal, ohne Datum. Zitiert nach Hessen, Regierung, Heft 7/8, 484. Vor diesem Hintergrund machten Mannheimer und Sulzer einen ähnlichen Vorschlag wie Luzzato. Auf Bitten Lilienthals hatten sie sich zumindest bereit erklärt, die finanziellen Mittel zu beschaffen, um zwei jungen Juden aus dem Russländischen Reich „unter ihrer Leitung die Formen des Gottesdienstes und der Predigt im Wiener Tempel studieren zu lassen“. Hessen, Regierung, Heft 7/8, 483. 59 Brief Josts an Uvarov, 31. 3. 1841. Hessen, Regierung, Heft 5/6, 270; Brief Philippsons an Lilienthal, ohne Datum. Hessen, Regierung, Heft 7/8, 482 – 483.

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80 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert gesonnen, sobald die Haupt-Maassregeln gehörig geprüft, und von S. K. M. bestätigt sein werden, eine Auswahl jüdischer Gelehrter zu berufen, um ihnen den doppelten Auftrag des Lehramtes u. des neuorganisirten Rabbinerstandes zu verleihen.“60

Angesichts solcher Worte wundert es nicht, wenn Philippson und Jost, der sicher ein ähnliches Schreiben erhalten hatte, in der Folgezeit weiter fieberhaft nach geeigneten Lehrer- und Rabbinerkandidaten für das Zarenreich suchten und Liste um Liste an Uvarov und Lilienthal sandten. Nachdem Jost vom Kaiserlichen Russischen Gesandten die Erlaubnis dazu erhalten hatte, schaltete er in den von ihm herausgegebenen Israelitischen Annalen Anfang April 1841 sogar eine Anzeige, in der er alle „Israelitischen Theologen und Schulmänner, Rabbinats- und Schulamtscandidaten“61, die bereit waren, eine Stelle im Ausland anzunehmen, aufforderte, sich bei ihm zu melden. Dass sich innerhalb kurzer Zeit mehr als 200 deutsche Juden bereit erklärt hatten, im Zarenreich eine Stelle als Lehrer oder Rabbiner anzunehmen, ist kaum überraschend, da in dieser Zeit junge Lehrer- und Rabbinatskandidaten große Schwierigkeiten hatten, eine Anstellung zu finden. Es dürfte also weniger kulturmissionarischer Eifer als handfestes ökonomisches Interesse gewesen sein, das viele von ihnen dazu bewog, einer Niederlassung im Russländischen Reich zuzustimmen. Die große Zahl der Kandidaten schrumpfte allerdings schnell um ungefähr die Hälfte, da das Bildungsministerium diejenigen Personen von der Liste strich, die Jost und Lilienthal (und wahrscheinlich auch Philippson) nicht persönlich bekannt waren oder keine Diplome vorgelegt hatten. Dass schon zu diesem Zeitpunkt die Anstellung deutscher Juden als Rabbiner im Zarenreich offenbar nicht mehr in Betracht kam, sieht man an der im Ministerium erfolgten Einteilung der übriggebliebenen Kandidaten in drei Kategorien: 1. Geeignet, um die Stelle als Inspektor einer höheren Schule einzunehmen; 2. Geeignet, um in einer solchen zu unterrichten; 3. Geeignet, um in einer jüdischen Elementarschule zu unterrichten.62 Nun wandte sich Uvarov an die russischen Gesandtschaften in Berlin, Dresden, Frankfurt, München, Stuttgart und Wien, um Auskunft über die sittliche und berufliche Qualifikation der 103 Kandidaten zu erhalten. Nicht zufällig sollte Severine, der russische Gesandte in München, die Frage aufwerfen, welcher religiösen Richtung die zu berufenden Kandidaten angehören sollten, war doch erst drei Jahre zuvor in Bayern das sogenannte „Neologenreskript“ erlassen worden, das die Besetzung von vakanten Rabbinatsstühlen mit Anhängern der religiösen Reformbewegung verbot.63 Severine fügte aber hinzu, die wenigsten der 38 Kandidaten seien „den neuen Reformideen ge-

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Brief Uvarovs an Philippson, 26.3./7. 4. 1841. AZJ 41, 8. 10. 1855, 523. IA 14, 2. 4. 1841, 112. Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 98. Vgl. Wiesemann, Rabbiner, 282.

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neigt“64, was zeigt, dass sich offenbar nicht nur Anhänger der jüdischen Reformbewegung um eine Stelle beworben hatten. Die Frage des Gesandten war durchaus nicht von geringer Bedeutung. In einem Brief an Uvarov befasste sich daher der Mitarbeiter des Ministeriums Duksˇta-Duksˇinskij mit dem Problem, welche Kandidaten bei der Berufung vorgezogen werden sollen. Nachdem er kurz die Entwicklung des Reformjudentums skizziert hatte, ging er auch auf die Reaktionen der einzelnen Regierungen ein, wobei er insbesondere darauf hinwies, dass der „Neologismus“ in Österreich, Preußen und Bayern sogar staatlich bekämpft worden sei, weil man befürchtet habe, dass er in letzter Konsequenz zum Atheismus führen werde. Da Jost, Philippson und Lilienthal der „neuen Schule“ angehörten, sei zu erwarten, dass auch die von ihnen empfohlenen Kandidaten größtenteils in diese Richtung tendierten. Dennoch sollte, so Duksˇta-Duksˇinskij gegenüber Uvarov, die Zugehörigkeit zum „Neologismus“ kein Ausschlusskriterium sein, sofern sich der Kandidat bislang keiner Vergehen schuldig gemacht habe. Der Angestellte des Ministeriums begründete dies folgendermaßen: „In Rußland befinden sich die Juden in einem derartigen Zustand von Aberglauben und Ignoranz, dass eine ,neologische Reformation‘ unter ihnen fast zu wünschen wäre.“65 Ungeachtet dieser Ansicht entschied man sich allerdings anders. Die von den einzelnen Gesandtschaften zurückgeschickten Kandidatenlisten bezeichnete Duksˇta-Duksˇinskij als ungenügend, da er meinte, dass sie auf den Zeugnissen deutscher Rabbiner beruhten, die mit der Lage der Juden im Zarenreich nicht vertraut seien. Nach deren Meinung könne jeder, der erfolgreich ein Seminar abgeschlossen habe, ein guter Lehrer im Zarenreich werden, wenn er nur ein tadelloses Verhalten habe. Demgegenüber verlange man aber von einem ausländischen jüdischen Lehrer weitaus mehr. Nicht nur müsse er vor den Leuten, die jeden ausländischen Juden wie einen Häretiker betrachteten, vernünftig und behutsam auftreten, sondern er sollte nach Möglichkeit auch nicht den „Neologen“ angehören, die sich sowohl von den Juden wie auch von den Regierungen abwendeten.66 Demnach war die Regierung Zar Nikolaus I., die jede Art von gesellschaftlichem Ungehorsam gegen die Autokratie im Keim zu ersticken suchte, auch hier nicht gewillt, sich der Gefahr auszusetzen, vermeintlich „unsichere“ Elemente in das Reich einzuladen. Um dies auszuschließen, sollte daher der im Außenministerium tätige jüdische Kommerzienrat Hirsch Halperin, der eine äußerst bewegte Vergangenheit hatte,67 auf Auslandsreise geschickt werden und private Erkundigungen über die Kandidaten einziehen.68 Dieser Prozess wie auch die Ausarbeitung der Bildungsreform verzögerten 64 65 66 67 68

Hessen, Regierung, Heft 7/8, 494. Zitiert nach Hessen, Regierung, Heft 7/8, 495. Ebenfalls bei Lozinskij (Hg.), Opisanie, 98. Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 98 – 99. Vgl. J. Gessen, Vyzov, 320 – 321. Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 99.

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82 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert naturgemäß die mögliche Anstellung der deutschen Juden als Lehrer weiter, so dass diejenigen, die sich um eine Liste geeigneter Kandidaten bemüht hatten, ungeduldig wurden. Von allen Seiten wurden Lilienthal und Philippson bestürmt, die Anstellungen zu beschleunigen, wozu sich beide natürlich auch verpflichtet sahen. Lilienthal drängte nun im Bildungsministerium auf Aufklärung gegenüber den ausländischen Kandidaten, woraufhin ihn DuksˇtaDuksˇinskij lapidar dahingehend beschied, dass die Reform des jüdischen Bildungswesens im Zarenreich noch völlig am Anfang stehe und noch nichts entschieden sei.69 Unterdessen blieb Lilienthal keineswegs untätig. Obwohl ihn Duksˇta-Duksˇinskij schon anfangs darauf hingewiesen hatte, „dass die Regierung in legislativer Hinsicht keine[r] Rathschläge bedürfe“, wagte er in einem Brief die Bemerkung, dass der Erfolg der Aufklärung und der neuen staatlichen jüdischen Schulen von der Gewährung rechtlicher Erleichterungen für die jüdische Bevölkerung abhänge. Angesichts der Tatsache, dass auch die schwedischen Bauern im Vormonat die Einführung von Schulen durch den Adel mit der Begründung abgelehnt hatten, dass sie ohne Schulen frommer blieben, war für Lilienthal die „Halsstarrigkeit“ der Juden nicht mehr verwunderlich.70 Nur zwei Wochen später untermauerte Lilienthal in einem weiteren Brief seine Ansicht. Wie er erklärte, war die „gränzenlose Armuth, das schreckliche Elend der Juden […] der Grund ihrer Verwahrlosung“, wobei der jüdische Ansiedlungsrayon Hauptursache hierfür sei. Daher solle man den Juden noch 14 weitere Gouvernements zur Niederlassung und Schaffung neuer Existenzmöglichkeiten freigeben, sonst sei die Bildungsreform zum Scheitern verurteilt: „Ohne Brod, was kümmert ihn die Aufklärung; ohne Obdach und Kleidung, was geht ihn Bildung an? Wird das Elend gehoben, dann wird Bildung bald unter den Juden einheimisch werden.“ Diese Meinung hatte Lilienthal jedoch nicht als seine eigene dargestellt, sondern sie dem angesehenen Rigaer Kaufmann Noa Berkowitz zugeschrieben, denn er erwähnte, das Ministerium habe ihm aufgetragen, alle Ansichten, die er von seinen Glaubensgenossen zu hören bekomme, der Regierung mitzuteilen, was zweifellos ein kluges Mittel Lilienthals war, um seiner Meinung indirekt Gehör zu verschaffen. Der deutsche Rabbiner fuhr fort, die überall vorherrschende „Mittellosigkeit“ der Juden sei ein weiterer Grund für ihre Armut. Da ihm sicher bewusst war, dass die Regierung den Druck des Ansiedlungsrayons kaum durch dessen Erweiterung verringern werde, machte er einen konkreten, noch heute sehr zeitgemäßen Vorschlag, wie die ungeheueren finanziellen Schwierigkeiten der russländischen Juden überwunden werden könnten. In jedem Gouvernement sollte die Regierung 69 Brief Duksˇta-Duksˇinskijs an Lilienthal, 25. 4. 1841. Zitiert nach Hessen, Regierung, Heft 7/8, 489 – 490. Teilweise auch erwähnt in Lozinskij (Hg.), Opisanie, 91. 70 Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 23. 3. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 22/3, 3. Es sei darauf hingewiesen, dass die Ginsburg-Dokumente offensichtlich Abschriften Ginsburgs sind. Orthographische Fehler sind möglicherweise hierauf zurückzuführen.

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nämlich einen Fonds mit einer bestimmten Summe bereitstellen, aus dem an jüdische Familien – mit Zinsen zurückzuzahlende – Existenzgründerdarlehen vergeben werden konnten. Dass es sich auch hier um einen ideellen Kulturtransfer handelte, machte Lilienthal mit dem Hinweis darauf deutlich, dass es solche Unterstützungskassen in jedem Kreis in Bayern gebe.71 Wenige Wochen später bestätigte einer der herausragenden russländischen Maskilim, Benjamin Mandel’sˇtam (1805 – 1886) aus Wilna, in einem Schreiben an Lilienthal, dass nur rechtliche Erleichterungen für die jüdische Bevölkerung der Aufklärung zum Erfolg verhelfen würden. Er erklärte, er habe schon vor einigen Monaten einen Plan für die Bildung der Juden eingereicht, in dem er die Ursachen ihrer misslichen Lage in moralischer, politischer und intellektueller Hinsicht sowie Vorschläge zur Beseitigung dieser negativen Faktoren angeführt habe. Lilienthal war also nicht der Einzige, der sich über eine konkrete Umgestaltung des jüdischen Lebens im Zarenreich Gedanken machte, jedoch der Einzige, der Zugang zur Regierung gefunden hatte. Mandel’sˇtam wiederholte, es sei notwendig, die jüdische Tracht abzuschaffen, das Rabbinat zu reformieren, indem alle amtierenden Rabbiner durch ausländische ersetzt würden, Lehranstalten zu errichten und die frühe Verehelichung unter den Juden zu verbieten. Doch die Realisierung dieser Maßnahmen sei noch keineswegs erfolgversprechend. Vielmehr müssten zunächst eine ganze Reihe von rechtlichen Erleichterungen, darunter die Erweiterung des Ansiedlungsrayons, gewährt werden, wodurch das Elend der Juden verschwinden werde. Allerdings, fuhr er fort, wolle er nicht von gänzlicher Emanzipation sprechen, wohl deshalb nicht, weil dies unrealistisch war. Solange man jedoch, so der Wilnaer Maskil, nicht sämtliche von ihm angeführten Mittel auf einmal anwende, müsse man alles nur als „unnützes Heilen und Mediciniren“ bezeichnen. Für ihn war es ein regelrechter Teufelskreis, der die hoffnungslose Lage der russländischen Juden deutlich machte: „Ohne Brod – ohne Bildung, ohne Bildung – ohne Brod.“72 Was die Aussicht auf eine erfolgreiche Reform betraf, so waren also weder Lilienthal noch die russländischen Maskilim naiv oder euphorisch. Auch scheint der Einfluss Lilienthals auf den Fortgang und die Ausarbeitung der jüdischen Bildungsreform zu diesem Zeitpunkt sehr gering gewesen zu sein. Wandten sich Kandidaten an ihn und baten um Aufklärung über den Sachstand, so konnte er ihnen nichts mitteilen, da auch er nicht informiert war.73 Passiv war Lilienthal aber durchaus nicht. Auch die russländischen Maskilim hatten die Vorteile erkannt, die darin lagen, dass er mit dem Bildungsministerium korrespondierte und Vorschläge für eine Reform des jüdischen Schulwesens machte. Im Juli 1841 wandte sich Dr. Bernard Abrahamson (1798 – 1874), ein bekannter Arzt und Maskil aus Uman’, der sein Medizin71 Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 6. 4. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 22/3, 3 – 4. 72 Brief B. Mandel’sˇtams an Lilienthal, 24. 4. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 22/3, 4. 73 Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 91.

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84 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert studium in Krakau und Berlin absolviert hatte und inzwischen im russischen Staatsdienst war, an Lilienthal. Wenige Jahre zuvor (wohl 1835) hatte Abrahamson eine allgemeinbildende jüdische Schule an seinem Wohnort Uman’ errichtet,74 die jedoch nach anhaltendem Widerstand der dortigen Chassidim wieder geschlossen worden war. In seinem Schreiben bat er nun den deutschen Rabbiner, sich beim Bildungsminister für die Wiedereröffnung der Schule einzusetzen.75 Tatsächlich reichte Lilienthal Ende Oktober beim Ministerium einen dahingehenden Antrag ein, wobei er noch, wohl um dem Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen, darauf hinwies, dass er von Abrahamson auch eine Liste mit Lehrerkandidaten erhalten habe.76 Aufschlussreich dabei ist, dass von Beginn an auch die russländischen Maskilim bei der Suche nach geeigneten Lehrkräften für die zu errichtenden jüdischen Schulen beteiligt waren.

1.1.5 Wilna und Minsk als Testfall für die jüdische Bildungsreform Der Eigeninitiative Abrahamsons folgte schon bald eine zweite Initiative. Der Wilnaer Maskil und Ehrenbürger Nissan Rosenthal ersuchte im November 1841 Uvarov um Unterstützung bei der Verbreitung moderner Bildung in Wilna und wies damit auf die Schwierigkeiten hin, die sich durch die Verzögerung der Reform des jüdischen Bildungswesens im Reich ergaben. Wie er in seinem Bittschreiben ausführte, hatte er im Jahr zuvor eine vom Ministerium bewilligte Schule gegründet, die eigentlich aus den im künftigen Schulgesetz festgelegten Mitteln finanziert werden sollte. Damit aber die neue Lehranstalt bis zur Verabschiedung des Gesetzes nicht auf Grund finanzieller Engpässe wieder einging, schlug Rosenthal die Entnahme von Geldern für ihre Unterhaltung aus zwei Fonds vor, die er verwaltete. Dabei handelte es sich einmal um Beträge der Chevra Kadischa, der Beerdigungsbrüderschaft, und zum anderen um Rücklagen, die für die „Verschönerung des Tempels“ vorgesehen waren. Der Wilnaer Ehrenbürger hatte dabei nicht vor, die beiden Fonds für seine Schule völlig auszuschöpfen, sondern war der Meinung, dass man bei sparsamem Umgang 1 000 Rubel für die Lehranstalt entnehmen könne, ohne dabei die eigentliche Bestimmung der beiden Fonds zu beeinträchtigen. Konkret bat Rosenthal nun um tatkräftige Unterstützung bei der Umsetzung dieses Vorhabens, da seine Kräfte allein hierzu nicht ausreichten. Dazu sollte in Wilna eine aus drei aufgeklärten Mitgliedern bestehende Kommission ernannt werden, „die sich damit befassen soll[en], die nöthigen Mittel zur Verbesserung und Unterhaltung der nützlichen Lehranstalten herbeizuschaffen und zweckmäßig zu verwalten“. Rosenthal bot sich unter Betonung 74 Vgl. Beleckij, Vopros, Nr. 1, 19. 75 Vgl. Abragamson, Bernard, in: EE, Bd. 1, 144; Lozinskij (Hg.), Opisanie, 91. 76 Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 102.

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seiner Uneigennützigkeit selbst an, einen Sitz in dieser Kommission einzunehmen.77 Kurz darauf erhielt Lilienthal vom Direktor des öffentlichen Unterrichts Prinz Sˇirinskij-Sˇichmatov (1790 – 1853) die Nachricht, dass Nissan Rosenthal aus Wilna dem Minister den Wunsch vorgetragen habe, in dieser Stadt eine Freischule, also eine moderne Unterrichtsanstalt mit teilweise säkularem Unterricht, zu gründen und die beiden offenbar im Streit liegenden modernen Schulen Rosenthals und Kljacˇkos, die kurz zuvor errichtet worden waren, zusammenzuführen. Insoweit wurde nun Lilienthal vom Ministerium aufgefordert, Rosenthal zur Unterstützung seines Vorhabens nach Wilna zu begleiten.78 Wilna schien jetzt zum Testfall für die angestrebte Bildungsreform zu werden, und Lilienthal sollte dabei eine führende Rolle spielen. Der deutsche Rabbiner nahm diese Aufforderung gerne an, ahnte jedoch sofort, dass die Wilnaer Juden erheblichen Widerstand leisten würden. Noch vor seiner Abreise drang er daher im Bildungsministerium darauf, nicht nur den Kurator des Lehrbezirks, sondern auch den Kriegsgouverneur von Wilna offiziell bei den Verhandlungen miteinzubeziehen. Wie Lilienthal bemerkte, würden die Wilnaer Juden „ein Wort des H. Kriegsgouverneurs aber, vor dem täglich ihre Gemeindeangelegenheiten verhandelt und entschieden werden, […] wohl zu Herzen nehmen aus Furcht, sich nicht das Wohlwollen des höchsten Beamten ihres Gouvernements sich unwürdig gezeigt zu haben“.79 Von Beginn an hatte Lilienthal also vor, etwaigen Widerstand der Wilnaer Juden bei der Gründung moderner Schulen oder bei der Bereitstellung finanzieller Mittel für diese Schulen durch Einschüchterung und gewissen Zwang zu brechen. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Wilna berief er eine Versammlung der Gemeindevertreter ein, um sie von der Notwendigkeit neuer Schulen zu überzeugen. Doch alle Überzeugungsversuche schienen vergeblich, wenn man bedenkt, dass die Wilnaer Juden dem deutschen Rabbiner laut einem Korrespondenten der AZJ zunächst mit Witz, Hohn, List und sogar Gewalt zu begegnen gedachten und ihn schließlich, als sie hörten, dass er von Uvarov selbst gesandt werde, mit Geld und/oder Ehrerweisung zu bestechen beabsichtigten.80 Insofern war es nicht verwunderlich, wenn Lilienthal – wie der bekannte Wilnaer Maskil Benjamin Mandel’sˇtam zu berichten wusste – zunächst äußerst zuvorkommend empfangen worden war : „Wer hätte vor sechs oder sieben Jahren geglaubt, dass die Vorsteher der hiesigen Gemeinde sich dazu herablassen, einem ,Deutschen‘ den ersten Besuch abzustatten und einem Mann ohne Bart und Schläfenlocken die Hand drücken?‘“81 77 Brief Rosenthals an das Bildungsministerium, 21. 11. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 1 – 2. 78 Vgl. Lilienthal, Meine Reisen in Rußland IV, in: Jüdisches Volksblatt 3 (1856), Nr. 33, 129 – 130; AZJ 41, 8. 10. 1842, 604. 79 Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 7. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 2 – 3. 80 AZJ 13, 26. 3. 1842, 185 – 186. 81 Zitiert nach Beleckij, Vopros, Nr. 3, 21 – 22.

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86 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Umgekehrt besuchte Lilienthal den Wilnaer Rabbiner sowie den Maggid, den städtischen Prediger, um die „superorthodoxe Partei“ zu beruhigen und zu signalisieren, dass er sich gerne mit ihr verständigen möchte.82 Dennoch suchte sich der deutsche Rabbiner gegenüber der Versammlung der Gemeindevertreter sofort Respekt zu verschaffen, indem er darauf hinwies, dass er vom Minister Uvarov beauftragt sei, ihnen mitzuteilen, sie sollten sich die ihnen darbietende Gelegenheit nicht erneut derartig entgehen lassen wie zur Zeit des Zaren Alexander, als die zu Beratungen nach Petersburg berufenen jüdischen Repräsentanten in größter Ungnade wieder entlassen worden waren. Im Weiteren machte der deutsche Rabbiner die Wilnaer Juden darauf aufmerksam, dass sie keine Alternative hätten: Entweder gründeten die Juden nun aus eigenem Antrieb zeitgemäße Schulen und erlangten dadurch die Gunst der Regierung, oder aber die Regierung werde sich genötigt fühlen, ihnen die Errichtung von entsprechenden Lehranstalten zu befehlen.83 Tatsächlich hatte Lilienthal aber keine Vollmacht vom Ministerium, sich in Wilna auf diese Weise zu äußern. Wie schon allein aus seinem Bericht hervorgeht, der ungefähr ein halbes Jahr nach seinem Aufenthalt in Wilna in der AZJ erschien, lag der Grund seiner Reise vor allem in der Sondierung der gegenwärtigen Lage.84 Lilienthal hatte also keinerlei Auftrag vom Minister erhalten, mit Zwangsmaßnahmen zu drohen, sofern sich die Wilnaer Juden weigerten, der Gründung einer oder mehrerer moderner Schulen zuzustimmen und hierfür die finanziellen Mittel bereitzustellen. Offensichtlich begriff der deutsche Rabbiner aber diese Reise als Gelegenheit, um der bei seinem Aufenthalt in Petersburg im Januar 1841 projektierten Umgestaltung des jüdischen Bildungssystems wieder einen Anstoß zu geben, wobei er sich eine führende Rolle sichern wollte, indem er von seinen Glaubensgenossen die Zustimmung zur selbständigen Errichtung von Schulen zu erwirken versuchte. Trotz Lilienthals eindringlichen Aufforderungen, der Gründung von neuen Lehranstalten zuzustimmen, ließen sich die Gemeindevorsteher aus gutem Grund dennoch nicht überzeugen. So äußerte nach Lilienthals eigener Darstellung ein Wilnaer Jude starke Zweifel hinsichtlich der tatsächlichen Beweggründe der Regierung, worauf Lilienthal antwortete, dass Untätigkeit nur den Zorn der Obrigkeit gegen die jüdische Bevölkerung schüren werde und daher viel gefährlicher sei. Stattdessen sei es ratsamer, dass die Juden selbst Schulen nach ihren eigenen Plänen und mit eigenen Mitteln gründeten, die unter ihrer eigenen Oberaufsicht stünden, um so den beabsichtigten Maßnahmen der Regierung zuvorzukommen. Auf die bange Frage eines anderen Wilnaer Juden, welche Garantien ihnen Lilienthal geben könne, dass die jü82 Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 3. 83 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 4; Lilienthal, Meine Reisen in Rußland V, in: Jüdisches Volksblatt 3 (1856), Nr. 36, 141. 84 Vgl. AZJ 41, 8. 10. 1842, 604.

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dische Religion unangetastet bleibe, entgegnete der deutsche Rabbiner, er könne keine solchen Sicherheiten bieten, fügte aber hinzu: „,Alles, was ich als ihr Glaubensbruder versprechen kann, ist, daß ich in dem Regierungsplane nicht einen Schritt weiter gehen werde, als ich die vollständigste Zusicherung habe, daß nichts gegen unsere heilige Religion unternommen werde, daß es mir erlaubt sei, mein Amt niederzulegen, sobald ich mich vom Gegentheil überzeugt habe und daß ich mich durch keine Beleidigung von Seiten meiner Brüder von dem in dieser heiligen Stunde gegebenen Versprechen lossagen werde.‘“85

Dieses nach Lilienthals eigenen Angaben gegebene Versprechen konnte bei den Anwesenden die Furcht vor den Absichten der russischen Regierung offenbar dämpfen. Aber damit waren noch nicht alle Sorgen der Wilnaer Juden entkräftet. Wie folgende Äußerung zeigt, lehnte man einen Kulturtransfer aus dem deutschen Judentum ab, weil man befürchtete, dass damit auch Glauben und religiöse Praxis ungeheuren Schaden nähmen: „,Aber, Doctor, da giebt es noch ein anderes Bedenken. In Deutschland, wo sie seit dreißig Jahren das Lernen des Talmud vernachlässigt und dafür dem Studium allerhand profaner Wissenschaften gehuldigt haben, ist unsere jüdische Religion furchtbar verletzt, die Bande des himmlischen Joches sind gelockert, die alte Ehrfurcht vor unseren heiligen Gebräuchen ist dahin und viele unserer Brüder sind zum Christenthume übergegangen. Liegt es also nicht im Interesse unseres Glaubens, alle diese Neuerungen von uns fern zu halten, fest an den alten Sitten unseres Lebens zu hangen, unsere Kinder zu erziehen, wie wir erzogen wurden und in der Vergangenheit eine bessere Garantie für unser Leben und Wohlergehen zu finden, als in den neuen, wilden Plänen der jetzigen Neuerer?‘ ,Mein theurer Freund,‘ erwiederte ich ihm, ,das Rad der fortschreitenden Zeit kann nicht durch des Menschen schwache Hand aufgehalten werden. Auch in Deutschland herrschte die alte Sitte mit allgemeiner, allmächtiger Gewalt, trotzdem aber bahnten sich die neuen Ideen unaufhaltsam ihren Weg bis in die abgeschlossenen, verborgensten Wohnungen der Juden. Die alten Rabbinen verdammten und verstießen Mendelssohn und sein Thun, und anstatt die neuen Ansichten mit den Anforderungen unserer Religion in Einklang zu bringen, sahen sie entweder mit Gleichgültigkeit und Verachtung, oder mit kummervollem, unthätigen Mitleiden auf die unter ihren Augen vorgehenden Veränderungen. Wir dürfen ihrem Beispiele nicht folgen; wir müssen den unglücklichen Folgen dadurch begegnen, daß wir innige Liebe und Anhänglichkeit an unsere Religion mit den Anforderungen des Lebens zu vereinbaren suchen.‘“86 85 Lilienthal, Meine Reisen in Rußland V, in: Jüdisches Volksblatt 3 (1856), Nr. 36, 141 – 142. In seinem Bericht vom 19. Dezember 1841 hatte Lilienthal die Befürchtung eines Eingriffs in die Religion und eine allmähliche Überführung zur Taufe tatsächlich als einen Einwand der Wilnaer Juden angegeben. Lilienthal hatte aber versichert, dass keine religiöse Institution angegriffen und die Regierung streng auf eine religiös-moralische Erziehung achten werde. Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 4. 86 Lilienthal, Meine Reisen in Rußland V, in: Jüdisches Volksblatt 3 (1856), Nr. 36, 142.

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88 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Dieser Dialog ist für unseren Zusammenhang außerordentlich aufschlussreich. Die Äußerung des traditionsorientierten Wilnaer Juden zeigt in erster Linie Furcht vor den negativen Folgen eines Kulturtransfers für die jüdische Religion. Nach seiner Ansicht bedeutete die Einführung von säkularen Fächern in den jüdischen Bildungskanon eine Zurückdrängung des TalmudStudiums und wirke sich somit überaus schädlich auf den Glauben aus. Angesichts des abschreckenden Beispiels des deutschen Judentums dürfe man, so der Gedanke des Wilnaer Juden, der sicherlich exemplarisch für die Auffassung traditioneller Juden war, keine Reformen zulassen. Dies war eine klare Absage an die als Kulturtransfer betrachtete Umgestaltung des jüdischen Bildungswesens im Zarenreich. Dass sich Lilienthal demgegenüber als Befürworter eines gemäßigten Kulturtransfers aussprach und dabei den großen Moses Mendelssohn anführte, war natürlich nicht anders zu erwarten, galt er doch selbst als Neuerer und Reformer. Ein grundsätzlicher Einwand der Wilnaer Juden war die berechtigte Frage, inwiefern Bildung überhaupt von Nutzen sei. Offensichtlich spielten sie damit auf die rechtlichen Beschränkungen für die jüdische Bevölkerung im Ansiedlungsrayon an, die, wie schon erwähnt, es kaum ermöglichten, die erworbenen säkularen Kenntnisse für den Lebenserwerb zu nutzen. Lilienthal erklärte den Wilnaer Juden hierauf die Bedeutsamkeit eines gebildeten Menschen und erläuterte ihnen, dass an ihrer großen Armut mitunter auch ihre Unbildung schuld sei. Zudem werde die Regierung den Gebildeten gerne mehr Freiheiten und Rechte zugestehen.87 Doch auch dieses vage Versprechen war wenig überzeugend. Der Widerstand formierte sich immer stärker. Zu den Hauptgegnern moderner Schulen gehörten die Lehrer der Chadarim, die Melamdim. Aus einem Brief Lilienthals und Rosenthals an das Bildungsministerium geht hervor, dass es in Wilna offenbar seit mehr als 100 Jahren Usus war, dass die Melamdim, von denen es in Wilna etwa 200 gab und die zusammen ein Einkommen von ungefähr 7 000 Silberrubel bezogen, 7,5 % davon an die Waisenanstalt abtraten. Momentan weigerten sie sich jedoch, diese Zahlung zu leisten. Da aber Lilienthal und Rosenthal die Absicht hatten, die Waisenanstalt der künftigen Armen-Freischule anzugliedern, hätten sie damit die Abgabe wieder entrichten müssen, und zwar an die neue Lehranstalt. Dies lehnten die Melamdim ab und beabsichtigten sogar, beim Zaren selbst eine Bittschrift einzureichen. Wie aber die beiden jüdischen Abgesandten gegenüber der Regierung deutlich machten, hätte diese Abgabe einen doppelten Vorteil. So könne man erstens die Anzahl der Melamdim und ihr „Unwesen“ beaufsichtigen und zweitens ihren Lebensunterhalt erschweren, was sogar helfen würde, ihr wünschenswertes Verschwinden herbeizuführen. Damit hätte man die bedeutendste Opposition ausgeschaltet. Denn wie schon

87 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 4.

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in Riga würden auch in Wilna die Melamdim die größten Gegner der Schulen sein.88 Im Hinblick auf die Aussicht, ihren Erwerbszweig zu verlieren, war es kaum verwunderlich, dass vor allem die Melamdim den Widerstand gegen moderne Schulen anführten.89 In ihrer Oppositionshaltung wurden sie dabei von vielen Eltern unterstützt. Da in deren Augen der Melamed sowohl die Funktion des Lehrers als auch die des „Kindermädchens“ ausübte und zudem hierfür nur eine ganz geringe Entlohnung erhielt, waren zahlreiche Mütter und Väter gegen alle Pläne, die auf die Beseitigung seines Berufsstands abzielten.90 Als sich bei Lilienthal der Eindruck verfestigte, dass die Wilnaer Juden auf Zeit spielten und versuchten, seinen dreiwöchigen Aufenthalt ohne Zugeständnisse in der Schulfrage zu überstehen, wurde er ungehalten. Aufgebracht eilte er zusammen mit Rosenthal in das Kahalsamt, um ein Ultimatum zu stellen: Sofern am folgenden Tag die finanziellen Mittel für die Schulen noch immer nicht bestätigt wären, würde er abreisen und alle diese Vorkommnisse dem Minister berichten.91 Die unverhohlene Drohung blieb nicht wirkungslos. In einer stürmischen Sitzung des Kahals wurden schließlich sechs Tage nach Lilienthals Ankunft in Wilna aus verschiedenen Fonds die Zahlung von 2 200 Silberrubel sowie die Verwendung des Hauses der Talmud Tora-Schule für die Errichtung einer Schule genehmigt.92 Nun fanden sich auch die Provinzbehörden zur Unterstützung bereit. Vorbehaltlich der Genehmigung durch die Regierung versprach der Wilnaer Zivilgouverneur nicht nur eine zusätzliche Summe von 1 650 Rubel, sondern verpflichtete sich auch, eine offizielle Bewilligung von Rosenthals Antrag zu erwirken, von jedem Rubel, der für jedes Stück geschlachtetes Vieh von der Gemeinde erhoben werde, 25 Kopeken dem Schulfonds zu überlassen. Dies würde einen zusätzlichen Betrag von 1 200 Rubel ergeben. Wie Lilienthal und Rosenthal berichten konnten, würde neben weiteren Einnahmen von mindestens 1 000 Rubel für Schulgeld demnach der Schulfonds nun aus 6 050 Rubel jährlich bestehen,93 eine Summe, die stattlich war, selbst wenn man berücksichtigt, dass sie für die Unterhaltung von zwei Schulen vorgesehen war. Neun Jahre später sollten die Kosten für die Rigaer jüdische Gemeindeschule gerade einmal auf 1 120 Rubel im Jahr taxiert werden. Nachdem Lilienthal und Rosenthal die Finanzierung sichergestellt hatten, 88 Brief Lilienthals und Rosenthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 14. 1. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 12. 89 Vgl. hierzu auch Meisl, Haskalah, 91 – 92. 90 Vgl. Beleckij, Vopros, Nr. 2, 18. 91 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 5. 92 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 5 – 6. 93 Vgl. Brief Lilienthals und Rosenthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 6. 1. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 8. Die genaue Summe der zugesicherten Mittel für die Schulen wird je nach Bericht etwas unterschiedlich angegeben.

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90 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ersuchten sie den Kurator des Lehrbezirks um Bestätigung der Errichtung von zwei modernen jüdischen Schulen in Wilna, wobei eine Lehranstalt in Anlehnung an die traditionellen Talmud-Torot als Armen-Freischule, die andere als eine für Kinder vermögender Eltern mit einem monatlichen Schulgeld von einem Rubel konzipiert war. Der Armen-Freischule sollte das Waisenhaus angegliedert werden, und die Zöglinge sollten gemäß dem aufklärerisch-utilitaristischen Ideal der „Produktivierung“ vor allem zu Landwirtschaft und Handwerk hingeführt werden, wozu Technologie, Acker- und Gartenbau als Unterrichtsfächer in den Lehrplan aufgenommen werden sollten. Diejenigen, die sich vor allem für die Landwirtschaft eigneten, sollten mit 16 Jahren der Obrigkeit als potentielle Kolonisten vorgestellt werden.94 Zwar hatten Lilienthal und Rosenthal zunächst die Zustimmung zur Gründung und Finanzierung von zwei modernen Schulen erwirken können, doch waren sie realistisch genug, um zu wissen, dass alles auf unsicherem Boden stand. Schon im Dezember hatte Lilienthal Duksˇta-Duksˇinskij gebeten, Uvarov zu veranlassen, ein ermunterndes Reskript an den Wilnaer Kahal zur Beschleunigung der Verhandlungen über den Schulplan zu richten. Dies würde sich, so meinte er, nicht nur auf Wilna, sondern auch auf alle benachbarten Gouvernements sehr vorteilhaft auswirken.95 Anfang Januar 1842 warnten Lilienthal und Rosenthal in einem Schreiben an das Bildungsministerium davor, dass noch große Hindernisse und Intrigen bei der Errichtung von Schulen in Wilna bevorstünden. Deshalb solle Uvarov eine Persönlichkeit nach Wilna schicken, die das Vertrauen seiner Glaubensgenossen besitze und durchsetzungsstark sei, was, so sei zu hoffen, Auswirkungen auf die benachbarten Gouvernements haben würde.96 Damit zeigte sich, dass Lilienthal und auch Rosenthal die jüdische Bildungsreform insgesamt im Blick hatten und keineswegs bereit waren, bereits gewonnenes Terrain in dieser Beziehung wieder fahrlässig aufzugeben. Hatte man dies aber auch in Petersburg erkannt? Ende Januar 1842 rühmten die bedeutendsten Repräsentanten der Haskala in Wilna in einem Schreiben an Uvarov das Wirken Lilienthals und Rosenthals hinsichtlich der Zustimmung zur Gründung von zwei Schulen, äußerten jedoch gleichzeitig auch die Befürchtung, dass dies alles durch Intrigen doch noch scheitern könne. Um dieser Gefahr vorzubeugen, sollte Lilienthal in Wilna bleiben und das Direktorat für die beiden neuen Schulen übernehmen, da nur er das Projekt realisieren könne und sich auch das Ansehen und Vertrauen aller Wilnaer Juden während seines Aufenthalts habe erwerben können. Offenbar hatte Lilienthal also tatsächlich großen Eindruck bei den Wil94 Vgl. Brief Lilienthals und Rosenthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 14. 1. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 9 – 11. 95 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 6. 96 Vgl. Brief Lilienthals und Rosenthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 6. 1. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 9 – 10.

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naer Maskilim hinterlassen und sich als unabkömmlicher Realisierer der örtlichen Umgestaltung des jüdischen Schulwesens darstellen können. Wie die Unterzeichner der Eingabe – der Rabbiner Israel Gordon, Hirsch Kacenelenbogen (1796 – 1868), Mordechai Aaron Ginzburg, Benjamin Mandel’sˇtam und Abraham Lebenzon (1794 – 1878) – weiter erklärten, könne aber mit dieser Maßnahme, also der Übersiedlung Lilienthals nach Wilna, nicht nur das bereits Begonnene realisiert werden, sondern es werde sich zudem auf Grund der grenzenlosen Sorge Lilienthals und Rosenthals die Anhängerschaft der Aufklärung unter den Wilnaer Juden stetig vergrößern und sich diese auch bei den Juden in den anderen Gouvernements ausbreiten.97 Dies war einerseits ein beachtliches Lob herausragender Wilnaer Maskilim für den „fremden“ Mittler Lilienthal und dessen Fähigkeiten, andererseits aber auch eine ernsthafte Warnung von Personen, die mit den lokalen Verhältnissen vertraut waren. Etwas mehr als zwei Wochen später sollte der für Wilna zuständige Kurator des Weißrussischen Lehrbezirks Gruber in einem Brief an Sˇirinskij-Sˇichmatov ebenfalls darauf dringen, Lilienthal in Wilna eine offizielle Anstellung zu verschaffen, da er bei der dortigen Errichtung von jüdischen Schulen, deren Bestätigung durch die Obrigkeit bald erfolgen werde, sehr nützlich sein könne. Auch dieser Beamte stellte Lilienthals Einzigartigkeit heraus, indem er darauf hinwies, dass er außer Lilienthal niemanden habe, dem er diese Aufgabe anvertrauen könne. Allerdings war sein Vorschlag, Lilienthals Gehalt zunächst aus dem Etat des Bildungsministeriums und später aus dem Etat der jüdischen Schulen zu bestreiten, kaum dazu angetan, dem Antrag zum Durchbruch zu verhelfen.98 In seiner Antwort an den Kurator lehnte der Direktor des öffentlichen Unterrichts die Anstellung Lilienthals auf Kosten des Ministeriums ab, da solche Gelder nicht vorhanden seien. Stattdessen schlug er vor, sein Gehalt entweder aus dem (noch nicht bestätigten) Schulfonds zu nehmen oder von der Gemeinde selbst aufbringen zu lassen, die ja auch um Lilienthals Verbleiben in Wilna gebeten habe.99 Damit deutete sich schon an, welches Interesse die Regierung tatsächlich an einer Verbreitung der Aufklärung unter ihren jüdischen Untertanen hatte. Dieser Vorsatz war nur so lange ernst gemeint, wie er den Staatsetat nicht belastete. Umgekehrt war die beabsichtigte Abwälzung der Ausgaben für die neuen, modernen Schulen auf die ohnehin schon sehr verarmte jüdische Bevölkerung mehr als kontraproduktiv, galt es doch, die Zustimmung oder das Wohlwollen der überwältigenden Mehrheit der traditionsorientierten Juden zu gewinnen. Die Frage der Anstellung Lilienthals in Wilna war auch nach mehreren Monaten noch nicht gelöst. Mitte Juni wies Gruber in einem Schreiben an 97 Vgl. Eingabe Wilnaer Gemeindemitglieder an Uvarov, 26. 1. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 21. 98 Vgl. Brief Grubers an Sˇirinskij-Sˇichmatov, 12. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 27. 99 Brief Sˇirinskij-Sˇichmatovs an Gruber, Datum unklar, möglicherweise 6. 3. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 27.

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92 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Uvarov darauf hin, dass Lilienthals Anstellung als Schuldirektor in Wilna weiterhin ungeklärt sei, da der Etat für die Schulen, aus dem sein Gehalt bezahlt werden solle, vom Innenminister immer noch nicht genehmigt worden sei.100 Das langsame Mahlen der bürokratischen Mühlen in Petersburg war für den Fortgang der jüdischen Bildungsreform zweifellos von Nachteil. Während Lilienthal in Wilna keine offizielle Stelle innehatte, die für die Gründung der modernen Schulen nach allgemeiner Ansicht von großem Vorteil gewesen wäre, wusste man in Riga nicht, ob der deutsche Rabbiner, der schon seit Monaten abwesend war, überhaupt noch zurückkehren werde. Schon bald teilte der Kurator des Dorpater Lehrbezirks, zu dem Riga gehörte, dem Bildungsminister mit, dass die Rigaer jüdische Gemeindeschule, die immerhin als Musteranstalt für die beabsichtigte Reform galt, wegen Lilienthals fortwährender Abwesenheit in Unordnung zu geraten beginne.101 Obwohl Lilienthal schon Ende Januar 1842 in einem Brief an Duksˇta-Duksˇinskij einen gewissen Dr. Freystadt aus Königsberg als seinen Nachfolger in Riga vorgeschlagen hatte, da dieser auch Verwandte in Mitau habe und daher mit der Zeit dort etwas bewirken könne,102 zeichnete sich auch im Frühsommer noch keine Lösung ab. Leichtfertig schien die Regierung bereits gewonnenes Terrain wieder zu verschenken. Unterdessen hatte sich die Lage fundamental gewandelt. Während Lilienthals Aufenthalt in Wilna hatte der dortige Kahal sein Minsker Pendant eingeladen, ebenfalls an den Beratungen über die Gründung moderner jüdischer Schulen teilzunehmen. Ungefähr zehn Tage nach seiner Ankunft erhielt der deutsche Rabbiner einen anonymen Brief aus Minsk, in dem man sich entschuldigte, dass man niemanden gefunden habe, der nach Wilna reisen könne, da alle mit Privatgeschäften überhäuft seien. Allerdings sei Lilienthal sehr herzlich eingeladen, selbst nach Minsk zu kommen, um dort entsprechende Verhandlungen zu führen. In einem Begleitschreiben erklärte ein gewisser Reinherz, dass niemand es gewagt habe, diesen Brief als erster zu unterzeichnen, da man die Rache der Fanatiker, insbesondere der intrigierenden Chassidim, fürchte. Aron Lurie, ein bekannter Talmudist, sei sogar einige Tage verreist, um den Brief nicht unterschreiben zu müssen. Susel Rappoport, Schwager Luries und ebenfalls hochangesehener Talmudist, mit dem Lilienthal schon während seiner Zeit in Riga in freundschaftlichem Briefverkehr gestanden hatte, interessiere sich aber, so Reinherz, sehr für die Angelegenheit, was nicht verwunderlich war, beschäftigte sich doch Rappoport auch mit profanen Wissenschaften, wenngleich aus Angst im Verborgenen. Lilienthal war also schon zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass in der Minsker Gemeinde die Stimmung gegenüber der Gründung moderner jüdischer Lehranstalten im Allgemeinen sehr ablehnend war. In einem Schreiben an die Minsker Ge100 Vgl. Brief Grubers an Uvarov, 13. 6. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 69. 101 Vgl. Brief Uvarovs an Gruber, 10. 4. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 39. 102 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 25. 1. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 19.

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meinde wies der Rabbiner daher auf den Brief ohne Unterschriften aus Minsk hin und warnte in aller Deutlichkeit vor den negativen Konsequenzen, die eine ablehnende Haltung der Minsker Gemeinde in der Schulfrage zur Folge haben würde. Gleichzeitig schrieb er einen weiteren Brief an Rappoport, in dem er ihn aufforderte, die Initiative zu ergreifen und seine Gemeinde davon zu überzeugen, welche positiven Folgen ein entschiedener Schritt in dieser Richtung nun hätte. Diese Einschüchterung tat – zumindest zunächst – ihre Wirkung. Kurz darauf erhielt Lilienthal eine Einladung, die von allen Minsker Rabbinern sowie von Rappoport, Hurwitz, Margolin, Jeschurun und anderen angesehenen Kaufleuten und Maskilim unterzeichnet war. Der deutsche Rabbiner war aber keineswegs so naiv, zu glauben, dass damit der Widerstand bereits gebrochen sei. Wie er Duksˇta-Duksˇinskij noch vor seiner Abreise nach Minsk anvertraute, werde es sicherlich noch viele Schwierigkeiten und auch Anfeindungen geben, doch hege er die Hoffnung, dass es gelingen werde, in Minsk eine Schule zu gründen. Letztlich war für ihn die Gründung von modernen jüdischen Schulen ein Akt quasimilitärischer Eroberungen, wobei Wilna und Minsk die Bastionen waren, die fallen mussten: „Und haben wir nur Minsk und Wilna genommen, so sind die Hauptstädte der Juden die unsern.“103 Nur wenige Tage später musste er aber erfahren, dass sein „Vormarsch“ zunächst zum Stillstand gekommen war. Nachdem Lilienthal am Abend des 27. Januar 1842 in Minsk angekommen war, brachten sich die „Schul-Gegner“ nach seiner eigenen Aussage sofort in Stellung und bliesen zum Gegenangriff: „Meine Ankunft war das Zeichen zu einer wahren Revolte der Gemeinde; und die schönsten Hoffnungen, die zahlreich Bessergesinnten von meiner Ankunft sich gemacht hatten, scheiterten an diesem nicht zu stillenden Lärm von vielerlei Gegnern.“104

Nur mit Mühe gelang es Lilienthal überhaupt, eine Versammlung einzuberufen, die sodann einen tumultartigen Verlauf nahm. Als er den Anwesenden erklärte, dass er vom Minister beauftragt sei, ihnen den Willen des Monarchen mitzuteilen, schallte es ihm angeblich entgegen: „Du lügst! Der Minister hat dich überhaupt nicht geschickt!“ Einige Teilnehmer wurden ihm gegenüber noch ausfallender und riefen: „Wozu bist du, Verfolger des Judentums, hier erschienen? Oder willst du alles Heilige beleidigen und unsere Jugend verführen?“ Die Gebildeteren gaben ihm schließlich den Rat, das ganze Vorhaben aufzugeben, da doch die Regierung damit nicht mehr und nicht weniger im Sinn habe, als die jüdischen Kinder zum christlichen Glauben zu bekehren.105 103 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 1. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 16 – 18. 104 Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 34. 105 Vgl. Marek, Ocˇerki, 36. Vgl. hierzu auch Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung

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94 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert „,So lange der Staat‘“, habe die aufgebrachte Menge gemeint, „,dem Juden keine bürgerlichen Rechte zugestehe, wäre Bildung für ihn nur ein Unglück. Roh und unwissend, verschmähe er nicht das erniedrigende Brod eines Faktors, Trödlers […] und seinen Trost und seine Freude in der Religion findend, begnüge er und sein zahlreicher Hausstand, Gott vertrauend, sich mit dem kümmerlich Erworbenen; gebildet aber und aufgeklärt, und doch von jeder ehrenvollen Staatsstellung ausgeschlossen, führe das Gefühl der Unzufriedenheit zum Glaubensabfalle, und dazu würde ein ehrlicher, jüdischer Vater doch unmöglich seine Kinder erziehen.‘“106 Obwohl Lilienthal sogar Empfehlungsschreiben vom Generalgouverneur und vom Kurator des Lehrbezirks vorweisen konnte, blieben die Minsker Juden bei ihrer ablehnenden Haltung. Selbst als ihnen der Vizegouverneur – immerhin einer der höchsten Repräsentanten der Obrigkeit in der Provinz – in einer Gemeindeversammlung in harten Worten die Konsequenzen des Ungehorsams gegen den Wunsch des Generalgouverneurs auseinandersetzte, gaben sie ihren Widerstand gegen moderne Schulen nicht auf. Die Minsker Juden erklärten lapidar, dass sie freiwillig eine solche Neuerung nicht einführen würden, da dies gegen die Religion verstieße. Allein auf Befehl des Ministers selbst würde man sich, wie Lilienthal in seinem Schreiben an das Bildungsministerium berichtete, beugen.107 Insofern warnte der deutsche Rabbiner in seinem Brief von Anfang Februar an Duksˇta-Duksˇinskij angesichts seiner Erfahrungen nicht nur vor dem Schicksal, das die künftigen deutsch-jüdischen Lehrer wie auch die modernen jüdischen Schulen zu erwarten hatten, sondern verlangte auch Zwangsmaßnahmen des Ministers gegen die sich widersetzenden Juden. Erst dann würden sich die „Bessergesinnten“ „muthig und offen, u. nicht heimlich, wie jetzt, um das Banner der Aufklärung schaaren“.108 Solange also die Regierung auf die traditionsorientierten Juden keinen Zwang ausübte, standen nach Lilienthals Meinung auch die kulturellen Mittler, also die deutsch-jüdischen Lehrer, auf verlorenem Posten. Von welch grosser Bedeutung Minsk für Lilienthal bezüglich der jüdischen Bildungsreform war, ließ er einige Zeilen weiter erkennen, als er, wieder mit einer Metapher aus dem militärischen Bereich, eindringlich darauf hinwies, „dass wir Minsk nicht aufgeben dürfen, sondern trotz allen Widerstandes nehmen müssen. Denn nur dadurch werden wir der fanatischen Chasidim Meister“.109 Letztlich gebe es

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einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/ A, 13/1, 1. Teil, 35. AZJ 41, 8. 10. 1842, 605. Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij aus Minsk, 4. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 22. Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij aus Minsk, 4. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 22. Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij aus Minsk, 4. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 23.

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daher nur ein Mittel, auf das er und die kleine Schar der „Bessergesinnten“ hofften, nämlich ein „ernster Befehl“ des Ministers.110 Ungefähr eine Woche später wiederholte auch der Kurator des Weißrussischen Lehrbezirks Gruber diese Meinung in einem Schreiben an den Direktor des öffentlichen Unterrichts Sˇirinskij-Sˇichmatov. Gruber, der im Allgemeinen eine ausgesprochen negative Haltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung einnahm, erklärte, dass Lilienthals Reise nach Minsk, auch wenn es ihm nicht gelingen sollte, die Einwilligung zur Errichtung einer Schule zu erhalten, von großem Nutzen sei, da sie vor der Regierung den „wahren Geist“ der dortigen Juden aufdecken und man zu der Überzeugung gelangen werde, dass nur strenge Zwangsmaßnahmen den Erfolg der von der Regierung beabsichtigten Reform bewerkstelligen würden. Gemäß seiner betont antijüdischen Gesinnung gab der Kurator im Weiteren zwei Gründe dafür an, dass staatliche Zwangsmaßnahmen unbedingt erforderlich seien. Zum einen sei, selbst nach Ansicht einiger gebildeterer Juden, die „fanatische und widerwärtige Richtung“ ihrer gegenwärtigen Erziehung in den sogenannten Judenschulen (Gruber gebrauchte hier das despektierliche Adjektiv zˇidovskij an Stelle von evrejskij) eine der Hauptursachen, die im Volk die feindseligen Gefühle gegenüber den Christen aufrechterhielten, die Regeln der Ehre und gesellschaftlichen Moral unterdrückten und letztlich die Fähigkeit zu Fleiß und nützlicher Tätigkeit abtöteten, wodurch die Juden so schädlich für den dortigen Kreis seien. Zum anderen seien der Fanatismus der breiten Masse der Juden und ihre Vorurteile gegen alle Neuerungen so tief verwurzelt, dass nicht zu erwarten sei, dass sie ihre Überzeugungen änderten, auch wenn es unter ihnen „Bessergesinnte“ gebe, die aus tiefstem Herzen eine Reform der Juden wünschten. Allerdings sei die Zahl dieser Bessergesinnten sehr klein. Da sie die negativen Konsequenzen der Masse fürchteten, unterließen sie es auch, ihre Stimme offen zu erheben. Insofern könne nur die Anwendung von Zwangsmaßnahmen gegen die Juden zum Erfolg führen. Offenbar um vermeintlichen Einwänden der traditionsorientierten Juden gegen die finanzielle Belastung neuer Schulen den Wind aus den Segeln zu nehmen, erwähnte er noch, dass in dem ihm unterstehenden Lehrbezirk allein bis zu 2 500 jüdische Schulen, also Chadarim, existierten, wobei die jüdischen Lehrer (Melamdim) insgesamt 75 000 bis 100 000 Rubel im Jahr verdienten.111 Hatte aber Lilienthal, dessen Ansicht Gruber unterstützte, tatsächlich erwartet, dass die Autokratie bereit wäre, ihren jüdischen Untertanen in Minsk die Gründung einer modernen Schule zu befehlen, so sah er sich getäuscht. Der russische Bildungsminister Uvarov lehnte nämlich Zwangsmaßnahmen ab und setzte stattdessen auf Überzeugungsarbeit. In einem Brief wies er Gruber an, die Ältesten der Minsker jüdischen Gemeinde zu sich zu bitten und 110 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij aus Minsk, 4. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 23. 111 Vgl. Brief Grubers an Sˇirinskij-Sˇichmatov, 12. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 26.

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96 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ihnen den Wunsch der russischen Regierung darzulegen, dass aus den Juden nützliche Bürger des Staates würden, wozu insbesondere auch die Erziehung der Jugend diene.112 Lilienthal, der beabsichtigt hatte, der Minsker Gemeinde ein Schreiben Uvarovs vorzulegen, um sie so zur Schulgründung zu bewegen, war düpiert. Angesichts der Haltung Uvarovs war damit auch sein Vorschlag obsolet, diejenigen Melamdim, die die Gemeinde am meisten gegen die Gründung moderner jüdischer Schulen aufbrachten, zum Minsker Gymnasiumsdirektor zu zitieren, der ihnen mit Unterrichtsverbot drohen sollte. Ebenso war Lilienthals schriftliche Aufforderung an die Reichen und Aufgeklärten in Minsk, endlich aktiv zu werden und für ihre Ideale herauszutreten, vergeblich.113 Wer wollte es aber diesen wiederum verdenken, wenn sie es angesichts der äußerst zögerlichen Haltung der Regierung vorzogen, in Deckung zu bleiben? Lilienthal mochte zwar von der Obrigkeit an Ort und Stelle Unterstützung erhalten haben, aber die Regierung selbst hatte ihn, wie sie wohl zu Recht glauben mussten, im Stich gelassen. Somit musste Lilienthal, als er Ende Februar nach Minsk zurückkehrte, um die Gemeinde doch noch zur Gründung einer Schule zu bewegen, grandios scheitern. Fluchtartig verließ er die zu diesem Zweck einberufene Versammlung und begab sich zu seiner Unterkunft. Die aufgebrachten Minsker Juden, die den Sieg über den „Bartlosen“ und die Rettung ihrer Kinder lautstark feierten, verfolgten ihn jedoch unter Beschimpfungen, bewarfen ihn mit Steinen und drohten mit Prügel. Erst das Einschreiten der Behörden verhinderte weitere Übergriffe.114 Unmittelbar danach sandte Lilienthal einen Bericht über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben an das Bildungsministerium in Petersburg, wobei er sich bemühte, die Hintergründe des Scheiterns genau zu analysieren. Er führte aus, es seien vier verschiedene „Parteien“ gegen ihn und das Schulprojekt aufgetreten. Die Melamdim, die Lehrer in den jüdischen Elementarschulen (Chadarim), befürchteten, durch die Errichtung einer modernen Schule einen Einkommensverlust zu erleiden, und hätten daher das Volk aufgewiegelt. Die Leiter der Jeschivot, der TalmudHochschulen, wiederum hätten Angst vor einem Verlust ihres Prestiges und Einflusses und protestierten, dass Schulen den Untergang der Religion bedeuteten. Die Chassidim ihrerseits sähen in den Schulen die Möglichkeit eines Angriffs auf den Chassidismus und hätten die Losung ausgegeben: „Lieber die Kinder gemordet, als in Schulen gesendet.“ Die vierte Gruppe in der Ablehnungsfront schließlich sei die „niedere Volksklasse“ gewesen, die „leider bei den Gemeindeversammlungen auch ihre Stimme abgeben“ dürfe und die 112 Vgl. Brief Uvarovs an Gruber, 21. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 23. 113 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 27. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 31 – 32. 114 Vgl. Meisl, Haskalah, 92.

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insbesondere auf das abschreckende Beispiel der deutschen Juden hingewiesen habe, deren Aneignung von Bildung zum Glaubensabfall geführt habe.115 Ähnlich wie die Juden in Wilna führten also auch die Juden in Minsk ihre Furcht vor den negativen Folgen eines Kulturtransfers als Grund für ihre ablehnende Haltung an. Daneben hatten sie aber noch einen weiteren gewichtigen Einwand, den Lilienthal durchaus teilte, dessen Widerlegung aber von der Regierung Zugeständnisse verlangte, zu denen sie nicht bereit war. Wie könne, so fragten die Schulgegner in Minsk, für die Juden Bildung überhaupt von Nutzen sein, wenn sie auch weiterhin wegen rechtlicher Beschränkungen keinen anderen Beruf ausüben dürften? Würde die Regierung den Juden besondere Privilegien, wie zum Beispiel Zugang zum Staatsdienst, gewähren, so wüsste man, warum sich die Juden Bildung aneignen sollten. Da aber nach ihrer Auffassung aus der Bildung keine weiteren Vorteile entstanden, betrachtete man Schulen nur als Mittel zum Glaubensabfall. Darüber hinaus, so meinten sie, seien moderne Lehranstalten, insbesondere für die Armen, unnötig, da die reicheren Juden schon jetzt ihre Kinder im Russischen und Polnischen unterrichten ließen.116 Wie Lilienthal weiter berichtete, hatte er versucht, die Einwände der Minsker Juden zu entkräften. Hatten die dortigen Juden das abschreckende Beispiel der deutschen Juden als Begründung gegen die Errichtung moderner Schulen angeführt, so gab der Rabbiner zu bedenken, dass die jüdische Religion und das jüdische Volk verachtet und verhasst seien und es daher die „heiligste Pflicht“ sei, „beide in den Augen unserer christlichen Brüder zu heben und zu verherrlichen, und worin ihnen mit schönen Beyspiel ihre deutschen Glaubensgenossen schon vorangegangen wären“. Allein schon die höchst unterschiedliche Bewertung der historischen Entwicklung des deutschen Judentums in den letzten Jahrzehnten demonstrierte die Unmöglichkeit eines Konsenses. Insofern waren auch alle weiteren Argumente des deutschen Rabbiners, der ja diese Entwicklung augenscheinlich verkörperte, wohl vergebens. Warum sollten sich traditionsorientierte Juden davon überzeugen lassen, dass die Schulen nicht nur die Vermittlung von praktischen Kenntnissen zum Lebenserwerb bezweckten, sondern auch, wie Lilienthal betonte, die moralische Hebung des Menschen, was sowohl die Existenz des Glaubens wie auch die Garantie eines besseren bürgerlichen Lebens sichern konnte? Hier argumentierte ein deutscher Jude aus seinem aufgeklärten Blickwinkel, der für russländische Juden wenig attraktiv und glaubwürdig erschien. Dabei ist zu beachten, dass beide Seiten in ehrlicher Absicht für eine positive Zukunft des Judentums im Zarenreich stritten. Für den promovierten Rabbiner aus München lag das Heil der Juden vor allem in der Aneignung von 115 Vgl. Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 34. 116 Vgl. Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 34 – 35.

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98 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Bildung, für seine Widersacher allein in der Bewahrung der Religion und der Tradition. Insofern war es nicht nur Gekränktheit, sondern vor allem auch Unverständnis, wenn Lilienthal in seinem Bericht an das Ministerium schrieb, es sei die schönste Rache für ihn, wenn die unschuldigen Kinder gegen den Willen ihrer verblendeten Väter in den Genuss einer Schule kämen.117 War aber die massive Abwehrhaltung der traditionsorientierten Juden wirklich so unverständlich? Was Lilienthal offenbar letztlich nicht in den Sinn kam, war die Frage, ob man hier nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun wollte. Abgesehen von einem kleinen Kreis von Maskilim waren die Ideen der Haskala im Zarenreich noch immer wenig verbreitet. Anstatt eine evolutionäre Entwicklung abzuwarten, setzte Lilienthal auf einen revolutionären Akt – und vergaß dabei, dass auch im deutschen Judentum die Modernisierung schon seit mehr als einem halben Jahrhundert im Gange war und zu diesem Zeitpunkt alles andere als abgeschlossen war. Gerade die deutschen Juden auf dem Land, aber nicht nur sie, waren in ihrer Mehrheit bislang nur bedingt von der Aufklärung und vom Bildungsideal erfasst worden.118 Lilienthal, von den Minsker Juden als „Religionsverräter“ und „Verführer“ bezeichnet, erkannte zwar das Dilemma, zog daraus aber nicht die entsprechenden Schlussfolgerungen. Zu Recht bemerkte er, dass der Widerstand gegen die Schulen vor allem auch in der Unkenntnis des Konzepts Schule begründet liege und man daher den Juden zunächst den Charakter einer Schule, die lediglich Religion und Sittlichkeit vermittele, näherbringen müsse. Ebenso müsse schon im Vorfeld unter den Juden eine Partei der Schulbefürworter, Lilienthal meinte natürlich die Maskilim, geschaffen werden, da sonst die Schulen als etwas außerhalb des Judentums Stehendes betrachtet würden und somit niemand seine Kinder dorthin schicken würde. Daher rief er nochmals zur Unterstützung der Minorität der Maskilim auf, damit diese es wagten, offen für ihre Ideale einzutreten, wobei er in Bezug auf die Anstellung deutsch-jüdischer Lehrer hinzufügte: „Und nur durch diese Minorität wird es den Deutschen, die von der Regierung an die neuzuerrichtenden Schulanstalten berufen werden sollen, möglich werden, mit ihrer Kleidung, Sprache und Gesittung zu existieren. Denn werden die Juden sehen, dass sie, ohne weiteres zu befürchten, jeden Deutschen so wie mich jetzt in Minsk behandeln dürfen, so wird es den Ausländern vom Gram und Kummer, den man ihnen verursacht, unmöglich seyn, das übertragene Amt lange führen zu können. Man wird sie in ihrer deutschen Tracht verspotten, ihren Umgang fliehen, ihre Gesellschaft meiden u. die infamirendsten Lügen wieder [sic!] sie ersinnen. Wird die Regierung aber mich nun gegen diese Fanatiker unterstützen und ihnen zeigen, dass unser guter Wille mit der ganzen Autorität derselben durchgesetzt wird, so wird man die deut117 Vgl. Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 36. 118 Vgl. hierzu vor allem Lowenstein, Modernisation, 41 – 56.

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schen bei ihrer Ankunft fürchten u. die Guten werden sich ohne Scheu offen an sie anschliessen können.“119

Lilienthal setzte also weiterhin auf einen Kulturtransfer durch Einschüchterung und Zwangsmaßnahmen, wobei er den anzustellenden Lehrern aus dem deutschen Judentum eine Führungsrolle zuweisen wollte. Angesichts der Haltung der traditionsorientierten Juden gegenüber ihren deutschen Glaubensgenossen hätten sie dies zweifellos als einen Akt kultureller Hegemonialisierung aufgefasst. Wären damit Aufklärung, Bildung und moderne Schulen nicht auf lange Zeit diskreditiert gewesen? Doch Lilienthal, nach eigenen Angaben „durch die mannigfachsten Kränkungen, durch die heftigsten Verläumdungen, die schmächlichsten Verunglimpfungen verbittert“,120 sprach sich nur noch für die Anwendung von Zwangsmitteln aus. So schlug er vor, die örtliche Talmud-Tora der künftigen Schule in Minsk anzugliedern und außerdem die sogenannte Blumes-Klause, ein Bethaus der Chassidim, zu schließen. Damit hätte man nicht nur das notwendige Kapital für die projektierte Lehranstalt gehabt, sondern gleichzeitig ein Exempel an den Chassidim statuiert, wodurch „endlich Minsk von seiner grössten Plage befreit“121 worden wäre. Nochmals rief der deutsche Rabbiner die Regierung dazu auf, der Minsker Jüdischen Gemeinde einen strikten Befehl zur Schulgründung zu erteilen, was letztlich dazu führen würde, dass man in jeder Gemeinde Litauens leicht eine Schule gründen könne, da ja Widerstand vergebens sei. Letzten Endes hänge von einer derartigen Maßnahme der Erfolg der gesamten jüdischen Bildungsreform ab.122 Lilienthals Ruf nach Zwangsmaßnahmen erhielt nur zwei Wochen später erneut Unterstützung vom Kurator Gruber, der in einem Brief an Uvarov Ähnliches forderte.123 Sollte die Regierung zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht überzeugt gewesen sein, so bestand für sie bald Anlass, ihre Meinung zu ändern. Die erfolgreiche Auflehnung der Minsker Juden gegen die von Lilienthal propagierten Schulpläne ermutigte schließlich auch die Juden in Wilna. Als Lilienthal am Pessachfest dorthin zurückkehrte, um noch die endgültige Bestätigung des Schuletats aus Petersburg abzuwarten,124 hörte er nach eige119 Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 38. 120 AZJ 41, 8. 10. 1842, 606. 121 Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 37. 122 Bericht Lilienthals über den Versuch der Gründung einer jüdischen Schule in Minsk u. das Misslingen desselben, 28. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 39. Nur vier Tage zuvor hatte Lilienthal in einem anderen Schreiben die Wichtigkeit betont, „dass die Regierung an Minsk ein Exempel statuiere, dass der Widerstand der Juden gegen die Versuche, Bildung bei ihnen einzuführen, rein vergeblich ist“. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 24. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 29. 123 Vgl. Brief Grubers an Uvarov, 10. 3. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 33. 124 Vgl. Bericht Lilienthals an Uvarov, 23. 4. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 49 – 50.

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100 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ner Aussage „die Opposition nun laut über den Gottgefälligen Muth der Minsker jubeln, und die vorschnellen Zusagen der Bessergesinnten verunglimpfen“.125 Damit rächte sich nun, dass die Regierung es nach mehreren Monaten noch immer nicht vermocht hatte, den Schuletat für Wilna zu genehmigen. Unverhohlener Hass schlug Lilienthal nun entgegen,126 der sich schließlich zu einem regelrechten Aufruhr auswuchs, an dem 4 000 Wilnaer Juden beteiligt waren. Erst durch den Einsatz der Feuerwehr, die mit Wasser gegen die Protestierenden vorging, sowie durch zahlreiche Verhaftungen konnten die örtlichen Behörden die öffentliche Ordnung wiederherstellen.127 Lilienthal verließ, wie schon Minsk, so auch Wilna fluchtartig. Was so hoffnungsvoll begonnen hatte, war letztlich grandios gescheitert, wobei dies vor allem auch auf die mangelnde Unterstützung seitens der Regierung zurückzuführen war. Durch den Erfolg des Widerstands ermutigt, sandten nur wenige Wochen später vier Wilnaer Juden eine Beschwerde an Uvarov, in der sie erklärten, dass sich bei der Entscheidung der Wilnaer jüdischen Gemeinde über die Zuweisung finanzieller Mittel für die Errichtung von jüdischen Schulen Missbräuche ereignet hätten, wobei sie insbesondere die negative Einflussnahme Lilienthals und Rosenthals anprangerten. Deren Handlungen könnten, so die Meinung der Beschwerdeführer, der Aufklärung unter den Juden nicht förderlich sein, sondern führten nur zu einer vollständigen Verfeindung innerhalb der Gemeinde. Konkret baten sie nun den Minister, den entsprechenden Beschluss der Wilnaer Gemeinde für ungültig zu erklären, da er nicht, wie es das jüdische Gesetz vorsehe, im Kahalsamt abgefasst worden sei, sondern im jüdischen Krankenhaus. Darüber hinaus sei die Beschlussfassung in der allen unverständlichen deutschen Sprache geschrieben, und die Unterschriften seien unter Drohungen eingeholt worden, wobei Initiatoren dieser ganzen Angelegenheit „der ausländische Jude Lilienthal“ sowie der Wilnaer Kaufmann Nissan Rosenthal gewesen seien. Grundsätzlich lehnten die vier Wilnaer Juden angesichts des ärmlichen Zustands der Gemeinde den Beschluss des Kahalsamts über die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Eröffnung von Schulen ab.128 Diese Begründungen mögen zum Teil zwar konstruiert gewesen sein, ganz aus der Luft gegriffen war die Beschwerde aber nicht. Tatsächlich hatte Lilienthal, wie er dem Ministerium selbst berichtet hatte, nur durch sein Ultimatum die Zustimmung erwirken können, wobei die Frage durchaus berechtigt war, ob dies nicht die Ideale der Haskala und deren Verbreitung konterkarierte. Dass darüber hinaus offenbar der Maskil Hirsch Kljacˇko, der 125 AZJ 41, 8. 10. 1842, 606. 126 Vgl. die Schilderung eines Augenzeugen bei Stanislawski, Tsar, 75. Angeblich hatte man zunächst auch versucht, Lilienthal zu bestechen, damit er seine „Mission“ aufgebe. Vgl. Bericht Lilienthals an Uvarov, 23. 4. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 49 – 50. 127 Vgl. Stanislawski, Tsar, 75; Marek, Ocˇerki, 38; Whittaker, Origins, 205. 128 Vgl. Brief an Uvarov, 14. 4. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 22/3, 1 – 4.

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selbst kurz zuvor eine moderne jüdische Schule in Wilna gegründet hatte, im Namen der vier Juden die Beschwerde verfasst hatte, war ein weiteres Alarmsignal. Das Ministerium ließ zwar die Beschwerde unbeantwortet, holte aber Erkundigungen über Hirsch Kljacˇko beim Kurator des Lehrbezirks ein, da man ernste Zweifel an seiner Zuverlässigkeit bezüglich der Leitung der jüdischen Schule hegte.129 Gruber konnte jedoch Entwarnung geben. Er teilte mit, dass es sich bei dem genannten Hirsch Kljacˇko nicht um den Wilnaer Juden handelte, der im vorigen Jahr dort eine private jüdische Schule errichtet habe, sondern um einen ebenfalls aus Wilna stammenden Namensvetter. Was jedoch den Schulleiter Kljacˇko angehe, so bestünden tatsächlich zwischen ihm und Rosenthal Unstimmigkeiten. Da Kljacˇko selbst der Schulverwaltung bereits die Errichtung von jüdischen Schulen, finanziert durch Einnahmen aus der Korobka und den Passgebühren fremder Juden, vorgeschlagen habe, beanspruche er die Führerschaft in dieser Angelegenheit und sehe die Konkurrenz Rosenthals ungern. Man hätte noch hinzufügen können, dass er natürlich auch, wie andere aufgeklärte Juden, die Konkurrenz Lilienthals missbilligte, ein Umstand, der schon bald deutlich zu Tage treten sollte. Doch habe Kljacˇko, so fügte Gruber hinzu, als einer der wenigen Juden die Notwendigkeit einer Hebung des Loses seiner Glaubensgenossen verstanden. Dies beweise er durch seine Sorge um die von ihm errichtete Schule, die vollkommen den Vorstellungen der Regierung entspreche, wie auch durch die ausgezeichnete Bildung seiner eigenen Kinder.130 Schon nach dem Scheitern in Minsk hatte Lilienthal allgemeine Schlussfolgerungen daraus für die Umgestaltung des jüdischen Bildungswesens gezogen und sie dem zuständigen Ministerium in Petersburg schriftlich mitgeteilt. Aus seinem Brief geht auch hervor, warum sich die Reform bis dahin verzögert hatte. Offenbar hatte das Finanzministerium erhebliche Bedenken geäußert, wie die künftigen jüdischen Schulen finanziert werden sollten. Während die Schulgegner ihren Widerstand unter anderem auch mit den zusätzlichen Kosten, die der jüdischen Bevölkerung aufgebürdet werden sollten, begründeten, war dies in den Augen Lilienthals nur ein Vorwand, um moderne Schulen mit säkularem Unterricht zu verhindern. Der deutsche Rabbiner erklärte, es seien in jeder jüdischen Gemeinde, so auch in Minsk, wo 2 500 Silberrubel „rein an müssige Talmudisten verschleudert“ würden, entsprechende Geldmittel ausreichend vorhanden, um die neuen Lehranstalten zu finanzieren. Daher setzte er nach seinen Erfahrungen in Minsk grundsätzlich auf einen Befehl der Regierung: Jeder jüdischen Gemeinde im Reich solle die Zahl der Schulen, die zu gründen sie verpflichtet sei, mitgeteilt und 129 Schreiben des Bildungsministeriums an Gruber, 5. 5. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 22/3, 5 – 6. 130 Schreiben Grubers an Uvarov, 6. 6. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 22/3, 6 – 7. Stanislawski erwähnt in seinem Werk über Zar Nikolaus und die Juden, dass sich Hirsch Kljacˇko an einer Denunziation gegen Rosenthal und Lilienthal beteiligt habe. Stanislawski, Tsar, 93. Wie dargestellt, war dies nach Aussage Grubers aber falsch.

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102 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ihr eine Frist von einem Monat gesetzt werden, binnen deren sie darzulegen habe, wie sie die dazu nötige Summe aufzubringen gedenke. „[U]nd in weniger als in einem Jahre würden alle Gemeinden, sowohl Schulen, als die nöthigen Mittel haben.“ Ob diese Ansicht Lilienthals gerade nach seinem Scheitern in Minsk wirklich realistisch war, ist sehr fraglich. Seinen ganzen Erfindungsreichtum offenbarte Lilienthal, als er schließlich konkrete Vorschläge zur Finanzierung der Schulen machte. Man könne, meinte er, zu diesem Zweck ja sowohl die Sabbatkerzen als auch die Fenster der jüdischen Häuser besteuern, was „zwei sehr hübsche Quellen“ wären, wobei er sogar die ihm nur allzu bekannte grenzenlose Armut großer Teile der jüdischen Bevölkerung im Ansiedlungsrayon berücksichtigt hatte. Denn die Fenstersteuer würde, wie er bemerkte, nur die „Begüterten“ treffen. Neben der Finanzierungsart führte Lilienthal noch weitere Vorschläge für die Reform des Bildungswesens an, die auf eine radikale Umwälzung des traditionellen jüdischen Bildungswesens abzielten. Die Talmud-Torot sollten beseitigt werden, „denn hier fängt der die Jugend verderbende Unterricht an“. Zudem sollte die Zahl der Melamdim, die Lilienthal in Wilna und Minsk größten Widerstand entgegengesetzt hatten, vermindert und diese mit der Zeit ganz abgeschafft werden. Als Maßnahmen dazu schlug Lilienthal vor, sie und ihre Zöglinge einmal im Quartal einer Prüfung zu unterziehen. Ein negatives Ergebnis würde automatisch ein Unterrichtsverbot nach sich ziehen. Darüber hinaus sollte in jeder Stadt eine Obergrenze für Melamdim festgelegt und ein bestimmter Prozentsatz ihres Einkommens den neuen Schulen zugewiesen werden. Ebenso wie die Melamdim sollten auch die Klausen, also die Orte, „wo müssige Menschen […] ohne Zweck über den Talmud brüten“, sowie die Chassidim durch gesetzliche Maßnahmen beschränkt werden. Damit rief Lilienthal die Regierung zu legislativen Restriktionen gegen all diejenigen auf, die als die größten und entschiedensten Gegner moderner jüdischer Schulen aufgetreten waren. Harmlos mutet dagegen sein letzter Punkt an, nämlich wie wichtig es sei, die Jugend in den künftigen Armenschulen an den Ackerbau zu gewöhnen.131

1.1.6 Reaktionen auf Lilienthals Sondierungsreise in St. Petersburg Aus Wilna nach Petersburg zurückgekehrt, reichte Lilienthal beim Bildungsminister Uvarov einen langen Bericht über seine Erfahrungen in Wilna und Minsk sowie die Schlussfolgerungen daraus ein.132 Ein Großteil dieser Darstellung wurde bereits im Zusammenhang mit den anderen Briefen und Berichten erwähnt und muss hier nicht wiederholt werden. Uns soll in diesem 131 Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 24. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 28 – 30. 132 Vgl. hierzu den Bericht Lilienthals an Uvarov, 23. 4. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 48 – 57.

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Zusammenhang nur interessieren, welches weitere Vorgehen Lilienthal dem Minister in der Frage der jüdischen Bildungsreform vorschlug. Wie der deutsche Rabbiner schon seit mehreren Monaten gefordert hatte, galt für ihn auch jetzt der „Kaiserliche Befehl“ als das „erste und unerlässlichste Mittel“. Um aber den traditionsorientierten Juden nicht den Vorwand zu liefern, dass die „Neuerung zur Religionsabtrünnigkeit“ führe, sollte zudem in Wilna ein Zentralkonsistorium gegründet werden, das sich aus den bekanntesten Rabbinern und den wohlgesinntesten Laien des Reiches zusammensetzen, aber unter der Leitung deutscher Rabbiner stehen sollte. Dieses Konsistorium sollte vor allem dazu dienen, alle Befehle der Regierung durchzusetzen, wobei Lilienthal davon ausging, dass es keinen Widerstand geben würde, da die Anordnungen durch die anerkanntesten Rabbiner des Zarenreichs religionsrechtlich legitimiert gewesen wären. Dabei ließ er aber offenbar seine eigenen Erfahrungen außer Acht. Wären die Anordnungen eines Konsistoriums unter Führung deutscher Rabbiner wirklich von der jüdischen Bevölkerung akzeptiert worden? War nicht anzunehmen, dass gerade die traditionsorientierten Juden dieses als ein Instrument kultureller Hegemonialisierung aufgefasst hätten, dem sie massiven Widerstand entgegensetzen müssten? Hatte nicht Lilienthal im selben Bericht beispielsweise über die Kotzker Chassidim bemerkt, dass sie „nicht nur jeder Neuerung, sondern dem ganzen deutschen Judenthume Hass u. Feindschaft schwören“? Angesichts der Erfahrungen, die Lilienthal kurz vorher in Wilna und Minsk gemacht hatte, war ein solcher Vorschlag realitätsfern. Wie schon zuvor machte Lilienthal detaillierte Vorschläge, wie die Zahl der Melamdim reduziert und ihr Widerstand gegen neue Schulen gebrochen werden könne. Die Art der Finanzierung der Lehranstalten sollten die jüdischen Gemeinden selbst bestimmen dürfen. In den Gemeinden aber, die nicht fristgerecht einen Plan für die Finanzierung der neuen Schulen vorlegten, sollten die notwendigen Geldmittel durch Einführung einer Steuer auf Sabbatkerzen, der sogenannten Lichtkorobka, sichergestellt werden.133 Von der Fenstersteuer, die die Vermögenderen betroffen hätte, war hingegen keine Rede mehr. Darüber hinaus sollte nach Lilienthals Vorstellung eine allgemeine, aber gestaffelte Schulgebühr erhoben werden, von der nur die Ärmsten ausgenommen sein sollten. Dabei ging es Lilienthal nicht nur um die sich daraus ergebenden Einnahmen, sondern insbesondere darum, dass die Masse der Juden ihre Kinder auch tatsächlich in die neuen Lehranstalten schickte. Bei seinem Vorschlag bezog sich der deutsche Rabbiner explizit auf Erfahrungen in Belgien und Frankreich, wo sich jüdische Eltern geweigert hatten, ihre Kinder in die vom Staat errichteten Schulen zu senden. Daraufhin war dort, wie Lilienthal berichtete, die Zahlung eines geringen Schulgelds verordnet worden, was nicht nur dem Schulfonds finanzielle Mittel einbrachte, sondern 133 Diese Idee der Besteuerungsart hatte Lilienthal aus Wilna übernommen. Vgl. Bericht Lilienthals, ohne Datum. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 46.

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104 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert auch die Eltern zu dem Entschluss bewog, ihre Kinder in die Schulen zu schicken, da sie den Beitrag nicht umsonst bezahlen wollten.134 Dies wird allerdings nicht der alleinige Grund gewesen sein. Vielmehr waren es die Juden grundsätzlich gewohnt, für die religiöse Schulbildung ihrer Kinder in den Chadarim und Jeschivot bezahlen zu müssen. Allein der Besuch der TalmudTorot war kostenlos, die jedoch allgemein einen überaus schlechten Ruf hatten. Insofern wandten jüdische Väter nicht geringe Summen auf, um ihren Söhnen den Besuch der privaten Chadarim zu ermöglichen. Kostenlose Lehranstalten wären hingegen von der Mehrheit als qualitativ minderwertig angesehen worden und wohl ungeachtet der religiös motivierten Vorbehalte schon allein deshalb gemieden worden. Insofern war Lilienthals aus Westeuropa übernommener Vorschlag durchaus verständlich. Am Ende seines Berichts wies Lilienthal schließlich Uvarov in eindringlichen Worten auf die „Nothwendigkeit eines schleunigen Eingreifens der Regierung“ hin: „Denn, wenn wir jetzt nicht mit Hülfe der Regierung den Sieg über unsere fanatischen Gegner davontragen, so dürfte jeder weitere Versuch um ein Jahrhundert zu früh seyn.“ Daher sollte die Regierung rasch jüdische Schulen im ganzen Reich wie auch ein jüdisches Zentralkonsistorium gründen. Dieses Mal schien Lilienthals Warnruf seine Wirkung nicht zu verfehlen. Nur elf Tage später, am 4. Mai 1842, überreichte der Bildungsminister dem Vorsitzenden des Jüdischen Komitees, dem Minister der Reichsdomänen Graf Kiselev, eine Denkschrift, die den programmatischen Titel Über die Notwendigkeit entschiedener und unaufschiebbarer Maßnahmen bezüglich der Bildung der Juden135 trug. Uvarov teilte mit, er habe aus dem Bericht Lilienthals, der sich mehr als vier Monate in Wilna und Minsk aufgehalten habe, erkennen können, dass die Verbreitung von Bildung unter den Juden auf weitaus größere Schwierigkeiten stoße, als vom Jüdischen Komitee ursprünglich erwartet. Im Weiteren zitierte Uvarov den deutschen Rabbiner, der eine Einteilung der russländischen Juden in sechs Klassen vorgenommen hatte: Bessergesinnte, niederes Volk, jüdische Aristokratie, Klausner und Rabbiner, Melamdim sowie Chassidim. Laut Lilienthal seien, abgesehen von den Bessergesinnten, alle Gegner von modernen Schulen, da sie ihre Macht und ihren Erwerbszweig zu verlieren fürchteten.136 Aus dieser Darstellung Lilienthals zog nun Uvarov in seinem Memorandum an Kisilev die Schlussfolgerung, dass eine schnellstmögliche Umgestaltung des Judentums mittels der Jugenderziehung not134 Vgl. Bericht Lilienthals, ohne Datum. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 45 – 46. Im Übrigen wurde auch in der jüdischen Gemeindeschule in Riga, die Lilienthal seit ihrer Eröffnung im Januar 1840 leitete, von den bemittelten Eltern ein Schulgeld von fünf Rubel pro Halbjahr erhoben, während die Knaben aus nachweislich unbemitteltem Elternhaus davon befreit waren. Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 7. Aber schon 1843 wurde das Schulgeld wieder aufgehoben. Bericht Neumanns, ohne Datum (ca. Frühjahr 1860). LVVA 1, 7, 1789, 5. 135 Vgl. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 63 – 67. 136 Vgl. Bericht Lilienthals an Uvarov, 23. 4. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 50 – 51.

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wendig sei, diese Reform aber stufenweise durchgeführt werden müsse. Denn angesichts des Zustands der Juden sei die Zerstörung des Alten genauso schwierig wie der Aufbau des Neuen. Insofern sei es unvermeidlich, die Existenz der bestehenden jüdischen Schulen – Uvarov meinte vor allem die Chadarim – noch eine gewisse Zeit zu „erdulden“ und dann durch die eine oder andere Maßnahme ein „neues System“ an die Stelle der „Unbildung“ zu setzen. Um dieses Ziel der Regierung zu erreichen, sei man dabei wohl auf die „heuchlerische Mitwirkung“ traditionsorientierter Juden angewiesen, die gleichsam als Mittler zwischen der alten und der neuen Ordnung dienen könnten. Erneut war Lilienthal also mit seiner Forderung nach raschen Zwangsmaßnahmen gescheitert. Allerdings befürwortete Uvarov massive Maßnahmen gegen den „schädlichen Einfluss“ der Melamdim, die sich bis in die Details mit den Vorschlägen des deutschen Rabbiners deckten. Ebenso hatte Uvarov von diesem die vorgeschlagene Finanzierungsart übernommen, wobei er darauf hinwies, dass auch die russisch-orthodoxen Schulen im Reich durch die Besteuerung der Kerzen erhalten würden. Warum sollte man, so Uvarovs rhetorische Frage, dies nicht auch bei den Juden einführen? Daneben wies Uvarov in der Frage der jüdischen Bildungsreform noch auf zwei weitere wichtige Maßnahmen hin, die in gewisser Weise auch auf Lilienthal zurückgingen. Zum einen sollten durch Ukaz alle bestehenden jüdischen Schulen der Aufsicht der Schulobrigkeit unterstellt werden, und ebenso sollte die Errichtung staatlicher jüdischer Schulen befohlen werden. Zum anderen schlug er als Mittel zur Einführung und Durchsetzung des neuen Bildungssystems die Einrichtung einer Rabbinerkommission vor, die aus vier oder fünf der bedeutendsten Rabbiner des Reiches bestehen sollte. Damit hatte Uvarov Lilienthals Vorschlag, ein Zentralkonsistorium zu gründen, in etwas modifizierter Form übernommen.137 Nach Darstellung des Bildungsministers sollte diese Rabbinerkommission folgende acht Aufgaben haben: 1. Feststellung der momentan bestehenden jüdischen Lehranstalten und ihrer finanziellen Mittel; 2. Feststellung der Zahl der Melamdim sowie ihrer Beaufsichtigung und Prüfung; 3. Aufbau jüdischer Schulen nach dem neuen System; 4. Erlass von Maßnahmen, damit die Eltern ihre Kinder in die neuen Schulen schickten; 5. Durchsetzung der Schulbestimmungen; 6. Prüfung und Genehmigung jüdischer Schulbücher ; 7. Suche nach geeigneten Lehrern sowohl unter russländischen als auch unter ausländischen Juden; 8. Durchführung anderer Anordnungen der Schulobrigkeit. Damit wird deutlich, dass die Rabbinerkommission ursprünglich nicht als befristete, sondern als dauerhafte Einrichtung zur Umsetzung der jüdischen 137 Am Rande sei hier angemerkt, dass Ludwig Philippson in einem Leitartikel schrieb, Lilienthal habe ihm in einem Brief vom 26. 11. 1843 die Einberufung einer Rabbinerkonferenz in Deutschland vorgeschlagen, um auf diese Weise die verschiedenen theologischen Differenzen im deutschen Judentum auszuräumen. Vgl. AZJ 9, 26. 2. 1844, 117. Dementsprechend gehen also die drei historisch bedeutenden Rabbinerversammlungen, die kurze Zeit später tatsächlich stattfanden, im Grunde auf Lilienthals Idee zurück.

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106 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Bildungsreform gedacht war. Diese Absicht wurde aber kurz darauf fallengelassen, wobei der Grund hierfür nicht bekannt ist. Am 22. Juni 1842 wurden durch Ukaz alle jüdischen Lehranstalten der Kontrolle des Bildungsministeriums unterstellt mit gleichzeitiger Mitteilung, dass „zu engerem Zusammenwirken mit den Absichten der Regierung in St. Petersburg temporär“138 eine aus vier Rabbinern bestehende Kommission eingesetzt werde. Wenige Tage nach Verkündung berichtete Lilienthal in einem Brief an den Wilnaer Maskil Kacenelenbogen über den Inhalt des Ukaz und fügte hinzu: „Falls Sie sagen: ,Dieser Ukaz gibt uns aber doch kein Brot und keinen Lohn, wozu brauchen wir dann Wissen und Wissenschaft, wenn es keine materielle Stütze gibt?‘ – so sollen Sie wissen, dass dieser Ukaz nur der erste ist, dem noch in diesem Jahr drei oder vier neue Ukaze folgen werden, durch die Sie gänzlich überzeugt werden, dass der Regierung tatsächlich das Wohl unserer Brüder am Herzen liegt. Die kommenden Tage werden besser sein als die vergangenen, als wir Spott und Schmach ausgeliefert waren. Der Augenblick lächelt uns zu, und der Herrscher ist uns gewogen.“139

Ebenso wie Lilienthal gegenüber Kacenelenbogen als überzeugter Propagandist der russischen Regierungspolitik auftrat, verfasste er auch für die AZJ einen Bericht, in dem er den Ukaz des Zaren als einen für alle Seiten zufriedenstellenden Kompromiss überschwänglich feierte.140 Seine darin zum Ausdruck kommende Begeisterung für den Zaren ist wohl vor allem auch darauf zurückzuführen, dass er gleichzeitig mit der Verkündung des Ukaz am 22. Juni 1842 von der Regierung mit einer neuen Aufgabe betraut worden war, die er in ihren Grundzügen, wie bereits erwähnt, selbst angeregt hatte: Nunmehr sollte er als beglaubigter Gesandter des Bildungsministeriums trotz des vorangegangenen Fiaskos eine Propaganda- und Sondierungsreise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon unternehmen. Insbesondere sollte er gemäß der ihm erteilten Instruktion die jüdischen Gemeinden darüber aufklären, dass die Unterstellung der jüdischen Lehranstalten unter die Kontrolle des Bildungsministeriums sowie die Errichtung von neuen jüdischen Schulen allein den Zweck verfolgten, die Juden „ohne Beeinträchtigung des Glaubens dem wahren bürgerlichen und sittlichen Leben zuzuführen, das nur in der Annä-

138 Zitiert nach AZJ 41, 8. 10. 1842, 607. 139 Brief Lilienthals an Kacenelenbogen, 10. 7. 1842. Zitiert nach Perezˇitoe, Bd. 3, 381. Vgl. hierzu auch den Brief Lilienthals an einen unbekannten Brester Juden, 10. 7. 1842, in dem er sich in ganz ähnlicher Weise über eine blühende rechtliche Zukunft der russländischen Juden äußerte. Pis’mo d-ra Lilientalja, 91 – 94. Der Brief ist auf Deutsch in hebräischen Lettern verfasst; ein Teil dieses Briefes – allerdings „bereinigt“ um die sprachlichen Fehler – ist zu finden bei Meisl, Haskalah, 94. 140 Vgl. AZJ 41, 8. 10. 1842, 608. Wie sehr sich Lilienthal die Position der russischen Regierung zueigen gemacht hatte, zeigt besonders deutlich der bereits erwähnte Brief Lilienthals an einen unbekannten Brester Juden vom 10. Juli 1842. Pis’mo d-ra Lilientalja, 92 – 93.

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herung zur allgemeingültigen Bildung zu finden ist“.141 Gleichzeitig sollte er sich aber auch ein Bild von der Stimmung in der jüdischen Bevölkerung bezüglich der Bildungsreform verschaffen und den Minister nach seiner Rückkehr über Anhänger und Gegner der künftigen Schulen informieren. Schließlich war Lilienthal dazu angehalten, Daten über das jüdische Schulwesen zu sammeln und eine Liste mit potentiellen Lehrerkandidaten zu erstellen.142

1.1.7 Das Sendschreiben Maggid Jeschu’a: Aufklärung durch Drohung Entsprechend der ihm erteilten Instruktion sollte Lilienthal bei seinen Glaubensbrüdern also nicht nur im Sinne der von der russischen Regierung betriebenen jüdischen Bildungspolitik agitieren, sondern letztlich auch diejenigen Juden, die gegen diese Politik opponierten, denunzieren. Dass er sich auf einen derartigen Auftrag einließ, war keineswegs verwunderlich, wenn man bedenkt, mit welch despektierlichen Worten er seinerzeit die Schulgegner in Wilna und Minsk charakterisiert hatte. Darüber hinaus entsprach dies auch seinem ausgeprägten Sendungsbewusstsein, war er doch der Meinung, dass Wohl und Wehe des russländischen Judentums von der Errichtung moderner jüdischer Schulen abhingen. Daher war er durchaus zu Maßnahmen bereit, die vom moralischen Standpunkt aus zweifelhaft waren. Noch deutlicher wird dieses Verhalten Lilienthals durch folgenden Umstand: Kurz nachdem er mit seiner Reise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon beauftragt wurde, begab er sich nach Wilna, wo er – nach einem herzlichen Empfang – innerhalb von zwei Wochen das Sendschreiben Maggid Jeschu’a (Bote des Heils) verfasste, das zwar an die Jüdische Gemeinde von Wilna adressiert war, faktisch jedoch auch alle übrigen Juden des Reiches ansprechen sollte.143 In dieser Schrift wiederholte er die gegenüber seinen Glaubensbrüdern bereits früher geäußerten Argumente, wonach Zar Nikolaus in seiner grenzenlosen Weisheit beschlossen habe, die Juden emporzuheben, indem er ihnen das Recht auf eine 141 Zitiert nach der deutschen Übertragung der Instruktion in AZJ 41, 8. 10. 1842, 610. Die Veröffentlichung dieses Beitrags, der aus der Feder Lilienthals stammte und eine Übersetzung sowohl des Ukaz vom 22. Juni 1842 als auch der Instruktion für seine Reise durch den Ansiedlungsrayon enthielt, trug dem Rabbiner einen schriftlichen Tadel des Bildungsministers ein, da er ohne dessen Erlaubnis Erlasse publiziert hatte. Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 116. Die bei Morgulis enthaltene russische Fassung der Instruktion beruht auf einer Rückübersetzung aus der AZJ. Vgl. Morgulis, istorii, 43 – 46. 142 Vgl. AZJ 41, 8. 10. 1842, 610; Brief Lilienthals an Uvarov aus Berdicˇev, 6. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 13; Brief Lilienthals an Uvarov aus Petersburg, ohne Datum (Ende 1842 oder Anfang 1843). JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 19. 143 Da Lilienthals Kenntnisse des Hebräischen angeblich nicht ausreichten, verfasste er die Schrift zunächst auf Deutsch, um sie sodann von dem Maskil Samuel Joseph Finn zum Zwecke der Veröffentlichung ins Hebräische übersetzen zu lassen. Vgl. Gotlober, Zichronot, 129, FN 4, Stanislawski, Tsar, 76.

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108 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ordentliche Bildung gewähre. Dadurch werde sich schließlich auch die hoffnungslose wirtschaftliche Situation verbessern. Die Juden hätten indessen von einer solchen Bildung nichts zu befürchten, da sie die Religionsgesetze und das von den Rabbinern überlieferte Brauchtum nicht im Geringsten verletzten. Auch würde keineswegs die Aufklärung, wie sie es aus Deutschland gehört hätten, zum gänzlichen Glaubensabfall führen. Vielmehr würden die künftigen Schulen den Juden nur Glück, Wohlstand und Sicherheit bringen. Denn nur wenn man den Kindern eine gute Erziehung zuteil werden lasse, werde die Regierung auch bereit sein, für die Juden neue Möglichkeiten des Lebenserwerbs zu schaffen. Dies war ein impliziter Hinweis darauf, dass der Erwerb von Bildung auch gesetzliche Erleichterungen nach sich ziehen würde. Andererseits enthielt Lilienthals „Heilsbote“ auch die unmissverständliche Warnung, dass die Regierung weder Widerstand in Bezug auf ihre Pläne noch irgendwelche Verunglimpfungen Lilienthals, den seine Brüder, so der deutsche Rabbiner in seinem Sendschreiben, zu Unrecht für einen Gotteslästerer und Hasser des Volkes Israel gehalten hätten, während seiner Reise durch den Ansiedlungsrayon dulden werde. Denn diese Reise sei nicht konzipiert, um die Meinung der Juden zur Reform des Bildungswesens einzuholen oder ihr Einverständnis zu erbitten, sondern vielmehr, um sie über die wohltätigen Absichten der Regierung zu informieren. Zwischenfälle wie in Minsk und Wilna würden schwerwiegende Konsequenzen haben. Der Zar und seine Minister seien zwar bereit, über den vorangegangenen Widerstand der Juden hinwegzusehen. Jede weitere Opposition würde jedoch nur die an die Juden gerichteten Vorwürfe der Habgier, der Degeneration und der Gesetzlosigkeit, die ständig am Hof zu hören seien, bestätigen. Nur wenn die Juden den Befehlen der Regierung gehorchten und den Empfehlungen Lilienthals und der geplanten Rabbinerkommission Folge leisteten, wären sie sicher. Daher sollten sie freiwillig Schulen gründen und sich damit die Gnade der Regierung sichern. Andernfalls müssten sie mit Zwangsmaßnahmen des Zaren rechnen. Grundsätzlich wolle die Regierung aber nur das Beste für ihre jüdischen Untertanen. Am Ende seiner Schrift warf Lilienthal schließlich noch die Problematik seines Status als fremder Mittler auf. Sollten die Juden nicht auf ihn hören wollen, da er jung sei und Ausländer, so würden sie aber auf die Rabbiner hören, die er nun aufsuchen werde. Denn deren Unterstützung für ihn werde dem Unternehmen den Erfolg bringen. Damit machte Lilienthal schon im Vorfeld deutlich, dass er sich um das Wohlwollen der religiösen Vertreter des russländischen Judentums bemühen würde, um auf diese Weise die Reform zu legitimieren und ihr damit zum Durchbruch zu verhelfen.144 Dieses Sendschreiben Lilienthals wurde in Tausenden von Exemplaren gedruckt und an alle Gemeinden geschickt, die Lilienthal besuchen sollte. Wie von ihm erhofft,145 verfehlten die darin enthaltenen Drohungen ihre Wirkung 144 Lilienthal, Maggid Jeschu’a. 145 In einem Brief an Duksˇta-Duksˇinskij hatte Lilienthal erklärt, dass er das Sendschreiben mit der

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nicht. Diesmal war seine Reise durch den Ansiedlungsrayon von keinerlei Störungen begleitet. Allerdings erntete Maggid Jeschu’a trotzdem deutlichen Widerspruch, der nicht nur, wie zu erwarten war, von Seiten der Traditionalisten kam,146 sondern auch von den Aufklärern. So schickte beispielsweise der bedeutende Wilnaer Maskil Mandel’sˇtam den Aufruf Lilienthals einem Freund, wobei er im Begleitschreiben mit bitterer Ironie bemerkte: „Mache Dich in Form dieser Broschüre mit allen Erlösungen und Tröstungen bekannt, mit denen uns Lilienthal zu beglücken gedenkt.“147 Mandel’sˇtam äußerte noch weiteren Unmut über Lilienthals Maggid Jeschu’a und ging sodann zu einer allgemeinen Kritik an Lilienthals Verhalten über. Empört reagierte Mandel’sˇtam hierbei zum Beispiel auf die Tatsache, dass Lilienthal Uvarov über die scharfe Oppositionshaltung in Wilna und Minsk unterrichtet hatte.148 Besonders entrüstet zeigte er sich schließlich über Lilienthals Hinweis, er habe die Einberufung einer Rabbinerkommission vorgeschlagen: „Was haben wir mit Rabbinern zu schaffen? Wie können uns diese Männer helfen? […] Hätte der Doktor dem Minister geraten, Rabbiner aus Deutschland einzuladen, wie wir es erhofft hatten, wäre dies richtig und zweckmäßig gewesen und hätte uns einen großen Nutzen gebracht, aber in welcher Weise werden uns diese stummen Götzen [d.h.: die russischen Rabbiner], denen Sprache und Wissen fehlt, helfen? Wir haben unseren Glauben an den Doktor verloren.“149

Damit deutete sich nicht nur eine Kluft zwischen Lilienthal und den führenden Repräsentanten der russländischen Haskala an,150 sondern – zumindest im Fall Mandel’sˇtams – auch die Ansicht, dass Lilienthal nicht radikal und konsequent genug vorgehe. Trotz der erheblichen Kritik an ihm hatte der Wilnaer Maskil seine Hoffnung auf die Einladung deutscher Rabbiner als kulturelle Mittler gesetzt. Doch der Vorwurf gegenüber Lilienthal war alles andere als berechtigt. Er hatte ja Uvarov die Einrichtung eines Zentralkonsistoriums unter der Leitung deutscher Rabbiner vorgeschlagen. Dass der Bildungsminister dies bei seinem daraus hervorgegangenen Plan, eine Rabbinerkommission einzurichten, nicht berücksichtigte, konnte man Lilienthal nicht zum

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Post voraussenden werde und „davon eine sehr beruhigende Wirkung“ erhoffe. Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij aus Minsk, 7. 9. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 7. Lilienthals Schrift soll, Berichten zufolge, beispielsweise von einer Gruppe von Chassidim verbrannt worden sein. Vgl. Stanislawski, Tsar, 77. Cinberg, Levinzon, 523. Cinberg, Levinzon, 524. Mandelschtam, Chazon, Teil 2, 40 – 41. Vgl. hierzu auch eine ähnliche Zitierung bei Das russische Bildungsproblem V., in: Der Israelit 22, 28. 5. 1908, 7. Um hier kein Missverständnis aufkommen zu lassen, sei angemerkt, dass nur zwischen den Führern der russischen Haskala und Lilienthal eine Kluft bestand, während die „einfachen“ Maskilim Lilienthal auf seiner zweiten Reise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon bejubelten.

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110 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Vorwurf machen. Darüber hinaus bemühte sich Lilienthal, was Mandel’sˇtam aber nicht wusste, mit Zustimmung der Regierung, die beiden damals wohl einflussreichsten Juden in Westeuropa, Moses Montefiore (1784 – 1885) und Adolphe Cremieux (1796 – 1880), zu überzeugen, an den Beratungen der Rabbinerkommission in der russischen Hauptstadt teilzunehmen. Da beide auch bei der traditionsorientierten jüdischen Bevölkerung in hohem Ansehen standen, versprach sich der deutsche Rabbiner von ihrer Teilnahme eine Legitimation der Bildungsreform, die die russländischen Juden in Bezug auf die künftigen Schulen positiver stimmen sollte.151 Aber nicht nur Mandel’sˇtam und wohl so mancher andere Maskil waren über Lilienthals Sendschreiben verärgert. Auch der Direktor des öffentlichen Unterrichts Sˇirinskij-Sˇichmatov war ausgesprochen erzürnt über die Veröffentlichung, die offenbar ohne vorherige Genehmigung der Regierung erfolgt war. In einem Schreiben an Duksˇta-Duksˇinskij vom November 1842 bemühte sich Lilienthal, die Wogen wieder zu glätten. So drückte er sein tiefes Bedauern aus, wies aber gleichzeitig auf die Notwendigkeit seiner Broschüre hin, die erst den Erfolg seiner Reise gesichert habe.152 1.1.8 Lilienthals zweite Reise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon Am 22. Juli 1842 trat Lilienthal seine zweite Reise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon an. Dass er dieses Mal keinem offenen Widerstand begegnete, hatte mehrere Gründe: Zunächst verdankte er dies seinem Status als offizieller Gesandter des Bildungsministeriums, der durch eine ihn ständig begleitende Polizeieskorte eindringlich unterstrichen wurde. Eine Oppositionshaltung gegenüber Lilienthal hätte nämlich in letzter Konsequenz bedeutet, gegen den Willen des Zaren selbst zu handeln. Sodann hatten, wie bereits bemerkt, auch die unverhohlenen Drohungen in Maggid Jeschu’a sicher stark disziplinierend auf die gegen die Bildungsreform aufbegehrenden Juden gewirkt. Schließlich brachte Lilienthal seine Gegner auch dadurch zum Verstummen, dass er in jeder Stadt, die er auf seiner Reiseroute besuchte, vor allem die orthodoxen Gemeindevertreter für sich einzunehmen versuchte. Von größter Bedeutung war in diesem Zusammenhang Lilienthals Entscheidung, eigens nach Volozˇin und Ljubavicˇ zu fahren, um die beiden großen Autoritäten des traditionellen russländischen Judentums der damaligen Zeit, den Mitnagged Isaak ben Chaim (Volozˇiner) (1780 – 1849) und den Tsaddik der Ljubavicˇer Chassidim Menachem Mendel Schneersohn (1789 – 1866), persönlich aufzusuchen.153 151 Vgl. Hessen, Regierung, Heft 7/8, 497; J. Gessen, godov, 150. 152 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij aus Kiew, 19. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 18. 153 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij aus Minsk, 7. 9. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 7 – 8; Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 26.

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Hatte sich Lilienthal nach eigenen Angaben in den westlichen Teilen Kurlands davon überzeugen können, dass dort die Gründung moderner jüdischer Schulen auf keinen Widerstand stoßen werde, was er sich mit dem dort vorherrschenden deutschen Einfluss erklärte,154 so befürchtete er bei der Weiterreise in litauisches Gebiet ein Scheitern seiner Mission auf Grund seiner mangelnden Autorität als fremder Jude: „Ich fühlte es, dass alle beruhigenden Versicherungen eines deutschen Juden hier ohne Wirkung bleiben würden, wenn ich nicht meine Mission durch die Zustimmung einer unter den Juden bekannten Autorität heiligen würde.“155

Lilienthals Werben um das traditionsorientierte Judentum Während seines dreitägigen Aufenthalts in Ljubavicˇ fand Lilienthal an Schneersohn „nichts Merkwürdiges“, außer dass er von seinen Anhängern grenzenlos verehrt werde, was aber nach seiner Ansicht, „wenn auch seiner Person, doch mehr dem Systeme gilt“, das er repräsentierte. Schneersohn mag den deutschen Rabbiner zwar freundlich empfangen und ihm auch ein Empfehlungsschreiben für seinen nächsten Aufenthaltsort Vitebsk ausgehändigt haben, das dort offenbar den Ausschlag für die schriftliche Zustimmung gab.156 Grundsätzlich wollte er aber die jüdische Bildungsreform wohl kaum legitimieren, schützte er doch eine Krankheit vor, um nicht an der beabsichtigten Rabbinerkommission in Petersburg teilnehmen zu müssen.157 Demgegenüber war Lilienthal vom Mitnagged Isaak ben Chaim (Volozˇiner) regelrecht begeistert und charakterisierte ihn als einen strenggläubigen Maskil, der „durch Ackerbau, Handwerke, die Erlehrnung [sic!] der Landessprache und der fürs praktische Leben nothwendigen Wissenschaften den Stand seiner Glaubensbrüder verbessern“158 wolle. Wie aus einem während seiner Reise verfassten Bericht Lilienthals an Uvarov hervorgeht, waren seine Bemühungen, sich das Wohlwollen und die 154 Wie sich Jahre später herausstellen sollte und noch an anderer Stelle zu sehen sein wird, war dieses Urteil etwas vorschnell. 155 Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 23. 156 Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 37. 157 Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 36 – 37. Zu Schneersohn gibt es ein auf Jiddisch erschienenes, später ins Englische übersetztes Werk von seinem Urenkel, das allerdings nicht nur einen apologetischen und hagiographischen Standpunkt vertritt, sondern auch zahllose Ungenauigkeiten und Fehler aufweist, insofern also für historiographische Zwecke nicht brauchbar ist. Vgl. Schneersohn, „Tzemach Tzedek“. 158 Vgl. Brief Lilienthals aus Minsk, 7. 9. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 8; Lilienthals Bericht über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 25.

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112 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Zustimmung Isaak ben Chaims zu sichern, von Erfolg gekrönt, der sich allgemein auf die Haltung der jüdischen Bevölkerung gegenüber Lilienthal auswirkte. Selbst in Minsk wurde der deutsche Rabbiner nun sehr wohlwollend aufgenommen,159 was er in einem hebräischen Brief an seinen einstigen Mitstreiter in Wilna Nissan Rosenthal ausführlich berichtete: Isaak ben Chaim sei ein weiser und gebildeter wie auch frommer Mann, der ihn zu seiner großen Freude wie einen Sohn empfangen habe. Nachdem Abgesandte aus Minsk gesehen hätten, wie zuvorkommend er von Isaak ben Chaim behandelt worden sei, hätten sie ihm den Bund der Liebe geschworen. Bei seiner anschließenden Rückkehr nach Minsk fand Lilienthal nach eigener Aussage dort etwas vor, was er nicht erwartet hatte. Hass und Rache waren verflogen, und man trug ihm nichts mehr nach, wobei er von allen um Verzeihung gebeten wurde. In der Folgezeit verstand er es, die Herzen der traditionsorientierten Juden, auch der Chassidim, für sich zu gewinnen. Wie Lilienthal in seinem Brief an Rosenthal berichtete, ging er jeden Tag in den Beit Midrasch-HaGadol (das große Bethaus) oder in die Blumes-Klause, die er wenige Monate zuvor noch schließen lassen wollte, oder zu einer der wohltätigen Gesellschaften, um dort zu beten. An Simchat Tora wurde er von den Ljubavicˇer Chassidim sogar in ihre Betstube gebeten und zur Tora-Lesung aufgerufen, wobei sie ihm am Ende zujubelten, so dass er sich „stark fühlte und wie ein richtiger Mann“. Ebenso habe er mit ihnen auch Branntwein im Bethaus getrunken, und als sie gesehen hätten, dass er den großen Becher ganz geleert habe, hätten sie gerufen: „Du bist unser Bruder und unser Fleisch.“160 Damit hatte Lilienthal genau das erreicht, was er beabsichtigt hatte. Um die traditionsorientierte Bevölkerung für sich und die anstehende Reform zu gewinnen, musste er auf sie zugehen und sie vor allem von seiner religiösen Observanz und Traditionsachtung überzeugen. Dies sollte wiederum darauf hindeuten, dass auch die von ihm verfochtene Bildungsreform keineswegs ein Anschlag auf die Religion sei. Umgekehrt dürften aber die Chassidim ebenfalls für ihr Verhalten bestimmte Beweggründe gehabt haben. Zum einen wird ihnen, wie sie in Lilienthals Maggid Jeschu’a lesen konnten, sicherlich bewusst gewesen sein, dass weiterer Widerstand gegen die Bildungsreform gravierende negative Folgen haben würde. Andererseits mögen sie mit ihrer äußerst freundlichen Haltung gegenüber Lilienthal auch das Ziel verfolgt haben, ihn für sich zu gewinnen und so die Ausgestaltung der Reform in ihrem Sinne zu beeinflussen. Insofern werden sie Lilienthal auch sehr bereitwillig die Liste der Rabbiner übergeben haben, deren Mitgliedschaft sie in der künftigen Schulkommission des Minsker Gouvernements befürworteten.161 Tatsächlich sollte

159 Vgl. Brief Lilienthals an Uvarov aus Brest-Litovsk, 24. 9. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 9. 160 Brief Lilienthals an Rosenthal, 19. 9. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 17/4, Nr. 1, 1. 161 Brief Lilienthals an Rosenthal, 19. 9. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 17/4, Nr. 1, 1.

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der deutsche Rabbiner ihre Auswahl respektieren und einige Zeit später dem Bildungsministerium mitteilen.162 Während seiner ganzen Reise durch den Ansiedlungsrayon bediente sich Lilienthal der Taktik, die Führer der traditionsorientierten Juden aufzusuchen und für sich einzunehmen. Insbesondere in Wolhynien befürchtete er auf Grund des dort weit verbreiteten Chassidismus erheblichen Widerstand.163 So ˇ ernobyler Dynastie stammenden eilte er beispielsweise zu dem aus der C Rebbe Abraham in Turisk, „dem Abgott des Volkes“, und sicherte sich seine Unterstützung. Grundsätzlich erwies der deutsche Rabbiner, der die Chassidim noch einige Monate zuvor als fanatische Gegner aller Neuerungen charakterisiert und gesetzliche Restriktionen gegen sie gefordert hatte, den Rebben Ehrenbezeugungen, hielt „talmudische Predigten“ und gewann durch seine religiösen Sitten ein solches Vertrauen, dass er fast als Rebbe verehrt wurde und „im Augenblicke der ersten Begeisterung leicht überall hätte Schulen errichten können“.164 Lilienthals Äußerung mag zwar etwas übertrieben klingen, scheint aber, wie wir aus anderen Quellen wissen, insgesamt zutreffend gewesen zu sein. Der deutsche Rabbiner hatte sein Verhalten gegenüber den traditionsorientierten Juden seit seiner ersten Reise nach Wilna und Minsk grundlegend geändert. Nun kehrte er nicht mehr so sehr seine säkulare Bildung heraus als vielmehr seine tiefe Religiosität und Verbundenheit mit dem Judentum. Hatte er sich einige Monate zuvor noch für massive Zwangsmaßnahmen gegenüber den traditionsorientierten Gegnern moderner jüdischer Schulen eingesetzt, so versuchte er nun, ihre Sympathien zu gewinnen. Dass dies in erster Linie rein taktische Gründe hatte, steht außer Frage. Wie aber fassten die aufgeklärten Juden des Reiches das ungemein zuvorkommende Verhalten Lilienthals gegenüber dem traditionsorientierten Judentum auf ? Aus verschiedenen Briefen aufgeklärter Juden an Lilienthal geht hervor, dass dieser die traditionsorientierten Juden tatsächlich für sich hatte gewinnen können,165 was, so meinte einer von ihnen, verwunderlich sei, sich aber auf seine Mission sehr positiv ausgewirkt habe.166 Besonders aufschlussreich ist der Brief des bekannten, aus Galizien stammenden Berdicˇever Maskil und Arztes Israel Rothenberg (1800 – 1891) an Lilienthal. Darin wird deutlich, dass 162 Vgl. Lilienthals Namensliste der berühmtesten Rabbinen u. der bedeutendsten jüdischen Gemeindeglieder zur Bildung der Allerhöchst anbefohlenen einzelnen Schulkommissionen. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 52. 163 Brief Lilienthals an Uvarov aus Berdicˇev, 6. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 11. Vgl. auch Lilienthals Bericht über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 28. 164 Vgl. Lilienthals Bericht über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 28. 165 Vgl. Brief Horowitz’ an Lilienthal, 22. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 40; Brief Malezyners an Lilienthal aus Kisˇinev, 10. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 41; Brief Rothenbergs an Lilienthal aus Berdicˇev, 23. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 38. 166 Vgl. Brief Horowitz’ an Lilienthal, 22. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 40.

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114 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert der deutsche Rabbiner auch nach seiner Abreise aus Berdicˇev ständig eine Korrespondenz mit dem „ortodox-chasidischen Adel“ unterhielt und sich damit dessen Wohlwollen weiterhin sicherte. Während Rothenberg insoweit Lilienthals „bewunderungswerthen Scharfsinn und lobenswürdigen politischen Geiste“ hervorhob, musste er aber auch eingestehen, dass so mancher Maskil „halblauten Tadel“ hinsichtlich der Briefe gegenüber den dortigen traditionsorientierten Juden äußerte.167 Hier deuteten sich also schon gewisse Vorbehalte aufgeklärter Juden gegenüber Lilienthal an, der ihre Gegner in einer für sie nicht verständlichen Weise zu hofieren schien.

Berdicˇev als Schlüssel zum Erfolg Hatte Lilienthal aber tatsächlich eine andere Wahl? Wie schon erwähnt, befürchtete er gerade im chassidisch geprägten Wolhynien heftigen Widerstand gegen die Pläne der Regierung, moderne Schulen für die jüdische Bevölkerung zu errichten. Seiner Aussage nach kam dabei Berdicˇev, wo die größte und wohl einflussreichste jüdische Gemeinde der südwestlichen Gouvernements ansässig war, eine Schlüsselfunktion für Erfolg oder Misserfolg seiner weiteren Reise zu,168 hatten doch zahlreiche jüdische Gemeinden ihre Einwilligung von der Entscheidung in Berdicˇev abhängig gemacht.169 Bereits im Februar 1842 war Lilienthal dorthin eingeladen worden, um die Möglichkeit einer Gründung von modernen jüdischen Schulen zu erkunden. Das hatte er damals aber abgelehnt, da er zunächst noch die Zustimmung zur Errichtung von Lehranstalten in Minsk abwarten wollte.170 Zwar gab es in Berdicˇev eine nicht unerhebliche Zahl von Maskilim, allerdings hatte Lilienthal dem Brief eines gewissen Sperling vom April 1842 entnehmen können, dass die dortigen Aufklärer – wie auch anderswo – die traditionsorientierten Juden fürchteten.171 Insofern war Lilienthal auch hier gewarnt und wandte daher dieselbe Taktik an wie zuvor : Er bemühte sich um das Wohlwollen der führenden traditionsorientierten Juden, was ihm einen triumphalen Empfang sicherte. Am Schabbat hielt der deutsche Rabbiner in der mit angeblich 5 000 Menschen vollbesetzten Synagoge sogar eine Rede oder Predigt, bei der die Zuhörer, obwohl sie laut Lilienthal kaum etwas verstanden, begeistert waren.172 167 Vgl. Brief Rothenbergs an Lilienthal, 23. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 38. 168 Vgl. Brief Lilienthals an Uvarov aus Berdicˇev, 6. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 12; Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 30. 169 Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 29. 170 Vgl. Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 24. 2. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 29. 171 Vgl. Brief Sperlings an Lilienthal, 6. 4. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 67. 172 Brief Lilienthals an Uvarov aus Berdicˇev, 6. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 12. Vgl. hierzu auch Berdicˇev, in: EE, Bd. 4, 212.

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Die kulturelle und vor allem sprachliche Scheidewand war offenbar unerheblich, solange nur der deutsche Rabbiner die augenscheinliche Gunst der Repräsentanten des traditionellen Judentums genoss. Tatsächlich hatte Lilienthal es vermocht, beide Seiten für sich zu gewinnen, so dass er sogar gebeten wurde, sich in Berdicˇev niederzulassen.173 Darüber hinaus schrieb der Berdicˇever Kahal an Lilienthals Vater in München einen überschwänglichen Brief, in dem er seinem Sohn mit beinahe übermenschlichen Attributen huldigte.174 Der enthusiastische Empfang, der Lilienthal in Berdicˇev zuteil wurde, strahlte, wie er im Oktober 1842 dem Bildungsminister mitteilen konnte, auch auf die weiteren Orte seiner Reiseroute aus: „Berditschew’s Beispiel wirkt unberechenbar segenreich.“175 Von jeder Gemeinde erhielt Lilienthal die gewünschte Zustimmung sowie das Versprechen, dem Zaren eine Dankadresse zu senden. Schließlich kam der deutsche Rabbiner nach Odessa, in das Zentrum der Haskala im Süden des Reiches, wo ihm nicht nur ein triumphaler Empfang bereitet, sondern sogar einige Tage nach seiner Abreise, wie offenbar schon zuvor in Kisˇinev und Berdicˇev, der Posten des Rabbiners und Predigers angetragen wurde.176 Angeblich hatten sich sogar die Odessaer Chassidim dafür ausgesprochen, deren Gunst Lilienthal „durch das Beobachten des strengjüdischen Ceremoniells“ hatte gewinnen können. Drei Tage hintereinander besuchte Lilienthal in Odessa die dort schon seit 1826 bestehende moderne jüdische Schule, der er ein sehr positives Zeugnis ausstellte. Ihr Direktor, der bedeutende Maskil Bezalel Stern, war allerdings kurz vor Lilienthals Ankunft aus Odessa abgereist, um gemäß dem mehr als ein Jahr zuvor erhaltenen Auftrag auf der Krim karaitische Altertümer zu begutachten.177 Allgemein wird davon ausgegangen, dass Stern bewusst das Zusammentreffen mit Lilienthal vermied, da er ihm seine führende Rolle bei der Umgestaltung des jüdischen Bildungswesens im Zarenreich neidete. Schon im Vorfeld seines Besuchs war Lilienthal von einem Juden aus Mogilev auf Sterns Bedeutung hingewiesen, zugleich aber auch vor dessen Gemüt 173 Vgl. Brief Rothenbergs an Lilienthal, 23. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 38. 174 Vgl. AZJ 49, 10. 12. 1842, 715 – 716. Lilienthals Vater hat diesen Brief auch beantwortet, wobei Rothenberg Lilienthal eine Kopie dieses Briefes zukommen ließ. Vgl. Brief Rothenbergs an Lilienthal, 23. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 37. 175 Vgl. Brief Lilienthals an Uvarov aus Berdicˇev, 6. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 13. Ganz ähnlich formulierte Lilienthal das in seinem Abschlussbericht über die Reise, Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 32. 176 Vgl. Bericht Lilienthals an Uvarov aus Uman’, 13. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 16. Vgl. auch den Bericht über Lilienthals Aufenthalt in Odessa in: AZJ 52, 31. 12. 1842, 760 – 762; AZJ 1, 7. 1. 1843, 8 – 10 sowie das Dankes- und Lobschreiben der jüdischen Gemeinde zu Odessa an Lilienthal, 10 – 11. 177 Vgl. Bericht Lilienthals an Uvarov aus Uman’, 13. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 16.

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116 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert gewarnt worden.178 Da auch der Generalgouverneur von Neurussland und Bessarabien Graf Voroncov auf die Krim gereist war, entschloss sich Lilienthal kurzerhand, beide dort aufzusuchen. Trotz größter Bemühungen konnte der deutsche Rabbiner den Schuldirektor aber weder in Jalta noch in Semferopol finden.179 Dies war sicherlich kein Zufall, sondern Zeichen einer Antipathie Sterns gegenüber Lilienthal. Als die beiden im folgenden Jahr an der Rabbinerkommission in Petersburg teilnahmen, kam es zwischen ihnen mehrfach zu schweren Konflikten.

Bildung gegen rechtliche Erleichterungen? Demgegenüber konnte Lilienthal den Generalgouverneur auf der Krim antreffen. Dass er dem höchsten Beamten der Region nachgereist war, hatte einen nicht unbedeutenden Grund. Während seines Aufenthalts in Odessa hatte ihm die dortige Gemeinde ein an den Generalgouverneur gerichtetes Memorandum überreicht, in dem darum gebeten wurde, denjenigen Juden, die ihre Bildung an modernen jüdischen Schulen erhalten hatten, rechtliche Erleichterungen einzuräumen, damit sie die erworbenen Kenntnisse auch anwenden könnten. In seinem Antwortschreiben an die Gemeinde stimmte Voroncov diesem Anliegen grundsätzlich zu, indem er erklärte, „daß jüdische Lehranstalten erst dann wahrhaft nützlich würden, wenn der aus ihnen entlassenen Jugend eine unbeschränktere Bahn offen stünde“.180 Konkret hatte sich Voroncov, wie Lilienthal in seinem Bericht an Uvarov später erwähnte, dafür ausgesprochen, Juden nach Absolvierung der Universität den Zugang zum zivilen Staatsdienst zu eröffnen, jedoch mit der Einschränkung, dass sie nur im Ansiedlungsrayon und auch nur mit dem erblichen Ehrenbürgerrecht, aber ohne Rang dienen dürften.181 Wenn Lilienthal die Meinung Voroncovs wie auch anderer Beamter in dieser Beziehung anführte, dann insbesondere deshalb, um implizit seine eigene Ansicht darlegen zu können. Schon zu Beginn seiner Tätigkeit war ihm ja mitgeteilt worden, dass die Regierung keine legislativen Ratschläge von ihm benötige. Insofern schob der deutsche Rabbiner die Äußerungen der Spitzenbeamten vor, wenn er für rechtliche Verbesserungen werben wollte, die seiner Meinung nach eine Vorbedingung für den Erfolg der neuen Schulen waren. So hatte er im Zusammenhang mit Voroncov und dem Memorandum der jüdischen Gemeinde in Odessa noch während seines Aufenhalts in Odessa darauf hingewiesen, dass 178 Brief Levensohns an Lilienthal, 22. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 39. 179 Vgl. Bericht Lilienthals an Uvarov aus Uman’, 13. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 16 – 17. 180 Zitiert nach AZJ 7, 18. 2. 1843, 101. Eine russische Fassung dieses Schreibens ist zu finden bei Lerner, Evrei, 42 – 43; die zitierte Stelle ist auf Seite 42. Vgl. hierzu auch Zipperstein, Jews, 68. 181 Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 34.

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Odessa das „abschreckendste Beispiel“ dafür sei, keine Schulen zu gründen. Die Absolventen der dortigen modernen Schule sprächen zwar vier bis fünf Sprachen und verfügten auch sonst über viele Kenntnisse, doch verrichteten sie allenfalls die „Arbeiten der niedrigsten Tagelöhner“, „weil der Staat ihnen jede Carrire versagt“.182 In seinem später verfassten Bericht über seine Reise durch den Ansiedlungsrayon führte Lilienthal immer wieder die Meinung verschiedener hochrangiger Provinzbeamter ins Feld, die sich für eine rechtliche Besserstellung der jüdischen Bevölkerung ausgesprochen hatten, da sonst der Erwerb von Bildung für die russländischen Juden nutzlos wäre und somit auch die Lehranstalten gemieden würden.183 Aber auch er war realistisch genug, um zu wissen, dass moderne Schulen und Bildung im Russländischen Reich angesichts der herrschenden Not unter der jüdischen Bevölkerung keinesfalls nur einen Selbstzweck haben durften. Solange die Regierung nicht bereit war, den Juden eine ernsthafte Perspektive für den Lebenserwerb zu bieten, war jede Reform zum Scheitern verurteilt. Wie sehr es dem deutschen Rabbiner tatsächlich um eine rechtliche Besserstellung der russländischen Juden ging, und wie sehr der mehrmonatige direkte Kontakt mit ihnen seine Meinung beeinflusst hatte, geht insbesondere aus seinem Bericht über die Schwierigkeiten, deren Beseitigung die Basis zu dem neuen Schulplane abgeben184 muss, hervor. Nachdem er in den vorangegangenen Briefen und im Bericht über seine Reise durch den Ansiedlungsrayon die Meinung hochrangiger zarischer Beamter aus der Provinz angeführt hatte, konnte er auf der Grundlage dieser Legitimation selbst mit den bestehenden rechtlichen Verhältnissen der jüdischen Bevölkerung im Russländischen Reich ins Gericht gehen. Nach der Feststellung, dass die neuen 182 Bericht Lilienthals an Uvarov aus Uman’, 13. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 16. Allerdings sollte nur zwei Jahre später der Lehrer für Russisch und Geographie an der modernen jüdischen Schule in Odessa, Jakob Leib Finkel, ein gänzlich anderes Bild zeichnen. In einem Artikel im Odesskij Vestnik (Odessaer Bote) wies er unter anderem auf die durchaus prestigeträchtigen Berufe von 185 Absolventen hin, was die Meinung Lilienthals, den Zöglingen der Reformschule sei jegliche berufliche Karriere versperrt, widerlegte. Vgl. hierzu Hofmeister, Schulbesuch, 305. 183 Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 21 – 22, 27, 37. Darüber hinaus sprachen sich die Spitzenbeamten gegenüber Lilienthal mehrheitlich dafür aus, die Juden zur Landwirtschaft hinzuführen, eine Ansicht, die sich mit der aufklärerisch-utilitaristischen Produktivierungsidee des deutschen Rabbiners deckte. Einen ungewöhnlichen und für Lilienthal sicherlich äußerst befremdlichen Vorschlag zur Lösung der Jüdischen Frage hatte hingegen der Generalgouverneur von der Pahlen gemacht, der gegenüber dem Rabbiner äußerte, „dass es das Beste wäre, die Juden nach Palästina zu schicken, und unter der Obhut der fünf Grossmächte ein besonderes Reich bilden zu lassen“. Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 22. Damit hatte schon 1842 ein hochrangiger Repräsentant der Autokratie protozionistisches Gedankengut kundgetan. 184 Vgl. Lilienthal, Bericht über die Schwierigkeiten, deren Beseitigung die Basis zu dem neuen Schulplane abgeben. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 58 – 66.

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118 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert jüdischen Schulen auch einen praktischen Zweck für das künftige Leben haben müssten, ging Lilienthal mit bewundernswerter Offenheit auf die Politik und die zahlreichen Beschränkungen des Zarenreichs ein, die diesem Grundsatz entgegenstanden. Anhand statistischer Angaben wies er zunächst auf die übermäßige Repräsentation einzelner Berufe unter den Juden hin, was darauf zurückzuführen sei, dass ihnen weitgehend nur diese Felder des Lebenserwerbs gesetzlich erlaubt seien. Zwar dürften sie auch Ackerbau betreiben, jedoch sei ihre Abneigung dagegen mit den seit 1 800 Jahren bestehenden Vertreibungen zu erklären, die die Mobilität von Gütern zu einer vorrangigen Notwendigkeit gemacht hätten. Dennoch hätten sich viele der russländischen Juden zur Ansiedlung in landwirtschaftlichen Kolonien bereit erklärt, wären jedoch vor dem Scheitern solcher Projekte wieder zurückgeschreckt. Das Fehlen jüdischer Fabriken, die als Arbeitgeber für die jüdische Bevölkerung fungieren könnten, erklärte der deutsche Rabbiner zum einem mit mangelndem Kapital, zum anderen auch mit rechtlichen Beschränkungen. Diese Beschränkungen verhinderten zudem eine Entwicklung des jüdischen Künstlerstands. Obwohl es unter den Juden – wie Lilienthal anhand von konkreten Beispielen aufzeigen konnte –große künstlerische Talente gebe, könnten sich diese auf Grund der Rechtslage nicht entfalten. Dasselbe gelte auch für die jüdischen Gymnasiasten, denen allein das Medizinstudium erlaubt sei. Infolgedessen hätten sich junge Juden, die keine Neigung zum Arztberuf gehabt hätten, wegen der Perspektivlosigkeit wieder dem „Trödelund Schacherbrod“ zugewandt oder sich teilweise taufen lassen „und dadurch den Juden den grössten Widerwillen gegen andere Schulen, als die ihrigen, beigebracht“. Die höchste Stufe des Misstrauens sei in der jüdischen Bevölkerung allerdings durch die Einführung der Rekrutenpflicht erreicht worden. Obwohl die jüdischen Soldaten ihren Militärdienst ordentlich absolviert hätten, sei ihnen jede Beförderung versagt geblieben. Nach der Entlassung hätten sie, wenn sie sich nicht hätten taufen lassen, wieder auf der gleichen gesetzlichen Stufe wie die anderen Juden gestanden. Explizit hob Lilienthal hervor, aus allen angeführten Umständen werde deutlich, „dass die Quelle der furchtbaren Armuth und des moralischen Versunkenseyns der Nation nicht im Müßiggange, nicht im Mangel an Handwerkern, nicht in der Gefühllosigkeit für Kunst und Wissenschaft, sondern vielmehr 1) in der fortwährenden Beschränkung des Terrains und der unverhältnismässigen Vermehrung des Volkes zu suchen ist. […] 2) die fortwährende Abnahme solcher Rechte und Erwerbszweige, die sie früher ausüben konnten und durften, fortdauert. […] 3) dem Juden jede Carriere verschlossen ist“.

Deutlicher und mutiger konnte man die antijüdische Politik Zar Nikolaus I. und seiner Vorgänger wohl kaum charakterisieren. Vor diesem Hintergrund war es in den Augen des deutschen Rabbiners nur folgerichtig, wenn die Juden auf Grund der gesetzlichen Restriktionen und der daraus folgenden Perspektivlosigkeit ihrem traditionellen Schulwesen treu blieben:

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„Wenn nun ein solches von Elend umgränztes Leben den Juden überall erwartet, zu welchem Lebenszwecke soll dann die Schule erziehen? Zu Handwerkern? Sie sind schon alle auf dem kleinen Terrain überfüllt. Zum Ackerbau? Cherson ist dem Juden nun ein Schreckbild! Zur höheren Technologie? Die Armuth verhindert die Erbauung von Fabriken! Zum Studium? Den Absolvirten ist jede Carriere verschlossen. Darum tritt dieser feindlichen Aussenwelt des Juden jetzige Erziehung feindlich entgegen.“

Insofern würde, folgerte Lilienthal, nur eine Änderung des bestehenden Gesetzeswerks über die Juden zum Erfolg führen. Andernfalls wären alle Bemühungen vergeblich. Dabei versäumte es der deutsche Rabbiner natürlich nicht, erneut darauf hinzuweisen, dass auch alle örtlichen Behörden auf Grund ihrer eigenen Erfahrungen dieser Meinung seien. Bei seiner Kritik an der bestehenden Gesetzgebung wollte es Lilienthal aber nicht belassen. Vielmehr hatte er sogar den Mut, konkrete Vorschläge zur Änderung der rechtlichen Lage der Juden zu unterbreiten, die nicht ausschließlich mit dem Erfolg der jüdischen Bildungsreform in Zusammenhang standen. Er war tatsächlich zu einem Schtadlan, einem Fürsprecher des russländischen Judentums geworden,185 für das er noch vor kurzem wenig Verständnis gehabt hatte. Die Reise durch den Ansiedlungsrayon, die ja in erster Linie die Juden von den neuen Schulen überzeugen sollte, hatte auch in umgekehrter Richtung Einfluss gehabt. Der direkte Kontakt mit der jüdischen Bevölkerung über mehrere Monate, die Wahrnehmung ihres Alltags, hatten auch den deutschen Rabbiner nicht unberührt gelassen und ihn seine Haltung überdenken lassen. Was schlug Lilienthal Uvarov nun vor? Die wichtigste Bedingung für eine positive Entwicklung wäre, so der Rabbiner, die Erweiterung des Ansiedlungsrayons. Da aber, wie er zu Recht annahm, das Innere des Zarenreichs kaum für die Juden geöffnet werde, sollte die Regierung zumindest die 50–Verst-Regelung an der westlichen Grenze186 zurücknehmen und die Strafe für Schmuggelvergehen entsprechend dem Willen der jüdischen Bevölkerung verzehnfachen. Außerdem sollte allen Juden, die sich dem Ackerbau widmen wollten, Grund und Boden in den von ihnen bewohnten Gouvernements angewiesen, sie also nicht, wie bisher, als Kolonisatoren in ferne Gebiete umgesiedelt werden, da dies gescheitert sei. Dem Problem des fehlenden jüdischen Kapitals zur Errichtung von Fabriken sollte der Staat dadurch begegnen, dass er Fabriken auf eigene Rechnung errichte. Nach utilitaristischen Gesichtspunkten würden die entsprechenden Gouverneure ermitteln, welche Fabriken notwendig und nützlich seien. In den daraufhin gegründeten Betrieben dürften nur Juden arbeiten, und sobald sie sich nach einigen Jahren etabliert hätten, könne der Staat seine Investitionen wieder entnehmen und die Betriebe an die Gemeinden weiterverpachten. Sofern die Regierung hier185 Vgl. hierzu auch den wenig ergiebigen Aufsatz von Barkusskij, Liliental’, 366 – 372. 186 Im Statut über die Juden von 1835 wurde im § 5 den Juden jegliche Neuansiedlung innerhalb 50 Verst von der Grenze verboten.

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120 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert auf aber nicht eingehen wolle, könne man sich an Moses Montefiore und Meyer Amschel von Rothschild (1773 – 1855) in Frankfurt wenden, da diese beiden den vorgeschlagenen Plan vielleicht umsetzen würden.187 Damit hatte Lilienthal drei konkrete Vorschläge gemacht, die allgemein auf Bekämpfung der Armut und Abhilfe für fehlende Erwerbsmöglichkeiten abzielten. Gleichzeitig sind auch seine Zweifel am Willen der Regierung erkennbar, den jüdischen Untertanen entscheidende rechtliche Verbesserungen zu gewähren. Der deutsche Rabbiner gab sich also keinerlei Illusionen hin. Darüber hinaus machte er aber noch weitere Vorschläge, die sich auf die rechtliche Situation der Zöglinge der künftigen jüdischen Schulen bezogen. Zunächst sollten für die mittellosen jüdischen Absolventen der niederen Schulen Lehranstalten errichtet werden, in denen Ackerbau, Handwerk und Technologie unterrichtet würden. Den Schülern, die diese Schulen mit guten Zeugnissen abschlossen, sollten Privilegien eingeräumt werden. So sollte ihnen überall, auch innerhalb der 50–Verst-Grenze, Grund und Boden zugeteilt werden, selbst wenn dies der übrigen jüdischen Bevölkerung verwehrt bliebe. Zudem sollten sie das Recht haben, auf adligen Gütern angestellt zu werden. Darüber hinaus sollten die jüdischen Gemeinden dazu ermuntert werden, Vereine zur Unterstützung dieser Zöglinge zu gründen, was den Staat finanziell entlasten würde. Und um das Volk wirklich zu heben und ihm die Aversion gegen die christlichen Schulen zu nehmen, müsste man schließlich zulassen, dass allen Künstlern, die Zeugnisse der Kunstakademie besäßen, die Ausübung ihrer Kunst im ganzen Reich erlaubt werde, dass den erfolgreichen Absolventen von Gymnasien und Universitäten der Staatsdienst ohne Beschränkung, zumindest aber im Ansiedlungsrayon, eröffnet werde und dass allen Juden in Polen und den anderen russländischen Gebieten der Universitätsbesuch gestattet werde. Vor dem Hintergrund dieser Maßnahmen könnte die jüdische Bevölkerung dann klar den Nutzen der Schulen erkennen, da sich auch etwas an der sozioökonomischen Situation der Zöglinge wie der Bevölkerung insgesamt ändern würde. Es liege nun allein in der Hand der Regierung, die im Volk geweckten Hoffnungen zu erfüllen oder aber zu enttäuschen. Offenbar um sich selbst und Uvarov Mut bezüglich dieser Entscheidung zu machen, schloss Lilienthal seine Ausführungen mit folgendem pathetisch anmutendem Satz: „Nein, das neunzehnte Jahrhundert feiert den Triumph der Humanität, und Aufklärung und geistige Erleuchtung haben ihn [Uvarov] herbey geführt!“ In diesem Bericht hatte Lilienthal in aller Deutlichkeit nochmals seine wohl wichtigste Erkenntnis aus der Reise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon gegenüber der Regierung formuliert: Nicht Zwangsmaßnahmen, sondern 187 Wie Lilienthal berichtete, hatte die jüdische Gemeinde in Wilna Rothschild bereits darum gebeten, auf seine Kosten in Litauen Fabriken zu errichten, um die große Armut unter der jüdischen Bevölkerung zu bekämpfen. Dieser hätte angeblich hierauf sehr freundlich geantwortet und mitgeteilt, sich mit Montefiore beraten zu wollen. Lilienthal, Bericht über die Schwierigkeiten, deren Beseitigung die Basis zu dem neuen Schulplane abgeben. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 65.

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rechtliche Erleichterungen seien das Erfolgsgeheimnis der angestrebten Bildungsreform. Indessen hatte der deutsche Rabbiner aber noch eine zweite, kaum minder bedeutende Erkenntnis gewonnen, die er auch gegenüber der Regierung betonte. Zwar hatte er die von ihm inspizierten modernen jüdischen Schulen in Odessa und Kisˇinev, die wie die von ihm einst geleitete Lehranstalt in Riga Vorbild für die Reform sein sollten, für den säkularen Unterricht gelobt, jedoch auch die Vernachlässigung des religiösen Elements in diesen Schulen hervorgehoben.188 Daraus leitete er ab, „dass, wenn die Schulen dem jetzigen geistigen Zustande zu weit vorauseilen, anstatt sich ihm anzupassen und ihn allmählig fortzubilden, sie, trotz der bedeutendsten Geldopfer, ohne allen Einfluss auf die Gemeinden bleiben“.189 Damit hatte Lilienthal offensichtlich die Ängste der traditionsorientierten Juden bezüglich der künftigen Schulen und ihres Unterrichts ernst genommen und sich für eine gemäßigte Reform ausgesprochen, die der Religion den ihr gebührenden Platz in den neuen Lehranstalten einräumen würde. In diesem Sinne wies er auch darauf hin, dass er bei der ihm aufgetragenen Zusammenstellung einer Kandidatenliste für die beabsichtigten Schulkommissionen davon ausgegangen sei, dass diese Kommissionen aus den religiös observantesten Mitgliedern bestehen müssten, da die Masse nur ihnen folgen würde und die Kommissionen daher auch nur dann Einfluss ausüben könnten. Allerdings lagen diesem Vorschlag durchaus realpolitische Erwägungen zu Grunde, denn Lilienthal betonte, dass selbst diese religiösen Kommissionsmitglieder sich den Forderungen der Regierung beugen müssten und nichts Ungesetzliches tun würden. Der Gedanke der Neutralisierung durch Einbindung spielte also ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Vertrauensbildend wirkte im Übrigen sicherlich auch, dass Lilienthal es den einzelnen jüdischen Gemeinden selbst überließ, die gewünschten Kandidaten für die Schulkommissionen auszuwählen und ihm dann mitzuteilen.190 Mit seiner Ansicht über eine gemäßigte Bildungsreform, die auch die Religion gebührend berücksichtigte, widersprach der deutsche Rabbiner letztlich der ihm wohl nicht bekannten Meinung Uvarovs, die dieser im Januar 1841 in einem Memorandum an den Vorsitzenden des Jüdischen Komitees Graf Kisilev geäußert hatte. Seinerzeit hatte der Bildungsminister festgestellt, dass man bei den Juden großen Eifer für die Reform in geistiger und mora188 Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 34; Lilienthal, Über die häusliche und öffentliche Erziehung der jüdischen Kinder, so wie über die von mir visitirten Schulen. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 50. 189 Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 34. 190 Vgl. Lilienthal, Namensliste der berühmtesten Rabbinen u. der bedeutendsten jüdischen Gemeindeglieder zur Bildung der Allerhöchst anbefohlenen einzelnen Schulkommissionen. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 50 – 54.

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122 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert lischer Beziehung bemerken könne, würden doch die „Besseren“, also die Aufgeklärten unter ihnen, die „verderbliche Wirkung des Talmuds“ verspüren. Im Geiste dieser Leute solle die Regierung handeln und die Stoßrichtung der Schulen gegen den Einfluss des Talmuds lenken. Allerdings dürfe man nicht offen gegen den Talmud agitieren, um nicht die Volksmassen zu verschrecken. In der Odessaer, Kisˇinever und Rigaer Lehranstalt bestehe zwar dem Anschein nach ein Talmud-Unterricht, in Wahrheit aber sei die Lehre gänzlich von den Talmudisten befreit.191 Wie wir jedoch aus Lilienthals Berichten wissen, war die jüdische Bevölkerung klug genug, Schein von Sein zu unterscheiden. In Odessa beispielsweise war die Schülerzahl der örtlichen Talmud-Tora genau so hoch wie die der von Stern geleiteten modernen Schule. Für den deutschen Rabbiner war dies ein Indiz dafür, dass Letztere auf Grund der Vernachlässigung des religiösen Elements gemieden wurde.192 Lilienthals Eintreten für eine gemäßigte Reform wurde auch in den Reihen der Maskilim positiv aufgenommen. So äußerte sich ein gewisser Malezyner, der die Realschule im galizischen Brody absolviert hatte und nun als Hebräisch- und Deutschlehrer an der Kisˇinever Schule angestellt war und der auch mit Lilienthal korrespondiert hatte,193 in der AZJ folgendermaßen: „In der That, es scheint besonders Deutschland vorbehalten, die Welt mit jenen eminenten Geistern zu beschenken, die im Gebiete der Religion einen mehr oder minder reformirenden, aber immer heilsamen und bleibenden Umschwung bewirken. Auch der russischen Judenschaft hat es in dem Herrn L. [Lilienthal] einen Mann gegeben, der eine Reform in’s Leben ruft, die um so wirksamer und nachhaltiger als solche in rein konservativem Sinne durchgeführt werden wird. Was übrigens in den zu gründenden Schulen gelehrt, und auf welche Weise der Kultus geregelt werden dürfe, läßt sich annoch nicht bestimmen, da solches eben die Aufgabe der in Petersburg zu konferirenden Rabbinen bildet. So viel aber kann schon mit Bestimmtheit behauptet werden, daß diese Reform sich von der anderwärts bis nun versuchten in sofern unterscheiden, als hier solche im Geiste des talmudischen Judenthums auf legalem Wege rabbinischer Diskussion von Innen nach Außen hervorgehend, als eine von den besonders stimmberechtigten Vertretern der Orthodoxie sanktionirte in’s Leben treten wird.“194

Inwieweit die hier als konservativ bezeichnete Reform auch tatsächlich diesem Etikett entsprach, musste sich erst noch zeigen. Auf jeden Fall hatte Lilienthal zumindest in diesem Sinne bei der Regierung geworben. Noch während seines Aufenthalts in Odessa im Oktober 1842 hatte er in einem Brief an Uvarov 191 Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 39 – 40. Wie erwähnt, soll angeblich aber schon 1829 der Talmud-Unterricht an der Odessaer Schule gänzlich abgeschafft worden sein. 192 Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 34. 193 Vgl. Brief Malezyners an Lilienthal aus Kisˇinev, 10. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 40 – 43. 194 AZJ 2, 14. 1. 1843, 22 – 23.

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deutlich auf die beiden wichtigsten Erkenntnisse aus seiner Reise durch das jüdische Ansiedlungsgebiet hingewiesen. Sofern die Rabbinerkommission durch ihr Wirken grundlegende Zweifel bezüglich eines Angriffs auf die Religion beseitige und die Regierung demonstriere, dass sie mit der Bildungsreform eine „bürgerliche Besserstellung“ der Juden beabsichtige, werde das Unternehmen von Erfolg gekrönt sein.195 Ob aber die Regierung diese Ratschläge tatsächlich ernst nehmen würde, musste sich erst noch herausstellen.

Lilienthal als fremder Mittler – ein Vorteil? Als sich Lilienthal das erste Mal in Wilna aufhielt, wusste er zu berichten, dass seine „deutsche Kleidung, der Mangel eines Bartes u. der Haarlocken […] zu manchen Betrachtungen Veranlassung“196 gaben. Hier schien also schon sein Äußeres dem Vorhaben, die Gemeinde zur Errichtung und Finanzierung moderner jüdischer Schulen zu überreden, im Weg zu stehen. Noch offenkundiger wurde dies, als die Wilnaer Juden gerade auf das negative Vorbild des deutschen Judentums verwiesen, um ihre ablehnende Haltung in dieser Frage zu begründen. Nun hat es sich, objektiv gesehen, vielleicht nicht um einen Kulturtransferversuch im eigentlichen Sinne gehandelt, bestanden doch im Russländischen Reich selbst moderne jüdische wie nichtjüdische Schulen, die als Vorbild dienen konnten. In den Augen der traditionsorientierten Juden ging es aber bei der angestrebten Bildungsreform um nichts anderes als die Übertragung des „Berliner“ oder „Mendelssohn’schen Systems“ auf das russländische Judentum, wobei Lilienthal als kultureller Mittler auftrat. Der deutsche Rabbiner selbst sah seine Rolle als fremder Jude eher zwiespältig. Zum einen war er, wie erwähnt, bei Eintritt in die litauischen Gebiete des Ansiedlungsrayons der Meinung, dass ihm als deutschem Juden hier keiner vertrauen werde, was ihn dazu veranlasste, sich der Unterstützung einer der anerkanntesten Autoritäten des mitnaggdischen Judentums zu versichern. Zum anderen konnte er aus Dubno, einer Stadt im Nordwesten der heutigen Ukraine, berichten, dass ihn die dortigen Juden nach seinen Ausführungen über die Reform sogar als Vertreter in die Rabbinerkommission wählten, was laut Lilienthal „ein Beweis [war], dass diese Gemeinde von einem Deutschen nicht zurückschrickt, wenn sie sich nur überzeugt, dass derselbe ein treuer Freund seines Glaubens und seiner Brüder ist“.197 Von entscheidender Bedeutung war nach Lilienthals Meinung jedenfalls, dass er selbst Jude war, da ein Andersgläubiger, wie er in seinem Bericht an Uvarov bemerkte,

195 Brief Lilienthals an Uvarov aus Odessa, 19. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 14. 196 Brief Lilienthals an Duksˇta-Duksˇinskij, 19. 12. 1841. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 1. Teil, 3. 197 Brief Lilienthals an Uvarov aus Berdicˇev, 6. 10. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 11.

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124 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert „unmöglich diesen Zutritt zu den Familien u. den Herzen der frommen Mutter sich hätte bahnen können“.198 Für den Turisker Rebbe war Lilienthals fremde Herkunft von Vorteil, da, so Lilienthal, die Wahl eines Juden aus dem Zarenreich nur den Neid der verschiedenen Parteien und Strömungen innerhalb des russländischen Judentums erregt hätte.199 Und auch die aufgeklärten Juden feierten Lilienthal nicht zuletzt auf Grund seiner Herkunft aus dem Mutterland der Haskala, wobei er alle positiven Eigenschaften zu verkörpern schien, die sich die russländischen Juden aneignen sollten.200 Vor diesem Hintergrund mag es kaum überraschen, dass mehr als 35 jüdische Gemeinden, die Lilienthal besucht hatte, Dankadressen nach Petersburg sandten und sich schriftlich bereit erklärten, nach dem Wunsch der Regierung Schulen zu eröffnen.201 Nach Meinung des Magdeburger Rabbiners Philippson wurde „ihnen diese Wohlthat nicht durch Zwang, nicht durch Missionäre aufgedrungen“. Vielmehr habe man den russländischen Juden „auf wahrhaft humane Weise […] einen für seine Sache begeisterten Israeliten zu[gesandt], um sie aufzuklären“.202 Philippson erkannte also auch einen von Lilienthal vermittelten Kulturtransfer an, der ohne Zwangsmaßnahmen durchgeführt wurde. Wenn man aber bedenkt, dass Lilienthal nicht zuletzt in seinem an alle Gemeinden gesandten Maggid Jeschu’a eindeutig auf die negativen Konsequenzen eines Widerstands gegen die Bildungsreform hingewiesen hatte, so erscheint die vermeintliche Freiwilligkeit in einem anderen Licht. 1.1.9 Lilienthals Vorschlag für das jüdische Schulgesetz Nach seiner Rückkehr von der Reise durch den Ansiedlungsrayon hatte Lilienthal dem Minister nicht nur einen Bericht vorgelegt und ihn über die erwähnten Schwierigkeiten bei der Umsetzung der jüdischen Bildungsreform unterrichtet, sondern Ende Januar 1843 auch einen umfangreichen und detaillierten Plan für das künftige jüdische Schulsystem eingereicht. Hier konnte sich konkret zeigen, auf welche Weise der deutsche Rabbiner die bei seiner Reise gewonnenen Erkenntnisse umsetzen wollte.203 198 Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 31. 199 Vgl. Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 28. 200 Vgl. bspw. Brief Malezyners an Lilienthal aus Kisˇinev, 10. 11. 1842. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 41 oder auch dessen Bericht in der AZJ 2, 14. 1. 1843, 22 – 23. 201 Vgl. RGIA, 1269, 1, 15, 2; Bericht Lilienthals über die Reise durch alle von den Juden bewohnten Gouvernements. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 24. 202 AZJ 2, 14. 1. 1843, 19. 203 Warum Stanislawski, dem diese Quellen zur Verfügung standen, mit keinem Wort auf diese eingeht, ist angesichts der Bedeutung völlig unverständlich. Dies gilt im Übrigen auch für die

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Wie Lilienthal schon früher vorgeschlagen hatte, sollten aus Rücksicht auf Vorbehalte der bemittelten und angesehenen Juden niedere und höhere Schulen sowohl für Knaben reicher wie auch armer jüdischer Eltern eingerichtet werden, die sie vom fünften bis zum sechzehnten Lebensjahr besuchen sollten. Der Lehrplan für die jeweils dreiklassigen niederen Lehranstalten für bemittelte sowie unbemittelte Knaben war weitgehend identisch.204 In der ersten Klasse sollten Lesen und Schreiben der hebräischen, deutschen und russischen Sprache, Rechnen, hebräische Gebete und religiöses Zeremoniell unterrichtet werden. In der zweiten Klasse sollten Vertiefungsunterricht und zusätzlich vor allem Unterricht im Pentateuch und in der biblischen Geschichte erteilt werden. Im Gegensatz zu den niederen Schulen für arme Knaben sollten im Pendant für vermögende Jungen noch Kalligraphie und Zeichnen gelehrt werden. In der dritten und letzten Klasse stand schließlich nochmals der Pentateuch, die geschichtlichen Bücher der Bibel und das Gebetbuch des Jacob von Lissa auf dem Lehrplan, das, so Lilienthal, „im Auszug alle jüdischen Ceremonieen enthält und den Talmud erspart“.205 Demnach war in den niederen Schultypen kein eigenständiger Talmud-Unterricht vorgesehen. Der weitere Lehrplan der letzten Klasse der niederen Schulen war schließlich doch unterschiedlich: Während in den entsprechenden Lehranstalten für mittellose Knaben „hebräische Sittenlehre aus dem moralischen Werke Menorath hamaor“206 gelehrt werden sollte, war in den niederen Schulen für bemittelte Knaben ein „summarischer Religionsunterricht“ vorgesehen, wobei es der deutsche Rabbiner offenließ, was er darunter verstand. Darüber hinaus sollte in den letztgenannten Schulen Grammatikunterricht im Hebräischen, Deutschen und Russischen erteilt werden und in den Erstgenannten keine Unterweisung in der Formenlehre der Heiligen Sprache stattfinden. Der Grundlagenunterricht in Mathematik war dagegen weitgehend identisch. In den niederen Schulen für bemittelte Knaben sollten zudem Kalligraphie und Zeichnen gelehrt werden, und für diejenigen, die ein Universitätsstudium anstrebten, war auch Lateinunterricht vorgesehen. Je nach Neigung sollten die Absolventen dieses Schultyps auf die Akademien, Gymnasien oder entsprechenden höheren jüdischen Lehranstalten überwechseln. Demgegenüber sollten die Zöglinge der niederen Anstalten für unbemittelte Knaben in den letzten beiden Klassen vor allem Unterricht in Gartenbau, Feldarbeit und technologischen Fertigkeiten erhalten und nach Abschluss Reise Lilienthals durch den Ansiedlungsrayon selbst. Stanislawski verweist zwar kurz auf die Existenz diesbezüglicher Quellen, verwendet sie aber für seine Darstellung nicht. 204 Eine Klasse sollte eineinhalb Jahre dauern, so dass die jeweils dreiklassigen Schultypen einen viereinhalbjährigen Kursus umfassten. 205 Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 69. 206 Ein aus dem 14. Jahrhundert stammendes Werk von Rabbiner Jitschak Abohav, das in deutscher Übersetzung als Lichtspendender Leuchter erschien und eine Sammlung der jüdischen Ethik aus Bibel und Talmud enthielt.

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126 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert entweder einen Handwerksberuf erlernen oder die entsprechenden höheren jüdischen Schulen besuchen. Die höheren Lehranstalten für die beiden sozialen Klassen unterschieden sich im Lehrplan sehr stark voneinander. Während die Anstalten für arme Kinder als Farmen konzipiert waren und demgemäß vor allem Acker- und Gartenbau sowie Technologie auf dem Lehrplan standen, sollten diejenigen für vermögende Knaben Realschulen sein, in denen zusätzlich Französisch, alte, mittelalterliche und neuere Geschichte, Buchhaltung, populäre Physik, populäre Chemie, Zeichnen, Geographie und Literatur unterrichtet werden sollten. In den höheren Schulen für unbemittelte Knaben war hingegen insoweit nur ein elementarer Unterricht in Geschichte, Geographie und Naturgeschichte beabsichtigt. Des Weiteren sollten in beiden Schulzweigen Mathematik sowie weiterführender Unterricht im Tanach – den Propheten und den Psalmen – erteilt werden, und es sollte das erwähnte Gebetbuch des Jakob von Lissa behandelt werden. Insgesamt hatte Lilienthal den religiösen Unterricht in den höheren Schulen für bemittelte Knaben weitaus stärker berücksichtigt, wobei der auffallendste Unterschied der war, dass in diesen Schulen in allen drei Klassen Talmud gelehrt werden sollte, was im entsprechenden Schultyp für unbemittelte Knaben nicht der Fall war.207 Ebenso sollten auch nur die bemittelten Knaben in den Genuss eines gesonderten Hebräischunterrichts kommen. Insgesamt ist bei den religiösen Fächern – wie in aufklärerischen Kreisen des deutschen Judentums propagiert – eine deutliche Vorrangstellung des Bibel- und Moralunterrichts zu erkennen. Grundsätzlich wollte der deutsche Rabbiner nach deutsch-jüdischem Vorbild in den künftigen jüdischen Schulen das noch junge Fach Religionsunterricht einführen, wozu in der jeweils letzten Klasse der höheren Schulen auch die Vorbereitung auf die ebenfalls aus dem deutschen Judentum übernommene jüdische Konfirmation gehörte. Darüber hinaus hielt Lilienthal es für ratsam, nach dem Beispiel Bayerns und Württembergs auch an den (christlichen) Gymnasien, die unter Umständen von Absolventen der niederen Schulen für reiche Knaben besucht werden sollten, nach Abschluss des regulären Unterrichts einen gesonderten Religionsunterricht von Rabbinern oder jüdischen Religionslehrern erteilen zu lassen, was den Widerwillen der jüdischen Bevölkerung gegen den Besuch dieser christlichen Lehranstalten mindern würde. Der Einfluss deutsch-jüdischer Reformschulen auf Lilienthals Lehrplan für die künftigen jüdischen Knabenschulen war unübersehbar. Zwar ließ der deutsche Rabbiner beispielsweise Mendelssohns Pentateuchübersetzung 207 Nur die Sprüche der Väter, Pirkei Avot, waren in den höheren Armenschulen vorgesehen. Zwar handelt es sich hier um einen Traktat aus der Mischna, jedoch ist seine Sonderstellung unübersehbar, da die für den übrigen Talmud üblichen Kommentare in Form der Gemara fehlen und der Traktat auch keine halachischen Vorschriften enthält. Wenn Lilienthal die Pirkei Avot als Unterrichtsgegenstand für die höheren Armenschulen vorsah, dann vor allem wegen ihres ethisch-sittlichen Gehalts und des Umstandes, dass diese Bestandteil der Liturgie sind.

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sowie den dazugehörenden Kommentar (Bi’ur) im Curriculum unberücksichtigt, obwohl sie in der von ihm anfänglich geleiteten jüdischen Gemeindeschule in Riga verwendet worden waren. Jedoch konnte damit kaum die beabsichtigte grundsätzliche Ausrichtung der projektierten Schulen verdeckt werden. Für traditionsorientierte Juden musste zumindest nach dem Lehrplan das religiöse Element als völlig unterrepräsentiert und falsch konzipiert erscheinen. Allerdings befand sich der deutsche Rabbiner auch in einer wenig beneidenswerten Situation. Um den gegensätzlichen Erwartungen der Regierung auf der einen und der traditionsorientierten Juden auf der anderen Seite zu entsprechen, musste der Lehrplan notgedrungen Kompromisscharakter aufweisen, der aber letztlich keine der beiden Seiten ganz befriedigen konnte. Wie schon zwei Jahre zuvor bei seinen Unterredungen im Bildungsministerium vorgeschlagen, sollten nach Lilienthals Erziehungsplan auch spezielle jüdische Mädchenschulen in jeder Gouvernementsstadt und, wenn notwendig, in jeder Kreisstadt errichtet werden, die von armen wie reichen Mädchen vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr gleichermaßen besucht werden sollten. Von diesen Mädchenschulen erwartete Lilienthal eine positive Auswirkung auf die Akzeptanz der jüdischen Schulen für Knaben. Er meinte, da die jüdischen Mädchen in viel geringerem Maße den Religionsvorschriften unterworfen seien und man von ihnen auch keine Talmudkenntnisse verlange, würden sich die Eltern viel leichter dazu durchringen können, ihre Töchter in diese Schulen zu schicken, was „das unbemerkte Bestehen der Mädchenschulen in Wilna, Berditschew und Odessa“ beweise. Damit würden die Eltern grundsätzlich an den Schulbesuch ihrer Kinder, also auch ihrer Söhne, gewöhnt werden, und ausserdem würden die in den Schulen unterrichteten Mädchen zu guten Müttern erzogen werden und später ihre Kinder bereitwillig in die staatlichen jüdischen Lehranstalten schicken. Dies war ein Gedanke, der zweifellos, wie das Beispiel des deutschen Judentums teilweise zeigt, nicht von der Hand zu weisen war. Und auch bei der Zielsetzung der jüdischen Mädchenschulen hatte sich Lilienthal am deutschen Judentum orientiert, sollten sie doch vor allem zur Bürgerlichkeit oder zur Verbürgerlichung erziehen:208 „Ihr Zweck würde seyn, anstatt der jetzigen Handelsfrauen und Handelsmädchen stille häusliche, künftige Mütter zu erziehen, die mit der bisherigen Sittenreinheit den zarten Frauensinn für das zurückgezogene Familienleben und wahre Religiosität verbinden.“209

208 Zu den frühen deutsch-jüdischen Mädchenschulen als Orte der Verbürgerlichung vgl. Lässig, Wege, 34, 336 – 346.

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128 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Was für das deutsche Judentum der damaligen Zeit zum Teil bereits zugetroffen haben mag, klang im russländisch-jüdischen Kontext alles andere als realistisch, da die sozioökonomische Lage der jüdischen Bevölkerung einer solchen Zielsetzung diametral entgegenstand. Zum einen wurden die Jüdinnen auf Grund der im Ansiedlungsrayon herrschenden Armut als Arbeitskräfte zur Bestreitung der Lebenshaltungskosten dringend benötigt, was insbesondere nur durch gesetzliche Erleichterungen geändert werden konnte. Zum anderen war das russländische Judentum noch überwiegend traditionellreligiös orientiert, so dass nicht wenige Ehefrauen durch ihre Tätigkeit und den daraus erzielten Verdienst das permanente Talmudstudium ihrer Ehemänner sowie den dadurch verursachten Einkommensausfall finanzierten. Der von Lilienthal angestrebte Verbürgerlichungsprozess war daher für die Zukunft kaum zu erwarten, zumal ja das nichtjüdische Umfeld nicht bürgerlich, sondern agrarisch geprägt war. Wie aber sah der Lehrplan der jüdischen Mädchenschulen konkret aus? Im Gegensatz zu den jüdischen Knaben war hier nur eine Schulstufe mit vier Klassen vorgesehen, die weitgehend einer Synthese der niederen und höheren Armenschulen für jüdische Knaben entsprach. Freilich sollten die Mädchen nach dem Willen Lilienthals nicht in Ackerbau, Handwerk und Technologie unterwiesen werden, sondern einen geschlechtsspezifischen Unterricht erhalten: Wie in den deutsch-jüdischen Mädchenschulen der Emanzipationszeit sollte neben dem obligatorischen Religionsunterricht und einer Unterweisung in den Elementarfächern auch Handarbeitslehre (wie Sticken, Stricken und Nähen) auf dem Curriculum stehen. Darüber hinaus schlug Lilienthal vor, armen jüdischen Mädchen das Waschen beizubringen, wobei den Schulen Waschanstalten angegliedert werden sollten. So hätten nämlich die Lehranstalten noch eine zusätzliche Einnahmequelle, sei doch die Wäsche bisher nur Christen zum Waschen gegeben worden. Auch wäre damit, was der Rabbiner aber nicht erwähnte, grundsätzlich eine neue Erwerbsmöglichkeit für Jüdinnen geschaffen. Ebenso wie ihre männlichen Glaubensgenossen sollten auch die jüdischen Schülerinnen in der letzten Klasse auf die Konfirmation vorbereitet werden. Der Religionsunterricht war ähnlich gestaltet wie in den jüdischen Armenschulen für Knaben, jedoch mit dem auffallenden Unterschied, dass im Lehrplan der jüdischen Mädchenschulen ausdrücklich das „Lesen der deutschübersetzten Bibel“ vorgesehen war. Ob dabei Mendelssohns Übersetzung herangezogen werden sollte, blieb offen. Jedenfalls zielte dieser Vorschlag auf eine Eindämmung des Jiddischen ab, waren doch seit langem in weiblichen jüdischen Kreisen am populärsten die Werke Tse’ena u-Rena, eine jiddischspachige Zusammenfassung biblischer Geschichten, sowie die Techi-

209 Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 71.

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nes, jiddischsprachige Gebete, die sich um den Wochen- und Lebenszyklus osteuropäischer Jüdinnen drehten.210 Lilienthals umfassender Bildungsplan sah neben der Gründung moderner jüdischer Schulen für Knaben und Mädchen auch die Errichtung eines Lehrerund Rabbinerseminars vor, ein Vorschlag, den er, wie ausführlich dargestellt, erstmals Ende 1839 bei der Regierung eingereicht und 1841 offenbar wiederholt hatte.211 Deutlich vor Augen bei seinen Ausführungen hatte Lilienthal den Misserfolg der seit 1826 bestehenden Warschauer Rabbinerschule, die weder den ihr ursprünglich zugeschriebenen Zweck – die Ausbildung von modernen Rabbinern und Lehrern – zu erfüllen vermochte noch über Ansehen bei den traditionsorientierten Juden verfügte. Daher sollte laut Lilienthal der Direktion des künftigen Lehrer- und Rabbinerseminars „einer der tüchtigsten und einflußreichsten Talmudisten“ zugeteilt, eine „geistlichere“, also religiösere Disziplin als in Warschau eingeführt und zumindest anfangs, ähnlich wie in der Volozˇiner Jeschiva, auf größten Fleiß Wert gelegt werden.212 Wer aber sollte an den künftigen jüdischen Schulen unterrichten, solange dieses Lehrer- und Rabbinerseminar noch keine Absolventen bieten konnte? Zunächst stellte Lilienthal fest, dass nach dem Gesetz als Lehrer für die säkularen Fächer sowohl Juden als auch Christen herangezogen werden könnten, was angeblich auch bei der jüdischen Bevölkerung selbst auf keinen Widerspruch stoßen würde, wenn die christlichen Lehrer über eine Lehrbefugnis verfügten. Bezüglich der jüdischen Lehrer, die allein die religiösen Fächer unterrichten konnten, sollte man auf jüdische Untertanen aus dem Zarenreich, darunter sowohl Autodidakten als auch Absolventen von Gymnasien und Lyzeen, zurückgreifen, „was die grossen Kosten der früher projektirten Berufung der Ausländer sehr vermindern würde“.213 Implizit wird daran deutlich, dass man offenbar schon seit Längerem große Bedenken hatte, ausländische, insbesondere deutsche Juden als Lehrer an den künftigen jüdischen Schulen des Russländischen Reiches anzustellen, wobei der gewaltige finanzielle Aufwand hierfür ausschlaggebend war. Bereits in der Instruktion für seine Reise durch den Ansiedlungsrayon war Lilienthal aufgetragen worden, eine Liste mit geeigneten Lehrern für die künftigen staatlichen jüdischen Schulanstalten zu erstellen. In dieser Hinsicht vertrat beispielsweise Marek in seinem zu Beginn des 20. Jahrhunderts publizierten Werk zur Haskala im Zarenreich die Meinung, Lilienthal habe wohl kaum großen Eifer an den Tag 210 Vgl. zur Bedeutung dieser Werke bzw. Literaturgattungen in Osteuropa Stampfer, Gender, 70 – 71. 211 Dies erwähnt Lilienthal in seinem Schulplan, ohne dabei näher einzugehen. Aus den vorhandenen Quellen geht nicht hervor, ob es sich dabei im Großen und Ganzen um den Vorschlag von 1839 handelte. 212 Vgl. Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 72. 213 Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 73.

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130 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert gelegt, da er schließlich die Berufung von ausländischen Lehrern favorisiert habe.214 Diese These wird aber durch die Quellen völlig widerlegt. Der deutsche Rabbiner übergab dem Bildungsminister sehr wohl eine umfangreiche Liste mit Kandidaten für das Lehramt, die sich wie ein Who’s Who der russländischen Haskala liest, waren darunter doch so illustre Namen wie Isaak Ber Levinzon, Hirsch Kacenelenbogen, Samuel Joseph Finn, Josef Zejberling, Daniel Chvolsohn, Mordechai Aaron Ginzburg, Chaim Slonimskij und Abraham Ber Gotlober. Insgesamt waren nicht weniger als 81 Personen aufgelistet, von denen Lilienthal mindestens 61 die Fähigkeit zusprach, als Lehrer an den künftigen staatlichen jüdischen Schulen zu unterrichten. Darüber hinaus gebe es noch 100 bis 120 jüdische Gymnasiasten, meinte Lilienthal, deren Namen er jedoch nicht eigens aufführte.215 Damit war offenbar eine hinreichende Zahl von jüdischen Lehrern aus dem Zarenreich selbst vorhanden. Allenfalls als Gouvernementsschulinspektoren könnten, so Lilienthal, „bei Ermangelung einer hinlänglichen Anzahl durch methodischen Unterricht gebildeten Inländer eine kleine Anzahl besonders tüchtiger Ausländer berufen werden, die aber nicht auf blosse Empfehlung – da nicht nur Jost verwirft, wen Philippson empfiehlt, sondern einem jüngst eingelaufenen Briefe zufolge Dr Jost selbst für seine Empfohlenen nicht steht – sondern nur nach persönlicher Auswahl kommen dürften“.216 Offenbar hatten also auch die Rivalität der beiden deutschen Juden sowie Zweifel an den Empfehlungen die Suche nach geeigneten Kandidaten erschwert und möglicherweise zu einem Umdenken im Bildungsministerium und bei Lilienthal geführt. Lilienthal wollte aber nicht nur weitgehend auf die Berufung ausländischer Juden als Lehrer verzichten und den Lehrerbedarf durch gebildete einheimische Juden decken, sondern überdies – und auch das war neu – fähige Melamdim in den neuen Schulen anstellen. Hatte er nach seinem Fiasko in Wilna und Minsk auf die Abschaffung ihres Standes durch repressive Maßnahmen gesetzt, so wollte er nun zumindest einen Teil der Melamdim, die er als „Hauptfeinde der neuen Schulen“ ausmachte, einbinden und damit ihren Widerstand neutralisieren. Unter Aufsicht könnten sie den Lese- und den Bibelunterricht erteilen und würden sich teilweise mit der Zeit auch die Fähigkeiten für den höheren Unterricht erwerben. Die Anstellung von Melamdim hätte auch einen finanziellen Vorteil, da sie weitaus weniger kosten würden. Die fortbestehende ablehnende Haltung des deutschen Rabbiners gegenüber den Privatlehrern der Chadarim zeigte sich aber darin, dass er ihnen rechtliche Privilegien, die den anderen Lehrern zugestanden werden sollten, 214 Vgl. Marek, Ocˇerki, 45. 215 Vgl. Lilienthal, Verzeichnis derjenigen Männer, die bei den neu zu errichtenden Schulen angestellt oder für dieselben fortgebildet werden können, 27. 1. 1843. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 55 – 57. 216 Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 73.

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vorenthalten wollte. Er ließ sich also in erster Linie von Pragmatismus leiten. In diesem Sinne sprach er sich grundsätzlich für ein Verbleiben der Melamdim aus, da sich sonst schwerwiegende Probleme ergeben würden. Wie aus Lilienthals Schulplan hervorgeht, hatte Uvarov offenbar zunächst vorgehabt, im Ukaz vom 22. Juni 1842 auch ein Verbot der Melamdim zu verfügen, dies jedoch angesichts der bevorstehenden Reise Lilienthals durch den Ansiedlungsrayon vertagt, da andernfalls erhebliche Schwierigkeiten für den deutschen Rabbiner zu erwarten gewesen wären. Lilienthal wies nun darauf hin, dass diese Schwierigkeiten auch nach Beendigung seiner Reise weiter bestünden und die offenbar bereits 1841 ausgearbeiteten Maßnahmen gegen die Chederlehrer nicht erlassen werden sollten. Damit könne sich die Rabbinerkommission beschäftigen. Grundsätzlich sei es aber sehr zu empfehlen, in oder neben dem Schulhaus eine Wohnung anzumieten, in der alle Melamdim an Ort und Stelle unter der Aufsicht der jüdischen Schulinspektoren ihren Unterricht erteilen könnten. Vom wechselseitigen Einfluss und von der Konkurrenz versprach sich der Rabbiner über kurz oder lang ein Zusammengehen der beiden Schultypen, wobei sich freilich zuvor die überkommene Methode der Melamdim in Nichts aufgelöst hätte. Ebenso setzte sich Lilienthal für ein besonders zurückhaltendes Vorgehen gegenüber den anderen traditionellen jüdischen Lehranstalten wie etwa den Talmud-Torot, Jeschivot und Klausen ein. Sie sollten zunächst nur unter passive Aufsicht der Schulbehörden gestellt, dann allmählich Veränderungen unterworfen und schließlich mit den modernen jüdischen Schulen vereinigt werden. Ein radikales Vorgehen gegen die traditionellen Anstalten würde Misstrauen hervorrufen und möglicherweise zu ihrem sofortigen Zusammenbruch führen, was zu verhindern sei, da der Erhalt dieser Anstalten nach einer vorsichtigen Umgestaltung weitaus nutzbringender wäre. Grundsätzlich hatte Lilienthal schon eingangs in seinem Schulplan folgende Empfehlung ausgesprochen: „Überhaupt muss mit vieler Schonung und Umsicht gehandelt werden, sowohl was die Wahl der Lehrer, der Schulgegenstände, die Anzahl der täglichen Stunden, die Regulirung der Melamdim und bestehenden Schulen betrifft. Ein Anlehnen an die 1800 jährige Gewohnheit und ein allmähliges, consequentes Entwickeln des neuen Erziehungssystems wird – wie Deutschlands Beispiel es lehrt, wo sieben Jeschiboth ohne fremden Einfluss von selbst verschwanden, weit segensreicher wirken, als wenn gewaltsam alles Alte über den Haufen geworfen und fremdes dem Volke undenkbares Neue an dessen Stelle gesetzt wird.“217

Auf Umsichtigkeit setzte Lilienthal auch bei der Zusammensetzung der einzelnen jüdischen Schulkommissionen, deren Bildung bereits im Ukaz vom 22. Juni 1842 verfügt worden war. Sie sollten aus den angesehensten Talmu217 Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 67 – 68.

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132 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert disten und einflussreichsten Gemeindemitgliedern bestehen. Zum einen würde man ihnen damit schmeicheln und sie für die Reform gewinnen, zum anderen würden sie durch ihre Beschäftigung mit den Schulen auch beim Volk an „Heiligkeit“ gewinnen und sich somit etablieren können. Wie schon erwähnt, hatte Lilienthal dazu eine umfangreiche Liste mit potentiellen Kommissionsmitgliedern vorgelegt, wobei er den einzelnen Gemeinden selbst das Vorschlagsrecht überlassen hatte.218 Grundsätzlich schlug Lilienthal eine Hierarchisierung von Gouvernements-, Lehrbezirks- und Oberschulinspektoren sowie nach dem Muster Frankreichs, Hollands und Württembergs die Einrichtung einer mit jüdischen Gelehrten besetzten jüdischen Oberschulkommission beim Bildungsministerium vor. Auch dies sollte nicht zuletzt als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber der jüdischen Bevölkerung gedacht sein und ihr die Befürchtung nehmen, es „würde die Sache in Petersburg nur mit Getauften verhandelt“ werden.219 Zuletzt sei noch kurz auf den Abschnitt über die den Lehrern und Schülern einzuräumenden Rechte eingegangen. Bezüglich der jüdischen Lehrer stellte es Lilienthal der Entscheidung Uvarovs anheim, ob ihnen die von ihm aufgezählten zahlreichen Privilegien, die letztlich eine Gleichstellung mit ihren christlichen Kollegen bedeutet hätten, zugestanden werden würden. Aus seiner Formulierung geht jedoch eindeutig hervor, dass der deutsche Rabbiner die Gewährung dieser Privilegien befürwortete. Die Schüler der künftigen Lehranstalten sollten während der Dauer des Schulbesuchs von der Rekrutierung befreit sein. Ein Vater, der seine Kinder alle Klassen der jüdischen Schulen absolvieren lasse, sollte durch Zahlung eines bestimmten Rekrutengelds seinen Söhnen den Militärdienst gänzlich ersparen können. Dadurch würde die Akzeptanz der neuen Lehranstalten stark zunehmen.220 Lässt man Lilienthals Vorschlag für eine jüdische Bildungsreform insgesamt nochmals Revue passieren, so wird deutlich, dass er alle Elemente des Bildungskanons enthielt, der von den deutschen Maskilim propagiert wurde. Dass sich der deutsche Rabbiner dennoch darum bemühte, auch die Befürchtungen der traditionellen Juden zu berücksichtigen, ist offensichtlich. Ob dies jedoch in deren Augen ausreichend war, ist zweifelhaft. Die alles entscheidende Frage blieb aber, wie sich die russische Regierung und auch die vorgesehene Rabbinerkommission zu Lilienthals Schulplan stellen würden.

218 Vgl. Lilienthal, Namensliste der berühmtesten Rabbinen u. der bedeutendsten jüdischen Gemeindeglieder zur Bildung der Allerhöchst anbefohlenen einzelnen Schulkommissionen. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 50 – 55. 219 Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 74 – 75. 220 Vgl. Lilienthal, Bericht über das neueinzuführende Erziehungssystem und den neuen Schulustav. JNUL, ARC. 48 1281/A, 13/1, 2. Teil, 75 – 76.

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1.1.10 Die Rabbinerkommission in St. Petersburg Nach seiner Rückkehr in die russische Hauptstadt und der Ausarbeitung des Schulplans stand Lilienthal schon eine weitere Aufgabe bevor: die Mitwirkung bei der Vorbereitung der einzuberufenden Rabbinerkommission. In diesem Zusammenhang war wohl der bei weitem wichtigste Aspekt die Frage des Teilnehmerkreises. Entsprechend dem Ukaz vom 22. Juni 1842 sollten auf jüdischer Seite vier Rabbiner an der Kommission teilnehmen, nämlich jeweils einer aus den vier von Juden bewohnten Generalgouvernements. Bis jetzt standen jedoch erst zwei Teilnehmer fest: der Rabbiner und Jeschiva-Leiter Isaak ben Haim aus Volozˇin, der für die Juden des Wilnaer Generalgouvernements den Platz in der Kommission einnehmen sollte, und der Tsaddik der Ljubavicˇer Chassidim Mendel Schneersohn, der die Juden des weißrussischen Generalgouvernements repräsentieren sollte. Ihn hatte man aus Gründen der Legitimierung der Reform offenbar regelrecht zur Teilnahme gezwungen, hatte er doch, wie Lilienthal berichtete, eine Krankheit vorgetäuscht, um nicht an der Rabbinerkommission teilnehmen zu müssen.221 In Bezug auf die beiden übrigen Kommissionsmitglieder gestaltete sich die Suche allerdings etwas schwieriger. Mit Zustimmung Uvarovs hatte Lilienthal noch vor seiner Reise durch den Ansiedlungsrayon die wohl einflussreichsten und bekanntesten Repräsentanten des westeuropäischen Judentums der damaligen Zeit, Sir Moses Montefiore und Adolphe Cremieux, eingeladen, an den Beratungen der Kommission teilzunehmen. Beide wollten die Einladung jedoch nur unter bestimmten Bedingungen – insbesondere verlangten sie eine offizielle Einladung der Regierung – annehmen und ließen sich in ihrer Haltung auch nicht durch zahlreiche von Lilienthal initiierte Bittbriefe russischjüdischer Gemeinden beirren. Da die russische Regierung aber nicht zu Zugeständnissen bereit war, nahmen Uvarov und Lilienthal wieder Abstand von dem Vorhaben, ausländische Juden für die Rabbinerkommission zu gewinnen.222 Ihre Wahl fiel schließlich auf den bereits erwähnten Maskil und Direktor der jüdischen Schule in Odessa Bezalel Stern sowie auf den Berdicˇever Bankier Israel Halperin. Damit wurde aber die Bezeichnung Rabbinerkommission konterkariert, da beide keine Rabbiner waren. Von Regierungsseite nahmen an den Beratungen Minister Uvarov, zwei seiner Beamten und Lilienthal teil. Als Legende muss jedoch die Behauptung abgetan werden, dass zwischen den einzelnen Mitgliedern der Kommission 221 Dass Schneersohn in erster Linie durch seine Teilnahme die Reform legitimieren sollte, bestätigt auch Sołakiewicz. Laut ihr war es übrigens auch eine gängige Haltung Schneersohns, sich der Vereinnahmung durch die Obrigkeit durch Verweis auf seine schlechte Gesundheit oder fehlende finanzielle Mittel zu entziehen. Vgl. Sołakiewicz, Tsemah, 61, 70. 222 Zu den Gründen ihrer Absage vgl. Meisl, Haskalah, 98. Einzelne Briefe sind abgedruckt in: Perezˇitoe, Bd. 1. Zur Korrespondenz Lilienthals mit Montefiore und Cremieux vgl. J. Gessen, godov, 150 – 152. Vgl. auch Lozinskij (Hg.), Opisanie, 116 – 117.

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134 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ein fundamentales Verständigungsproblem bestanden habe — Isaak ben Chaim Volozˇiner und Mendel Schneersohn sprachen nur Jiddisch, das angeblich auch Lilienthal nicht verstand223— und deshalb der jüdische Student Leon Mandel’sˇtam (1819 – 1889), der jüngere Bruder des mehrfach erwähnten Wilnaer Maskil Benjamin Mandel’sˇtam, als Übersetzer und Protokollant herangezogen worden sei. Lilienthal war des Jiddischen zumindest insoweit mächtig, als er sich während seiner Reise durch den Ansiedlungsrayon mit den beiden genannten Kommissionsmitgliedern des traditionellen Judentums verständigen konnte und sogar Predigten in dieser Sprache hielt. Die Anstellung eines Übersetzers war wohl eher für die nichtjüdischen Teilnehmer und auch aus protokollarischen Gründen notwendig.224 Am 18. Mai 1843 wurde schließlich die Kommission von Uvarov einberufen. Da die Beratungen hinter verschlossenen Türen stattfanden und auch keine offiziellen Aufzeichnungen darüber zu existieren scheinen, lassen sich über den Verlauf der Verhandlungen und insbesondere über die Rolle Lilienthals keine genauen Angaben machen. Ein Umstand ist jedoch überliefert, der auf den ersten Blick überraschen mag: die während der Sitzungen zu Tage tretende Rivalität zwischen Lilienthal und Stern. Obwohl Stern selbst ein Maskil war und als Direktor der modernen jüdischen Schule in Odessa eigentlich den Aufbau zeitgemäßer jüdischer Schulen und somit auch Lilienthals Wirken in dieser Beziehung hätte begrüßen müssen, geriet er immer wieder mit dem deutschen Rabbiner in Konflikt. Warum offenbar gerade Stern eine tiefe Aversion gegenüber Lilienthal empfand, ist nicht bekannt. Angeblich soll er ihn des Betrugs und falscher Versprechungen bezichtigt haben, da Lilienthal während seiner Reise durch den Rayon gegenüber den Juden von einer Erweiterung ihrer Rechte gesprochen habe.225 Wie wir wissen, kann davon keine Rede sein. Lilienthal mag zwar rechtliche Erleichterungen im Gegenzug zum Erwerb von Bildung in Aussicht gestellt haben, aber versprochen hat er wohl nichts. Tatsache ist hingegen, dass er bei der Regierung fortgesetzt und noch immer für die Gewährung rechtlicher Verbesserungen zu Gunsten der jüdischen Bevölkerung geworben hat. Wie sich die Regierung hierzu letztlich stellen würde, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, auch ihm nicht. Oftmals wird als Grund für die Rivalität angegeben, dass Stern eigentlich selbst unter den Juden die führende Rolle bei der Umgestaltung des jüdischen Bildungswesens beansprucht und insofern Lilienthal, dem ausländischen Juden, seine Stellung geneidet habe. Ein anderer Erklärungsversuch geht von einem grundsätzlichen Dissens der beiden über die Art und Weise der Verbreitung der Aufklärung aus. Während Lilienthal auf eine zwangsweise Einrichtung von Schulen durch die Regierung gesetzt habe, sei Stern der Ansicht 223 Vgl. Beleckij, Vopros, Nr. 4, 24. 224 Im Übrigen verstand Isaak Ben Chaim Volozˇiner sehr wohl Russisch, Halperin hingegen nur Jiddisch. 225 Vgl. Stanislavskij, istorii, 142.

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gewesen, dass die Initiative von den Gemeinden selbst ausgehen müsse, um zum Erfolg zu führen.226 Diese Ansicht war auf jeden Fall richtig, ob Stern sie nun tatsächlich vertreten hat oder nicht. Allerdings wird der ganze Erklärungsversuch dem Wirken Lilienthals kaum gerecht. Zwar hatte er zunächst auf Zwangsmaßnahmen gesetzt, doch nach seiner Reise durch den Ansiedlungsrayon sprach auch er sich für ein ganz behutsames Vorgehen bei der jüdischen Bildungsreform aus und befürwortete im Grunde die Einbeziehung der Gemeinden. Freilich lässt sich nicht leugnen, dass er – beispielsweise in Maggid Jeschu’a – gedroht hatte, wenn sich die Gemeinden weigerten, selbst moderne jüdische Schulen zu gründen, dies die Regierung veranlassen werde, solche Schulen zu oktroyieren. Auf Grund der fehlenden Quellen über die Beratungen selbst werden im Folgenden nur die abschließenden Empfehlungen der Kommission zur jüdischen Schulreform kurz dargestellt.227 Nach Auffassung der Kommission sollten die Knaben frühestens ab dem achten Lebensjahr die neuen staatlichen Schulen besuchen, bis dahin aber eine ausschließlich religiöse Erziehung erhalten. Als Lehrer sollten in den neuen Lehranstalten nur Juden unterrichten dürfen. Die Religionsgesetze sollten nicht in Form eines deutschen Katechismus, sondern mit Hilfe der Urquellen (Bibel und Talmud) gelehrt werden. Der Unterricht profaner Fächer sollte ebenfalls zugelassen werden, jedoch im Vergleich mit der religiösen Erziehung nur eine untergeordnete Rolle spielen, indem den weltlichen Lehrgegenständen nicht mehr als ein Drittel der gesamten Unterrichtszeit eingeräumt würde. Von dem Vorhaben, ausländische Juden als Lehrer anzustellen, die von ihren russländischen Glaubensgenossen als Häretiker hätten gebrandmarkt werden können, nahm die Kommission Abstand. Stattdessen sollte ein Seminar errichtet werden, das nicht nur für die Ausbildung von künftigen Lehrern, sondern auch für die der Rabbinerkandidaten zuständig war. Daher sollte in den höheren Klassen des Seminars kein Unterricht in weltlichen Fächer erteilt werden. Die traditionellen jüdischen Schultypen wie Cheder, Talmud-Tora und Jeschiva sollten weiter bestehen, sich allerdings nach einem von der Rabbinerkommission ausgearbeiteten Lehrplan richten. Darüber hinaus empfahl die Kommission, in den höheren „Klassen“ der Talmud-Torot und der Chadarim Russisch lehren zu lassen. In Bezug auf die weitere Existenz der Melamdim schlossen die Kommissionsmitglieder einen Kompromiss: Sie sollten in den traditionellen Schulen zunächst weiterhin unterrichten dürfen, wobei von ihnen nur gefordert würde, dass sie sich bei der Schulobrigkeit anmeldeten. Später sollten sich jedoch die Melamdim wie auch alle anderen, die ihre Lehrtätigkeit an den traditionellen Lehranstalten fortsetzen wollten, einer Eignungsprüfung unterziehen. Die

226 Vgl. Morgulis, istorii, 55. 227 Warum Stanislawski in seinem Werk zu Zar Nikolaus I. und den Juden hierauf mit keinem Wort eingeht, ist nicht nachvollziehbar.

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136 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Aufsicht über alle jüdischen Lehranstalten gleich welcher Art sollte schließlich unter Leitung der Schulobrigkeit jüdischen Inspektoren vorbehalten sein.228 Ein Vergleich der Empfehlungen der Rabbinerkommission mit den Vorschlägen Lilienthals in seinem Schulplan erweckt den Eindruck, dass sich die Teilnehmer der Kommission bei ihren Entscheidungen von diesem Plan stark beeinflussen ließen. Allerdings enthielten die Empfehlungen noch einige zusätzliche Zugeständnisse an die traditionsorientierten Juden, die über Lilienthals Entwurf, der zumindest aus seiner Sicht schon gemäßigt war, hinausgingen. So hatte der deutsche Rabbiner bereits ab dem fünften und nicht erst ab dem achten Lebensjahr den Besuch der künftigen jüdischen Schulen vorgesehen. Mit dieser Änderung wollten die Kommissionsmitglieder dem traditionellen Unterricht in den Chadarim eine längere Dauer sichern. Ein weiterer Unterschied war die Empfehlung, ausschließlich jüdische Lehrer in den neuen Schulen anzustellen. Lilienthal hatte demgegenüber für die säkularen Fächer auch die Beschäftigung von christlichen Lehrern geplant. Obwohl er bei seinem Religionsunterricht, der als Vorbereitung auf die Konfirmation jüdischer Mädchen in Riga gedient hatte, den Katechismus von Herxheimer229 herangezogen hatte, war von der Verwendung eines derartigen Katechismus auch in seinem Schulplan keine Rede. Allerdings hatte Lilienthals Lehrplan nur für die reicheren Zöglinge in den höheren Schulen Talmud-Unterricht vorgesehen. In den Empfehlungen der Rabbinerkommission scheint hingegen diesem Unterricht größeres Gewicht beigemessen worden zu sein. Das galt auch für die Verteilung der Wochenstunden auf die säkularen und religiösen Fächer. Zwar hatte Lilienthal insoweit keine Gewichtung vorgenommen, doch hätten angesichts ihrer Fülle die von ihm angeführten säkularen Fächer in jeder Klasse definitiv deutlich mehr als nur ein Drittel der Gesamtunterrichtszeit ausgemacht. Im Übrigen deckten sich die Empfehlungen der Kommission weitgehend mit Lilienthals Vorschlägen: Bei beiden war die Anstellung ausländischer Juden als Lehrer nicht mehr vorgesehen,230 und in beiden wurden die Gründung eines Lehrer- und Rabbinerseminars sowie die Beibehaltung der traditionellen jüdischen Lehranstalten und der Melamdim vorgeschlagen. Insgesamt lassen die Ergebnisse der Beratungen eindeutig den Versuch erkennen, den Befürchtungen traditionell gesinnter Juden hinsichtlich der Bildungsreform Rechnung zu tragen. Dass aber in den Empfehlungen der Rabbinerkommission die Vorbehalte der traditionsorientierten Juden in zu hohem Maße berücksichtigt worden waren, zeigt auch die Reaktion des 1840 von der Regierung eingerichteten Komitees zur Bestimmung von Maßnahmen 228 Vgl. Beleckij, Vopros, Nr. 4, 24 – 26. 229 Herxheimer, Jesodei. 230 Offenbar hatte sich aber der Mitarbeiter im Bildungsministerium, Duksˇta-Duksˇinskij, in Anlehnung an Lilienthals Schulplan in der Rabbinerkommission dafür ausgesprochen, als Schulinspektoren für die neuen staatlichen jüdischen Schulen Juden aus dem Ausland zu verpflichten, jedoch nicht mehr als 25. Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 68.

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einer grundlegenden Reform der Juden. Als Uvarov Ende 1843 auf der Grundlage der Arbeitsergebnisse der Kommission die entsprechenden Vorschläge für die Umgestaltung des jüdischen Bildungssystems in diesem sogenannten Jüdischen Komitee einbrachte, bekundeten die meisten Minister ihre Ablehnung. Grundsätzlich sah das Komitee das Hauptziel einer jüdischen Bildungsreform in der Assimilierung der Juden, indem die ihrer Meinung nach schädlichen Einflüsse des Talmuds, die eine Absonderung der Juden von ihrer christlichen Umwelt bewirkten, beseitigt werden sollten. Folglich war das Jüdische Komitee nicht mit den Vorschlägen einverstanden, die dem Talmud auch weiterhin eine bedeutende Rolle zuwiesen und darüber hinaus eine gewisse Eigenständigkeit des jüdischen Bildungssystems zu garantieren schienen.231

1.1.11 Lilienthals Verhältnis zu den russländischen Maskilim Bevor die weitere Entwicklung der Gesetzesgestaltung sowie Lilienthals Rolle hierbei untersucht werden, soll zeitlich etwas zurückgegriffen werden. Wie bereits erwähnt, hatte Lilienthal vor seiner zweiten Reise durch den jüdischen Ansiedlungsrayon das Sendschreiben Maggid Jeschu’a verfasst, das unmissverständliche Drohungen an die Adresse der Schulreformgegner enthielt. Im August 1843, als sich die Beratungen der Rabbinerkommission gerade dem Ende zuneigten, wurde Lilienthal schließlich mit einer Gegenschrift voller heftiger Vorwürfe konfrontiert, die allerdings nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, von einem der Tradition verhafteten Juden stammte. Diese ebenfalls auf Hebräisch verfasste Schrift, die Lilienthal unter dem Titel Maggid Emet (Künder der Wahrheit) vor allem der Kulturarroganz und des Opportunismus bezichtigte, war zwar unter dem Pseudonym Jona ben Amitai in Leipzig erschienen, machte jedoch nach ihrem Inhalt deutlich, dass der Autor ein Anhänger der Haskala war. Bis heute wird in der Historiographie allgemein behauptet, dass einer der herausragenden Repräsentanten der russländischen Haskala, Mordechai Aaron Ginzburg, Maggid Emet geschrieben habe.232 Obgleich diese Behauptung sehr gut in das Bild von der Kluft zwischen Lilienthal und den russländischen Maskilim-Führern passen würde, verifizieren lässt sie sich nicht. Zweifel sind schon allein deshalb angebracht, weil Ginzburg in einer später erschienenen Schrift Maggid Emet wegen der Angriffe auf Lilienthal, mit dem er in freundschaftlichem Briefverkehr gestanden hatte, scharf kritisierte.233 Verstärkt werden diese Zweifel noch durch die 231 Vgl. Beleckij, Vopros, Nr. 4, 26. 232 Vgl. beispielsweise das 1983 erschienene Werk von Stanislawski, Tsar, 94. 233 Vgl. Scheinhaus, Ein deutscher Pionier, in: AZJ 35, 1. 9. 1911, 452; Philipson, Papers, 158 – 159. Nach Zinbergs Meinung, der Maggid Emet Ginzburg zuschreibt, waren dessen spätere Ausführungen jedoch ironisch gemeint. Vgl. Zinberg, History, Bd. 11, 88.

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138 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert These, dass der Verfasser von Maggid Emet ein gewisser M. Ginsburg gewesen sei, also auf Grund der Namensähnlichkeit eine Verwechslung vorliege.234 Wer auch immer der Verfasser war, Maggid Emet führte Lilienthal jedenfalls vor Augen, dass die russländischen Maskilim ihn keineswegs uneingeschränkt als einen „Heilsbringer“ betrachteten. Die Verärgerung eines Teils der russländischen Maskilim über Lilienthal, die durch die Veröffentlichung von Maggid Emet auch die jüdische Öffentlichkeit erreichte, hatte mehrere Gründe. Zunächst nahm man es dem deutschen Rabbiner übel, dass er auf seiner Reise durch den Ansiedlungsrayon die unbestrittene Leitfigur der Haskala im Zarenreich Isaak Ber Levinzon in Kremenec entgegen einem vorher gegebenen Versprechen keines Besuches gewürdigt hatte. Gerade in den südwestlichen Gebieten, in denen die jüdischen Aufklärer dem RiBaL die führende Rolle bei der Verbreitung der Aufklärung zuerkannten, soll man über diese Missachtung verärgert gewesen sein.235 So hatte beispielsweise ein gewisser Moses Friedberg keinen Hehl aus seiner Enttäuschung gemacht und dies dem deutschen Rabbiner bei seinem Besuch in Odessa klar zu verstehen gegeben.236 Sowohl Meisl als auch Zinberg sind der Meinung, dass Lilienthal den Kremenecer Gelehrten nicht besuchte, weil er gewusst habe, dass dieser bei Uvarov wegen seiner Apologetik in Bezug auf den Talmud nicht besonders wohlgelitten gewesen sei, und auch weil er für sich selbst die Führungsrolle bei der jüdischen Bildungsreform beansprucht habe.237 Dass der erste Grund tatsächlich zutrifft, ist unwahrscheinlich. Wenn dem so gewesen wäre, müssten Uvarov und die anderen Regierungsmitglieder regelrecht entsetzt gewesen sein, dass sich Lilienthal mit den bedeutendsten Repräsentanten des traditionellen Judentums, die zweifellos Angriffe auf den Talmud zurückwiesen, teils in freundschaftlicher Atmosphäre getroffen hatte. Vielleicht liegt aber gerade darin die eigentliche Ursache für Lilienthals Entscheidung, den „russischen Mendelssohn“ nicht zu besuchen. Die erklärte Strategie des deutschen Rabbiners bei seiner zweiten Reise bestand darin, sich vor allem die Sympathien der traditionsorientierten Juden zu sichern, indem er deren Führer hofierte. Vielleicht war er der Meinung, dass ein spezieller Besuch Levinzons in dieser Beziehung genau das falsche Signal ausgesendet hätte und somit kontraproduktiv gewesen wäre. Lilienthals auffallende Hofierung des traditionellen Judentums während seiner Reise durch den Ansiedlungsrayon im Sommer und Herbst 1842 war ein weiterer Grund für die Entfremdung zwischen ihm und bestimmten Maskilim-Kreisen des Zarenreichs. Wie aus Maggid Emet hervorgeht, hatte er in Wilna umstrittene religi öse Bräuche wie Taschlich238, Kappa234 235 236 237 238

Vgl. Scheinhaus, Ein deutscher Pionier, in: AZJ 35, 1. 9. 1911, 452. Vgl. Cinberg, Levinzon, 529. Vgl. Zinberg, History, Bd. 11, 86. Vgl. Meisl, Haskalah, 97 – 98; Zinberg, History, Bd. 11, 82, 86. Gerade in traditionstreuen Kreisen geübter Brauch der symbolischen Entledigung seiner

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rot239 und Malkut240 befolgt und in Minsk an Simchat Tora (Fest der Gesetzesfreude) zusammen mit den Chassidim im Betsaal Wodka getrunken.241 Für den Verfasser des Maggid Emet war das geschilderte Verhalten, das in der Regel von den Aufklärern als Aberglauben abgetan und daher bekämpft wurde, nichts weiter als Heuchelei und Scheinheiligkeit.242 Sicherlich war dieser Vorwurf nicht ganz aus der Luft gegriffen, wenn man bedenkt, dass Lilienthal eigentlich ein ausgewiesener Anhänger der Aufklärung und Gegner der Chassidim war. Allerdings hätten sich Lilienthals Kritiker auch die Frage gefallen lassen müssen, ob es zu seinem Pragmatismus tatsächlich eine Alternative gab. Waren denn alle ihre ehrgeizigen Pläne allein mit der geringen Anhängerschar der Haskala zu realisieren?243 Insofern war Lilienthals Vorgehen zwar vielleicht moralisch fragwürdig, taktisch aber war es durchaus klug und plausibel. Er hatte, wenn auch zögerlich, aus seinen ersten Erfahrungen in Wilna und Minsk gelernt. Darüber hinaus wurde der deutsche Rabbiner mit einem weiteren Vorwurf konfrontiert, wobei stellvertretend hierfür ebenfalls Maggid Emet angeführt sei: Es geht um die Wahrnehmung der fremden Mittlerrolle Lilienthals als Abwertung des russländischen Judentums. Direkt an die Wilnaer oder russländischen Juden gewandt, gab der „Wahrheitsverkünder“ zu bedenken, dass die deutschen Juden überheblich seien und es ihren Glaubensgenossen im Zarenreich zuschrieben, wenn es keinen einzigen Juden dort gebe, auf den sich die Regierung verlassen könne, bis ein deutscher Doktor aus fernem Lande erschienen sei, den die Regierung ermächtigt habe, ihren Willen zu vollziehen. Dieses Urteil sei abwertend, falsch und ungerecht gewesen, gebe es doch in Wilna genügend kultivierte Juden, die ihre Kinder auf Gymnasien und Universitäten schickten. Wie Benjamin Mandel’sˇtam war auch der Verfasser des

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Sünden, indem man am ersten Tag von Rosch Ha-Schana, dem jüdischen Neujahr, an ein fließendes Gewässer geht und Brotkrumen hineinwirft. Kapparot ist ein Brauch, der häufig am Vortag von Jom Kippur, dem Versöhnungstag, geübt wurde. Dabei wird ein Huhn über dem Haupt geschwungen und gewisse Sühnegebete gesprochen. Das Huhn als ein Sühneopfer wird schließlich geschlachtet und sein Fleisch den Armen geschenkt. Unter Malkut versteht man die Geißelhiebe, die sich nach altem Brauch gläubige Juden am Vortag von Jom Kippur verabreichen, um für vermeintlich begangene Verfehlungen Sühne zu leisten. Wie befremdend das Verhalten Lilienthals auf die aufgeklärten Juden gewirkt haben muss, lässt sich allein daran sehen, dass der Lemberger Rabbiner Abraham Kohn, der eine ähnliche Grundhaltung einnahm wie Lilienthal, nur wenige Jahre später Taschlich und Kapparot – Bräuche, die in Galizien zu dieser Zeit noch sehr verbreitet waren – „als heillosen Aberglauben“ bezeichnete. G. Kohn, Kohn, 61. Vgl. Amitai, Maggid Emet, 10. Vgl. auch Cinberg, Levinzon, 526. Freilich mangelte es wohl nicht wenigen Maskilim an Realitätssinn, was ihre Zahl und Bedeutung betraf. Von Gotlober wissen wir beispielsweise, dass er viele Jahre später angesichts zahlreicher Enttäuschungen verbittert bekennen musste, dass die Maskilim sich nichts vormachen sollten. Sie repräsentierten keineswegs das Volk, sondern nur die Ausnahme von der Regel. Vgl. Zinberg, History, Bd. 11, 79.

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140 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Maggid Emet der Meinung, dass unter den russländischen Maskilim ein geeigneterer Mittler zwischen Regierung und jüdischer Bevölkerung als Lilienthal vorhanden sei, nämlich Bezalel Stern in Odessa.244 Es ist durchaus nicht unverständlich, wenn russländische Maskilim Lilienthals führende Rolle als Misstrauensvotum ihnen gegenüber und vor allem als Anmaßung eines geltungsbedürftigen Menschen auffassten. So hatte auch Mandel’sˇtam die Verbitterung fortschrittsorientierter Juden wiedergegeben, nach deren Ansicht der deutsche Rabbiner nur an sein eigenes Heil denke und sie daher von der heiligen Arbeit weggestoßen habe, damit er sagen könne, er allein sei für das große Ziel auserwählt.245 Allerdings war es auch derselbe Mandel’sˇtam, der sich darüber beklagte, dass an der Rabbinerkommission russländische und nicht, wie er gehofft hatte, deutsche Rabbiner teilnehmen sollten. Die Haltung von Lilienthals aufgeklärten Kritikern war also nicht widerspruchsfrei. Einerseits war das deutsche Judentum Vorbild und Ideal, so dass man seinen religiösen Repräsentanten bei der Umgestaltung des russländischen Judentums eine Mittlerrolle zuweisen wollte. Andererseits war man verärgert, wenn sich einer dieser Mittler tatsächlich eine Führungsrolle anmaßte. Dass Lilienthal für sich tatsächlich eine herausgehobene Funktion bei der Ausarbeitung des Reformwerks beanspruchte, wurde auch erkennbar, als sich im Mai 1843 der Präsident der Israelitischen Oberkirchenbehörde Württembergs Rabbiner Joseph Maier (1799 – 1873) in einem Brief an Uvarov anbot, bei der Gründung von jüdischen Schulen im Russländischen Reich mitzuarbeiten und als Referenzen die von ihm verfassten Werke Sammlung des Ausspruches,246 Sammlung von geistlichen Liedern247 sowie Die innere Ordnung und der Bau der Synagoge248 beilegte. Diese Werke wurden auf Bitten des Ministeriums von Lilienthal begutachtet, der Folgendes bemerkte: „Diese Werke sind sehr gut verfasst. […] Aber die kleine Stufe der Beachtung, welche bei uns die Werke deutscher Rabbiner genießen, die Unkenntnis der deutschen Sprache und der Wunsch, alle religiösen Gegenstände allein auf Hebräisch und nach hebräischen Leitfäden zu unterrichten […] macht es unmöglich, die vorgelegten Bücher in Russland momentan einzuführen. […] Dr. Maier kennt die Lage unserer Juden nicht und kann keine nützlichen Kenntnisse in der Angelegenheit ihrer Bildung mitteilen.“249

244 Vgl. Amitai, Maggid Emet, 3. Vgl. auch Cinberg, Levinzon, 524; Zinberg, History, Bd. 11, 87 – 88. 245 Vgl. Cinberg, Levinzon, 522. 246 Hierbei dürfte es sich um das 1835 in Stuttgart erschienene Spruchbuch handeln. 247 Hierbei dürfte es sich um das 1836 in Stuttgart erschienene Gesang-Buch handeln. 248 Hierbei ist nicht klar, welches Werk Lilienthal gemeint hat. Möglicherweise handelt es sich um die Gottesdienst-Ordnung für die Synagogen des Königreichs Württemberg, die 1838 in Stuttgart erschienen ist. 249 Lozinskij (Hg.), Opisanie, 123.

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Die ablehnende Haltung Lilienthals war sicherlich nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass er befürchtete, ein Mann wie Joseph Maier könne ihm die Führungsrolle bei der Umgestaltung des jüdischen Schulwesens im Russländischen Reich streitig machen. Auf der anderen Seite stand die Argumentation, mit der er die Ablehnung begründete, in Einklang mit seiner Absicht, die Vorbehalte der traditionsorientierten Juden bei der Reform in stärkerem Maße zu berücksichtigen. Letztlich hatte sich Lilienthal damit gegen einen umfassenden Kulturtransfer in Form der Einführung moderner deutsch-jüdischer Lehrbücher ausgesprochen. Die kulturelle Mittlerrolle war im Übrigen noch über die Person Lilienthals hinaus Diskussionsgegenstand. Unter Hinweis auf Maggid Jeschu’a ermahnte Ginzburg die ausländischen Juden, die möglicherweise im Zarenreich angestellt werden sollten, nur ihren Fähigkeiten entsprechende Stellen anzunehmen. Sofern sie tatsächlich berufen würden, seien sie willkommen, sie sollten sich jedoch bewusst sein, wer sie seien und aus welchem Grund sie kämen. Falls sie als Prediger oder als Lehrer kämen, fänden sie Zuhörer für ihre deutschen Predigten sowie Schüler, die bereit seien, von ihnen Kenntnisse zu erlangen, die es bei „uns“, also den russländischen Juden, nicht gebe, denn in dieser Beziehung habe man durchaus Defizite und sei lernbegierig. „Falls Ihr aber die Absicht habt, Rabbinate einzunehmen, so ist mein Rat folgender : Bringt Tora, Tora, Tora [religiöses Wissen] mit. […] Ohne dies wird man Euch im besten Fall für Gebildete halten, aber nicht für Rabbiner.“250 Damit war in aller Deutlichkeit gesagt, was russländische Maskilim von ihren westlichen Gesinnungsgenossen hielten. Sie mochten zwar über ein unbestreitbares Maß an säkularer Bildung verfügen, doch ihre religiöse Gelehrsamkeit ließ zumindest im russländisch-jüdischen Kontext zu wünschen übrig. Aber auch hier wird offensichtlich, dass die Kritik an Lilienthal keineswegs homogen war. Während Ginzburg Vorbehalte gegenüber deutschen Rabbinern als kulturellen Mittlern äußerte, nahm Mandel’sˇtam als radikaler Maskil in dieser Beziehung eine ausgesprochen positive Haltung ein. Ein letzter Grund, der so manchen Maskil in Bezug auf Lilienthal verstimmte, war der, dass seine Hoffnung, er werde ihm durch Vermittlung einer Lehrerstelle eine sozioökonomische Basis schaffen, enttäuscht wurde.251 Beispielhaft hierfür mag die unglückselige Geschichte Tsvi Grinboims sein. Am 25. Dezember 1843 schickte Grinboim seinem Freund Abraham Ber Gotlober, der zu einer der herausragenden Persönlichkeiten der russländischen Haskala avancieren sollte, einen Brief aus Kiew, den er mit einem Paukenschlag einleitete: „Ich heiße jetzt Vladimir Feedorov.“ Grinboim hatte die Religion seiner Väter verlassen und sich russisch-orthodox taufen lassen, wobei er diese Entscheidung dem deutschen Rabbiner anlastete, der seine verzweifelten Anfragen, ob er auf Anstellung in einer der künftigen Schulen hoffen dürfe, 250 Ginzburg, Ha-Moria, 43 – 44. 251 Vgl. Zinberg, History, Bd. 11, 85.

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142 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert unbeantwortet gelassen hatte. Selbst einen dramatischen Appell GrinboimFeedorovs ignorierte Lilienthal, obgleich dieser es aber für nötig gehalten hatte, einen, wie er meinte, wortreichen, inhaltslosen Brief an Kamenecer reiche Männer, Ungebildete und Flegel zu schreiben. Aus Lilienthals Schweigen schloss Grinboim, dass er nichts zu antworten habe, dass alle seine Absichten und Taten nichts weiter als Unsinn seien und er nur dem Wind nachjage. „Davon“, so Grinboim an Gotlober, „überzeugte mich auch Dein bitteres Schicksal unter den Juden und das Schicksal vieler, die Dir ähnlich sind, die mir an Gelehrsamkeit und Wissen nicht unterlegen oder mir vielleicht sogar überlegen sind“. Daher habe er sich schließlich, nachdem ihm in Kiew mitgeteilt worden sei, er könnte die Universität auf Staatskosten besuchen, wenn er kein Jude wäre, und er von niemandem Hilfe erhalten habe, zur Konversion entschlossen.252 Grinboims Schicksal mag unglücklich gewesen sein, dies jedoch dem deutschen Rabbiner anzulasten, war sicher übertrieben. Freilich hätte Lilienthal seine Briefe beantworten können.253 Was aber hätte er dem verzweifelten Maskil antworten können? Dass er tatsächlich dem Bildungsminister eine Liste fähiger Lehrerkandidaten überreichen und in diesem Zusammenhang auch auf die etwa 100 bis 120 jüdischen Gymnasiasten verweisen werde, von denen einer Grinboim war? Dies hätte zunächst nichts an der Situation des potentiellen Konvertiten geändert. Lilienthal war keineswegs in der Lage, den Maskilim Lehrerstellen versprechen zu können. Solange sich die Ausarbeitung der Reform hinzog, ließ sich nichts Konkretes sagen. Hiervon konnten gerade auch die etwa 200 ausländischen Juden, die sich bereit erklärt hatten, in einer der künftigen modernen jüdischen Schulen des Zarenreichs eine Anstellung anzunehmen, ein Lied singen. Sie warteten nunmehr bald drei Jahre auf eine Entscheidung, wobei ihnen kaum bekannt gewesen sein dürfte, dass sich die Rabbinerkommission inzwischen gegen eine Verpflichtung ausländischer Juden als Lehrer ausgesprochen hatte. Lilienthal war nichts weiter als ein Berater des Bildungsministeriums mit äußerst begrenztem Einfluss. Die Erwartungen, die so mancher russländische Maskil gegenüber Lilienthal an den Tag gelegt hatte, waren völlig unrealistisch. Aus Äußerungen Isaak Ber Levinzons, Benjamin Mandel’sˇtams und Abraham Ber Gotlobers geht hervor, dass man den deutschen Rabbiner zunächst – ausdrücklich oder

252 Iz perepiski A. B. Gotlobera, 417 – 418. Grinboim-Feedorov wurde später Zensor für jüdische Bücher in Kiew, schließlich in Warschau; im Jahre 1846 schloss er eine russische Übersetzung des Talmud-Traktates Sanhedrin ab, in deren Einleitung er den zu dieser Zeit viel geschmähten Talmud verteidigte. Sein Manuskript wurde jedoch vom Zensor zunächst nicht zugelassen, so dass es erst 1871 erscheinen konnte. Vgl. Lederhendler, Politics, 105. 253 Ob es sich dabei um Arroganz oder fehlende Empathie handelte, ist schwer zu beurteilen. Alles spricht aber dafür, dass Lilienthal enorm belastet war und kaum Zeit hatte, die Fülle der ihm zugegangenen Briefe allesamt zu beantworten.

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stillschweigend – als Moses der russländischen Juden idealisiert hatte,254 der sein Volk trotz der ihnen nur allzu bekannten Realitäten der Autokratie in eine bessere Zukunft führen würde. Daran mag Lilienthal nicht gänzlich unschuldig gewesen sein, aber von den russländischen Maskilim hätte man doch mehr Realitätssinn erwarten können. So wenig er die anfängliche Idealisierung verdient hatte, so wenig wurde ihm aber auch die ihm von bestimmten Maskilim später zuteil werdende Verdammung gerecht. Gerade auch spätere Historiker fühlten sich berechtigt, Lilienthals Wirken in einem ungemein negativen Licht erscheinen zu lassen, wobei sie jede Spur von Objektivität vermissen ließen. Einer der wenigen, der sich im Gegensatz dazu um eine objektive Sicht der Dinge bemühte, war der hervorragende russländisch-jüdische Historiker Israel Zinberg (1873 – 1938), der in seinem monumentalen, zwölf Bände umfassenden jiddischen Werk zur Geschichte der jüdischen Literatur (in dem es um weit mehr als um jüdische Literatur im engeren Sinne geht) auch Lilienthals Wirken behandelt. Nach seinen Ausführungen waren die Angriffe der maskilischen Kritiker auf Lilienthal in keiner Weise berechtigt, habe es doch zur Taktik des deutschen Rabbiners, das traditionsorientierte Judentum im Hinblick auf seine überwältigende Mehrheit zu hofieren, keine Alternative gegeben. Lilienthal sei pragmatischer und auch weitsichtiger als viele der russländischen Maskilim gewesen.255 Dass er immer wieder auf den untrennbaren Nexus von Bildung und rechtlichen Erleichterungen bei seinen Eingaben an das Bildungsministerium hingewiesen und dafür trotz aller Widrigkeiten geworben habe, wurde bereits ausführlich dargestellt. Unhaltbar ist daher das ideologisch gefärbte Urteil des Berliner Zionisten Meisl von 1919, Lilienthal sei „Träger einer vermeintlichen Kulturaufgabe [geworden], die er mit dem ganzen Starrsinn des Neuerers und bar jedes Verantwortungsgefühls verfolgte“.256 Wenn man ihm etwas vorwerfen konnte, dann allenfalls die Tatsache, dass er sich mit einem autokratischen System eingelassen hatte und dabei offensichtlich die Hoffnung hegte, er könne dem russländischen Judentum von Nutzen sein. Die folgenden eineinhalb Jahre brachten Lilienthal schließlich einen deutlichen Autoritäts- und Sympathieverlust. Statt der erhofften Verkündung eines Ukaz über die Errichtung moderner jüdischer Schulen, die einem Teil der Maskilim eine sozioökonomische Basis verschaffen konnten, ergingen zahlreiche Gesetze, die überaus repressive Maßnahmen gegen die russländischen Juden vorsahen. Hierbei ist insbesondere der Ukaz vom April 1843 über die Vertreibung der Juden aus einer Zone von 50 Verst an der westlichen Grenze anzuführen, der für nicht wenige Juden großes Leid bedeutete. Da gerade auch Lilienthal immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass die künftigen Zeiten 254 Vgl. den Brief Gotlobers an Lilienthal in: Gotlober, Zichronot, Bd. 2, 137 – 139; Mandelschtam, Chazon, Teil 2, 20; Cinberg, Levinzon, 531. 255 Vgl. Zinberg, History, Bd. 11, 89 – 90. 256 Meisl, Haskalah, 87.

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144 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert weitaus besser sein würden, musste dies in den Ohren der russländischen Juden nun wie blanker Hohn klingen. Dabei blieb dem deutschen Rabbiner diese neue Welle antijüdischer Regierungspolitik keineswegs verborgen. In einem Brief vom Juli 1844 an seinen Vater und seinen künftigen Schwiegervater bekannte er trotz der ihm bewussten polizeilichen Überwachung der Post in schonungsloser Offenheit: „Und dann hat seit dem traurigem Ukase, der die Vertreibung der Juden von der Grenze anordnet, die Zukunft für die Juden sich so schlecht gestaltet, daß wenn der Herr, in dessen Hand die Herzen der Könige wie Wasserbäche sind, sich nicht erbarmt, ich um keinen Preis in der Welt russischer Jude werden möchte.“257

Im Zuge der negativen Entwicklung wurde es um Lilienthal, der sowohl den russländischen wie auch den ausländischen Glaubensgenossen gegenüber die Absichten der Regierung häufig in sehr positivem Licht dargestellt hatte, immer stiller. An Stelle der früheren Lobpreisungen Lilienthals wurde beispielsweise in der AZJ, die durchaus als Stimmungsbarometer gelten konnte, fast ausnahmslos nur noch über die neuesten Repressionsmaßnahmen gegen die russländischen Juden berichtet.258 Damit war die Euphorie in Bezug auf Lilienthal auch bei den westeuropäischen Juden verflogen. Auf den Punkt gebracht hat diese Enttäuschung Louis Simon, der in seinem bereits 1844 erschienenen Buch über die Juden im Zarenreich feststellte, dass Lilienthal, der schon seit fünf Jahren in Russland weile, trotz seiner scheinbar „einflußreiche[n] Stellung“ „nichts“ bewirkt habe. „[A]ll’ die schönen Pläne von Schulen, von deutschen Lehrern, von Bildung und Humanität“ hätten sich als „[g]rausame Enttäuschung“ erwiesen. Demgegenüber seien in letzter Zeit zahlreiche neue Verordnungen gegen die Juden erlassen worden, die ihr Elend noch verstärkt hätten, wobei man nichts darüber erfahren habe, ob und wie Lilienthal versucht habe, dieses Unglück von seinen Glaubensgenossen abzuwenden.259 Diese Kritik von Louis Simon an Lilienthal war nur allzu verständlich. Doch war sie auch berechtigt? Der deutsche Rabbiner hatte sich durchaus für gesetzliche Erleichterungen zu Gunsten der Juden, insbesondere auch für die Nichtinkraftsetzung des 50–Verst-Ukaz, eingesetzt. Die alles entscheidende 257 Brief Lilienthals an S. Lilienthal und I. Nettre, 6./18. 7. 1844. WJHC 1971.011 AR1, 33. 258 Zu den Berichten über repressive Maßnahmen der russischen Regierung gegenüber den Juden vergleiche AZJ 1844, Nr. 8, 10, 16, 21, 38, 42, 47, 48. Nur einmal wurde 1844 in der AZJ ein Artikel abgedruckt, der sich auf die Reform des jüdischen Bildungssystems bezog. Dieser Artikel, der von Lilienthal selbst stammte, hatte in erster Linie eine deutsche Übersetzung des Ukaz vom 13. November 1844 zum Inhalt, war ansonsten aber äußerst dürftig. Vgl. AZJ 51, 16. 12. 1844, 736 – 738. 259 Simon, Juden, 52 – 53. Angesichts der schonungslosen Offenheit, mit der Simon die Lage der Juden im Zarenreich darstellte, dürfte es kaum verwundern, dass die russischen Behörden Maßnahmen trafen, um eine Verbreitung seines Werks innerhalb der Grenzen des Russländischen Reichs zu verhindern. Vgl. CAHJP, Ru. 456.

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Frage aber warf Simon implizit selbst auf: Verfügte Lilienthal wirklich über eine einflussreiche Stellung? Wie der Verfasser des Buches über die Juden im Russländischen Reich schrieb, war der Einfluss des deutschen Rabbiners wohl nicht so weitreichend, wie es schien. Genau hier liegt der Kern des Problems, warum so manche Bewertung von Lilienthals Wirken an der historischen Realität vorbeigeht: Die Prämisse, dass Lilienthal über politische Gestaltungskraft verfügt habe, entbehrt jeder Grundlage. Der deutsche Rabbiner war ein Berater und Propagandist des Bildungsministeriums, dem Uvarov sicherlich auch, aber nicht immer Gehör schenkte. Und selbst das Bildungsministerium mit Uvarov an der Spitze verfügte über wenig, mitunter gar keinen Einfluss bei wichtigen politischen Fragen, wie zum Beispiel der jüdischen Gesetzgebung. Wer anders dachte, hatte offenbar die Grundlagen des autokratischen Systems, das unter Nikolaus I. nochmals einen Höhepunkt erfuhr, nicht verstanden.

1.1.12 Die jüdische Bildungsreform tritt in Kraft Der mangelnde Einfluss Uvarovs zeigte sich vor allem auch bei der endgültigen Gestaltung der jüdischen Bildungsreform. Auf der Grundlage der Empfehlungen der Rabbinerkommission brachte Uvarov schließlich im Jüdischen Komitee einen Vorschlag ein, wie das jüdische Schulwesen reformiert werden sollte. Dabei stellte sich heraus, dass es der Mehrheit der im Komitee versammelten Minister nicht um die Verbreitung von Aufklärung und Bildung unter den Juden des Reiches ging, sondern hauptsächlich um deren Assimilierung. Auch wenn die Minister der Errichtung spezieller jüdischer Schulen widerwillig zustimmten, so setzten sie doch eigentlich auf den Besuch der allgemeinen Schulen durch die jüdischen Kinder. In ihren Augen erschien dies für das Ziel der Assimilierung vielversprechender. Aber auch bei der curricularen Gestaltung der künftigen jüdischen Lehranstalten wurde das Ziel einer Verschmelzung der Juden mit der „angestammten“ Bevölkerung erkennbar. Nach Uvarovs Vorschlag sollte an der Spitze des oder der Rabbinerseminare ein Jude stehen und der entsprechende Lehrplan in erster Linie von den jüdischen Fächern bestimmt werden. Das Komitee entschied hingegen, dass in die Seminare vor allem das Curriculum des Gymnasiums eingeführt werde und die jüdischen Fächer nur im notwendigen Umfang gelehrt werden sollten, damit die Lehrerabsolventen anschließend an den Schulen erster und zweiter Ordnung unterrichten könnten. In der Rabbinerabteilung sollte der religiöse Unterricht nach Möglichkeit vom „spekulativen“ Charakter der Talmud-Kommentatoren ablenken, also letztlich die Bedeutung des Talmuds zurückdrängen. Damit wird offensichtlich, dass man aus dem Misserfolg der Warschauer Rabbinerschule nichts gelernt hatte oder lernen wollte. Würden die traditionsorientierten Juden wirklich in

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146 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert dieser Weise ausgebildete Lehrer und Rabbiner anerkennen und ihre Kinder in die neuen Schulen schicken? Zweifel daran waren mehr als angebracht. Ebenso stieß es wohl kaum auf Zustimmung, dass die allgemeine Aufsicht über das oder die Rabbinerseminare von einem Christen ausgeübt werden sollte. Nur die jüdischen Fächer sollten der Kontrolle eines Juden unterliegen. Ebenso war auch an der Spitze einer besonderen Kommission, die die Melamdim zu beaufsichtigen hatte, ein Christ vorgesehen. Im Gegensatz zu den Empfehlungen der Rabbinerkommission sollte es nach dem Willen des Jüdischen Komitees möglich sein, bei besonderem Bedarf jüdische Lehrer aus Bayern, Preußen und Österreich zu berufen. Allerdings konnte dies nur durch Beschluss der Schulobrigkeit und nur zu Lasten des für die jüdischen Schulen bestimmten Fonds erfolgen, der bekanntlich von den Juden selbst durch eine Besteuerung der Schabbat-Kerzen finanziert werden sollte. Hier hatte man die Vorbehalte traditionsorientierter Juden gegenüber ihren aufgeklärten deutschen Glaubensgenossen unberücksichtigt gelassen. Jedoch zeigt der betreffende Passus, dass auch das Jüdische Komitee nicht mehr allgemein von der Anstellung ausländischer Juden an den künftigen jüdischen Schulen ausging, sondern hier wohl eher an bestimmte Ausnahmen dachte. Darüber hinaus sollte an den jüdischen Schulen der ursprüngliche Text der Bibel durch einen Katechismus ersetzt werden, wie sie im deutschen Judentum der damaligen Zeit üblich waren. Während sich Uvarov und auch Lilienthal im Interesse einer Gewinnung der jüdischen Bevölkerung immer mehr vom deutschen Judentum als Blaupause für die jüdische Bildungsreform im Zarenreich entfernt hatten, blieb das Jüdische Komitee diesem Denken zumindest partiell verhaftet. Im Vordergrund standen für das Komitee, darauf wurde ausdrücklich verwiesen, allgemein eine Zurückdrängung jüdischer Eigenart und eine Assimilierung der jüdischen an die christliche Bevölkerung, was man unter anderem auch durch die Übertragung „deutsch-jüdischer“ Maßnahmen zu erreichen glaubte. Die Empfehlungen der Rabbinerkommission blieben also in wichtigen Punkten unberücksichtigt. Daraus lässt sich jedoch kein Vorwurf gegenüber Uvarov oder Lilienthal ableiten. Beide scheinen tatsächlich davon ausgegangen zu sein, dass die Vorschläge der Kommission größere Geltung erlangen würden. Als schließlich am 13. November 1844 der Ukaz über die Bildung der jüdischen Jugend erging, verlor die große Mehrheit der Juden ihre Illusion über eine bessere Zukunft. Dieser Ukaz, der gerade einmal zehn Paragraphen umfasste, ließ letzten Endes alle bedeutenden Fragen unbeantwortet. Ungeachtet der Tatsache, dass den Juden auch weiterhin der Besuch der allgemeinen Lehranstalten offenstand, sollten nun jüdische Schulen erster Ordnung, die den christlichen Elementarschulen, und zweiter Ordnung, die den christlichen Kreisschulen entsprachen, sowie zwei Rabbinerschulen errichtet werden. Für die religiösen Fächer konnten nur Juden, für die allgemeinen Fächer hingegen sowohl Juden als auch Nichtjuden angestellt werden. Die als Aufseher an den Rabbinerseminaren oder als Lehrer an den jüdischen Schulen

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beschäftigten Juden sollten für die Dauer ihres Dienstes persönlich von der Rekrutenpflicht befreit werden. Und die Schüler der jüdischen Kronschulen sollten folgende Erleichterungen erhalten: Die 25–jährige Militärdienstpflicht sollte für Juden, die eine jüdische Schule zweiter Ordnung besucht hatten, um zehn Jahre und für diejenigen, die einen vollständigen Gymnasialkurs beendet hatten (also die Zöglinge der Rabbinerseminare), um fünfzehn Jahre verkürzt werden. Eine vollständige persönliche Befreiung von der Rekrutierung konnte man sich nur erwerben, wenn man den gymnasialen Lehrplan mit Auszeichnung absolviert hatte, sich musterhaft benahm und besondere Fortschritte in russischer Sprache und Literatur nachweisen konnte. Schließlich wurde noch vage darauf hingewiesen, dass für die Chadarim und Melamdim die einschlägigen allgemeinen Vorschriften gelten sollten.260 Entsprechend dem knappen und unbestimmt gehaltenen Ukaz blieb den Juden, auch Lilienthal, das ganze Ausmaß der Regierungspolitik zunächst noch verborgen. Denn gleichzeitig mit der Verkündung des Ukaz wurden im Bildungsministerium erst die Ausführungsbestimmungen formuliert, die die wahren Absichten der Regierung hinsichtlich der jüdischen Bildungsreform enthüllten: Das Ziel der Bildung der Juden bestehe, so hieß es darin, in ihrer allmählichen Annäherung an die christliche Bevölkerung sowie in der Ausrottung des Aberglaubens und der schädlichen Vorurteile, die durch das Studium des Talmuds entstünden. Insofern wurden alle Beschlüsse, die zuvor im Jüdischen Komitee entgegen den Empfehlungen der Rabbinerkommission gefasst worden waren, in diese Bestimmungen aufgenommen.261

1.1.13 Was von Lilienthals Reformvorschlag übrig blieb Im Gegensatz zu Lilienthals Vorschlag, zwei parallele Schulverfassungen, für bemittelte und unbemittelte Juden, einzuführen, war das jüdische Kronschulwesen nur als ein schichtenübergreifendes System konzipiert. Der Lehrplan, den Lilienthal für die niederen Schulen vorgesehen hatte, deckte sich bei den säkularen Fächern weitgehend mit den Bestimmungen für die staatlichen jüdischen Elementarschulen, was Lesen und Grammatik des Russischen sowie Hebräischen, Arithmetik und Kalligraphie betraf. Unterricht im Deutschen war allerdings nicht vorgesehen. Zwar umfasste das Curriculum der jüdischen Kronschulen erster Ordnung auch das jüdische Religionsgesetz, doch war dies mit Lilienthals Vorschlag zu den jüdisch-religiösen Gegenständen nicht vergleichbar. Während nach den Vorstellungen des deutschen Rabbiners die jüdischen Knaben einen gründlichen, wenn auch stark von den 260 Eine deutsche Übersetzung des Ukaz vom 13. November 1844 ist nachzulesen in: AZJ 51, 16. 12. 1844, 736 – 738. Vgl. hierzu auch Stanislawski, Tsar, 82 – 83. Die russische Fassung ist enthalten in PSZ, Bd. 19/1, St. Petersburg 1845, 764 – 766 (Nr. 18420). 261 Vgl. hierzu Stanislawski, Tsar, 83 – 85.

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148 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Prinzipien der Aufklärung beeinflussten Religionsunterricht (Vorrang der Bibel) erhalten hätten, sollte in den Kronschulen nun das Fach Jüdisches Religionsgesetz nach Möglichkeit überall mit Hilfe eines Katechismus nach deutsch-jüdischem Vorbild gelehrt werden, was die Rabbinerkommission abgelehnt hatte. Dass ein derartig rudimentärer und noch dazu auf christlichem Vorbild beruhender Religionsunterricht bei der überwältigenden Mehrheit der traditionsorientierten Juden auf Ablehnung stoßen würde, braucht nicht eigens betont zu werden. War schon der von Lilienthal vorgeschlagene Religionsunterricht hinsichtlich Inhalt und Ausrichtung alles andere als unproblematisch, so war der nun in den jüdischen Kronschulen eingeführte eigentlich irrelevant. Man hätte ihn ebenso gut auch weglassen können, da er für einen Großteil der russländischen Juden nicht den geringsten Wert hatte. Die staatlichen jüdischen Schulen zweiter Ordnung hatten letztlich nur noch wenig mit den Vorschlägen Lilienthals gemein. Zu den bereits in den jüdischen Elementarschulen vorgesehenen Fächern sollten noch russische und allgemeine Geographie, Geschichte sowie technisches Zeichnen hinzukommen. Hatte der deutsche Rabbiner die höheren Lehranstalten für bemittelte jüdische Knaben als Realschulen konzipiert, so war nun für die Kronschulen zweiter Ordnung nur noch die Möglichkeit vorgesehen, die „Realia“ als Zusatzkurse anzubieten. Vom Unterricht im Talmud, den Lilienthal zumindest in die höheren Schulen für vermögende Knaben einführen wollte, dessen „schädlichen“ Einfluss die Regierung oder das Jüdische Komitee jedoch zurückzudrängen beabsichtigte, war hingegen keine Rede. Kurzum, der Lehrplan der jüdischen Kronschulen musste alle Erwartungen enttäuschen, die von verschiedener Seite ursprünglich in ihn gesetzt worden waren. Er war in jeder Hinsicht unzulänglich. Für die traditionsorientierten Juden war das religiöse Element trotz der eindringlichen Warnungen Lilienthals unter Hinweis auf die negativen Beispiele in Odessa und Kisˇinev völlig unzureichend repräsentiert. Ebenso konnte aber auch der Umfang der säkularen Fächer kaum die Erwartungen Lilienthals, Uvarovs und der russländischen Maskilim erfüllen. Der vorgesehene weltliche Unterricht war nur sehr bedingt geeignet, den jüdischen Knaben wichtige Kenntnisse für den künftigen Lebenserwerb an die Hand zu geben. Letztlich zeigt die konkrete Ausgestaltung der jüdischen Kronschulen die Präferenz des Jüdischen Komitees, nach dessen Vorstellung die jüdische Jugend die allgemeinen Schulen besuchen sollte. Besonders deutlich wird dies auch daran, dass Lilienthals Vorschlag, jüdische Mädchenschulen zu gründen, unberücksichtigt blieb. Sofern jüdische Eltern für ihre Töchter eine allgemeine Bildung wünschten, stand es ihnen frei, sie auf christliche Lehranstalten zu schicken. Dass dies in der Praxis durchaus auf Schwierigkeiten stieß, wird sich an anderer Stelle noch zeigen. Wie Lilienthal schon Ende 1839 der Regierung vorgeschlagen hatte, sollten zur Ausbildung von jüdischen Lehrern und Rabbinern nun zwei Ausbildungsanstalten mit einem vierjährigen Lehrplan gegründet werden, in denen

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sowohl die relevanten jüdischen Fächer als auch die Unterrichtsgegenstände eines Gymnasiums gelehrt werden sollten. Im Anschluss daran konnten die Absolventen entweder den einjährigen Lehrerkurs oder den zweijährigen Rabbinerkurs besuchen. Und auch hier zeigte sich, dass die Regierung Lilienthals Warnungen ignoriert hatte. Während er vorgeschlagen hatte, einen der berühmtesten Talmudisten dem Direktorat des künftigen Rabbinerseminars beizuordnen, um den traditionsorientierten Juden ihre Ängste zu nehmen, wurde diese Empfehlung regelrecht dadurch konterkariert, dass der Direktor der beiden künftigen Rabbinerseminare wie auch die Inspektoren der Kronschulen Christen sein sollten. In der Frage der Verpflichtung ausländischer Juden als Lehrer hatte man zwar die Empfehlungen der Rabbinerkommission missachtet, aber die nun in Kraft getretene Bestimmung dürfte durchaus im Sinne Lilienthals gewesen sein. Hatte der deutsche Rabbiner ursprünglich vorgeschlagen, bis zu 200 ausländische, vor allem deutsche Juden in den neuen staatlichen Schulen anzustellen, so war er später eindeutig davon abgerückt, jedoch nicht aus Überzeugung, sondern offenbar eher wegen der riesigen finanziellen Belastungen, die sich daraus ergeben würden. In seinem letzten Vorschlag für eine Reform des jüdischen Bildungswesens hatte er immerhin noch auf die Möglichkeit hingewiesen, bei einem Mangel an gebildeten Juden aus dem Zarenreich auch einige ausländische Juden als Gouvernementsschulinspektoren anzustellen.262 Die Bestimmungen sahen nun vor, dass auch Juden speziell aus Bayern, Preußen und Österreich als Religionslehrer angestellt werden konnten, wobei dies nicht näher ausgeführt wurde. Eine andere Regelung wäre im Übrigen höchst widersprüchlich gewesen. Schon seit Längerem gab es vereinzelt ausländische, meist österreichische Juden, die an modernen jüdischen Schulen des Zarenreichs – besonders in Odessa, Kisˇinev und Riga – unterrichteten und immer wieder um Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis ersuchen mussten.263 Insofern ist also davon auszugehen, dass man nur die rechtliche Grundlage dafür schaffen wollte, sich die Möglichkeit der vereinzelten Anstellung ausländischer Juden als Lehrer offenzuhalten. Den Wunsch, eine größere Anzahl zu verpflichten, wie seinerzeit zunächst intendiert, hatte man offenbar schon längst aufgegeben. Nur im Bereich des traditionellen jüdischen Schulwesens wurden zumindest Lilienthals Rat und der der Rabbinerkommission beherzigt und die Chadarim, Talmud-Torot und Jeschivot beibehalten. Allerdings hatte man auch hier die Empfehlungen der Rabbinerkommission verschärft, indem alle Melamdim und Chederhalter verpflichtet wurden, innerhalb von sechs Mo262 Die von Lilienthal vorgeschlagenen jüdischen Gouvernements- und Kreisschulkommissionen wurden im Übrigen tatsächlich eingeführt, wobei deren Präsident der GouvernementsschulDirektor bzw. in den Kreisstädten der örtliche Schuldirektor war und darüber hinaus zwei jüdische Mitglieder, einer aus dem Rabbiner- und einer aus dem Kaufmannsstand, Sitz in diesen hatten. 263 Vgl. zu solchen Fällen Lozinskij (Hg.), Opisanie, 124, 157, 192.

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150 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert naten nach Verabschiedung der Ausführungsbestimmung dem Bildungsministerium Anzahl und Namen ihrer Schüler zu melden und ein Zeugnis über gutes Benehmen von der örtlichen Obrigkeit zu erwirken. Diejenigen, die diese Frist versäumten oder die als Melamdim arbeiten oder einen Cheder eröffnen wollten, mussten vor temporären örtlichen Kommissionen eine Prüfung ablegen. Ebenso sollten auch alle Roschei Jeschivot, also die Leiter der Talmud-Hochschulen, der Obrigkeit jährlich eine Liste mit ihren Bachurim sowie die Lehrpläne vorlegen und ihre Zöglinge auf die am Ende des akademischen Jahres stattfindende Prüfung vorbereiten. Insgesamt war das traditionelle jüdische Schulwesen einer erheblichen Kontrolle durch staatliche Stellen ausgesetzt und insbesondere auch die Möglichkeit geschaffen worden, willkürlich einzelne Anstalten zu verbieten oder keine neuen mehr zuzulassen. Gerade bei den Prüfungen waren die Melamdim, Chederhalter und Jeschiva-Leiter von den Launen der obrigkeitlichen Vertreter abhängig. Abschließend lässt sich feststellen, dass die Regierung oder das Jüdische Komitee die Empfehlungen Lilienthals, Uvarovs und auch der Rabbinerkommission in entscheidenden Punkten ignoriert hatte. Weder war das religiöse Element in den neuen Schulen ausreichend berücksichtigt worden, noch hatte man der jüdischen Bevölkerung im Allgemeinen und den künftigen Zöglingen der Kronschulen im Besonderen nennenswerte rechtliche Erleichterungen zugestanden. Ganz im Gegenteil, die Juden des Ansiedlungsrayons mussten, wie schon erwähnt, neue repressive Maßnahmen der Regierung über sich ergehen lassen. Sahen so „Schonung und Umsicht“ aus, zu denen Lilienthal seinerzeit geraten hatte? Angesichts solcher Voraussetzungen standen die staatlichen jüdischen Schulen unter keinem guten Stern. Nur wenige Monate nach Verkündung des Ukaz über die Erziehung der jüdischen Jugend im November 1844 verließ Lilienthal das Zarenreich, um endlich seine langjährige Verlobte in München zu heiraten. Offiziell hatte der Rabbiner vor, danach zusammen mit seiner Frau wieder in das Russländische Reich zurückzukehren. Stattdessen emigrierte er kurz darauf in die USA, wo er in New York zum Rabbiner dreier deutsch-jüdischer Gemeinden gewählt wurde. Seitdem ist viel gerätselt worden, warum Lilienthal auf die Rückkehr in das Zarenreich verzichtet hat.264 Auf seinem Weg in die USA hatte er in Magdeburg den Rabbiner und Herausgeber der AZJ Ludwig Philippson besucht, der ihn seinerzeit der jüdischen Gemeinde in Riga als Prediger und Schuldirektor empfohlen hatte und durch seine Empfehlungen von geeigneten deutsch-jüdischen Lehrerkandidaten selbst in die jüdische Bildungsreform des Zarenreichs involviert gewesen war. Philippson berichtete Mitte Oktober 1845 von Lilienthals Entscheidung, seine Stellung in St. Petersburg aufzugeben, „da er dort dem Judenthume zu nützen nicht mehr absah“.265 Noch 264 Vgl. hierzu die Liste mit verschiedenen möglichen Gründen für Lilienthals Entscheidung gegen eine Rückkehr in das Zarenreich bei Stanislawski, Tsar, 85 – 87. 265 AZJ 43, 20. 10. 1845, 649.

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deutlicher über seine Motive, wenn auch weniger auf den russländisch-jüdischen Kontext zugespitzt, äußerte sich Lilienthal gegenüber Rothenberg, dem aus Galizien stammenden Arzt und Maskil in Berdicˇev : „Ich werde meine armen, geknechteten Glaubensgenossen in Europa verlassen, denen zu helfen ich nicht imstande bin, um mich in einem freien Land unter freien Mitbrüdern niederzulassen.“266 Diese zeitgenössischen Zitate deuten zweifellos auf eine gewisse Desillusionierung Lilienthals bezüglich seiner Einflussmöglichkeiten und klingen durchaus plausibel. Der Rabbiner hatte seit seinen ersten Aufenthalten in Wilna und Minsk seine Ansichten erheblich geändert. Die ursprünglich vertretene Politik der Härte gegenüber den traditionsorientierten Juden war einer Politik des Pragmatismus gewichen, die darauf setzte, dem traditionellen Judentum weitgehend entgegenzukommen. Zudem bemühte er sich ernsthaft um eine gesetzliche Besserstellung der jüdischen Bevölkerung. Insofern musste Lilienthal an der Ende 1844 verabschiedeten Bildungsreform erkennen, dass sein Einfluss höchst begrenzt war. Der einstige Hoffnungsträger des russländischen Judentums war tatsächlich für seine Glaubensgenossen kaum von Nutzen. Wenn Stanislawski behauptet, der Rabbiner habe bis zu seiner Abreise aus dem Zarenreich nichts anderes als völliges Vertrauen in die Ziele und die Politik der russischen Regierung geäußert,267 so ist dies unrichtig. Lilienthals zahlreiche Vorschläge, die rechtliche Situation der jüdischen Bevölkerung zu verbessern, waren unausgesprochen auch eine Kritik an den bestehenden gesetzlichen Verhältnissen. Ebenso hatte er ausdrücklich vor einem Scheitern der Reform gewarnt, sollte sich in dieser Beziehung nichts ändern. Solange die Umgestaltung des jüdischen Bildungswesens diskutiert wurde, bestand noch Hoffnung. Spätestens mit dem Ukaz vom 13. November 1844 war, wenn auch nicht in vollem Umfang, klar, dass sich die Erwartungen hinsichtlich einer besseren Zukunft für das russländische Judentum nicht erfüllen würden. Freilich mag es noch eine gewisse Zeit gedauert haben, bis sich der Rabbiner dies eingestand. Dass aber persönliche Gründe und insbesondere die fehlende Aussicht auf eine finanziell gesicherte Existenz Lilienthal dazu bewogen haben, nicht in das Zarenreich zurückzukehren, wie Stanislawski in Erwägung zieht,268 ist zwar möglich, doch als hauptsächlicher Grund eher unwahrscheinlich. Wäre Lilienthal, auf Drängen der Familien, tatsächlich nur wegen der ungenügenden Existenzsicherung nicht in das Russländische Reich zurückgekehrt, so wäre es unverständlich, dass er ungefähr zwei Monate später in die USA auswanderte, wo ihn materiell gesehen zunächst eine noch unsicherere Zukunft erwartete. Vom persönlichen Standpunkt aus betrachtet, war Lilienthals „Mission“ gescheitert. Selbst als er noch auf Zwangsmaßnahmen gesetzt hatte, ging es 266 Morgulis, istorii, 68. Ähnlich zitiert auch bei Scheinhaus, Geschichte, 43. 267 Vgl. Stanislawski, Tsar, 87. 268 Vgl. Stanislawski, Tsar, 95.

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152 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ihm in erster Linie darum, unter seinen Glaubensgenossen Bildung und Aufklärung zu verbreiten. Später wurde ihm bewusst, dass eine Aufklärung, die mit „Gewalt“ herbeigeführt wird und die religiösen Gefühle missachtet, weder diesen Namen verdiente noch von Dauer und Erfolg sein würde. In der jüdischen Bildungsreform, wie sie schließlich ins Leben trat, war von Aufklärung und religiöser Toleranz nur wenig zu spüren. Aber nicht nur Lilienthal dürfte schwer enttäuscht gewesen sein. Auch Jost und Philippson sowie die etwa 200 deutsch-jüdischen Lehrerkandidaten, die seit Jahren auf eine Anstellung warteten und inzwischen zum Teil wohl schon anderswo ein Unterkommen gefunden hatten, werden mit dem Ergebnis der Reform alles andere als zufrieden gewesen sein. Auch wenn grundsätzlich die Möglichkeit einer Verpflichtung jüdischer Lehrer aus Bayern, Preußen und Österreich bestand, so dürfte doch bald allen klar gewesen sein, dass die ursprünglichen Pläne nicht mehr realisiert würden. Die zahlreichen negativen Meldungen über antijüdische Maßnahmen, die in der letzten Zeit aus dem Zarenreich eingetroffen waren, wirkten darüber hinaus ohnehin kaum noch einladend. Damit war das große Projekt, westeuropäische, vor allem deutsche Juden als kulturelle Mittler in das Zarenreich zu senden, gescheitert. In seinem 1847 erschienenen Band zur Neueren Geschichte der Israeliten von 1815 bis 1845 sollte Jost allerdings immer noch dem erfolgreichen Kulturtransfer das Wort reden, wobei der von Kulturarroganz geprägte Diskurs des Orientalismus in aller Deutlichkeit zu Tage trat. Bezüglich der Umgestaltung des jüdischen Schulwesens im Zarenreich schrieb er : „Und hier sehen wir wieder den Einfluß deutscher Bildung mit voller Kraft auch über den Osten hin verbreitet, und dürfen uns freuen, daß der deutsche Geist siegreich über Slaventhum und verderbten Orientalismus hinschreitet.“269 13 Jahre später sah Jost die Reform und die Lilienthal’sche Epoche in ganz anderem, eher nüchternem Licht: „Zeitungsleser erinnern sich des Strohfeuers, welches unter dem Ministerium Uwaroff, angezündet durch einen jungen Deutschen, welcher als Sekretär nach Petersburg berufen ward, und die Aufmerksamkeit des Ministeriums mit Recht vornehmlich auf das Erziehungswesen hinlenkte, eine kurze Zeit aufflackerte. Der ganze Rest davon bestand in einem Portoverlust von mehreren Tausend Gulden, welchen viele Hunderte armer deutscher Lehrer, aufgefordert ihre Papiere einzusenden, um das Schulwesen der Juden in Rußland umzuschaffen, erlitten. Die Flamme erlosch.“270

269 Jost, Neuere Geschichte, 298. 270 Vorwort Josts zu Rabinovicˇ, Schilderungen, IV–V.

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1.2 „Der Moses gleich, in einem fremden Lande, Zerreißt des schwachen Wissens finst’re Bande“: Abraham Neumann in Riga und Kurland 1.2.1 Abraham Neumann als Nachfolger Lilienthals in Riga Wie schon erwähnt, hatte die fortwährende Abwesenheit Lilienthals aus Riga auf Grund seiner Mitarbeit bei der jüdischen Bildungsreform dazu geführt, dass die erst im Januar 1840 eröffnete Gemeindeschule, die als Musteranstalt für moderne jüdische Lehranstalten im Zarenreich galt, seit Anfang 1842 langsam, aber sicher wieder verfiel. Da zunächst offenbar nicht klar war, ob Lilienthal zurückkehren und seine Stelle als Hauptlehrer wieder einnehmen würde, bemühte man sich nicht sofort um eine Nachfolge. Angeblich reiste aber schon Ende Mai des Jahres auf Empfehlung von Rabbiner Philippson, der schon Lilienthal vermittelt hatte, Dr. Wolf Aloys Meisel (1815 – 1867) nach Riga, um dort Lilienthals Nachfolge als Prediger, Hauptlehrer und Schuldirektor anzutreten.271 Sowohl aus dieser Anstellung, wenn sie denn jemals wirklich beabsichtigt war, als auch aus der des von Lilienthal empfohlenen Dr. Freystadt wurde nichts. Dies galt auch für die Kandidatur des Vetters von Philippson, Dr. Gustav Philippson (1814 – 1880) aus Dessau, der die Berufung zwar angenommen hatte, jedoch plötzlich erkrankte und somit absagen musste.272 Endgültiger Nachfolger wurde schließlich der ebenfalls vom Magdeburger Rabbiner vermittelte bayerische Rabbiner Dr. Abraham Neumann (1809 – 1875). Neumann wurde 1809 im fränkischen Gerolshausen bei Würzburg geboren. Ab 1822 erhielt er eine traditionell-religiöse Erziehung in der Fürther Jeschiva, und fünf Jahre später begann er ein Studium an der Würzburger Universität, immatrikulierte sich dort jedoch erst im April 1832.273 Bereits ein Jahr darauf wurde er in Gießen promoviert und fand für die folgenden vier Jahre eine Anstellung als Hauslehrer bei Baron von Hirsch in Würzburg. Nachdem er seine rabbinische Ausbildung in Bayreuth erhalten hatte, legte er vor der Königlich-Bayerischen Prüfungskommission erfolgreich das Examen für den Titel eines Rabbinatskandidaten ab.274 Auf Grund der bereits erwähnten „Überfüllungskrise“ der 1830er Jahre schloss sich Neumann als Rabbinatskandidat im März 1835 einer an die bayerische Regierung gerichteten Petition an, um auf die traurige Lage der jungen, akademisch gebildeten, aber stel271 Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 14. Allerdings scheint aber Meisel den Ruf eines Predigers in Mitau angenommen zu haben. Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 104. 272 Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 14. 273 Vgl. Brocke/Carlebach (Hg.), Handbuch, Teil 1, Bd. 2, 684. Laut Aussage des Generalgouverneurs der Ostseeprovinzen Graf Suvorov hatte Neumann von 1829 bis 1834 mit besonderem Fleiß Kurse der philosophischen Fakultät der Königlich-Bayerischen Universität in Würzburg besucht, was auf eine frühere Immatrikulation hinweisen würde. Vgl. RGIA, 821, 8, 395, 19ob. 274 Vgl. RGIA 821, 8, 395, 19ob und 20.

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154 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert lungslosen Rabbiner aufmerksam zu machen.275 In Bamberg erhielt er schließlich seine Rabbinerautorisation, sah aber offensichtlich weiterhin keine Möglichkeit, eine Stelle als Rabbiner zu erlangen. Eine am 25. März 1838 erneut eingereichte Petition junger Rabbiner und Kandidaten an die Regierung Bayerns trug nicht nur Lilienthals, sondern auch Neumanns Unterschrift.276 Ebenso wie sein Vorgänger wurde Neumann als Prediger und Hauptlehrer von der jüdischen Gemeinde in Riga angestellt. Nachdem die Gemeindeschule, das einstige Vorzeigeobjekt, inzwischen geschlossen worden war,277 wurde sie nach den jüdischen Feiertagen am 1. November 1843 feierlich wiedereröffnet, und zwar – dies zeigt die Bedeutung, die die Obrigkeit dieser Anstalt beimaß – erneut in Anwesenheit des Gouvernementsschuldirektors Dr. Napierskij. Entsprechend dem aufgeklärten Selbstverständnis eines promovierten deutschen Rabbiners wies Neumann in seiner Rede darauf hin, wie wichtig Bildung und ein geläutertes Verständnis von Religion und Sittlichkeit für die jüdische Jugend im Hinblick auf ihr künftiges bürgerliches Leben als moralisch einwandfreie Untertanen wie auch für ihr Berufsleben seien. Die Vorbehalte der Eltern vor Augen, unterließ es Neumann dabei nicht, offenbar unter Anführung mehrerer Belege aus den religiösen Quellen die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Vermittlung säkularer Kenntnisse hervorzuheben.278 Obwohl durch die vorübergehende Schließung der Gemeindeschule nach Lilienthals Weggang laut einer Privatmitteilung der AZJ „[v]iele wieder in eine solche Gleichgültigkeit gegen den Unterricht“ verfielen, dass sogar nach Wiedereröffnung der Anstalt nicht geringe Schwierigkeiten zu überwinden waren, konnte Neumann schon nach einem halben Jahr erste Erfolge verbuchen. So hatte sich die Zahl der Schüler in der unteren Klasse verdoppelt, und der Kurator des Dorpater Lehrbezirks sprach sich nach Begutachtung des Unterrichts und Prüfung der Zöglinge, wie schon zu Lilienthals Zeiten, sehr positiv über deren Kenntnisse aus.279 Im November 1844 wurde Neumann vom Bildungsministerium in seinen Ämtern als Prediger und Schuldirektor auf Lebenszeit bestätigt, was in der Ära Nikolaus I., die durch eine zunehmende Hysterie gegenüber Ausländern geprägt war, eine nicht zu unterschätzende Auszeichnung bedeutete. Nicht einmal drei Jahre nach Beginn seiner Tätigkeit in Riga erhielt Neumann von der Lehrbehörde für seine pädagogischen Verdienste eine Belobigung, wobei die zumindest von der Obrigkeit wahrgenommene Qualität der Rigaer Gemeindeschule noch dadurch unterstrichen wurde, dass der Gouvernementsschuldirektor ein Reskript erließ, wonach kein jüdischer Schüler in christliche Schulen aufgenommen werden durfte, 275 276 277 278 279

Vgl. Wilke, Talmud, 495, 496, FN 10. Vgl. Wilke, Talmud, 496, FN 10. Vgl. AZJ 31, 29. 7. 1844, 436; Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 15. Vgl. Privatmitteilung aus Riga, in: AZJ 1, 1. 1. 1844, 9. Vgl. AZJ 31, 29. 7. 1844, 436.

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solange er nicht durch ein Zeugnis von Neumann nachweisen konnte, dass er dessen Schule und den dortigen Religionsunterricht mit Erfolg besucht hatte.280 Aber auch von aufgeklärt-jüdischer Seite wurde innerhalb kürzester Zeit Neumanns Verdienst um die Verbreitung säkularer Bildung anerkannt und er, wie schon zuvor Lilienthal, in dieser Hinsicht als fremder kultureller Mittler gefeiert. Beredtes Beispiel dafür sind folgende Zeilen aus einem Gedicht, das die Jüdische Gemeinde anlässlich seiner Vermählung mit Mina Götsch 1845 drucken ließ: „Du, des erwählten Volkes edler Sohn, Der Moses gleich, in einem fremden Lande, Zerreißt des schwachen Wissens finst’re Bande.“281

Ähnlich wie Lilienthal, zumindest zu Beginn der jüdischen Bildungsreform, von den Maskilim mit Moses gleichgesetzt wurde, begegnet uns dieser Vergleich bei Neumann wieder. Auch auf ihn setzte man offenbar die Hoffnung, er werde die Juden aus der Gefangenschaft der Unwissenheit in das vermeintliche gelobte Land der Bildung führen.

1.2.2 Abraham Neumann und der Auf- und Ausbau des staatlichen jüdischen Schulwesens in Kurland Nachdem Lilienthal nicht mehr in das Zarenreich zurückgekehrt war, setzte die Obrigkeit, die auch weiterhin das deutsche Judentum als Vorbild betrachtete, auf seinen Rigaer Nachfolger bei der Umsetzung der im November 1844 verkündeten Bildungsreform, die allerdings in erster Linie auf Provinzebene stattfinden sollte. Bereits um die Jahreswende 1847/48 hatte Neumann den Auftrag erhalten, die deutschen Übersetzungen der von Leon Mandel’sˇtam für die staatlichen jüdischen Schulen und Rabbinerseminare ausgearbeiteten Lehrbücher auf ihre Richtigkeit zu prüfen.282 Wie sehr das Bildungsministerium in Petersburg die von Neumann geleitete Gemeindeschule als Prototyp für die Errichtung der staatlichen jüdischen Schulen im Dorpater Lehrbezirk betrachtete, wird schon allein daran deutlich, dass der Minister den rechtlichen Status der Rigaer Lehranstalt nachträglich ändern wollte. Ende 1848 forderte er den Kurator des Lehrbezirks auf, ihn über die Möglichkeit der 280 Vgl. Der Orient 26, 25. 6. 1846, 202 – 203. In seinem Personalbogen sind mehrere Belobigungen der Obrigkeit für seine Bemühungen um Schule und Bildung der Schüler erwähnt. Vgl. RGIA, 821, 8, 427, 9 – 10. 281 Gruß aus der Ferne. Zur Feier der ehelichen Verbindung unseres Hochgeschätzten Predigers und Hauptlehrers bei der Israelitischen Gemeinde zu Riga Dr. A. Neumann mit dem Fräulein Mina Götsch, Riga 1845, o. P. LVVA, 4011, 1, 3972, 52 – 53; die zitierte Stelle ist auf Blatt 53 zu finden. 282 Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 258. Tatsächlich sollte Neumann, wie auch andere Rabbiner im Russländischen Reich, diese Bücher empfehlen. Vgl. AZJ 27, 2. 7. 1849, 368.

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156 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Umgestaltung der Rigaer Einrichtung nach dem Muster der jüdischen Kronschulen zu informieren. Nachdem der Kurator diese Aufforderung – wohl absichtlich – ignoriert hatte, wurde er mehr als ein Jahr später nochmals dazu angehalten, seine Meinung zu äußern.283 Es sollte ein weiteres Jahr dauern, bis der Kurator endlich mitteilte, dass die Rigaer Jüdische Gemeinde bereit sei, ihre Schule bald in eine allgemeine Kreisschule umzuwandeln, jedoch nicht in eine staatliche jüdische Schule, da in diesem Fall nur 700 Rubel aus den Einnahmen für geschlachtetes Hornvieh für ihre Unterhaltung zustünden, während man mindestens 1 120 Rubel im Jahr benötige. Ob allein die verminderte Finanzierungsgrundlage für die Gemeinde dafür ausschlaggebend war, das Ansinnen abzulehnen, muss dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall deutete das Argument auf einen Umstand, den die Regierung nicht wahrhaben wollte: die Unterfinanzierung des gerade im Entstehen begriffenen staatlichen jüdischen Schulwesens. Wenn schließlich der Kurator gegenüber dem Bildungsminister die Meinung vertrat, man solle die Schule nicht gegen den Willen der Rigaer Gemeinde in eine staatliche jüdische Schule umwandeln, zumal sich die Lehranstalt in einem guten Zustand befinde, was dem Eifer des Hauptlehrers Neumann zuzuschreiben sei,284 so war dies nicht nur ein bemerkenswertes Lob für das erzieherische Wirken des deutschen Rabbiners, sondern vor allem auch eine deutliche Kritik eines Vertreters der Obrigkeit an der Ende 1844 verabschiedeten Bildungsreform. Dass sich die Schulbehörden in der Provinz und das Bildungsministerium bei der Errichtung des jüdischen Kronschulwesens alles andere als einig waren, zeigte sich noch in einem anderen Zusammenhang. Im Dezember 1848 hatte Uvarov auf Gesuch des Mitauer Magistrats und der dortigen jüdischen Gemeinde den Lehrbezirk aufgefordert, einen Vorschlag für die Errichtung einer staatlichen jüdischen Schule bei der Mitauer Talmud-Tora einzureichen. Gleichzeitig wies der Bildungsminister entgegen den letzten Vorschlägen Lilienthals darauf hin, dass in der Hauptstadt Kurlands wie auch in den anderen Städten und Flecken des Lehrbezirks an die Vergabe von Zeugnissen an Melamdim und Chederhaltern ein möglichst strenger Maßstab anzulegen sei und generell der jüdische Privatunterricht mit allen Mitteln eingeschränkt werden müsse.285 Offenbar als Reaktion auf die Aufforderung Uvarovs erhielt Neumann im März 1849 vom Kurator den Auftrag, einen Plan für die Errichtung von staatlichen jüdischen Schulen in Kurland auszuarbeiten.286 Wie dieser Plan aussah, ist nicht bekannt.287 Allem Anschein nach war Neumann am Entwurf 283 Allerdings wurde schon im August 1849 aus Riga berichtet, dass die jüdische Gemeindeschule „höchster Vorschrift zufolge in eine Kronschule verwandelt werden“ (AZJ 34, 20. 8. 1849, 479) soll. 284 Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 228. 285 Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 228 – 229. 286 Vgl. RGIA, 821, 8, 427, 9. 287 In den überlieferten Akten des damaligen Kurators des Dorpater Lehrbezirks, die im Estni-

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eines entsprechenden Lehrplans beteiligt, der vom Lehrbezirk in Übereinstimmung mit der kurländischen jüdischen Gouvernementsschulkommission zusammengestellt wurde und eigentlich für die Mitauer jüdische Kronschule bestimmt war. Doch dieser Entwurf stieß im Bildungsministerium auf Ablehnung, da er nicht mit dessen Curriculum der staatlichen jüdischen Schulen übereinstimmte. Besonders scharf sprach sich Leon Mandel’sˇtam, Lilienthals Nachfolger im Ministerium als Gelehrter Jude, gegen den Plan aus, der seiner Meinung nach „ohne jede Ordnung erstellt“ worden war. Das Bildungsministerium ließ nun beim Kurator anfragen, ob es nicht möglich sei, den eingereichten Lehrplan dem allgemeinen Curriculum der staatlichen jüdischen Schulen anzugleichen oder anzunähern. Der Kurator ließ daraufhin „seinen“ Entwurf geringfügig umarbeiten, hielt es aber angesichts der örtlichen Umstände für nötig, den Plan im Übrigen beizubehalten und ihn für drei Jahre versuchsweise einzuführen. Das Ministerium bestätigte den Plan schließlich, und am 11. April 1850 wurde in Mitau die erste staatliche jüdische Schule Kurlands feierlich eröffnet.288 Was genau die zunächst ablehnende Haltung des Ministeriums und Mandel’sˇtams gegenüber dem Lehrplan des Kurators und der jüdischen Gouvernementsschulkommission hervorgerufen hatte, lässt sich wegen fehlender Quellen nicht sagen. Die Anfrage, ob der Entwurf nicht dem allgemeinen Lehrplan der staatlichen jüdischen Schulen angenähert werden könne, und ein Blick auf das Curriculum der jüdischen Kronschulen in Kurland, so wie dieses schließlich eingeführt wurde, lassen vermuten, dass dem Bildungsministerium die Berücksichtigung des religiösen Elements zu weit ging. In den beiden Klassen der staatlichen jüdischen Elementarschulen Kurlands waren 29 Wochenstunden Unterricht vorgesehen, die fast paritätisch verteilt waren: 14 Stunden Religionsunterricht und 15 Stunden säkularer Unterricht, wozu auch zwei Stunden Hebräisch gehörten. Damit waren in den jüdischen Kronschulen Kurlands mehr als doppelt so viele Wochenstunden der religiösen Unterweisung vorbehalten wie in den anderen staatlichen jüdischen Schulen, in denen dafür gerade einmal sechs von insgesamt 22 Stunden vorgesehen waren.289 Der Religionsunterricht mag zwar die Ansprüche eines traditionsorientierten Juden kaum befriedigt haben, im Vergleich zu den Vorgaben der 1844 verabschiedeten Reform hatte er aber sowohl quantitativ als auch qualitativ deutlich mehr Substanz. Bezüglich der Bibel sollten die fünf Bücher Moses mit schen Historischen Archiv in Tartu (Ajalooarhiiv, EAA 384, 1, 925) zu finden sind, ist er nicht erhalten. 288 Vgl. Lozinskij (Hg.), Opisanie, 229. 289 Als Beispiel vgl. den Lehrplan und die Wochenstundenzahlen in der Wilnaer staatlichen jüdischen Schule erster Ordnung bei Stanislawski, Tsar, 101. Vgl. auch den Lehrplan bei Postel’s, der nur fünf Wochenstunden für jüdische Gegenstände angibt, wobei Hebräisch nicht einmal als eigenständiges Fach aufgeführt ist. Postel’s merkte im Übrigen an, dass, sofern weiterer Religionsunterricht als erforderlich angesehen werde, dieser zusätzlich am Nachmittag erteilt werden könnte. Vgl. Otcˇet Postel’sa, 57.

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158 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert dem Kommentar Raschis sowie die ersten Propheten unterrichtet werden, darüber hinaus standen die Gebete in deutscher Übersetzung und ein kurzer Abriss der jüdischen Bräuche auf dem Plan, und schließlich sollten in der ersten höheren Klasse immerhin vier Stunden in der Woche Mischna- (eine Auswahl aus dem Traktat Berechat) und somit letztlich Talmud-Unterricht erteilt werden.290 Ob dies ausreichend war, um die jüdischen Eltern zu veranlassen, ihre Söhne in die neuen Schulen zu schicken, sollte sich sehr schnell zeigen. Akzeptanz der staatlichen jüdischen Schulen Kurlands Entsprechend dem Ukaz vom 13. November 1844 wurden in Kurland zwischen April 1850 und März 1851 fünf jüdische Kronschulen erster Ordnung (Grundschulen) eingerichtet. Im folgenden Jahr wurde Neumann – mittlerweile Beamter für besondere Aufgaben in jüdischen Angelegenheiten – vom Generalgouverneur Liv-, Est- und Kurlands291 Aleksandr Suvorov (1804 – 1882) beauftragt, diese Schulen auf einer Rundreise zu inspizieren, wobei er laut der Instruktion des kurländischen Gouvernementsschuldirektors unter anderem ermitteln sollte, warum die neuen Lehranstalten so „spärlich“ besucht wurden, warum eine „gewisse Scheu und Zurückhaltung der Hebräer von den Kronschulen besteht“292 und auf welche Weise dies geändert werden könne. Wie die in Neumanns Bericht angegebenen Schülerzahlen zeigen, stießen die kürzlich gegründeten staatlichen jüdischen Schulen in Kurland mehrheitlich nur auf sehr geringe Akzeptanz in der jüdischen Bevölkerung.293 Insofern ist auf Grund sämtlicher von Neumann mitgeteilter Zahlen das Urteil Verena Dohrns, dass die neuen staatlichen jüdischen Schulen „nicht einmal in allen jüdischen Gemeinden Kurlands akzeptiert“294 worden seien, dahingehend zu präzisieren, dass auch dort diese Schulen in der Anfangszeit, teilweise später immer noch, insgesamt eher auf Ablehnung als auf Zustimmung stießen. Angesichts der niedrigen Schülerzahlen in den staatlichen jüdischen Schulen Kurlands bemühte sich Neumann gemäß der ihm erteilten Instruktion, zweifellos aber auch aus seinem eigenen aufgeklärten Selbstverständnis heraus, in den jeweiligen Städten die jüdische Bevölkerung durch persönliche Gespräche davon zu überzeugen, dass mehr Kinder in die neuen Schulen 290 Vgl. Bericht Neumanns an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 88. 291 In Neumanns Bericht wird der Generalgouverneur, in dessen amtlichem Dienstakt hingegen der Bildungsminister als Auftraggeber dieser Inspektionsreise angegeben. 292 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 87. 293 Zu den genauen Zahlen vgl. Grill, Neumann, 63 – 64. 294 Dohrn, Bildungsreform, 351.

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geschickt werden sollten295 – allerdings ohne Erfolg. In dem auf Neumanns Inspektionsreise folgenden Schuljahr ging die Zahl der Schüler an den staatlichen jüdischen Lehranstalten in Jakobstadt, Tuckum und Goldingen nochmals zurück. Erst im übernächsten Jahr scheint sie wieder angestiegen zu sein. Als Neumann drei Jahre später diese Schulen, mit Ausnahme der Mitauer Lehranstalt, erneut persönlich in Augenschein nahm, konnte er teilweise einen prozentual nicht unerheblichen Anstieg des Schulbesuchs verzeichnen. Trotz der deutlichen Zunahme in bestimmten Lehranstalten blieb aber die Zahl der Schüler in den staatlichen jüdischen Schulen Kurlands weiter hinter den Erwartungen der Obrigkeit zurück. Dies änderte sich offenbar auch in den folgenden Jahren nicht signifikant.296 Insofern hatten die Inspektionsreisen Neumanns kaum die erwünschte Wirkung, sondern führten in erster Linie vor Augen, dass die Reform des jüdischen Bildungswesens, an der seinerzeit Lilienthal mitgewirkt hatte, weitgehend gescheitert war. Trotz einer stärkeren Berücksichtigung des religiösen Elements in den Kronschulen Kurlands zogen es die jüdischen Eltern überwiegend auch weiterhin vor, ihren Söhnen einen traditionellen Unterricht in einem der konzessionierten oder auch nicht genehmigten Chadarim zukommen zu lassen. Wie es dementsprechend um die staatlichen jüdischen Schulen in anderen Gebieten des Reichs bestellt war, wo die Aufklärung noch weitaus weniger Fuß gefasst hatte und die Qualität der religiös-jüdischen Erziehung in den neuen Schulen noch geringer war, lässt sich leicht vorstellen. Als Neumann einige Monate nach Abfassung des Berichts über seine zweite Reise durch die kurländisch-jüdischen Gemeinden anläßlich des Krönungsfests Alexanders II. in der Rigaer Synagoge eine Predigt hielt, ging er insbesondere auch auf die Frage der jüdischen Erziehung ein. Möglicherweise auf Grund seiner nicht lange zurückliegenden Erfahrungen mit dem staatlichen jüdischen Schulwesen wies der Rabbiner vor allem auf die staatsbürgerliche Pflicht der Juden hin, ihren Kindern eine zeitgemäße Bildung zu ermöglichen: „Dazu sollen und müssen Schulen und Anstalten zeitgemäß errichtet werden, um die Jugend für ihren künftigen Beruf vorzubereiten und sie geschickt zu machen für die Aufgabe, fromme Israeliten, treue Unterthanen, tugendhafte, nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft zu werden.“

Neumann fand schließlich noch prägnantere Worte, indem er es als „des Lebens wichtigste Forderung“ bezeichnete, „die Jugend für die Welt zu er295 Immer wieder wies Neumann die Väter auf den doppelten Nachteil hin, der durch ihre Weigerung, die Söhne in die Kronschule zu schicken, entstünde. Vgl. Bericht Neumanns an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 10. 12. 1852, in: Grill, Neumann, 80 – 81. Damit meinte Neumann zum einen den Nachteil einer fehlenden Elementarbildung, zum anderen aber sicherlich auch den Nachteil staatlicher Sanktionen. 296 Laut der Statistik Postel’s war die durchschnittliche Zahl der Schüler zwischen 1850 und 1864 folgende: Mitau ca. 57, Goldingen ca. 43, Libau ca. 36, Tuckum ca. 24 und Jakobstadt ca. 17. Vgl. Otcˇet Postel’sa, 110 – 113.

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160 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ziehen, für Gott aber zu gewinnen und zu erhalten“. Die Vorbehalte traditionsorientierter Juden vor Augen, erklärte er, dass säkulare Kenntnisse keineswegs zum Abfall von Gott, sondern ganz im Gegenteil zu ihm hin führten. Darüber hinaus könne der „Unwissende“ weder „fromm“ noch „gottesfürchtig“ sein, da ihn entweder der „Aberglaube“ oder der „Unglaube“ daran hindere.297 Damit hatte der deutsche Rabbiner in relativ drastischer Weise die Bedeutung eines zeitgemäßen Unterrichts und die Aneignung von säkularem Wissen im wahrsten Sinne des Wortes gepredigt. Erstaunlicherweise war dies die erste und auch letzte Predigt, die Neumann zeitlebens veröffentlichen sollte. Hatte der Rabbiner den für ihn ungewöhnlichen Schritt der Veröffentlichung gewählt, um seinem Anliegen besonderes Gehör zu verschaffen?

Die Rigaer Gemeindeschule – ein Vorbild? Dass die jüdischen Kronschulen in Kurland wie auch in anderen Gebieten des Russländischen Reiches nur auf geringe Akzeptanz stießen, war angesichts des Reformwerks, das die Empfehlungen Lilienthals und der Rabbinerkommission unberücksichtigt gelassen hatte, durchaus zu erwarten. Wie aber stand es um die Rigaer jüdische Gemeindeschule, die nicht zum staatlichen jüdischen Schulnetz gehörte und auf Initiative der Gemeinde selbst gegründet worden war? Wie ursprünglich für die Kronschulen geplant, unterrichtete dort mit Neumann ein auf der Universität ausgebildeter ausländischer Jude. War dies ein Garant für den Erfolg der Lehranstalt im Vergleich zu den staatlichen jüdischen Schulen? Bekanntlich hatte die Obrigkeit den deutschen Rabbiner für sein Wirken an der Gemeindeschule immer wieder sehr gelobt. Und auch der aufgeklärte Teil der Gemeinde, auf dessen Initiative die Schulgründung zurückging, war mit Neumann ausgesprochen zufrieden. Wie aber stand es mit den „reußischen“ oder „polnischen“ Juden? Sie waren zugewandert und somit dem Einfluss deutscher Kultur bisher kaum ausgesetzt gewesen. Schon 1843, als Neumann seine Ämter in Riga antrat, entschloss sich die Schulkommission der Rigaer Jüdischen Gemeinde, das bis dahin von bemittelten Eltern erhobene Schulgeld abzuschaffen. Zum einen reagierte man damit auf die weit verbreitete Armut in der Gemeinde, zum anderen geschah dies, wie Neumann später berichtete, „in der Absicht, die Frequenz der Schule dadurch zu steigern […], weil schon damals viele Eltern den Segen der Schule nicht einsehen wollten und es vorzogen, ihre Kinder in Winkelschulen unterrichten zu lassen“.298 Dass die Rigaer Gemeindeschule zahlreiche Gegner hatte, war Neumann also von Anfang an bewusst. Ungefähr ein halbes Jahr, bevor Neumann im Auftrag der Obrigkeit das erste Mal die jüdischen Kronschulen in Kurland inspizierte, wandten sich 297 Neumann, Predigt, 11 – 12. 298 Bericht Neumanns, ohne Datum (ca. Frühjahr 1860). LVVA, 1, 7, 1789, 5.

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Mitglieder der Rigaer Gemeinde anonym unter Umgehung des Generalgouverneurs mit dem Gesuch an den Innenminister, Neumann als Hauptlehrer zu entlassen und durch einen jüdischen Untertanen des Zarenreichs zu ersetzen.299 Zur Begründung ihres Gesuchs setzten die Verfasser auf die „ausländische Karte“, die angesichts zunehmender Ängste vor den revolutionären Umtrieben aus dem Ausland in der Ära Nikolaus I. und mangelnder Loyalität gegenüber der Krone erfolgversprechend schien. Zunächst wiesen die anonymen Petitionäre auf die bereits seit zwölf Jahren bestehende Schule in Riga hin, die die arme Gemeinde stark belaste, was schon ein Indiz dafür war, dass sie eine grundsätzlich negative Haltung gegenüber der Lehranstalt einnahmen. Sodann erklärten sie, die damaligen Kahalsvorsteher, die aus dem Ausland stammten und erst später in die russländische Untertänigkeit eingetreten seien, hätten einen „Ausländer“ namens Lilienthal als Lehrer an die neue Schule berufen, der nach kurzer Zeit in seine Heimat zurückgekehrt sei und in der Öffentlichkeit seine Stimme gegen das Zarenreich erhoben habe. Daraufhin sei ein anderer „Ausländer“, nämlich Neumann, berufen worden. Obwohl man mit diesem „leicht unzufrieden“ sei und die Schülerzahl daher in letzter Zeit bedeutend zurückgegangen sei, habe Neumann den Schuletat von 900 auf 1 100 Silberrubel jährlich erhöht. „Unsre Gemeinde wird“, führten die Beschwerdeführer weiter aus, „durch solche ausländische Lehrer, die für uns kein Gefühl haben, so belastet, daß dieselbe, obgleich der Kahal die Korobka Steuer erhöht hat – dadurch in Kronsschulden gerathen ist. – Unsre Bitte: die Schulkosten möglichst zu verkleinern, wird von besagten Neumann zurückgewiesen, indem er sagt: seine Familie ist größer als die des Lilienthals und Rußland habe Geld genug. Dieser harte Ausdruck eines Ausländers ist dem russischen Unterthanen unerträglich schwer anzuhören, besonders aber da man zu fürchten hat, daß diese Gesinnung eines Ausländers auf unsre Juden Einfluß haben könnte.“ Die Verfasser des Gesuchs vertraten die Ansicht, dass der „Ausländer“ Neumann in der Schule tatsächlich in zersetzender Weise auf seine Schüler eingewirkt habe, mit weitreichenden Konsequenzen: Sechs namentlich angeführte Schüler aus der Gemeinde selbst sowie mehrere Zöglinge aus anderen Gemeinden hätten nach Absolvierung der Schule das Russländische Reich verlassen und sich ins Ausland begeben, „wodurch die Gemeinde und die Treue leidet“. Da die namentlich genannten Schüler offenbar dem deutschakkulturierten Establishment der Gemeinde angehörten, wird deutlich, dass die Stoßrichtung nicht allein Neumann, dem „Ausländer“, galt, sondern den Anhängern der Aufklärung insgesamt. Reisten aber Söhne aus gebildetem Elternhaus ins Ausland, so wird dies wohl in erster Linie mit ihrer weiteren Erziehung zu tun gehabt haben. Zahlreiche gebildete Juden aus den Ostseeprovinzen ließen sich zeitweise vor allem in deutschen Staaten nieder, um dort 299 Vgl. das anonyme Schreiben Rigaer Juden an den russischen Innenminister, 2. 4. 1852. RGIA, 821, 8, 395, 1 – 2.

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162 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert das Gymnasium und/oder die Universität zu besuchen. Mit Illoyalität hatte das wenig zu tun, eher mit den besseren Bedingungen, die dort herrschten. Geradezu fadenscheinig war daher die Äußerung der Petitionäre, „[d]aß wir treue Unterthanen Rußlands sind und es wünschen daß unsre Kinder ebenfalls bleiben sollen, doch aber zu befürchten haben, daß sie durch solche ausländische Lehrer dem Monarchen und Lande untreu werden können“. Fest steht jedoch, dass Neumanns Loyalität gegenüber der Krone über jeden Verdacht erhaben war. Das Ausspielen der „ausländischen Karte“ sollte seine Wirkung nicht verfehlen. Im Monat darauf forderte der Innenminister den Generalgouverneur auf, das Gesuch um Entfernung Neumanns als Direktor der Rigaer jüdischen Gemeindeschule und seine Ersetzung durch einen inländischen Juden zu begutachten und dabei insbesondere auch zu berücksichtigen, dass der deutsche Rabbiner bei ihm als Beamter für besondere Aufgaben in jüdischen Angelegenheiten angestellt sei.300 Ende Juni 1852 bemühte sich der Generalgouverneur in seinem Antwortschreiben an den Innenminister, die Vorwürfe gegen Neumann zu entkräften. Er meinte, die Gemeindeschule habe nach ihrer Gründung im Jahr 1840 zunächst eine bedeutende Zahl von Schülern gehabt, die aber wegen der schlechten Leitung – gemeint war Lilienthals lange Abwesenheit – wieder so stark gesunken sei, dass die Schule neun Monate vor Neumanns Ankunft in Riga geschlossen worden sei. Mit der Übernahme der Lehranstalt durch Neumann sei aber die Schülerzahl nicht nur von 14 auf 40 gestiegen, sondern wachse noch ständig an. Daraus erkläre sich von selbst, warum die Schulkosten von 900 auf 1 100 Silberrubel jährlich gestiegen seien, zumal außer dem deutschen Rabbiner dort noch drei weitere Lehrer Unterricht erteilten. Vergleicht man aber die von Adolf Ehrlich angeführten Schülerzahlen, die auf Protokollen und Berichten der Schule selbst beruhen, mit den Angaben des Generalgouverneurs so erkennt man, dass der Spitzenbeamte ein zu positives Bild gezeichnet hatte, wobei unklar bleibt, ob aus Unwissenheit oder mit Absicht, um Neumann in Schutz zu nehmen. Nur Ende 1849 wurde mit 43 Schülern die Marke von 40 überschritten und damit für die nächsten 14 Jahre der Höchststand erreicht. Im April 1852, als die Rigaer Gemeindemitglieder das anonyme Gesuch beim Innenminister einreichten, besuchten gerade einmal 35 Knaben die Schule.301 In diesem Punkt hatten also die Petitionäre zweifellos Recht. Um die Angriffe auf Neumann als völlig haltlos zurückzuweisen, hob der Generalgouverneur außerdem hervor, dass der Kurator des Lehrbezirks bei mehreren Überprüfungen der Schule Neumanns Wirken sehr gelobt und schon häufiger seinen Rat bezüglich des jüdischen Schulwesens in Kurland eingeholt habe. Offenbar in der Absicht, Neumanns Loyalität nach300 Vgl. Schreiben des Innenministers an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 10. 5. 1852. RGIA, 821, 8, 395, 6 – 6ob. 301 Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 34.

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zuweisen, machte der Generalgouverneur schließlich noch darauf aufmerksam, dass in der von dem deutschen Rabbiner geleiteten Lehranstalt vorzugsweise die für den Unterricht der russischen Sprache aufgestellten Richtlinien beachtet würden, wofür der Gouvernementsschuldirektor ihm seine Dankbarkeit ausgedrückt habe. Für den Generalgouverneur waren daher die Vorwürfe gegen die Schule und Neumann ungerechtfertigt und offenbar anderweitig motiviert. Seiner Meinung nach war die Eingabe zweifellos von den „polnischen“ Juden verfasst, die allgemein gegen die Lehranstalten wirkten und ihre Kinder nach Möglichkeit von einer modernen Schulausbildung abzubringen suchten, da sie befürchteten, dass diese auf Grund der angeeigneten Bildung die von ihren Vätern gepflegten Vorurteile ablegten.302 Der Hinweis auf die als fanatisch dargestellten „polnischen“ Juden, die gegen jede Bildung und Aufklärung eingestellt seien, genügte, um die interne Untersuchung gegen Neumann zu beenden. Nachdem auf das anonyme Gesuch keine Reaktion erfolgt war, wiederholten die Gegner des deutschen Rabbiners im Juli 1852 ihre Bitte beim Innenminister, wobei sie erneut geltend machten, dass Neumann „in unsre Kinder den Trieb, Rußland zu verlassen und nach dem Auslande zu übergehen erregt“.303 Die Hartnäckigkeit, mit der diese Gemeindemitglieder Neumann bei der Obrigkeit zu diskreditieren versuchten, hing aber nicht nur mit der von ihm geleiteten Gemeindeschule zusammen, die ihre Söhne ohnehin nicht besuchten, sondern war vor allem dem Umstand geschuldet, dass sich Neumann auch um das vakante Rabbinat bewarb. Der Hauptlehrer Neumann war vielleicht noch zu umgehen, der Rabbiner Neumann aber nicht mehr. Im Übrigen zeigte der Versuch, die Schule in Misskredit zu bringen, indem die „Ausländer“ Lilienthal und Neumann der Agitation gegen das Russländische Reich bezichtigt wurden, sehr anschaulich, was zu erwarten gewesen wäre, wenn tatsächlich 200 insbesondere deutsche Juden als Lehrer an den jüdischen Kronschulen angestellt worden wären. Auch wenn die grundsätzliche Fadenscheinigkeit der gegen Neumann erhobenen Vorwürfe unverkennbar war, so hatten die Petitionäre, wie bereits erwähnt, doch in einem Punkt Recht. Die Schülerzahl der Rigaer Lehranstalt nahm ab, eine Tendenz, die sich auch in den folgenden Jahren fortsetzte und die somit, ebenso wie bei den jüdischen Kronschulen, auf eine mangelnde Akzeptanz in der jüdischen Bevölkerung deutete. Im Oktober 1855 beschwerte sich der Gouvernementsschuldirektor beim Kahalsamt darüber, dass die Gemeindeschule, wie er bei seinem letzten Besuch habe feststellen müssen, von einer „verhältnismäßig geringen Anzahl Schüler besucht werde“.304 302 Vgl. Schreiben des Generalgouverneurs der Ostseeprovinzen an den Innenminister, 27. 6. 1852. RGIA, 821, 8, 395, 9 – 10. 303 Vgl. das anonyme Schreiben Rigaer Juden an den russischen Innenminister, 11. 6. 1852, RGIA, 821, 8, 395, 37. 304 Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 19 – 20.

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164 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Handelte es sich zu diesem Zeitpunkt noch um 29 Schüler, so sollte im folgenden Jahr mit gerade einmal 21 Zöglingen der absolute Tiefpunkt erreicht werden. 1858 besuchten 25 Knaben die Gemeindeschule,305 nämlich 13 Schulpflichtige (im Alter von sechs bis 13 Jahren) aus der Rigaer Gemeinde und zwölf, die nicht zur Gemeinde gehörten. Aus der Tatsache, dass es insgesamt 51 „schulpflichtige“ Knaben in der Rigaer Jüdischen Gemeinde gab, aber nur 13 von ihnen, also gerade einmal etwas mehr als 25 %, Neumanns Lehranstalt besuchten,306 lässt sich schließen, dass auch dieses Vorzeigeobjekt, das immerhin auf Initiative des Gemeindevorstands gegründet worden war und gemäß den Statuten von einem gebildeten ausländischen Juden geleitet wurde, überwiegend auf Ablehnung stieß. Daran änderte sich weder etwas durch die mehrfachen Versuche der Obrigkeit, die Eltern zu zwingen, ihre Söhne in die Gemeindeschule zu schicken, noch durch die Vorschrift, dass die Domschule in Riga, die Kreisschulen und die Privatschulen nur dann jüdische Schüler aufnehmen durften, wenn diese ein Zeugnis der Gemeindeschule vorweisen konnten.307 1860 wurde die Obrigkeit erneut auf die geringe Schülerzahl der Lehranstalt aufmerksam. Ein gewisser Baron von Mengden, der ebenso wie Neumann als Beamter für besondere Aufgaben beim Generalgouverneur angestellt war, musste trotz der unzweifelhaften Qualität der Schule feststellen, dass von 69 schulpflichtigen Knaben der jüdischen Gemeinde nur 19308 (ungefähr 27 %) die Gemeindeschule besuchten und das nicht einmal regelmäßig. Nach von Mengdens Meinung lag dies teils am Absonderungswillen der Juden, die ihre Kinder lieber in die „Winkelschulen“ (Chadarim) schickten, teils überhaupt am „Eigensinn“ der Juden, „dem durch Maaßregeln der Strenge schwerlich abzuhelfen sein wird“, hauptsächlich aber an der „dürftigen Lage“, in der sich die Schule befinde, deren weiterer Fortbestand sogar stark gefährdet sei. In Anlehnung an ein Memoire Neumanns setzte sich daher von Mengden, vom grundsätzlich positiven Einfluss der Anstalt überzeugt, dafür ein, dass der Schule zusätzliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt würden und sie in eine Kreisschule umgewandelt werde.309 Doch dies war nicht der einzige Vorschlag des Barons, die Akzeptanz der Gemeindeschule zu erhöhen. Obwohl er darauf hingewiesen hatte, dass auch Zwangsmaßnahmen kaum weiterführen würden, sprach er sich dennoch für solche Maßnahmen aus: Sollte die jüdische Jugend der Schule trotz Verordnung fernbleiben, müssten „obrigkeitlich strenge Maaßregeln“ ergriffen, die ungesetzlichen „Winkelschu305 306 307 308

Vgl. LVVA, 7358, 1, 56, 7; Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 35. Zu den Zahlen vgl. LVVA, 7358, 1, 56, 72 – 72ob. Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 33. Da zum Jahreswechsel 1859/1860 laut Ehrlich insgesamt 28 Knaben die Gemeindeschule besuchten, stammten also offenbar neun aus anderen Gemeinden. Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 35. 309 Diese Umwandlung hätte den Vorteil gehabt, dass die Schule dann auch aus der Licht-Korobka Geldmittel erhalten hätte können.

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len“ geschlossen und die „Individuen“, die dort illegalen Unterricht erteilten, streng bestraft werden. Dieser Vorschlag war offensichtlich nach dem Geschmack des Generalgouverneurs, kommentierte er ihn doch mit der Randbemerkung „Ja“.310 Es ist nicht bekannt, ob diese Zwangsmaßnahmen tatsächlich eingeführt wurden, doch deutet einiges darauf hin, denn just im folgenden Jahr stieg die Schülerzahl um etwa 50 %.311 Die notorische Krise der Gemeindeschule war aber damit keineswegs überwunden. Wolf Kaplan (1826 – 1887), der 35 Jahre lang an der Gemeindeschule in Riga wirkte und immer wieder provisorisch das Amt des Hauptlehrers ausübte, sollte 1870 einräumen, dass mit Ausnahme der ersten beiden Jahre nach der Gründung der Schule, als diese noch den Reiz des Neuen gehabt habe, „Sympathien“ für die Lehranstalt stets nur bei dem „beiweitem geringern Theil der Gemeinde“312 bestanden hätten. In den 20 Jahren, in denen Neumann in Riga wirkte und somit auch die Schule leitete, scheint, wie sich der folgenden Äußerung Kaplans mittelbar entnehmen lässt, die Gemeindeschule keinen wesentlichen Beitrag zur weiteren Verbreitung von Aufklärung und Bildung geleistet zu haben: „Wie bereits angedeutet, wurde die Schule in den Jahren 1843 bis gegen 1863 zum größten Theil nur von Kindern solcher Eltern besucht, die, zur hiesigen Gemeinde gehörend, schon damals für den zeitgemäßen Fortschritt ein besseres Verständniß hatten. Solche Kinder erfreuten sich gemeiniglich schon zu Hause einer besseren mitunter einer vorzüglichen Erziehung, und die deutsche Sprache war ihnen angeboren. Die Schule hatte nur die fruchtbare Saat zu streuen und das Haus übernahm die Pflege derselben.“313

Insofern konnte also die Schule zu Neumanns Zeiten nur für eine zeitgemäße Ausbildung der Söhne aus bereits aufgeklärtem, gebildetem und an der deutschen Kultur orientiertem, gleichwohl aber dem Judentum nicht völlig entfremdetem Elternhaus sorgen. Keinen nennenswerten Einfluss schien sie hingegen auf traditionsorientiertere Juden auszuüben, die für ihre Kinder auch weiterhin die Erziehung im Cheder bevorzugten. Trotzdem mussten die traditionsverbundenen Juden die Kosten für die Schule indirekt mittragen, da diese aus Einnahmen der Gemeinde finanziert wurde, ein Umstand, der, wie schon aus dem anonymen Gesuch von 1852 hervorging, verständlicherweise auf Ablehnung stieß.314 Dies bestätigte mittelbar auch Kaplan, der 1870 er310 Vgl. Brief Baron von Mengdens an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 31. 3. 1860. LVVA, 1, 7, 1789, 1 – 2ob. 311 Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 35. 312 Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 27ob. 313 Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 29. 314 Hierfür spricht auch folgender Umstand: Der Unterhalt der Schule in Riga erfolgte insbesondere durch eine für diesen Zweck verordnete „Korobka“ (Steuer) von 50 Kopeken für jeden geschlachteten Ochsen. Während 1840, im Jahre der Eröffnung der Rigaer jüdischen Gemeindeschule, 2 180 Ochsen in der Gemeinde konsumiert wurden, fiel diese Zahl im folgenden

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166 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert klärte, dass in letzter Zeit das Interesse an der Schule stark zurückgegangen sei315 und man inzwischen sogar den Gedanken ihrer „Nutzlosigkeit“ habe aufkommen lassen, sie also abschaffen wolle, um die Gemeindeausgaben verringern zu können.316 Welche Gründe hatte aber die weitreichende Ablehnung der Gemeindeschule tatsächlich? Kaplan, der mit der Geschichte der Lehranstalt eng vertraut war, ging von einer Art Zangenkonkurrenz aus. Er meinte, auf der einen Seite existierten in Riga auch allgemeine Lehranstalten, die von Juden besucht würden, was dem seinerzeit geäußerten Wunsch des Jüdischen Komitees entspreche, die jüdische Jugend bevorzugt auf nichtjüdische Schulen zu schicken. Auf der anderen Seite konkurriere Neumanns Schule mit den „im Volke noch immer im besten Credite stehenden Chedarim“,317 obwohl die Obrigkeit schon 1848 die Errichtung von jüdischen Privatschulen, also Chadarim, untersagt habe.318 „Aber auch der Cheder konnte ihr“, so Kaplan weiter, „nur in den Augen des partheiischen oder gar unkundigen Beurtheilens einigen Vorrang abgewinnen. Diese einseitige, auf völlige Unkenntniß der Sache beruhende Beurtheilung der Schule, gepaart mit dem ererbten blinden Vertrauen zu dem Cheder einerseits und dem wirklich durchaus nicht zu verargenden Wunsche mancher Eltern ihren Kindern ein Maximum des speciell-jüdischen Wissens zu verschaffen andererseits, ist es, was, der jüdischen modernen Schule hier, wie überall im ganzen Kreise das ungetheilte, allgemeine Vertrauen der Väter unzugänglich gemacht und noch lange machen wird.“319 Demnach hatte die mangelnde Akzeptanz der Schule kaum etwas mit der Person Neumanns zu tun, sondern hing insbesondere mit der Struktur der Lehranstalt, in der nach Ansicht der traditionsorientierten Juden das jüdisch-religiöse Element im Vergleich zum Cheder unterrepräsentiert war, aber auch mit Traditionsverbundenheit zusammen. Zunächst schickten

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Jahr um mehr als ein Drittel auf nur noch 1 421,5 Ochsen. Innerhalb von acht Jahren sollte sich schließlich der Konsum von Ochsenfleisch in der jüdischen Gemeinde nahezu halbieren. Zu den Zahlen vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 16. Dies ist ein klarer Hinweis, dass ein nicht geringer Teil der Rigaer Juden versuchte, die Finanzierung der Gemeindeschule zu umgehen. Freilich können wir nicht feststellen, inwiefern dies aus ideologischen oder eher aus finanziellen Gründen geschah. Der erste Grund wird aber mit Sicherheit eine Rolle gespielt haben. Wie diejenigen Juden, die auf den Konsum von Ochsenfleisch aus der Rigaer Gemeinde verzichteten, ihren Bedarf deckten, lässt sich nicht sagen. Möglicherweise griffen sie illegal auf Fleisch von außerhalb der Gemeinde zurück. Kurz bevor Neumann Riga verließ, stieg die Zahl der Schüler wieder an und erreichte 1869 mit 72 Zöglingen einen vorläufigen Höhepunkt. 1870, also in dem Jahr, in dem Kaplan seine Äußerung machte, war die Zahl wieder um mehr als zwanzig Prozent auf 56 gesunken. Zu den Zahlen vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 35. Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 27 – 27ob. Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 28. Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 17. Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 28 – 28ob.

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also nur solche Eltern ihre Söhne in die Gemeindeschule, die bereits aufgeklärt waren und für ihre Kinder „echte“ säkulare deutsche Bildung, aber auch – und dies ist zu betonen – jüdisch-religiösen Unterricht wünschten. Die Chadarim schieden schon allein deshalb aus, weil es an Ersterer fehlte, und die allgemeinen Schulen, weil Letzterer nicht vorhanden war.320 Der Kreis der potentiellen Schüler war infolgedessen stark eingeschränkt. Etwas widersprüchlich war allerdings die Äußerung Kaplans, dass seit Neumanns Weggang aus Riga „[d]as Bedürfniß der Schule und das Verständniß für dieselbe […] auch in die Häuser gedrungen [ist], wo das profane Wissen noch keine bleibende Stätte gefunden hat“. Inzwischen seien viele Eltern, deren Söhne die Lehranstalt besuchten, erst kürzlich der Gemeinde zugeschrieben worden oder gehörten noch immer einer anderen Gemeinde an. Die Schüler aus solchen (traditionsorientierten) Elternhäusern „bringen in die Schule entweder gar keine Vorkenntnisse, oder höchstens nur solche, die ihnen der corrumpirende Cheder gegeben“. Anders als zu Neumanns Zeiten musste die Schule nach Kaplans Meinung nun vor allem erst einmal die Grundlagen dafür schaffen, dass diese Schüler überhaupt zur Aufnahme von Bildung fähig waren, wobei man auf keinerlei Unterstützung durch die Eltern bauen könne, ganz im Gegenteil, denn diese erschwerten die Bemühungen der Lehranstalt eher noch. Hinzu komme, dass die meisten Eltern auf den jüdischreligiösen Unterricht weitaus mehr Wert legten, als es in früheren Zeiten der Fall gewesen sei.321 Der allgemeinen Krise der Lehranstalt wegen der geringen Schülerzahl und ihrer veränderten Klientel wollte Kaplan nicht nur durch eine Reform der Schule selbst begegnen, sondern vor allem auch durch Maßnahmen, die knapp 30 Jahre zuvor bereits Lilienthal vorgeschlagen, später aber verworfen hatte: Es sollte ein Schulkollegium ins Leben gerufen werden, das „zur Entfaltung und Hebung“ der Schule unter anderem dafür zu sorgen habe, „daß das Chederwesen am hiesigen Orte soweit als möglich unterdrückt werde“.322 „Ueber die Mittel zur möglichen und unerläßlichen Unterdrückung des Me320 Freilich galt dies nur für die ersten Schuljahre. Später mussten die Schüler, sofern eine weiterführende Schulbildung gewünscht wurde, auf eine der örtlichen nichtjüdischen Schulen wechseln oder ins Ausland gehen. Wie wir wissen, traten einige der Schüler nach Absolvierung der Gemeindeschule auf das Gymnasium über, wo sie in der Regel in die dritte Klasse aufgenommen wurden. Vgl. LVVA, 1, 7, 1789, 8; AZJ 3, 16. 1. 1854, 33; Otcˇet Postel’sa, 69. Grundsätzlich entsprach der allgemeine Lehrplan der jüdischen Gemeindeschule den ersten beiden Klassen des örtlichen Gymnasiums, allerdings wurden Griechisch und Lateinisch nicht unterrichtet. Um den Begabteren den Übertritt zu ermöglichen, soll daher Neumann privat seinen Schülern kostenlosen Unterricht in diesen beiden Sprachen erteilt haben. Vgl. AZJ 3, 16. 1. 1854, 33. Später unterrichtete Neumann offenbar von Fall zu Fall in der oberen Klasse der Gemeindeschule Latein. Vgl. Bericht Neumanns, ohne Datum (ca. Frühjahr 1860), LVVA 1, 7, 1789, 6ob. 321 Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 29 – 29ob. 322 Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 31.

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168 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert lamed-Wesens“323 wollte sich Kaplan zu einem späteren Zeitpunkt äußern, wozu aber in den Kahalsakten nichts zu finden ist. Auch der aus dem Gouvernement Kovno stammende Litwak Kaplan favorisierte also erhebliche Zwangsmaßnahmen, um die Akzeptanz „seiner“ Lehranstalt zu verbessern. Zugleich war er aber auch bereit, dem Bedürfnis traditionsorientierter Juden nach einer stärkeren Gewichtung des religiösen Elements entgegenzukommen. Einen Monat nach seinen Ausführungen und Überlegungen zur Rigaer Gemeindeschule legte Kaplan einen detaillierten Vorschlag für einen neuen Lehrplan vor, der für das zweite Jahr der ersten Klasse die Wahlmöglichkeit vorsah, entweder eine Abteilung mit verstärktem profanem oder eine mit verstärktem jüdischem Unterricht zu besuchen.324 Damit schien Kaplan einen Kompromiss zwischen den Interessen der säkulareren und denen der traditionsorientierteren Juden gefunden zu haben, der der Lehranstalt einen deutlich größeren Kreis an potentiellen Schülern eröffnet hätte. Die Reform wurde aber zunächst nicht realisiert, was möglicherweise mit mangelnden finanziellen Mitteln zusammenhing. Erst dem neuen Hauptlehrer Dr. Adolf Ehrlich (1837 – 1913), der aus Mitau stammte, aber seine Universitätsausbildung in Deutschland erhalten und dort lang gelebt hatte, sollte eine grundlegende Reform der Schule gelingen, wobei unter anderem nicht nur der Lehrplan um Latein, Französisch und Gesang erweitert, sondern auch eine eigene Mädchenabteilung eingeführt wurde.325 Zwölf Jahre später erreichte der Besuch der Rigaer Schule mit 538 Schülerinnen und Schülern seinen Höchststand.326 Freilich war auch die jüdische Bevölkerung in Riga seit den Zeiten Lilienthals und Neumanns stark angewachsen, doch bleibt anzuerkennen, dass Ehrlich und Kaplan es vermocht hatten, der Schule wesentlich mehr Zuspruch zu sichern, was Neumann in seiner 20–jährigen Tätigkeit als Hauptlehrer nicht gelungen war.

„An einen eigentlichen systematisch geordneten Religions-Unterricht ist daselbst nicht zu denken“: Zu Neumanns Beurteilung des Religionsunterrichts an den staatlichen jüdischen Schulen und den Chadarim Bei seiner ersten Inspektionsreise durch die jüdischen Gemeinden Kurlands sollte Neumann im Auftrag des Generalgouverneurs nicht nur die Ursachen für die mangelnde Akzeptanz der jüdischen Kronschulen ermitteln und für ihren Besuch werben, sondern auch die Qualität des Religionsunterrichts in diesen Schulen sowie in den von der Obrigkeit zugelassenen Chadarim begutachten. Dabei stellt sich allerdings sogleich die Frage, ob insoweit über323 324 325 326

Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 31ob. Vgl. Kaplans Lehrplanvorschlag, 22. 5. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 35ob. Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 25 – 27. Zu den Zahlen vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 35 – 36.

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haupt eine Vergleichbarkeit vorlag. Während die religiöse Unterweisung in den Kronschulen generell auf dem im deutschen Judentum der Emanzipationszeit eingeführten neuen Fach Religionsunterricht beruhte oder beruhen sollte, wird sie in den Chadarim – sofern geduldet – weitgehend nach traditionellen Gesichtspunkten erfolgt sein. Wie aus seinem Bericht an den Generalgouverneur hervorgeht, war der deutsche Rabbiner äußerst unzufrieden mit dem Religionsunterricht in den jüdischen Lehranstalten. So fand dieser Unterricht in der Libauer Kronschule nicht seine Billigung, weil er „zu mechanisch ertheilt“327 werde, und in Bezug auf die Mitauer Kronschule erklärte er, er finde den dortigen „katechetischen Unterricht in der Religion, dem mehr lebendige Entwicklung des Begriffs zum eigenen selbstthätigen Auffinden des erlangten Gedankens zu wünschen wäre“, ebenfalls „minder befriedigend“.328 Tatsächlich wurde also, wie vom Jüdischen Komitee entgegen den Empfehlungen der Rabbinerkommission beschlossen, der Religionsunterricht in den staatlichen jüdischen Schulen des Zarenreichs nach dem deutsch-jüdischen Vorbild unter Hinzuziehung eines Katechismus oder zumindest nach katechetischer Art erteilt, was selbst von einem aufgeklärten deutschen Rabbiner wie Neumann als geistig anspruchslos kritisiert wurde. In Tuckum schließlich führte Neumann fehlende Fortschritte der Schüler in der Religion darauf zurück, dass es „dem Lehrer an einem Leitfaden gebricht“.329 Dass es kein entsprechendes Lehrbuch für den Religionsunterricht gab, was die erwünschte systematische Unterrichtung dieses Faches verhinderte, veranlasste Neumann, dem Generalgouverneur zu empfehlen, in den kurländischen Kronschulen das von der Israelitischen Oberkirchenbehörde Württembergs herausgegebene Lehrbuch der israelitischen Religion zum Gebrauche der Synagogen und israelitischen Schulen im Königreiche Württemberg des deutschen Rabbiners Joseph Maier einzuführen.330 Hatte Lilienthal ungefähr zehn Jahre zuvor noch die Verwendung der Werke Maiers abgelehnt, da die russländischen Juden des Deutschen nicht mächtig seien und ohnehin wünschten, dass alle religiösen Gegenstände allein auf Hebräisch und nach hebräischen Leitfäden unterrichtet würden, so trat nun Neumanns Wunsch nach einem doch sehr weitgehenden Kulturtransfer klar zu Tage. Der sowieso 327 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 90. 328 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 89. 329 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 91. 330 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 94. Die vollständigen Angaben des Lehrbuchs lauten: [Joseph Maier,] Lehrbuch der israelitischen Religion zum Gebrauche der Synagogen und israelitischen Schulen im Königreiche Württemberg. Auf Veranstaltung der Königlich israelitischen Oberkirchenbehörde, Stuttgart 1837.

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170 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert schon aus dem deutschen Judentum übernommene Religionsunterricht sollte auch nach einem dort gebräuchlichen Lehrbuch erteilt werden und somit eine Art „Kopie des Originals“ darstellen. Insofern zielte die Empfehlung Neumanns in gewisser Weise auf eine kulturelle Hegemonialisierung der kurländischen Juden ab. Gleichzeitig schilderte er in seinem Bericht an den Generalgouverneur, wie der Religionsunterricht seiner Meinung nach in den beiden Klassen gestaltet werden sollte. Auch hier zeigte sich wieder der deutschjüdische Hintergrund Neumanns in aller Deutlichkeit. In der unteren Klasse sollte „nur das Allgemeine von Gott und seinen Eigenschaften zugleich aber auch Einiges aus der Pflichtenlehre“ unterrichtet werden, in der oberen Klasse sollte der Religionsunterricht hingegen „vom Allgemeinen zum Besondern und eigentlich Confessionellen“ übergehen.331 Ausdrücklich als wichtig bezeichnete Neumann den Unterricht in der biblischen Geschichte, da dieser „ganz besonders das Gemüth erregt und frommen Sinn erweckt“. Und bei der Übersetzung der Bibel sei der Schüler zu sehr mit dem Übersetzen selbst beschäftigt, wodurch ihm, „ohne Erlernung des eigentlich Geschichtlichen, das Ganze in seinem Zusammenhange“ verschlossen bleibe. Damit zumindest eine Stunde in der Woche für diesen Unterricht zur Verfügung stand, schlug Neumann vor, an Stelle der bisherigen zwei nur noch eine Wochenstunde für „Ritualien“ anzuordnen, die „ja ohnehin schon ex usu erlernt werden“.332 Damit hatte er zutreffend darauf hingewiesen, dass dieser Unterricht für jüdische Schüler in Kurland wegen ihres traditionsorientierten Hintergrunds weitgehend überflüssig war. Nachdem Neumann dem Generalgouverneur die Einführung des Religionslehrbuchs von Joseph Maier an den kurländisch-jüdischen Kronschulen empfohlen und ein Exemplar dieses Werkes dem Kurator des Dorpater Lehrbezirks zur Begutachtung übersandt hatte, wurde ihm Ende Februar 1853 mitgeteilt, dass der Bildungsminister die Verwendung dieses Lehrbuchs in den jüdischen Kron- und Privatschulen (gemeint waren die lizenzierten Chadarim) gestattet habe, und zwar an Stelle des Buches Chaie Adam333 oder der kurz zuvor erschienenen Kurzen Auseinandersetzung der Gebräuche des israelitischen Cultus des Mitauer Juden Ruben Joseph Wunderbar (1812 – 1868) oder der Kurzgefaßten Religions- und Sittenlehre der Israeliten desselben Verfas331 Die Betonung des universellen Charakters der jüdischen Religion kam im Zeitalter Mendelssohns auf und wurde schließlich vor allem ein Anliegen der zweiten Generation der deutschen Maskilim, insbesondere auch bei der Unterrichtung des neuen Schulfachs Religion. Erst nachdem den jüdischen Schülern das „Allgemeine von Gott“ nähergebracht worden war, sollte diesen nach dem Willen der jüdischen Aufklärer das Besondere der jüdischen Religion vermittelt werden. Vgl. hierzu auch Petuchowski, Manuals, 53. 332 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 94. 333 Das von Abraham Danzig verfasste Werk Chaje Adam, Wilna/Grodno 1834, Wilna 1839 und 1841, Königsberg 1846, Frankfurt a.M. 1860 sowie weitere Ausgaben beinhaltet die Zusammenfassung des ersten Teils des Schulchan aruch von Josef Karo, der im Laufe der Zeit zu dem maßgebenden Ritual- und Rechtskodex des gesetzestreuen Judentums geworden war.

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sers.334 Allerdings stellte das Bildungsministerium den Lehrern selbst anheim, welchen dieser Leitfäden sie in ihrem Unterricht verwenden wollten. Sollte aber Joseph Maiers Lehrbuch herangezogen werden, so mussten gemäß ausdrücklicher Anordnung des Ministeriums alle Stellen des Buches geschwärzt werden, die die Worte „Verfassung“ und „bürgerliche Rechte“ enthielten.335 Der Transfer deutsch-jüdischer Kulturelemente in das russländische Judentum sollte also nach dem Willen der Regierung dort ein Ende haben, wo die Gefahr bestand, dass neben der erwünschten Erziehung zu Sittlichkeit und Moral auch liberale oder sogar revolutionäre Ideen Eingang finden würden. Neumanns Wunsch nach einem Kulturtransfer, der Tendenzen einer kulturellen Hegemonialisierung aufwies, zeigte sich nicht nur bei seiner Empfehlung, das Lehrbuch von Joseph Maier in den Religionsunterricht der kurländisch-jüdischen Kronschulen einzuführen, sondern auch in seiner Haltung zu den Chadarim. Im Interesse einer Anhebung der niedrigen Schülerzahlen der Kronschulen schlug Neumann dem Generalgouverneur vor, den Chederlehrern oder Melamdim vorzuschreiben, sich beim Bibelunterricht „streng“ an eine „richtige Uebersetzung“ zu halten, womit natürlich eine deutsche Übersetzung gemeint war. Entweder würde, so Neumanns Gedanke, auf Grund dieser Maßnahme die gleiche Zurückhaltung beim Schulbesuch auch gegenüber den Chadarim eintreten „oder aber um so mehr ganz und gar schwinden“. Neumann war sich zwar durchaus bewusst, dass einige der Chederlehrer des Deutschen nicht mächtig waren, dem konnte seiner Meinung nach jedoch leicht abgeholfen werden. Sie müssten sich eben eine hebräischdeutsche Übersetzung der Bibel besorgen, von denen es genug gebe.336 Zugleich sollte es den Melamdim zur Pflicht gemacht werden, im Bibelunterricht eine Übersetzung zu verwenden. Bis zum Erscheinen der vom Bildungsministerium genehmigten Übersetzung könnte man, so meinte er, beispielsweise auf die Übertragungen der deutschen Juden Isaak Marcus Jost337 und Gotthold Salomon338 (1784 – 1862) sowie für den Pentateuch auf die des russländischen 334 Das erste hier angeführte Werk Wunderbars ist: Kizur mischulchan Aruch Orach Chajim, oder kurze Auseinandersetzung der Gebräuche des israelitischen Cultus. Nach Schulchan Aruch. Als Leitfaden für hebräische Krons- und Privatschulen, Riga und Leipzig 1852 (Mit Approbation des Ministeriums für Volksaufklärung). Das zweitgenannte Lehrbuch Wunderbars: Kurzgefaßte Religions- und Sittenlehre der Israeliten, zunächst als Leitfaden für hebräische Krons- und Privatschulen war 1853 bereits zum Druck vorbereitet und hatte auch schon die Approbation des Bildungsministeriums erhalten, ist offenbar jedoch nicht erschienen. 335 Schreiben des Kurators des Dorpater Lehrbezirks an Abraham Neumann, 27. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 95. 336 Vgl. Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 92. 337 Gemeint ist hier wohl Isaak Marcus Jost, Neue Jugendbibel, enthaltend die Religiösen und Geschichtlichen Urkunden der Hebräer, mit Sorgfältiger Auswahl für die Jugend Uebersetzt und Erläutert: Erster Theil, die Fünf Bücher Mosis, Berlin 1823. 338 Gemeint ist hier wohl die von Gotthold Salomon herausgegebene Übersetzung: Deutsche Volks- und Schulbibel für Israeliten, Altona 1838.

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172 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Juden Leon Mandel’sˇtam zurückgreifen. Darüber hinaus sei die Anschaffung des in Berlin erschienenen Vocabulariums zum Pentateuch von Joel Nathan339 sehr empfehlenswert.340 Demnach sollte nach dem Wunsch Neumanns auch in den kurländischen Chadarim der Versuch unternommen werden, den dortigen Unterricht dem deutsch-jüdischen Religionsunterricht anzunähern. Ziel war es, einen systematischen und geordneten oder zumindest einen systematischeren und geordneteren Unterricht in den Chadarim einzuführen. Dies konnte nach Neumanns Ansicht insbesondere durch die weitgehende Verwendung von eigens für den Schulgebrauch verfassten deutsch-jüdischen Unterrichtswerken erreicht werden, wozu sogar eine Art Wörterbuch mit Grammatikteil gehörte. Die Errungenschaften eines von moderner Pädagogik geprägten Religionsunterrichts sollten auch in die traditionellen Chadarim Eingang finden. Daher war es nur folgerichtig, dass Neumann in seinem Bericht an den Generalgouverneur die Empfehlung aussprach, in Zukunft Gesang und Schaukeln während des Unterrichts im Cheder zu verbieten.341 Dabei hatte er sicherlich nicht nur die unmittelbare Auswirkung dieses Verbots – mehr Ordnung im Unterricht – im Auge, sondern er hegte auch die Hoffnung, dass dies mittelbar ebenfalls zu einem ästhetisch ansprechenderen Gottesdienst führen werde. Knapp drei Jahre später – im November 1855 – wurde Neumann vom Generalgouverneur abermals beauftragt, die Beschaffenheit der kurländischjüdischen Kronschulen an Ort und Stelle zu prüfen und diese dabei speziell „einer Revision in Bezug auf den Religions-Unterricht“ zu unterziehen. Der in den Kronschulen erteilte Religionsunterricht konnte jedoch immer noch nicht Neumanns modernem deutsch-jüdischem Verständnis von diesem Schulfach genügen. So stellte er in seinem Bericht an den Generalgouverneur über die Lehranstalt in Grive lapidar fest: „An einen eigentlichen systematisch geordneten Religions-Unterricht ist daselbst nicht zu denken.“342 Für die religiöse Unterweisung in der Libauer Schule fand Neumann zwar sehr lobende Worte, da dort, wie er meinte, die Schüler die Übersetzung der Gebete und der Bibel grammatikalisch korrekt, in reiner Aussprache und in sinnentsprechender Weise vortrugen und auch im Hebräischen die Erwartungen erfüllten, aber gleichwohl musste er konstatieren, dass „nun auch hier Kein eigentlicher Religions-Unterricht ertheilt“343 werde. Sein Urteil begründete Neumann 339 Joel Nathan, Vocabularium zum Pentateuch: nebst Biegungs-Tabellen der hebräischen Substantiva und Verba, Berlin 1851 (erlebte mindestens acht Auflagen). 340 Vgl. Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 93. 341 Vgl. Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 93. 342 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 97. 343 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 101.

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damit, dass der von ihm als sehr kompetent angesehene Lehrer Gordon bei der religiösen Unterweisung der Schüler nur den vom Bildungsministerium herausgegebenen Tarjag,344 eine Zusammenstellung aller mosaischen Vorschriften, sowie seine eigenen Erläuterungen verwendete, aber kein „Religionsbuch“.345 Zu einem systematischen und geordneten Religionsunterricht, wie er nach seiner Auffassung im deutschen Judentum erteilt wurde, gehörte für ihn eben auch ein modernes, an pädagogischen Gesichtspunkten orientiertes Lehrbuch. Wie wichtig ihm gerade dieser Punkt war, machte er am Ende seines Berichts nochmals deutlich. Er stellte fest, dass das von ihm nach seiner letzten Inspektionsreise eingesandte Religionslehrbuch von Joseph Maier, das im Auftrag der Israelitischen Oberkirchenbehörde Württembergs erschienen war, vom Bildungsministerium zum Gebrauch in den jüdischen Kronschulen und Chadarim genehmigt worden sei. Es sei zwar auch gestattet, das Buch Chaie Adam oder das Werk Kurze Auseinandersetzung der Gebräuche des israelitischen Cultus von Wunderbar zu verwenden, keineswegs aber „ausschließlich, da ja diese beiden genannten Bücher nur von dem Ceremoniellen handeln“.346 Damit hatte Neumann die drei Jahre zuvor erlassene Verfügung des Ministeriums, die auch ihm durch den Kurator des Dorpater Lehrbezirks schriftlich mitgeteilt worden war, in einem entscheidenden Punkt wohl bewusst anders wiedergegeben. Denn nach den Angaben des Ministeriums konnte Maiers Lehrbuch an Stelle der anderen Unterrichtswerke in den Schulen verwendet werden, wobei es letztlich den Lehrern selbst überlassen war, welches dieser Bücher sie für den Unterricht auswählten. Neumann versuchte nun, diese Entscheidung in dem von ihm gewünschten Sinne auszulegen. Zum einen war er sicherlich von der Qualität des deutsch-jüdischen Lehrbuchs überzeugt, zum anderen hätte in seinen Augen ein Religionsunterricht, bei dem nur das „Ceremonielle“ – wie in den beiden anderen Werken – gelehrt wurde, die Bezeichnung Religionsunterricht nicht verdient und wäre sogar kontraproduktiv gewesen. So erklärte er in seinem Bericht: „Wird aber blos das Ceremonielle gelehrt und geübt, so kann das nur zu dem Wahne der Verwechslung der Mittel mit dem Zwecke und zur Werkheiligkeit überhaupt führen.“347 Darüber hinaus war nach seiner Ansicht – die er auch schon drei Jahre zuvor dem Generalgouverneur mitgeteilt hatte – die biblische Geschichte ein „integrirender Theil“ des Religionsunterrichts, da die Schüler dadurch die „Lebensbilder der wahrhaft frommen, gottbegeisterten Männer“

344 Als Tarjag Mitsvot werden die in der Tora enthaltenen religiösen Pflichten bezeichnet, die sich aus 365 Verboten und 248 Geboten (zus. 613 Mitsvot) zusammensetzen. 345 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 101. 346 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 107. 347 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 107.

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174 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert kennenlernen und sich diese zum Vorbild nehmen könnten.348 Damit wurde erneut Neumanns deutsch-jüdisches Verständnis von einem wahren Religionsunterricht deutlich. Oberstes Ziel dieses Unterrichts sollte es sein, die Schüler zu Sittlichkeit und Moral zu erziehen und sie so zu guten und nützlichen Untertanen des Staates zu formen. Daher war es nur folgerichtig, dass Neumann nochmals das Lehrbuch von Joseph Maier für den Religionsunterricht an den jüdischen Schulen Kurlands empfahl und hinzufügte: „Zur wahren Erweckung frommer religiöser Gefühle aber und zur klaren ReligionsAnschauung überhaupt kann nur Glaubens- und Sittenlehre, systematisch geordnet und für den Gebrauch der Schule bearbeitet dienen.“349

Neumann und die jüdische Mädchenerziehung Wie bereits ausführlich dargestellt, hatte Lilienthal die Errichtung staatlicher jüdischer Schulen nicht nur für Knaben, sondern auch für Mädchen vorgeschlagen, galt doch vom aufgeklärten Standpunkt aus deren Bildung in jeder Hinsicht als völlig vernachlässigt.350 Nur in den drei Zentren der russländischen Haskala – Wilna, Berdicˇev und Odessa – gab es zu der Zeit moderne jüdische Mädchenschulen, die auf Privatinitiative entstanden waren. Wer ernsthaft an einer Verbreitung von Aufklärung und Bildung und damit letztlich an einer Akkumulation kulturellen Kapitals unter den Juden interessiert war, musste auch besonderen Wert auf die Erziehung der Mädchen legen. Denn gerade hier war ein erheblicher Multiplikatoreffekt zu erwarten, der freilich die Übernahme des westeuropäischen bürgerlichen Ideals voraussetzte, wonach die jüdische Mutter für die Erziehung der Kinder zu sorgen hatte:351 Eine jüdische Mutter, die eine moderne allgemeine wie auch religiöse Bildung erhalten hatte, würde ihren Kindern wahrscheinlich eine ebensolche Bildung zuteilwerden lassen, zunächst im eigenen Haus, dann aber auch auf 348 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 107. 349 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 107. 350 Es sei hier ausdrücklich der Standpunkt aufgeklärter jüdischer wie nichtjüdischer Kreise betont. Jüdische Frauen in Osteuropa verfügten durchaus über eine gewisse Art von Erziehung. Freilich war diese zumeist nicht formal in einer Schule oder von einem Lehrer erworben worden, sondern im Elternhaus. Darüber hinaus basierte diese vor allem auf dem Vermögen, Jiddisch lesen und schreiben zu können, sowie auf religiösen Gegenständen. Nicht nur für die Maskilim, sondern auch für traditionsorientierte jüdische Männer waren aber vor allem der formale Schulbesuch (in einer modernen Lehranstalt oder im Cheder) sowie Hebräischkenntnisse ausschlaggebend, um von einer, wie auch immer gearteten, Bildung zu sprechen, die je nach Standpunkt vor allem weltlich oder vor allem religiös sein sollte. Vgl. hierzu auch Stampfer, Gender, 80 – 81. 351 Nach jüdischem Recht war eigentlich allein der Vater für die Erziehung der Knaben verantwortlich. Vgl. Adler, Education, 124.

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einer den Anforderungen der Zeit entsprechenden Schule.352 Als Beispiel hierfür konnte das deutsche Judentum der Haskala und der Emanzipationszeit gelten, wobei sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts sogar die deutsche (Neo-) Orthodoxie einer „vollkommenen Neugestaltung der Mädchenerziehung“353 verschrieb – mit durchschlagendem Erfolg. Im Zarenreich hatte man hingegen den Vorschlag Lilienthals, staatliche jüdische Schulen für Mädchen zu gründen, verworfen. Sollte, so der unausgesprochene Gedanke der Regierung, ein jüdischer Vater seiner Tochter eine Schulbildung bieten wollen, könne er sie auf eine der allgemeinen nichtjüdischen Lehranstalten schicken, was dem eigentlichen Ziel der Regierung, der Verschmelzung der jüdischen Bevölkerung mit ihrer Umwelt, weitaus förderlicher sei. Inwieweit aber der Besuch nichtjüdischer Lehreinrichtungen durch jüdische Mädchen in der Praxis mit großen Schwierigkeiten verbunden war, konnte Neumann auf einer seiner Inspektionsreisen feststellen. In Libau musste er erfahren, dass den dortigen jüdischen Mädchen der Besuch der „Stadt-Töchterschule“ unter Hinweis auf eine entsprechende Regelung der Schulstatuten verwehrt wurde, obwohl die Stadt jährlich 10 000 Albertsthaler354 Unterstützung von der Krone erhielt und die jüdischen Kaufleute auch Abgaben leisteten.355 Im Namen der Libauer Gemeinde bat nun Neumann den Generalgouverneur, den jüdischen Mädchen entweder die Aufnahme in die „Stadt-Töchterschule“ zu erlauben oder aber einen Anteil der beiden genannten Einnahmen zur Verfügung zu stellen, um eine eigene Lehranstalt zu diesem Zweck gründen zu können. Der Generalgouverneur ließ diese Bitte – wie auch alle anderen des deutschen Rabbiners – begutachten, wobei ihm mitgeteilt wurde, dass die Unterstützungsgelder der Krone und die Steuerbeiträge der jüdischen Kaufleute in keinem Zusammenhang mit der eigentlichen Frage stünden und es sich im Übrigen dabei um ein grundsätzliches Problem handele: Der kurländische Gouvernementsschuldirektor Belago habe allgemein auf die großen Schwierigkeiten hingewiesen, „welche beim Unterricht ebräischer Mädchen in den jetzt bestehenden, aus Legaten oder den Schulgeldern existirenden Mädchenschulen sich ergeben, indem diese Schu352 Dieser Gedanke wurde beispielsweise 1879 im Russkij Evrej explizit ausgeführt, als der Verfasser eines Artikels kritisierte, dass die große Masse der jüdischen Mädchen bzw. Frauen im Zarenreich zwar die Gebete auswendig wüssten, jedoch nicht lesen und schreiben könnten. Dies hätte seiner Meinung nach sehr schädliche Folgen, da eine ungebildete jüdische Mutter an ihre Kinder weder Bildung noch eine rationale Erziehung weitergeben würde, was sich in letzter Konsequenz sehr negativ auf die Lage der Familie und der Gemeinde auswirken würde. Falls man ein Aufblühen des jüdischen Volkes wünsche, so müsste man vor allem auf die Erziehung des weiblichen Geschlechts einwirken. Vgl. Russkij Evrej 7, 17. 10. 1879, 217 – 220. 353 Vgl. Breuer, Orthodoxie, 116. 354 Der Albertustaler, eine Silbermünze, die seit 1598 in den habsburgischen Niederlanden geprägt wurde, war insbesondere in Osteuropa beliebt. Zuletzt wurde noch in Kur- und Livland nach Albertustalern gerechnet, wobei 9 3/5 Albertustaler 14 preußischen Talern entsprachen. 355 Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 102 – 103.

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176 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert len ihrer Organisation, ihrem Lehrplan, ihrer Stiftung nach fast nur von Mädchen christlicher Confession benutzt werden können“. Libau war also kein Einzelfall, sondern vielmehr die Regel und zeigte damit, wie realitätsfern die russische Regierung in der Frage der jüdischen Bildungsreform vorgegangen war. Belago schlug daher vor, aus den Resten der Lichtsteuer, die für die Unterhaltung der staatlichen jüdischen Kronschulen verwendet wurde, die Errichtung einer jüdischen Mädchenschule in Mitau (!) zu finanzieren.356 Offenbar lehnte aber der Generalgouverneur diesen Vorschlag ab. Mehr als vier Monate später – im April 1857 – rechtfertigte die Verwaltung des Dorpater Lehrbezirks in einem Schreiben an den Generalgouverneur nochmals die Nichtzulassung jüdischer Mädchen zur Libauer höheren Mädchenschule, wobei auf die Meinung des Libauer Schulkollegiums und des kurländischen Gouvernementsschuldirektors verwiesen wurde: Da die Schule durch städtische Einnahmen und mit Unterstützung durch Bewohner christlichen Glaubens finanziert werde, wäre der Erlass von Zwangsmaßnahmen gegen die klare Position der Bewohner, die jüdische Mädchen nicht in diese Lehranstalt aufnehmen wollten, wohl nicht rechtens. Dies war ein eindeutiger Hinweis darauf, dass der Generalgouverneur offenbar überlegt hatte, die Schule zu einer Abkehr von ihrer restriktiven Haltung zu zwingen. Um aber den höchsten Beamten der Ostseeprovinzen gänzlich zu überzeugen, wies man zudem darauf hin, dass die entschiedene Ablehnung der christlichen Bewohner triftige Gründe habe. Zum einen liege das an der religiösen Ausrichtung der Schule, zum anderen aber auch am Wunsch der Eltern, dass ihre Kinder in der Schule nur Vorbilder an Sittsamkeit antreffen sollten, wobei allerdings selbst in den besseren jüdischen Familien bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine allgemeine Übernahme des Bewusstseins von Sauberkeit und Wohlanständigkeit zu beobachten sei. Daher seien das Libauer Schulkollegium und der kurländische Gouvernementsschuldirektor überzeugt, dass bei einer Aufnahme jüdischer Mädchen in die höhere Mädchenschule alle christlichen Eltern ihre Töchter aus der Schule nähmen, was die völlige Zerstörung der Lehranstalt zur Folge hätte, die sich momentan in einem blühenden Zustand befinde. Die Verwaltung des Dorpater Lehrbezirks schloss sich der aus antijüdischen Ressentiments bestehenden Begründung an und fügte in apodiktischer Weise hinzu, dass doch auch der Generalgouverneur sicher nicht die Zerstörung der Schule wünsche, wenn man jüdischen Töchtern den Zugang gewähre.357 Nahezu gleichzeitig tagte in St. Petersburg unter dem Vorsitz von Neumann die Rabbinerkommission, die sich auch mit der Frage der Erziehung der jüdischen Mädchen und Frauen befasste.358 In der Sitzung vom 26. März 1857 356 Vgl. Expos betreffend die Bemerkungen des Herrn Dr. Neumann über den Zustand der Ebräer Gemeinden im Kurländischen Gouvernement, 4. 12. 1856. LVVA, 1, 10, 1519, 112. 357 Brief der Verwaltung des Dorpater Lehrbezirks an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 13. 4. 1857. LVVA, 1, 10, 1519, 120 – 121ob. 358 Vgl. AZJ 8, 15. 2. 1858, 102.

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wurde zunächst festgestellt, dass deren Bildung bei den russländischen Juden, besonders in den unteren Schichten, sehr vernachlässigt sei, wobei die Kommissionsmitglieder dies auf einen angeblich missverstandenen Satz des Rabbiners Eliezer in der Mischna zurückführten, wonach die Unterweisung der Tochter in der Tora gleichsam als Sünde zu betrachten sei. Die Kommissionsmitglieder wiesen demgegenüber darauf hin, dass sich die Talmudisten über gebildete Frauen sogar sehr lobend äußerten und die jüdische Religion eigentlich vorschreibe, große Sorgfalt auf die Bildung des weiblichen Geschlechts zu verwenden. Die jüdische Masse habe aber auf Grund der erwähnten Bemerkung von Rabbiner Eliezer, die allerdings aus dem Zusammenhang gerissen sei, eine falsche Schlussfolgerung gezogen. Insofern müsse man dem Volk den wirklichen Sinn dieses Mischna-Satzes erklären und somit die ablehnende Haltung gegen die Erziehung des weiblichen Geschlechts entkräften, damit die Jüdinnen im Zarenreich gegenüber aufklärerischen Ideen aufgeschlossener würden.359 Somit sprach die Rabbinerkommission die Empfehlung aus, den Jüdinnen vor allem mittels der Predigt Bildung und deren Bedeutung an sich zu vermitteln, was nicht zu Unrecht, so der bekannte Odessaer Anwalt und Anhänger der Aufklärung Michail Morgulis (1837 – 1912), belächelt wurde, da es eine Unkenntnis der tatsächlichen Lebensbedingungen der Juden im Zarenreich offenbarte.360 Gerade der Kommissionsvorsitzende Neumann, der sicher maßgeblich am Zustandekommen dieser Empfehlung beteiligt war, hätte es eigentlich auf Grund seiner Erfahrungen in den kurländisch-jüdischen Gemeinden besser wissen müssen. Stattdessen hielt er eine Abschlussrede, in der er die guten Absichten des Kaisers und seiner Regierung gegenüber den Juden überschwänglich lobte und von seinen Glaubensgenossen weitere Anstrengungen beim Bildungserwerb forderte, der zur vollständigen Akkulturation führen würde: 359 Vgl. AZJ 4, 17. 1. 1859, 50 – 51. In gewissem Zusammenhang mit diesem Kommissionsbeschluss stand sicherlich Neumanns ein Jahr später beim Generalgouverneur eingereichter Vorschlag, einen informellen Leseverein gründen zu wollen, um „zwei Mal wöchentlich in einem noch zu bestimmenden Lokale solche Blätter und Schriften den Ebräern vorlesen zu dürfen, welche den religiösen Fortschritt und die Civilisation des Israeliten überhaupt zur Tendenz haben und die Censur passiren. Dies würde gewiß den guten Zweck nicht verfehlen vielmehr auf Jung und Alt den wohlthätigsten Einfluß üben.“ Brief Neumanns an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 7. 3. 1858. LVVA 1, 8, 1812, 3 – 3ob. Angeblich hatte der deutsche Rabbiner hierfür auch die Erlaubnis erhalten, wobei solche Zeitungszirkel und Feiertagsschulen auch in anderen Städten gegründet werden sollten. Jedoch kam dies nicht zustande, da sich Neumann um seinen kranken Sohn kümmern musste. Vgl. Dr. S. [sic!] Neumann. Eine Lebensskizze, in: AZJ 18, 2. 5. 1876, 292 – 293. Anzumerken ist, dass die Gründung von jüdischen Lesevereinen eine, wie Toury erklärt, „die gesamte Zeit vom Vormärz bis zur Reichsgründung kennzeichnende Neuerung […] für die heranreifende Jugend und für Erwachsene“ im deutschen Judentum war, wobei Rabbiner und Lehrer oft die Initiatoren waren. Toury, Geschichte, 226. Neumann hatte sich also auch bei diesem Vorschlag am deutsch-jüdischen Vorbild orientiert. 360 Vgl. hierzu Freeze, Marriage, 90 – 91.

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178 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert „Die Jugend, die Söhne wie die Töchter, sollen allerdings und zwar würdige Begriffe von Gott und seinem Willen erhalten, aber auch gleichzeitig unterrichtet werden in Allem, was nöthig und erforderlich ist für das Leben nach Innen und Außen; daß sie fähig und tauglich werden zu Allem, was der Herr und Kaiser von seinen getreuen Unterthanen zum Wohl des Staates fordert und der Israelite nur im Glauben aber nicht mehr im Leben von seinen Gesammtbrüdern sich unterscheidet.“361

Dies waren hehre Äußerungen, die insbesondere den Erwartungen der Regierung entgegenkommen sollten, letztlich aber von Realitätsferne zeugten. Hatte nicht Neumann selbst feststellen müssen, dass beispielsweise den jüdischen Mädchen in Libau der Besuch der dortigen höheren Lehranstalt für das weibliche Geschlecht verwehrt war? Obwohl zumindest ein Teil der kurländischen Juden ihren Töchtern eine zeitgemäße Bildung zukommen lassen wollte, wurde dies durch restriktive Zugangsvoraussetzungen verhindert. Und auch die Gründung einer eigenen Lehranstalt für jüdische Mädchen, wie vom kurländischen Gouvernementsschuldirektor vorgeschlagen, war selbst sieben Jahre später, als der Beamte des Bildungsministeriums Aleksandr Postel’s das gesamte jüdische Schulwesen im Russländischen Reich inspizierte, noch nicht realisiert. Natürlich gab auch Postel’s zunächst den Juden selbst hierfür die Schuld, indem er bedauernd feststellte, dass sich die jüdischen Gemeinden in Kurland in keiner Weise um die Errichtung besonderer Schulen für jüdische Mädchen bemüht hätten. Selbst in Mitau gebe es keine solchen Lehranstalten, obwohl dort allem Anschein nach die finanziellen Mittel hierfür vorhanden seien. Dies sei umso trauriger, als die christlichen Mädchenschulen in Mitau Jüdinnen den Zugang verwehrten. Daher besuchten einige Mitauer jüdische Mädchen am Nachmittag die staatliche jüdische Schule für Knaben, in der sie allerdings nur in jüdischen Fächern unterrichtet würden. Während, wie Postel’s zugeben musste, die vermögenderen Juden keine Mittel scheuten, ihren Töchtern eine gute Bildung zukommen zu lassen, indem sie fähige Hauslehrer beschäftigten, erhielten die jüdischen Mädchen aus ärmeren Verhältnissen keinerlei Allgemeinbildung. Jedoch hielt Postel’s den Zugang für Jüdinnen zu den christlichen Mädchenschulen in den anderen Städten Kurlands für liberaler, was auch immer das im Einzelnen bedeutete. Nicht zu Unrecht wies er allgemein darauf hin, dass jüdische Mädchen keineswegs christliche Lehranstalten für die weibliche Jugend mieden, wie es das Beispiel Kovno zeige, wo mehr als 30 Jüdinnen das Mädchengymnasium besuchten.362 Damit machte er indirekt nochmals auf das Problem aufmerksam, das sich aus der teilweise restriktiven Haltung christlicher Mädchenlehranstalten gegenüber dem Schulbesuch von Jüdinnen ergab. Gleichzeitig hatte er aber auch anerkennen müssen, dass vermögendere kurländische Juden durchaus ihren Töchtern Bildung zukommen ließen, entweder im Elternhaus selbst oder aber in einem der Gymnasien, sofern es jüdische Mädchen aufnahm. Für die große Mehrheit 361 Abschlussrede Neumanns vor der Rabbinerkommission von 1857. RGIA, 821, 9, 1, 29ob–30. 362 Vgl. Otcˇet Postel’sa, 77.

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der verarmten kurländischen Juden gab es hingegen kaum solche Möglichkeiten: Sie konnten sich für ihre Töchter ebenso wenig einen Hauslehrer wie den Besuch eines Gymnasiums leisten. Insofern konnte eine Verbesserung der Bildungsvoraussetzungen für jüdische Mädchen in Kurland hauptsächlich nur durch eigens geschaffene Anstalten erreicht werden. Doch dazu fehlte, wie Postel’s feststellen musste, das Geld. So habe er bei seiner Reise häufig die Frage aufgeworfen, warum nicht der eine oder andere Lehrer der jüdischen Kronschulen Kurlands eine jüdische Mädchenlehranstalt gründe, worauf er immer die gleiche Antwort erhalten habe: aus Mangel an finanziellen Mitteln für die Unterhaltung einer solchen Schule. Daher schlug er vor, in den staatlichen jüdischen Lehranstalten für die Nachmittage sogenannte Volksschulen für Mädchen einzurichten. Auf diese Weise könnten die Gebäude der Kronschulen und deren Lehrmittel auch den Mädchen dienen, so dass bezüglich der Eröffnung solcher Schulen allenfalls die Entlohnung der Lehrer für ihre besonderen Bemühungen um die Bildung der Mädchen als Hindernis erscheine.363 Doch dies war der entscheidende Punkt. Gerade Neumann wusste nur allzu gut, in welch drückenden Verhältnissen die kurländischen Kronschullehrer lebten und wie schwierig es war, ihr Los entscheidend zu verbessern. Nachdem er sich bereits in seinem Bericht vom Februar 1853 für eine Gleichstellung der jüdischen Lehrer mit ihren christlichen Kollegen hinsichtlich der Besoldung und der Befreiung von Abgaben ausgesprochen hatte,364 äußerte er im Januar 1856 erneut den Wunsch, die jüdischen Lehrer an den Kronschulen, die gerade einmal 200 Silberrubel im Jahr verdienten, von den staatlichen Abgaben befreit zu sehen, da sie sonst Schwierigkeiten hätten, den Unterhalt für sich und ihre Familien zu bestreiten. Insbesondere sollten dabei der Lehrer Gordon in Libau und sein Kollege Löwensohn in Jacobstadt berücksichtigt werden, da sie große Familien hätten.365 Generalgouverneur Suvorov leitete Neumanns Vorschlag zur Begutachtung an die zuständigen Stellen weiter, die ihm mitteilten, dass dem Vorschlag wegen mangelnder gesetzlicher Grundlage nicht entsprochen werden könne. Allenfalls könnten die Gemeinden selbst aus freiwilligem Antrieb die Lehrer von der Abgabenzahlung befreien, was wohl nur dann erfolgen werde, wenn die Lehrer in ihrer eigenen Gemeinde unterrichteten. Vielleicht ließe es sich aber, so die Überlegung des Beamten, in die Wege leiten, die Kronschullehrer, die immerhin – ebenso wie die Hauslehrer – ein Examen bestanden hätten, steuerfrei zu stellen, wozu jedoch eine Verordnung notwendig wäre.366 Entsprechend dem Vorschlag wies der General363 Vgl. Otcˇet Postel’sa, 77. 364 Vgl. Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 2. 2. 1853, in: Grill, Neumann, 94. 365 Vgl. Bericht Neumanns an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 31. 1. 1856, in: Grill, Neumann, 107. 366 Vgl. Expos betreffend die Bemerkungen des Herrn Dr. Neumann über den Zustand der Ebräer Gemeinden im Kurländischen Gouvernement, 4. 12. 1856. LVVA, 1,10, 1519, 114.

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180 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert gouverneur die Verwaltung des Dorpater Lehrbezirks im Februar 1857 an, in diesem Sinne tätig zu werden. Wenige Tage später teilte der Kurator des Dorpater Lehrbezirks dem Generalgouverneur mit, dass sein Vorgänger schon 1853 darum ersucht habe, den Lehrern der jüdischen Kronschulen weitere Vorrechte einzuräumen, so zum Beispiel die Befreiung von Abgaben. Auf diese Eingabe habe aber der Bildungsminister im November 1853 erklärt, es müssten alle jüdischen Kronschulen gemäß dem Ukaz vom 13. November 1844 geleitet werden, weshalb keine Änderungen zulässig seien. Da ihm aber, so der Kurator, der Wunsch des Generalgouverneurs bewusst sei, werde er bei nächster Gelegenheit erneut ein entsprechendes Ersuchen einreichen.367 Dies klang wenig hoffnungsvoll und kaum aussichtsreich. Etwas mehr als drei Monate später wandte sich der Lehrer der Libauer jüdischen Kronschule Gordon, auf dessen missliche ökonomische Situation Neumann vor mehr als einem Jahr eigens hingewiesen hatte, an den deutschen Rabbiner mit einem regelrechten Hilferuf. Er machte geltend, er habe sich schon mehrmals wegen Verbesserung der Lage der jüdischen Kronlehrer an seinen hohen Vorgesetzten gewandt und sehe sich nun, nicht zuletzt wegen seiner Familie, gezwungen, in dieser Angelegenheit Neumann um Unterstützung zu bitten. Es sei ihm wohlbekannt, dass die jüdischen Lehrer der staatlichen jüdischen Schulen in Kurland bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden nur 140 Silberrubel Jahresgehalt sowie 60 Silberrubel Quartiergeld368 erhielten (zum Vergleich: Neumann verdiente um diese Zeit insgesamt 1 074 Silberrubel369), ihnen aber mit Ausnahme der Befreiung von der „Militärpflichtigkeit“ keine weiteren Privilegien eingeräumt seien. Trotz des schon sehr niedrigen Monatslohns von elf Rubel und 55 Kopeken müsse man aber noch Kopf-, Licht- und Rekrutensteuer zahlen, die sich bei ihm persönlich auf ungefähr zwölf Rubel jährlich beliefen. Insofern blieben ihm für die Anschaffung der notwendigsten Lebensmittel gerade einmal neun Rubel im Monat, da das Quartiergeld Miete und Brennholz nicht vollständig decke. Infolgedessen lebten er und seine Familie in größter Not, und es mangele an allem, so dass er nicht einmal für die Erziehung seiner Kinder aufkommen könne. Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Schilderung bat Gordon Neumann schließlich, sich dafür einzusetzen, dass das Gehalt der jüdischen Kronlehrer erhöht werde und sie von allen Abgaben befreit würden.370 Wie wir wissen, hatte sich Neumann schon zweimal in dieser Angelegenheit beim 367 Schreiben des Kurators des Dorpater Lehrbezirks an den Generalgouverneur von Liv-, Est- und Kurland, 18. 2. 1857. LVVA, 1, 10, 1519, 119 – 119ob. 368 Dies galt aber nur für die „Oberlehrer“. Ihre jüngeren Kollegen erhielten nur jeweils die Hälfte, kamen somit nur auf 100 Rubel Jahresgehalt. Vgl. Otcˇet Postel’sa, 63, FN. 369 Dies geht aus einer Auflistung aus dem Jahre 1858 hervor. Vgl. Brief Neumanns an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 7. 3. 1858. LVVA, 1, 7, 1745, 6 – 6ob. Freilich hatte Neumann mehrere Einnahmequellen: Als Rabbiner, als Prediger, als Lehrer und als Beamter für besondere Aufgaben. Darüber hinaus erhielt er noch Quartier- und Heizgeld. 370 Brief Gordons an Neumann, 31. 5. 1857. LVVA, 7358, 1, 390, 18 – 19.

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Generalgouverneur verwendet, der offensichtlich das Anliegen nachdrücklich unterstützte. Eine Verbesserung der ökonomischen Situation stand aber nicht in seiner Macht, er konnte höchstens Eingaben nach St. Petersburg schicken lassen, wobei die Erfolgsaussichten nicht besonders gut waren. Die dramatische Schilderung des Kronlehrers Gordon bezüglich seiner ökonomischen Situation ist überaus aufschlussreich und letztlich paradigmatisch. Sie macht deutlich, dass die Regierung nicht ernsthaft am Gedeihen der jüdischen Kronschulen und der Verbreitung von Bildung und Aufklärung unter den russländischen Juden interessiert war, denn sonst hätte sie die sozioökonomische Lage der jüdischen Lehrer in den staatlichen jüdischen Schulen verbessert oder von Anfang an besser geregelt, wie es Lilienthal seinerzeit angeregt hatte.371 Angesichts der Tatsache, dass die jüdischen Kronlehrer in bitterer Armut lebten, was der jüdischen Bevölkerung kaum verborgen bleiben konnte, mussten bei ihr doch erhebliche Zweifel am Nutzen von Bildung und Aufklärung aufkommen. Wozu die Kinder in eine dieser Schulen schicken, wenn sie nach dem Schulabgang trotzdem ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten konnten? Hatte nicht gerade Lilienthal auf diesen Sachverhalt als Grundvoraussetzung für den Erfolg der künftigen Schulen hingewiesen? Und lag nicht eine gewisse Ironie darin, dass der Kronlehrer nicht einmal für die Bildung seiner eigenen Kinder aufkommen konnte? Im Übrigen stellt der geschilderte Sachverhalt die Behauptung Stanislawskis, die staatlichen jüdischen Schulen hätten den Maskilim eine Machtbasis und ökonomische Sicherheit verschafft, eindeutig in Frage.372 Suvorov mag, nicht zuletzt auf Grund der Berichte Neumanns, die Problematik erkannt und sich zumindest seit 1857 für eine finanzielle Besserstellung der jüdischen Kronlehrer eingesetzt haben. Es sollten aber noch über viereinhalb Jahre vergehen, bis die Regierung endlich von ihrer rigiden Hal371 Es muss aber betont werden, dass die unzureichende Entlohnung der Kronlehrer im Zarenreich nicht allein die jüdische Bevölkerung betraf, sondern ein allgemeines Problem war, das auch Jahrzehnte später noch nicht gelöst war. Eine Studie im Moskauer Kreis von 1900 zeigt, dass gerade einmal 15 % der Lehrer ohne Schulden waren und verheiratete Lehrer mit zwei Kindern 74 % ihres Jahreseinkommens für Lebensmittel aufwenden mussten. Daran ist zu erkennen, dass die russische Obrigkeit grundsätzlich ein begrenztes Interesse an der Verbreitung von Bildung und Aufklärung im Reich hatte oder um es mit den Worten von Ruane und Eklof zu sagen: „The teacher was sometimes called a ,cultural pioneer‘, but this description had its limits. […] Although pursuing a noble profession – even a mission – they endured treatment by both population and officialdom that did not befit that mission.“ Vgl. Ruane/ Eklof, Pioneers, 203. 372 Vgl. Stanislawski, Tsar, 108. Das gleiche gilt auch für seine These, dass die jüdischen Lehrer der Kronschulen als Angestellte und Verbündete der Regierung zu einer mächtigen Kraft innerhalb des russländischen Judentums und zu einer schweren Bedrohung der traditionellen jüdischen Ordnung wurden. Vgl. Stanislawski, Tsar, 108. Die sozioökonomische Lage der Lehrer in den staatlichen jüdischen Schulen war alles andere als prestigefördernd. Wer Schwierigkeiten hatte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten und dabei kaum Hilfe von der Regierung bekam, wird wohl keine ernsthafte Bedrohung gewesen und vor allem auch nicht als solche wahrgenommen worden sein.

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182 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert tung teilweise abrückte. Am 27. November 1861 wurden die jüdischen Lehrer an den Kronschulen von der Zahlung staatlicher Abgaben und von anderen Verpflichtungen für die Dauer ihrer Dienstzeit befreit, sie mussten jedoch weiterhin die Abgabe für den Bezug von koscherem Fleisch entrichten.373 Wie wir aber vom Beamten des Bildungsministeriums Postel’s wissen, der zweieinhalb Jahre später seine Inspektionsreise unternahm, scheint sich selbst dadurch die finanzielle Lage der jüdischen Lehrer an den staatlichen jüdischen Schulen Kurlands nicht merklich gebessert zu haben. So wies Postel’s darauf hin, dass das Gehalt der jüdischen Lehrer in Kurland im Vergleich zu ihren Kollegen im Ansiedlungsrayon deutlich niedriger sei und dringend erhöht werden müsse, es darüber hinaus aber grundsätzlich wünschenswert wäre, die finanzielle Situation der jüdischen Lehrer an den staatlichen jüdischen Schulen zu verbessern und sie von der Konsumsteuer auf koscheres Fleisch zu befreien. Ebenso seien auch die jüdischen Kronschulen selbst generell völlig unterfinanziert, wobei dies in noch stärkerem Maße für die Lehranstalten in Kurland gelte, deren materielle Grundlage dringend verbessert werden müsse.374 Wenn man bedenkt, dass sich die Regierung jahrelang dagegen gesperrt hatte, die ökonomischen Bedingungen der jüdischen Kronlehrer (wie auch der Schulen selbst) zu verbessern und sogar dann, als sie sich hierzu bereitfand, dies völlig unzureichend löste, so war kaum zu erwarten, dass sie den kurländisch-jüdischen Lehrern für etwaige Verdienste um die Errichtung von Volksschulen für jüdische Mädchen eine Erhöhung ihres Gehalts zugestehen werde. Im Hinblick darauf, dass in Kurland der Zugang jüdischer Mädchen zu den christlichen Schulen zumindest teilweise restriktiv gehandhabt wurde und die Regierung sich weitgehend weigerte, die finanzielle Situation der jüdischen Kronlehrer und ihrer Schulen wenigstens erträglicher zu gestalten, waren die staatlicherseits häufig erhobenen Vorwürfe, die jüdische Bevölkerung sorge nicht für eine zeitgemäße Erziehung des weiblichen Geschlechts, beinahe perfide. Man war ja noch nicht einmal gewillt, die Bedingungen für diejenigen jüdischen Eltern zu verbessern, die ihren Töchtern eine Schulbildung ermöglichen wollten. Ebenso war aber auch der Vorschlag der Rabbinerkommission von 1857, die Predigt als Mittel einzusetzen, um unter den Jüdinnen des Reiches Bildung zu verbreiten, geradezu lächerlich. Konnten sporadische Predigten wirklich den regelmäßigen Schulbesuch ersetzen? Diese Meinung kann letztlich auch Neumann nicht vertreten haben, der aber ohne Zweifel erheblichen Anteil an der Verabschiedung dieses Vorschlags hatte. 1861 sollte Neumann erneut an der Rabbinerkommission als Vorsitzender teilnehmen. In 373 Vgl. Otcˇet Postel’sa, 63. Im Übrigen scheint die Regierung die christlichen Lehrer an den Elementarvolksschulen in dieser Beziehung nicht besser behandelt zu haben. Ganz im Gegenteil wurden diese erst 1870 von der Rekrutensteuer und anderen Naturalabgaben befreit. Vgl. Nacˇal’noe narodnoe obrazovanie, in: Enciklopedicˇeskij slovar’, Bd. 40, 759. 374 Vgl. Otcˇet Postel’sa, 64, 91 – 92.

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seiner Eröffnungsrede, die wortwörtlich in der russischsprachigen Beilage des Ha-Karmel und inhaltlich sowohl in der aufklärerisch-jüdischen Wochenzeitung Razsvet wie auch im Journal des Bildungsministeriums wiedergegeben wurde, stellte der deutsche Rabbiner fest, dass die Schule „der erste Ort der Oeffentlichkeit“ sei, „wo zwar vor Allem die Religion unserer Väter, aber auch alles Andere gelehrt und unterrichtet werden soll, was die Zeit und ihre Verhältnisse von uns fordern, um so die Jugend nicht nur im Kennen und Wissen, sondern auch in Sitten und Gebräuchen für das Leben vorzubereiten“. Dies sei die „Aufgabe der Schulen der Jetztzeit“. Um diesen doppelten Zweck zu erreichen, sei es erforderlich, dass die Lehranstalten in zeitgemäßer Weise errichtet würden, die Lehrer den Anforderungen der Zeit genügten und die Jugend zum regelmäßigen Besuch der Schulen ermuntert werde. Vieles sei in dieser Beziehung schon geleistet worden, doch müsse noch mehr getan werden.375 Angesichts derartiger Worte stellt sich die Frage, warum Neumann nicht selbst aktiv wurde. Zwar leitete er eine moderne jüdische Schule in Riga, diese stand aber nur Knaben offen. Und was leistete er für die Bildung der dortigen jüdischen Mädchen? Obwohl der deutsche Rabbiner 20 Jahre in Riga wirkte, lassen sich keine Hinweise darauf finden, dass er sich um die Eröffnung einer Schule für jüdische Mädchen oder um die Einrichtung einer entsprechenden Abteilung an seiner Schule bemüht hätte. Bedarf war aber offenbar durchaus vorhanden. Als 1877, 13 Jahre nach Neumanns Abgang, eine Mädchenabteilung an der Rigaer jüdischen Gemeindeschule eingerichtet wurde, schrieben sich immerhin 109 Schülerinnen ein.376 Innerhalb von zehn Jahren sollte sich die Zahl schließlich nahezu verdoppeln.377 Was hielt also Neumann davon ab, sich um die Errichtung einer zeitgemäßen Lehranstalt für jüdische Mädchen in Riga zu kümmern? Ideologische Gründe werden sicher nicht dafür verantwortlich gewesen sein. Neben den niedrigen Schülerzahlen seiner Lehranstalt, die möglicherweise davon abschreckten, noch eine zusätzliche Schule für jüdische Mädchen zu gründen, wird auch hier der finanzielle Aspekt der Hauptgrund gewesen sein. Die von Neumann geleitete Schule litt, ähnlich wie die jüdischen Kronschulen in Kurland, unter chronischer Unterfinanzierung, was sich auch auf das Gehalt der Lehrer auswirkte. Neumann selbst soll, da sein Gehalt als Hauptlehrer und Prediger (später auch Rabbiner) bei weitem nicht ausreichte, innerhalb von 375 Rede gehalten bei der Eröffnung der Rabbinenkommission zu St. Petersburg vom Preses derselben erblichen Ehrenbürger und Rabbiner in Riga Dr. Neumann am 23 November 1861, in: Prilozˇenie k Gakarmelju 39, 30. 3. 1862, 153. Vgl. auch Razsvet 29, 19. 1. 1861, 459; Zˇurnal Ministerstva Narodnago Prosvesˇcˇenija, Oktober 1862, Abteilung IV, 86. 376 Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 36. 377 In diesem Jahr wurden 206 jüdische Mädchen unterrichtet. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 36. Vgl. zum russländisch-jüdischen Kontext insgesamt Adler, Education, 127, die betont, dass jüdische Familien im Ansiedlungsrayon große Anstrengungen unternahmen, um ihren Töchtern den Besuch von privaten jüdischen Schulen zu ermöglichen.

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184 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert zehn Jahren sogar die ganze Mitgift seiner Frau und damit den größten Teil seines Vermögens aufgebraucht haben, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.378 Die völlig unzureichende Besoldung der Lehrer an der Rigaer Gemeindeschule führte dazu, dass diese fast jedes Jahr die Schulbehörde um Subventionszahlungen bitten musste.379 Gleichzeitig wirkte die finanzielle Situation der Lehrer offenbar abschreckend. Neumann berichtete zum Beispiel im Frühjahr 1860, dass eine vakante Lehrerstelle an der Gemeindeschule schwerlich zu besetzen sei, da noch keine Entscheidung über Pensionsansprüche des Lehrers und seiner Familie nach dem Dienstende, im Krankheitsfall oder nach dem Ableben getroffen sei und daher wohl kaum jemand ein solches Risiko eingehen wolle.380 Nachdem die Gemeindevertreter noch Ende der 1840er Jahre die Absicht des Bildungsministeriums, die Gemeindeschule in eine Kronschule umzuwandeln, auf Grund der absehbaren finanziellen Einbußen abgelehnt hatten, unternahm Neumann später mehrere Anläufe, um „seiner“ Lehranstalt den Status einer staatlichen jüdischen Schule erster Ordnung zu sichern, da er sich hiervon eine strukturelle Verbesserung der Finanzierung versprach. Doch die Behörden lehnten das immer wieder unter Hinweis darauf ab, dass die Rigaer Jüdische Gemeinde infolge der eigenständigen Gründung einer Schule von der Lichtsteuer befreit sei und deshalb nicht das Recht habe, aus diesem Fonds ihre Lehranstalt zu finanzieren.381 Wie groß aber der finanzielle Bedarf der Lehranstalt war, machte nicht zuletzt der Beamte für besondere Aufgaben Baron von Mengden deutlich, der im April 1860 gegenüber dem Generalgouverneur immerhin eine Verdoppelung des Etats der Gemeindeschule befürwortete.382 Wie zu erwarten war, blieb aber auch dieser Vorschlag ohne Folgen. Zwei Jahre später konnte Neumann schließlich ein Gemeindemitglied, den erblichen Ehrenbürger Michael Friedland, dazu überreden, dem Rigaer Gouvernementsschuldirektor ein Kapital von 6 000 Rubel zur Verfügung zu stellen, dessen Zinsen zur Unterstützung der Lehrer an der Gemeindeschule verwendet werden sollten.383 Damit war das Problem aber keineswegs gelöst. 378 Vgl. Brief Neumanns an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 7. 3. 1858. LVVA, 1, 7, 1745, 1 – 1ob. 379 Vgl. Bericht Neumanns, ohne Datum (ca. Frühjahr 1860). LVVA, 1, 7, 1789, 6. 380 Bericht Neumanns, ohne Datum (ca. Frühjahr 1860). LVVA, 1, 7, 1789, 6ob. Dies war übrigens keine speziell gegen das Judentum gerichtete Maßnahme. Als 1861 ein interministerielles Komitee über den Plan eines Aufbaus von Volksschulen diskutierte, sprach man sich dagegen aus, die Lehrer in den Staatsdienst aufzunehmen und ihnen von Staats wegen Alterssicherung, Krankenversicherung oder Hinterbliebenenhilfe zu gewähren, da dies angeblich den Staatsetat überfordert hätte. Daher empfahl man, die Lehrer mögen aus eigenen Mitteln eine Pensionskasse ins Leben rufen. Vgl. Krumbholz, Elementarbildung, 170. 381 Vgl. Bericht Kaplans über die Rigaer jüdische Gemeindeschule, 13. 4. 1870. LVVA, 7358, 1, 307, 27ob; Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 20 – 21. 382 Vgl. Brief Baron von Mengdens an den Generalgouverneur der Ostseeprovinzen, 29. 4. 1860. LVVA, 1, 7, 1789, 15 – 15ob. 383 Vgl. Ehrlich, Entwickelungsgeschichte, 21.

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Wenn also auch in Riga jahrzehntelang keine Schule für jüdische Mädchen gegründet wurde, dann lag dies in erster Linie an den fehlenden finanziellen Mitteln. Die ohnehin sehr arme Gemeinde hatte weder genug Geld, um die Gemeindeschule zu unterhalten, noch, um die dortigen Lehrer ausreichend zu entlohnen. Bedenkt man, in welch drückenden ökonomischen Verhältnissen die Juden im Ansiedlungsrayon lebten, so wird dies dort ähnlich gewesen sein, auch wenn die dortigen jüdischen Kronschulen und deren Lehrer materiell etwas besser ausgestattet waren als in Kurland. Dennoch entstanden von 1844 an, als gerade einmal zwei (private) jüdische Mädchenschulen im Ansiedlungsrayon existierten, bis zu den frühen 1880er Jahren mehr als 100 solcher Anstalten – auf Privatinitiative hin.384 Von einer grundsätzlichen Abneigung der Juden, spezielle Schulen für ihre Töchter zu errichten oder sie in diese wie auch in christliche Schulen zu schicken, kann also keine Rede sein.385 Aber auch hier begegnen wir dem gleichen Problem. Schon 1864 hatte Postel’s darauf hingewiesen, dass die privaten jüdischen Lehranstalten für Mädchen, die aus dem Lichtsteuer-Fonds einen finanziellen Zuschuss erhielten, nicht selten in eine schwierige Lage gerieten, da die ihnen zustehenden Gelder – ähnlich wie bei den jüdischen Kronschulen für Knaben – von den einzelnen Stadtdumen nicht im geeigneten Moment ausgezahlt würden, und daher in dieser Hinsicht dringender Handlungsbedarf bestehe.386

1.3 Die Reform der Odessaer Talmud-Tora: Vorbild für die Christen Anfang März 1857 sollte ein aufgeklärter Jude aus dem Russländischen Reich in einem Artikel für die AZJ erste Erfolge bei der Modernisierung des jüdischen Schulwesens im Zarenreich konstatieren, auch wenn man von dem „uns vorschwebenden Vorbilde unserer deutschen Glaubensgenossen“ noch deutlich entfernt sei.387 Trotz einer positiven Beurteilung der jüdischen Bildungsreform von 1844 konnte der Verfasser allerdings nicht umhin, auch deutliche Kritik zu üben, die sich vor allem auf das Lehrpersonal an den Kronschulen bezog. Während die dort angestellten christlichen Lehrer so gut wie keine Kenntnisse über die „jüdische Wissenschaft“ besäßen, seien den jüdischen Lehrern die säkularen Gegenstände weitgehend unbekannt. Die wenigen wissenschaftlich gebildeten jüdischen Lehrer seien nur Autodidak384 Vgl. Adler, Schools, 140; Adler, Hands, 38. 385 Dass die privaten jüdischen Schulen für Mädchen durchaus auch, nicht zuletzt von aufgeklärter Seite, kritisiert wurden, widerspricht dieser Behauptung keinesfalls. Zu den Kritikpunkten vgl. Adler, Education, insbes. 131 – 132. Wie erfolgreich diese Schulen bei der Verbreitung von Bildung unter den russländischen Jüdinnen waren, muss dahingestellt bleiben. Noch 1879 wurde berichtet, dass die überwiegende Masse der jüdischen Frauen und Mädchen Analphabeten seien. Vgl. Russkij Evrej 7, 17. 10. 1879, 217 – 220. 386 Vgl. Otcˇet Postel’sa, 78, 93. Vgl. hierzu en passant auch Adler, Education, 129. 387 Das jüdische Schulwesen in Rußland. II, in: AZJ 10, 2. 3. 1857, 125.

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186 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ten, verstünden die Landessprache nicht und könnten sich daher nicht mitteilen. Die Schüler gewöhnten sich deshalb sehr bald an den Vortrag des christlichen Lehrers und entwickelten gegen das „Kauderwelsch“ des jüdischen Lehrers eine Aversion, die sich letztlich zu einer Abneigung gegen den jüdischen Glauben überhaupt auswachse.388 Angesichts dieses von ihm wahrgenommenen Problems machte der Verfasser einen Vorschlag, der bereits 15 Jahre zuvor ernsthaft erwogen, jedoch nicht umgesetzt worden war. Unter Hinweis auf Peter den Großen, der durch seine Auslandserfahrungen darin bestärkt worden sei, auch seinen Untertanen die „Wohlthat des Lichts“ zukommen zu lassen, und daher ausländische Spezialisten in sein Reich geholt und talentierte russische Untertanen zum Studium ins Ausland geschickt habe, bezeichnete er das ursprüngliche Vorhaben Uvarovs und Lilienthals, jüdische Gelehrte aus dem Ausland zu berufen sowie hochbegabte junge Juden zur Fortsetzung ihrer Ausbildung ins Ausland zu senden, als einzig vertretbaren Lösungsansatz.389 Damit sprach sich der Verfasser in aller Deutlichkeit für den Transfer des westeuropäisch- oder mitteleuropäisch-jüdischen Bildungskanons in das Zarenreich aus, wobei als kulturelle Mittler entweder Juden aus dem mittelund westeuropäischen Bereich in Frage kamen – insbesondere wohl deutsche Juden, da für den Verfasser das deutsche Judentum das große Vorbild darstellte – oder aber russländisch-jüdische Untertanen, die im Gebiet der Entsendekultur eine moderne Ausbildung erhalten hatten. Hätte die vorgeschlagene Maßnahme der Verpflichtung ausländischer Juden als Lehrer an den staatlichen jüdischen Schulen wirklich etwas geändert, oder war sie notwendig, um den Lehranstalten zum Durchbruch zu verhelfen? Wohl kaum. Selbst Neumann, ein aufgeklärter deutscher Rabbiner, der keineswegs mit Kritik am Zustand des jüdischen Bildungswesens in Kurland sparte, hatte den dortigen jüdischen Kronlehrern insgesamt ein positives Zeugnis bezüglich ihrer Fähigkeiten ausgestellt. Insofern ist es äußerst fraglich, ob das vernichtende Urteil des russländischen Juden in der AZJ tatsächlich berechtigt war. Aber selbst wenn es wirklich zutreffend gewesen wäre, hätte die Anstellung gelehrter ausländischer Juden als Lehrer kaum Auswirkungen gehabt. Ob es sich nun um eine staatliche jüdische Schule mit einem jüdischen Lehrer aus dem Zarenreich oder aber um die Rigaer jüdische Gemeindeschule mit Neumann als Hauptlehrer handelte, es änderte nichts daran, dass sowohl die eine wie die andere Schule vom überwiegenden Teil der traditionsorientierten Juden gemieden wurden und diese weiterhin ihre Söhne lieber in den Cheder schickten. Die Anstellung gebildeter Juden aus dem Ausland an den Kronschulen hätte vielmehr ein weiteres Argument gegen den Schulbesuch an die Hand gegeben, nämlich dass kaum zu erwarten sei, dass man die Kinder von einem „Häretiker“ unterrichten lasse. Schließlich stellt 388 Vgl. AZJ 10, 2. 3. 1857, 126. 389 Vgl. AZJ 10, 2. 3. 1857, 126.

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sich noch eine praktische Frage. Wie wir nicht zuletzt von Gordons dramatischer Schilderung wissen, lebten die jüdischen Kronlehrer wegen ihres völlig unzureichenden Gehalts in tiefster Armut, ein Umstand, den die Regierung nicht ernsthaft ändern wollte. Wären gelehrte deutsche Juden wirklich bereit gewesen, unter solchen Bedingungen eine Lehrerstelle im Zarenreich anzunehmen? Dies lässt sich mit ziemlicher Sicherheit verneinen. Für den Verfasser des Artikels in der AZJ war aber das ursprüngliche Vorhaben Uvarovs und Lilienthals die einzige Lösungsmöglichkeit, was er am Ende seiner Ausführungen nochmals betonte. Sollte die Regierung die Verpflichtung ausländischer Juden ablehnen, so müsse sie doch, so sein Appell, „wenigstens das Opfer bringen“ und russländische Juden zur Ausbildung ins Ausland schicken. Dies wäre insbesondere für die angehenden Rabbiner erforderlich, da sie großen Einfluss auf das Volk ausüben sollten, wozu sie eine gute Bildung benötigten. Gerade das praktische Jahr könnten die russländischen Rabbinerkandidaten bei einem deutschen Rabbiner absolvieren und somit die entsprechenden Kenntnisse erwerben, die für die Modernisierung des russländischen Judentums nötig seien: „Die hohe Regierung will aus ihren jüdischen Unterthanen nützliche Bürger machen, wie es die Juden in Deutschland sind. Nun gut, so muß sie die künftigen Vorsteher der Gemeinden mit ihren Vorbildern bekannt machen.“390 Der Ruf nach deutschen Juden als kulturellen Mittlern veranlasste einen anderen russländischen Juden (aus Zˇitomir) zu einer Replik im selben Blatt, in der er den Vorwurf, jüdische Lehrer im Zarenreich verfügten weder über profanes Wissen noch über Kenntnisse in der Landessprache, als „Lüge“ bezeichnete und auch darauf hinwies, dass man immer wieder vom Mangel an geeigneten jüdischen Lehrern in Deutschland lesen könne und sich daher die Frage stelle, wie dann noch die Anstellung deutsch-jüdischer Pädagogen in anderen Ländern möglich sei. Außerdem äußerte er vorsichtige Zweifel daran, ob denn das russländische Judentum wirklich jüdische Lehrer aus Deutschland benötige. Denn die säkularen Fächer würden auf Russisch unterrichtet, eine Sprache, die den meisten ausländischen Juden nicht geläufig sei.391 Weitaus gewichtiger war allerdings der Einwand, der sich auf die Unterrichtung religiöser Gegenstände bezog und zu verstehen gab, dass das russländische Judentum in dieser Hinsicht überlegen sei und daher keine ausländischen Juden als Lehrer brauche. Denn nach Meinung des Zˇitomirer Juden waren Tanach, Talmud und Posakim392 „in Rußland und Polen zu Hause und als einheimische Producte zu betrachten. Haben wir doch nie N94L98 =L9B [hebr.: morei hora’ot = Lehrer der (religiösen) Unterweisungen] vom Aus390 AZJ 10, 2. 3. 1857, 126. 391 Vgl. AZJ 38, 14. 9. 1857, 519 – 520. 392 Talmudgelehrte, die auf Grundlage des jüdischen Schrifttums (v. a. Mischna und Talmud) religionsrechtliche Fragen entschieden bzw. erörtert haben. In der Literatur oft auch als Dezisoren bezeichnet.

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188 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert lande geborgt!“393 Damit machte der Verfasser der Replik – zweifellos auch ein Anhänger der Haskala – deutlich, dass das deutsche Judentum zumindest auf dem Gebiet religiöser Gelehrsamkeit kaum ein Vorbild darstelle und daher deutsche Juden, die an einer jüdischen Schule des Zarenreichs religiöse Gegenstände unterrichteten, nicht ernst genommen würden. In die gleiche Richtung ging auch seine Entgegnung auf den Vorschlag, die russländischen Rabbinerkandidaten sollten ihr praktisches Jahr bei einem deutschen Rabbiner absolvieren. Zum einen gehe es bei diesem praktischen Jahr um die Bekanntmachung mit religiösen Zeremonien wie beispielsweise die Chalitsa, was einen Auslandsaufenthalt nicht zwingend notwendig mache. Zum anderen seien aber auch im Ausland erworbene Kenntnisse grundsätzlich wenig hilfreich, um den Einfluss auf das Volk zu vergrößern, „da das hiesige jüdische Publikum wenig Zutrauen zu dem deutschen Rabbinerthum“394 habe. Trotz der unbestreitbaren Vorbehalte traditionsorientierter wie aufgeklärter russländischer Juden gegenüber deutsch-jüdischen Lehrern (und Rabbinern) wurde zur gleichen Zeit, als in der AZJ ein russländischer Jude die Anstellung jüdischer Pädagogen aus dem deutschen Kulturbereich als wichtigste Maßnahme für eine Modernisierung des jüdischen Erziehungswesens im Zarenreich bezeichnete, in Odessa genau dieser Weg beschritten. Nach Meinung eines aufgeklärten Juden aus Odessa war die dortige Talmud-Tora „in einem verwahrlosten Zustande, wie man sich hiervon gar keinen Begriff machen kann, und gelernt wurde gar nichts“.395 Daher beschlossen einige aufgeklärte Gemeindemitglieder, diese Anstalt zu reformieren, und entwarfen hierzu einen Plan, den sie über den Kurator des Odessaer Lehrbezirks Nikolaj Pirogov (1810 – 1881), laut Aleksandr Gercen (1812 – 1870) „eine der größten Persönlichkeiten Russlands“,396 dem Bildungsministerium zur Genehmigung vorlegen ließen.397 Zum Direktor der umgestalteten Talmud-Tora, die von dem Odessaer Juden als „Freischule“ bezeichnet wurde und somit auf das Vorbild im deutschen Judentum verwies, wurde unter Mitwirkung Pirogovs mit Dr. Aron Goldenblum (1828 – 1913) ein aufgeklärter deutscher Jude aus Kempen in der Nähe von Breslau398 ernannt, der in Breslau das Gymnasium besucht hatte und in Wien promoviert worden war.399 Im Frühjahr 1857 trat er sein Amt an und begann sofort mit der Realisierung der Reform. Es wurden qualifizierte Lehrer angestellt, und ein Lehrplan wurde eingeführt, der mit 393 394 395 396 397

AZJ 38, 14. 9. 1857, 519. AZJ 38, 14. 9. 1857, 520. AZJ 21, 17. 5. 1858, 285. Gercen, Sobranie, Bd. 27/1, 13. Polisˇcˇuk behauptet, dass die Umgestaltung der Talmud-Tora in Odessa auf Initiative Pirogovs hin geschah. Vgl. Polisˇcˇuk, Evrei, 160. Hierzu lassen sich aber keine Anhaltspunkte finden. Unbestreitbar ist aber die führende Rolle, die der Kurator bei der Realisierung der Reform spielte. 398 Kempen/Ke˛pno liegt ca. 75 km nordöstlich von Breslau. 399 Vgl. Cinberg, Gol’denbljum, 16.

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Bibel-, Hebräisch- und Talmud-Unterricht nicht nur eine elementare Unterweisung in den jüdischen Gegenständen vorsah, sondern mit Russisch, Arithmetik, Geographie, russischer Geschichte und Kalligraphie auch säkulare Fächer enthielt, die dem Curriculum der zwei Klassen umfassenden städtischen Schulen entsprachen.400 Wie aus den Erinnerungen des Zöglings im Waisenhaus der Talmud-Tora Ben-Ami (Mark Rabinovicˇ ; 1854 – 1932) hervorgeht, sprach Goldenblum weder Russisch noch Jiddisch.401 Daher dürfte Polisˇcˇuks Behauptung, Russisch sei Unterrichtssprache in der Odessaer Gemeindearmenschule gewesen, zumindest in der Anfangszeit kaum zutreffend gewesen sein. Von Pirogov, der mit der reformierten Anstalt vertraut war, wissen wir, dass Goldenblum mit den Zöglingen der höheren Klasse nicht im „unerträglichen jüdischen Jargon“ sprach und auch einen Chor eingeführt hatte, in dem 30 bis 40 Knaben harmonisch Gebete und Strophen in einer „reinen deutschen Sprache“ sangen,402 eine Sprache, die Pirogov sehr vertraut war.403 Goldenblum beließ es aber nicht dabei, die Modernisierung des Lehrplans umzusetzen, sondern er erkannte auch, dass eine Verpflegung der Zöglinge unbedingt notwendig war. Dies war nicht nur ein Gebot der Humanität, sondern auch ein Mittel, die Schüler an die Anstalt zu binden. Deshalb überredete der Direktor einige jüdische Damen Odessas, regelmäßige Spenden für die Verköstigung der Schüler dieser Armenschule zu leisten, so dass schließlich täglich 70 Kinder mit Suppe, Fleisch, Kartoffeln und Brot versorgt werden konnten.404 Nicht einmal ein Jahr nach Goldenblums Amtsantritt sollte ein Odessaer Jude berichten, dass die Leistungen des Direktors, der „ein vielseitig gebildeter Mann und ein ausgezeichneter Pädagog“ sei, „nach Ablauf des ersten Schuljahres unsern Erwartungen nicht nur vollkommen entsprochen, sondern noch weit übertroffen“ hätten und die Gemeinde ihm daher sehr dankbar sei. Zur Bestätigung und Untermauerung seines Urteils wies er auf den Artikel Pirogovs im Odesskij Vestnik hin, in dem dieser auf der Grundlage mehrerer persönlicher Besuche der Anstalt „alle Ehre und alles Lob unserm erwähnten Director Dr. Goldenblum zu Theil werden läßt und ihm hiermit öffentlich volle Anerkennung zollt“. Die ausnehmend positive Beurteilung Goldenblums wie 400 Vgl. Polisˇcˇuk, Evrei, 160 – 161. Polisˇcˇuk scheint sich hier aber auf einen späteren Lehrplan zu beziehen, ohne jedoch genaue Angaben zu machen. In jedem Fall wurde auch Deutsch unterrichtet, wobei sogar davon auszugehen ist, dass es in gewisser Weise Unterrichtssprache war. 401 Vgl. Ben-Ami, Vospominanija, 66. Auch noch mehr als zehn Jahre später soll Deutsch Unterrichtsgegenstand an der Odessaer Talmud-Tora gewesen sein, wobei man dieses Fach, so Ben-Ami, nur wegen Goldenblum beibehielt. Ben-Ami, Vospominanija, 66. 402 Pirogov, Odesskij Talmud-Tora, in: Odesskij Vestnik, 6. 3. 1858. Hier zitiert nach der leichter zugänglichen Übersetzung des Artikels The Odessa Talmud Torah School im Jewish Chronicle, 14. 5. 1858, 170. 403 Vgl. Pirogow, Lebensfragen, 151 – 152. 404 Vgl. AZJ 51, 13. 12. 1858, 707.

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190 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert auch der Anstalt durch einen hohen Beamten mag bei der jüdischen Gemeinde, vor allem ihrem aufgeklärten Teil, sicherlich eine gewisse Euphorie hervorgerufen haben und war mit ein Grund dafür, Pirogovs Artikel ins Hebräische und ins Englische zu übersetzen. Einer Sensation glich es allerdings, dass der Christ Pirogov die reformierte jüdische Gemeindearmenschule zum Anlass nahm, den Zustand der christlichen Pfarrschulen zu kritisieren, und die Talmud-Tora zum nachahmenswerten Vorbild für diese Schulen erhob.405 Damit hatte Pirogov das bislang geltende Paradigma umgekehrt: Hatte die Regierung bisher immer propagiert, die Juden müssten sich säkulare Bildung aneignen und sich an die christliche Umgebung angleichen und mit ihr verschmelzen, so hatte hier ein hochrangiger Vertreter der Obrigkeit eine modernisierte jüdische Erziehungsanstalt den Christen zur Nachahmung empfohlen. Wohl zum ersten Mal hatte damit ein Repräsentant des Staates die bei jeder Gelegenheit gegen die jüdische Bevölkerung geäußerten Vorwürfe fehlender Bildung und Aufklärung relativiert, indem er auf den mangelhaften Zustand der christlichen Untertanen in dieser Hinsicht hinwies. Immer wieder war der Widerstand traditionsorientierter Juden gegen moderne jüdische Schulen mit säkularem Unterricht von der Regierung und aufgeklärten russländischen wie deutschen Juden gleichermaßen als „Fanatismus“ pauschal verurteilt worden. Dass aber auch die große Mehrheit der christlichen (bäuerlichen) Untertanen des Zarenreichs kaum über eine elementare Bildung verfügte, blieb in der Regel bei der Diskussion jüdischer Unzulänglichkeiten unerwähnt, ebenso wie der Umstand, dass hier ebenfalls erhebliche Widerstände gegen einen Schulbesuch und den Erwerb von Grundkenntnissen bestanden. Veranschaulichen mag dies folgendes Beispiel, das sowohl geographisch als auch zeitlich einen Bezug zu der Schilderung der reformierten Talmud-Tora aufweist. Anfang der 1860er Jahre beschloss ein Priester im Süden des Reiches, seine Gemeinde zu alphabetisieren. Er wählte 30 Knaben aus und begann, sie zu unterrichten. Sobald aber den Eltern bewusst wurde, dass der Schulbesuch nicht obligatorisch war, wiesen sie ihre Söhne an, zuhause zu bleiben. Damit fand das Experiment, Elementarbildung zu vermitteln, sein Ende. In einer geistlichen Zeitschrift schilderte der enttäuschte Priester die Ursachen für die ablehnende Haltung der Eltern, die nicht nur keinen materiellen Nutzen im Schulbesuch ihrer Kinder sahen, sondern ganz im Gegenteil diesen sogar als einen Verlust notwendiger Arbeitszeit betrachteten. Daher forderten die Eltern den Priester auf, ihren Kindern für den Besuch der Schule einen, wenn auch nur geringen „Lohn“ zu gewähren. Dies lehnte der Priester völlig desillusioniert ab.406 Wenn Pirogov nur wenige Jahre zuvor in seinem Artikel über die Odessaer 405 Vgl. die englische Übersetzung des Artikels The Odessa Talmud Torah School, in: Jewish Chronicle, 14. 5. 1858, 171. Vgl. auch AZJ 21, 17. 5. 1858, 285 – 286; Zipperstein, Jews, 79 – 80. 406 Vgl. Brooks, Russia, 3.

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Talmud-Tora die rhetorische Frage gestellt hatte, ob man wirklich über die Notwendigkeit von Lese- und Schreibkenntnissen für die Kinder „unseres Volkes“ diskutieren müsse,407 so hatte er hier eine Antwort erhalten, allerdings nicht die, die er eigentlich erwartet und erhofft hatte. Dass ein christlicher Beamter, der solchermaßen die christliche Schulerziehung kritisierte und entgegen dem geltenden Klischee eine jüdische Bildungseinrichtung ein nachahmenswertes Vorbild nannte, ein Tabu brach, lässt sich leicht erkennen. Nicht nur erschienen in russischen Zeitungen überaus kritische Repliken auf Pirogovs Artikel,408 sondern es machten auch die Zensoren in St. Petersburg teilweise keinen Hehl aus ihrer missbilligenden Haltung. Obwohl Pirogov erst kurz zuvor Kurator des Odessaer Lehrbezirks geworden war, wurde er vier Monate nach Erscheinen seines Artikels über die Odessaer Talmud-Tora versetzt.409

1.4 Sabbatschulen – ein neuer Schultyp zur Vermittlung von Bildung Dennoch sollte der von Pirogov so hochgelobte deutsche Jude Goldenblum, der seit Ende 1857 den jüdischen Schülern am Odessaer Gymnasium auch Religionsunterricht erteilte,410 Christen wie Juden tatsächlich in erheblichem Maße zur Nachahmung anregen – allerdings nicht als Direktor der reformierten Talmud-Tora. Gemäß dem aufgeklärten Selbstverständnis Goldenblums genügte es nicht, den Kindern durch einen regelmäßigen und zeitgemäßen Unterricht religiöse und säkulare Bildung zu vermitteln, sondern er sah in dieser Beziehung auch Bedarf bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die bereits in der beruflichen Ausbildung standen. Nicht einmal zwei Jahre, nachdem der jüdische Pädagoge aus der Gegend von Breslau das Direktorat der reformierten Talmud-Tora in Odessa übernommen hatte, gründete er mit Erlaubnis der Regierung eine „Sabbath-Schule für israelitische Handwerks- und Handlungslehrlinge“, „die erste und einzige im ganzen russischen Reiche“.411 In dieser Sabbat-Schule erhielten die Lehrlinge unentgeltlich sowohl religiösen als auch säkularen Unterricht (Russisch, Deutsch, Arithmetik, Kalligraphie), „um auch den Anforderungen der Jetztzeit zu genügen“.412 Die Anstalt war ein Musterbeispiel dafür, wie sich in der Praxis philanthropischer, aufklärerischer und religiöser Anspruch miteinander 407 408 409 410

Vgl. Pirogov, The Odessa Talmud Torah School, in: Jewish Chronicle, 14. 5. 1858, 171. Vgl. Klier, Imperial Russia’s, 42; Klier, Press, 315 – 316; Zipperstein, Jews, 80. Vgl. Zipperstein, Jews, 80. Dass Goldenblum in dieser Funktion vom Bildungsministerium bestätigt wurde, zeigt auch die hohe Wertschätzung, die man noch immer für deutsche Juden hegte. Laut einem Odessaer Korrespondenten war dies im Übrigen das erste Mal, dass ein Jude als Religionslehrer an einer nichtjüdischen Schule bestätigt wurde. Vgl. AZJ 21, 17. 5. 1858, 286. 411 AZJ 7, 7. 2. 1859, 98. 412 AZJ 7, 7. 2. 1859, 99.

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192 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert verbinden konnten. Zweifellos wollte man den Lehrlingen vor allem notwendige säkulare Kenntnisse vermitteln, aber nicht minder wichtig war das Bestreben, sie in religiöser Hinsicht weiterzubilden, allerdings unter aufklärerischen Vorzeichen, umfasste der Religionsunterricht doch nur die Hebräische Bibel und die Gebete.413 Bei der Gründung der Sabbat-Schule hatte sich Goldenblum am deutschen Judentum orientiert, wo vor allem seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an christliche Vorbilder sogenannte Religionsschulen entstanden waren. Insbesondere dürften aber folgende Einrichtungen als Vorbild gedient haben: In Württemberg waren seit 1829 Sabbatstunden für 14– bis 18–jährige jüdische Lehrlinge gesetzlich vorgeschrieben414, und in der Stadt Posen, etwa 170 Kilometer von Goldenblums Herkunftsort Kempen entfernt, war 1851 eine Sabbatschule gegründet worden, in der jüdische Handwerkslehrlinge „jeden Sonnabend Nachmittag von 1 – 3 Uhr in den für das bürgerliche Leben nöthigsten Kenntnissen, so wie in der Religion unterrichtet“415 wurden. Angesichts der Person des Gründers dürfte es kaum überraschen, dass Deutsch Referenz- und Unterrichtssprache war und die Anstalt in gewisser Weise als Vermittlungsinstanz deutscher Kultur fungierte. Im Religionsunterricht wurden die Bibel und die Gebete im Urtext mit deutscher Übersetzung gelehrt; die Unterweisung im Russischen wurde ebenfalls mit Übersetzungen ins Deutsche erteilt, und der Deutschunterricht selbst umfasste Lesen, Erklärung der Lesestücke, Sprachlehre und Diktat.416 Trotz (oder gerade wegen) dieser expliziten Ausrichtung auf die deutsche Sprache entwickelte sich Goldenblums Sabbat-Schule außerordentlich positiv, so dass innerhalb der ersten fünf Jahre nach Gründung der Anstalt fast 600 Personen dort Unterricht erhielten.417 Inzwischen hatte sich die Einrichtung zu einer Art Abendschule für Berufstätige entwickelt, in der dienstags, donnerstags und samstags an zwei Stunden abends unterrichtet wurde.418 Dies war sicherlich vor allem deshalb notwendig geworden, weil eine höhere Zahl von Schulstunden am Samstag auf Grund der Sabbat-Ruhe nicht unterzubringen war.419 Innerhalb kurzer Zeit hatte die aus dem deutschen Judentum übernommene Idee einer Sabbat-Schule in Odessa bedeutenden Anklang gefunden. Hatte Pirogov im März 1858 den stillschweigenden Wunsch erkennen lassen, dass sich seine christlichen Glaubensgenossen den Leiter der reformierten 413 Im Übrigen hatte jeder Zögling sowohl einen Tanach als auch einen Siddur (jüdisches Gebetbuch für Alltag und Schabbat) geschenkt bekommen, wobei dies durch Spenden einiger aufgeklärter Mitglieder der Odessaer Gemeinde finanziert worden war. Vgl. AZJ 7, 7. 2. 1859, 99. 414 Vgl. Toury, Geschichte, 178. 415 AZJ 39, 22. 9. 1851, 459. 416 Vgl. AZJ 23, 3. 6. 1862, 307. 417 Vgl. Ben-Chananja 19, 11. 5. 1864, 391. 418 Vgl. Ben-Chananja 25, 17. 6. 1863, 425. 419 Das Schreiben ließ man in der Schule am Schabbat auch erst nach Sonnenuntergang zu.

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Talmud-Tora Goldenblum zum Vorbild nähmen, so sollte schon im folgenden Jahr dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Allerdings war nicht die Talmud-Tora, sondern die am 1. Januar 1859 eröffnete Sabbat-Schule in Odessa Gegenstand der Nachahmung. Am 11. Oktober420 desselben Jahres wurde in Kiew die erste (christliche) Sonntagsschule des Russländischen Reiches eröffnet, die vor allem Handwerkslehrlingen, aber auch Bauern säkulare Elementarbildung sowie Kenntnisse der Religion vermitteln sollte.421 Nur zwei Wochen später wurde bereits die zweite derartige Lehranstalt in Kiew errichtet. Einer der Begründer und Förderer der Kiewer Sonntagsschulenbewegung war niemand anderer als der ehemalige Kurator des Odessaer Lehrbezirks Pirogov, der seinerzeit Goldenblum und die von ihm reformierte Talmud-Tora in den höchsten Tönen gelobt hatte und nach seiner Versetzung zum Kurator des Kiewer Lehrbezirks ernannt worden war.422 Zwar gibt es keine Quellen, die eindeutig belegen, dass die in Kiew entstandene Sonntagsschulenbewegung durch die Odessaer Sabbat-Schule Goldenblums angestoßen wurde, doch deutet alles darauf hin. Möglicherweise hatte Goldenblum Pirogov noch vor dessen Weggang aus Odessa von seiner Absicht berichtet, eine Sabbat-Schule zu errichten, oder ihn insoweit sogar um die notwendige Erlaubnis gebeten.423 420 Die Petition um Erlaubnis zur Eröffnung dieser Schule war am 14. September 1859 eingereicht worden. Vgl. Serbyn, Socit, 165. 421 Vgl. Pirogov, sˇkoly, 192 – 193; Vos’kresnyja sˇkoly, in: Enciklopedicˇeskij slovar’, Bd. 7, 255; Zelnik, Sunday-School, 152. Zelnik weist darauf hin, dass schon während der Regierungszeit Zar Nikolaus I. deutsche Sonntagsschulen in den Ostseeprovinzen entstanden waren, die allerdings religiöser Natur gewesen seien und deshalb mit der im Russländischen Reich entstehenden säkularen Sonntagsschulenbewegung seit Ende der 1850er Jahre nichts gemein gehabt hätten. Vgl. Zelnik, Sunday-School, 152, FN 2. Dies ist sicherlich zu pauschal geurteilt, wenn man bedenkt, dass sich in diesen drei Schulen (in Walk, Wesenberg und Weissenstein) Handwerkslehrlinge „,an Sonntagen die für sie unabdingbaren Elementarkenntnisse im Religionsgesetz, Lesen, Schreiben und Arithmetik aneignen konnten‘“. Zitiert nach Vos’kresnyja sˇkoly, in: Enciklopedicˇeskij slovar’, Bd. 7, 255. Darüber hinaus kann die seit 1859 entstandene Sonntagsschulenbewegung nicht pauschal als säkular bezeichnet werden, da in diesen auch Religionsunterricht erteilt wurde. 422 Vgl. Pirogovs Zirkular in seiner Eigenschaft als Kurator des Kiewer Lehrebezirks vom Herbst 1859, in dem er auf die Eröffnung von zwei Sonntagsschulen in Kiew hinweist und den Wunsch nach einer weiteren Verbreitung dieser Schulen äußert. Pirogov, ˇskoly, 192 – 193; Zelnik, Sunday-School, 152 – 153. 423 Dies ist sehr naheliegend. Da die Gründung einer Lehranstalt die Bestätigung seitens der Behörden voraussetzte, muss von einer gewissen zeitlichen Vorlaufphase ausgegangen werden. Zudem muss angenommen werden, dass sich Pirogov auch weiterhin über die schulischen Aktivitäten in Odessa – christlicher wie jüdischer Art – informierte. Im Übrigen widerspreche ich damit der Meinung Krumbholz’, dem zufolge es eine „gesicherte Erkenntnis“ zu sein „scheint“, „daß die Idee einer sonntäglichen Unterrichtung von Studenten der Char’kover Universität entwickelt wurde, die dort 1856 eine geheime Vereinigung mit einer recht vagen Zielsetzung politischer Veränderungen begründet hatten.“ Krumbholz, Elementarbildung, 77. Roman Serbyn weist in seinem Aufsatz zur Geheimgesellschaft Char’kover Studenten nur darauf hin, dass diese im Herbst 1859 die Verbreitung der Sonntagsschulenbewegung in der Ukraine unterstützt hätten. Vgl. Serbyn, Socit, 165. Die Idee zur Gründung von Sonntagsschulen ging angeblich von dem Kiewer Studenten F. Voronoj aus, einem Mitglied der Kiewer

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194 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Der einzige ausdrückliche Hinweis auf einen Kulturtransfer findet sich in einer Privatmitteilung eines Odessaer Juden in der AZJ vom April 1861, in der als Goldenblums „Verdienst“ herausgestellt wurde, dass „in Nachahmung“ seiner Anstalt „im vorigen Jahre in Odessa auch für christliche Lehrlinge mehrere solcher Schulen“424 entstanden seien. Wie ein regelrechtes Lauffeuer verbreitete sich nun die Idee, an arbeitsfreien Tagen der minderprivilegierten jüdischen und christlichen Bevölkerung kostenlosen weltlichen und religiösen Elementarunterricht zu erteilen, wofür offensichtlich ein ausgesprochenes Bedürfnis bestand. Nahezu in jeder größeren Stadt des Zarenreichs wurde nun eine Sonntagsschule, mitunter mehrere, eröffnet. Um die Jahreswende 1860/61 existierten bereits 135 solcher Lehranstalten im Reich, im Juni 1862 schließlich 316 mit etwa 20 000 Schülern,425 davon allein in St. Petersburg 28 mit schätzungsweise 5 000 Zöglingen.426 Gleichzeitig entstanden auch in vielen anderen Städten – so in Zˇitomir427, Minsk428, Wilna429, Berdicˇev430 und Poltava431 – weitere Sabbat-Schulen, deren Initiatoren und Leiter häufig die jeweiligen offiziellen Rabbiner waren, die zumeist eines der beiden Rabbinerseminare besucht hatten.432 Das Beispiel Goldenblums hatte also im wahrsten Sinne des Wortes Schule gemacht, und zwar sowohl unter der jüdischen wie unter der christlichen Bevölkerung. Diese neue Art, säkulare und religiöse Grundkenntnisse der einfachen Bevölkerung zu vermitteln, wurde im Übrigen auch von der aufgeklärten jüdischen Elite in St. Petersburg überaus positiv rezipiert. Dies zeigte sich vor allem bei dem bereits 1860 ausgearbeiteten ersten Statutenentwurf der 1863 gegründeten Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland (OPE), in dem gebildete junge Leute dazu aufgerufen wurden, ihr Wissen an die in der russischen Sprache Schreib- und Leseunkundigen wei-

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Geheimgesellschaft, der am 14. 9. 1859 zusammen mit 16 anderen Mitstreitern, darunter der jüdische Student Venjamin Portugalov (1835 – 1896), die Petition um Eröffnung einer ersten solchen Lehranstalt beim Kurator des Kiewer Lehrbezirks eingereicht hatte. Vgl. Obsˇcˇestvenno-politicˇeskoe dvizˇenie, 41, FN 1. Woher wiederum Voronoj diese Idee hatte, ist nicht bekannt. Entweder war sie ihm aus Odessa zugetragen worden oder aber Pirogov selbst hatte die Studenten bzw. Voronoj dazu ermuntert, eine Sonntagsschule zu gründen. AZJ 18, 30. 4. 1861, 253. Vgl. Krumbholz, Elementarbildung, 79. Allein in der Ukraine gab es zu diesem Zeitpunkt 110 solcher Lehranstalten. Vgl. Serbyn, Socit, 165. Vgl. Zelnik, Sunday-School, 160 – 162. Zur Sabbat-Schule in Zˇitomir vgl. Brief von Rabbiner Binsˇtok in Tsion 34, 23. 2. 1862, 544 – 546. Zur Sabbat-Schule in Minsk vgl. die Briefe von Rabbiner Minor in: Tsion 22, 1. 12. 1861, 350 – 351; Tsion 34, 23. 2. 1862, 546; Beit-ha-sefer leva’i ha-schabat be-Minsk (Die kommende Schabbat-Schule in Minsk), in: Ha-Melits 6, 9./21. 11. 1861, 91 – 92. 1861 wurde am Wilnaer Rabbinerseminar eine Sabbat-Schule, an der jüdische Lehrer und Seminaristen unterrichteten, eröffnet. Vgl. Dohrn, Rabbinerseminar, 394. Zur Sabbat-Schule in Berdicˇev vgl. Tsion 22, 1. 12. 1861, 351 – 352. Vgl. Subbotno-voskresnaja ˇskola v Poltave (Die Samstag-Sonntag-Schule in Poltava), in: Prilozˇenie k Gakarmelju 1 (1860/61), Nr. 46 und Nr. 47. Vgl. zu den Sabbat-Schulen im Russländischen Reich allgemein: Bramson, istorii, 330 – 331.

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terzugeben, und auch betont wurde, dass die neue Vereinigung spezielle Kurse für die Arbeiterschicht mit den Fächern Russisch, Arithmetik und Bibel einrichten wolle.433 Wie Zipperstein zu Recht bemerkt, orientierte sich all dies direkt am System der damaligen Sonntagsschulen. Was er aber übersieht, ist die Tatsache, dass die ganze Bewegung ihren Ursprung in der Sabbat-Schule Goldenblums hatte, die er mit keinem Wort erwähnt.434 Doch nahezu von Anfang an zeigte sich, dass die Regierung in der Frage uneins war, wie diese Bewegung zu bewerten sei. Während das Bildungsministerium – wie auch zunächst das Innenministerium – die Sonntagsschulen befürwortete und die Hoffnung hegte, diese in einen Hort konservativer Kräfte verwandeln und somit revolutionäre Bestrebungen eindämmen zu können, sahen die Dritte Abteilung, die Geheimpolizei, wie auch der Kiewer Generalgouverneur schon bald nicht näher zu bestimmende subversive Elemente in diesen Einrichtungen am Werk.435 Als im Mai 1862 eine Serie von Bränden in St. Petersburg ausbrach, deren Urheber nach Meinung der Regierung Revolutionäre waren, und darüber hinaus gleichzeitig in einigen wenigen Fällen aufrührerisches Propagandamaterial bei Lehrern von Sonntagsschulen gefunden wurde, war das Schicksal dieser Lehranstalten besiegelt. Für die Regierung stellten sie eine Bedrohung der öffentlichen Ordnung dar, der man mit konsequenten Maßnahmen begegnen müsse. Am 10. Juni 1862 ordnete sie die Schließung aller Sonntagsschulen (nur nicht in den Ostseeprovinzen) und ebenso aller Sabbat-Schulen an, doch durfte mit allerhöchster Erlaubnis des Zaren Goldenblums Einrichtung in Odessa bestehen bleiben,436 ein deutliches Zeichen dafür, welch hohe Wertschätzung sie bei der Obrigkeit genoss. 1864 sollten die Sonntagsschulen wieder legalisiert werden, jedoch nicht mehr als unabhängige Einrichtungen, sondern als Teil des offiziellen Elementarschulwesens. Da aber in der Öffentlichkeit diese Schulen diskreditiert und auch die ehemaligen Lehrer desillusioniert waren, verband sich mit der Wiederzulassung zunächst keine Wiederbelebung der Bewegung. Erst seit den 80er Jahren und schließlich verstärkt seit den 90er Jahren begannen die Sonntagsschulen im Zuge der rapiden Industrialisierung, die auch eine kulturelle Hebung der Arbeiterklasse erforderlich machte, wieder aufzublühen.437 ˇ erikover, Istorija, 40. 433 Vgl. C 434 Vgl. Zipperstein, Heder, 102 – 103. 435 Vgl. bspw. den Brief des Kiewer Generalgouverneurs Vasil’cˇikov an Pirogov vom 13. 2. 1860, in dem eine strenge Überwachung der Sonntagsschulen gefordert wird. Vgl. auch den Brief Pirogovs an Vasil’cˇikov vom 23. April 1860, in dem der Kurator des Kiewer Lehrbezirks den Vorschlag des Generalgouverneurs ablehnt, Lehrer der Sonntagsschulen zu entlassen, wenn der Verdacht besteht, sie hätten in Beziehung zu verhafteten revolutionär gesinnten Studenten gestanden. Vgl. Obsˇcˇestvenno-politicˇeskoe dvizˇenie, 41, 62. 436 Vgl. AZJ 1, 1. 1. 1863, 10; Zelnik, Sunday-School, 154 – 159; Krumbholz, Elementarbildung, 79 – 82. Es muss jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass das System der Sonntagsschulen seit 1861 auch von einer inneren Krise betroffen war. Zu den Gründen vgl. Krumbholz, Elementarbildung, 97 – 102. 437 Vgl. Zelnik, Sunday-School, 170. Der Artikel zu den Sonntagsschulen im Brokgauz-Efron

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196 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Ebenso scheinen auch viele der Sabbat-Schulen zunächst wieder eingegangen zu sein.438 Nur die von Goldenblum geleitete Anstalt in Odessa, „wo die jüdische Bevölkerung der Institution lebhafte Sympathien entgegenbrachte“,439 blieb von staatlicher Restriktion und Krisen verschont. Zwar hatte man wegen des offiziellen Verbots der Sonntags- und Sabbatschulen zunächst auch im überarbeiteten Entwurf der OPE alle direkten wie indirekten Bezüge zu den Zielen dieser Lehranstalten sorgfältig gestrichen, doch blieben diese Ziele in der Folgezeit für die Vereinigung einer der Hauptansatzpunkte bei der Modernisierung des jüdischen Bildungswesens im Zarenreich.440 Schon bald sollten – beispielsweise 1867/68 in Berdicˇev441 und Nikolaev442 – zum Teil mit Hilfe der OPE weitere Sabbat- und Abendschulen im Zarenreich gegründet werden, so dass um 1900 ungefähr 25 solcher Einrichtungen existierten, wobei die in Odessa, St. Petersburg und Char’kov von größter Bedeutung waren.443 Dabei zeigte sich, wie die von Goldenblum initiierte Idee im Laufe der Zeit eine gewisse Transformation erfahren hatte. Während seine Anstalt nur für männliche Juden – Handwerkslehrlinge – vorgesehen war, sollte um die Jahrhundertwende die Mehrheit der Sabbat- und Abendschulen dem weiblichen Geschlecht vorbehalten sein.444 Ebenso war auch die Unterrichtssprache nicht Deutsch, wie zunächst in der Odessaer Sabbat-Schule, sondern unterrichtet wurde in Russisch und Jiddisch, das als Hilfsmedium der Wissensvermittlung diente. Und schließlich blieb das Wesen der Sabbat- und Abendschulen auch nicht von der Herausbildung neuer säkularer, politischer Strömungen nach dem Ende der Haskala unberührt. So wurde beispielsweise im März 1900 aus Rovno berichtet, dass die dortigen Zionisten eine Samstagsschule gegründet hätten, „in welcher für die niedrigen Schichten des jüdischen Volkes hebräische Sprachkurse stattfinden“.445 Insofern war also die

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erweckt allerdings den Eindruck, dass zumindest seit den 70er Jahren wieder neue Sonntagsschulen entstanden. Vgl. Vos’kresnyja ˇskoly, in: Enciklopedicˇeskij slovar’, Bd. 7, 257 – 258. Vgl. Bramson, istorii, 331. Raisin behauptet, dass 1870 sogar ein Ukaz erlassen worden sei, dass alle Sabbat- und Abendschulen geschlossen werden mussten. Vgl. Raisin, Haskalah, 253. Allerdings versäumt er es, dies auch zu belegen. Insofern bleibt unklar, ob dies tatsächlich der Fall war. Vgl. Meisl, Haskalah, 147. Vgl. Zipperstein, Heder, 103. Zur Eröffnung der Sabbat-Schule in Berdicˇev vgl. Prilozˇenie k Gakarmelju 10, 17. 6. 1866, 48. Zur Sabbat-Schule in Nikolaev vgl. Prilozˇenie k Gakarmelju 38, 7. 4. 1867, 164. Vgl. Subbotnija sˇkoly, voskresnyja ili religioznyja, in: EE, Bd. 14, 603; Raisin, Haskalah, 239. Eine Liste der Sabbat- und Abendschulen im Zarenreich um die Jahrhundertwende ist zu finden in Spravocˇnaja kniga, 452. Dass es dabei auch noch nach der Jahrhundertwende Widerstände von Seiten der Obrigkeit gab, zeigt der Fall einer gewissen Chalfin, die in Balta eine jüdische Privatschule für Mädchen leitete und schließlich die Behörden auch um Eröffnung einer Samstagsschule für arme jüdische Mädchen bat. Dieses Ansinnen wurde aber vom Kurator des Kiewer Lehrbezirks abgelehnt. Vgl. Die Welt 52, 26. 12. 1902, 19. Die Welt 9, 2. 3. 1900, 10.

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von Goldenblum realisierte Idee einer Sabbat-Schule auf vielfältige Weise rezipiert und adaptiert worden.

1.5 Die Gründung von Volksschulen: Ein Ausweg aus der Bildungskrise? Goldenblum sollte schon bald einen Mitstreiter erhalten bei seinen Bestrebungen, durch die Reform der Talmud-Tora und die Gründung einer SabbatSchule gerade auch den ärmeren Schichten der jüdischen Bevölkerung in Odessa die Möglichkeit zum Erwerb säkularer Bildung, aber auch religiöser Kenntnisse zu geben. Seit Anfang 1861 amtierte der aus dem Württembergischen Oberdorf stammende Dr. Simon Schwabacher (1819 – 1888) als offizieller Rabbiner der Odessaer jüdischen Gemeinde.446 Gemäß dem aufgeklärten Selbstverständnis eines deutschen Rabbiners musste auch ihm eine moderne Schulerziehung für jüdische Kinder besonders am Herzen liegen. Als er im selben Jahr bei der feierlichen Eröffnung einer jüdischen Volksschule auf dem Alten Bazar eine Rede hielt, konnte er seine Verwunderung nicht verhehlen, dass in einer so mitgliederstarken Gemeinde wie Odessa nunmehr erst die dritte Volksschule eröffnet werde. Interessanterweise versäumte es Schwabacher – ähnlich wie Neumann zuvor – auch nicht, auf die bedauernswerte ökonomische Lage der Lehrer, ein Problem mit fatalen Konsequenzen, hinzuweisen. Nach Meinung des deutschen Rabbiners fiel es nämlich dem Vater, der bezüglich der Zukunft seiner eigenen Kinder nicht beruhigt sein konnte, schwer, sich gänzlich der Erziehung fremder Kinder zu widmen. Der Korrespondent des Sion pflichtete zwar der Äußerung des „verehrten Rabbiners“, „wie wenig noch entschieden Nützliches in unserer Gemeinde getan wurde“, vollständig bei, bemerkte aber auch, „dass die Angelegenheit unserer Volksbildung vorankommt, vor allem in Odessa“.447 Diese optimistische Ansicht scheint Schwabacher indessen nur bedingt geteilt zu haben. Zweieinhalb Jahre später übersandte er Zar Alexander II. eine Denkschrift zur Reform des russländischen Judentums, in der er unter anderem eine Modernisierung des jüdischen Elementarschulwesens im Reich forderte, würde doch „eine gut unterrichtete Jugend […] einen guten Bürgerstand“ abgeben. In diesem Zusammenhang verwies Schwabacher auf seine als Prediger und Inspektor jüdischer Schulen in Lemberg gesammelten Erfahrungen, eine Bemerkung, die ein deutliches Misstrauensvotum gegenüber den jüdischen Kronschulen bedeutete, die seiner Meinung nach offenbar weder qualitativ noch quantitativ die in sie gesetzten Erwartungen erfüllten. Gerade von Volksschulen erhoffte sich Schwabacher aber einen grundlegenden Wandel. Die jüdische Jugend würde sich die Ideen der Aufklärung und säkulares Wissen aneignen und auf diese Weise zu nützlichen Untertanen werden, wobei sie auch noch die ältere 446 Zu Schwabachers Wirken in Odessa vgl. Grill, Rabbi, 199 – 222. 447 Vgl. Sion 21, 24. 11. 1861, 333.

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198 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Generation beeinflussen würde. Dies klang alles sehr einleuchtend. Aber Schwabacher war mit den Verhältnissen des osteuropäischen Judentums so weit vertraut, dass seiner Meinung nach „voraussichtlich die unwissende Masse ihre Kinder nicht freiwillig in die Schule schiken wird“. Doch auch hierfür hatte er eine Lösung. Während bislang zur Erhöhung der Akzeptanz moderner jüdischer Schulen zumeist restriktive Maßnahmen gegen die traditionellen jüdischen Elementarschulen, die Chadarim, erwogen worden waren, schlug der deutsche Rabbiner nun einen anderen Weg vor, der uns bereits im Zusammenhang mit den jüdisch-deutschen Schulen in Galizien Ende des 18. Jahrhunderts begegnet ist: die Einführung des „Schulzwangs“. Die Lehrer sollten über den regelmäßigen Schulbesuch Buch führen und monatlich den Behörden Meldung erstatten, die dann gegen diejenigen, die den Unterricht nicht besuchten, Maßnahmen ergreifen sollten. Um aber grundsätzlich sicherzustellen, dass die von ihm vorgeschlagenen Schulen „im rechten Geiste geleitet werden“, hielt es Schwabacher für empfehlenswert, „Zöglinge der Rabbinerschulen, oder auch deutsche Rabbinen vorerst in allen größeren Gemeinden anzustellen, denen die Aufsicht resp.: Mitwirksamkeit in der Schule zur Pflicht gemacht, indem zu erwarten, daß diese im Geiste der Neuzeit gebildeten jungen Männer alle bessere Bestrebungen gewissenhaft fördern helfen“.448 Damit wiederholte er zumindest partiell den einige Jahre zuvor (erneut) geäußerten Vorschlag eines russländischen Juden, deutsche Rabbiner oder deutsch-jüdische Lehrer in den jüdischen Gemeinden des Zarenreichs anzustellen, da sie auf Grund ihres aufgeklärten Selbstverständnisses und ihrer zeitgemäßen Bildung den Lehranstalten das gewünschte moderne Gepräge geben würden. Dies galt nach Schwabachers Meinung aber gleichermaßen für die Absolventen der beiden Rabbinerschulen. Demnach erkannte der deutsche Rabbiner – im Gegensatz zu vielen anderen russländischen Maskilim – die Leistungen dieser Einrichtungen durchaus an. Schwabachers Memorandum wurde zwar erst 1884, also 20 Jahre später, publiziert, jedoch wenige Monate, nachdem es eingereicht worden war, in der Presse ausführlich besprochen. Offenbar hatte der deutsche Rabbiner seine Denkschrift dem damals bekannten Dr. Wilhelm Wolfsohn (1820 – 1865) zugespielt, einem in Odessa geborenen Juden deutscher Herkunft, der das dortige jüdische Gymnasium besucht hatte und daher mit den örtlichen und regionalen Verhältnissen vertraut war. Wolfsohn, der in Deutschland studiert und sich schließlich in Dresden niedergelassen hatte, gab seit 1862 die in Leipzig erscheinende Russische Revue. Zeitschrift zur Kunde des geistigen Lebens in Rußland – ab 1864 Nordische Revue. Internationale Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben – heraus, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, der interessierten deutschen Leserschaft russische Literatur und Kultur in Form von Übersetzungen und Berichten näherzubringen. Ebenso spielte aber auch die Entwicklung des russländischen Judentums eine Rolle. Nicht 448 Schwabacher, Vater, 20 (diese Angabe bezieht sich auch auf die vorangegangenen Zitate).

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einmal ein halbes Jahr, nachdem Schwabacher seine Denkschrift bei der Regierung eingereicht hatte, wurde sie in der Nordischen Revue ausführlich dargestellt und kommentiert. Philippsons ebenfalls in Leipzig erscheinende AZJ zitierte schließlich kurz darauf diesen wohl von Wolfsohn selbst stammenden Beitrag in voller Länge als Leitartikel über zwei Ausgaben. Darin wurde auch der Vorschlag des deutschen Rabbiners (der als „russischer Rabbiner“ bezeichnet wurde) erwähnt, jüdische Volksschulen zu gründen, und seine Empfehlung, für die Aufsicht und Mitwirkung in diesen Einrichtungen Absolventen der beiden Rabbinerseminare oder auch deutsche Rabbiner anzustellen, mit den Worten kommentiert, dass man „die tiefe Verkommenheit der überwiegenden Mehrzahl im russischen Judenthume kennen [muß], um sich mit dem […] Vorschlage zu befreunden“.449 Und auch für die Redaktion der AZJ, also für Rabbiner Philippson, standen die Bildungsferne und Bildungsfeindlichkeit der Mehrheit der Juden des Zarenreichs außer Frage, wenn dieser darauf hinwies, dass „das Schulwesen inmitten einer großen, ungebildeten Volksmasse, die von den Segnungen der Schule keinen Begriff hat und ihr vielmehr feindlich gesinnt ist, der materiellen und geistigen Pflege“ bedürfe. Dies gelte umso mehr, als die russländischen Juden nicht, wie einst ihre Glaubensgenossen in Deutschland, in dieser Beziehung „ein erleuchtendes Beispiel in der christlichen Bevölkerung“450 hätten. Unausgesprochen bedeutete dies, dass gerade auf Grund des völlig unzureichenden Schulwesens der christlichen Untertanen im Russländischen Reich ein modernes Erziehungswesen unter den Juden kaum Fuß fassen konnte, da ihnen Vorbild und Ansporn fehlten, ein Gedanke, der keineswegs aus der Luft gegriffen war. Die Regierung, die Schwabachers Memorandum sonst weitgehend ignorierte, beachtete aber seinen Vorschlag, die jüdischen Kinder zum Schulbesuch zu zwingen und den Einfluss der gebildeten Rabbiner auf die Schulen zu vergrößern. Ungefähr zwei Monate nach Einreichung der Denkschrift wies das Departement für fremde Konfessionen des Innenministeriums in einem Gutachten an das Bildungsministerium auf diesen Passus hin, wobei es zu bedenken gab, dass das Jüdische Komitee seinerzeit bei der Beratung über die Errichtung einer örtlichen Verwaltung für die Juden vor allem auch den Einfluss der Rabbiner auf die schulische Erziehung der Juden im Sinn gehabt habe. Daher habe man vorgehabt, die Bezirksrabbiner zu verpflichten, den ordnungsgemäßen Ablauf des jüdischen Religionsunterrichts in den staatlichen und privaten Lehranstalten zu kontrollieren und bei allen Unregelmäßigkeiten in den letztgenannten Einrichtungen der Schulbehörde sofort Mitteilung zu machen.451 Diese Bemerkung sollte offenbar unterstreichen, dass 449 Die Emancipation der Juden in Deutschland, in: AZJ 9, 28. 2. 1865, 128. 450 Die Emancipation der Juden in Deutschland, in: AZJ 9, 28. 2. 1865, 129 – 130. 451 Vgl. Brief des Departement für fremde Konfessionen an das Bildungsministerium, 20. 10. 1864. RGIA, 821, 8, 513, 21 – 22.

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200 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Schwabachers Idee nicht ganz abwegig war, da sie in ähnlicher Weise schon vom Jüdischen Komitee ins Auge gefasst worden war. Von der Anstellung ausländischer Rabbiner – was seit 1857 in Ausnahmefällen gesetzlich ausdrücklich erlaubt war – oder der Gründung von Volksschulen war hingegen keine Rede. Wenn der Vorschlag des deutschen Rabbiners, jüdische Volksschulen zu gründen, den Schulzwang einzuführen und die neuen Einrichtungen unter die Aufsicht gebildeter Rabbiner zu stellen, nicht berücksichtigt wurde, lag dies möglicherweise daran, dass er nichts Neues enthielt. Denn kurz zuvor hatte Michail Murav’ev (1796 – 1866), der Generalgouverneur von Wilna, Kovno, Grodno und Minsk, damit begonnen, in Wilna derartige Maßnahmen umzusetzen, wobei dies mit Schwabacher kaum in Verbindung gestanden haben dürfte. Anfang Januar 1864, also mehr als ein halbes Jahr, bevor der Rabbiner sein Memorandum eingereicht hatte, waren in Wilna kostenfreie Volksschulen für die jüdische Jugend zur Vermittlung von säkularen Elementarkenntnissen (Russisch, Arithmetik und Kalligraphie) eingeführt worden. Da gleichzeitig der Unterricht in russischer Sprache obligatorisch wurde, schrieb man nun den Eltern vor, ihre Söhne vom achten bis 17. Lebensjahr entweder in die staatlichen Lehranstalten oder in die für die Juden eröffneten Volksschulen zu schicken oder aber Hauslehrer zu engagieren, die eine Genehmigung für den Hausunterricht vorweisen konnten. Damit hatte man in Wilna in gewisser Weise die Schulpflicht für jüdische Knaben eingeführt. Selbst die Vorsteher der Jeschivot waren von nun an verpflichtet, in ihren Anstalten Elementarkenntnisse der russischen Sprache sowie Arithmetik im Umfang des Volksschulunterrichts zu vermitteln. Sollten die Jeschivot nicht die finanziellen Mittel haben, um besondere Lehrer für diese Zwecke zu beschäftigen, so waren sie angehalten, ihre Zöglinge in die Volksschulen zu schicken. Innerhalb von nur zwei Monaten entstanden acht jüdische Volksschulen in Wilna, die – wie es Schwabacher kurz darauf in ähnlicher Weise empfehlen sollte – unter der Leitung des Direktorats des Wilnaer Rabbinerseminars standen und von immerhin 732 Knaben besucht wurden. Ebenso entstanden auch in Kovno zwei derartige Anstalten. Darüber hinaus richtete der Gouvernementsschuldirektor noch vier Volksschulen für jüdische Mädchen in Wilna ein, in denen 240 Schülerinnen Unterricht erhielten. Als Postel’s einige Monate später im Rahmen seiner Inspektionsreise diese neuen Lehranstalten besuchte, war er voll des Lobes.452 Mit der Gründung dieser Volksschulen hatte man in Wilna eine deutliche Abkehr vom bisherigen Konzept, wie es in den staatlichen jüdischen Schulen zum Ausdruck kam, vollzogen, indem man nun den jüdischen Religionsunterricht – in welcher Form auch immer – den Eltern oder den jüdischen Gemeinden überließ. Deutlich erkennbar war dies auch daran, dass man in Wilna eine Volksschule für die Bachurim der Jeschivot und eine für die Zöglinge der Talmud-Tora einrichtete und auch nur 12,5 Wochen452 Vgl. Otcˇet Postel’sa, 65 – 68.

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stunden in Anspruch nahm, womit also noch ausreichend Zeit für den Unterricht der religiösen Gegenstände in den traditionellen jüdischen Lehranstalten blieb. Mit dem Verzicht auf (modernen) Religionsunterricht in den jüdischen Volksschulen hatte man in Wilna zumindest einen wesentlichen Konfliktbereich beseitigt, der der Akzeptanz zeitgemäßer Lehranstalten bis dahin im Weg gestanden hatte. Diese Kehrtwendung der Obrigkeit in Wilna war zweifellos ein Anzeichen dafür, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis die jüdischen Kronschulen – wenigstens in ihrer ursprünglichen Form – verschwunden wären. Im März 1873 war es schließlich so weit: Auf Grund eines Ukaz wurden alle staatlichen jüdischen Schulen zweiter Ordnung sowie die Hälfte der 100 bestehenden Anstalten erster Ordnung geschlossen. Die große Mehrheit der übrigen 50 Anstalten wurde in ein- und zweiklassige jüdische Elementarvolksschulen umgewandelt,453 ähnlich wie sie seit 1864 in Wilna und Kovno bestanden. Damit zog man nicht nur die Konsequenzen aus der größtenteils mangelnden Akzeptanz der bisherigen Kronschulen, sondern wollte auch einen neuen Anlauf nehmen, um die jüdische Jugend zum Besuch der nichtjüdischen Volksschulen zu ermuntern, deren Attraktivität seit 1870, als die nichtchristlichen Schüler von der Lektüre kirchenslawischer Bücher befreit wurden, zugenommen haben dürfte. Damit war der seinerzeit geäußerte Vorschlag Schwabachers, (jüdische) Volksschulen zu errichten, zum Teil realisiert worden. Als 1875 der russische Bildungsminister Dmitrij Tolstoj (1823 – 1889) der Odessaer Hauptsynagoge einen Besuch abstattete, ließ es sich Schwabacher nicht nehmen, in seiner Rede auf die außerordentliche Bedeutung der Volksschule für die gesamte, insbesondere aber auch jüdische Bevölkerung, hinzuweisen.454 Seine Äußerung ließ allerdings erkennen, dass er nicht mehr von jüdischen Volksschulen sprach, wie zu der Zeit, als er in seinem Memorandum deren Gründung angeregt hatte, sondern von allgemeinen Volksschulen, deren rechtliche Verfassung im Statut vom 14. Juli 1864 geregelt worden war.455 Für den deutschen Rabbiner war der Besuch dieser Lehranstalten durch jüdische Kinder ein wichtiger Beitrag zur Integration des Judentums in die Mehrheitsgesellschaft, ein Prozess, der zwar noch nicht vollendet sei, aber, wie man hoffe, noch zum Abschluss gelangen werde. Nur wenige Jahre später sollte sich zeigen, dass die jüdische Jugend – vor allem in Odessa – vom Angebot des Besuchs staatlicher (nichtjüdischer) Bildungseinrichtungen tatsächlich starken,456 für die Obrigkeit zu starken Gebrauch 453 454 455 456

Vgl. Kazennyja evrejskija ucˇilisˇcˇa, in: EE, Bd. 9, 113. Vgl. Schwabacher, Einst, 9, 11 – 12. Vgl. zu diesem Statut Krumbholz, Elementarbildung, 266 – 274. Dies galt allerdings kaum für die allgemeinen Volksschulen, sondern vor allem für die Mittelund Hochschulen. Im Odessaer und Wilnaer Lehrbezirk war darüber hinaus der Anteil jüdischer Schüler in den dortigen Stadt- und Kreisschulen mit 19,5 bzw. zwanzig Prozent sehr hoch. Vgl. Prosvesˇcˇenie, in: EE, Bd. 13, 57 – 58.

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202 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert machte, was zu restriktiven Gegenmaßnahmen führte. Noch im selben Jahr, als der Bildungsminister die Odessaer Hauptsynagoge besuchte, wies er im Ministerkomitee auf die Unmöglichkeit hin, sämtlichen Juden, die nach Aufnahme in die allgemeinen Lehranstalten trachteten, einen Platz zu gewähren, ohne dabei die christliche Bevölkerung einzuengen.457

1.6 Abraham Neumann und die Gründung einer modernen jüdischen Schule in St. Petersburg Als Neumann 1863 Rabbiner in St. Petersburg wurde und somit sein Wirken in einer Gemeinde begann, die weder rechtlich anerkannt war noch über entsprechende Strukturen verfügte, drängte sich sofort die Frage nach der Bildung der jüdischen Jugend auf. Angeblich soll der deutsche Rabbiner schon in seiner Antrittspredigt die Gründung einer Schule für Knaben und Mädchen zu einem seiner Vorhaben erklärt und in dieser Hinsicht auch erste Schritte eingeleitet haben.458 Zunächst konnte er jedoch nichts erreichen. Als aber 1864 ein Missionar in Petersburg auftauchte, der es mit seinen Predigten verstand, jüdische Kinder in lutherische Asyle und Schulen zu locken, entschloss sich Neumann, sofort eine Talmud-Tora zu gründen. Da er indessen nicht wusste, wie er dieses Vorhaben allein umsetzen konnte, soll er sich an einen gewissen Chone Kahan gewandt haben, einen traditionsorientierten, weltlich nicht gebildeten Juden Petersburgs, der über ein gewisses Ansehen verfügte, mit dem Neumann aber schon häufiger aneinandergeraten war. Nachdem Kahan jedoch seine Unterstützung verweigert hatte, suchte Neumann Goracij Ginzburg (1833 – 1909) auf, den inoffiziellen Repräsentanten der Petersburger Juden. Dieser sicherte ihm seine Hilfe zu, ebenso wie es pensionierte jüdische Soldaten taten, die ihm sogar 1 500 Rubel für die Unterhaltung der Schule zur Verfügung stellten. Allerdings soll Kahan gegen das Projekt einer Talmud-Tora intrigiert haben, so dass über Monate hinweg in den informellen Gemeindeversammlungen keine Mehrheit für die Errichtung einer solchen Anstalt zustande kam.459 Wegen des fehlenden Konsenses beschloss die jüdische Gemeindeelite schließlich, vom Vorhaben der Gründung einer „im Geiste Pyrogof ’s projectirte[n] 8L9N 79B@N [hebr.: talmud tora], welche als Muster für ganz Rußland dienen sollte“,460 abzurücken und stattdessen eine private Lehranstalt zu errichten. Zu diesem Zweck beauftragte man einen gewissen Lazar’ Berman (1830 – 1893), bei den zuständigen Behörden um eine entsprechende Erlaubnis 457 Vgl. Prosvesˇcˇenie, in: EE, Bd. 13, 51. 458 Vgl. Erwiderung, in: AZJ 9, 28. 2. 1865, Beilage, o. P.; AZJ 15, 10. 4. 1866, 235; Dr. Abraham Neumann. Eine Lebensskizze, in: AZJ 42, 17. 10. 1876, 682. 459 Vgl. Dr. Abraham Neumann. Eine Lebensskizze, in: AZJ 42, 17. 10. 1876, 682 – 683. 460 Dr. Abraham Neumann. Eine Lebensskizze, in: AZJ 42, 17. 10. 1876, 683.

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nachzusuchen. Gleichzeitig war Berman aber auch als künftiger Schulleiter vorgesehen, wobei es unwahrscheinlich ist, dass man Neumann, den „bewährtesten Pädagogen unter den Juden Rußlands“, wie ihn sein Biograph bezeichnete, auf Grund des Widerstands um Kahan und seine Anhänger „von der directen Leitung“ der neuen Anstalt ausschloss.461 Vielmehr wird Neumann von sich aus auf die nervenaufreibende Arbeit eines Schulleiters verzichtet haben. Berman war im Übrigen mit Bedacht gewählt worden, wobei es durchaus möglich ist, dass Neumann ihn selbst als künftigen Schuldirektor vorgeschlagen hatte, da er ihn vielleicht schon kannte. Berman war im kurländischen Friedrichstadt geboren, hatte dort den Cheder sowie die Kreisschule besucht und schließlich als Privatlehrer gearbeitet. 1854 übersiedelte er nach Mitau und eröffnete dort sieben Jahre später eine allgemeinbildende Privatschule für jüdische Knaben.462 Ob er sich dabei nach dem Vorbild der Rigaer jüdischen Gemeindeschule richtete, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, ist aber keineswegs abwegig, wenn man bedenkt, dass sich die aufgeklärten jüdischen Kreise in Mitau allgemein stark an der nur 50 Kilometer entfernten Stadt an der Düna orientierten.463 Angesichts dieses biographischen Hintergrunds ist es also durchaus möglich, dass sich Neumann und Berman bereits kannten und dem deutschen Rabbiner Bermans pädagogische wie administrative Fähigkeiten bewusst waren. Hierfür spricht auch, dass Neumann gegenüber der Obrigkeit nicht nur versprach, den Vorsitz des Komitees für Angelegenheiten des Schuletats zu übernehmen, sondern sich auch für den moralisch einwandfreien Lebenswandel des künftigen Schuldirektors verbürgte.464 Im Juli 1864 stellte Berman beim Kurator des Petersburger Lehrbezirks den Antrag, eine Talmud-Tora (nun war also wieder von einer Gemeindeschule die Rede) für die Söhne armer jüdischer Soldaten und anderer in der Hauptstadt lebender Juden eröffnen zu dürfen. Noch ehe die Genehmigung des Innenministeriums vorlag, veranlasste der Petersburger Generalgouverneur Suvorov, der zuvor Generalgouverneur der Ostseeprovinzen war und mit Neumann in einem freundschaftlichen Verhältnis stand, die Eröffnung der neuen Schule im Herbst desselben Jahres. Die Schule, die nach dem Satzungsentwurf auf zwei Klassen angelegt war, die jeweils zwei Jahre dauern sollten, entsprach einer modernen jüdischen Lehranstalt, in der die jüdischen Gegenstände intensiv unterrichtet, aber auch säkulare Kenntnisse vermittelt wurden.465 Be461 Dr. Abraham Neumann. Eine Lebensskizze, in: AZJ 42, 17. 10. 1876, 683. 462 Behrmann, Lazar Jakovlevich, in: JE, Bd. 2, 646; Berman, Lazar Jakovlevicˇ, in: EE, Bd. 4, 281 – 282 (Die Jewish Encyklopedia ist deutlich besser informiert als die Evrejskaja Enciklopedia!). 463 Postel’s, der 1864 das jüdische Schulwesen inspizierte, erwähnte allerdings die Privatschule von Berman nicht, sondern nur die im Oktober 1863 von Rabbiner Pucher gegründete Privatschule für jüdische Knaben. Vgl. Otcˇet Postel’sa, 69 – 70. 464 Vgl. Kleinmann, Orte, 248. 465 Zur Gründung und Entwicklung der Berman-Schule vgl. die exzellente Darstellung bei Kleinmann, Orte, 248 – 262, inbes. 248 – 250.

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204 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert trachtet man den Lehrplan der zwei Jahre umfassenden ersten Klasse, so fällt auf, dass er qualitativ und quantitativ im Großen und Ganzen mit dem Curriculum der jüdischen Kronschulen in Kurland übereinstimmte. Nur der gesonderte Hebräischunterricht war in der Berman-Schule mit sechs gegenüber zwei Wochenstunden deutlich ausgeprägter. Insofern hatte sich Berman (wie vielleicht auch Neumann) offenbar an den in Kurland gesammelten Erfahrungen orientiert. Dies mag übrigens auch in negativer Hinsicht gelten. Denn der Lehrplan der neuen Schule für die zweite Klasse ließ qualitativ und quantitativ eine deutliche Betonung der jüdischen Gegenstände erkennen. Diese beliefen sich nicht nur auf mehr als 60 % der Wochenstunden, sondern sie waren auch verhältnismäßig umfassend. Neben dem Hebräischunterricht, der anhand des Pentateuch, der Propheten, der Psalmen und des RaschiKommentars erteilt wurde, waren insgesamt elf Wochenstunden Mischnaund Gemara-Traktaten, vier Stunden dem Schulchan Aruch sowie weitere vier Stunden der Lektüre des Siddur (jüdisches Gebetbuch) und der Haftara466 vorbehalten.467 Damit hatte man versucht, zumindest theoretisch den Vorbehalten traditionsorientierter Juden gegenüber modernen jüdischen Schulen Rechnung zu tragen. In der ersten Zeit nach der Eröffnung stieß die Lehranstalt auf großen Zuspruch, so dass wegen des Andrangs immer wieder neue Unterrichtsräume bezogen werden mussten.468 Im August 1865 genehmigte auch das Innenministerium die Schule, allerdings mit der Auflage, dass sie von den Juden der Hauptstadt finanziert und von Neumann überwacht werde.469 Dies ließ mehr als deutlich erkennen, über welch hohes Ansehen der deutsche Rabbiner bei der Obrigkeit gerade auch in Bezug auf seine pädagogischen Kenntnisse verfügte. Dieser Umstand hatte sich im Übrigen auch schon kurz zuvor gezeigt, wurde doch Neumann an einem der allgemeinen Gymnasien, an dem auch jüdische Mädchen unterrichtet wurden, als Religionslehrer mit einem geringen Gehalt angestellt. Nicht zu Unrecht kommentierte ein Petersburger Korrespondent dieses Ereignis wie folgt: „Wer die früheren hiesigen Tendenzen mit diesem Factum vergleicht, wird eingestehen, daß dies ein bedeutsamer Fortschritt ist.“470 Aber nicht nur bemittelte und schon akkulturiertere Eltern wünschten für ihre Töchter eine formale Schulausbildung, sondern auch solche der ärmeren Schicht. Die Berman-Schule übte offenbar von Beginn an eine derartige An466 Der am Schabbat-Gottesdienst nach dem Wochenabschnitt gelesene Abschnitt aus den Propheten. 467 Zum Lehrplan der Berman-Schule vgl. Kleinmann, Orte, 249. 468 Vgl. Kleinmann, Orte, 250. 469 Vgl. V. Gessen, istorii, 69 – 70. 470 AZJ 9, 28. 2. 1865, 135. In der Folgezeit wurde offenbar an nahezu allen Knabengymnasien sowie an mindestens zwei Mädchengymnasien der russischen Hauptstadt jüdischer Religionsunterricht erteilt, wobei als Lehrer Berman und Absolventen der beiden Rabbinerschulen in Wilna und Zˇitomir angestellt wurden (vgl. Kleinmann, Orte, 263 – 264), die dementsprechend – wie Neumann – auch eine moderne Ausbildung aufwiesen.

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ziehungskraft aus, dass Goracij Ginzburg, der sie hauptsächlich finanzierte, von Eltern bestürmt wurde, auch die Gründung einer jüdischen Mädchenschule zu initiieren. Nachdem hierfür Bermans Frau gewonnen worden war, nahm bereits im April 1866 der Mädchenzweig der Schule den Unterricht auf. Das Curriculum wies gegenüber dem für die Knaben nicht nur deutlich weniger Wochenstunden auf, sondern räumte auch der religiösen Erziehung mit einem Drittel der Gesamtunterrichtszeit weitaus weniger Raum ein.471 Ursache hierfür war aber wohl kaum eine despektierliche Haltung gegenüber der Religion, sondern vielmehr ein traditionell-religiöses Verständnis, wonach das jüdische Gesetz nur die Unterweisung der Frauen in den für ein frommes Leben notwendigen Kenntnissen verlangte. Insofern fühlte man sich berechtigt, mehr Wert auf die allgemeinbildenden und praktischen Fächer zu legen, um den Zöglingen das für das künftige (Erwerbs-)Leben nötige Wissen zu vermitteln. Obwohl die vom Ehepaar Berman geleitete und von Neumann überwachte Schule zunächst einem Lehrplan folgte, der in weitaus stärkerem Maße die jüdischen Gegenstände berücksichtigte, als dies in den jüdischen Kronschulen, den meisten reformorientierten jüdischen Privatlehranstalten und den christlichen Einrichtungen der Fall war,472 gab es, wie Kleinmann zeigt, erheblichen Protest gegen die moderne Art der religiösen Unterweisung, die die Eltern auch immer wieder veranlasste, ihre Kinder von der Schule zu nehmen. Ein weiterer Grund dürfte aber auch darin gelegen haben, dass sich bereits 1868 das Verhältnis zwischen säkularen und religiösen Unterrichtsgegenständen durch die Hinzunahme allgemeinbildender Fächer wie Geographie, Geschichte, Naturgeschichte und Latein (oder Französisch im Mädchenzweig) umgekehrt hatte.473 Darüber hinaus kam die Schule aber auch noch von anderer Seite unter Beschuss. Ebenso wie Neumann seit 1869 von den Vertretern einer russischsprachigen Aufklärung für seine deutschsprachigen Predigten heftig kritisiert wurde, griff man auch Berman wegen der vermeintlichen Verwendung der deutschen Sprache in seiner Lehranstalt massiv an.474 Eine durch das Medium der deutschen Sprache vermittelte Bildung hatte tatsächlich kaum noch Sinn. Die Beherrschung des Russischen war hingegen sowohl für den Eintritt in eine der Mittel- und Hochschulen als auch im Berufsleben von grundlegender Bedeutung. Allerdings dürfte sich die Kritik der „Russifizierer“ nicht allein gegen das Deutsche, sondern auch gegen den Jargon gerichtet haben. In der Praxis wurde an der Bermanschen Schule wohl zunächst in Jiddisch oder in einem dem Deutschen angenäherten Jiddisch 471 Vgl. Kleinmann, Orte, 250. 472 Dies galt auch für den Mädchenzweig, dessen Religionsunterricht immer noch intensiver war als beispielsweise an einem Gymnasium. 473 Vgl. Kleinmann, Orte, 250 – 251. 474 Vgl. Den’. Organ russkich evreev 1 (1869), 346.

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206 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert unterrichtet, was auch der Hinweis, Berman spreche „nicht schlecht Deutsch“,475 nahelegt. Um diese Zeit spielte es aber keine Rolle mehr, ob es sich um eine fremde „Kultursprache“ oder um den verpönten Jargon handelte. Für die Verfechter eines russischsprachigen Judentums stand die eine wie die andere Sprache dem von ihnen angestrebten Ziel im Weg. Im Umkreis der ebenfalls in der Hauptstadt ansässigen OPE, die sich die Verbreitung von Aufklärung und Bildung mittels der russischen Sprache auf die Fahnen geschrieben hatte und personell eng mit der Reformschule verbunden war, sollte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Lehranstalt zum Russischen als Unterrichtssprache überging. Ein Hindernis in dieser Beziehung war jedoch die Tatsache, dass es bislang kaum russischsprachige Übersetzungen religiöser Werke gab. Also war man gerade im Fach Religion notgedrungen darauf angewiesen, den Unterricht mit Hilfe deutschsprachiger Leitfäden zu erteilen. Insofern war die im Vorfeld der Gründung der OPE geäußerte Meinung Neumanns, die Organisation solle auf die Jugend durch religiös-moralische und gottesdienstliche Bücher in deutscher Sprache Einfluss nehmen,476 nicht allein ideologisch motiviert, sondern in gewisser Weise auch der Realität geschuldet. Solange der Heilige Synod russische Übersetzungen religiöser Werke ablehnte, musste Neumanns Minderheitsmeinung eine Option der OPE bleiben. Als aber seit Ende der 1860er Jahre in dieser Beziehung eine Liberalisierung eintrat, indem einige religiöse Bücher in russischer Sprache erschienen, sperrten sich auch Neumann und Berman nicht mehr gegen diese Entwicklung. So sollte der deutsche Rabbiner 1870 im Namen der OPE sogar den höchst umstrittenen Antrag stellen, in Anlehnung an die vom Heiligen Synod herausgegebene russische Übertragung der Bibel eine russische Übersetzung der Heiligen Schrift in jüdischen Schulen einführen zu dürfen.477 Ebenso zeigte auch Berman seine Bereitschaft, den (Religions-)Unterricht auf Russisch zu erteilen. Allmählich ging er in allen Fächern zur Reichssprache über,478 und 1874 veröffentlichte er schließlich sogar einen russischsprachigen reformorientierten Katechismus, der nicht nur an seiner Schule, sondern auch an anderen jüdischen und nichtjüdischen Lehranstalten des Reiches Verwendung finden sollte und 1880 eine zweite Auflage erlebte.479 Als Berman 1880 einen Rechenschaftsbericht über die jüdischen Schulen in St. Petersburg veröffentlichte und dabei einen Rückblick auf das bisherige Bestehen „seiner“ Schule wagte, wurde eines deutlich: Die 1864 eröffnete und 1866 um einen Mädchenzweig erweiterte Schule war zu einer Bildungs- und 475 Den’. Organ russkich evreev 1 (1869), 346. ˇ erikover, Istorija, 64, 67. 476 Vgl. C 477 Vgl. hierzu AZJ, 22. 3. 1870, 232; Neumann, Entgegnung, in: AZJ 22, 31. 5. 1870, 438 – 439; Den’. Organ russkich evreev 2 (1870), 777, 839. Zu der scharf geführten Kontroverse um die Bibelˇ erikover, Istorija, 97 – 101; Klier, Imperial Russia‘s, 252 – 253. übersetzung vgl. auch C 478 Vgl. Kleinmann, Orte, 251. 479 Vgl. Berman, Osnovy ; Adler, Hands, 88.

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Akkulturationsinstanz ersten Ranges avanciert. Von etwa 25 % der weiblichen und 40 % der männlichen Absolventen besaßen die Bermans Informationen über ihren weiteren Lebensweg. Sehr aufschlussreich ist, dass von den insgesamt 1 500 erfassten Zöglingen ungefähr 800 ihre Schulbildung an Mittelund Hochschulen fortsetzten. Nicht weniger als 90 % der dokumentierten Schülerinnen besuchten nach Abschluss der Bermanschen Schule ein Gymnasium, eine Fachschule oder die Höheren Frauenkurse. Auch wenn unter den erfassten männlichen Zöglingen „nur“ knapp 40 % ihre Ausbildung an Gymnasien, Fachschulen und Universitäten fortführten, so zeigt doch der mit 50 % hohe Anteil derer, die in einem Handwerksbetrieb arbeiteten, der gute Schrift- und Sprachkenntnisse voraussetzte (Setzereien, Druckereien u. Ä.), dass die Schule auch das für den Lebenserwerb notwendige (Grund-)Wissen vermitteln konnte.480 Obwohl die von Berman geleitete Lehranstalt nachweislich zu der von der Regierung propagierten „Verschmelzung“ (slijanie) beigetragen hatte, stieß sie bei der zarischen Obrigkeit auf immer größere Ablehnung. Nachdem man 1873, zwei Jahre vor Neumanns Tod, die Konsequenz aus dem Scheitern der 30 Jahre zuvor verabschiedeten jüdischen Bildungsreform gezogen und das System jüdischer Kronschulen durch deren Schließung oder durch Umwandlung von Anstalten in jüdische Elementarschulen abgeschafft hatte, verweigerte man nun auch der Bermanschen Schule jede finanzielle Unterstützung aus dem Lichterfonds.481 Seit Beginn der 1880er Jahre wurde schließlich die Existenzberechtigung einer eigenständigen jüdischen Schule offen in Frage gestellt, so dass Ende 1884 der Petersburger Stadthauptmann sogar den Versuch unternahm, die Lehranstalt schließen zu lassen. Dies scheiterte jedoch am Einspruch des Bildungsministers, der aus der Sicht seines Ressorts die Leistung der Einrichtung positiv bewertete.482 Warum fiel aber eine erfolgreiche jüdische Schule bei der Obrigkeit derart in Ungnade, dass es sie beinahe die Existenz gekostet hätte? Grundsätzlich zeichnete sich bereits kurz vor dem Ende der Regierungszeit Zar Alexanders II. allgemein eine zunehmend restriktivere Haltung im Umgang mit der jüdischen Bevölkerung ab, die schließlich nach der Ermordung des „Reformzaren“ 1881 und der anschließenden Pogromwelle offen zu Tage trat. Dies betraf insbesondere auch den Bereich der Erziehung. Just in dem Augenblick, als der Regierung bewusst wurde, dass ihre seit Jahrzehnten erhobene Forderung, die Juden sollten sich Bildung aneignen und die allgemeinen Schulen besuchen, in der jüdischen Bevölkerung auf wachsende Resonanz stieß, versuchte sie wieder, rechtliche Einschränkungen in dieser Hinsicht einzufüh480 Zu den Zahlen vgl. Kleinmann, Orte, 257. 481 Bis dahin hatte man jedes Jahr aufs Neue den entsprechenden Betrag aus der Licht-Korobka zugestanden, was jedoch kein grundsätzliches Anspruchsrecht begründete. Vgl. Kleinmann, Orte, 255. 482 Vgl. Kleinmann, Orte, 256 – 259.

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208 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ren.483 Denn die allgemeinen Schulen trugen nicht nur zu einer gewissen Akkulturation ihrer jüdischen Schüler bei – ein Prozess, der schon immer intendiert war –, sondern sie ermöglichten diesen Schülern auch die Akkumulation von kulturellem Kapital, das sie in den Stand setzte, für das künftige Berufsleben besser gerüstet zu sein und auch Zutritt zu gesellschaftlichen Bereichen zu erlangen, die ihnen bisher verschlossen waren. In dem Maße aber, wie die Juden durch den Besuch von Schulen und Universitäten ihr kulturelles Kapital steigerten, nahm auch ihre ökonomische Konkurrenzfähigkeit gegenüber den christlichen Untertanen zu, was der Regierung nicht verborgen bleiben konnte und zwangsläufig eine Reaktion auslösen musste.484 Noch am Ende der Regierungszeit Alexanders II. tauchten die ersten Vorschläge auf, die Zahl der jüdischen Schüler an Mittelschulen durch ein Quotensystem einzuschränken.485 Auf einen entsprechenden Vorschlag des Kurators des Odessaer Lehrbezirks soll Alexander II. Folgendes geantwortet haben: „Ja, und es ist noch nicht lange her, daß wir beabsichtigten, die jüdische Absonderung durch Hineinziehen der Juden in die russischen Lehranstalten zu beseitigen; die Umstände haben sich geändert. Jetzt gibt es mehr Juden als Christen auf den Gymnasien in Odessa.“486

Zunächst plante man, Quoten für den Schulbesuch von Juden aus ärmeren Schichten einzuführen, denn es bestand die Auffassung, dass diese, wie die Erfahrung gezeigt habe, mit dem Erwerb von Bildung Verachtung gegenüber ihren Eltern, Unzufriedenheit mit ihrem Leben und Hass auf die bestehende materielle Ungleichheit entwickelten.487 Kurz gesagt, die Schule machte die verarmten Juden zu potentiellen Revolutionären.488 Was man aber nicht unbedingt erwähnte, war die Tatsache, dass gerade die ärmeren Juden durch den Schulbesuch auch sozioökonomische Aufstiegsmöglichkeiten erhielten, die

483 Vgl. auch Nathans, Pale, 306, der auf den „dramatischen Erfolg jüdischer Integration ins Hochschulwesen“ verweist, der die Autokratie dazu veranlasste, den Anteil jüdischer Studenten zu begrenzen. 484 Vgl. hierzu auch Slezkine, Jahrhundert, 164 – 165. Vgl. auch Nathans, Pale, 261. 485 Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass sich Vertreter der Obrigkeit auch gegen solche Maßnahmen aussprachen. Vgl. Nathans, Pale, 262. 486 Pozner, Evrei, 1914, 47. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung in: Löwe, Antisemitismus, 37. Die Aussage Alexanders II. war freilich übertrieben. Aber zumindest an einem Gymnasium und an einer Handelsschule in Odessa lag der Anteil der jüdischen Schüler im Jahr 1885 bei ca. 75 Prozent. Im ganzen Lehrbezirk belief sich der Anteil jüdischer Schüler an Mittelschulen um diese Zeit auf knapp unter 30 Prozent. Vgl. Prosvesˇcˇenie, in: EE, Bd. 13, 50. 487 Vgl. Löwe, Antisemitismus, 38. 488 So hatte der Innenminister Dmitrij Tolstoj in einem Memorandum an den Zaren explizit darauf hingewiesen, dass jüdische Studenten die Führerschaft der revolutionären Bewegung übernommen hätten. Vgl. Nathans, Pale, 264. In eine ganz ähnliche Richtung äußerten sich auch andere hochrangige Repräsentanten der Obrigkeit. Vgl. Nathans, Pale, 265.

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der Regierung höchst ungelegen kamen.489 Schließlich beschloss man, an Stelle eines „sozialen Numerus clausus“ einen „ethnischen Numerus clausus“ einzuführen, der sich somit auf alle Schichten der jüdischen Bevölkerung bezog. Seit 1882 wurden schrittweise Quoten für jüdische Studenten an bestimmten Instituten und Akademien festgesetzt.490 Seit Juli 1887 war der Zugang von Juden zu Mittel- und Hochschulen innerhalb des Ansiedlungsrayons auf 10 %, außerhalb davon auf 5 % und in den beiden Hauptstädten auf 3 % der Gesamtzahl der Zöglinge begrenzt.491 Später wurden diese Quoten noch weiter gesenkt. Dies hatte zum Teil drastische Folgen, insbesondere in den drei im Südwesten gelegenen Lehrbezirken Kiew, Odessa und Char’kov. Innerhalb von zehn Jahren reduzierte sich die Zahl der jüdischen Schüler an Mittelschulen (Gymnasium und Progymnasium) im Ansiedlungsrayon um 47 %.492 An der Universität Char’kov ging der Anteil jüdischer Studenten in der Zeit von 1886, also kurz vor der Einführung des Quotensystems, bis 1911 um etwa zwei Drittel, in Odessa um ungefähr ein Drittel zurück. Einige Institute, die auf spezielle technische Berufe vorbereiteten, wurden für jüdische Studierende gänzlich geschlossen.493 Mit dieser staatlichen Ausschlussmaßnahme mussten konsequenterweise auch wieder die Errichtung moderner jüdischer Schulen und eine Renationalisierung des jüdischen Schulwesens verstärkt in den Vordergrund der Aktivitäten jüdischer Bildungspolitiker treten, die nun das Ziel einer „nationalen jüdischen Schule“ (nacional’naja evrejskaja sˇkola) propagierten.494 Gleichzeitig zwang die verwehrte Immatrikulation viele potentielle jüdische Studenten,495 sich an einer ausländischen Hochschule – neben der Schweiz sollte sich insbesondere das Mutterland der Haskala, Deutschland, als sehr attraktiv erweisen – einzuschreiben,496 wo sie jedoch um so mehr einer Politisierung und Radikalisierung ausgesetzt waren.497 489 Wie Slezkine bemerkt, waren die russländischen Juden „viel begieriger darauf und viel erfolgreicher dabei, Kapitalisten, Akademiker, Mythenbewahrer und revolutionäre Intellektuelle zu sein, als die meisten Menschen in ihrer Umgebung“ (Slezkine, Jahrhundert, 132), ein Umstand, der insbesondere mit dem zunehmenden Erwerb säkularer Bildung an einer zeitgemäßen Lehranstalt zusammenhing. 490 Vgl. Nathans, Pale, 263. 491 Vgl. Hausmann, Numerus, 520 – 521. 492 Vgl. Nathans, Pale, 270. Dass gleichzeitig auch die Zahl der christlichen Schüler an Mittelschulen um zwei Prozent zurückging, hatte mit einer Verschärfung der Zugangsmöglichkeiten für Kinder aus unteren Schichten zu tun. 493 Vgl. Prosvesˇcˇenie, in: EE, Bd. 13, 54 – 58. Zu den Folgen der Quotenregelung vgl. auch Nathans, Pale, 268 – 282. Freilich gab es auch zahlreiche Ausnahmen und starke Unterschiede bei der Zulassung von jüdischen Studenten, insbesondere an Universitäten. 494 Ebenso war auch das Konzept des Cheder metukan, des reformierten Cheder, nicht nur eine Reaktion auf die Unzulänglichkeiten des traditionellen Schulwesens, sondern gleichfalls eine Maßnahme der Renationalisierung. Vgl. hierzu das interessante Kapitel in Zipperstein, Imagining Russian Jewry, 41 – 62, das den bezeichnenden Titel Reinventing Heders trägt. 495 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts studierten mehr russländische Juden im Ausland als im Zarenreich. 496 Vgl. Slezkine, Jahrhundert, 138; Hausmann, Numerus, 528. Die Zunahme jüdischer Studenten

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210 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Der Versuch von Vertretern der Obrigkeit, die Bermansche Schule zunächst finanziell, dann auch rechtlich in ihrer Existenz zu bedrohen, muss folglich im hier dargestellten Kontext der Reaktion gesehen werden, denn diese Schule vermittelte jüdischen Kindern die Grundlagen für einen späteren Besuch von Gymnasien und Universitäten, wo sie weiteres kulturelles Kapital erwerben konnten.

2. In Galizien 2.1 „Das Volk soll und muß gebildet werden“: Abraham Kohn und die Bildungsreform in Lemberg und Galizien Nachdem bereits 1813 in Tarnopol mit der jüdischen Freischule eine moderne Lehranstalt gegründet worden war, an der säkulare und jüdische Gegenstände nach zeitgemäßen pädagogischen und didaktischen Gesichtspunkten unterrichtet wurden, sollte es noch mehr als 30 Jahre dauern, bis auch in der Hauptstadt Galiziens, Lemberg, eine derartige Einrichtung (wieder) entstehen konnte.498 Erst mit der Einsetzung eines aufgeklärten jüdischen Gemeindevorstands durch das Lemberger Kreisamt im Februar 1842 wurde eine Reform des örtlichen Bildungswesens in Angriff genommen. Noch im selben Jahr wandte sich der neue Gemeindevorstand mit der Bitte an das Galizische Gubernium, einen Teil der für die Talmud-Tora bestimmten Summe für die Errichtung eines Waisenhauses verwenden zu dürfen. Außerdem schlug man vor, zwölf Waisen aus der Talmud-Tora auszuwählen, die unter der Aufsicht eines Lehrers im neuen Waisenhaus sowohl in der Tora als auch in weltlichen Fächern unterrichtet werden und eine Prüfung an einer städtischen Schule als Externe ablegen sollten.499 Gleichzeitig wurden Maßnahmen zu einer den Forderungen der Haskala entsprechenden Reform der Talmud-Tora ergriffen, indem neben hygienischen Verbesserungen nunmehr der Unterricht der Bibel in einer reindeutschen Übersetzung wie auch die Unterweisung im Rechnen und Schreiben, in der hebräischen Grammatik und in der deutschen Sprache eingeführt wurden.500 Darüber hinaus bemühte sich der Vorstand, für die

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aus dem Zarenreich im letzten Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs sollte allerdings auch in Deutschland eine heftige Kontroverse über die sogenannte „Ausländerfrage“ auslösen. Vgl. hierzu Wertheimer, „Ausländerfrage“, 187 – 215. Vgl. Wertheimer, Tsar, 329. Selbstverständlich gab es zur Zeit des Wirkens von Herz Homberg in Galizien deutsch-israelitische Schulen in Lemberg, die im Zuge des Scheiterns des Projektes jedoch wieder geschlossen wurden. Balaban, evrei, 425. Die traditionsorientierten Lemberger Juden verweigerten der neuen Waisenanstalt jedoch ihre Unterstützung (vgl. INJ 35, 28. 8. 1842, 141), wohl weil sie die Unterrichtung von säkularen Fächern ablehnten. Vgl. Ueber einige neuere wohlthätige Veranstaltungen innerhalb der israelitischen Gemeinde

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Unterrichtung des jüdischen Religionsgesetzes am Gymnasium einen Religionslehrer anzustellen, der über philosophische, pädagogische und homiletische Kenntnisse verfügen sollte. Diese Bitte wurde zwar vom Magistrat unterstützt, das Gubernium fand es jedoch wünschenswerter, dass die Gemeinde eine jüdische Volksschule nach dem Muster der Tarnopoler Anstalt errichtete und das für das Gehalt des Religionslehrers am Gymnasium bestimmte Geld der neuen Schule zuwies.501 Insofern wurde also, wie auch Philippson betonte, die künftige israelitische Hauptschule in Lemberg im Grunde genommen auf Aufforderung der galizischen Landesbehörden errichtet.502 Seit 1844 amtierte der im westböhmischen Zaluzˇan geborene Abraham Kohn, der zuvor zehn Jahre lang Rabbiner von Hohenems und Oberrabbiner von Tirol und Vorarlberg gewesen war, als deutschsprachicher Prediger der Lemberger Gemeinde.503 Bereits in seinem Anstellungsvertrag vom August 1843 hieß es, dass er, sofern die projektierte Normalschule zustande komme, auch dort den Religionsunterricht leiten und überwachen solle.504 Nachdem der Kaiser Ende Mai 1844 die Errichtung einer deutsch-israelitischen Hauptschule in Lemberg genehmigt hatte,505 begann im Januar 1845 schließlich die Einschreibung, die laut einer in der AZJ veröffentlichten Privatmitteilung aus Lemberg die „kühnsten Erwartungen“ übertraf, da sich bereits mehr als 800 Schüler und Schülerinnen angemeldet hatten, was die Kapazität der Lehranstalt um etwa das Doppelte überstieg.506 Kohn, der zum provisorischen Direktor der Schule ernannt wurde, nahm nur 200 Schüler, die bereits das achte Lebensjahr erreicht hatten, für die untere Klasse an, wobei die Zöglinge innerhalb von drei Monaten so weit unterrichtet wurden, dass sie in die nächsthöhere Klasse vorrücken und somit Platz für die Jüngeren machen konnten. Im Schuljahr 1845/46 wurden bereits rund 600 Schüler und Schülerinnen in sieben Klassen und 1846/47 mehr als 750 in acht Klassen – jeweils vier Jahrgangsstufen für beide Geschlechter – unterrichtet.507 Dieser zweifellos große Andrang schien – ebenso wie die Schülerzahlen der Deutsch-Israelitischen Hauptschule in Tarnopol – zu bestätigen, dass in bestimmten Teilen des galizischen Judentums zu dieser Zeit bereits der intensive Wunsch bestand, den Kindern eine zeitgemäße Erziehung zu geben, die nicht nur die religiösen

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zu Lemberg insbesondere seit dem Amts-Antritte seines Geimeinde (sic!) Vorstandes (Am 18. Februar 1842), in: KJI 5604 (1843 – 1844), 74. Balaban, evrei, 425 – 426. Philippson, Rückblick auf das Jahr 1846, in: KJI (1848) 5608, 25, FN. Zu Kohns Wirken in Lemberg vgl. Grill, Märtyrer, 178 – 220. Anstellungsvertrag Kohns mit der Lemberger Jüdischen Gemeinde, 20. 8. 1843. CDIA, 701, 3, 2715, 16ob. Vgl. Röskau-Rydel, Kultur, 121 – 122. Vgl. AZJ 6, 3. 2. 1845, 79 – 80. AZJ 49, 30. 11. 1846, 718. Bałaban gibt etwas niedrigere Zahlen an, erklärt aber nicht, woher diese stammen. Vgl. Bałaban, Historia, 39.

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212 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Grundlagen, sondern vor allem auch die für das Erwerbsleben nötige säkulare Bildung vermitteln sollte.508 Aber auch der Religionsunterricht selbst hatte nur wenig mit der Unterweisung in traditionellen jüdischen Lehranstalten gemein. Nachdem schon in Kohns Anstellungsvertrag festgelegt worden war, dass ihm in der künftigen jüdischen Normalschule die Leitung und Überwachung des dort erteilten Religionsunterrichts obliegen würden,509 übernahm der Rabbiner nach Eröffnung der Anstalt Anfang 1845 selbst den Religionsunterricht in den oberen Klassen.510 Dieser Unterricht setzte sich in einer für das aufgeklärte deutsche Judentum typischen Weise zum einen aus Ethik und zum anderen aus biblischer Geschichte zusammen. Auch hier stand also die Erziehung zu einem moralischen und sittlichen Lebenswandel im Vordergrund. Der sich damit äußernde Kulturtransfer wurde auch von den Zeitgenossen als solcher empfunden, wie man beispielsweise an folgender Äußerung aus dem Jahr 1846, die sich auf den Lehrplan von Kohns jüdischer Normalschule in Lemberg bezog, erkennen kann: „Religion und biblische Geschichte sind auch für den Juden hier zu Lande ganz neue Gegenstände.“511 Kohn selbst verfasste zum Gebrauch für den Religionsunterricht in der von ihm geleiteten Lemberger Schule eine mehrfach aufgelegte Biblische Geschichte für die israelitische Jugend mit entsprechenden Bibelversen vor jeder Erzählung, deren ersten Teil er noch 1845 in Lemberg herausgab. Gemäß seinem aufgeklärten Selbstverständnis konnte Kohn nicht umhin, in der Vorrede zu diesem Werk den klassischen Bibelunterricht der Juden zu kritisieren. War nach seiner Meinung selbst dem Gelehrten die Heilige Schrift, die „von jeher als das erste Religionsbuch für die Jugend wie für das reifere Alter in Israel benützt“ wurde, „nicht so leicht zugänglich“, so stellte sich für ihn erst recht die Frage, wie ihr das „kindliche Fassungsvermögen das rechte Verständnis und die rechte Nutzanwendung abgewinnen“ könne.512 Dies sei, so Kohn, jedoch die Aufgabe der „Jugendlehrer“, wobei er sogleich die rhetorische Frage anschloss, ob sie diese Aufgabe wirklich erfüllten. Auch in diesem Zusammenhang übte er nach seinem aufgeklärten Selbstverständnis Kritik am traditionellen jüdischen Erziehungswesen, wenn er den Melamdim vorwarf, die Bibel vor allem als Hebräischlehrbuch zu verwenden, während Inhalt und Sinn kaum Aufmerksamkeit geschenkt werde:

508 Auch Kohn hatte dies so gesehen. Vgl. …m …n (Kohn), Briefe, Zweite Folge, 73. 509 Anstellungsvertrag Kohns mit der Lemberger Jüdischen Gemeinde, 20. 8. 1843. CDIA, 701, 3, 2715, 16ob. 510 Jakob Kohn in Jeschurun. Zitiert nach Tänzer, Geschichte, 617. 511 AZJ 49, 30. 11. 1846, 719. Freilich war dies nicht ganz zutreffend, da bereits in der 1813 von Perl in Tarnopol gegründeten Israelitischen Freyschule unter anderem Bibel mit Mendelssohns Übersetzung, Religionslehre nach Homberg und Bensew, Ethik sowie religiöse Gebräuche auf dem Lehrplan standen. 512 Vgl. Kohn, Biblische Geschichte, 1845, 3.

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In Galizien

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„Glauben nicht selbst die besseren [von den Jugendlehrern] genug gethan zu haben, wenn sie beim Uibersetzen aus dem hebräischen Urtexte den Sinn beiläufig erklären und allenfalls noch einige sprachliche Bemerkungen einstreuen? Soll es uns nun wundern, wenn so viele Knaben und Jünglinge, welche Jahre lang die heilige Schrift fleißig studirt, keinen Haltpunkt für ihre religiöse und moralische Bildung gewonnen haben?“513

Diesen Mangel wollte Kohn mit „seiner“ biblischen Geschichte, „aus der überall die religiöse und practisch-sittliche Tendenz hervorleuchtet“, beheben. Ebenso wie die anderen deutschen Rabbiner und Lehrer in Osteuropa war es auch für ihn Hauptanliegen eines modernen Religionsunterrichts, die jüdische Jugend zu Moral und Sittlichkeit zu erziehen, wozu sich seiner Meinung nach der Inhalt der Hebräischen Bibel sehr gut eignete. Insofern konnte seine kurzgefasste biblische Geschichte, wie er sagte, für die Jugend „von bedeutendem Nutzen“ sein, für das weibliche Geschlecht aber, das keinen Unterricht in der Heiligen Schrift genieße, sei sie „ganz unentbehrlich“, wenn „der eigentliche Religionsunterricht nicht eine hohle Form bleiben und alles festen Bodens ermangeln soll“.514 Damit setzte sich Kohn für eine weitere, ungemein wichtige Reform in der religiösen Erziehung ein. Waren die Mädchen in früheren Zeiten von einem wie auch immer gearteten Religionsunterricht weitgehend ausgenommen,515 so sollten sie nun, wie in den meisten Kreisen des deutschen Judentums schon seit einiger Zeit üblich, ebenfalls eine moderne religiös-moralische Erziehung erhalten. Einen bedeutenden Schritt hatte man auf diesem Gebiet in Lemberg bereits durch die Gründung der deutsch-israelitischen Hauptschule getan, die nicht nur jüdischen Knaben, sondern auch dem weiblichen Geschlecht offenstand. Wie sehr Kohns Biblische Geschichte dem neuen, deutsch-jüdischen Verständnis von einer religiösen Erziehung verpflichtet war, zeigte auch seine im Vorwort geäußerte Empfehlung, auf welche Weise das Lehrbuch zu benutzen sei: „Der Lehrer erzählt jedes Geschichtchen umständlich dem Fassungsvermögen seiner Zöglinge angemessen in der für sie anziehendsten und ausdruckvollsten Weise, ohne störende Reflexionen und Ermahnungen. Nachdem die Luft der gespannten Zuhörer 513 Kohn, Biblische Geschichte, 1845, 4. Laut Aussage eines galizischen Korrespondenten aus dem Jahre 1846 war das Studium der Bibel bei den traditionsorientierten Juden Galiziens sogar „verpönt“. INJ 12, 22. 3. 1846, 94. Vor diesem Hintergrund muss Kohns Eintreten für ein systematisches Bibelstudium als ein weiterer Affront gegenüber den traditionellen Juden verstanden werden. 514 Kohn, Biblische Geschichte, 1845, 4. 515 Zur (religiösen) Bildung jüdischer Mädchen in Galizien vgl. die folgende Äußerung eines aufgeklärten galizischen Juden aus dem Jahr 1850: „Wenn schon die Bildung und der Unterricht bei der männlichen Jugend kümmerlich, krank und höchst bornirt war, so hatte man ihn bei der weiblichen gänzlich versäumt, und so streng man auf religiöse Pietät, oder besser Schwärmerei, bei Jünglingen sah, hatte man die Mädchen beinahe gänzlich davon dispensirt.“ Bernstein, Blicke, 23.

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214 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert befriedigt worden, wird über das Erzählte eine kleine Katechese gehalten, und indem die darin liegenden Lehren entwickelt und ins rechte Licht gesetzt werden, zugleich das moralische Urtheil der Kinder geschärft und gebildet. Der dazu gehörige biblische Spruch wird hierauf vom Lehrer vorgetragen, erklärt und dem Gedächtnisse der Schüler anvertraut.“516

Zweifellos nicht zufällig bediente sich Kohn des Begriffs der Katechese, um das Lehrverfahren zu beschreiben. Hierin kam letztlich die Tatsache zum Ausdruck, dass der moderne Religionsunterricht des deutschsprachigen Judentums insbesondere im christlichen Religionsunterricht sein Vorbild hatte, wozu eben auch Katechesen und Katechismen gehörten.517 Auch im Hebräischunterricht, den Kohn nicht selbst erteilte, wurde offenbar sein bereits 1841 in Frankfurt am Main und 1845 in zweiter Auflage mit Hinweis auf seine Stellung in Lemberg erschienenes Hebräischlehrbuch Petach sefat ever (Öffner/Beginn der hebräischen Sprache) verwendet. Allerdings ist hier der Kulturtransfer zumindest auf der Ebene der Unterrichtsmittel gescheitert. Denn nach seinem Tod 1848 wurde Kohns Hebräischlehrbuch wieder aus den Schulen entfernt, „angeblich“, so sein Sohn Gotthilf später, „wegen ungenauer Kenntniss der hebräischen Sprache seitens des Verfassers“.518 Ob dies der wahre Grund war, darf stark bezweifelt werden. Es könnte auch ein Zugeständnis an das traditionsorientierte Lager gewesen sein, das sich möglicherweise durch eine Aussage Kohns in diesem Lehrbuch massiv angegriffen fühlte. In seiner Einleitung zu Petach sefat ever hatte der Rabbiner erklärt, dass das Hebräische „zwar noch immer Gegenstand des Jugendunterrichtes“ sei, „aber die verkehrte Methode […] den Unterricht zwecklos“ mache und „die theuer genug erkaufte flüchtige Schein- oder bloße Buchstabenkenntniß, die gewöhnlich davon getragen wird, […] schlimmer [sei] als völlige Unkenntniß“.519 Deutlicher konnte man sich wohl kaum gegen die althergebrachte Art des Hebräischunterrichts aussprechen, wobei Kohn, wie noch zu sehen sein wird, den Vorwurf der „verkehrten Methode“ schon bald allgemein auf den Unterricht in den traditionellen jüdischen Schulen ausweiten sollte. 516 Kohn, Biblische Geschichte, 1845, 4 – 5. 517 Dieses Lehrbuch Kohns erlebte mehrere Auflagen. Hinzuzufügen ist, dass Kohn noch ein weiteres Religionslehrbuch für die jüdische Jugend verfasste: Chinuch le-na’ar [Erziehung der Jugend], enthaltend die Elemente des ersten Religionsunterrichtes für die israelitische Jugend. Dieses Werk scheint aber offenbar von geringer Bedeutung gewesen zu sein. Vgl. hierzu G. Kohn, Kohn, 88. 518 G. Kohn, Kohn, 276. Dennoch wurde 1873 eine englische Übersetzung dieses Werkes in New York herausgegeben: Mannheimer (Hrsg), Leveler. 519 Kohn, Lesebuch, 3. Ebenso werden sich traditionsorientierte Juden an Kohns Kritik gestoßen haben, wonach es im bisherigen Hebräischunterricht „in der Regel Stücke aus dem Pentateuch oder dem Gebetbuche [sind], die zuerst übersetzt werden, ein Material, das Anfängern, insbesondere Kindern, ungeheure Schwierigkeiten bietet, und keineswegs geeignet ist, sie bald und leicht mit der ihnen so fernabliegenden Sprache bekannt zu machen“. Kohn, Lesebuch, 4.

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In Galizien

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Gundsätzlich dürfte es für traditionsorientierte Juden eine Ungeheuerlichkeit gewesen sein, dass gerade jemand wie Kohn, dem sie mangelnde Religiosität oder ungenügendes religiöses Wissen und bisweilen auch Häresie vorwarfen, nun jüdischen Kindern in Lemberg modernen Religionsunterricht auf Deutsch erteilte.520 Darüber hinaus ist es ihnen möglicherweise auch nicht entgangen, dass Kohn sein Religionslehrerexamen 1830 ausgerechnet bei dem im galizischen Judentum berüchtigten Herz Homberg abgelegt hatte.521 Vor diesem Hintergrund hatte Kohn schon grundsätzlich einen schweren Stand, da er den traditionsorientierten Juden gleichsam als Nachfolger des ihnen verhassten Homberg erscheinen musste. Dass er auch noch Religionsunterricht, zumal auf Deutsch, erteilte, musste wohl als Gipfel der Provokation erscheinen. Zweifellos verfolgte Kohn, nachdem die von ihm geleitete jüdische Schule in Lemberg eine ungeahnte Anziehungskraft entfalten konnte, in Bezug auf den modernen Religionsunterricht den Gedanken eines über Lemberg hinausgehenden Kulturtransfers. In einem seiner Briefe aus Galizien, der 1846 im Kalender und Jahrbuch für Israeliten erschien, empfahl er für Galizien ein modernisiertes Rabbinat, das sich am deutsch-jüdischen Vorbild orientieren sollte. Ausgangspunkt war dabei seine Forderung, dass jede jüdische Hauptschule analog zu der in Lemberg einen eigenen Religionslehrer anstellen solle. Daher wäre es, so meinte er, „sehr rathsam diese Stellen mit Rabbinatskandidaten zu besetzen, die religiöse Vorträge zu halten befähigt sind und mit der Zeit, wenn die Gemeinden reifer geworden, das Rabbinat übernehmen könnten“.522 Mit dem modernen jüdischen Religionsunterricht, der für sich allein schon einen Kulturtransfer darstellte, sollte noch ein weiterer Kulturtransfer eingeleitet werden, indem die Religionslehrer von heute die modernen Rabbiner von morgen sein sollten. Ebenso charakteristisch für die Vorstellung deutscher Juden von einem modernen Religionsunterricht war die Ansicht, die Kohn ungefähr zwei Jahre später äußerte: Die Regierung dürfe, das müssten ihr die Juden zugestehen, sich davon überzeugen, „daß der Jugend beim Religionsunterrichte die Bürgerpflichten ans Herz gelegt werden und daß unsere Volkslehrer nicht separatistische Tendenzen verfolgen“.523 In einer für das aufgeklärte deutsche Judentum typischen Art und Weise sollte der Religionsunterricht vor allem auch zu Sittlichkeit und Moral erziehen, um die Juden auf ihre künftigen Pflichten als treue, gute und nützliche Untertanen vorzubereiten. Auch wenn die Initiative zur Gründung der deutsch-israelitischen Hauptschule in Lemberg auf die Zeit vor seiner Anstellung zurückging, so war Kohn 520 521 522 523

Vgl. Röskau-Rydel, Kultur, 125. Das von Homberg ausgestellte Zeugnis ist nachzulesen in G. Kohn, Kohn, 16. …m …n (Kohn), Briefe, Erste Folge, 206. Kohn, Israelitische Konsistorien müssen errichtet werden. Eine dringende Zeitfrage, in: OCfG 41, 26. 9. 1848, 364.

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216 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert doch auf Grund seines Selbstverständnisses als aufgeklärter Rabbiner einer der wichtigsten Verfechter eines modernen jüdischen Bildungswesens in Galizien, das keineswegs auf Lemberg beschränkt bleiben sollte. Seine hierzu immer wieder geäußerten Ansichten mussten ihn aber auch auf diesem Gebiet in scharfe Opposition zu den traditionsorientierten Lemberger Juden bringen. Zum einen lehnten sie die Einführung von säkularem Unterricht an jüdischen Schulen kategorisch ab, zum anderen hielt sich Kohn auch mit Kritik an den traditionellen jüdischen Schulen, den Chadarim, keineswegs zurück. In seinen Briefen aus Galizien, die anonym erschienen waren, ihn aber leicht als Verfasser („…m …n“) erkennen ließen, machte Kohn klar, dass jeder Erfolg der Aufklärung in Galizien und vor allem auch eine Reform des Kultus von der Gründung „zweckmäßig organisirte[r] und geleitete[r]“ israelitischer Volksschulen abhingen, da der gegenwärtige Unterricht „verkehrt“ sei.524 Den traditionellen jüdischen Unterricht in Galizien als „verkehrt“ zu bezeichnen und gleichzeitig überall dort die Gründung moderner jüdischer Schulen nach dem Muster der von ihm in Lemberg geleiteten deutsch-israelitischen Hauptschule zu fordern, musste den Hass der traditionsorientierten Lemberger Juden auf ihn nur noch vergrößern. Ein Jahr später bekräftigte er seine Haltung, als er den Zustand der Chadarim, „wo die zarten Kinder schon physisch, moralisch und intellektuell verkommen und verkümmern“,525 scharf kritisierte und erklärte, man solle sich bei der Verbesserung des Jugendunterrichts „nicht mit halben Maßregeln als: Verbesserung der A=L7; [Chadarim] und der NSN [Talmud-Tora]-Anstalten begnügen, deren Erfolg immer ein halber bleiben muß“,526 sondern neue zeitgemäße Schulen errichten. Dies wäre, so Kohn, wohl auch leichter durchzusetzen als die Reform der traditionellen jüdischen Lehranstalten. Seiner Meinung nach konnte man gerade die „Jugend der untersten und ärmsten Volksklasse“527 ohne große Schwierigkeiten für moderne Schulen gewinnen, da sie dort zum Teil bekleidet und verköstigt würde, eine Maßnahme, die übrigens schon bei der Eröffnung der Lemberger Lehranstalt teilweise wirksam geworden war.528 Die Verbreitung der maskilischen Bildungsreform sollte also durch soziale Maßnahmen befördert werden. Damit erwies sich der Rabbiner zwar nicht in seiner Kritik, aber zumindest in seinen Vorschlägen durchaus als moderat, wenn man bedenkt, dass zwei Jahre zuvor der anonyme Verfasser der Galizisch-Jüdischen Zustände den Erfolg neuer, moderner Schulen vom Zwang zum Schulbesuch und vor allem auch von der Schließung der Chadarim abhängig gemacht hatte.529 Kohn mögen sich solche Maßnahmen nicht aufgedrängt haben, da er

524 525 526 527 528 529

…m …n (Kohn), Briefe, Erste Folge, 205. …m …n (Kohn), Briefe, Zweite Folge, 57 – 58. …m …n (Kohn), Briefe, Zweite Folge, 73. …m …n (Kohn), Briefe, Zweite Folge, 73. Vgl. AZJ 49, 30. 11. 1846, 719. Vgl. (Löbenstein), Zustände, 36.

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von seinen eigenen Erfahrungen in Lemberg ausging, wo die neue Schule großen Zuspruch gefunden hatte. Dass Kohn zeitgemäße Lehranstalten als Speerspitze gegen den Chassidismus betrachtete, zeigte seine beiläufige Bemerkung, dass gerade Czernowitz, wo eine moderne jüdische Schule wieder geschlossen worden sei, der Ort sei, um „dem krassen Chassidismus durch Volks- und Jugendunterricht entgegen zu wirken“.530 Zwar hatte Kohn die Briefe aus Galizien nur mit „…m …n“ signiert, doch ist anzunehmen, dass seine Äußerungen über den Umweg einiger weltlich gebildeter Lemberger Juden, die mit wichtigen Repräsentanten des traditionalistischen Lemberger Judentums sympathisierten, auch seine Gegner erreichten. Zudem nutzte Kohn seine Predigten, um für säkulare Bildung und somit für zeitgemäße jüdische Schulen zu werben und die ablehnende Haltung der traditionsorientierten Juden auf das Schärfste zu kritisieren, indem er sie als eine „unjüdische“ bezeichnete.531 Kohns Hauptkritik im Zusammenhang mit der Bildungsfrage richtete sich zwar gegen die traditionellen Juden, doch auch die aufgeklärten Juden mussten sich von ihm Vorhaltungen gefallen lassen. Sie kritisierte er, weil sie sich aus Furcht vor den traditionsorientierten Juden in ihrem Eifer zurückhielten und damit auch die Erziehung und wissenschaftliche Bildung der Kinder vernachlässigten, wodurch er die exponierte Lage, in der er sich befand, nur noch mehr hervorhob.532 Und er beschuldigte im Sinne des Vorwurfs der „Pseudo-Aufklärung“ die Aufklärer, dass sie sich zwar Bildung angeeignet, aber zugleich auch eine sehr distanzierte und kühle Haltung zur Religion eingenommen hätten.533 Damit bestätigte er die Befürchtung der traditionsorientierten Juden, die moderne Schulen mit säkularem Unterricht als ersten Schritt zum Glaubensabfall betrachteten. Ein weiterer Punkt, der die Spannungen zwischen Kohn und den traditionsorientierten Lemberger Juden verschärfte, bestand darin, dass in der neuen Schule auch Lehrer aus Böhmen und anderen Teilen des Habsburgerreichs angestellt wurden, die sich, so der Vorwurf, „einerseits Verunglimpfungen der polnischen Juden mit der den Fremden eigenthümlichen gehässigen Nomenklatur zu Schulden kommen lassen, anderseits durch die einheimischen Lehrer in Schatten gestellt und nach dem Zeugnisse ihrer Vorgesetzten, ihren Pflichten mit weniger Gewissenhaftigkeit nachkommen“.534 Ob diese Kritik, die sehr an die seinerzeit erhobenen Vorwürfe gegen Homberg und die anderen Lehrer der jüdisch-deutschen Normalschulen in Galizien erinnert, tatsächlich berechtigt war, muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls war der Hinweis auf die „fremden“ Lehrer paradigmatisch für die Ansicht, die 530 531 532 533

…m …n (Kohn), Briefe, Zweite Folge, 74. Kohn, Erscheinen, 4. Vgl. Kohn, Erscheinen, 10 – 11. Vgl. Kohn, Erscheinen, 12. Zur Pseudo-Aufklärung und der Frage jüdischer Modernisierung vgl. Feiner, Pseudo-Enlightenment, 62 – 88. 534 OCfG 30, 27. 8. 1848, 294.

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218 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Schule betreibe eine Art kulturelle Hegemonialisierung. In diesem Sinne war es auch zu verstehen, dass sich 1848 ein Korrespondent aus Galizien in der Frage der von der Obrigkeit beabsichtigten Gründung moderner jüdischer Lehranstalten für die Anstellung einheimischer Lehrer aussprach. Allerdings musste auch er eingestehen, dass an solchen Pädagogen ein Mangel herrsche, da sich früher verständlicherweise nur wenige diesem Berufsstand widmen wollten, bestand doch kaum Aussicht auf „öffentliche Anstellung“ oder auf eine ausreichende Finanzierung des Lebensunterhalts durch Privatunterricht.535 Auf diesen Umstand hatte bereits Perl vor mehr als 20 Jahren hingewiesen. Nun schien aber die Gründung neuer jüdischer Schulen in Galizien bevorzustehen und somit auch der Bedarf an entsprechend ausgebildeten jüdischen Lehrern anzusteigen. Dies sah offensichtlich auch Kohn so. Schon in seinen Briefen aus Galizien hatte er die Gründung eines israelitischen Schullehrerseminars als unbedingte Notwendigkeit bezeichnet, da nur ein solches Seminar Lehrer bilden werde, „wie wir sie benöthigen, Schulmänner, die, nebst der Befähigung in den gewöhnlichen Volksschulgegenständen zu unterweisen, auch eine gründliche Kenntniß der hebräischen Grammatik und h. Schrift und einige Bekanntschaft mit dem Thalmud und der hebräischen Literatur besitzen und überdies der polnischen Sprache mächtig sind“.536 Auch hier wurde deutlich, dass Kohn neben der Etablierung des Profanunterrichts einen modernen jüdischen Religionsunterricht, wie er bei den deutschen Juden zu dieser Zeit schon häufig anzutreffen war, im galizischen Judentum verankert sehen wollte. Es überrascht daher nicht, wenn er in seiner Aufzählung in erster Linie von einer gründlichen Kenntnis der hebräischen Grammatik und der Bibel spricht und dem Talmudstudium sowohl im Hinblick auf die Bedeutung als auch auf die Intensität den zweiten Rang zuweist. Das von Kohn vorgeschlagene jüdische Lehrerseminar sollte also einen neuen jüdischen Lehrertypus für Galizien hervorbringen, der sich stark am deutsch-jüdischen Vorbild orientierte, dabei jedoch auf galizische Juden als Kandidaten zurückgriff. Insofern war auch die Anstellung „fremder“ Juden als Lehrer an der Lemberger Schule wohl nicht so sehr auf eine bewusste kulturelle Hegemonialisierung zurückzuführen, sondern wird eher dem Mangel an geeigneten Lehrern in Galizien selbst geschuldet gewesen sein. Offenbar plante der Lemberger Gemeindevorstand – möglicherweise auf Anregung Kohns – die Gründung eines solchen Seminars, äußerte doch Kohn die Ansicht, es werde schon bald in Lemberg ein jüdisches Lehrerseminar entstehen, wobei der dortige Gemeindevorstand durch die Errichtung der Anstalt „seine segensreiche Wirksamkeit über das ganze Land verbreiten und sich den Dank der spätesten Nachkommenschaft verdienen“537 werde. Was 535 Vgl. AZJ 6, 31. 1. 1848, 83. 536 …m …n (Kohn), Briefe, Erste Folge, 206 – 207. 537 …m …n (Kohn), Briefe, Erste Folge, 207.

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In Galizien

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aber Kohn nicht bedacht zu haben scheint, war die Tatsache, dass schon während Hombergs Wirken in Galizien ein Schullehrerseminar in Lemberg bestanden hatte. Daher dürfte der Vorschlag, eine solche Institution zu gründen, gerade bei den traditionsorientierten Lemberger Juden ausgesprochen negativ aufgenommen worden sein. Auch mehr als 50 Jahre später war die von Kohn vorgeschlagene Einrichtung zur Ausbildung jüdischer Lehrer – wie sein Sohn feststellte – noch immer nicht realisiert worden.538 Nachdem Kohn die von ihm geleitete moderne Lehranstalt in Lemberg zu einem Vorzeigeobjekt ausgebaut und auf publizistischem Weg wie auch durch seine Predigten für eine grundsätzliche Reform des jüdischen Bildungswesens in Galizien geworben hatte, setzte er sich schließlich auch bei der Regierung selbst dafür ein. Bereits Anfang Januar 1848, also noch vor Ausbruch der Revolution, wurde aus Lemberg berichtet, dass der galizische Statthalter Graf Franz von Stadion (1806 – 1853) eine grundlegende Reform der rechtlichen und ökonomischen Lage des galizischen Judentums anstrebe, die „Hand in Hand […] mit der moralischen Hebung und Veredelung der Masse durch zweckmäßigen Volks- und Jugendunterricht“539 gehen sollte. Zu diesem Zweck ließ von Stadion Kohn Vorschläge zur Umgestaltung des jüdischen Gemeindeund Schulwesens sowie des Rabbinats ausarbeiten, die dann mit Delegierten der einzelnen Gemeinden besprochen werden sollten. Der Widerstand gegen die von Kohn geleitete moderne Lehranstalt wie auch gegen seine Bildungsreformpläne wurde immer stärker. Paradigmatisch hierfür waren die Unruhen, die sich am 23. April 1848 vor der Lemberger Schule ereigneten. Laut Bałaban blieb Kohn nur dank des Eingreifens der kürzlich gebildeten Nationalgarde physisch unversehrt. Auf Grund dieses Vorfalls beabsichtigte Kohn, sein Amt als Kreisrabbiner und als Matrikelführer niederzulegen, jedoch weiterhin als Prediger des Tempels und als Schuldirektor tätig zu sein.540 Trotz der schweren Proteste wollte er somit auch in der Folgezeit persönlich mit der Umgestaltung des jüdischen Erziehungswesens verbunden bleiben. Als im Zuge der Revolution die Errichtung eines in Lemberg ansässigen Zentralen Nationalrats zugestanden wurde, war Kohn einer von vier jüdischen Delegierten der neuen Institution.541 In dieser Eigenschaft hatte er, wie er in einem Brief an seinen Bruder stolz berichtete, den neunten Punkt der Zuständigkeitsabgrenzungen im Nationalrat allein redigiert, der sich im weitesten Sinne auf das Bildungswesen bezog.542 Vor diesem Hintergrund schienen Kohns Gegner, so auch die Lehrer der von ihm stark kritisierten Chadarim, die vermeintlichen Einflussmöglich538 539 540 541 542

Vgl. G. Kohn, Kohn, 115. AZJ 6, 31. 1. 1848, 83. Vgl. Balaban, evrei, 439. Vgl. Kieniewicz (Hg.), Protokoly, X. Vgl. die Formulierung dieses Punktes bei G. Kohn, Kohn, 180.

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220 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert keiten des Rabbiners zu fürchten. Am 9. Juli 1848 wurde in einer Sitzung des Nationalrats die Bitte der Melamdim verlesen, Kohn möge sie nicht anschwärzen und sie nicht von den privaten Unterrichtsstunden ausschließen.543 Offenbar befürchteten die Chederlehrer ein von Kohn initiiertes Berufsverbot. Unterdessen waren aber, nachdem Statthalter von Stadion nahezu fluchtartig Galizien verlassen hatte, die beabsichtigten Reformen im galizischen Judentum ins Stocken geraten, so dass auch eine „Aufforderung zur Errichtung israelitischer Schulen mit Aufhebung der vielen Vorsichtsmaßregeln und Bedingungen, die früher die Gründung derselben erschwerten“544, zunächst unterblieb. Kohn und seine Mitstreiter hatten allerdings die Reform des jüdischen Bildungswesens in Galizien noch nicht aufgegeben. Ende Juli 1848 kritisierte ein aus Galizien stammender Anhänger der Aufklärung im Beitrag Stimmen aus Galizien des Oesterreichischen Central-Organs für Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden, dass einige Juden Galiziens der Meinung gewesen seien, eine Regeneration der galizischen Juden müsse mit religiösen Reformen beginnen. Dies hätte aber die Spannungen zwischen aufgeklärten und traditionsorientierten Juden nur verschärft und keinen Nutzen für eine allgemeine Veränderung des galizisch-jüdischen Lebens gehabt. Die Zukunft des galizischen Judentums hänge hingegen allein von einer guten Erziehung und einer zeitgemäßen Heranbildung der jüdischen Jugend ab. Während sich Kohn trotz seiner ausgeprägten Orientierung an der deutschen Kultur für einen Ausgleich zwischen Juden und Polen und für einen Anschluss der Juden an die Polen einsetzte,545 erklärte der Korrespondent im CentralOrgan, dass die Juden in Galizien eine wichtige Rolle spielten, da sie dort das germanische Element repräsentierten, hätten sie sich doch nie polonisiert, wohingegen ihre Sprache eine verdorbene Mundart des Deutschen sei: „Sie scheinen also mit dem Deutschthum eng verwachsen, und man hat demnach das Recht ihre Bildung in diesem Sinne fortzusetzen. Deutscher Sinn, deutsche Bildung und Gesittung soll ferner in dem galizischen Juden gepflegt werden, er soll ein echter Deutscher werden, und kann als solcher in die Wagschale der zukünftigen Geschicke Galiziens ein bedeutendes Gewicht legen. Eine kräftige, auf gesunden Prinzipien basirte Volkserziehung thut also den galizischen Juden gegenwärtig am meisten Noth, und kann sie allein auf der Bahn wahren Fortschritts fördern.“546 543 Kieniewicz (Hg.), Protokoly, 121. 544 OCfG 13, 24. 6. 1848, 182. Vgl. auch den Bericht im Orient, wonach sich Kohn darum bemüht hätte, „die Regierung zu ersuchen, eine Aufforderung zur Errichtung jüdischer Schulen ergehen zu erlassen, damit einmal die aufwachsende Jugend eine zeitgemäße Erziehung erhalte.“ Der Orient 32, 5. 8. 1848, 255. 545 Dies hieß freilich nicht, dass Kohns Haltung nicht äußerst misstrauisch beurteilt wurde. So hatte sich beispielsweise der polnische Politiker Florian Ziemiałkowski über Kohn sehr negativ geäußert. Vgl. Balaban, evrei, 436. 546 S. L., Stimmen aus Galizien II, in: OCfG 21, 26. 7. 1848, 232 – 233.

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In Galizien

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Dies war nicht nur ein Plädoyer für moderne Schulen als erste Maßnahme zur Umgestaltung des jüdischen Lebens in Galizien, sondern insbesondere auch der Ruf nach einem höchstmöglichen Kulturtransfer in das galizische Judentum. Der galizische Jude sollte sich nicht nur säkulare Bildung nach dem Vorbild der deutschen Juden aneignen, sondern selbst zu einem Deutschen werden und damit das germanische Element in Galizien repräsentieren. Gewisse Analogien zur Zeit Josephs II. und Hombergs Wirken waren nicht von der Hand zu weisen. In Zeiten des Völkerfrühlings, in denen gerade auch die Haltung der Juden gegenüber Wien und Deutschtum von den Vertretern der polnischen Bevölkerung besonders aufmerksam beobachtet wurde, waren allerdings solche Forderungen alles andere als ungefährlich. Während sich der Verfasser der Stimmen aus Galizien wie auch Kohn547 und andere Anhänger der Aufklärung für die Errichtung zeitgemäßer Schulen als ersten Schritt zu einer Erneuerung des galizischen Judentums aussprachen, stellte ein Lemberger Jude dies grundsätzlich in Frage. Auf eine Aufforderung des Lemberger Kreisamts hin hatte Mayer Mintz, ein gebildeter Jude, der mit den Repräsentanten der traditionsorientierten Lemberger Juden sympathisierte und Gegner Kohns war, 1848 ein Gutachten über die Verhältnisse und Übelstände der galizischen Juden angefertigt, in dem er zu dem Schluss kam, dass nur die Aufhebung rechtlicher und ökonomischer Beschränkungen zu einer wesentlichen Verbesserung im galizischen Judentum führe. Schulen, Bildung und auch Predigten hätten unter den gegenwärtigen Bedingungen hingegen eher negative Auswirkungen.548 Gerade der Hinweis darauf, dass Schulen, Bildung und Predigten die Juden nur umso deutlicher erkennen ließen, in welch trostloser Lage sie sich befänden, war, auch wenn sein Name nicht genannt wurde, eine vernichtende Kritik am Wirken Kohns in Lemberg. Kohn, dem der Inhalt dieser Schrift mit Sicherheit bekannt war, ließ sich davon allerdings nicht beirren. Als er Ende August 1848 das Programm des Israelitischen Volksfreundes, eines Wochenblatts für die geistigen und materiellen Interessen der Israeliten Galiziens, ankündigte, räumte er in erster Linie „der Erziehung und Bildung der Jugend und den dazu so wie zur Belehrung des Volkes bestimmten Anstalten“ einen „vorzügliche[n] Platz“ ein.549 Zur Herausgabe dieses Wochenblatts sollte es allerdings nicht mehr kommen, da Kohn nur wenige Tage später – offenbar von einem traditionsorientierten Juden – ermordet wurde.550 Wie dargestellt worden ist, war einer der Gründe für die schweren Auseinandersetzungen zwischen Kohn und seinen aufgeklärten Anhängern auf der einen und den traditionsorientierten Lemberger Juden auf der anderen 547 Kohn hatte diese Frage sogar explizit thematisiert. Vgl. …m …n (Kohn), Briefe, Zweite Folge, 57. 548 Vgl. (Mintz), Wort, 25 – 26. 549 Das Programm ist zu finden bei Bałaban, Historia, 275. 550 Vgl. hierzu Grill, Märtyrer, 214 – 217.

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222 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Seite die Frage nach der Art der Erziehung der jüdischen Jugend. Im Grunde lässt sich bezüglich der von beiden Seiten erhobenen Vorwürfe eine Dichotomie in der Wahrnehmung erkennen. Während sich die aufgeklärten Juden als Verfechter von säkularer Bildung sahen, nahmen sie die traditionsorientierten Juden als Anhänger von Unbildung und Dummheit wahr. Sehr anschaulich kommt dies im folgenden Satz aus dem Sendschreiben zum Ausdruck, das Kohn zu verteidigen suchte: „Das Volk s o l l und m u ß gebildet werden, wenn ihr auch jeden Eingang zur Bildung desselben mit euern Dummheits-Barrikaden verrammelt!“551 Umgekehrt wies Kohn in den Augen seiner traditionsorientierten Gegner eine mangelhafte religiöse Gelehrsamkeit auf, die ihn gerade für sein Amt als Kreisrabbiner disqualifizierte. Säkulare Bildung bedeutete für sie einen Mangel an religiösem Wissen und in letzter Konsequenz den Abfall vom Glauben. Für die aufgeklärten Juden war wiederum die alleinige Wertschätzung der jüdischen Religionsquellen Ausdruck von Fanatismus. Und während für die aufgeklärten Juden und Kohn das deutsche Judentum gerade auch auf dem Gebiet der Erziehung ein nachahmenswertes Vorbild darstellte, war es für die traditionsorientierten Juden ein Schreckgespenst, von dem man sich in jeder Beziehung fernhalten musste, um nicht die religiösen Grundfesten zu erschüttern. Bestätigt wurde dies drei Jahre später auch von Rabbiner Tsvi Hirsch Chajes (1805 – 1855), einer weithin anerkannten talmudischen Autorität Galiziens, der über fundiertes säkulares Wissen verfügte. In einem Brief an den Redakteur der Wiener Stimmen zweifelte er sehr daran, ob eine Rabbinerversammlung in Galizien, wie sie in Böhmen stattgefunden habe, erfolgversprechend wäre, „,nachdem kaum zwei oder höchstens drei Rabbiner für Errichtung deutscher Schulen und geregelten Religionsunterricht stimmen würden; nachdem selbst diejenigen Rabbiner, die keine Chassidim sind, ganz unter deren Einfluß stehen, so daß sie es nicht wagen, einen derlei Antrag zu unterstützen.‘“552 Nach Ansicht von Chajes, der eng mit den jüdischen Verhältnissen in Galizien vertraut und modernen jüdischen Lehranstalten nicht abgeneigt war, musste also eine Reform des jüdischen Bildungswesens in Galizien fast zwangsläufig am Widerstand der Chassidim und ihren Disziplinierungsmöglichkeiten scheitern. Insofern dürfte es hinsichtlich des erheblichen Widerstands der traditionsorientierten Lemberger Juden gegen die moderne Schule und auch gegen die vermeintlich bevorstehende Bildungsreform in Galizien nicht von wesentlicher Bedeutung gewesen sein, dass Kohn ein „Fremder“ war, dem man schon allein deshalb misstraute. Mag auch seine Herkunft alles andere als der Sache förderlich gewesen sein, so wäre ein „Einheimischer“ doch keineswegs auf eine positivere Resonanz bei den traditionellen Juden gestoßen. Ein Beispiel hierfür ist die jüdische Gemeinde im galizischen Bolechw. Schon 1844 wurde von dort berichtet, dass man „eine, der lemberger ähnliche, Schule“ 551 Offenes Sendschreiben, 10. 552 Zitiert nach Gelber, Geschichte, 109.

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gründen wolle. Dennoch sollte es noch weitere zwölf Jahre dauern, bis die deutsch-israelitische Trivialschule eröffnet werden konnte. Auch wenn unklar ist, ob die Verzögerung vor allem auf den energischen Widerstand der traditionsorientierten Juden553 oder aber auf die zögerliche Haltung der Obrigkeit in der Frage der Genehmigung554 zurückzuführen war, so zeigte sich doch auf jeden Fall nach Bestätigung und Eröffnung der Schule ein gewaltiges Protestpotential, das dem in Lemberg sehr ähnlich war.555 Um der neuen Schule eine ausreichende Schülerschaft zu sichern, verfiel man schließlich auf eine Maßnahme, die bereits während Hombergs Wirken in Galizien angewandt worden war. Die Behörden verpflichteten die jüdische Jugend zum Schulbesuch und legten fest, dass kein Knabe zum Talmud-Unterricht zugelassen werden durfte, der nicht das Zeugnis über den Besuch der deutsch-israelitischen Trivialschule vorlegen konnte.556 Ob dieser Zwang tatsächlich eine größere Zahl von Schülern an die Lehranstalt binden konnte, ist höchst fraglich. Auf jeden Fall war die Schulgründung in Bolechw auch für Juden in anderen Gemeinden Galiziens Anlass für den Wunsch, ebenfalls eine moderne Lehranstalt zu gründen. So hatten sich die Vorstände oder einzelne Juden in Rzeszw, Przemyslany (offenbar Przemys´l) und Złoczw (heute: Zolocˇiv) die Dotationsurkunde der deutsch-israelitischen Trivialschule in Bolechw besorgt, um nach diesem Muster eine eigene Anstalt zu eröffnen.557 Daneben trug sich auch Tarnw schon seit mehreren Jahren mit der Absicht, eine jüdische Hauptschule zu gründen. Und doch scheiterten diese Bemühungen, wie ein aufgeklärter galizischer Jude meinte, an einer aus Rabbinern, Rebben und Gemeindevorständen gebildeten informellen Koalition des Rückschritts.558 Abgesehen von Bolechw und Stanislau, wo die moderne Schule aber kurz nach ihrer Gründung im Jahr 1848 wieder in eine traditionell organisierte Talmud-Tora umgewandelt worden war,559 gelang es allein in Lemberg, zwischen 1855 und 1857 zwei weitere jüdische Trivialschulen zu errichten.560 Damit blieben moderne jüdische Schulen in Galizien auf wenige Gemeinden, die Zentren der Aufklärung, beschränkt. In gewisser Weise war Galizien hinsichtlich der jüdischen Bildungsreform das „Sorgenkind“ der Wiener Regierung, aber auch der aufgeklärten Juden in Galizien und im Westen. Der Lemberger Vorstand, der seine Gemeinde nicht zu Unrecht als eine Vorreiterin in der Bildungsreform sah – immerhin existierten dort drei moderne jüdische Schulen, an denen angeblich etwa 1 000 553 554 555 556 557 558 559 560

Vgl. Balaban, evrei, 428 – 429; Friedmann, Juden, 32. Vgl. AZJ 42, 11. 10. 1858, 578. Vgl. hierzu die Privatmitteilung aus Bolechw aus dem Jahre 1858. AZJ 42, 11. 10. 1858, 578. Vgl. AZJ 42, 11. 10. 1858, 579. Vgl. Ben-Chananja 2 (1859), Nr. 10, 471; Ben-Chananja 3 (1860), Nr. 9, 459. Vgl. Ben-Chananja 2 (1859), Nr. 10, 471. Ben-Chananja 2 (1859), Nr. 10, 471. Vgl. Friedmann, Juden, 32; Kozin´ska-Witt, Reformgemeinde, 204.

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224 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert Schüler unterrichtet wurden561 –, reichte im Oktober 1859 beim österreichischen Innenminister und ehemaligen Statthalter Galiziens Agenor Gołuchowski (1812 – 1875) eine Denkschrift ein, in der die Einführung von jüdischen Volksschulen in Galizien dringend empfohlen wurde. Zur Finanzierung dieser Lehranstalten schlug der Gemeindevorstand vor, Mittel dem ehemaligen jüdischen Normalschulfonds zu entnehmen, der 1806 mit dem Ende der jüdisch-deutschen Schulen dem allgemeinen Normalschulfonds in Galizien zugeschlagen worden war. Im Gegensatz zum Lemberger Vorstand, der sich von der Obrigkeit eine gesetzlich abgesicherte Intervention bezüglich der jüdischen Bildungsreform erhoffte, wählte knapp ein Jahr später der Magdeburger Rabbiner und Herausgeber der AZJ Philippson den Weg eines eindringlichen Appells an die galizischen Juden. Im September 1860 rief er in seinem Leitartikel An unsere galizischen Glaubensgenossen diese dazu auf, endlich moderne jüdische Schulen zu gründen. Laut Philippson hatte vor hundert Jahren der Kampf um die Umgestaltung des jüdischen Schulwesens begonnen, wobei er auf einen Kulturtransfer hinwies: „Dieser Kampf, das alte verfallene Chedarwesen zu einer geordneten, den Forderungen der Cultur, den Bedürfnissen des Geistes und der Zeit genügenden Schule umzugestalten, ging von Westen nach Osten und auf diesem Gange überall siegreich für die Schule entschieden, ist es gegenwärtig insonders der galizische Boden, wo er durchgestritten werden muß.“

Weiter wies der Rabbiner auf die Unzulänglichkeit des Cheder hin, in dem nur das Religiöse gelehrt und mit der Zeit eine „völlig verkehrt gewordene Methode“ angewandt werde, ein Vorwurf, den schon Kohn erhoben hatte. Umgekehrt seien aber die modernen jüdischen Schulen zunächst in das andere Extrem verfallen, da der säkulare Unterricht dominiert habe und das religiöse Element stark vernachlässigt worden sei. In neuerer Zeit habe man jedoch erkannt, dass die modernen Lehranstalten auch „positiv religiöses Wissen und jüdischen Geist“ vermitteln müssten, womit nach seiner Meinung auch der letzte Einwand gegen moderne Schulen ausgeräumt war. Ähnlich wie der neoorthodoxe Rabbiner Samson Raphael Hirsch argumentierte auch er gegen das Chederschulwesen und für die Aneignung von säkularem Wissen, da dies nicht nur für die Bestreitung des Lebensunterhalts von Vorteil sei, sondern vor allem auch vor gänzlicher Irreligiosität bewahre. Auf Grund des kürzlich erlassenen Gesetzes, wonach die Berechtigung zum Grundbesitzerwerb vom Nachweis eines Schulbesuchs abhänge, sei für das galizische Judentum die Schulfrage nun zu einer „Lebensfrage“ geworden.562 In seinen Augen war dies 561 Diese Zahl wurde von dem Lemberger Juden Heinrich Bernstein für 1859 angegeben. Vgl. AZJ 35, 22. 8. 1859, 507. 562 Philippson bezog sich offenbar auf die Verordnung vom 18. Februar 1860, der zufolge das Recht eines Juden, Eigentum zu erwerben, davon abhängig gemacht wurde, dass er entweder

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erst recht ein Anreiz für die galizischen Juden, moderne Schulen zu gründen. Speziell wandte er sich dabei an diejenigen, die schwankend seien und den Konflikt scheuten und die sich endlich für diese Angelegenheit tatkräftig einsetzen sollten. Schließlich sprach der Magdeburger Rabbiner noch seine galizischen Kollegen direkt an und bezeichnete ihre Auffassung als Irrtum, wonach „das Ansehen Derer unter Euch, welche im Kreise unserer traditionellen Gelehrsamkeit allein erzogen und gebildet, allein in diesem gelebt haben, durch die Errichtung von Schulen, durch die zeitgemäße Bildung der Jugend leiden würde!“563 Dieser dramatische Appell in der damals wichtigsten deutsch-jüdischen Zeitung, die auch zahlreiche Abonnenten in Galizien hatte, dürfte die traditionsorientierten Juden Galiziens kaum dazu bewogen haben, ihren Widerstand gegen zeitgemäße jüdische Schulen mit säkularen Fächern und modernem Religionsunterricht aufzugeben. Ebenso dürfte auch das von Philippson erwähnte Gesetz über die Bedingungen des Grundbesitzerwerbs kaum Eindruck gemacht haben, wusste man doch in Galizien schon seit langer Zeit, dass derartige Gesetze in der Praxis kaum angewandt wurden. Einige Monate später, im Februar 1861, erging ein ministerieller Erlass, wonach in Lemberg eine Rabbinerschule zu gründen war, die zum Teil aus dem ehemaligen jüdischen Normalschulfonds finanziert werden sollte, der aus dem allgemeinen Normalschulfonds herauszulösen war. Wie der Lemberger Vorstand ungefähr eineinhalb Jahre zuvor vorgeschlagen hatte, sollte der wieder eigenständig existierende jüdische Normalschulfonds zur „Verwendung für israelitische Schul-Unterrichtszwecke“ herangezogen werden. Von der Gründung moderner jüdischer Schulen war hingegen keine Rede. Ganz im Gegenteil schien der neue Erlass in den Augen der aufgeklärten Juden Galiziens bezüglich der Bildungsreform kontraproduktiv zu sein. Denn ein Passus bestimmte, dass die bisherige Vorschrift, wonach Rabbinatskandidaten in Galizien gymnasiale und philosophische Studien nachzuweisen hatten – die ohnehin nie durchgesetzt worden war –, aufgehoben wurde und nunmehr der Nachweis der Bildung auf dem Niveau eines Untergymnasiums ausreichte.564 Damit war zu erwarten, dass die große Mehrheit der Rabbiner weiterhin sehr traditionsorientiert bleiben und sich auch in Zukunft kaum zu Gunsten moderner jüdischer Schulen einsetzen würde.565 Verstärkt wurde dieser Eindruck das Untergymnasium bzw. die unteren Klassen der Real-, Handels-, Agrikultur-, Forst, Bergoder Marineschule absolviert oder einen Offiziersgrad erreicht hatte. Vgl. Friedmann, Juden, 86, FN 1; Rosenfeld, Die jüdische Bevölkerung Galiziens von 1772 – 1867, in: ZDSJ 10 (1914), Heft 9/10, 143. Darüber hinaus musste er einen einwandfreien moralischen und politischen Leumund besitzen, die deutsche Sprache beherrschen, die jüdische Tracht abgelegt haben und einen ordentlichen Beruf vorweisen können. Vgl. Eisenbach, Judentum, 88. 563 Philippson, An unsere galizischen Glaubensgenossen, in: AZJ 36, 4. 9. 1860, 525 – 527. 564 Der ministerielle Erlass vom 21. 2. 1861 ist im Wortlaut in der AZJ 29, 16. 7. 1861, 407 zu finden. Eine Kritik an diesem aus der Perspektive eines Aufklärers ist im Anschluss daran nachzulesen. 565 Vgl. hierzu beispielsweise die Äußerung des Wadowitzer Kreisrabbiners Dr. Jakob Kranz, einer

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226 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert noch durch die Verfügung über die Gründung einer Rabbinerschule in Lemberg, die als Zugeständnis an die traditionsorientierten Juden offenbar nicht nach dem Muster des Breslauer Seminarmodells, sondern nach dem der Pressburger Jeschiva organisiert werden sollte, womit freilich das TalmudStudium von zentraler Bedeutung gewesen wäre.566 Unter solchen Voraussetzungen waren die Aussichten auf eine deutliche Zunahme moderner jüdischer Lehranstalten in Galizien sehr gering. Zwar mag die Obrigkeit bestehende jüdische Lehranstalten durchaus gegen die Angriffe traditionsorientierter Juden in Schutz genommen haben, aber grundsätzlich scheint sie – ähnlich wie die russische Regierung lange Zeit – es eher befürwortet zu haben, dass die jüdische Jugend die allgemeinen Lehranstalten besuchte. Indiz hierfür ist nicht nur der ministerielle Erlass vom Februar 1861, der zwar „israelitische Schul-Unterrichtszwecke“, aber keine Gründungen jüdischer Schulen erwähnte, sondern auch das dem Wadowitzer Kreisrabbiner Dr. Jakob Kranz im Januar 1861 abverlangte Gutachten. Auf Aufforderung des Krakauer Kreis-Präsidiums, das letztlich nur eine Anordnung der Wiener Regierung befolgte, sollte sich Kranz äußern zur „Heranbildung tauglicher israelitischer Religionslehrer“, zur „Abfassung geeigneter israelitischer Religions-, Lehr- und Sittenbücher“ sowie zur „Verzeichnung eines bestimmten Lehrplanes, nach welchem der Religionsunterricht für die israelitische Jugend sowohl an Hauptschulen, als auch an Gymnasien zu ertheilen wäre“.567 Wie sein Gutachten aussah, ist nicht bekannt, aber in unserem Zusammenhang auch nicht von Bedeutung. Was vielmehr interessiert, ist der Umstand, dass der Wadowitzer Kreisrabbiner nur seine Ansicht über die Organisation des Religionsunterrichts an den nichtjüdischen Schulen kundtun sollte, während von speziellen jüdischen Schulen keine Rede war. Daher werden sich auch die im ministeriellen Erlass erwähnten „israelitische[n] Schul-Unterrichtszwecke“ in erster Linie auf den Religionsunterricht an den nichtjüdischen Lehranstalten bezogen haben. Die Regierung hatte anscheinend kein besonderes Interesse an der Gründung spezieller jüdischer Schulen. Dies wurde letztlich auch vom Referenten des galizischen Landesausschusses der wenigen modernen Rabbiner in Galizien: „Es versteht sich von selbst, daß die neueste Verordnung des hohen Staatsministeriums, wonach die anzustellenden Rabbiner in Galizien von der Nachweisung geordneter philosophischer Studien gänzlich enthoben worden sind, jeden Bessergesinnten, dem die Hebung und Belehrung der religiösen, moralisch sittlichen Zustände seiner Glaubensgenossen am Herzen liegt, mit Schmerz erfüllen muß, da das Unterrichts- und Erziehungswesen, das gerade in Galizien im trostlosesten Zustande sich befindet, nur dann am zweckmäßigsten gehoben werden könnte, wenn die Rabbiner als Lehrer und Leiter ihrer Gemeinden neben den specifisch jüdisch-theologischen Kenntnissen auch eine allgemeine wissenschaftliche Bildung an einer Universität sich angeeignet haben würden.“ AZJ 35, 27. 8. 1861, 506. Vgl. auch AZJ 29, 16. 7. 1861, 409. 566 Vgl. AZJ 29, 16. 7. 1861, 408; Wolf, Versuche, 52. Das Vorhaben der Regierung, in Lemberg eine Rabbinerschule bzw. eine Jeschiva zu gründen, wurde allerdings 1867 wieder verworfen. Vgl. Wolf, Versuche, 52. 567 AZJ 35, 27. 8. 1861, 507.

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und Landesschulrats bestätigt, der 1869 hinsichtlich des aus dem ehemaligen jüdischen Normalschulfonds herausgelösten galizisch-jüdischen Schulfonds erklärte, „dass angesichts der bereits durchgeführten Gleichberechtigung der Juden und mangels eines konfessionellen Charakters der Schulen, die Ausscheidung dieses Fondes für ein besonderes jüdisches Schulwesen nicht mehr nötig“ sei.568 Allerdings nahm auch die Zahl der jüdischen Schüler an nichtjüdischen Lehranstalten nur sehr langsam zu. Besuchten in den 60er Jahren gerade einmal 0,5 % der jüdischen Kinder die staatlichen und staatlich anerkannten Volksschulen, so waren es 1880 auch nicht mehr als 5 %, wobei in dieser Zahl der Anteil jüdischer Schüler an den wenigen modernen jüdischen Elementarlehranstalten enthalten war.569

2.2 „Civilisatorische Arbeit“: Das erzieherische Wirken der Israelitischen Allianz zu Wien Auch in den folgenden zwei Jahrzehnten konnte sich auf Grund der Gegnerschaft der traditionsorientierten Juden und des mangelnden Willens der Wiener Regierung, die zunehmend die traditionsorientierten Juden als Gegengewicht zu den polonisierungswilligen Juden unterstützte, keine Umgestaltung des jüdischen Bildungswesens in Galizien durchsetzen. Erst ein Impuls von außen in Form der aufklärerisch gesinnten Israelitischen Allianz zu Wien570, die für eine „Verbreitung der westlich-jüdischen Werte gen Osten warb“,571 brachte Bewegung in diese Angelegenheit. Die 1873 nach dem Vorbild der Alliance Isralite Universelle gegründete Organisation hatte sich insbesondere die Aufgabe gestellt, die sozioökonomische Lage der galizischen Juden mit Hilfe eines Bildungsprogramms grundlegend zu verändern. 1884 sandte sie ihren Sekretär Moritz Friedländer (1844 – 1919) für vier Wochen nach Galizien, der die Lage an Ort und Stelle begutachten, sich mit den zuständigen Personen beraten und erste Schritte einleiten sollte.572 Grundsätzlich verfolgte die Allianz in Galizien ein Programm, das im deutsch-jüdischen Kontext schon seit längerer Zeit obsolet war. Es sollten Schulen errichtet sowie Handwerk und Ackerbau gefördert werden. Zwar erkannte man an, dass das Handwerk unter den Juden Galiziens verbreitet war, meinte aber, dass die nötige Schulbildung fehle, um es ähnlich wie ihre christlichen Kollegen gewinnbringend betreiben zu können. Daher sollte eine moderne Handwerksschule gegründet werden. Was die allgemeine Erziehung der galizischen Juden anging, so hatte man 568 569 570 571 572

Friedmann, Juden, 113. Vgl. Andlauer, Bevölkerung, 90 – 91. Vgl. zu dieser allgemein Siegel, Judentum. Siegel, Judentum, 111. Eine Zusammenfassung seines Berichts bietet Siegel, Judentum, 117.

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228 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert bereits erste Maßnahmen eingeleitet, die sich von früheren Bemühungen aufgeklärter Juden deutlich unterschieden. Die Allianz handelte nicht nur einen Kompromiss zwischen traditionsorientierten und aufgeklärten Juden aus, sondern nahm auch Abstand von einer völligen Zerstörung des traditionellen jüdischen Schulwesens. Hatte Kohn seinerzeit noch von einer Reform der Chadarim und Talmud-Torot abgeraten und stattdessen die Errichtung moderner Schulen befürwortet, so schlug die Allianz nun den anderen Weg ein. In Lemberg konnte sie traditionsorientierte und aufgeklärte Juden dazu bewegen, sich auf die Einrichtung eines sogenannten Zentralcheders zu einigen, der nicht nur die Unterweisung der jüdischen Gegenstände durch 17 Melamdim und etwa 20 Gehilfen vorsah, sondern auch den Unterricht säkularer Fächer durch acht geprüfte Lehrer. 1885 wurde dieser reformierte Cheder von ungefähr 500 Schülern besucht, deren Leistungen in den profanen Fächern, wie es hieß, „überraschend“ waren. Aus der Sicht eines deutsch-jüdischen Aufklärers war die Schule in pädagogischer Hinsicht zwar sehr mangelhaft, wichtiger war aber, dass sie Vorbildcharakter zu entwickeln schien. In Zablocie verdreifachte sich die Schülerzahl in der von der Allianz gestifteten Schule innerhalb eines Jahres von 30 auf 90 Schüler. Ebenso zählte die in Brody errichtete Nachmittagsschule für die Talmud-Tora-Schüler über 80 Zöglinge. Gerade auch hier zeigte sich klar, dass die Allianz keinen offenen Kampf gegen das traditionelle jüdische Schulwesen führen wollte, um dieses durch moderne Lehranstalten zu ersetzen, sondern sich um eine ergänzende Ausbildung in den profanen Fächern bemühte. Umgekehrt ging es ihr aber auch darum, jüdischen Kindern, die allgemeine Schulen besuchten, einen jüdischen Religionsunterricht anbieten zu können. So stellte die Allianz in Stryj eigens einen Religionslehrer an, da dort die über 600 jüdischen Kinder, die die öffentliche Schule besuchten, bislang keinerlei Unterweisung in ihrer Religion erhalten hatten. Trotz dieser Erfolgsmeldungen musste aber auch eingeräumt werden, dass an anderen Orten das Schulprojekt am Streit zwischen den beiden Parteien, beispielsweise über die Stundenzahl der jüdischen Fächer, zu scheitern drohte. Man sei also, wurde erklärt, erst am Anfang. Ermutigend sei jedoch, dass in Galizien die Juden rechtlich gleichgestellt seien, „so daß die civilisatorische Arbeit nicht etwa durch Despotismus und Anarchie immer wieder in Frage gestellt“ werde.573 Zwei Jahre später sollte Gerson Wolf folgendes Fazit ziehen: „In der großen Mehrzahl der Gemeinden ist von geregelten Schulen noch keine Spur, und die Chedarim in dem erbärmlichsten Zustande, namentlich auch was die Räumlichkeiten betrifft. Hiergegen richtet die Wiener Allianz die nachdrücklichsten Anstrengungen und bringt der guten Sache große Geldopfer. Sie gründet und un-

573 Vgl. Das galizische Werk, in: AZJ 36, 1. 9. 1885, 569 – 571. Vgl. zu Vorangegangenem auch Siegel, Judentum, 125 – 127.

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terstützt nicht allein Schulen, sondern errichtet auch Muster-Chedarim zur Vermittlung mit den in Galizien noch so überaus starken Orthodoxen.“574

2.3 Eine „culturelle Mission“: Die Baron-Hirsch-Schulen in Galizien Ein Anfang war gemacht, doch schon bald überstieg das von der Allianz in Galizien geförderte jüdische Schulwerk die finanziellen Kapazitäten. In der Person des Barons Maurice de Hirsch oder Moritz Freiherrn von Hirsch (1831 – 1896), der aus München stammte und im Osmanischen Reich mit Unternehmungen in der Eisenbahn-, Zucker- und Kupferindustrie zu einem der größten Industriellen seiner Zeit aufgestiegen war, nahte finanzkräftige Hilfe.575 Er hatte bereits zuvor die schulischen Aktivitäten der Alliance Isralite Universelle im Osmanischen Reich sehr großzügig unterstützt und wurde bald nach seiner Niederlassung im Habsburgerreich im Jahr 1878 vom Wiener Prediger Dr. Adolf Jellinek (1820 – 1893) auf die jüdische Bildungsfrage in Galizien aufmerksam gemacht. Anlässlich des 1888 gefeierten 40. Jahrestags der Thronbesteigung Kaiser Franz Josephs richtete von Hirsch schließlich einen mit zwölf Millionen Francs ausgestatteten Fonds ein, der eine grundlegende Modernisierung des jüdischen Erziehungswesens in Galizien und der Bukowina finanzieren sollte. Zunächst zögerte die Regierung, die offizielle Genehmigung zu erteilen, offenbar aus Rücksicht auf die Verfechter der polnischen wie der deutschen Sprache in dieser Region. Ebenso mag auch der Widerstand seitens der traditionsorientierten Juden eine Rolle gespielt haben, da diese, wie Grunwald es ausdrückt, das Geschenk eines trojanischen Pferdes aus der westlichen assimilierten Welt ablehnten.576 Verschiedene Kreise befürchteten also, dass die von einem gebürtigen Münchener Juden gegründete künftige Stiftung Elemente nach Galizien und der Bukowina transferieren werde, die ihrem ideologischen Standpunkt widersprachen. In der Sprachenfrage konnte sich die Organisation schließlich zu einem gewissen Kompromiss durchringen. Während für die Stiftungs-Schulen in Galizien Polnisch als Unterrichtssprache festgesetzt und somit der dortigen Tendenz zur Polonisierung entsprochen wurde, galt für die Lehranstalten der Bukowina Deutsch als Medium der Lehre, was damit zusammenhing, dass dort nahezu alle Juden dies als ihre Muttersprache betrachteten.577 Und auch die Vorbehalte der traditionsorientierten Juden wurden ernst genommen, betonte doch der Präsident der Stiftung, dass man keineswegs, wie vielfach befürchtet, „dem wahrhaft religiösen Gefühle 574 575 576 577

Wolf, Zur Geschichte des jüdischen Schulwesens in Galizien, in: AZJ 15, 14. 4. 1887, 231. Zu Hirsch vgl. Grunwald, Türkenhirsch. Vgl. Grunwald, Türkenhirsch, 69. Zur Festsetzung der Unterrichtssprachen vgl. Statuten der Stiftung, in: Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 71.

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230 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert der Individuen nahetreten“578 wolle. Ganz im Gegenteil wurde beschlossen, im Zusammenhang mit den schulischen Aktivitäten überall dort Lehrer der hebräischen Sprache anzustellen, „wo dieses behufs Beseitigung der Bedenken der orthodoxen Bevölkerung sich als nothwendig erweisen wird“.579 Wohl als Zugeständnis an die Regierung ist der Passus zu bewerten, dass auch christliche Kinder die Schulen besuchen konnten; allerdings durfte ihr Anteil 25 % nicht übersteigen.580 Daher versäumte es das Kuratorium nicht, „die patriotische und culturelle Mission der Stiftung [herauszustellen], der man nicht nachsagen darf, dass sie eine einseitige Begünstigung für eine Rasse oder Confession ist, da deren Wirkung der Gesammtbevölkerung zugute kommt und den allgemeinen staatlichen Interessen entspricht“.581 Auch wenn sich die Repräsentanten der Stiftung bemüht hatten, den Vorbehalten verschiedener Gruppen, die das Eindringen unliebsamer Kulturgüter befürchteten, Rechnung zu tragen, so sprach das Kuratorium doch von einer kulturellen Mission, die es zu erfüllen gedachte.582 Am 7. Februar 1891 wurden schließlich die Statuten der Baron HirschStiftung zur Beförderung des Volksschulunterrichtes im Königreiche Galizien und Lodomerien mit dem Grossherzogtume Krakau und im Herzogthume Bukowina offiziell genehmigt. Die Kontinuität des bisherigen Wirkens der Allianz wurde schon allein dadurch deutlich, dass ihr Sekretär Moritz Friedländer nunmehr diese Aufgabe bei der Baron-Hirsch-Stiftung wahrnahm.583 Aber auch in der Zielsetzung wollte man fortführen, was die Allianz begonnen hatte. Zweck der Stiftung sollte es sein, jüdischen Kindern in Galizien und der Bukowina Volksschulunterricht zukommen zu lassen und sie zu guten Handwerkern und Landwirten auszubilden.584 Noch im selben Jahr, als die Baron-Hirsch-Stiftung offiziell ihre Arbeit aufnahm, wurde sie von der Allianz ersucht, baldmöglichst alle von ihr in Galizien gegründeten Schulen wie auch andere Institutionen zu übernehmen. Noch 1891 sollte die Stiftung drei zweiklassige Schulen (in Tarnw, NeuSandez [Nowy Sa˛cz] und Borysław) eingliedern, die die Allianz wenige Monate zuvor ausschließlich mit finanziellen Mitteln des Barons errichtet hatte. Ebenso beschloss das Kuratorium, die älteren Schulen der Allianz in Stanislau, 578 579 580 581 582

Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 9. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 27. Vgl. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 71. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 9. Hierauf hat auch Hödl hingewiesen, dem zufolge die Baron-Hirsch-Schulen als Einrichtung des assimilationswilligen Bürgertums galten, „das gegenüber seinen ostjüdischen Glaubensgenossen und Glaubensgenossinnen eine tiefe kulturelle Kluft wahrnahm. Es hatte die gesellschaftlich-bürgerlichen Werte seiner nichtjüdischen Umgebung weitgehend übernommen und interpretierte den Zustand der galizischen Juden ähnlich abfällig wie das nichtjüdische Bürgertum. Es blickte mit dem Bewußtsein der kulturellen Überlegenheit nach Osten und wollte mittels seiner Schulen eine ,culturelle Mission‘ ausüben.“ Hödl, Armut, 326 – 327. 583 Vgl. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 7. 584 Vgl. die Statuten der Stiftung, in: Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 69.

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Kolomea, Wolanka, die Handwerkerschule in Krakau und die Subventionierung der Schule in Zablocie in die Obhut der neuen Stiftung zu überführen.585 Das Kuratorium der Stiftung war aber auch von Beginn an darauf bedacht, die Aktivitäten deutlich zu erweitern. So wurde nicht nur die Gründung von weiteren Schulen in Chrzanw, Horodenka, Wis´nicz, Brzesko, Mielec und Tarnobrzeg, sondern auch die Einrichtung von Kindergärten an mehreren Orten beschlossen.586 An allen Lehranstalten wurden qualifizierte Lehrer säkularer Gegenstände und Hebräischlehrer angestellt, die jedoch vorwiegend in Galizien selbst rekrutiert wurden, offenbar um eine mögliche Kontroverse um „fremde Mittler“ zu verhindern. Da auch weiterhin Mangel an geeignetem Lehrpersonal in Galizien selbst vorherrschte, erhielten die Kandidaten für ihre Ausbildung Stipendien.587 Die Schülerzahlen der einzelnen Lehranstalten im ersten Berichtsjahr der Stiftung waren durchaus beeindruckend und lassen die Schlussfolgerung zu, dass sich die Schulen einer gewissen Akzeptanz in der Bevölkerung erfreuten.588 Laut Hödl hatte gerade die Einführung des Hebräischunterrichts, der immerhin acht Stunden in der Woche betrug, den großen Erfolg der Schulen bewirkt. Dies sei insbesondere auch daran zu sehen, dass selbst an Orten, wo ein einflussreicher Repräsentant des traditionellen Judentums residierte, nahezu alle schulpflichtigen Kinder in die Baron-Hirsch-Schule gingen.589 Das ist sicherlich übertrieben, da die Schulen gerade in den ersten Jahren auf erheblichen Widerstand gestoßen waren und Eltern, deren Kinder diese Anstalten besuchten, nicht selten mit dem Bann bedroht wurden.590 Darüber hinaus ist fraglich, ob die Baron-Hirsch-Schulen tatsächlich, wie Hödl meint, als „Alternative zum Schultypus des Cheders“ konzipiert waren und das Jiddische zurückdrängen sollten.591 Vielmehr scheinen sie als Ergänzung und paralleles System zum traditionellen jüdischen Erziehungswesen gedacht gewesen zu sein, was mit ein Grund für die zunehmende Akzeptanz seitens der traditionsorientierten Juden gewesen sein mag.592 Grundsätzlich darf man sich keinen falschen Begriff von den Baron-HirschSchulen machen. Sie mögen sich zwar deutlich vom Cheder abgehoben haben, mit jüdischen und allgemeinen Lehranstalten in Mittel- und Westeuropa hatten sie aber nur wenig gemein, wenn man bedenkt, dass es sich dabei um 585 586 587 588

589 590 591 592

Vgl. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 10 – 11. Vgl. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 23 – 24. Vgl. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 17 – 18. Die Schülerzahlen in den einzelnen Anstalten: Tarnw 120, Neu-Sandez 81, Chrzanw 101, Zablocie 100, Stanislau 352, Kolomea 393, Borysław 316, Wolanka 206. Vgl. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung, 1892, 12 – 15. Vgl. Hödl, Armut, 328; Hödl, Bettler, 274 – 275. Vgl. hierzu auch Siegel, Licht, 100. Vgl. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 13; Andlauer, Bevölkerung, 94; Siegel, Judentum, 155 – 156. Hödl, Armut, 327. Vgl. hierzu auch Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 13.

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232 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert ein- und zweiklassige Schulen handelte. Es ging vor allem um die Vermittlung von säkularen Elementarkenntnissen insbesondere der Landessprache (oder dessen, was dafür gehalten wurde). Zwar gab es auch Hebräisch-, aber eben keinen modernen Religionsunterricht, wodurch ein weiterer möglicher Konfliktpunkt vermieden worden war. Umgekehrt bedeutete dies aber auch, dass die Kinder ihre grundlegende religiöse Unterweisung noch an einem anderen Ort erhalten mussten – dem Cheder. Der gewisse Erfolg der Baron-HirschLehranstalten lag also wohl vor allem darin begründet, dass diese in den Augen der traditionsorientierten Juden das traditionelle Schulwesen letztlich nicht in Frage stellten, sondern auf behutsame Versöhnung mit der Moderne ausgerichtet waren. Gerade im Verzicht auf den Wunsch, das im Westen verbreitete jüdische und allgemeine Schulwesen ohne größere Abweichungen übertragen zu sehen, lag der eigentliche Fortschritt gegenüber allen bisherigen Bildungsreformversuchen vor allem auch der deutschen Rabbiner in Osteuropa. Im Schuljahr 1904/05 unterhielt die Baron-Hirsch-Stiftung in Galizien immerhin 48 Volksschulen mit 7 859 Schülern und 205 Lehrern, von denen 165 für die Volksschulfächer und 40 für das Hebräische zuständig waren. Darüber hinaus finanzierte sie noch Abendschulen für Kinder und Erwachsene sowie Handwerkerlehranstalten.593 Führt man sich vor Augen, dass in Ostgalizien, wo die Baron-Hirsch-Schulen in erster Linie angesiedelt waren, der Anteil der jüdischen Volksschüler von 1890 bis 1900 um 60 % zunahm, so wird der außerordentliche Erfolg der Stiftung deutlich.594 Und dennoch entsprachen die Schülerzahlen nur einem Bruchteil des vorhandenen Potentials.

2.4 Über die „Zivilisierung“ der galizischen Juden: Bertha Pappenheims Reise nach Galizien Dass trotz aller von außen unternommenen Anstrengungen im Bereich des jüdischen Erziehungswesens in Galizien augenscheinlich noch immer vieles im Argen lag, wusste um diese Zeit die in Wien geborene orthodoxe Jüdin und Erzieherin Bertha Pappenheim595 (1859 – 1936) zu berichten. Im Auftrag des Frankfurter Israelitischen Hilfsvereins sowie des Hamburger Jüdischen Zweigkomitees zur Bekämpfung des Mädchenhandels trat sie 1902 mit ihrer Begleiterin Sara Rabinovicˇ (1880 – 1918) eine fünfwöchige Studienreise nach Galizien an, von der sie ihre Eindrücke und Schlussfolgerungen 1904 in einer 593 Vgl. Die Baron Hirsch-Schulen in Galizien, in: ZDSJ 3 (1907), Heft 4, 64. 594 Zu den Zahlen und der Bedeutung der Hirsch-Schulen für die Zunahme der jüdischen Volksschulfrequenz vgl. Andlauer, Bevölkerung, 91. 595 Bertha Pappenheim war eine der führenden Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Frauenbewegung. Sie gründete 1904 im Anschluss an die Tagung des Internationalen Frauenkongresses in Berlin den Jüdischen Frauenbund, dem sie bis 1924 vorstand. Darüber hinaus gab sie 1917 die Anregung, die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden zu gründen. Vgl. Pappenheim, Bertha, in: Jüdisches Lexikon, Bd. 4/1, 774 – 775.

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Broschüre veröffentlichte. In ihrer Einleitung verwahrte sie sich zunächst deutlich gegen einen grundsätzlichen und uneingeschränkten Kulturtransfer von West nach Ost: „Meine österreichische Landsmannschaft, meine orthodox-jüdische Erziehung, und nicht zuletzt mein Beruf, der mich auf eine zehnjährige Tätigkeit in der Armenpflege blicken lässt, waren für mich selbst gewissermaßen die Entschuldigung, mich zu einer Reise, die, wie ich hoffe, nicht ohne praktische Ergebnisse bleiben wird, anzubieten. Denn nicht alles, was dem Nichtösterreicher, und nicht orthodox erzogenen Juden in Galizien fremd oder befremdlich erscheint, kann einfach auf die Liste dessen gesetzt werden, was mit dem westeuropäischen Kulturhobel geglättet werden soll.“596

Doch schon nach wenigen Seiten wird klar, wie sehr die neo-orthodox erzogene Jüdin Pappenheim das Ideal der Bildung, letztlich das der Tora im derech erets, verinnerlicht hatte. Ihre Reiseroute ergab sich anhand der BaronHirsch-Schulen, die die aus Wien stammende Jüdin „als Oasen in der Wüste“ bezeichnete. Wie sie ausführte, existierten zur Zeit ihrer Reise 50 Hirsch’sche Stiftungsschulen mit einem Lehrpersonal von 230 Personen. „Dennoch ist“, bemerkte sie, „jede Schule ein zum Teil schwer eroberter Befestigungspunkt im Kampfe gegen alle jene Schäden, an denen die jüdischen Einwohner Galiziens wie an einer schweren, sich stetig forterbenden Krankheit leiden. Die Baron Hirsch-Schulen sind es, die, wo sie bestehen, langsam den Einfluss der Cheder für einzelne Gemeinden oder Familien wenigstens abschwächen, oder verdrängen.“597 Sodann beschrieb Pappenheim das Wesen der von ihr besuchten galizischen Chadarim, wobei ihre Verachtung für derartige Anstalten, wie sie auch im deutschen Judentum der damaligen Zeit verbreitet war, deutlich zu Tage trat. Diesem negativen Eindruck von den traditionellen jüdischen Knabenschulen stellte Pappenheim als Kontrast die Baron-Hirsch-Schulen gegenüber.598 Darüber hinaus bezog sie sich implizit auf einen der größten Erfolge des (neo-orthodoxen) deutschen Erziehungsprinzips, wenn sie den in Galizien vorherrschenden Mangel an jüdischer Mädchenerziehung kritisierte. Es gebe in ganz Galizien nur sechs jüdische Anstalten, die sich der Mädchenerziehung widmeten, nämlich die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody sowie die drei Haushaltungsschulen in Tarnw, Stanislau und Kolomea. Insgesamt nähmen alle diese Einrichtungen 100 bis 120 Mädchen auf, was einen verschwindend geringen Prozentsatz darstelle. Zudem seien die Einrichtungen in Krakau, Lemberg und Brody völlig unzureichend. Nur die drei Haus-

596 Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 6. 597 Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 11. 598 Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 12 – 13.

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234 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert haltungsschulen der Baron-Hirsch-Stiftung gäben „ein sehr erfreuliches Bild zivilisatorischer Tätigkeit“ ab.599 Immer wieder betonte Pappenheim bei ihrer Darstellung der galizischjüdischen Verhältnisse die kulturelle Trennlinie, die zwischen den Juden des Westens und des Ostens verlaufe: „Für jeden durch die Kultur verfeinerten Menschen wäre ein Aufenthalt unter den dort landläufigen Bedingungen gleich dem in einer Folterkammer, die zur Verletzung aller unserer Sinne und Empfindungen eingerichtet ist.“600 Die Kulturlosigkeit der galizischen Juden im Vergleich zu ihren Glaubensbrüdern im Westen manifestierte sich für Pappenheim vor allem auch in ihrer Passivität: „Ich halte es für sehr bezeichnend für den Zustand dumpfen Dahinlebens der großen jüdischen Volksmasse in Galizien, daß Ideen zur Förderung innerhalb derselben von außen gebracht werden müssen. Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse aus eigener Kraft sind mir nicht bekannt geworden, weder im Lande selbst, noch bei den Galizianern, die außer Landes leben.“601

Die galizischen Juden waren also nach ihrer Meinung kulturell so tief stehend, dass Vorschläge für eine Besserung ihrer Situation nur von außerhalb kommen konnten, vom kulturell überlegenen deutschen Judentum. Schon allein diese Äußerung lässt erkennen, dass sie einen Kulturtransfer von West nach Ost für notwendig hielt. Zugleich deutete sie an, dass bei den deutschen oder westeuropäischen Juden eine gewisse Verantwortlichkeit und Bereitschaft vorhanden war, ihre Glaubensgenossen im Osten kulturell aufzurichten. Aus der Passivität der galizischen Juden auf der einen und dem Verantwortungsgefühl ihrer westlichen Glaubensgenossen auf der anderen Seite leitete Pappenheim offenbar ihre Legitimation ab, um im Folgenden Vorschläge für eine Verbesserung der jüdischen Lebensbedingungen in Galizien zu entwickeln. Als grundlegenden Gedanken, wie den verarmten galizischen Juden geholfen werden könnte, bezeichnete Pappenheim die bereits von den Maskilim erhobene Forderung der „Rückkehr zum Ackerbau“, da sich hieraus Lebensbedingungen ergäben, die in jeder Hinsicht gesund und wünschenswert seien, wobei dieses Ziel allerdings nicht leicht zu erreichen sei.602 Insgesamt sei es jedoch unabweisbar, dass „in erster Linie Kultur, d. h. Erziehung und hygienische Begriffe ins Land zu tragen sind, und daß man sich als Pflanzstätte derselben der Kinder und der heranwachsenden Jugend zu sichern haben wird“.603 Konkret sollte dies durch die Einrichtung von Krippen und Kindergärten 599 600 601 602 603

Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 19. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 27. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 37 – 38. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 38 – 39. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 53.

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bewirkt werden,604 wobei der West-Ost-Kulturtransfer insoweit einzuschränken sei, als derartige Einrichtungen den speziellen Landesverhältnissen angepasst werden müssten und „nicht einfach die Statuten deutscher Anstalten bindend nach Galizien übertragen“605 werden dürften. Zudem sollten eine Haushaltungsschule und kleine Erziehungsheime gegründet werden.606 Um vorbildliche Kulturstätten für das jüdische Galizien zu schaffen, brauche man, so Pappenheim, vor allem eine Anzahl tüchtiger Leiterinnen. Auch hierbei favorisierte sie, damit die „Zivilisierung“ der galizischen Juden gelinge, einen Kulturtransfer von West nach Ost: „Das beste Menschenmaterial muß herangezogen werden, damit die ersten, vorgeschobenen Posten im Kampf gegen Unwissenheit und Unkultur ihrer Aufgabe gewachsen sind. Um das zu ermöglichen, müssen die westeuropäischen jüdischen Gemeinden etwas aus ihrer vornehmen Exklusivität heraustreten und dem Gedanken Raum geben, daß es auch ihre Pflicht ist, an der Kulturarbeit für Galizien in ihrer Weise teilzunehmen“, indem „alle gut geleiteten jüdischen Anstalten es sich zur Pflicht machen, für einige Zeit unentgeltlich je eine galizische Hospitantin zur Ausbildung“607 aufzunehmen. Nach ungefähr zehn Jahren der Existenz solcher Anstalten (Kinderkrippen, Kindergärten, Horte, Haushaltsschulen, Volksschulen) ergäbe sich in Galizien selbst eine Gelegenheit zur Ausbildung des benötigten Fachpersonals. Zunächst müsse man allerdings die Lehrkräfte noch aus dem Ausland beziehen oder aber Einheimische im Ausland ausbilden lassen, was wohl häufiger der Fall sein werde, da sich „deutsche Frauen und Mädchen“ kaum im notwendigen Umfang finden ließen, um kulturelle Mittlertätigkeit in Galizien zu verrichten.608 Dass nicht genügend deutsche Jüdinnen den Gang als kulturelle Mittlerinnen nach Galizien antreten würden, liege aber wohl nicht nur an deren fehlenden Polnischkenntnissen, sondern auch an der mangelnden Bereitschaft zu einem Aufenthalt, der dem in einer „Folterkammer“ gleichen würde. Einen ähnlichen Vorschlag wie Pappenheim hatte kurz zuvor der orthodoxe Bremer Rabbiner Leopold Rosenak (1869 – 1923) gemacht, nachdem er 1902 im Auftrag des Rabbinerverbands nach Galizien gereist war, um die dortigen religiösen Führer von der Notwendigkeit eines Engagements bei der Bekämpfung der jüdischen Prostitution zu überzeugen. Wie er in seinem Referat in der Frankfurter Rabbinerversammlung vom 7. Juli 1902 erklärte, beschäftigte sich das Hamburger Comitee – gemeint war wohl das 1897 gegründete Jüdische Zweigkomitee zur Bekämpfung des Mädchenhandels in Hamburg – 604 605 606 607

Vgl. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 41 – 42. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 54. Vgl. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 54. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 56. In ähnlicher Weise sollte zudem in Deutschland und England die Bereitschaft der Krankenpflegerinnen-Vereine zur Ausbildung von Pflegerinnen für und aus Galizien erzeugt werden, um damit allgemein die Neigung in Galizien, diesen Beruf zu ergreifen, zu fördern. Vgl. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 59. 608 Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 57.

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236 Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa im 19. Jahrhundert mit der „Frage der Sendbotinnen, die nach Galizien geschickt werden sollen, um schon bei den Kindern mit der Erziehung zu beginnen und sie zu nützlicher Arbeit anzuhalten“, damit sie nicht auf Grund ihrer materiellen Not später zur Prostitution gezwungen wären.609 Nach Rosenaks Ansicht war die Ursache für den bei den osteuropäischen Juden häufig vorkommenden Mädchenhandel ihr soziales Elend. Insofern sei es „für uns“, so Rosenak weiter, unbedingte Pflicht, alles zu unternehmen, um die sozialen Verhältnisse der Juden in Galizien wie auch in Rußland zu heben. Daher sollten nun Sendbotinnen oder Volkspflegerinnen zunächst nach Galizien geschickt werden, um die Erziehung und Ausbildung junger jüdischer Mädchen zu übernehmen und um sie vom „Segen der Arbeit“ zu überzeugen. Damit würde „an der Grundquelle des Übels Hand angelegt werden, denn der Grundzug der Prostitution ist Mangel an Bildung und Arbeit“.610 Dieser Mangel sollte nach Rosenaks Vorstellung durch die kulturelle Mittlerrolle von deutschen Jüdinnen in Osteuropa behoben werden. Anders als Pappenheim schien er zu glauben, dass sich tatsächlich jüdische Frauen aus Deutschland finden würden, die gewillt waren, eine derartige Kulturaufgabe in Osteuropa zu übernehmen. Für Pappenheim konnte die kulturelle Besserung der galizischen Judenschaft aber auch noch durch eine andere Maßnahme erreicht werden, regte sie doch zusätzlich zu ihren Vorschlägen die Einrichtung einer Zentralstelle für Volksbibliotheken und Volksbelehrung an. Und auch hier ist die kulturelle Transferrolle der deutschen Juden, die sie offenbar im Blick hatte, greifbar. Um eine baldige Gründung dieser Zentralstelle zu gewährleisten, sollten nämlich „Interessenten für dieselben durch Sammelstellen in Deutschland Zeitschriften und Bücher an eine Zentralstelle in Galizien schicken, von wo aus die Organisierung der Versendung nach den verschiedenen Orten in nicht zu ferner Zeit beginnen kann“.611 Es ist kaum daran zu zweifeln, dass ein Großteil dieser in Deutschland gesammelten Schriften nicht nur in deutscher Sprache verfasst gewesen wäre, sondern auch inhaltlich das deutsch-jüdische Kulturmodell zum Ausdruck gebracht und somit zu einem kulturellen Transfer beigetragen hätte. Nichts deutet allerdings darauf hin, dass die Vorschläge Pappenheims, Rosenaks (und auch Rabinovicˇ’) auf Resonanz gestoßen wären. Eine nicht geringe Zahl der galizischen Juden entschied sich angesichts der weiter anhaltenden Massenarmut dafür, ihre Herkunftsorte zu verlassen und sich weiter westlich niederzulassen. Hier waren sie selbstverständlich umso stärker mit „fremden“ Kultureinflüssen konfrontiert, ein Umstand, der allerdings nicht mehr im Rahmen dieses Buches erörtert werden kann.612 609 610 611 612

Rosenak, Bekämpfung, 12. Rosenak, Bekämpfung, 13. Pappenheim/Rabinowitsch, Lage, 62. Vgl. hierzu vor allem das bereits zitierte exzellente Werk Hödl, Bettler sowie Hödl, Shtetl.

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IV. Orthodoxes deutsches Judentum und die jüdische Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert 1. Das Tora im derech erets-Ideal des orthodoxen deutschen Judentums: Ein Vorbild für den Osten? Während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Ideal von Tora im derech erets für die deutsch-jüdische Orthodoxie zur Richtschnur für eine Lebensgestaltung, die die Verbindung von Glauben und weltlicher Kultur nicht nur zuließ, sondern sogar als erstrebenswertes Ziel propagierte. Orthodoxe Juden engagierten sich, soweit dies der religiösen Observanz nicht widersprach, in allen Bereichen der deutschen Gesellschaft und entwickelten einen ausgeprägten deutschen Patriotismus. Die erhebliche Zunahme weltlicher Bildung hatte jedoch zur Folge, dass bei den gesetzeskonformen Juden Deutschlands das jüdische Wissen im Vergleich zu früheren Generationen wie auch zur osteuropäischen Orthodoxie stark zurückging. Auch wenn sich um die Jahrhundertwende bei den Anhängern des toratreuen Judentums in Deutschland Zweifel an der Gültigkeit des Ideals von Tora im derech erets mehrten, so war doch die deutsche Orthodoxie weiterhin der Ansicht, dass die osteuropäische Orthodoxie von ihr lernen könne, wie den negativen Erscheinungen der Moderne wirksam zu begegnen sei und somit das traditionelle Judentum erhalten werden könne.1 Insofern sahen die orthodoxen Juden ihr Abwehrkonzept von Tora im derech erets trotz der unbestreitbaren Mängel auch weiterhin grundsätzlich als auf den Osten übertragbar an. Doch auch in der osteuropäischen Orthodoxie wurden seit der Jahrhundertwende vereinzelt Stimmen laut, die sich für einen Transfer des Tora im derech erets-Ideals aussprachen. So stellte beispielsweise eine der anerkanntesten talmudischen Autoritäten des Russländischen Reiches, Elijas Klatzkin (1852 – 1932), 1906 in einem Beitrag für den Israelit fest, dass sich das traditionsorientierte Judentum im Zarenreich auf Grund eines seit einigen Jahrzehnten herrschenden Generationenkonflikts in einer schweren Krise befinde. Laut Klatzkin hatten die Rabbiner und Gemeindeführer einen großen Fehler begangen, als sie die nach weltlicher Bildung strebende Jugend verurteilten und jede Aneignung säkularen Wissens verboten. Dies habe zu einer Abwendung der jungen Generation vom traditionellen Judentum geführt:

1 Vgl. Breuer, Orthodoxy, 77 – 78.

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238 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert „Wir sind um unsere Jugend gekommen. Sie hat sich von uns entfernt und nun steht sie uns als erbitterter Feind gegenüber. An dieser traurigen Erscheinung trägt wohl nicht zum kleinen Teil die Schuld der fanatische Kampf gegen die Zivilisation, welcher nur durch den bedauernswerten Mangel an profaner Bildung zu erklären ist, an dem das orthodoxe Judentum Osteuropas und leider auch die Mehrzahl seiner geistigen Führer so sehr leidet.“2

Demgegenüber sei jedoch die Orthodoxie in Deutschland durch die Einführung des Tora im derech erets-Prinzips gerettet worden. Daher müsse das russländische Judentum von seinen orthodoxen Glaubensgenossen in Deutschland lernen und eine orthodoxe jüdische Literatur und Presse für die Jugend ins Leben rufen. Für Klatzkin war die deutsche Neo-Orthodoxie jedoch nicht nur ein Vorbild für die Wahrung des Glaubens in einer modernen Gesellschaft, sondern er erwartete von ihr auch einen aktiven Beitrag zur Bewältigung der Krise im Zarenreich: „Die orthodoxe Judenheit Deutschlands möge uns in diesem kritischen Moment bei der Initiative zur Stärkung der orthodoxen Judenheit Rußlands behilflich sein.“3 Dass Klatzkin allerdings mit seiner Meinung keineswegs die Haltung der traditionsorientierten Mehrheit in Osteuropa zum Ausdruck brachte, zeigte sich nur wenige Jahre später, als Ende Mai 1912 toratreue Juden aus Ost und West gemeinsam die orthodoxe Organisation Agudat Israel in Kattowitz gründeten. Eines der beherrschenden Themen bei dieser Konferenz war die Möglichkeit eines Transfers der Tora im derech erets-Ideologie in den Osten durch die neue Vereinigung. Laut Mordechai Breuer setzte die westliche Orthodoxie große Hoffnung in eine gewisse Symbiose, durch die der Osten vom Westen lernen würde, dass Kultur, in das Innerste der Tora eingepflanzt, weder feindlich noch zerstörerisch sei. Demgegenüber könne der Westen vom Osten das Studium der Tora und die Liebe zur Tora lernen. So vertrat auch Jacob Rosenheim (1870 – 1965), der seit 1906 als Schriftführer der 1885 von Samson Raphael Hirsch gegründeten Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums fungierte, in seiner Eröffnungsrede in Kattowitz die Ansicht, dass die jungen Leute im Westen den Osten wegen des Wissens und des Studiums der Tora benötigten, während der Osten den Westen auf Grund seiner Erfahrung und seiner Kenntnis hinsichtlich der Verständigung mit der europäischen Kultur brauche.4 Allerdings versuchten die deutschen Teilnehmer in Kattowitz gegenüber den misstrauischen Führern der osteuropäischen Orthodoxie den Eindruck zu vermeiden, dass die Gründung von Agudat Israel der Verbreitung von westlicher Bildung im osteuropäischen Judentum dienen 2 Klatzkin, Das orthodoxe Judentum in Rußland und seine Bedürfnisse, in: Der Israelit 20, 17. 5. 1906, 3. 3 Klatzkin, Das orthodoxe Judentum in Rußland und seine Bedürfnisse, in: Der Israelit 20, 17. 5. 1906, 4. Vgl. zu Vorangegangenem auch Breuer, Orthodoxy, 79. 4 Vgl. Breuer, Orthodoxy, 83 – 84 und insbes. Rosenheim, „Agudas Jisroel“, 167 – 168.

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Das Tora im derech erets-Ideal des orthodoxen deutschen Judentums

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könne. Insofern kam es der deutschen Delegation in Kattowitz höchst ungelegen, dass der aus Warschau stammende Mosche Pfeffer aus Begeisterung über die Reden der deutschen Vertreter auf die Tribüne stürmte und ausrief: „,Ich gelobe hiermit 50 000 Rubel für die Gründung einer Realschule in Warschau nach dem Muster der Realschule Samson Raphael Hirschs in Frankfurt.‘“5 Dieser Vorfall schien den osteuropäischen Teilnehmern zu bestätigen, dass ihr Misstrauen keineswegs unberechtigt war. Insofern war die Reaktion Rosenheims nur allzu verständlich, wenn er in seinen Erinnerungen bemerkte: „Man kann sich vorstellen, wie peinlich mir dieser gutgemeinte Gefühlsausbruch war, der die Gefahr einer ,Einschleppung‘ deutscher Kultur nach dem jüdischen Osten durch die Agudas Jisroel geradezu ad oculos demonstrierte!“6 Dieser ausdrücklich von einem orthodoxen Juden aus Osteuropa geäußerte Wunsch nach einem Kulturtransfer von West nach Ost hatte zur Folge, dass der in Kattowitz nicht anwesende Brisker Rav Chaim Solovejcˇik (1853 – 1918) über seinen Sekretär dem Provisorischen Comitee ein Schriftstück überreichen ließ, in dem er anhand von „18 Anordnungen“ das Verbot jeder Einmischung der künftigen Agudat Israel in russländisch-jüdische Erziehungs- und Gemeindefragen zur Bedingung für seine weitere Beteiligung machte.7 Damit schien die von den traditionsorientierten Autoritäten des osteuropäischen Judentums befürchtete Gefahr eines Transfers des Tora im derech erets-Ideals nach Osten zunächst gebannt. Kurze Zeit später sollte aber der Erste Weltkrieg ausbrechen, was die Situation schlagartig änderte. Anfang 1916 veröffentlichte der Dozent am orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin Dr. Joseph Wohlgemuth (1867 – 1942) in der von ihm herausgegebenen orthodoxen Zeitschrift Jeschurun einen Artikel mit dem Titel Deutschland und die Ostjudenfrage. Darin sprach er sich zunächst dafür aus, die „Juden der Westprovinzen Rußlands weder zu polonisieren noch zu germanisieren, sondern ihnen ihre Eigenart zu erhalten“,8 was sowohl im Interesse Deutschlands als auch der osteuropäischen Juden selbst liege. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse aber insbesondere das Bildungsproblem der osteuropäischen Juden auf richtige Weise gelöst werden. Wie aber sah für Wohlgemuth die „richtige Lösung“ dieses Problems aus? Zwar hatte sich Wohlgemuth gegen eine Zwangsgermanisierung ausgesprochen. Er glaubte jedoch, dass sich die osteuropäischen Juden nach einem militärischen Sieg aus eigenem Antrieb unweigerlich der „überragende[n]“ deutschen Kultur stark annähern würden, was wohl zur Lösung des Bildungsproblems führen würde.9 Für Wohlgemuth kam es dabei nur darauf an, 5 6 7 8 9

Zitiert nach Rosenheim, Erinnerungen, 122. Rosenheim, Erinnerungen, 122. Vgl. Rosenheim, Erinnerungen, 123. J. Wohlgemuth, Deutschland und die Ostjudenfrage, in: Jeschurun 3 (1916), Heft 2, 65. J. Wohlgemuth, Deutschland und die Ostjudenfrage, in: Jeschurun 3 (1916), Heft 2, 82.

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240 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert dass der deutsche Kultureinfluss in einer die besonderen Umstände berücksichtigenden Weise zum Tragen kam, damit das Wesen des osteuropäischen Judentums erhalten blieb. Dennoch schienen aber nach seiner Ansicht wesentliche Merkmale des osteuropäischen Judentums angesichts der Einwirkung der deutschen Kultur zur Disposition zu stehen, wenn er unter Hinweis auf ein Zitat von Karl Emil Franzos bemerkte: „Einen solchen Magnet wird für die Ostjuden, sobald sie mit ihr in Berührung kommen, die deutsche Kultur, vor allem die deutsche Sprache bilden, und es ist ganz zwecklos, sich dieser Entwickelung entgegenzustemmen.“10 Schließlich kam Wohlgemuth bei seiner Behandlung des osteuropäischjüdischen Bildungsproblems auch auf den Cheder zu sprechen, der zwar erhalten werden müsse, aber nur hinsichtlich seiner Idee und nicht seiner bisherigen Form, da diese lange Zeit sehr unvollkommen gewesen sei.11 Damit hatte Wohlgemuth seine Kritik am traditionellen Schulwesen der osteuropäischen Juden zum Ausdruck gebracht, die von der großen Mehrheit der deutschen Orthodoxie geteilt wurde. Ungefähr ein Jahr später nahm er in einem weiteren Artikel für Jeschurun dieses Thema erneut auf, wobei er noch deutlicher wurde, indem er allen osteuropäischen Talmudschülern vorwarf, sich „hermetisch von den Elementen der allgemeinen Bildung abzuschließen“.12 Unverblümt stellte er fest, dass man gegen die grundlegende und von den orthodoxen osteuropäischen Juden als legitim empfundene Ablehnung der Profanbildung protestieren müsse.13 Insofern war es nicht verwunderlich, dass nach Wohlgemuths Ansicht die Zustände im osteuropäischen Judentum seit Jahrzehnten unhaltbar waren.14 Wer aber nun erwartete, dass er auf Grund dieser substanziellen Kritik am Erziehungswesen der osteuropäischen Glaubensgenossen für einen weitgehenden Kulturtransfer von West nach Ost eintrat, sah sich getäuscht. Ganz im Gegenteil war es seiner Meinung nach der „verhängnisvollste Fehler“, „das westeuropäische Schulwesen nach Osten zu verpflanzen“. Vielmehr müsse der Cheder die Schule des osteuropäischen Judentums bleiben, „weil er allein die Erhaltung der sittlichen Qualitäten garantiert“.15 Die deutsche Orthodoxie sollte sich bei der Umgestaltung des osteuropäisch-jüdischen Schulwesens darauf beschränken, „nur die prinzipiellen Grundsätze“ aufzuzeigen, jedoch keine „Vorschläge über die Ausführung im Einzelnen“ machen.16 Damit sprach sich Wohlgemuth auf der praktischen Ebene allenfalls für einen äußerst gemäßigten Kulturtransfer aus. Zwischen den Zeilen aber hatte er dem orthodoxen Judentum Osteuropas zweifellos ans Herz gelegt, das von Hirsch formulierte Prinzip der Tora im 10 11 12 13 14 15 16

J. Wohlgemuth, Deutschland und die Ostjudenfrage, in: Jeschurun 3 (1916), Heft 2, 82. Vgl. J. Wohlgemuth, Deutschland und die Ostjudenfrage, in: Jeschurun 3 (1916), Heft 2, 82 – 83. J. Wohlgemuth, Erziehungsfragen in Ost und West, in: Jeschurun 4 (1917), Heft 2, 72. Vgl. J. Wohlgemuth, Erziehungsfragen in Ost und West, in: Jeschurun 4 (1917), Heft 2, 74. Vgl. J. Wohlgemuth, Erziehungsfragen in Ost und West, in: Jeschurun 4 (1917), Heft 2, 72. J. Wohlgemuth, Erziehungsfragen in Ost und West, in: Jeschurun 4 (1917), Heft 2, 75. J. Wohlgemuth, Erziehungsfragen in Ost und West, in: Jeschurun 4 (1917), Heft 2, 74.

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Das Tora im derech erets-Ideal des orthodoxen deutschen Judentums

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derech erets zu übernehmen, wobei der derech erets in diesem Fall von der deutschen Kultur repräsentiert werden sollte.17 Weitaus deutlicher als Wohlgemuth sprach sich um die gleiche Zeit Oscar Wolfsberg (1893 – 1957), Zögling des orthodoxen Berliner Rabbinerseminars und späterer Botschafter Israels in der Schweiz18, für einen Transfer deutschorthodoxer Erziehungs- und Bildungselemente in das traditionelle osteuropäische Judentum aus. In einem Artikel für den Israelit vom Oktober 1916 warf der Anhänger des Mizrachi, der Organisation des religiösen Zionismus, zunächst die rhetorische Frage auf, ob man in die Chadarim und Jeschivot des Ostens nicht auch Deutsch als Unterrichtsfach einführen solle. Ohne das dabei zu Tage tretende kulturelle Überlegenheitsgefühl überdecken zu wollen, erklärte er darüber hinaus im Hinblick auf das reformbedürftige jüdische Schulsystem im Osten, dass eine Rücksicht auf die „pädagogisch minderwertigen“ Melamdim nicht angebracht sei. Problematisch sei allein die Frage, woher man neue Lehrer nehmen solle. Sein Lösungsvorschlag war zum einen, aus dem Kreis der Jeschiva-Bachurim sowie privater Talmudisten die für den Lehrberuf am besten Geeigneten auszuwählen, zum anderen würde aber auch „mancher deutsche Lehrer […] gern nach Osten wandern, um an der Erziehung teilzunehmen“.19 Damit wies Wolfsberg orthodoxen deutsch-jüdischen Lehrern zweifellos eine Mittlerrolle bei der Verbreitung moderner pädagogischer Methoden zu. Zugleich kam er auch auf die Problematik der Einführung von profaner Bildung an den traditionellen jüdischen Schulen in Osteuropa zu sprechen, wobei sich jedoch die Frage stelle, ob man an allen Schulen eine „Einführung in das profane Wissen“ geben oder nur einige „Fachschulen“ einrichten solle, um dem Wunsch derer zu entsprechen, die sich weltliche Kenntnisse aneignen wollten. Ihnen würden hier glaubenstreue jüdische Lehrer ohne Zwang die Elemente der säkularen Kultur vermitteln und sie somit in ihrem Glauben bewahren. „Bei all dem – denn es bedarf nicht vieler Stunden dafür, und der Stundenplan darf eben nur das Wesentliche aufnehmen – würde“, so Wolfsberg, „das im Mittelpunkt stehende Talmudstudium extensiv und intensiv wie zuvor betrieben werden können.“20 Zweifellos favorisierte auch Wolfsberg bei seinen Überlegungen bezüglich der Reform des osteuropäisch-jüdischen Bildungswesens das deutsch-orthodoxe Prinzip der

17 In diesem Sinne ist auch der folgende Vorwurf von Wohlgemuth zu verstehen: „Von keinem der Großen, deren das Ostjudentum eine schier unübersehbare Zahl sein eigen nennt, ist der Versuch gemacht worden, das Judentum, sein Wesen und seinen Inhalt, seine Lehren und seine Gesetze, auf Grund der Denkgesetze auf eine dem Denken unserer Zeit entsprechende Basis zu stellen, keiner hat es unternommen, sich mit dem Wissen unserer Zeit großzügig auseinanderzusetzen.“ J. Wohlgemuth, Erziehungsfragen in Ost und West, in: Jeschurun 4 (1917), Heft 2, 68. 18 Nach seiner Alija änderte Wolfsberg seinen Namen in Jeschajahu Aviad. 19 Wolfsberg, Das ostjüdische Bildungsproblem, in: Der Israelit 43, 26. 10. 1916, 2. 20 Wolfsberg, Das ostjüdische Bildungsproblem, in: Der Israelit 43, 26. 10. 1916, 2.

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242 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Tora im derech erets, wobei er jedoch im Gegensatz zur Praxis im orthodoxen deutschen Judentum den Vorrang des Talmudstudiums betonte. Was sich hingegen die orthodoxen osteuropäischen Führer von der durch den Krieg verursachten Begegnung zwischen Ost und West erwarteten, brachte der russländische Rabbiner Jechiel Weinberg21 (1884 – 1966) um die gleiche Zeit wie Wohlgemuth ebenfalls in einem Aufsatz für den Jeschurun zum Ausdruck: „Von der Annäherung an die deutschen Juden, die ja in hohem Maße alle jene Vorzüge besitzen, die uns abgehen, erhoffen wir Großes. Unsere deutschen Brüder müßten aber eben als Brüder zu uns kommen. Bevor sie uns bessern wollen, müssen sie lernen uns zu verstehen. Sie mögen uns belehren, aber auch von uns lernen.“22

Weinberg schien für einen Kulturtransfer von West nach Ost, der vor allem Bildung implizieren würde, sehr aufgeschlossen gewesen zu sein, solange nur die deutschen Juden dabei keine arrogante und paternalistische Haltung an den Tag legten und vor allem auch selbst die Bereitschaft zeigten, charakteristische Elemente des osteuropäischen Judentums zu rezipieren. Jedoch revidierte Weinberg seine Ansicht schon kurze Zeit später in einem anderen Aufsatz, als er erklärte, dass der Weg des gesetzestreuen deutschen Judentums für die Massen im Osten nicht gangbar wäre: „Das orthodoxe Deutschland lieferte das Beispiel von frommen Juden, die auch am Werke der weltlichen Kultur tätigen Anteil nehmen; allein es ist ihr noch nicht gelungen, den alten Geist des Judentums und jungen europäischen Wissensgeist zu einer höheren Synthese so zu verschmelzen, daß von ihr schöpferische und erneuernde Impulse für die jüdische Persönlichkeit ausgehen. Auch in Deutschland wird unaufhörlich über die Abnahme der Thorakenntnis und das Versiegen der Schaffenskraft geklagt.“23

Diese Äußerung eines orthodoxen osteuropäischen Rabbiners war eine unmissverständliche Absage an das Hirsch’sche Prinzip von Tora im derech erets, da dieses Ideal in der Praxis deutsch-orthodoxer Lebensgestaltung dem jüdischen Bereich einen zu geringen, nicht mehr angemessenen Raum beließ. Inwiefern der Erste Weltkrieg und der mit ihm einsetzende „Wettlauf zu den polnisch-jüdischen ,Massen‘“24 wie auch die beiden folgenden Jahrzehnte tatsächlich einen kulturellen Transfer für die orthodoxen Juden Osteuropas brachten, soll in den nachstehenden Abschnitten untersucht werden.

21 22 23 24

Zu Weinberg vgl. Shapiro, Yeshiva. Weinberg, Die Jeschiwoth in Rußland, in: Jeschurun 3 (1916), Heft 2, 126. Weinberg, Schulfragen im Ostjudentum, in: Jeschurun 3 (1916), Heft 9, 496 – 497. Morgenstern, Frankfurt, 65.

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Reform des Chederschulwesens in Warschau

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2. Die Reform des Chederschulwesens im Generalgouvernement Warschau (1916 – 1918) Bereits kurz nach der Okkupation des später als Generalgouvernement Warschau bezeichneten Gebiets durch deutsche Truppen begannen die militärischen und zivilen Besatzungsbehörden des Kaiserreichs damit, auf die kulturellen Angelegenheiten dieser Region Einfluss zu nehmen. Hiervon blieb auch das polnische Judentum nicht ausgenommen. Am 24. August 1915 erließ der militärische Oberbefehlshaber für das Generalgouvernement Warschau eine Verordnung, die für polnische Schulen Polnisch, für die deutschen und jüdischen Lehranstalten hingegen Deutsch als Unterrichtssprache vorschrieb. Während dadurch bei den deutschen Zionisten schlimmste Befürchtungen hinsichtlich einer bevorstehenden Germanisierung des polnisch-jüdischen Schulwesens geweckt wurden, begrüßte die deutsche Orthodoxie diese Verordnung.25 Jedoch beabsichtigten die deutschen Verwaltungsstellen nicht nur die Einführung einer neuen Unterrichtssprache für die polnisch-jüdischen Lehranstalten, sondern auch eine Umgestaltung des gesamten jüdischen Elementarschulwesens in Polen. Da man bei einem solch ehrgeizigen Vorhaben aber in jedem Fall auf jüdischen Sachverstand angewiesen war, berief man den liberalen jüdischen Reichstagsabgeordneten Ludwig Haas (1875 – 1930) aus Karlsruhe als „Experten“ nach Warschau. Dies alarmierte allerdings angesichts seiner Liberalität und fehlenden jüdischen Gesinnung die traditionsorientierten Juden, da Haas offenbar die Chadarim abschaffen und das jüdische Schulsystem im besetzten polnischen Gebiet einer grundlegenden Reform unterziehen wollte.26 Auf Grund dieser Besatzungspolitik, die laut Jacob Rosenheim angeblich im Begriff war, das ganze kulturelle und religiöse Leben einschließlich des Schulwesens des polnischen Judentums zu „germanisieren“, erreichten die Leitung der Agudat Israel oder die sie vertretende Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums „Hilferufe“ aus Warschau, eine Delegation dorthin zu entsenden, die zwischen dem traditionellen polnischen Judentum und den deutschen Besatzungsbehörden vermitteln sollte.27 Wie es hieß, war diese Bitte von nicht weniger als 70 Rebben und anderen Rabbinern

25 Vgl. Morgenstern, Frankfurt, 67. Allerdings lehnte nicht nur die große Mehrheit der polnischen Juden dieses Gesetz ab, sondern auch die Polen selbst, die ein einheitliches Schulsystem mit polnischer Unterrichtssprache aufbauen wollten. Der große Widerspruch gegen diese Verordnung hatte zur Folge, dass sie nicht in Wirksamkeit trat; zwar blieb die Verordnung bestehen, man einigte sich aber stillschweigend darauf, in der Praxis das Jiddische als deutschen Dialekt zu betrachten und den Dialekt der eigentlichen Sprache gleichzustellen. Somit konnte Jiddisch als Unterrichtssprache wieder legal verwendet werden. Vgl. Stein, Entwicklung, 153 – 154. 26 Vgl. Morgenstern, Frankfurt, 67. 27 Vgl. Rosenheim, Erinnerungen, 144. Vgl. auch Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 23.

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244 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Polens unterzeichnet worden.28 Wenn die osteuropäischen traditionsorientierten Rabbiner beim Gründungsprozess der Agudat Israel immer wieder ihre Befürchtungen hinsichtlich eines bevorstehenden Kulturimports der Tora im derech erets-Ideologie geäußert hatten, so riefen sie nun die aus diesem Grund kurz zuvor misstrauisch betrachtete deutsche Orthodoxie dazu auf, bei der Verhinderung eines Transfers westlicher Kultur in das jüdische Polen aktiv mitzuwirken. Ob sie damit nicht letztlich einem Trugschluss erlagen, musste sich allerdings erst noch zeigen. Denn die „Freie Vereinigung betrachtet[e]“, wie der orthodoxe deutsche Rabbiner Raphael Breuer (1881 – 1932) Jahre später schrieb, „die Erhaltung und Förderung jüdischer Schulen, die auf dem Boden des IL4 ýL7 AF 8L9N [hebr.: tora im derech erets]-Prinzips stehen, als eine der wichtigsten Aufgaben des orthodoxen Judentums“.29 Im Herbst 191530 entsandte die Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums eine aus Jacob Rosenheim, dem Ansbacher Rabbiner Dr. Pinchas Kohn (1867 – 1941), Kommerzienrat Sigmund Fraenkel aus München, Max Feuchtwanger (1857 – 1923) und Dr. Abraham Hirsch (1867 – 1920) aus Halberstadt bestehende Erkundungsdelegation nach Warschau, wo sie von Generalgouverneur Hans von Beseler (1850 – 1921), dem obersten Schuldezernenten Otto und dem Leiter des Referats für jüdische Kultus- und Schulangelegenheiten Ludwig Haas empfangen wurde. In der ersten Unterredung, die Kohn mit Haas führte, teilte dieser nach den Erinnerungen Rosenheims mit, dass er es in Bezug auf die polnischen Juden „als seine höchste und geradezu historische Aufgabe“ ansehe, „diese halbwilden Volksstämme mit ihren Schläfenlocken und langen Schubitzen [Pelzmäntel] in Kulturmenschen […] zu verwandeln“. Daher habe er vor, die Chadarim zu vernichten und ein System deutsch-jüdischer „Zwangsschulen“ für die polnischjüdischen Kinder einzurichten.31 Nach den von Rosenheim überlieferten Worten Haas‘ wollten die Besatzungsbehörden des Kaiserreichs den polnischen Juden deutsche Kultur oktroyieren, da sie annahmen, die osteuropäischen Juden repräsentierten auf Grund der Nähe des Jiddischen zum Deutschen das deutsche Element im Osten, wodurch diese Juden für die Außen28 Vgl. Deutsche Israelitische Zeitung 23, 7. 6. 1917, 2. Laut Jacob Rosenheim kam angeblich aus dem Kreis um den Gerer Rebben der Ruf an die Frankfurter Aguda-Leitung, der polnischen Orthodoxie gegen die antireligiösen Bestrebungen der Besatzungsbehörden wie gegen die des von Zionisten dominierten Komitees für den Osten zu helfen. Vgl. Rosenheim, Dr. Pinchas Kohn in Polen, in: Der Israelit 9, 4. 3. 1937, 3. 29 R. Breuer, Aufgabe, 13 (Breuer hatte das Referat ursprünglich im Juni 1931 auf dem Bezirkstag der Freien Vereinigung in Alzenau gehalten). 30 Es ist nicht eindeutig festzustellen, ob die Delegation im September, Oktober oder im Dezember 1915 nach Warschau reiste, da sich die Angaben der Beteiligten widersprechen. Während Sigmund Fraenkel September (vgl. Fraenkels Brief an Staatsminister von Hertling, 18. 9. 1916, in: Fraenkel, Aufsätze, 209) und Pinchas Kohn als Datum Oktober 1915 angibt (vgl. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 23), fand die Reise laut Jacob Rosenheim erst im Dezember 1915 statt. Vgl. Rosenheim, Dr. Pinchas Kohn in Polen, in: Der Israelit 9, 4. 3. 1937, 4. 31 Vgl. Rosenheim, Erinnerungen, 145.

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Reform des Chederschulwesens in Warschau

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politik des Reiches künftig – nach ihrer „Umwandlung in Kulturmenschen“ – von erheblichem Nutzen sein würden. Nach Meinung Rosenheims erkannte Kohn damals jedoch vielleicht als Einziger, dass die Vorstellung, die polnischen Juden seien deutsche Pioniere im Osten, fatale Folgen für die polnischen Juden haben konnte, da ihnen somit vor der polnischen Öffentlichkeit für unabsehbare Zeit der „Stempel der Landfremdheit“ aufgedrückt würde.32 Anscheinend verliefen die Unterredungen der orthodoxen Delegation mit den Vertretern der Besatzungsbehörden zunächst ergebnislos.33 Unerwartet forderte aber im Januar 1916 der Chef der Zivilverwaltung die Freie Vereinigung auf, zwei geeignete Persönlichkeiten aus dem Kreis der deutschen Orthodoxie zur Beratung der Okkupationsbehörden in jüdischen Angelegenheiten nach Warschau zu entsenden, „um der Regierung bei der Lösung der religiös-kulturellen Probleme permanent zur Seite zu stehen“.34 Die Wahl fiel auf Rabbiner Kohn, der den Leiter des jüdischen Referats in religiösen und gemeindlichen Angelegenheiten beraten sollte, sowie auf den Rabbiner und Direktor des Kölner orthodoxen Lehrerseminars Dr. Emanuel Carlebach (1874 – 1927), der den Schulreferenten in Fragen des Chederschulwesens unterstützen sollte.35 Zwar war die Berufung von Kohn und Carlebach nach Warschau keineswegs mit der Übertragung eines offiziellen Amtes verbunden, doch war offensichtlich, dass sie auf Grund einer quasi-amtlichen Stellung über einigen Einfluss bei der Gestaltung der polnisch-jüdischen Verhältnisse verfügen würden.36 Diese Bevorzugung der kompromisslosen Richtung der deutschen Orthodoxie, die sich im 19. Jahrhundert das Recht auf die Bildung von orthodoxen 32 Jacob Rosenheim, Dr. Pinchas Kohn in Polen, in: Der Israelit, Nr. 9, 4. 3. 1937, 4. 33 Vgl. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 23. 34 Rosenheim, Erinnerungen, 146. Dass sich die deutsche Verwaltung im Generalgouvernement dafür entschied, allein der deutschen Orthodoxie zu erlauben, eine Delegation zu Beratungen über die Angelegenheiten des polnischen Judentums nach Warschau zu entsenden, erklärt Bacon mit dem Umstand, dass im Gegensatz zu anderen jüdischen Gruppierungen die Orthodoxie nur sehr begrenzte Forderungen nach jüdischer Gemeindeautonomie erhob und damit kaum das polnische Nationalgefühl verletzen konnte. Zudem präsentierte sich das traditionelle deutsche Judentum im Gegensatz zu den Zionisten als ein rein deutsches Unternehmen ohne internationale Verflechtungen. Vgl. Bacon, Politics, 39. Wenn man jedoch berücksichtigt, dass zur damaligen Zeit ca. 2/3 aller polnischen Juden der chassidischen Richtung angehörten, demgegenüber aber nur ca. dreißig Prozent der zionistischen und nicht-zionistischen nationalistischen Richtung zuzurechnen waren, so mag es schon auf Grund dieser Zahlen nicht ganz verwundern, dass gerade die deutsche Orthodoxie von den Besatzungsmächten in Polen die Erlaubnis erhielt, zwei ständige Vertreter nach Warschau zu entsenden, um die deutschen Verwaltungsbehörden in Angelegenheiten des polnischen Judentums zu beraten. Vgl. Morgenstern, Frankfurt, 67; Breuer, Rabanim, 118 – 122; Zechlin, Politik, 171. 35 Vgl. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 23; A. Carlebach, Adass, 55. 36 In einem Brief Emanuel Carlebachs an seine Frau schrieb dieser: „Auch erhielt ich jetzt m. amtlichen Ausweis als dem Verwaltungschef beigegeben u. bin auf solche Weise wirklich, wenn auch nicht formell, Mitglied der Zivilverwaltung.“ Brief E. Carlebachs an seine Frau, Kaisergeburtstag (= 27.1.) 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 75.

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246 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Austrittsgemeinden vom Staat erstritten hatte, stieß selbstverständlich nicht auf ungeteilten Beifall. Zum einen waren die deutschen Zionisten, die unter anderem mit Hilfe des Komitees für den Osten (KfdO) versucht hatten, ihren Vorstellungen von der Zukunft des polnischen oder osteuropäischen Judentums bei der deutschen Regierung Gehör zu verschaffen, über ihre offensichtliche Zurücksetzung verärgert. Zum anderen fühlten sich aber auch die Gemeindeorthodoxie und die Anhänger des Mizrachi (religiöse Zionisten) zurückgesetzt, weil nur zwei Vertreter der Frankfurter Trennungsorthodoxie berufen worden waren.37 So wandte sich noch im Januar 1916 der Rabbiner der Frankfurter Gemeindeorthodoxen Dr. Nehemias Anton Nobel (1871 – 1922) an Carlebach und erklärte, die Gemeindeorthodoxie fühle sich „durch das Vorgehen der Freien Vereinigung aufs Tiefste gekränkt“ und fordere daher, dass sich Carlebach „auch zugleich finanziell und ideell als ihr Beauftragter fühlen“ möge. Daher solle Carlebach die Berichte über seine Eindrücke sowie seine „Vorschläge zur Aenderung der Verhältnisse und Reorganisation des dortigen Schulwesens“ nicht nur den Regierungsstellen und der Freien Vereinigung, sondern auch den Vertretern der Gemeindeorthodoxie regelmäßig zukommen lassen.38 Trotz der Androhung Nobels, dass eine Ablehnung seiner Forderung die Gründung einer der Freien Vereinigung ähnlichen Organisation konservativer Rabbiner und anderer prominenter Persönlichkeiten dieses Spektrums zur Folge haben werde, „um selbständig in orthodoxen Fragen auch der Regierung gegenüber vorgehen zu können“,39 lehnte Carlebach eine Beteiligung der Gemeindeorthodoxie ab. Dennoch herrschte innerhalb des deutschen Judentums zunächst Einigkeit hinsichtlich der Reform der Chadarim im Generalgouvernement Warschau. Kohn und Carlebach handelten zwar im Namen der austrittsorthodoxen Freien Vereinigung, scheuten sich allerdings nicht, eng mit den Repräsentanten des KfdO zusammenzuarbeiten.40 Bei der Reform des Chederschulwesens im Generalgouvernement Warschau musste sich nun zeigen, ob Carlebach und Kohn tatsächlich versuchten, nach den Wünschen der polnischen Rabbiner die Absichten der deutschen Besatzungsbehörden auf ein Mindestmaß zu beschränken, oder ob sie ihre Berufung nach Warschau vielmehr als Chance begriffen, einen kulturellen Transfer in Anlehnung an das deutsch-orthodoxe Bildungsprinzip von Tora im derech erets in die Wege zu leiten, wie dies Carlebachs Sohn Alexander 45 Jahre später gemeint hat: „Carlebach’s and Kohn’s ,mission‘ to the East was a conscious and deliberate effort to reform Polish religious Jewry in accordance with their own Torah-im-Derech-Eretz pattern.“41 37 38 39 40 41

Vgl. Morgenstern, Frankfurt, 68. Vgl. Brief E. Carlebachs an seine Frau, 18. 1. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 69. Vgl. Brief E. Carlebachs an seine Frau, 18. 1. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 70. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. Vgl. A. Carlebach, Rabbi, 66.

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Noch vor der Ankunft Carlebachs in Warschau im Januar 1916 schrieb der Israelit, dass es sich bei der Reform des polnisch-jüdischen Bildungssystems um den Versuch handele, „die traditionelle Cheder-Schule, die ja die altbewährte Quelle des reichen jüdischen Geisteslebens im Osten und die eigentliche Vorschule der Jeschiwos darstellt, der thoratreuen jüdischen Bevölkerung auch unter den veränderten Verhältnissen zu erhalten“.42 Dies klang nicht nach umfangreichen Änderungen bei den Chadarim und schien dem Vorgehen der polnischen Rabbiner, die ihre orthodoxen Gesinnungsgenossen in Deutschland um Hilfe gebeten hatten, Recht zu geben. Demgegenüber sah Carlebach, der an der beabsichtigten Umgestaltung des polnisch-jüdischen Elementarschulwesens federführend mitarbeiten sollte, seine Tätigkeit in einem völlig anderen Licht. In einem Brief an seine Frau vom 27. Januar 1916, also eine Woche nach dem Bericht im Israelit, beklagte er sich über die ihm zugedachte Rolle, bei der Zerstörung des Cheder mitzuhelfen.43 Trotz seiner anfänglichen Befürchtungen führte aber Carlebachs Wirken in Warschau keineswegs zum Untergang des traditionellen Cheder. Doch bemühte er sich nach Kräften, dem Cheder einen der modernen Zeit entsprechenderen Charakter zu geben. Schon wenige Tage später, am 31. Januar 1916, besuchten Carlebach und Kohn in Begleitung von führenden Repräsentanten des KfdO (Friedemann, Bodenheimer und Sobernheim) den Gerer Rebbe Abraham Mordechai Alter (1866 – 1948), eine der Autoritäten des traditionellen polnischen Judentums, und betonten diesem gegenüber einstimmig, „dass sie aus Liebe zum Judentum sich mit den Angelegenheiten der Ostjuden beschäftigen, dass es ihnen fern sei, plötzlich eingreifende Reformen zu erstreben“, die beabsichtigten „Reformen“ jedoch „auf hygienische Verbesserungen und Erweiterung des profanen Unterrichts“ hinzielten.44 Dass wohl aus Furcht vor den Besatzungsbehörden eine gewisse Bereitschaft der polnischen Orthodoxie zur Umgestaltung der Chadarim vorhanden war, hatte sich übrigens schon wenige Tage zuvor gezeigt, als bei einer Beratung von Rabbinern und Rebben aus Warschau und der Provinz die beklagenswerte Situation der Chadarim und Talmud-Torot diskutiert und eine zehnköpfige Kommission beauftragt worden war, mit der erwarteten Delegation der Freien Vereinigung, also Kohn und Carlebach, ein Lehrprogramm für die Chadarim auszuarbeiten.45 Letztlich hatte – so der orthodoxe deutsche Israelit im Rückblick – „die jüdische Orthodoxie Polens unter Führung der von ihr berufenen deutschen Rabbiner“ den Entschluss gefasst, die „reibungslose[] Verständigung des überlieferten religiösen Geisteslebens mit den 42 Der Israelit 3, 20. 1. 1916, 4. 43 Vgl. Brief E. Carlebachs an seine Frau, Kaisergeburtstag (= 27.1.) 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 72. 44 LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. 45 Die deutsche Verwaltung und die religiösen Interessen in Polen. Warschau, in: Der Israelit 4, 27. 1. 1916, 3.

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248 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Elementen der modernen Kultur im Bildungs- und Erziehungswesen“46 zu erleichtern. Gemäß seinem modern-orthodoxen Selbstverständnis setzte sich Carlebach für die Einführung von säkularem Unterricht, moderner Pädagogik und Didaktik sowie partiellem Unterricht in der Landessprache wie auch für eine hygienische Verbesserung in den Chadarim ein. Dies entsprach zwar zum Teil durchaus den Vorgaben der deutschen Verwaltungsbehörden in Warschau, korrespondierte aber zweifellos auch mit den eigenen Vorstellungen Carlebachs von einem zeitgemäßen orthodoxen Erziehungswesen. Bereits als Carlebach Ende Februar/Anfang März 1916 eine jüdisch-orthodoxe Jugendorganisation namens Tevuna gründete,47 deutete dies die Richtung der Reform an, aber auch, dass hierbei mit dem Widerstand von Teilen der polnisch-jüdischen Orthodoxie gerechnet werden musste. Bei der Gründungsversammlung von Tevuna, an der auch einige chassidische Rebben teilnahmen, wurden unter anderem die „pädagogische und sanitäre Reform der Chadarim“ sowie die „Einführung allgemeiner Lehrgegenstände“ als Aufgaben der orthodoxen Vereinigung definiert. Allerdings würde die neue Gesellschaft laut der Jüdischen Rundschau trotz der Zustimmung einiger Rebben in weiten Kreisen der Orthodoxie auf Widerstand stoßen, wie die Boykottaufrufe in vielen Batei Midraschim und Stüberln zeigten.48 Mag dieser Bericht einer zionistischen Zeitung auch übertrieben gewesen sein, so ist doch eine anfängliche Opposition gegen die neue Vereinigung wegen ihrer Reformabsichten sicherlich nicht zu leugnen. Um die Bereitschaft des traditionsorientierten polnischen Judentums zu grundlegenden Reformen des Chederlehrplans zu erhöhen, gingen Carlebach und Kohn mit Unterstützung der Vertreter des KfdO zunächst daran, einzelne Chadarim zu reformieren und Muster-Chadarim zu gründen, um ihrer Auffassung von einem modernen jüdisch-orthodoxen Elementarschulwesen praktischen Ausdruck zu verleihen. Dass der hierbei federführende Carlebach zweifellos das moderne deutschorthodoxe Bildungsmodell favorisierte und somit einen Kulturtransfer beabsichtigte, wird schon allein daran erkennbar, dass er den von ihm gegründeten neuen Chadarim, die als Muster für die übrigen dienen sollten, die Bezeichnung Tora im derech erets gab49 und auf diese Weise, wie es Morgenstern ausdrückte, „unübersehbare ,deutsche‘ Akzente“50 setzte. Um jedoch diesen Kulturtransfer nicht als eine von Fremden oktroyierte Maßnahme erscheinen zu lassen, setzte Carlebach, wie schon bei der Reform der bestehenden Chadarim, auch bei der Eröffnung neuer Schulen auf Einvernehmen 46 47 48 49 50

Der Israelit 41, 12. 10. 1917, 1. Vgl. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 28. Vgl. Jüdische Rundschau 10, 10. 3. 1916, 84. Breuer, Rabanim, 132. Morgenstern, Frankfurt, 69.

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und Kooperation mit den chassidischen Autoritäten. So ist in einem Bericht vom 30. März 1916 zu lesen, dass eine größere Gruppe orthodoxer Juden in Warschau einen Cheder namens Tauroh im Derech erets gegründet habe, in dem Tanach, Talmud, aber auch profane Fächer wie in einer Handelsschule unterrichtet würden. Zudem sollte noch eine zweite derartige Schule in einem anderen Warschauer Stadtteil gegründet werden. Darüber hinaus wollte ein chassidischer Verein zwei Schulen mit dem gleichen Lehrprogramm errichten, wobei der profane Unterricht ebenfalls dem Curriculum der Handelsschulen entsprechen sollte. Erst am Ende dieser kurzen Mitteilung wurde klar, wer die treibende Kraft war, wenn es heißt, dass diese Schulen unter der Aufsicht von E. Carlebach stünden.51 Drei Monate später konnte der deutsche Rabbiner in einem Tätigkeitsbericht an Jacob Rosenheim schließlich mitteilen, dass durch seine „Mithilfe“ bereits vier neue Chadarim gegründet worden seien, „die ein zukunftsverheissender Anfang auf dem notwendigen Gebiete der Chederreform sind“.52 Im Sommer 1916 besuchte der Professor für Orientalistik Moritz Sobernheim (1872 – 1933) im Auftrag des KfdO diese vier Reformchadarim, deren Neuerungen darin bestanden, „dass für alle diese Schulen geeignete, luftige Lokalitäten gewählt worden sind, dass für Sauberkeit der Räume und in gewissem Grade der Schüler, für genügende Pausen und für Erfrischungen der Knaben durch Tee gesorgt wird“ und dass an „den Nachmittagen […] auch in weltlichen Fächern unterrichtet“ wurde. So würden die Knaben Polnisch und Deutsch lesen und schreiben sowie rechnen lernen. Beim religiösen Unterricht sei Jiddisch Unterrichtssprache, im Fach Rechnen Polnisch und im Fach Deutsch Hochdeutsch. Ein wirklicher Fortschritt war allerdings laut Sobernheim nur in zwei Chadarim zu verzeichnen, die Carlebach und Weingott eingerichtet hatten, da Carlebach diese Schulen häufig inspiziere und auch genügend Geldmittel durch Vermittlung des KfdO erhalten habe.53 Die eine Schule hatte sechs Klassen mit sechs Lehrern und 130 Schülern, die aus bemittelten Kreisen stammten. In der anderen Schule waren die religiösen Fächer in sechs, die profanen Fächer in vier Gruppen unterteilt. Der Rechenunterricht werde auf Polnisch erteilt, was man nicht billigen könne, jedoch den Vorteil habe, dass die Kinder dadurch sehr schnell die polnische Landessprache erlernten.54 Die moderne Ausgestaltung dieser Chadarim war nicht nur an der Einführung säkularen Unterrichts zu erkennen, sondern auch daran, dass die Schüler nach ihrem Alter und Wissensstand in Klassen aufgeteilt wurden und 51 Vgl. Deutsche Israelitische Zeitung 13, 30. 3. 1916, Beilage: Die Laubhütte, 11. 52 Bericht E. Carlebachs an Jacob Rosenheim, 29. 6. 1916. IRDJ, KOR, EC 73. 53 Bericht des KfdO, 8. 8. 1916. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. Sobernheim erklärt zwar, dass Weingott diese beiden Schulen eingerichtet hat, doch nach Aussage Carlebachs hatte er sie selbst organisiert. Brief E. Carlebachs, 13. 7. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 100. 54 Bericht über die vier Reform-Chedarim, 1916. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P.

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250 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert in großen und luftigen Klassenzimmern lernten. Zudem wurden die neuen Chadarim nicht, wie zumeist üblich, von privater Seite betrieben, sondern unterstanden der Aufsicht der Gemeinde.55 Wie wichtig Carlebach das Gelingen einer Reform der polnischen Chadarim war, zeigt sich auch daran, dass er sich persönlich um die finanzielle Unterstützung der Schulen kümmerte. So schrieb er beispielsweise in einem Brief vom 10. Mai 1916 an seine Frau, dass er nochmals Geld für die Chadarim habe einwerben können und ihm nun bereits 20 000 Mark zur Verfügung stünden.56 Mit diesem Geld konnte Carlebach seine Vorstellungen von einem orthodoxen Elementarschulwesen für Knaben, das eine fundierte religiöse Erziehung mit säkularer Bildung verband, in die Tat umsetzen und somit den Fortbestand der Chadarim sichern. Denn die Anerkennung des traditionsorientierten jüdischen Schulsystems wurde vor allem dadurch erreicht, dass die von den zuständigen deutschen und polnischen Beamten durchgeführten zahlreichen Inspektionen der von Carlebach gegründeten Chadarim bei diesen Beamten einen überaus günstigen Eindruck hinterließen, sodass sie ihre Haltung gegenüber dieser Art von Schulen, die ursprünglich wegen mangelnder Hygiene geschlossen werden sollten, grundlegend revidierten. Als Beispiel mag folgender Bericht Carlebachs an Jacob Rosenheim dienen: „Mit einem geradezu erfreulichen Begebnis darf ich heute beginnen. Warschau hat für einige Tage hohen Besuch. Die Herren Helfferich, Wahnschaffe, Lewald und Schulz (deren Titel und Stellungen sind Ihnen ja bekannt) weilen hier, um sich über alle Einrichtungen am Ort zu informieren, natürlich auch ein Cheder sollte inspiziert werden. Ich schlug dazu in der Vorberatung eines der 4 neuen vor und so entschied man sich, um nicht geradezu Potemkinsche Dörfer zu zeigen, für das wenigst schöne unter ihnen, das auf Novolipki 9. Dienstag war Vorbesichtigung durch Dr. Haas und den Obermedizinalrat Dr. Freye, der erst jüngst allen Beamten den Besuch des Cheder Mila streng untersagt hatte, da es vollkommen verlaust sei. Nun stellte er auch hier, also in einem Cheder, das vornehmlich von Kindern besucht wird, die 120 Rubel Schulgeld zahlen, fest, dass von den 150 Kindern weit über 100 Läuse hatten. Alle mussten sich nun die Haare ganz kurz scheeren lassen, ich ordnete gründlichen Hausputz, Abwechslung in den Unterrichtsfächern der einzelnen Klassen (Talmud, Mischna, Tehilim [Psalmen], Newiim [Propheten], Chumesch [Pentateuch], Schulchan Aruch), Schabboskleidung für Melamdim und Schüler und das Fernbleiben aller Baalebattim an, bestimmte den durchzunehmenden Stoff und gab einige leicht zu beobachtende methodische Winke und am Mittwoch Nachmittag erfolgte der einstündige Besuch der Herren in Begleitung von Exzellenz von Kries, Oberregierungsrat Schauenburg und Dr. Haas. Die Herren waren alle von dem Gesehenen und Gehörten trotz des Schukkeles der Kinder und des auch sonst pädagogisch gewiss nicht Einwandfreien höchst befriedigt, zum Teil überrascht über das Lehrgeschick 55 Bacon, Politics, 145. 56 Vgl. Brief E. Carlebachs, 10. 5. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 75.

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der doch gar nicht vorgebildeten und in ihren Schubbezes und Peies gewiss nicht besonders sympathischen Lehrer und entzückt von der geistigen Lebhaftigkeit der Kinder. Was es bedeutet, dass diese Herren mit solchen Eindrücken das Cheder verlassen haben, brauche ich Ihnen nicht zu sagen und ich darf getrost bekennen: illu lau bossi elo losch, Daji [wenn ich nur deshalb gekommen wäre, wäre es genug]. Auch Kohn stimmt diesem Urteil uneingeschränkt zu.“57

Selbst hochgestellte politische Persönlichkeiten inspizierten die von Carlebach neu gegründeten Chadarim und äußerten ihre Zufriedenheit. So berichtete Carlebach im Juli 1916: „Der Handelsminister Sydow war hier, besuchte natürlich ein Cheder, u. zw. das von mir auf der Siento Jerska eingerichtete u. war geradezu begeistert.“58 Auch der preußische Justizminister, der im Sommer 1917 in Begleitung des Generalgouverneurs und anderer hoher Persönlichkeiten unter Führung von Haas und Kohn die Warschauer Chederschule Tora im derech erets besuchte, zeigte für „Lehrmethode“ und „Lehrplan“ „höchstes Interesse“ und sprach sich „über den Stand der Schule sehr lobend aus“.59 Auf diese Weise erlangte Carlebach bei den deutschen Verwaltungsbehörden nicht nur die offizielle Anerkennung für solche Chadarim, die sich am Lehrplan und Erscheinungsbild der von ihm gegründeten Warschauer Chadarim orientierten, sondern schuf darüber hinaus sogar den Nucleus für das künftige orthodoxe Knabenschulwesen der polnischen Agudat Israel. Die von Carlebach in Warschau gegründeten und reformierten Tora im derech erets-Chadarim hinterließen bei den orthodoxen Juden Polens einen derart günstigen Eindruck, dass in den folgenden zwei Jahren überall nach dem Warschauer Muster Reformchadarim entstanden, die oft ebenfalls den signifikanten Namen Tora im derech erets erhielten.60 So war nach einem Bericht beispielsweise in Iława das Erziehungswesen auf dem niedrigsten Stand gewesen: Es habe nur einen Melamed gegeben, der 15 Schüler unterrichtet habe, die eigentlich in zehn Klassen hätten eingeteilt werden können. Die Folge davon sei gewesen, dass die Schüler nichts gelernt hätten. Nachdem man aber im Sommer 1917 einen „modern-orthodoxen gesellschaftlichen Cheder ,Tora im derech erets‘“ gegründet habe, sei alles völlig anders ge57 Bericht E. Carlebachs an Rosenheim, 29. 6. 1916. IRDJ, KOR, EC 71. 58 Brief E. Carlebachs, 13. 7. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 100. Vgl. hierzu auch den damit korrespondierenden Bericht Chadorim-Inspektion, in: Der Israelit 29, 20. 7. 1916, 5. 59 Vgl. Warschauer Brief, in: Der Israelit 29, 19. 7. 1917, 3. Kurze Zeit später besuchte sogar der Vizekronmarschall Prof. Jzef Mikułowski-Pomorski (1868 – 1935) in Begleitung des Rektors des Departements für öffentliche Bildung Prof. Smolka zwei Chadarim, wobei sie im Cheder Tora im derech erets in Anwesenheit von Kohn und Carlebach dem Unterricht in allen talmudischen Fächern sowie in Polnisch und Geographie in allen Klassen „mit großem Interesse“ beiwohnten. Allerlei aus Polen, in: Der Israelit 24, 13. 6. 1918, 3; Polen. Hoher Besuch in den Chederschulen, in: Der Israelit 37, 13. 9. 1917, 6. 60 Zur positiven Wirkung der Tora im derech erets-Chadarim vgl. Das Judische Vort 39, 18. 3. 1917, 6.

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252 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert worden. Die Eltern seien sehr zufrieden, denn die Schüler machten sowohl in den religiösen Fächern wie auch im derech erets und in der Moral „merkliche Fortschritte“. Die Zahl der Schüler betrage nun 25, die in zwei Abteilungen eingeteilt seien, wobei jede Abteilung aus zwei Klassen bestehe. Carlebach war im Übrigen nicht nur ideell, sondern auch materiell an der Gründung dieses Reformcheders beteiligt, hatte er doch 250 Mark für dessen Errichtung bereitgestellt.61 Ebenso hatte man auch in Łdz´, der zweitgrößten jüdischen Gemeinde Polens, einen sogenannten Beit-ulpana le-tora im derech erets (Haus des Lernens für Tora in Verbindung mit säkularer Bildung) eingerichtet. Der moderne Charakter dieses Cheders zeigte sich schon in einer Zeitungsannonce der Schule, in der die Eltern darauf aufmerksam gemacht wurden, dass nur solche Schüler für das kommende Schuljahr aufgenommen würden, die die entsprechenden Vorkenntnisse in den jüdischen wie auch in den weltlichen Lehrgegenständen für diejenigen Klassen aufwiesen, in die sie eintreten wollten.62 Einige Zeit später erschien im Judischen Vort ein kurzer Bericht über die Schlussprüfung im „musterhaften Cheder“ Beit-ulpana le-tora im derech erets in Łdz´, bei der sich viele Schüler sowohl in den religiösen wie auch in den weltlichen Fächern ausgezeichnet hätten.63 Und auch in Siedlce zeigte sich der Einfluss Carlebachs, als der dortige neue Cheder den programmatischen Namen Tora ve-derech erets erhielt und für die jüdischen Fächer Melamdim, für die säkularen Gegenstände jedoch „LehrerSpezialisten“ angestellt wurden.64 Aus Wielun´ wiederum wurde über die Gründung einer Talmud-Tora für die Kinder armer Eltern berichtet, da, so die Feststellung des Korrespondenten, bis jetzt „der größte Teil der jungen Generation ohne Tora und ohne derech erets erzogen wurde“, was deutlich machte, dass in Anlehnung an das deutsch-orthodoxe Prinzip auch profane Gegenstände im Lehrplan der neuen Anstalt enthalten waren.65 Darüber hinaus wurden noch zahlreiche weitere Chadarim modernen Charakters von der Orthodoxie gegründet, die nach dem Vorbild eines anderen Warschauer Muster-Cheders Jesodei Ha-Tora (Grundlagen der Tora) genannt wurden.66 So wurde im März 1918 aus Be˛dzin berichtet, dass der Gerer und der Radomsker Rebbe zusammen einen Fonds eingerichtet hätten, um 61 Vgl. Das Judische Vort 211, 13. 11. 1918, 4. 62 Vgl. Das Judische Vort 28, 5. 3. 1917, 8. 63 Vgl. Dos Judische lebn in Lodz, in: Das Judische Vort 139, 27. 6. 1918, 3. Der Lodzer Beit-Ulpana le-Tora im derech erets entwickelte offenbar selbst Vorbildcharakter. So wissen wir aus Zgierz, dass die dortigen traditionsorientierten Juden nach Lodzer Muster bereits 1916 ebenfalls einen Beit-Ulpana le-Tora ve-derech erets einrichteten. Nach dem Abzug der deutschen Besatzungstruppen wurde dieser Cheder in Jesodei Ha-Tora umbenannt. Vgl. Shtockfish, Sefer, 307. 64 Vgl. Dos lebn ojf der provints, in: Das Judische Vort 72, 27. 4. 1917, 9. Ein weiterer Tora im derech erets-Cheder entstand noch in Ga˛bin. Vgl. Das Judische Vort 205, 6. 11. 1918, 3. 65 Vgl. Dos lebn ojf der provints, in: Das Judische Vort 66, 20. 4. 1917, 9. 66 Chadarim mit dem Namen Jesodei Ha-Tora wurden unter anderem in Be˛dzin, Łdz´, Praga/ Warschau, Błaszki und Ska˛pe (Skampe) eingerichtet.

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nach dem Muster des Warschauer Cheders Jesodei Ha-Tora einen Cheder in Be˛dzin eröffnen zu können, wobei bereits 50 000 Mark zusammengekommen seien.67 Etwas überheblich wertete der orthodoxe deutsche Israelit dies als ein „erfreuliches Symptom für den den Aufgaben des Lebens zugewandten Geist, der denn doch auch in die chassidischen Kreise Polens seinen Einzug gehalten hat“.68 In ähnlicher Weise wies einige Monate später David Tsvi Silberstein, der 1923 bei der ersten Weltkonferenz der Agudat Israel in Wien als Delegierter der polnischen Poalei Aguda (die Arbeiterorganisation der Aguda) auftrat,69 in einem Zeitungsartikel darauf hin, dass die Orthodoxie endlich Interesse für ihr Schicksal zeige und sich die glücklichen Ergebnisse dieser Bewegung beim wichtigsten und brennendsten Problem des jüdischen Volkes, bei der Erziehungsfrage, einstellten. „Mit Stolz“, so Silberstein, „können wir auf die letzten zwei Jahre verweisen, in denen in Polen orthodoxe Muster-Chadarim wie ,Tora im derech erets‘, ,Jesodei Tora‘ u. a. geschaffen wurden.“70 Im Dezember 1918 – also bereits nach der überstürzten Abreise der beiden deutschen Rabbiner Carlebach und Kohn aus Polen – konnte man im Judischen Vort schließlich nochmals lesen, dass in beinahe jeder größeren und kleineren Stadt Polens verschiedene „Muster-Chadarim“ gegründet worden seien, die entweder Jesodei Ha-Tora oder Tora im derech erets hießen. Damit wurde deutlich, dass Carlebach mit seinem Wirken offenbar Kulturtransferprozesse angestossen hatte. Der Verfasser des Artikels führte weiter aus, man habe nun die Aufgabe, die angefangene Arbeit zu vervollkommnen, die begangenen Fehler zu verbessern und auch an anderen Orten ähnliche Chadarim zu gründen,71 was darauf hindeutet, dass der Kulturtransfer im vollen Gange, also noch nicht abgeschlossen war.72 Carlebach versuchte aber nicht nur, durch die Errichtung von MusterChadarim und der damit einhergehenden Nachahmung das Chederschulwesen in Polen zu reformieren, sondern bemühte sich gleichzeitig auch um die

67 Vgl. Das Judische Vort 59, 11. 3. 1918, 3. 68 Polen. Die chassidischen Kreise und die Kindererziehung, in: Der Israelit 12, 21. 3. 1918, 2. In diesem Artikel wird die Initiative zur Einrichtung des Schulfonds in Be˛dzin jedoch nicht dem Gerer und dem Radomsker, sondern dem Gerer und dem Aleksander Rebben zugeschrieben. Angesichts der großen Rivalität, die zwischen den Gerer und den Aleksander Chassidim bestand, scheint dies aber unwahrscheinlich zu sein. 69 Vgl. Bacon, Politics, 103. 70 Unzere oifgaben, in: Das Judische Vort 76, 2. 4. 1918, 5. 71 Vgl. Der enjan ha-jeschivot in Poilen (Die Angelegenheit der Jeschivot in Polen), in: Das Judische Vort 232, 8. 12. 1918, 3. 72 Es steht außer Zweifel, dass Carlebachs Reformchadarim mit dem Namen Tora im derech erets Vorbild für die Entstehung weiterer Chadarim in anderen polnischen Städten waren. Dennoch wird in der Literatur oftmals allein auf den Warschauer Mustercheder Jesodei Ha-Tora als Vorbild für das künftige Schulwesen der polnischen Aguda verwiesen und die herausgehobene Rolle Carlebachs damit marginalisiert. Vgl. bspw. Kazdan, geschichte, 457 – 458.

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254 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Ausarbeitung eines allgemeinen Chederlehrplans, der zu einer Vereinheitlichung dieser Schulen führen sollte. Dabei war ihm offenbar bewusst, dass eine allgemeine Reform der Chadarim nur in Zusammenarbeit mit den Führern der Chassidim oder denen des traditionsorientierten Judentums Erfolg haben würde und er daher nicht nur um ihre Unterstützung werben, sondern auch ihre Zustimmung zu den beabsichtigten Änderungen im Chederschulwesen erlangen musste. So sprach er auf einer Rabbinerkonferenz in Warschau im Oktober 1916 von der Notwendigkeit, Profanunterricht in den Cheder einzuführen, betonte aber auch, „wie notwendig und segensreich die Mitarbeit der Rabbiner bei dieser Aufgabe“73 sei. Um die Erlaubnis zu einer Erweiterung des Chederlehrplans um säkularen Unterricht zu erhalten, war Carlebach letztlich gezwungen, einer religiösen Autorität die Bestimmung des quantitativen Verhältnisses von jüdischen und allgemeinen Schulstunden im Cheder zu überlassen. Der Gerer Rebbe stimmte in einem Brief an Carlebach der Einführung von Profanunterricht in die Chadarim unter der Bedingung zu, dass die religiösen Studien mindestens sechs Stunden täglich betrugen, während den säkularen Fächern nicht mehr als zwei Stunden pro Tag – und zwar um die Mittagszeit – gewidmet wurden.74 Damit hatte Carlebach hinsichtlich der Einführung von Profanunterricht in die Chadarim eines der größten Hindernisse beseitigen können. Wäre es aber nach seinem Willen gegangen, so wäre die Zahl dieser Unterrichtsstunden wohl höher ausgefallen. Morgensterns Bemerkung, dass „Carlebachs Plädoyer für ein bescheidenes Maß an säkularem Unterricht […] vor allem dazu [diente], den radikaleren Reformern das Wasser abzugraben“,75 ist daher insofern irreführend, als sie suggeriert, dass Carlebach diese Maßnahme nur widerwillig vorgenommen habe. Für Carlebach wie auch für Kohn war sie vielmehr eine äußerst notwendige Anpassung an die moderne Gesellschaft. Diese Auffassung bestätigte Kohn 1936 unausgesprochen in einer Würdigung seiner und Carlebachs Tätigkeit in Warschau, als er meinte, die Einführung von säkularen Fächern in die polnischen Chadarim habe sich gelohnt und sei alles andere als ein Fehler gewesen. Zugleich stellte Kohn aber auch klar, dass man hierbei auf die Zustimmung der führenden Autoritäten der polnischen Orthodoxie angewiesen war.76 73 Die Warschauer Rabbiner-Konferenz, in: Der Israelit 41/42, 11. 10. 1916, 5. 74 Ha-Admor mi Gur, Osef, 53. Täglich sechs Stunden jüdischer Unterricht in den Chadarim war für Mordechai Alter das absolute Minimum, da er in seinem Brief noch hinzufügte, dass ein Mehr an Stunden noch besser sei, wobei er die folgende Äußerung R. Jitschaks aus dem Talmud zitierte: „[…] stopfe ihn wie einen Ochsen!?“ Goldschmidt (Hg.), Talmud, Bd. 5, Kethuboth IV, vi, Fol. 50a, 152. Die Unterrichtssprache für die religiösen Fächer sollte laut dem Gerer Rebbe die „gesprochene Sprache“ (laschon meduberet), also Jiddisch, für die weltlichen Fächer die Landessprache, also Polnisch, sein. 75 Vgl. Morgenstern, Frankfurt, 69. 76 Vgl. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 26.

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Zunächst war mit der Zustimmung des Gerer Rebbe noch kein allgemeiner Durchbruch verbunden. Doch als besonders vorteilhaft bei der Umsetzung der Chederreform erwies sich, dass Carlebach und Kohn im November 1916 die Gründung einer orthodoxen Parteiorganisation, der Agudat Ha-Ortodoksim,77 initiiert hatten, die sich unter anderem auch intensiv mit der Umgestaltung des Erziehungswesens beschäftigte. So hatte die Aguda Mitte März 1917 bei einer Konferenz anlässlich der bevorstehenden Gemeindewahlen in Warschau folgende wichtige Beschlüsse gefasst: 1. Der Cheder wird in die Obhut der Gemeinde überführt und untersteht der Aufsicht eines Schulrats, der sich aus dem örtlichen Rabbiner und den Baalei Batim-Lomdim (traditionsorientierte Laien und Gelehrte) zusammensetzt. 2. Die Melamdim und die Kinder werden in Klassen eingeteilt, und es wird nach einem bestimmten Lehrplan unterrichtet. 3. Die profanen Lehrgegenstände werden am Nachmittag unterrichtet. 4. Das Komitee der Warschauer Aguda arbeitet zusammen mit den Großen des Torarates das notwendige Programm der religiösen wie auch der säkularen Fächer aus.78 Hier deutete sich schon an, dass die Aguda gewillt war, dem Cheder eine moderne Form zu geben, die sich an zeitgenössischen pädagogischen Richtlinien orientierte. Ungefähr vier Monate später wurde schließlich bei einer Rabbinerkonferenz der Agudat HaOrtodoksim in Bezug auf die Cheder-Frage der Beschluss gefasst, dass die Kinder zu guten Juden, nebenbei aber auch zu guten Bürgern und wirtschaftlich tüchtigen Menschen erzogen werden sollten. Zu diesem Zweck sollten zwei Stunden am Tag profanen Fächern gewidmet werden.79 Damit hatte die orthodoxe Parteiorganisation den Standpunkt des Gerer Rebbe, letztlich das Tora im derech erets-Ideal, übernommen. Carlebach ging nun daran, gemäß den Vorgaben einen Chederlehrplan auszuarbeiten, den er im Dezember 1917 einer in Warschau einberufenen Rabbinerkonferenz zur Diskussion vorlegte. Bedauerlicherweise war dieser Entwurf einer Reorganisation des Chederschulwesens dem Verfasser der vorliegenden Arbeit nicht zugänglich. Doch wissen wir aus der negativen Reaktion des Ga˛biner (Gombiner) Rabbiners Jehuda Leib Zlotnik80 (1887 – 1962), des Begründers und Führers des polnischen Mizrachi, wie der Plan ungefähr ausgesehen haben muss. Zlotnik drückte in einem Artikel größtes Erstaunen darüber aus, dass Carlebach, der in Westeuropa Seminardirektor sei, in seinem Plan nicht nur die Hauptfehler des alten Cheder vergrößert habe, sondern noch nicht einmal über die elementarsten pädagogischen Kenntnisse verfüge und kein Verständnis für das habe, was das auf einer niedrigen Stufe stehende Chederschulwesen benötige. Laut Carlebachs Plan müsste, so der empörte 77 Vgl. hierzu Grill, Politicisation, 227 – 247. 78 Vgl. Dos lebn in Varsche. Di konfarents fun der ortodoksie, in: Das Judische Vort 37, 15. 3. 1917, 5. Vgl. auch Hajnt 64, 15. 3. 1917, Morgenausgabe, 4; Der Israelit 12, 22. 3. 1917, 4. 79 Vgl. Warschauer Brief, in: Der Israelit 30, 26. 7. 1917, 4. 80 Zu Rabbiner Jehuda Leib Zlotnik vgl. Bacon, New Jewish Politics, 450.

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256 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Ga˛biner Rabbiner, das jüdische Kind 47 Stunden in der Woche – von 8.30 bis 19 Uhr – lernen, wobei nur zwölf Wochenstunden für die allgemeinen Fächer vorgesehen seien. Was aber könne man schon in zwei Stunden täglich an allgemeinen Kenntnissen erwerben, wenn man bedenke, dass diese aus neun Fächern bestünden?81 Der Vorwurf gegenüber Carlebach war jedoch völlig unberechtigt. Wie wir bereits wissen, musste sich Carlebach bei seinem Curriculumsvorschlag nach der vom Gerer Rebbe und der Aguda zugestandenen Stundenzahl richten. Der Forderung des Gerer Rebbe nach täglich mindestens sechs Stunden religiösen und höchstens zwei Stunden profanen Unterricht, also 48 Stunden in der Woche, kamen die von Carlebach vorgeschlagenen 47 Stunden sehr nahe. Auch über die zwei Stunden Profanunterricht täglich konnte Carlebach nach der Weisung des Gerer Rebbe und den Beschlüssen der Aguda schwerlich hinausgehen. Der Hinweis des Ga˛biner Rabbiners, dass im Beit Ulpana in Łdz´ drei Stunden täglich den weltlichen Fächern gewidmet seien, war daher kaum als ernsthaftes Argument zu betrachten. Carlebach mag zwar in Deutschland Seminardirektor gewesen sein, doch damit war noch keineswegs garantiert, dass er den polnischen Cheder nach deutschem Vorbild umgestalten konnte. Der beabsichtigte Kulturtransfer hatte sich insbesondere auch an den Wünschen des traditionellen polnischen Judentums zu orientieren, da er sonst von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Darauf wies beispielsweise Rabbiner Schlomo Grudzinski, der in Delatycze (westlich von Minsk) amtierte, in einem Artikel für die von den beiden deutschen Rabbinern initiierte Warschauer Tageszeitung Das Judische Vort82 im April 1918 hin, als er sich zwar der Forderung einiger Rabbiner nach einem „modernisierten“ Cheder mit Profanunterricht anschloss, aber zugleich vor einer Reform nach deutschem Vorbild mit folgenden eindringlichen Worten warnte: „Sehen wir doch die Tragödie unserer frommen Brüder in Deutschland, die sich heute nach dem Cheder zurücksehnen, da sie eine Seele suchen, die es in ihrem Judentum überhaupt nicht gibt. Muss für uns die Moral von der Geschichte nicht sein, dass wir nicht die Fehler wiederholen, die sie gemacht haben?“83

Dies war eine klare Absage an einen weitreichenden Kulturtransfer. Der Cheder sollte in seiner Grundform erhalten bleiben, allerdings mit einigen wichtigen Neuerungen, wie sie in den orthodoxen Schulen des deutschen und westeuropäischen Judentums schon seit langem bestanden. 81 Ven man nemt zich tsu zachen tsu velche man iz nischt beschafen (Wenn man sich Sachen annimmt, für die man nicht qualifiziert ist), in: Der Moment 4, 4. 1. 1918, 3 – 4, Ausgabe A. 82 Entsprechend der Punktierung im Hebräischen lautete der Titel Das Judische Vort, was seine Entsprechung auch im polnischen Paralleltitel Das Judisze Wort findet. Zweifellos wurde es aber von den polnischen Juden im Jiddischen als Dos Jidische Vort ausgesprochen. Zum Judischen Vort vgl. Grill, Tageszeitung, 185 – 207. 83 Das Judische Vort 77, 5. 4. 1918, 3.

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Dass Carlebach und Kohn das traditionsorientierte Judentum in Polen modernisieren und vor allem stärker in die polnische Gesellschaft integrieren wollten, lässt sich auch daran erkennen, dass sie für die beiden Stunden, die der Profanbildung im Cheder vorbehalten waren, Polnisch als Unterrichtssprache forderten. Wie jedoch aus folgender Äußerung in einem Brief Carlebachs hervorgeht, lösten sie damit einen heftigen Konflikt mit den nationalorientierten Juden aus, die ihre ideologische Haltung auch in der Schule insbesondere durch die Unterrichtssprache verwirklicht wissen wollten: „Die Chederprogrammberatungen sind jetzt bis zu dem Punkt gediehen, der über die Unterrichtssprache in den 2 St. Elementarunterricht handelt. Die ganze Orthodoxie u. wir, als ihre Vertreter, fordern polnisch, die von den Nationalisten heissgemachten Schulräte verlangen, selbst auf die Gefahr hin, daß die Polen das ganze Cheder kaput machen u. nicht anerkennen, jiddisch.“84

Diese Bemerkung Carlebachs beweist hinreichend, dass ihre Forderung nicht zuletzt auch den Zwängen der Realpolitik geschuldet war. Carlebach und Kohn wollten den Cheder zwar gemäß modernen Bildungsanforderungen reformieren, ihn dabei aber auch als Bestandteil des traditionellen jüdischen Erziehungssystems erhalten. Daher musste man der Mehrheitsgesellschaft bei der Unterrichtssprache entgegenkommen, um so den Fortbestand des Cheder zu sichern.85 Im polnischen Schulgesetz vom September 1917 wurde die Existenz der traditionellen jüdischen Elementarschulen anerkannt, jedoch auch verfügt, dass der Profanunterricht in den Chadarim und Talmud-Torot in polnischer Sprache erfolgen müsse. Insofern war das Vorgehen Carlebachs und Kohns nur allzu verständlich, und die Angriffe der Jiddischisten und Zionisten waren stark übertrieben, da Jiddisch als generelle Unterrichtssprache für die Chadarim vorgesehen war, Polnisch hingegen nur in den beiden Profanunterrichtsstunden als Lehrsprache Anwendung finden sollte.86 Um die beiden deutschen Rabbiner zu diskreditieren, schreckte indessen die gegnerische Presse nicht davor zurück, in diesem Zusammenhang falsche Tatsachen oder Unwahrheiten zu verbreiten. So schrieb beispielsweise Max Mayer (1886 – 1967) in einem Artikel der zionistischen Jüdischen Rundschau, die Orthodoxen in Polen beabsichtigten „die Errichtung von Schulen mit 84 Brief E. Carlebachs, 13. 7. 1917. IRDJ, KOR, EC 147. In ähnlicher Weise ist das Zitat auch zu finden bei: A. Carlebach, Rabbi, 109. 85 In diesem Sinne hatte Kohn im September 1918 auch von seiner Unterredung mit dem polnischen Prälaten Chelmicki berichtet, der „die Zulassung der Cheder anerkennt, allerdings unter der Voraussetzung, daß die Kinder in den Chedern auch die Landessprache beherrschen lernen und die allgemeinen Elementarbildungsgegenstände sich aneignen“. Kohn, Zur Judenfrage in Polen, in: Deutsche Israelitische Zeitung 38, 19. 9. 1918, 4. 86 In diesem Sinne hatte sich auch der Gerer Rebbe Mordechai Alter in seinem Brief an Carlebach ausgesprochen. Vgl. Ha-Admor mi Gur, Osef, 53. Es ist völlig abwegig, dass der Gerer Rebbe oder irgendein anderer chassidischer Führer seine Zustimmung gegeben hätte, Polnisch als generelle Unterrichtssprache im Cheder zuzulassen.

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258 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert ausschließlicher polnischer Unterrichtssprache“, während die Zionisten in Warschau Volksschulen mit Hebräisch, die Jiddischisten solche mit Jiddisch als Unterrichtssprache begründet hätten. Ein derartiges Vorgehen der deutschen Rabbiner und ihrer polnischen Gesinnungsgenossen war nach Meinung Max Mayers ein schlagender Beweis für ihre assimilatorischen Tendenzen.87 Carlebachs Bemühungen um eine Reform des Cheders erschöpften sich jedoch nicht in der Einführung von Profanunterricht, sondern zielten ebenso auf dessen jüdischen Bereich ab. Er hatte sich als Leiter eines modernen orthodoxen Lehrerseminars wie auch einer Übungsschule die zeitgemäßen Formen der Didaktik und Pädagogik so zu eigen gemacht, dass er die traditionelle Methode, den Kindern das Lesen des Hebräischen zu vermitteln, für rückständig hielt und durch eine neue Methode ersetzen wollte. Doch auch hier lag die Entscheidung nicht allein bei ihm, wie folgende Stelle aus einem seiner Briefe zeigt: „2 Herren kamen zu mir im Auftrage des Gerer Rebbe: er habe ja volles Vertrauen zu mir, aber die Anfangslesemethode: Komoz ollef = o [alte Methode des hebräischen Leseunterrichts88] u.s.w. dürfe ich nicht anrühren, mit ihrem Fortfall schwinde die ganze Keduscho [Heiligkeit] des Lesenlernens, die Fähigkeit zu Zirruf Aussiaus [der Verbindung der Buchstaben im Sinne von Lesen und Schreiben, aber auch für kabbalistische Spekulationen] u. damit zur Aufnahme der erhabensten Gedanken. Ich setzte den Herren ihren Irrtum auseinander, der sich schon daraus ergebe, dass die Kinder ein volles Jahr zum Lesenlernen gebrauchen, obwohl sie täglich 5 – 7 Stunden Leseunterricht haben. Sie ließen sich aber nicht überzeugen u. so werde ich nochmals zu einer Assife [Versammlung] gebeten, zu der der Rebbe an 30 Rebbeim u. Rabbonim laden wird.“89

Hier wird deutlich, wie unterschiedlich die Auffassungen des modernen deutsch-orthodoxen Rabbiners und eines einer ganzheitlichen religiösen Lebenswelt verpflichteten Rebbe in Polen waren. Während für Carlebach der Hebräisch-Leseunterricht nur das profane Ziel hatte, möglichst rasch die Fähigkeit des Lesens zu vermitteln, sah der Gerer Rebbe schon allein diesen Lernprozess als einen religiösen Akt an, der auf Grund seiner „Keduscho“ (Heiligkeit) keinesfalls verändert werden durfte. Für Carlebach war die An87 M. M. (= Max Mayer), Im Namen der Tora, in: Jüdische Rundschau 13, 30. 3. 1917, 107. Der Israelit vom 5. 4. 1917 stellte diese Unrichtigkeit der Jüdischen Rundschau auch klar, indem er darauf hinwies, dass die „Aguda […] vielmehr mit Feuereifer von Anfang an für die Erhaltung des Cheders mit Jiddischer Unterrichtssprache eingetreten“ ist. Die orthodoxe „Gefahr“ in Polen, in: Der Israelit 14/15, 5. 4. 1917, 3. Vgl. auch das Wahlprogramm der Warschauer Aguda vom Mai 1918, in dem Jiddisch ausdrücklich als Unterrichtssprache für die Chadarim gefordert wurde. Vgl. Program fun vahl-komitet bej „Agudas Ho-Ortodoksim“, in: Das Judische Vort 104, 16. 5. 1918, 7. 88 Vgl. hierzu auch Gamoran, Conceptions, 93 – 94. 89 Brief E. Carlebachs an seine Frau, 9. 2. 1916. IRDJ, KOR, EC 24. Vgl. auch Brief E. Carlebachs, 9. 2. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 78. Hier ist jedoch aus dem Original etwas anders zitiert.

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Reform des Chederschulwesens in Warschau

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eignung des Hebräischlesens rein säkular konnotiert und musste wegen des in den polnischen Chadarim vorherrschenden didaktischen Nachteils unbedingt modernen Lehrmethoden angepasst werden. Diese Auseinandersetzung zeigt im Übrigen auch exemplarisch Carlebachs und Kohns persönlichen Wunsch nach einem Kulturtransfer. Während zum Beispiel die Einrichtung der Melamdim-Fortbildungskurse, die auch weltlichen Unterricht umfassten, auf die Initiative der deutschen Besatzungsbehörden zurückging, ist hinsichtlich der Hebräisch-Anfangslesemethode offensichtlich, dass Carlebach auch auf Grund eigener Überzeugungen eine Modernisierung anstrebte. Ebenso entsprach die Forderung Carlebachs, den Talmud-Unterricht in den unteren Klassen der Chadarim zu streichen, um die Schüler nicht zu überfordern, seinen Ansichten von einer modernen orthodox-jüdischen Erziehung. Doch auch hier stieß er auf starken Widerstand der chassidischen Autoritäten, so dass er gezwungen war, einen Kompromiss zu schließen, der den Beginn des Talmud-Studiums ab dem dritten Schuljahr vorsah.90 Wiederum wurde er zu Unrecht vom Ga˛biner Rabbiner Zlotnik angegriffen, der an Carlebachs Entwurf einer Reorganisation des Chederschulwesens kritisierte, dass Knaben schon nach dem siebten Lebensjahr anfangen müssten, wöchentlich sechs Stunden Gemara und fünf Stunden Mischna zu lernen. Und mit zehn Jahren müssten sie schließlich schon fünfzehn Stunden in der Woche Gemara, vier Stunden Mischna, aber nur drei Stunden Pasuk (biblischer Vers) und sogar nur eine Stunde biblische und jüdische Geschichte lernen.91 Wäre es nach Carlebach gegangen, so hätte sein Vorschlag anders ausgesehen. Doch auch hier war er, wie schon erwähnt, darauf angewiesen, seine Reformvorschläge in Einklang mit den Ansichten der chassidischen Führer zu bringen. Auf jeden Fall hatten Carlebach und Kohn mit ihrem Eintreten für eine Modernisierung des Cheder grundlegend dazu beigetragen, dass sich die Führer des traditionellen Judentums intensiv mit dieser Angelegenheit beschäftigten und selbst Vorschläge für eine Verbesserung der Chadarim einbrachten, die sich letztlich am orthodoxen Erziehungswesen im Westen orientierten. So hatte beispielsweise der Sochaczewer Rabbiner die Ansicht geäußert, dass man den religiösen Unterricht in den Chadarim erweitern müsse, der bisher nur aus Tanach, Gemara und Posakim bestanden habe, während Grammatik, Dibrei Jamei Israel (Geschichte Israels) und die Geschichte der Großen Israels gänzlich ausgeschlossen gewesen seien. Dies habe zur Folge gehabt, dass die Lomdei Tora (Tora-Gelehrten) nicht die geringsten Kenntnisse von der jüdischen Geschichte, der reichen jüdischen Vergangenheit, der langen Galut-Wanderung und allen damit verbundenen Geschehnissen gehabt hätten. In früheren Zeiten sei dies möglicherweise berechtigt gewesen, in der heutigen Zeit sei aber ein solcher Lehrplan demoralisierend. Das Kind 90 Vgl. Breuer, Rabanim, 133. 91 Vgl. Ven man nemt zich tsu zachen tsu velche man iz nischt beschafen, in: Der Moment 4, 4. 1. 1918, 3 – 4, Ausgabe A.

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260 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert frommer Eltern, das eine „primitive“ Erziehung nach dem alten System erhalte, nichts von der Geschichte Israels (des jüdischen Volkes) wisse und keinen Begriff von jüdischer Gemeinschaft habe, würde, wenn es später ein Büchlein der modernen Literatur freisinnigen Geistes lese, enttäuscht werden. Das würde Skepsis in ihm gegenüber den religiösen Fächern hervorrufen und letzten Endes zum Glaubensabfall führen. Diese Situation habe zu einer tiefen Kluft zwischen der jungen und der alten Generation geführt und sei der Hauptgrund dafür, dass die orthodoxe Jugend das orthodoxe Lager verlasse und „massenweise“ zu den „Gegnern“ überlaufe. Wenn man wolle, dass die Jugend der Orthodoxie treu bleibe, müsse man ihr alle geistigen Speisen geben, damit sie nicht gezwungen sei, die Körner auf fremden Feldern zu sammeln und die zumeist giftigen Blumen in fremden Gärten zu pflücken. Daher müsse man in den Chadarim eine bestimmte Zeit auch dem Unterricht der jüdischen Geschichte in echt traditionellem jüdischem Geist widmen. Man müsse den Schülern Erzählungen von den großen jüdischen Männern, ihre Biographien und Bilder von ihrem höchst moralischen Leben darbieten, danach könne man auch ethisch-moralischen Unterricht mit entsprechenden Büchern abhalten. Damit würde man den jungen Leuten Achtung vor ihrem Glauben und ihrer Geschichte einflößen, so dass sie nicht von einem belletristischen oder historischen „Büchlein“ „hypnotisiert“ würden. Zwar mangele es an Literatur auf diesem Gebiet, doch seien genug talentierte orthodoxe Schriftsteller vorhanden, die solche Werke schreiben könnten. Außerdem könne man auch deutschsprachige Bücher übersetzen, hätten doch die „frommen Brüder in Deutschland eine hübsche Anzahl von klassischen Werken“ geschrieben.92 Dieser letzte Satz machte deutlich, dass der Sochaczewer Rabbiner bei seinem Vorschlag das Vorbild der orthodoxen deutschen Juden vor Augen hatte und somit einen gewissen Kulturtransfer favorisierte, wenn er die Übersetzung solcher orthodoxen deutschsprachigen Werke anregte. Eine weitere Maßnahme in Bezug auf die polnischen Chadarim, die Carlebach befürwortete, war der Versuch, den hygienischen Standard und das äußere Erscheinungsbild der Schulen zu verbessern. Diese Absicht ging jedoch nicht auf seine Initiative – auch wenn er sicher völlig damit einverstanden war –, sondern auf die der deutschen Verwaltungsbehörden zurück, die bestrebt waren, die Chadarim wegen mangelnder Hygiene und der daraus resultierenden Gesundheitsgefährdung zu schließen. Carlebach, der, wie bereits erwähnt, kein Interesse an einer Zerstörung der Chadarim hatte, musste reagieren und versuchte daher, diese Missstände zu bekämpfen, damit die Schulen erhalten blieben. Tatsächlich scheinen die Maßnahmen Carlebachs, der einen bedeutenden Teil seiner Zeit in Warschau der Besichtigung von Chadarim widmete, ihre 92 Vegen di limudim in di chadarim (Bezüglich der Unterrichtsgegenstände in den Chadarim), in: Das Judische Vort 63, 15. 3. 1918, 5.

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Reform des Chederschulwesens in Warschau

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Wirkung nicht verfehlt zu haben. Bereits fünf Monate nach seiner Ankunft konnte er gegenüber Rosenheim als Erfolg seiner Tätigkeit verbuchen, dass „Hunderte Cheder, die fraglos geschlossen worden wären, […] vor dem Untergang gerettet werden“93 konnten. Noch klarer wurde die einerseits konservierende, andererseits reformierende Leistung Carlebachs bezüglich der polnischen Chadarim Ende 1917 in der Plenarsitzung der orthodoxen Organisation Agudat Israel wie folgt umschrieben: „Rettung des dem Untergang bereits verfallenen Cheders in Polen und seine zeitgemäße Ausgestaltung.“94 Ähnlich äußerte sich auch Kohn viele Jahre später, als er den Fortbestand der Chadarim in Polen vor allem als Verdienst Carlebachs bezeichnete: „Dank insbesondere der pädagogischen Leitung durch Dr. Carlebach s. A. wurde es erreicht, daß die Chederschule sowohl von der deutschen, als auch später von der polnischen Verwaltung Anerkennung fand und ihr Bestand gewahrt wurde.“95 Die von den beiden deutschen Rabbinern durchgeführte Reform der polnischen Chadarim war sicher nicht so weitreichend, wie sie dies vielleicht selbst gewünscht hatten. Trotzdem kann der Meinung Gershon Bacons nicht beigepflichtet werden, dass die polnischen Rabbiner jeden Versuch Kohns und Carlebachs, die Chadarim zu reformieren, abgewehrt hätten und die Änderungen des Lehrplans reine Absichtserklärungen geblieben und niemals in die Praxis umgesetzt worden seien.96 Insbesondere die Einführung von säkularem Unterricht, der bis zum Ende der Zweiten Polnischen Republik obligatorisch blieb, stellte eine kleine Revolution im polnischen Cheder-Schulwesen dar, wenn man bedenkt, dass die polnischen Chassidim wie auch Mitnaggdim bis dahin jede Änderung des Lehrplans, zumal die Verankerung von weltlicher Bildung, als ein Sakrileg betrachtet und erbittert bekämpft hatten. Zwar war diese Neuerung vor allem auch von deutscher und polnischer Seite vehement gefordert worden, doch waren Carlebach und Kohn die erfolgreichen Vermittler der Neuerung und – was noch weitaus mehr zählt – die Initiatoren eines gewissen allgemeinen Bewusstseinswandels innerhalb des traditionellen polnischen Judentums. So weist Mordechai Breuer darauf hin, dass die Reform der Knabenerziehung von den Mitnaggdim und Chassidim zunächst nicht unbedingt als Fortschritt angesehen wurde. Allerdings verlieh die enge Kooperation von Carlebach und Kohn mit den traditionsorientierten Führern in politischen und organisatorischen Angelegenheiten den beiden deutschen Rabbinern auch im Bereich der Erziehung ein gewisses Ansehen. Das Auftreten von Carlebach und Kohn, die den Doktortitel besaßen und dennoch die Gebote achteten, veranlasste viele traditionelle polnische Juden zum Um93 94 95 96

Bericht E. Carlebachs an Jacob Rosenheim, 29. 6. 1916. IRDJ, KOR, EC 72. Zitiert nach Deutsche Israelitische Zeitung 7, 14. 2. 1918, Beilage: Die Laubhütte, 11. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 25 – 26. Vgl. Bacon, Politics, 45. Ähnlich, jedoch nicht ganz so kategorisch, äußert sich auch Mordechai Breuer, der der Meinung ist, dass es bezüglich der Chadarim keine grundlegenden Änderungen gegeben hätte. Vgl. Breuer, Rabanim, 133.

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262 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert denken: Nach dem Vorbild dieser beiden schien es ihnen, dass Religion und weltliche, moderne Bildung durchaus miteinander vereinbar waren.97 Die herausragende Leistung Carlebachs und Kohns bestand also vor allem darin, die noch sehr traditionsorientierten Juden Polens von der Notwendigkeit säkularer Elementarbildung wie auch einiger weiterer Änderungen in den Chadarim überzeugt zu haben.98 So konnte man im Sommer 1917 in einem Artikel der Europäischen Staats- und Wirtschaftszeitung, der in vielen jüdischen Zeitungen nachgedruckt wurde, lesen, dass es „in hohem Maße […] dem Einfluß zweier […] deutscher Rabbiner, der Herren Dr. Kohn aus Ansbach und Dr. Carlebach aus Köln, zu danken [sei], daß der Chassidismus seine schroffe Bildungsfeindlichkeit allmählich aufgibt. […] Auch die politische Organisierung der Orthodoxie macht sie bildungsfreundlicher. Sie ist heute schon zur Einführung von Elementarunterricht an ihren Religionsschulen bereit und hat ihn an manchen Schulen schon eingeführt.“99 Im Mai 1918 wurde die Reform des traditionellen jüdischen Erziehungswesens in Polen schließlich sogar in das Wahlprogramm der unter maßgeblichem Einfluss der beiden deutschen Rabbiner gegründeten Parteiorganisation Agudat Ha-Ortodoksim aufgenommen, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, dass die Zöglinge in den künftigen Chadarim, Talmud-Torot und Jeschivot neben den jüdischen Gegenständen auch in genügendem Umfang weltlichen Unterricht erhalten sollten. Darüber hinaus machte sich die Aguda dafür stark, eine Reihe von Handwerkerschulen zu gründen, in denen neben der theoretischen und praktischen Ausbildung auch religiöses und weltliches Wissen vermittelt werden sollte.100 Nach dem Weltkrieg fand das von Carlebach in Verhandlungen mit den Chassidim-Autoritäten entwickelte Warschauer Modell eines orthodoxen Knabenschulwesens landesweite Verbreitung.101 Es entstanden zahlreiche neue Chadarim, die ein einheitliches Lehrprogramm mit Profanunterricht aufwiesen.102 In den ersten beiden Schuljahren umfassten die weltlichen Fächer, zu denen Polnisch, polnische Geschichte, Geographie, Arithmetik sowie Naturwissenschaften gehörten, zehn und von der dritten bis zur siebten Klasse sogar zwölf Wochenstunden.103 Mit ihrer erfolgreichen Reformtätigkeit hatten die beiden deutschen Rabbiner letztlich auch die offizielle Anerkennung des 97 Vgl. Breuer, Rabanim, 133. 98 Implizit verweist ebenfalls Bacon auf den Bewusstseinswandel des traditionellen polnischen Judentums in Bezug auf die Chadarim, der sich auch in der Praxis offenbarte. Vgl. Bacon, Politics, 157. 99 Zitiert nach Ein Beitrag zur polnischen Judenfrage, in: Der Israelit 30, 26. 7. 1917, 2. Dieser Artikel erschien auch in der AZJ 29, 20. 7. 1917, 337 – 340 und in der Zeitschrift Im Deutschen Reich 23 (1917), Nr. 9 unter dem Titel Zur „polnischen Judenfrage“, 364 – 367. 100 Vgl. Program fun vahl-komitet bej „Agudas Ho-Ortodoksim“, in: Das Judische Vort 104, 16. 5. 1918, 7. 101 Vgl. Bacon, Politics, 148. 102 Vgl. Der Israelit 28, 15. 7. 1920, 4. 103 Vgl. Bacon, Politics, 148; Frost, Schooling, 85.

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Reform des Chederschulwesens in Warschau

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Cheders durch die polnische Regierung ermöglicht.104 1922 erhielt die polnische Aguda vom Ministerium für Kultus und Unterricht Polens die Mitteilung, dass der Cheder als ein den allgemeinen Volksschulen gleichzustellendes Lehrinstitut angesehen werde, da darin nun auch die profanen Unterrichtsgegenstände berücksichtigt würden, wobei insbesondere die polnische Sprache in ausreichendem Maße gepflegt werde.105 Hier deutet sich bereits an, warum das orthodoxe Elementarschulwesen in Polen zum zahlenmäßig erfolgreichsten jüdischen Erziehungssystem der Zwischenkriegszeit avancierte.106 Im Gegensatz zu den Schulnetzen anderer jüdischer Gruppierungen wie denen der Zionisten (Tarbut) und der Jiddischisten (Tsischo) wurde das orthodoxe Schulwerk der Agudat Israel von der polnischen Regierung nicht gegängelt, sondern größtenteils außerordentlich wohlwollend behandelt wie auch finanziell unterstützt.107 Dies lag, wie Miriam Eisenstein meint, zum einen daran, dass das orthodoxe Schulnetz in Polen überaus konservativ war und Gehorsam, Patriotismus und Loyalität gegenüber dem polnischen Staat pflegte. Zum anderen wurde von den staatlichen Schulbehörden die Einführung von Polnisch als Unterrichtssprache für die säkularen Fächer sehr wohlwollend aufgenommen.108 104 Vgl. zu dieser Wertung auch Deutschländer, Erziehungswerk, 54 – 55. 105 Vgl. Der Israelit, Blätter 21, 26. 10. 1922, 1. 106 Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Schulkinder besuchte staatliche polnische Schulen und erhielt allenfalls eine zusätzliche jüdische Erziehung. Innerhalb der einzelnen jüdischen Schulnetze war jedoch das der Agudat Israel, das seit 1928 unter dem Namen Chorev firmierte, sowohl nach der Zahl der Erziehungsanstalten als auch hinsichtlich der sie besuchenden Schüler das zahlenmäßig stärkste. Laut einer Statistik für das jüdische Schulwesen in Polen aus dem Jahre 1928 gehörten zu den Chorev-Schulen 256 Talmud-Tora-Anstalten, 143 Chadarim und 70 Jeschivot, in denen zusammen ca. 58 000 Schüler unterrichtet wurden. Hinzu kamen noch 111 Bet Jakob-Schulen, die sich der Erziehung orthodoxer Mädchen widmeten, und ca. 15 000 Schülerinnen hatten (Dieser Aspekt des orthodoxen Erziehungssystems wird noch im Abschnitt IV. 3. ausführlich behandelt werden). Insgesamt besaß damit das orthodoxjüdische Schulwerk in Polen 580 Lehranstalten mit ca. 73 000 Schülern und Schülerinnen. Demgegenüber hatten die Tsischo-Schulen nur 218 Lehranstalten mit ungefähr 25 000 Schülern und das Tarbut-Schulnetz 258 Erziehungseinrichtungen mit ca. 30 000 Schülern aufzuweisen. Statistik von A. Tartakower, hier zitiert nach Deutschländer, Erziehungswerk, 10. Jedoch müssen diese Zahlen auch mit einem gewissen Vorbehalt betrachtet werden. Gerade für den orthodoxen Schulsektor sind die hier angegebenen Zahlen wohl zu hoch angesetzt, da die Statistik auch Chadarim implizierte, von denen nach den Worten Tartakowers es viele nicht verdienten, als Schule bezeichnet zu werden. Vgl. Bacon, Revival, 74. Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass das orthodoxe Schulnetz das größte jüdische Schulsystem im Polen der Zwischenkriegszeit darstellte. 107 So wurde in einem Brief des Innenministeriums an die Wojewoden vom 25. 6. 1929 ausdrücklich auf die Haltung des Kultusministeriums hingewiesen, wonach Schüler, die religiöse Privatschulen besuchen, in denen auch Profanunterricht erteilt wird, die gesetzliche Schulpflicht erfüllen. Dementsprechend seien diese Schulen – ausdrücklich wird dabei das orthodox-jüdische Schulnetz erwähnt – bei der Erteilung von Subventionen im selben Maße zu berücksichtigen wie alle anderen Privatschulen. Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 55. Vgl. auch Eck, Institutions, 20. 108 Vgl. Eisenstein, Schools, 80. Ähnlich, wenn auch etwas negativer, formulierte Hanns Reißner

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264 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Diese beiden Gründe, warum der polnische Staat das orthodoxe Schulnetz der Agudat Israel im Vergleich zu anderen jüdischen Erziehungssystemen zuvorkommender behandelte, lassen sich zweifellos auf das Wirken von Carlebach und Kohn zurückführen. So hatte die betonte und unerschütterliche Loyalität der Orthodoxie gegenüber dem polnischen Staat in der Zwischenkriegszeit ihren Ursprung in der von Kohn und Carlebach im Namen der Aguda verfassten Adresse an den polnischen Hohen Staatsrat vom 30. Januar 1917, in der nicht nur die Entstehung eines unabhängigen polnischen Staatswesens begrüßt, sondern auch eine untrennbare Verknüpfung zwischen der Liebe der polnischen Orthodoxie zu ihrem Glauben und ihrer Loyalität gegenüber dem polnischen Staat hergestellt wurde.109 Zwar wurden die beiden deutschen Rabbiner und die von ihnen repräsentierte polnische Orthodoxie wegen der Erklärung gegenüber dem polnischen Staatsrat, deren huldigender Inhalt nach Ansicht des deutschen Zionisten Max Mayer unvereinbar war mit der Würde des polnischen Judentums,110 scharf von jüdisch-nationaler Seite angegriffen. Sie sollten jedoch mit ihrer Strategie Recht behalten. Das Gleiche galt auch für die von Carlebach und Kohn verfochtene Einführung des Polnischen als Unterrichtssprache für die säkularen Fächer in den Chadarim. Beide hatten mit ihrer Überzeugung, dass die Forderung der Zionisten und Jiddischisten nach ausschließlich jüdischen Unterrichtssprachen eine Gefahr für den Fortbestand des Cheder darstelle, erstaunlichen Weitblick bewiesen. Hier sei an den weiter oben zitierten Abschnitt aus einem Brief Carlebachs erinnert, wonach die traditionsorientierten Juden zusammen mit Kohn und Carlebach als ihre Vertreter Polnisch als Unterrichtssprache für die säkularen Fächer forderten, die nationalorientierten Juden hingegen Jiddisch. Die beiden deutschen Rabbiner konnten sich, wie erwähnt, mit ihrer Forderung durchsetzen. Allgemeine Unterrichtssprache in den Chadarim blieb das Jiddische, während für die nichtreligiösen Fächer Polnisch als Medium der Vermittlung fungierte. Und auch die Jiddischisten und Zionisten in Polen konnten letztlich nicht umhin, in ihren Schulen zumindest Polnischunterricht zu erteilen, wollten sie die Existenz ihrer Schulnetze nicht gefährden.111 Mit ihrem Vorgehen gelang es Carlebach und Kohn also nicht nur, zu verhindern, dass die deutschen oder die polnischen Behörden die Chadarim schlossen, sondern sie schufen auch die Voraussetzungen für ein blühendes diesen Umstand. Vgl. Reißner, „Schul“ und Schule im neuen Polen, in: Der Morgen 7 (1931), Heft 4, 335. Eine andere Meinung als Eisenstein und Reißner vertritt demgegenüber Gershon Bacon. Vgl. Bacon, Politics, 149 – 150. Im Übrigen mag der Hinweis, dass die jüdisch-orthodoxe Bevölkerung rein numerisch die mit Abstand größte Gruppe innerhalb des polnischen Judentums bildete, zwar die Größe des orthodoxen Schulwesens erklären, jedoch nicht ihre gute Rechtsposition in der polnischen Republik. 109 Vgl. An den Hohen Staatsrat, Warschau 30. 1. 1917, in: A. Carlebach, Rabbi, 107. 110 Vgl. M. M. (=Max Mayer), Im Namen der Tora, in: Jüdische Rundschau 13, 30. 3. 1917, 107. 111 Vgl. hierzu Stein, Entwicklung, 156, FN 9 sowie die Lehrpläne der Tarbut-Elementarschulen und der Tsischo-Schulen bei Frost, Schooling, 74, 79.

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Reform des Chederschulwesens in Warschau

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orthodoxes Elementarschulwesen, das sich gegenüber anderen Entwürfen für jüdische Schulen freier entfalten konnte und laut Ezra Mendelsohn das attraktivste jüdische Schulsystem in der Zwischenkriegszeit war.112 1937 umfasste das von der Aguda unterhaltene Schulnetz Chorev 208 solcher Schulen, an denen über 32 000 Knaben Unterricht erhielten.113 Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass ein nicht unerheblicher Teil der polnischen Orthodoxie eine auch noch so zaghafte Modernisierung der Chadarim ablehnte und die Kinder weiterhin in private Chadarim schickte.114 Insofern hatte der von den beiden deutschen Rabbinern initiierte Kulturtransfer auf dem Gebiet der orthodoxen jüdischen Knabenerziehung in Polen bei weitem nicht alle traditionsorientierten polnischen Juden erfasst.

Zur Reform der Melamdim-Ausbildung im Generalgouvernement Warschau Mitte Januar 1916 wurden „mit Genehmigung der Verwaltungsbehörden durch die ,Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums‘“ Fortbildungskurse in jiddischer und hebräischer Sprache für die Melamdim eingerichtet. Ihre Leitung wurde Emanuel Carlebach übertragen,115 der als langjähriger Leiter des orthodoxen Lehrerseminars in Köln auf dem Gebiet der Aus- und Fortbildung von orthodoxen Pädagogen eine unbestreitbare Erfahrung aufzuweisen hatte.116 Diese Fortbildungskurse sollten amtlichen Charakter haben und aus öffentlichen Mitteln finanziert werden.117 Jedoch wurde Carlebach sehr schnell bewusst, dass deutsch-orthodoxe Maßstäbe in dieser Beziehung keine Bedeutung hatten: „Aus meinen Chedervisiten komme ich regelmässig ganz resigniert u. verzweifelt heraus. Wo soll da der Hebel angesetzt werden; wie soll man fortbilden, wo keine Ausbildung war. Wie soll man Männer fortbilden von 50 und 60 Jahren; Männer, die 10 – 12 Rubel (=1.50 M) monatl. verdienen, u. 7 – 10 Kinder zuhause haben, die nach Brod schreien; Männer, abgeschuftet im Cheder von 8 1/2 – 6 Uhr ununterbrochen an der Arbeit, dazu innerlich widerwillig, weil die Notwendigkeit nicht erkennend. Die Neuheranbildung von Chederlehrern wäre dankbarer, segensvoller ; aber der Staat scheut das Geld u. die Rebbes die Konsequenzen.“118 112 Vgl. Mendelsohn, Jews, 66. 113 Vgl. Programm und Leistung, 379 – 380. Laut Aussage des Direktors von Chorev A. Z. Fridman waren es zu diesem Zeitpunkt sogar 360 Schulen mit 53.000 Schülern, wobei jedoch nicht festgestellt werden kann, wie viele von diesen 360 Schulen die Rechte der staatlichen Schulen besaßen und demnach auch säkularen Unterricht erteilten. Vgl. Eck, Institutions, 21. 114 Vgl. Eck, Institutions, 21. 115 Laut Breuer war diese Aufgabe der ursprüngliche Grund für Carlebachs Berufung nach Warschau. Vgl. Breuer, Rabanim, 133. 116 Vgl. Warschauer Brief, in: Der Israelit 3, 20. 1. 1916, 4. 117 Vgl. Jüdische Rundschau 5, 4. 2. 1916, 40. 118 Brief E. Carlebachs an seine Frau, 3. 2. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 77.

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266 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Hier deutet sich schon an, dass Carlebach nach seinem Selbstverständnis eine gründlichere Reform oder einen Kulturtransfer favorisierte. Entgegen der bei den orthodoxen polnischen Juden bislang vorherrschenden traditionellen Vorstellung, wonach der Lehrberuf keiner besonderen Ausbildung bedurfte, sprach sich Carlebach im Brief an seine Frau indirekt für die Errichtung eines Lehrerseminars aus. Allerdings scheint er nach eigenen Angaben hierfür aus unterschiedlichen Gründen weder die Unterstützung der deutschen Verwaltung noch die der Rebben besessen zu haben.119 Daher war er gezwungen, sich zunächst daran zu orientieren, was tatsächlich durchsetzbar war. Insofern ist es nur allzu verständlich, wenn er Mitte Februar bei einer Versammlung der Melamdim in Warschau betonte, dass die künftigen Fortbildungskurse ganz den Wünschen und Bedürfnissen der Melamdim entsprechen würden,120 diese also keine radikalen Änderungen zu befürchten hätten. Wie Mordechai Breuer betont, fiel nämlich Carlebach ursprünglich die etwas paradoxe Aufgabe zu, hinsichtlich der Abhaltung von Melamdim-Fortbildungskursen die Forderungen der Besatzungsbehörden auf ein Minimum zu beschränken und gleichzeitig die Zustimmungsbereitschaft der orthodoxen Führer auf ein Maximum zu erhöhen.121 Am 8. November 1916 wurden schließlich die Fortbildungskurse für Melamdim in Warschau feierlich eröffnet. Kohn deutete jedoch in seiner Begrüßungsansprache, „in der er die Kurse als eines der Mittel dahinstellt[e], um Ost- und Westjudentum zu verbinden“, gegenüber den Chederlehrern in Abkehr von Carlebachs beschwichtigenden Worten an, dass sie sich von nun an auch westliche Bildung aneignen müssten. Allerdings waren die beiden deutschen Rabbiner offensichtlich bemüht, diese Änderungen als nicht zu gravierend erscheinen zu lassen und zugleich auch ihre Sympathie für das traditionelle jüdische Elementarschulwesen zum Ausdruck zu bringen. So stellte sich Carlebach den Melamdin zu Beginn seiner Rede als Kollege vor und ging sodann „auf die historische Bedeutung des Cheder, der Pflanzstätte des jüdischen Geistes“, ein. Erst nach seiner Würdigung des Cheders erklärte er, dass durch die Kurse „bei Beibehaltung des alten Geistes“ äußerlich einige Änderungen und Verbesserungen eingeführt werden sollten, die einer schnelleren Erreichung des Lernziels dienten. Die Chederlehrer sollten sich im Hebräischen, Polnischen und eventuell auch im Deutschen fortbilden und 119 Zumindest bei den zuständigen deutschen Verwaltungsstellen des Generalgouvernements Warschau scheint aber schon bald ein gewisser Sinneswandel eingetreten zu sein, da Carlebach in einem Bericht an Rosenheim vom Juni 1916 mitteilte, dass er in einer Unterredung mit Haas von diesem namens der Regierung aufgefordert worden sei, „jetzt die Fortbildungskurse in grösserem Massstabe [sic!] zu beginnen. Kosten, die die Einrichtung verursache – Lokalmiete, Anstellung von Lehrkräften, Anschaffung von Büchern und Lernmitteln – trage das Reich; was [er, Carlebach,] fordere, werde bewilligt.“ Bericht E. Carlebachs an Rosenheim, 29. 6. 1916. IRDJ, KOR, EC 71. 120 Vgl. Der Israelit 8, 24. 2. 1916, 5. 121 Vgl. Breuer, Rabanim, 133.

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vervollkommnen. Darüber hinaus wurde schließlich in den Kursen von Carlebach Pädagogik122 und in denen von Kohn Ethik des Judentums als eigenständiges Fach unterrichtet.123 Waren schon Melamdim-Fortbildungskurse per se für das traditionelle polnische Judentum etwas völlig Neues, so war die Einführung von Pädagogik, Ethik des Judentums und der Landessprache als Unterrichtsfächer eine revolutionäre Neuerung. Trotz ihrer Sympathie für den Cheder hatten Kohn und Carlebach damit demonstriert, dass sie eine Verbindung von Tora und Bildung, das deutsch-orthodoxe Ideal von Tora im derech erets, auch bei den polnischen Melamdim favorisierten, was allerdings angesichts der Reform der Chadarim und insbesondere der Einführung von säkularen Fächern nur konsequent war. Diese Synthese von jüdischer und allgemeiner Kultur fand in gewisser Weise auch ihren sinnbildlichen Ausdruck in Carlebachs eigener Unterrichtssprache. Wie der später berühmte jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig (1886 – 1929) in einem Brief vom 30. Mai 1918 an seine Mutter schrieb, schien sich Carlebach „auf einem Mittelwege zwischen Hochdeutsch und Jüdisch zu verständigen“.124 Die Melamdim-Fortbildungskurse, die täglich von 15 bis 17 Uhr stattfanden125, stießen nicht nur auf rege Beteiligung126, sondern hatten schließlich sogar Vorbildcharakter, schlug doch der Schulreferent beim österreichischungarischen Generalgouverneur in Lublin und bedeutende Historiker Prof. Majer Bałaban (1877 – 1942) nach einer Inspektionsreise in seinem Bericht an die Regierung die Einrichtung von „Bildungskursen“ für Chederlehrer vor.127 122 Carlebach hielt vier Mal in der Woche pädagogische Vorlesungen, für die die Zivilverwaltung ihm jeweils 20 Mark bezahlte. Brief E. Carlebachs an seine Familie, 13. 7. 1916. IRDJ, KOR, EC 101. 123 Vgl. Der Israelit 46, 16. 11. 1916, 5. Ursprünglich sollten neben Carlebach und Kohn auch die orthodoxen deutschen Juden Eduard Biberfeld und Dr. Munk als Dozenten an den Fortbildungskursen mitwirken. Vgl. Die Jüdische Presse 5, 4. 2. 1916, 55; Warschauer Brief, in: Der Israelit 3, 20. 1. 1916, 4. Gerade Biberfeld wurde von Carlebach sehnsüchtig erwartet, „in der Überzeugung, an ihm einen klugen, vorsichtigen, imponierenden Menschen, Juden u. Ben tauroh [Sohn der Tora = Jüdischer Gelehrter] u. Ergänzung meines Selbst zu finden“. Brief E. Carlebachs an seine Frau, Kaisergeburtstag (= 27.1.) 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 71. Allerdings kamen beide nicht nach Warschau, wobei Biberfelds Fernbleiben mit dem Tod seiner Frau zusammenhängen dürfte. 124 Brief Rosenzweigs an seine Mutter, 30. 5. 1918, in: Rosenzweig, Mensch, Bd. 1, Briefe und Tagebücher, 1. Bd. 1900 – 1918, 568. Laut Alexander Carlebach tat sich Emanuel Carlebach sehr schwer, ein halbwegs vernünftiges Jiddisch zu sprechen, so dass er es deshalb wohl lieber unterließ. Als seine Söhne Jahre später aus den litauischen Jeschivot zurückkehrten, beneidete er diese darum, dass sie fließend Jiddisch sprachen. Vgl. A. Carlebach, Adass, 69 – 70. 125 Vgl. Warschauer Brief, in: Der Israelit 46, 16. 11. 1916, 5. 126 Vgl. Breuer, Rabanim, 132. 127 Vgl. Aus dem jüdischen Leben in Warschau, in: Der Israelit 35, 31. 8. 1916, 4, wo explizit darauf verwiesen wird, dass die „Bildungskurse“ für die Chederlehrer „nach dem Muster dieser Institution in Warschau“ eingerichtet werden sollen. Dies war sicherlich richtig, jedoch hat Bałaban selbst in seinem Bericht einen direkten Hinweis auf dieses Vorbild vermieden. Bałaban, Bericht, 66.

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268 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Wie schon erwähnt, hatte Carlebach eigentlich die Gründung eines Melamdim-Seminars favorisiert, hierfür jedoch keine Möglichkeit zur Realisierung gesehen. Offenbar gaben aber die von ihm geleiteten Melamdim-Fortbildungskurse schließlich innerhalb des traditionellen polnischen Judentums den Anstoß dafür, die Gründung eines solchen Seminars intensiv zu diskutieren. Anfang 1918 wurde in einer Sitzung des Va’ad Ha-Chinuch (Erziehungsrat) der von den beiden deutschen Rabbinern initiierten Agudat Ha-Rabanim (Rabbinerverein) über die Absicht debattiert, ein Lehrerseminar, einen sogenannten Beit Ulpana, zu gründen. Nach längeren Verhandlungen gelangte man indessen zu der Erkenntnis, dass der Mangel an guten Melamdim doch nicht so groß sei und dass jeder Ben Tora (wörtlich: Sohn der religiösen Lehre; Toragelehrter), der in jungen Jahren in einem Beit Midrasch gelernt habe, genug Fähigkeiten besitze, um Kinder zu unterrichten. Damit war das Seminarprojekt vorerst begraben. Stattdessen beschloss der Va’ad Ha-Chinuch, Unterrichtsmethoden auszuarbeiten, anhand deren jeder Ben Tora innerhalb kurzer Zeit imstande sein würde, sich pädagogisches Wissen anzueignen, das er für den Unterricht im Cheder benötigte.128 Zwar war die Gründung eines Melamdim-Seminars zunächst gescheitert, doch deutet die Tatsache, dass der Va’ad Ha-Chinuch von notwendigen Lehrmethoden sprach, auf einen gewissen Bewusstseinswandel hin. Zumindest hatte man die Notwendigkeit von Pädagogikkenntnissen und deren Vermittlung, wenn auch nicht auf seminaristischem Weg, wie es in der deutschen Orthodoxie üblich war, anerkannt. Dies zeigen auch die Äußerungen des Rabbiners von Blaszki kurze Zeit später, der die Einrichtung eines orthodoxen Lehrerseminars zwar ebenfalls als unnötig bezeichnete, jedoch forderte, dass jeder Melamed, der einen Cheder einrichten wolle, ein Zeugnis vorweisen müsse, aus dem hervorgehe, dass er vor einer besonderen Rabbinerkommission desselben Kreises eine Eignungsprüfung abgelegt habe. Wer hingegen nicht über ausreichende pädagogische Fähigkeiten verfüge, müsse zunächst in einem der bestehenden Chadarim praktizieren.129 Nur wenige Tage danach wies der orthodoxe deutsche Rabbiner Dr. Moses Auerbach (1881 – 1976), der in Warschau Direktor des von Carlebach gegründeten Mädchengymnasiums Chavatselet war, diese Ansicht entschieden zurück, wobei er sich auf seine langjährige praktische Tätigkeit und sein theoretisches Wissen berief. Zwar gebe es, so meinte er, zweifellos tüchtige Melamdim ohne pädagogische Ausbildung, aber von diesen existierten nur sehr wenige, und selbst sie wiesen Mängel in der Lehrtechnik auf. Außerdem müsse man wissen, dass auch die guten Melamdim sich erst mit der Zeit im Zuge der Praxis verbessert hätten. Die ersten Schüler dieser Melamdim hätten also gewissermaßen „Lehrgeld“ für die pädagogische Ausbildung ihrer Lehrer 128 Vgl. Di reorganizirung fun cheder, in: Das Judische Vort 29, 4. 2. 1918, 3. 129 Vgl. Di reorganizirung fun cheder, in: Das Judische Vort 29, 4. 2. 1918, 3.

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bezahlen müssen. Die Kinder seien jedoch ein zu „teures Material“, als dass man es sich erlauben könnte, das „Studium“ auf ihrem Rücken durchzuführen. Auch gelte es zu bedenken, dass die Mehrheit der betreffenden jungen Leute bisher mit der Gemara beschäftigt gewesen sei und sehr wenig die Bibel und die Grammatik kenne, wie ihnen überhaupt der Unterrichtsablauf und die „Methodik“ dieser Lehrfächer sehr fremd seien. Schließlich seien sie auch mit den weltlichen Fächern nicht vertraut, die doch, wie der Rabbiner von Blaszki selbst gesagt habe, in den Chadarim in einem gewissen Maße unterrichtet werden müssten. Dies sei doch ein großer Mangel, wodurch die Würde der Tora bei den Schülern sehr leide, wenn sie bemerkten, dass sie in den allgemeinen Fächern eine Stufe höher stünden als ihre Tora-Lehrer. Außerdem sei man dadurch gezwungen, die Kinder in den allgemeinen Fächern solchen Lehrern anzuvertrauen, die von wertlosen Meinungen durchdrungen seien und somit einen schlechten Einfluss auf „unsere“ (orthodoxen) Kinder ausüben könnten. Aus diesen Gründen hielt Auerbach eine spezielle Ausbildung der Melamdim für unbedingt notwendig, was jedoch nicht so schwierig sei, wie man es sich vorstelle. Seiner Meinung nach konnten fähige junge Bnei Tora innerhalb von zweieinhalb Jahren eine entsprechende Ausbildung erlangen und so zu guten Melamdim werden. In den ersten beiden Jahren sollten sie neben den religiösen Fächern, in denen sie sich ebenfalls fortbilden müssten, auch Polnisch, Rechnen, Geographie, Geschichte, Naturwissenschaften und Pädagogik lernen. Das letzte halbe Jahr sollten sie unter entsprechender Aufsicht mit den Schülern „praktisch“ lernen, also eine Art Referendariat ableisten. Es verstehe sich von selbst, dass die jungen Leute, die sich zu Melamdim ausbilden ließen, während dieser zweieinhalb Jahre finanziell unterstützt werden müssten. Für diejenigen Melamdim, die schon tätig waren, empfahl er die Einrichtung von pädagogischen Kursen, um ihnen zu zeigen, wie man Kinder erziehe und mit ihnen lerne. Dabei solle insbesondere die Unterrichtsweise und die Methodik der religiösen Fächer behandelt werden. Jedoch warnte Auerbach entschieden davor, solche Kurse einzurichten, zu denen Hunderte von Melamdim erscheinen würden, da man unter diesen Umständen nicht ernsthaft arbeiten könne.130 Mit dieser offenen Stellungnahme im Judischen Vort hatte der orthodoxe deutsche Rabbiner Auerbach mehr als deutlich gemacht, dass die Verbesserung der Lehre im Cheder nur durch einen Kulturtransfer erreicht werden konnte: In Anlehnung an die seminaristische Ausbildung orthodoxer deutscher Lehrer sollten auch die polnischen Melamdim ein Seminar besuchen, wobei ihnen Pädagogik, Lehrmethodik, Unterrichtspraxis und säkulare Kenntnisse vermittelt werden sollten. Nur wenige Tage später schloss sich auch ein polnischer Jude der Meinung Auerbachs an. In einem offenen Brief an die Rabbiner des Va’ad Ha-Chinuch der Agudat Ha-Rabanim erklärte ein gewisser Nachum Aparti, dass er sich 130 Vgl. Di frage vegen reorganizirung dem cheder, in: Das Judische Vort 33, 8. 2. 1918, 3.

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270 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert sehr lange wegen einer traurigen Angelegenheit zurückgehalten habe, obwohl sein Herz sehr geschmerzt habe. Zwar seien ihm die Rabbiner sehr teuer, doch angesichts der kürzlich gefassten Resolutionen des Va’ad Ha-Chinuch werde das Gesicht eines jeden Menschen vor Schmach und Schande rot. Im Gegensatz zum Beschluss der Rabbiner, dass ein Melamdim-Seminar nicht notwendig sei und man stattdessen nur eine Art pädagogisches Büchlein verfassen solle, sprach sich Aparti für die Gründung solcher Einrichtungen aus und stellte zugleich die rhetorische Frage, wer denn das pädagogische Büchlein, dessen Herausgabe die Rabbiner beschlossen hätten, verfassen solle.131 Nun schien Bewegung in die Diskussion zu kommen. Denn kurz darauf wurde ein Artikel des Rabbiners von Mława im Judischen Vort veröffentlicht, der im Widerspruch zum Rabbiner von Blaszki die Meinung äußerte, dass die Vorzüge eines Beit-ulpana le-melamdim (also eines Melamdim-Seminars) so groß seien, dass es sich durchaus lohne, viel Mühe und Energie für dessen Gründung aufzuwenden. Die Chadarim seien sehr vernachlässigt, wobei im Allgemeinen die Zahl der fähigen Melamdim, wie schon Auerbach erklärt habe, sehr gering sei. Durch die Errichtung eines Melamdim-Seminars würden aber alle Mängel beseitigt. Wenn der Va’ad Ha-Rabanim (sic!) die Initiative zur Gründung einer solchen Anstalt übernehme und diese unter seine Aufsicht stelle, erlange sie auch Vertrauen. Als Kandidaten dürften nur fähige und tüchtige junge Leute, deren Torakenntnisse ausgezeichnet seien, zugelassen werden. Wenn sie wüssten, dass ihre materielle Lage gesichert sei, träten sie gerne in den Beit-Ulpana ein. Zudem betreffe die Meinung Auerbachs, dass man den Unterricht der allgemeinen Fächer nicht den „freisinnigen“ Lehrern überlassen dürfe, ein allgemeines Problem. Als Lösung schlug der Rabbiner daher ebenfalls die Gründung eines orthodoxen Lehrerseminars vor, aus dem die Lehrer für die allgemeinen Fächer hervorgehen sollten.132 Ebenso sprach sich auch der Sochaczewer Rabbiner für die Gründung eines Melamdim-Seminars aus, wobei er aber dem Rabbiner von Mława darin beipflichtete, dass man von den Melamdim keineswegs verlangen könne, dass sie Fremdsprachen unterrichteten. Vielmehr solle es für jedes Fach einen „Spezialisten“ geben, doch müssten die Chederlehrer aus Prestigegründen zumindest ein gewisses Maß an Allgemeinbildung besitzen.133 Damit argumentierte der Sochaczewer Rabbiner ganz ähnlich wie sein Amtskollege aus Blaszki. Die Aneignung von Allgemeinbildung im Rahmen eines Seminars sei für die Melamdim auch deshalb notwendig, weil sie dann eine gewisse Autorität gegenüber ihren Schülern aufweisen könnten.134 131 Vgl. An’ofener Brief zu di geehrte rabanim fun „va’ad ha-chinuch“ bej der „Agudas HoRabanim“, in: Das Judische Vort 38, 14. 2. 1918, 3. 132 Vgl. Di melamdim un chadarim-frage, in: Das Judische Vort 45, 22. 2. 1918, 4. 133 Vgl. Vegen di limudim in di chadarim (Bezüglich der Unterrichtsgegenstände in den Chadarim), in: Das Judische Vort 63, 15. 3. 1918, 5. 134 Freilich gab es auch gegenteilige Meinungen. So war beispielsweise ein gewisser Jechiel Mosche der Meinung, dass ein Melamed keine weltlichen Kenntnisse, sondern nur religiöse benötige.

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Dass die Forderung nach Gründung eines Seminars für Melamdim und für Lehrer der Profanfächer nicht nur vereinzelt erhoben wurde, zeigte sich im Übrigen auch daran, dass zur selben Zeit, als die Diskussion über dieses Thema innerhalb der polnischen Orthodoxie entbrannte, der Rabbiner von Zawiercie im polnischen Bildungsministerium den Antrag stellte, die von ihm geleitete Jeschiva Aurach Chajim (Lebensweise) zu einem Seminar für Melamdim ausbauen zu dürfen. Er erklärte, seine Jeschiva weise ein sehr umfangreiches jüdisches Lehrprogramm auf, dem sich nun auch „die profanen Disziplinen in reichem Maße anreihen“ sollten. Wohl auf Grund dieses Zugeständnisses erklärte sich das Bildungsministerium bereit, das „JeschivaSeminar“ zu bestätigen und die Ausgaben für die profanen Fächer sowie einen Teil der Wirtschaftsausgaben zu übernehmen, wobei man große Hoffnungen auf diesen Versuch setzte. Sollte sich nämlich das Seminar als zweckmäßig erweisen, hatte man die Absicht, nach demselben Muster auch in Warschau und in anderen polnischen Städten derartige Einrichtungen zu gründen.135 Damit zeigte sich, dass Teile der polnischen Orthodoxie zwar eine Modernisierung des Chederschulwesens anstrebten, indem sich die Melamdim säkulare Kenntnisse aneignen sollten, aber auch darauf bedacht waren, dies im traditionellen Rahmen durchzuführen. Zwischen dem vorgeschlagenen „Jeschiva-Seminar“ und einem orthodoxen Lehrerseminar in Deutschland bestand demnach noch immer ein großer Unterschied. Der Kulturtransfer wurde also den eigenen traditionellen Bedürfnissen angepasst. Dennoch war es innerhalb des traditionellen polnischen Judentums zu einem generellen Bewusstseinswandel hinsichtlich der Ausbildung von Melamdim gekommen. Als die Agudat Ha-Ortodoksim im Mai 1918 ihr Wahlprogramm für die Warschauer Gemeindewahlen verabschiedete, erhob sie auch die Forderung, dass ein Beit-Ulpana für Melamdim oder ein Melamdim-Seminar gegründet werde, das unter strenger religiöser Aufsicht136 und „auf Grundlage der Tradition und des alten Thoralernens stehen“, jedoch auch die „profanen Fächer“ einbeziehen sollte.137 Kurz darauf sah sich auch die Agudat Ha-Rabanim, die unter Mithilfe von Kohn und Carlebach gegründete Vereinigung der Rabbiner, veranlasst, in der Frage eines Melamdim-Seminars tätig zu werden. Anfang Juli 1918 wurde in Kohns Warschauer Wohnung unter seinem Vorsitz eine Rabbinerversammlung abgehalten, bei der beschlossen wurde, dass sich das Sekretariat der Agudat Ha-Rabanim mit einem Bericht über die Notwendigkeit der Gründung Einzig die Landessprache dürfe, wie Mosche erklärte, ein Chederlehrer aus dem Bereich des säkularen Wissens besitzen. Vgl. Vegen a konferents mikojech a beit ulpana le-melamdim (Bezüglich einer Konferenz wegen einer Lehranstalt für die Melamdim), in: Das Judische Vort 73, 27. 3. 1918, 7. 135 Vgl. Jüdische Lehrerbildung, in: Der Israelit 8, 21. 2. 1918, 4. 136 Vgl. Program fun vahl-komitet bej „Agudas Ho-Ortodoksim“, in: Das Judische Vort 104, 16. 5. 1918, 7. 137 Vgl. Die Gemeindewahlen. Warschau, in: Der Israelit 22, 30. 5. 1918, 3.

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272 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert eines Melamdim-Seminars an die Rabbiner wenden solle, wobei jeder, der Einwände dagegen habe, dies schriftlich kundtun könne. Wer allerdings keine schriftliche Stellungnahme abgebe, erkläre damit stillschweigend seine Zustimmung zur Gründung. Sofern sich auf diese Weise eine Mehrheit für die Errichtung eines Melamdim-Seminars herausstelle, werde die Agudat HaRabanim sofort zusammentreten, um das Seminar zu gründen.138 Wenige Tage später kritisierte ein orthodoxer polnischer Jude im Judischen Vort, dass die gegenwärtigen Melamdim ihre Arbeit nur mechanisch verrichteten und weder eine Vorbereitung noch eine pädagogische Erziehung hätten, weshalb die Gründung eines Beit-ulpana le-melamdim notwendig sei, um die Chederlehrer wenigstens „technisch“ auf ihre Lehraufgaben vorzubereiten. Wie er weiter betonte, gehörten die Einrichtung und die Unterhaltung eines solchen Seminars zu den allgemeinen Aufgaben der polnischen Orthodoxie, da die Absolventen dieses Seminars in allen Gemeinden Polens tätig werden sollten.139 Kurz darauf hielt Carlebach einen Vortrag über die Ideale der Erziehung, in dem er forderte, dass die Melamdim auch fähig sein müssten, die allgemeinen Fächer zu unterrichten, da sonst die Jüdischkeit der Kinder in Gefahr gerate. Auch dies war zweifellos eine indirekte Forderung nach Gründung eines Melamdim-Seminars.140 Als 1920 (oder bereits 1919) Anhänger des Gerer Rebbe in Warschau eine neue Jeschiva gründeten, der sie den traditionellen aramäischen Namen Metivta, also Talmudhochschule, gaben, deren offizielle polnische Bezeichnung aber Das Rabbinerseminar Polens lautete, schien sich der Wunsch Carlebachs und traditionsorientierter Juden nach einer Verbesserung der Melamdim- und der Rabbinerausbildung zu erfüllen. Wie Der Israelit berichtete, war die neugegründete Jeschiva eine „Ausbildungsstätte für Rabbiner und Lehrer“141, schien also die Rolle des mehrfach geforderten Melamdim-Seminars zu übernehmen. Für diese Annahme sprach in gewisser Weise auch, dass ähnlich wie in den Chadarim täglich zwei Stunden säkularen Unterrichtsgegenständen, insbesondere Polnisch, Mathematik und Geschichte, gewidmet waren. Die Einführung von Profanunterricht in einer von Gerer Chassidim unterhaltenen Jeschiva könnte als Indikator für eine veränderte Einstellung zur Bildungsfrage verstanden werden. Allerdings blieb sie eine absolute Ausnahme.142 Die Einbeziehung von säkularen Gegenständen war wohl insbesondere dem Wunsch geschuldet, die künftigen Lehrer in den Chadarim auf 138 Vgl. Di asifas Ho-Rabanim in Varsche (Die Rabbinerversammlung in Warschau), in: Das Judische Vort 145, 4. 7. 1918, 4. 139 Vgl. Unzere ortodoksische organizatsies IV, in: Das Judische Vort 148, 8. 7. 1918, 2. 140 Vgl. Di idealen fun erzihung, in: Das Judische Vort 161, 23. 7. 1918, 4. 141 Vgl. Der Israelit 28, 15. 7. 1920, 4. 142 Die Warschauer Metivta blieb laut einer Darstellung Tartakowers aus dem Jahre 1931 die einzige Jeschiva Polens, in der auch säkularer Unterricht erteilt wurde. In den übrigen Jeschivot war dies auch weiterhin „verpönt“. Tartakower, Schulwesen, 296. Vgl. hierzu auch Stampfer, Yeshivas, 263.

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ihren Beruf vorzubereiten.143 Für einen ultraorthodoxen Juden und AgudaGegner wie den Munkcser Rebbe Chaim Eleazar Schapira (1872 – 1937) war die Metivta in Warschau nichts weiter als eine bloße Nachahmung der fehlgeleiteten modernen Rabbinerseminare, die von „Doktor-Rabbinern“ in Deutschland errichtet worden seien.144 Der Hauptkritikpunkt des Munkcser Rebbe bestand aber darin, dass das Curriculum der Metivta auch säkularen Unterricht umfasste, den das jüdische Religionsgesetz verbiete. Der Rebbe lehnte jedoch nicht nur den Lehrplan ab, sondern bezeichnete auch den offiziellen Namen der Warschauer Einrichtung als anstößig. Seiner Meinung nach war das polnischsprachige Schild Das Rabbinerseminar Polens an der Eingangstür eine „öffentliche Entweihung des heiligen Namens“, die „unserem heiligen Glauben fremd“ sei.145 Und doch erfüllte die Warschauer Metivta offensichtlich keineswegs die Aufgaben eines Melamdim-Seminars. 1928 wurde in einer Plenarsitzung des Zentralrats der polnischen Agudat Israel unter anderem eine Resolution verabschiedet, nach der die Gründung eines Lehrerseminars wie auch die Einrichtung von Lehrerfortbildungskursen dringend notwendig waren.146 Hätte die Metivta in Warschau tatsächlich einen Beitrag zur Ausbildung von Melamdim geleistet, so wäre diese Resolution überflüssig gewesen. Ebenso hätte sich der Keren Ha-Tora, der Fonds zur Unterstützung des orthodoxen Schulwesens in Europa, insbesondere Osteuropa, kaum dazu veranlasst gesehen, „Lehrerkurse“ in Grodno zu subventionieren.147 Demnach war die vor allem von Carlebach und Auerbach eingeleitete Diskussion über die Errichtung eines Melamdim-Seminars zunächst ohne konkretes Ergebnis geblieben, so dass die polnischen Melamdim gemäß deutsch-jüdischem Verständnis weiterhin völlig unzureichend auf ihre Aufgabe vorbereitet waren. Dies bestätigte beispielsweise auch Ben-Zion Gold, der sich hinsichtlich seiner Zeit im polnischen Cheder in den Jahren 1930 bis 1936 über die Melamdim folgendermaßen äußerte: „The melamdim had no professional training other than the knowledge of the subject they taught, and often that was limited.“148 Eine derartige Entwicklung hatte Carlebach schon früh geahnt. Bereits am 29. Juni 1916 hatte er in einem Bericht an Jacob Rosenheim erklärt, dass sich an die Fortbildungskurse auch Ausbildungskurse „junger befähigter Leute“ 143 Dass es vor allem auf den Druck der Regierung zurückzuführen sei, wie Stampfer behauptet (vgl. Stampfer, Yeshivas, 263), muss bezweifelt werden, denn dann hätten auch die anderen Jeschivot säkularen Unterricht in ihr Lehrprogramm aufgenommen. 144 Ravitzky, Messianism, 43. Im Übrigen fürchtete der Munkcser Rebbe in diesem Zusammenhang einen weitgehenden Kulturtransfer, wenn das deutsche Rabbinerseminarmodell sich weltweit verbreiten würde. Vgl. Ravitzky, Messianism, 43. 145 Nadler, War, 242. 146 Vgl. Der Israelit, Blätter 12, 31. 5. 1928, 3. 147 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 65. 148 Gold, Education, 273.

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274 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert anschließen sollten, in dieser Hinsicht jedoch seine „Hauptsorge“ wie folgt formuliert: „Was frommt die ganze Einrichtung, wenn sie nur auf wenig Wochen berechnet sein kann?“149 Zwar sollte Carlebach mit seiner Befürchtung Recht behalten, da offenbar nach Abzug der deutschen Truppen und der beiden deutschen Rabbiner die Melamdim-Kurse wieder eingegangen waren. Doch zeigt die oben angeführte Erklärung der polnischen Aguda über die Notwendigkeit einer speziellen Lehrerausbildung, dass insoweit innerhalb der polnischen Orthodoxie ein gewisser Bewusstseinswandel eingesetzt hatte, der wohl nicht zuletzt auch von Carlebach, Auerbach und Kohn angestoßen worden war, der aber auch eines längeren Reifungsprozesses bedurfte.150 In den 30er Jahren gründete dann tatsächlich in Warschau die von Agudat Israel unterhaltene orthodoxe Schulorganisation Chorev ein Seminar für Melamdim und Cheder-Vorsteher, dessen Lehrplan sowohl Bibel- und Talmud-Unterricht wie auch Pädagogik und jüdische Didaktik umfasste.151 Damit kam man relativ spät doch noch den Forderungen nach einer auf moderner Grundlage beruhenden Ausbildung der Melamdim nach.

3. Die „Massen der jüdischen Töchter vor dem Untergang zu retten“: Die Reform der Mädchenerziehung im traditionsorientierten osteuropäischen Judentum Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die deutsche (Neo-)Orthodoxie im Zeitalter der Emanzipation das Problem der fehlenden systematischen religiösen Erziehung der Mädchen als Gefahr für den Glauben erkannt und hierauf mit der Einrichtung eines umfassenden und geordneten religiösen Erziehungswesens für ihre Töchter reagiert hatte. Schon nach wenigen Jahrzehnten stellte sich der Erfolg dieses für die Orthodoxie durchaus revolutionären Schrittes ein, als nunmehr die Mädchen aus orthodoxem Haus eine mit der ihrer männlichen Altersgenossen vergleichbare fundierte jüdische Bildung besaßen und gleichzeitig relevante säkulare Kenntnisse aufweisen konnten. Wie Mordechai Breuer gezeigt hat, wurde der entsprechende positive Wandel besonders augenscheinlich, wenn man ihn mit der jüdisch-orthodoxen Mädchenerziehung in Osteuropa verglich. Dort blieb bis in das 20. Jahrhundert hinein die Auffassung bestimmend, dass eine systematische Unter149 Bericht E. Carlebachs an Rosenheim, 29. 6. 1916. IRDJ, KOR, EC 71. 150 Ein diesbezüglicher Bewusstseinswandel wird implizit auch deutlich anhand der folgenden Äußerung von Ben-Zion Golds Vater, einem Stadtratsabgeordneten der polnischen Agudat Israel, gegenüber einem Freund: „,Look who are the educators of our children, people who have failed in every other endeavor.‘“ Gold, Education, 274. 151 Vgl. Bacon, Politics, 158.

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richtung des weiblichen Geschlechts nicht notwendig oder sogar Sünde sei.152 Trotz der daraus resultierenden großen Gefahren für das religiöse Bewusstsein der aus traditionellem Haus stammenden Mädchen konnte sich das traditionsorientierte osteuropäische Judentum nicht dazu durchringen, für seine Töchter eigene Schulen zu errichten. Im Gegenteil, selbst Chassidim nahmen es nicht selten in Kauf, dass ihre Töchter nichtjüdische Schulen besuchten und somit ohne gefestigtes Wissen über die Religion ihrer Väter den Versuchungen der modernen christlichen Gesellschaft ausgesetzt waren.153 Fehlende religiöse Kenntnisse sowie der gleichzeitige starke Einfluss der säkularen Kultur führten schließlich häufig zu einer inneren Entfremdung vom Judentum.154 Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern die orthodoxen deutschen Rabbiner und Erzieher, die während des Ersten Weltkriegs und danach in Osteuropa wirkten, den Versuch unternahmen, die religiöse Töchtererziehung im traditionellen osteuropäischen Judentum in Anlehnung an das Modell des orthodoxen deutschen Judentums umzugestalten.

Die Gründung der traditionsorientierten Mädchenschule Chavatselet in Warschau Nachdem Emanuel Carlebach bereits wenige Tage nach seiner Ankunft in Warschau gegenüber seiner Frau den Zustand der Mädchenerziehung beklagt hatte,155 wurde ihm einige Monate später nicht nur persönlich vor Augen geführt, wie trostlos es um die religiöse Bildung der aus traditionellem Haus stammenden jüdischen Mädchen in Polen bestellt war, sondern er wurde sogar darum ersucht, selbst für Abhilfe zu sorgen. In einem Brief an seine Frau vom Juli 1916 berichtete er, dass ihn eine „Frauen- u. Jungfrauen-Deputation“ aufgesucht und gebeten habe, er möge auch vor ihnen, „die noch nie einen religiösen Vortrag gehört hätten, wenigstens einmal wöchentlich einen Vortrag […] halten“. Zwar habe er sich noch nicht definitiv entschieden, aber er werde wohl nicht umhinkönnen, seinen Teil dazu beizutragen, „dem fraglos herrschenden geistigen Elend“ entgegenzuwirken.156 Carlebach klang hier noch etwas unentschlossen, doch schon bald nahm der Kampf gegen diesen Missstand einen wichtigen Platz in seiner Arbeit ein. 152 Vgl. Breuer, Orthodoxie, 116 – 120. 153 Bacon weist darauf hin, dass in den polnischen Schulen und Gymnasien, sogar in solchen mit jüdischen Lehrern, die polnische Sprache, Literatur und Kultur den Lehrplan dominierte. Vgl. Bacon, Politics, 132. 154 Wie Bacon bemerkt, werden in der Memoirenliteratur, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entstand, Vorfälle erwähnt, in denen chassidische Töchter, die polnische Schulen besuchten, ihre frommen Eltern lächerlich machten und über die Idee spotteten, einen Talmudisten zu heiraten. Vgl. Bacon, Politics, 165. 155 Vgl. Brief E. Carlebachs, 3. 2. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 77. 156 Brief E. Carlebachs, 13. 7. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 99.

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276 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Zunächst wurden tatsächlich in Warschau „wöchentliche Vorträge für die Frauenwelt eingerichtet“.157 Darüber hinaus hielten Carlebach wie auch Kohn in anderen Städten158 und in anderem Rahmen Referate vor orthodoxen Frauen. So wird beispielsweise im März 1917 von einem Vorlesungsabend für Frauen in der Frauenvereinigung Ezrat Jeladot Aniot (Arme-Mädchen-Hilfe) berichtet, bei dem Carlebach und Kohn Vorträge über den „Aufgabenkreis der jüdischen Frau“ hielten.159 Wie sehr Carlebach und Kohn mit ihren Referaten einem weitverbreiteten Bedürfnis der orthodoxen weiblichen Bevölkerung entsprachen, geht beispielsweise aus Carlebachs Bemerkung über einen Damenvortrag hervor, bei dem er von ungefähr 500 Teilnehmern mit „,rauschendem Applaudissementen‘“ begrüßt und anschließend sogar „von 5 begeisterten jungen Mädchen“ nach Hause begleitet worden sei.160 Die Anziehungskraft, die Carlebach mit seinen Vorträgen vor weiblichem Publikum ausübte, zeigt besonders deutlich folgende Äußerung gegenüber seiner Frau: „Die Damen wollen mich auf 8K9D; [hebr.: chanuka] nicht heimlassen, sie wollen einen großen philanthropischen Abend veranstalten u. einziger Hahn im Korb, der Festredner soll ich sein. Reise ich, können sie die Sache nicht machen, weil die Attraktion fehlt.“161 Doch allein mit Vorträgen vor den Frauen konnte der allgemeine Mangel an religiösem Wissen in der traditionsorientierten weiblichen Bevölkerung nicht behoben werden. Wie Kohn in seinen Erinnerungen an die Zeit in Warschau ausführte, gärte es in der polnisch-jüdischen Jugend, wobei sich insbesondere zwischen den Eltern und ihren Töchtern „eine verhängnisvolle Kluft“ aufgetan habe.162 Diese Kluft konnte nach dem modern-orthodoxen Verständnis Carlebachs nur durch die Gründung eines jüdischen Gymnasiums nach deutschem Vorbild überbrückt werden. Offenbar sah der deutsche Rabbiner die Errichtung einer orthodoxen Mädchenschule als so dringend an, dass dies 157 Vgl. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 28. Vgl. einen Brief Carlebachs, in dem er einen „mit unendlichem Applaus aufgenommenen Damenvortrag“ erwähnt. Brief E. Carlebachs, 4. 3. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 88; Brief E. Carlebachs, 22. 11. 1916, in: A. Carlebach, Rabbi, 104, in dem er ebenfalls anmerkt, er werde einen Vortrag vor Damen halten sowie seinen Brief vom 5. 2. 1917, in dem er seiner Frau berichtet, dass er heute seinen „,grandiosen‘ Damenvortrag zu halten habe“. IRDJ, KOR, EC 135. 158 So zum Beispiel in Łdz´ (vgl. Brief E. Carlebachs, ohne Datum [wohl Ende 1917 oder Anfang 1918], in: A. Carlebach, Rabbi, 112) oder in Aleksandrw Łdzki und Ciechocinek. Brief E. Carlebachs, Juli 1918. IRDJ, KOR, EC 208. 159 Vgl. Der Israelit 10, 8. 3. 1917, 4. Kohn und Carlebach hielten übrigens einen Vortragszyklus, der sich speziell an Frauen richtete. So trug Mitte März 1917 Kohn über die Frau aus der Bibel und Carlebach über Unsere Weltanschauung vor. Vgl. Das Judische Vort 34, 12. 3. 1917, 8. 160 Vgl. Brief E. Carlebachs, ohne Datum (wohl Ende 1917 oder Anfang 1918), in: A. Carlebach, Rabbi, 112. Das Thema seines Referates war übrigens Wert und Würde, Stand und Stellung der jüdischen Frau. Bei seinem Schabbat-Vortrag vor Frauen in Aleksandrw Łdzki beziehungsweise Ciechocinek sollen sogar an die tausend Zuhörerinnen zugegen gewesen sein. Vgl. Brief E. Carlebachs, Juli 1918. IRDJ, KOR, EC 208. 161 Brief E. Carlebachs an seine Kinder, ohne Datum. IRDJ, KOR, EC 210. 162 Vgl. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 28.

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keinen Zeitaufschub duldete. So erklärte er in einem Brief an seine Frau von Anfang November 1916 die „Vorarbeiten zur schnellstmöglichen Eröffnung der Mädchenschule“ zu einer seiner augenblicklichen Hauptaufgaben.163 Seine Orientierung an deutschen Vorbildern wird zum Beispiel daran deutlich, dass er über seine Frau einen gewissen Herrn Guh bat, ihm den „Schulbericht einer Mädchen-Mittelschule […], in dem der ausgearbeitete Lehrplan enthalten ist“, zuzusenden.164 Nachdem die ihm zugesandten Materialien offenbar nicht das für seine Zwecke Erforderliche enthielten, teilte er etwas ungehalten mit, dass er „eiligst“ den „Pensenplan der Mädchenmittelschule“ benötige. Noch deutlicher wurde Carlebachs Wunsch nach einem Kulturtransfer, als er im Judischen Vort Ende August 1917 über die von der Aguda beabsichtigte Gründung der jüdischen Mädchenschule berichtete und darauf hinwies, dass das Programm einer Handelsschule für Frauen vorgesehen sei, wobei die religiöse Unterweisung fünf Wochenstunden betragen solle. „Da es in Polen“, stellte er fest, „einstweilen an Lehrern fehlt, die befähigt wären, die Schülerinnen in die wahre Schönheit des unsterblichen Judentums einzuführen, werden wir pädagogisch vorgebildete Kräfte aus Deutschland einladen müssen“, während in den profanen Fächern einheimische Lehrkräfte unterrichten würden, und zwar auf Polnisch.165 Wenn Carlebach von der „wahre[n] Schönheit des unsterblichen Judentums“ sprach, meinte er damit nichts anderes als einen modernen Religionsunterricht, wie er im orthodoxen deutschen Judentum zu dieser Zeit üblich war. Dass den Unterricht orthodoxe deutsche Pädagogen erteilen sollten, war nur konsequent. Bei der Gründung eines Gymnasiums für orthodoxe Mädchen kümmerte sich Carlebach nicht nur um die Ausgestaltung des Lehrplans, sondern er war auch, ähnlich wie bei der Reform der Chadarim, bemüht, die geplante Schule auf eine solide finanzielle Grundlage zu stellen. So hatte er seinen Bruder Alexander Carlebach (1872 – 1925) im Juni 1917 überreden können, ihm 30 000 Mark für die Unterhaltung des Mädchengymnasiums bereitzustellen, sofern diese Summe nicht von anderer Seite gezahlt werde.166 Die finanzielle Hauptlast für die neue Lehranstalt in Warschau übernahmen letztlich jedoch der aus Köln stammende Königsberger Bankier George Marx (1843 – 1927), der künftige Schwiegervater des hebräischen Dichters Schmuel Josef Agnon (1888 – 1970), und einige orthodoxe Persönlichkeiten.167 Als letztes organisatorisches Problem stellte sich die Frage, wer das Mäd163 Vgl. Brief E. Carlebachs an seine Familie, 3. 11. 1916. IRDJ, KOR, EC 87. 164 Vgl. Brief E. Carlebachs an seine Frau, 12. 11. 1916. IRDJ, KOR, EC 121. 165 Vgl. Das Judische Vort 176, 31. 8. 1917. Zitiert nach Tagesbericht aus der polnischen und jüdischen Presse 184, 1. 9. 1917, 4 (auf die von der Presseabteilung des Verwaltungschefs beim Generalgouvernement Warschau herausgegebenen Tagesberichte, die nur für den Dienstgebrauch bestimmt waren, wird immer dann zurückgegriffen, wenn die entsprechenden Ausgaben der verschiedenen jüdischen Zeitungen selbst nicht zur Verfügung standen). 166 Brief E. Carlebachs an seine Familie, 15. 6. 1917. IRDJ, KOR, EC 141. 167 Vgl. Breuer, Rabanim, 132; Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 28.

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278 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert chengymnasium leiten sollte. Carlebach war zweifellos für diesen Posten gut geeignet, aber offenbar angesichts seiner anderen, umfangreichen Verpflichtungen nicht fähig oder gewillt, auch noch diese Aufgabe zu übernehmen. Mit Rabbiner Dr. Moses Auerbach wurde dann der ideale Direktor einer modernen orthodoxen Mädchen-Mittelschule gefunden. Der aus Deutschland stammende Auerbach hatte für die Palästina-Kommission der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums bereits einige Zeit die Schulen in Petach Tikva, Ekron und Rechovot geleitet, als sich die Kommission schließlich auch der orthodoxen Mädchenerziehung in Erets Israel annahm. So wurde in Petach Tikva unter der Leitung von Martha Lipstadt eine Mädchenschule gegründet, die unter der Oberleitung Auerbachs laut Jacob Rosenheim „die Grundlagen für eine zeitgemäße orthodoxe Erziehung für Mädchen in Petach Tikva […] legte“.168 Wegen der Kriegsereignisse war Auerbach jedoch gezwungen gewesen, die Schulen in Erets Israel zu verlassen und nach Deutschland zurückzukehren.169 Der deutsche Rabbiner hatte also nicht nur Erfahrung auf dem Gebiet der modernen orthodoxen Mädchenerziehung, sondern war auch verfügbar. In Warschau wurde im Oktober 1917 das orthodoxe Mädchengymnasium Chavatselet mit einem auf sieben Jahre angelegten Lehrplan eröffnet.170 Vorerst musste Carlebach wegen der Abwesenheit Auerbachs die Leitung dieser, so Das Judische Vort, „ersten orthodoxen Mädchenschule“171 selbst übernehmen.172 Dann kam Anfang November 1917 Auerbach nach Warschau und trat die Stelle des Direktors von Chavatselet an. Zu Beginn entwickelte sich eine Kontroverse über die Unterrichtssprache der religiösen Fächer. Auerbach, der längere Zeit in Palästina gelebt hatte, schlug Hebräisch vor, was die Eltern ablehnten. Zunächst führte der deutsche Rabbiner nur in der untersten Klasse Hebräisch als Lehrsprache ein, da er der Überzeugung war, dass im Laufe der Zeit von selbst alle Klassen zur Heiligen Sprache übergehen würden. Nachdem der Gerer Rebbe nach Warschau zurückgekehrt war und keine Einwände gegen das Hebräische als Unterrichtssprache erhob, stimmten schließlich

168 Rosenheim, Erinnerungen, 137. Vgl. hierzu auch Auerbach, Me-Halberschtat, 36 – 49. 169 Vgl. Rosenheim, Erinnerungen, 147 – 148. 170 Vgl. Der Israelit 41, 12. 10. 1917, 4; A. Carlebach, Adass, 70. Auch hier zeigt sich, dass Carlebach die Eröffnung des orthodoxen Mädchengymnasiums als äußert dringend ansah und somit die Ankunft Auerbachs nicht abwarten konnte. Dementsprechend fand die nachträgliche Eröffnungsfeierlichkeit von Chavatselet auch erst im Dezember 1917 statt. Vgl. Brief E. Carlebachs, 9. 12. 1917, in: A. Carlebach, Rabbi, 111. Im Übrigen war die Bezeichnung Gymnasium für Chavatselet etwas irreführend, wenn man bedenkt, dass an der Schule auch Schülerinnen angenommen wurden, die des Lesens und Schreibens noch nicht mächtig waren. Vgl. Das Judische Vort 198, 29. 10. 1918, 3. 171 Der ojstsejchnungs-akt in „Chavatselet“, in: Das Judische Vort 126, 12. 6. 1918, 4. 172 Die Ungeduld Carlebachs über die sich verzögernde Ankunft Auerbachs wird in den Briefen an seine Frau deutlich. Vgl. Brief E. Carlebachs, Oktober 1917, in: A. Carlebach, Rabbi, 110; Brief E. Carlebachs, 3. 11. 1917, in: A. Carlebach, Rabbi, 111.

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auch die Eltern dem Vorschlag Auerbachs zu.173 Innerhalb kürzester Zeit erwarb sich dieser nun nicht nur bei den Lehrerinnen der Schule „unglaublichen Respekt und aufrichtige Verehrung“,174 sondern er konnte darüber hinaus laut Mordechai Breuer mit seinem Wirken eine Wende in der Erziehung weiblicher chassidischer Kreise einleiten, die sich schließlich sogar auf die ganze orthodoxe Erziehung in Polen auswirkte.175 Carlebach und Auerbach hatten also einen Kulturtransfer in Gang gesetzt, der darin bestand, dass viele traditionsorientierte polnische Juden, vor allem Chassidim, von der Möglichkeit und insbesondere vom Vorteil einer modernen Schulerziehung der Mädchen im traditionell-religiösen Rahmen, wie sie sich in Deutschland seit der Zeit Samson Raphael Hirschs entwickelt hatte, überzeugt worden waren. Jedoch scheint Auerbach diese von ihm ausgelöste Entwicklung während der kurzen Zeit seines Wirkens nicht vorausgesehen zu haben, da er sich schon wenige Monate nach Übernahme des Direktorats von Chavatselet mit dem Gedanken der endgültigen Rückkehr nach Deutschland trug. Die Gründe hierfür lassen sich einem Brief Carlebachs an seine Frau vom 5. März 1918 entnehmen: „Frau Dr. Auerbach, die mich in unserem Soldatenheim unterstützt, will ja auf Pessach mit ihrem Mann zu ihrem Jungen nach Breslau reisen; beide aber wollen nicht wieder zurückkehren. Teils fehlt ihm hier die Stellung, die er beansprucht, teils sehnen sie sich nach dem Kinde, teils teilt er auch nicht die Hoffnungen auf die Reform der Orthodoxie, die Kohn u. ich hegen u. fürchtet somit, nur Augenblicksarbeit zu leisten, u. so scheint s. Entschluss unerschütterlich. Ich komme dadurch natürlich in entsetzliche Verlegenheit u. weiss noch garnicht, was ich machen u. was aus Chawazeleth werden soll.“176

Im Gegensatz zu Auerbach glaubten Carlebach und Kohn demnach fest an eine Reform des traditionellen polnischen Judentums, was auch für die Mädchenerziehung galt. So bezeichnete man bereits Ende 1917 in einer Plenarsitzung der Agudat Israel wohl auf Initiative von Carlebach und Kohn als eine der Leistungen der Aguda während des Weltkriegs lapidar : „Arbeiten zur Reform der Mädchenbildung im Osten; Gründung der Mädchenschule Chawazeles in Warschau.“177 Auerbach konnte jedoch nicht mehr umgestimmt werden. Noch im Früh173 Vgl. Auerbach, Me-Halberschtat, 66 – 67; Breuer, Rabanim, 132. 174 So Carlebach in einem Brief an seine Frau, 5. 3. 1918. IRDJ, KOR, EC 176. Vgl. auch Auerbachs positives Urteil in seinen Erinnerungen. Auerbach, Me-Halberschtat, 67. Vgl. auch Breuer, Rabanim, 132. 175 Vgl. Breuer, Rabanim, 132. 176 Brief E. Carlebachs, 5. 3. 1918, in: A. Carlebach, Rabbi, 115. 177 Zitiert nach Deutsche Israelitische Zeitung 7, 14. 2. 1918, Beilage: Die Laubhütte, 11. In einem Artikel des Judischen Vort zu Chavatselet wurden Kohn und Carlebach im Übrigen explizit als Gründer von Chavatselet bezeichnet. Vgl. Der oistsejchnungs-akt in „Chavatselet“, in: Das Judische Vort 126, 12. 6. 1918, 4.

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280 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert jahr 1918 kehrte er nach Deutschland zurück und stürzte damit das Mädchengymnasium Chavatselet in eine schwere Krise.178 Carlebach, der nun wieder die Leitung der Schule übernehmen musste179, war wegen Auerbachs Weggang mehr als ungehalten.180 Indessen scheint die durch diesen Weggang ausgelöste Krise des Mädchengymnasiums bald überwunden worden zu sein, nicht zuletzt weil die orthodoxen Kreise Warschaus inzwischen vom Vorteil und Segen einer solchen Anstalt überzeugt waren. Dazu hatte vor allem Carlebach beigetragen, der beispielsweise im Dezember 1917 in der Schlusssitzung der Warschauer Rabbinerversammlung ein Referat über die Notwendigkeit der religiösen Erziehung der Töchter gehalten hatte.181 Kurze Zeit später wurde dies in einem Artikel des Judischen Vort untermauert, als sich der Rabbiner von Zawiercie darüber beklagte, dass die orthodoxen Mädchen zwar umfangreiche Kenntnisse der nichtjüdischen Welt hätten, jedoch auf Grund des mangelnden Erziehungssystems kein jüdisches Wissen besäßen und sogar Hass auf alles Jüdische entwickelten. Von solchen künftigen Müttern sei, so der Rabbiner, jedenfalls unmöglich zu erwarten, dass sie „echt-jüdische“ Kinder erziehen würden. Nur Mütter, die in neuen jüdischen Töchterschulen vom Typ Chavatselet erzogen worden seien, könnten Garanten für eine positive Zukunft sein. Denn diese Lehranstalten seien vom jüdischen Geist durchdrungen. Bei dieser Gelegenheit sprach er Carlebach, dem Gründer von Chavatselet, auch seinen tiefen Dank aus und wiederholte schließlich seine Forderung, größte Anstrengungen zu unternehmen, um in allen Städten solche Schulen zu errichten.182 Mit seiner Äußerung hatte sich der Rabbiner von Zawiercie in aller Deutlichkeit dafür ausgesprochen, die von Carlebach gegründete Lehranstalt als Vorbild für den Aufbau eines Netzes von Lehranstalten für jüdische Mädchen aus traditionsorientiertem Elternhaus anzusehen und damit in gewisser Weise auch das deutsch-orthodoxe Modell der Mädchenerziehung zu übernehmen. Ebenso warb Carlebach weiterhin für eine veränderte Einstellung des traditionsorientierten polnischen Judentums zur Ausbildung ihrer Töchter. So kritisierte er beispielsweise in einem öffentlichen Vortrag über Erziehungsideale den Kenntnisstand der Mädchen, die mit der jüdischen Geschichte und den Traditionen ihrer Eltern nicht vertraut seien, und forderte eine rein jüdische 178 179 180 181

Vgl. Breuer, Rabanim, 132. Vgl. bspw. Das Judische Vort 104, 16. 5. 1918, 1. Vgl. Brief E. Carlebachs an seine Frau, 2. 5. 1918. IRDJ, KOR, EC 197. Vgl. Der Israelit 50, 13. 12. 1917, 7. Laut dem Israelit vom 12. Oktober 1917 wurde auch beschlossen, im Winter unter Leitung von Carlebach und Kohn Vortragsreihen für jüdische Töchter zu veranstalten. Vgl. Der Israelit 41, 12. 10. 1917, 4. Es lässt sich allerdings nicht nachvollziehen, ob diese Vorträge tatsächlich zustande kamen. 182 Vgl. Der referat fun Zaviertser Rav ha-ga’on R’ Mendil Lando schlita vegen chenoch-ha-banim (Der Vortrag des Zawiercer Rabbiner und Gaons [eigentl. Genie] Mendel Landa wegen der Erziehung der Söhne), in: Das Judische Vort 4, 4. 1. 1918, 3.

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Erziehung für die Töchter aus traditionellem Haus, damit aus ihnen gute jüdische Mütter einer neuen Generation würden.183 Die besondere Bedeutung von Chavatselet als Musteranstalt wurde den traditionsorientierten Warschauer und polnischen Juden wenige Monate später auch dadurch vor Augen geführt, dass jüdische Abiturientinnen an den höheren jüdischen Privatschulen, darunter solche aus chassidischem Elternhaus, alle mit einer Ausnahme auch am Schabbat die Abschlussprüfung mitgeschrieben hatten.184 Nachdem ein Korrespondent des Israelit diese Schabbat-Entweihung heftig kritisiert hatte, kam er auf das Mädchengymnasium Chavatselet zu sprechen, mit dessen Gründung seiner Meinung nach das Übel an der Wurzel gepackt werden sollte, wobei nichts so eindringlich für die Notwendigkeit dieser Schule spreche wie die angeführte Missachtung des Ruhetags.185 Nur wenige Tage später befasste sich auch ein Artikel im Judischen Vort mit der Schabbat-Entweihung durch jüdische Mädchen aus traditionellem Haus, in dem eingeräumt werden musste, dass die frommen Eltern sehr gut wüssten, wie schlecht es um die Erziehung ihrer Töchter stehe. Für diesen Missstand seien aber die Eltern selbst verantwortlich. Während ihre Töchter nicht das geringste Wissen über Judentum in allen seinen Facetten besäßen, hätten sie sich hingegen sehr viel nichtjüdisches Wissen angeeignet. Um alle daraus entstehenden negativen Folgen – gemeint war in erster Linie die Tendenz zur Assimilation und zur Abkehr vom jüdischen Glauben – zu beseitigen, müsse man den frommen Töchtern gute jüdische Bücher, ob nun auf Jiddisch oder in einer anderen Sprache, an die Hand geben. Diese sollten alle Bereiche des Judentums, die Tora, die jüdische Geschichte, die jüdische Ethik, die jüdischen Bräuche und vieles mehr behandeln und somit den frommen Töchtern echte Jüdischkeit vermitteln.186 Alle diese Reaktionen auf die Schabbat-Missachtung jüdischer Mädchen aus religiösem Haus deuten darauf hin, dass die deutsche Orthodoxie bei der Reform der Mädchenerziehung eine ganz andere Rolle spielte als bei der Umgestaltung der Knabenerziehung oder der Chadarim. Bei der Cheder-Reform hatten sich die Autoritäten des traditionsorientierten Judentums, insbesondere der Gerer Rebbe, nur sehr widerwillig von den beiden deutschen Rabbinern überzeugen lassen, in diese Schulen auch ein gewisses Maß an Profanunterricht einzuführen. Nach ihrer Ansicht setzte man damit möglicherweise eine Entwicklung in Gang, die zu einer stetigen Abnahme religiöser 183 Vgl. Di idealen fun erzihung, in: Das Judische Vort 161, 23. 7. 1918, 4. 184 Vgl. hierzu Das Judische Vort 114, 29. 5. 1918, 3; Das Judische Vort 115, 30. 5. 1918, 2; Das Judische Vort 116, 31. 5. 1918, 2. 185 Vgl. bspw. die folgende Äußerung: „Die Eltern dieser Mädchen sind indes ganz und gar nicht frei von Schuld und Sühne zu sprechen. Wie faul muß es doch mit einer häuslichen Töchtererziehung stehen, die solche Erfahrungen zeitigen kann.“ Zum Problem der Mädchenerziehung im Osten, in: Der Israelit 24, 13. 6. 1918, 3. 186 Vgl. Der guter vilen, in: Das Judische Vort 130, 17. 6. 1918, 2.

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282 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Gelehrsamkeit und auch religiöser Observanz führte, wobei sie das deutsche Judentum (auch die Orthodoxie) als abschreckendes Beispiel vor Augen hatten. Bei der Frage der Mädchenerziehung war es hingegen umgekehrt. Hier waren die traditionsorientierten polnischen Juden mit einer zunehmenden Neigung des weiblichen Geschlechts zur Assimilation und/oder zur religiösen Laxheit konfrontiert, die angeblich durch den Besuch nichtjüdischer oder jüdisch-säkularer Lehranstalten gefördert wurde. Demgegenüber hatte es die deutsche Orthodoxie verstanden, ihren Töchtern eine Erziehung zukommen zu lassen, die diese mehrheitlich der Tradition der Väter treu bleiben ließ. Daher wurde auch Carlebachs Eintreten für eine Reform der weiblichen Erziehung wie auch die Gründung einer jüdischen Mittelschule als ernsthafter Versuch der Traditionswahrung und der Stärkung der Jüdischkeit traditioneller jüdischer Mädchen betrachtet. Dies bedeutete, dass der deutsche Rabbiner bei der Verbesserung der Erziehung jüdischer Mädchen mit traditionsorientiertem Hintergrund einen weitaus leichteren Stand hatte als bei der Cheder-Reform, zumal die religiösen Autoritäten den Missstand erkannt hatten. Vom Gerer Rebbe ist die resignierende Klage überliefert, dass er 10 000 religiös gelehrte Anhänger habe, sich aber nicht sicher sei, „,ob für sie 100 Mädchen, die ihnen menschlich und jüdisch kongenial sind, da sind‘“.187 Infolgedessen hatten noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs mehrere Rabbinerkonferenzen in Osteuropa die Errichtung von Mädchenschulen erörtert, diese Idee letztlich jedoch zurückgewiesen. Das Problem hatte man also erkannt, nur auf den Lösungsansatz konnte man sich nicht einigen.188 Das orthodoxe Mädchengymnasium in Warschau blieb bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs bestehen und war nach Meinung Alexander Carlebachs ein großer Erfolg.189 Nachdem Emanuel Carlebach im November 1918 Warschau verlassen musste, war Chavatselet offenbar einige Monate ohne Leitung. Im September 1919 wurde mit Dr. Rimzewitsch schließlich ein neuer Leiter berufen. Dieser war zwar polnischer Jude, jedoch blieb mit ihm wohl ein gewisser Einfluss deutsch-orthodoxer Vorstellungen von Pädagogik und Religion erhalten, da er seine Ausbildung teilweise am Hildesheimer’schen Rabbinerseminar in Berlin erhalten hatte.190 Das Gewicht deutsch-orthodoxer Erziehungsansichten dürfte sich sogar noch verstärkt haben, als im März 1926 der Keren Ha-Tora, dessen treibende Kraft und geschäftsführender Direktor der aus Deutschland stammende orthodoxe Erzieher Dr. Leo Deutschländer (1889 – 1935) war, die pädagogische Beratung des Gymnasiums übernahm.191 187 Zitiert nach Der Israelit, Blätter 21, 31. 10. 1929, 2. In ähnlicher Weise ist dieser Ausspruch auch bei J. Grunfeld, Deutschlaender, 301, zu finden. 188 Vgl. Bacon, Politics, 166; Weissman, Bais Ya’akov, 281; Deutschländer, Erziehungswerk, 67. 189 Vgl. A. Carlebach, Adass, 70. Auch Pinchas Kohn erklärte in seinen Erinnerungen an die Zeit in Warschau aus dem Jahre 1936, dass die Schule „heute noch segensreich wirkt“. Kohn, Jubiläums-Erinnerung, 28. 190 Vgl. Der Israelit 41, 23. 10. 1919, 3. 191 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 27.

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Die Reform der Mädchenerziehung im osteuropäischen Judentum

283

Nach Meinung von Mordechai Breuer hatte die Tätigkeit von Carlebach und Kohn auf die orthodoxen Frauen und Mädchen in Polen eine besonders nachhaltige Wirkung. Die beiden deutschen Rabbiner leiteten einen beträchtlichen Wandel des Selbstbewusstseins traditionsorientierter Frauen ein und machten diese zu einem aktiven Teil des orthodoxen Lagers192, erzeugten also einen neuen Typ der jüdisch-orthodoxen Frau in Polen.193 Damit hatten Kohn, Carlebach und auch Auerbach zu einer Entwicklung beigetragen, die innerhalb der deutschen Neo-Orthodoxie bereits seit den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts im Gang war. Insofern wird das von Kazdan beeinflusste Urteil Frosts194 der Leistung Carlebachs, Auerbachs und Kohns kaum gerecht. Zweifellos zielte die Gründung von Chavatselet in erster Linie auf die soziale Oberschicht des traditionellen Judentums ab, was aber darauf zurückzuführen war, dass vom orthodoxen Standpunkt aus gerade hier die „gefährliche Frauen-Assimilation“195 am weitesten verbreitet war, da diese Eltern ihre Töchter häufig in nichtjüdische oder säkular-jüdische Lehranstalten schickten. Wenn Frost die Bedeutung von Chavatselet als isolierten Einzelfall herunterspielt196, dann verkennt er die Tragweite dieser Schule als Vorläufer einer systematischen religiösen Erziehung der Mädchen im traditionsorientierten polnischen Judentum, wie sie zum Beispiel von Isi Jacob Eisner oder Gershon Bacon durchaus anerkannt worden ist.197 Chavatselet stand am Beginn einer Entwicklung, die aber schon bald von anderer Seite Unterstützung erhielt.

Das orthodoxe deutsche Judentum und die Bet Jakob-Bewegung Während sich die Rabbiner Carlebach, Kohn und Auerbach als „fremde“ kulturelle Mittler während des Ersten Weltkriegs dafür einsetzten, dem Ideal der deutschen (Neo-)Orthodoxie in Bezug auf eine systematische religiöse Erziehung jüdischer Mädchen auch im traditionsorientierten Judentum Polens Geltung zu verschaffen, sollte parallel dazu eine arme jüdische Schneiderin, die aus der „Empfängerkultur“ stammte, ebenfalls in diesem Sinne wirken. Die in Krakau als Tochter eines Belzer Chassid geborene Sara Schenirer oder Schenierer198 (1883 – 1935) war kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs nach Wien gezogen, wo sie durch die abendlichen Vorlesungen von Rabbiner Dr. Moritz (Mosche) Flesch (1879 – 1944), einem ehemaligen Schüler Salomon Breuers (1850 – 1926) in Frankfurt und enthusiastischen Anhänger 192 193 194 195 196 197 198

Vgl. Breuer, Rabanim, 133 – 134. Vgl. Breuer, Rabanim, 150. Vgl. Frost, Schooling, 44. Die orthodoxe „Gefahr“ in Polen, in: Der Israelit 14/15, 5. 4. 1917, 3. Vgl. Frost, Schooling, 44. Vgl. Eisner, Reminiscences, 40; Bacon, Politics, 42, 45. Ein kurzer Überblick über das Wirken Schenirers findet sich bei Scharfer, Schenirer, 269 – 275.

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284 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Hirschs, mit den Ideen der deutschen Orthodoxie Hirsch’scher Prägung in Kontakt kam. Schenirer, die selbst eine öffentliche polnische Schule besucht hatte, erkannte dort, dass gerade durch den Besuch nichtjüdischer Lehranstalten jüdische Mädchen mit traditionellem Hintergrund dem Glauben ihrer Väter entfremdet würden und dieser Gefahr in erster Linie mit dem Konzept der deutschen (Neo-)Orthodoxie, der Gründung eigener Mädchenschulen, begegnet werden könne.199 Nach Krakau zurückgekehrt, errichtete sie 1917 – in dem Jahr, als in Warschau Chavatselet gegründet wurde – in ihrer eigenen Wohnung eine Schule für jüdische Mädchen aus traditionsorientiertem, vor allem chassidischem Elternhaus. Ebenso wie die deutschen Rabbiner bei ihren Bildungsreformen in Warschau den Konsens mit den religiösen Autoritäten (vor allem dem Gerer Rebbe) gesucht hatten, gründete auch Schenirer ihre erste Lehreinrichtung, der sie den Namen Bet Jakob200 (auch Bejs Jankev) gab, nicht ohne den Segen einer herausragenden Persönlichkeit des traditionellen Judentums, in diesem Fall des Belzer Rebben Jisachar Dov Rokeach (1851 – 1926). Dennoch sollte der Belzer Rebbe den Töchtern seiner Anhänger verbieten, die Bet Jakob-Schulen zu besuchen. Erst der Segen des Gerer Rebbe stellte endgültig die notwendige Unterstützung seitens der traditionellen Autoritäten sicher.201 Das bescheiden mit 25 chassidischen Mädchen begonnene Werk zog schon bald die Aufmerksamkeit der künftigen Repräsentanten der Krakauer Agudat Israel auf sich. Bereits in ihrer ersten Sitzung im Jahr 1919 nahm die Krakauer Aguda Schenirers kleine Bet Jakov-Schule unter ihre Fittiche.202 Damit war die erste Grundlage für ein künftiges landesweites Schulwesen für jüdische Mädchen aus traditionellem Elternhaus geschaffen. Drei Jahre später erklärte sich die polnische Aguda bereit, ein solches Netz von Lehranstalten zu errichten. Die Bet Jakob-Bewegung war geboren. 1923 existierten immerhin schon acht solche Lehranstalten, an denen 1 130 Schülerinnen Unterricht in den religiösen Grundlagen erhielten.203 Nachdem 1923 in der ersten Großen Versammlung (Kenessio Gedaulo) der Agudat Israel-Weltorganisation in Wien der Keren Ha-Tora (Tora-Fonds) zur Förderung des religiösen Erziehungswesens gegründet worden war, baten traditionsorientierte Juden aus Polen und Litauen noch im selben Jahr den Tora-Fonds um Unterstützung, 199 Vgl. hierzu auch die Schilderung Deutschländers. Deutschländer, Sarah Schenirer 8’’F, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 7/8, 170. 200 Nach dem Wort des Propheten Jesaja: „Haus Jakobs, kommt, lasst uns wandeln im Lichte Gottes.“ 201 Vgl. zu Vorangegangenem den englischsprachigen Ausschnitt aus den Schriften Schenirers in: Dawidowicz, Tradition, 207 – 209; Weissman, Bais Ya’akov, 281 – 283; Hödl, Bettler, 62 – 63. Zu den vielen positiven Äußerungen religiöser Autoritäten des osteuropäischen Judentums (z. B.: der Gerer und der Czortkower Rebbe, der Chofets Chaim oder Rabbiner Chaim Ozer Grodzenski) über das Bet Jakob-Schulwesen vgl. Programm und Leistung, 249 – 251. 202 Vgl. Bacon, Politics, 166 – 167. 203 Zu den Zahlen vgl. Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 32.

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Die Reform der Mädchenerziehung im osteuropäischen Judentum

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beispielsweise bei der Beschaffung von Lehrmaterial und bei Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung von Lehrern.204 Schon im folgenden Jahr übernahm der von Dr. Leo Deutschländer geleitete Keren Ha-Tora „die pädagogische Leitung und den organisatorischen Aufbau der Beth Jakob-Bewegung“.205 Damit wurden die Weichen für die Entwicklung einer beeindruckenden Erfolgsgeschichte gestellt, für die neben Schenirer vor allem Deutschländer verantwortlich war.206 Der in Berlin geborene Deutschländer, der seine Rabbinerautorisation am dortigen orthodoxen Rabbinerseminar erhalten, jedoch nie ein Rabbinat übernommen hatte, sammelte bereits durch sein Wirken in Litauen im und nach dem Ersten Weltkrieg Erfahrungen mit dem traditionellen jüdischen Schulwesen in Osteuropa. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts sollte ihn sein unermüdlicher Einsatz für traditionelle osteuropäisch-jüdische Lehranstalten, insbesondere der Auf- und Ausbau des Bet Jakob-Schulnetzes, zu einer Legende machen. Als er am 9. Av (8. August) 1935, kurz nach Schenirer, starb, trauerte die Orthodoxie in Europa um einen ihrer wichtigsten Erzieher und Aktivisten, der es wie kaum ein anderer verstanden hatte, eine Brücke zwischen traditionellem Judentum in West und Ost zu schlagen.207 Sein wohl wichtigstes Verdienst rühmte die orthodoxe Monatsschrift Nachalath Z’wi in einem Nachruf mit folgenden Worten: „Mit fast prophetischem Fernblick erkannte er im rechten Augenblick, wo der Hebel anzusetzen war, und so hat er die schüchternen Versuche der verklärten Frau Sara Schenierer 8’’F, den jüdischen Mädchenblüten des Ostens des Allmächtigen Wort und Lehre zur Lebenserfüllung und Lebensbeglückung zu vermitteln, zu einem weltumspannenden Werk gemacht. Beth Jakob und Dr. L. Deutschländer @’’: sind 204 Vgl. Brief Deutschländers an Carlebach, 26. 11. 1923. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 414, o. P. 205 Deutschländer, Erziehungswerk, 22. 206 Auch Weissman ist der Meinung, dass sich erst durch die Errichtung des Keren Ha-Tora im Jahre 1923 die Bet Jakob-Bewegung im größeren Maßstab entwickeln konnte, wobei sie allerdings mit keinem Wort die Bedeutung Deutschländers erwähnt. Vgl. Weissman, Bais Ya’akov, 283. Vgl. auch den Bericht über das Bet Jakob-Schulwesen von 1937, in dem erklärt wird, dass Deutschländer „die Zentrale repräsentierte […] [und er] das von Frau Schenirer in heiliger Begeisterung geschaffene Werk zu weltumspannender Größe und Bedeutung aufgebaut“ (Programm und Leistung, 242) habe. 207 Das in Warschau erscheinende Judische Togblat berichtete bereits am folgenden Tag nach Deutschländers Ableben vom „tiefen Trauergefühl der ganzen agudistischen Öffentlichkeit in Polen“ und bezeichnete den Verstorbenen als „Vater“, Schenirer als „Mutter“ des Bet JakobSchulwesens. Fridman, Geschtorben Dr. Schmuel Daitschlender, in: Dos Judische Togblat 274, 9. 8. 1935, 10. Wenige Tage später wurde in einem großen Artikel auf Seite 3 derselben Zeitung von Deutschländers Beerdigung ausführlich berichtet. Reichman, Die Trauer in Wien wegen des Hinscheidens von Dr. Schmuel Deutschländer @’’:, in: Dos Judische Togblat 279, 15. 8. 1935, 3. Besonders deutlich zum Ausdruck kam Deutschländers Bedeutung auch in der in Wien und Bratislava erscheinenden Jüdischen Presse 32, 16. August 1935, 1 – 2, in der mehrere Beiträge dem Ableben Deutschländers gewidmet waren, unter anderen „Trauer in aller Welt“ und „Nie vergessen!“

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286 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert unzertrennliche Begriffe geworden und werden es in der Geschichte des thoratreuen Judentums bleiben.“208

Diese Wertung, die auf den ersten Blick wie eine übertriebene Huldigung klingen mag, war keineswegs aus der Luft gegriffen. Als Deutschländer im September 1924 als Direktor des Keren Ha-Tora die pädagogische Beratung der Bet Jakob-Bewegung übernahm, verfügte diese in Polen über 19 Lehranstalten mit 2 000 Schülerinnen.209 In Deutschländers Todesjahr elf Jahre später existierten bereits 225 Bet Jakob-Schulen, an denen mehr als 27 000 traditionsorientierte jüdische Mädchen Unterricht erhielten210, wobei die Entwicklung weiterhin aufsteigende Tendenz zeigte. „Hilfe westlicher, geschulter Kräfte“: Die Ausbildung der Bet Jakob-Lehrerinnen nach modernen Gesichtspunkten Einer der Hauptgründe, warum die Bet Jakob-Bewegung unter Deutschländer einen derartigen Aufschwung nahm, war mit Sicherheit sein konsequentes Eintreten für eine Professionalisierung der Lehrerinnenausbildung, wobei er 208 Vgl. Dr. Leo Deutschländer @’’:, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 11/12, 344. 209 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 69 (offenbar wurden zwischen September und Dezember 1924 noch elf weitere Bet Jakob-Schulen eingerichtet). 210 Allgemein zur Entwicklung der Bet Jakob-Schulen in Polen vgl. die folgende Tabelle: Gesamtzahl der Schulen

Gesamtzahl der Schülerinnen

8

1 130

3 360

30

4 490

19

2 095

49

6 585

1926

6

755

55

7 340

1927

32

3 565

87

10 905

1928

27

2 700

114

14 505

1929

33

3 340

147

16 145

1935

225

27 009

1937

248 (250)

35 586 (38 000)

1939

ca. 300

Jahr

Zuwachs an Schulen

1919 – 1923

8

1924

22

1925

Zuwachs an Schülerinnen

Zahlen nach Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 32; Deutschländer, Erziehungswerk, 70; Programm und Leistung, 374 – 376; Bacon, Politics, 163; 168; J. Grunfeld, Deutschlaender, 308. Hinzu kamen (Stand 1937) ca. 72 weitere Bet Jakob-Schulen weltweit, darunter in England, Frankreich, USA, Jugoslawien, Ungarn, Tschechoslowakei, Rumänien, Lettland und Erets Israel.

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Die Reform der Mädchenerziehung im osteuropäischen Judentum

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sich nicht nur am Vorbild der deutschen Orthodoxie orientierte, sondern auch orthodoxe Pädagogen aus dem deutschsprachigen Raum heranzog. Wie die aus Frankfurt am Main stammende Judith Rosenbaum (später Grunfeld) (1902 – 1998) 1928 erklärte, bedurfte man wegen des „Mangel[s] an pädagogischem System“ der „Hilfe westlicher, geschulter Kräfte“.211 Im Februar 1925 wurde im Warschauer Mädchengymnasium Chavatselet die erste Bet JakobKonferenz abgehalten, die „das Problem der Töchtererziehung im Sinne der Verschmelzung von inniger Religiosität mit allgemeiner Menschenkultur“212, also die Verwirklichung des Tora im derech erets-Prinzips, zum Gegenstand hatte. An dieser Konferenz nahmen neben bedeutenden orthodoxen Persönlichkeiten Polens auch „hervorragende Pädagogen des Westens“ teil, die dem Bet Jakob-Schulsystem „Form und Festigkeit“213 geben sollten. Von zentraler Bedeutung bei dieser Konferenz und für die weitere Entwicklung von Bet Jakob war das pädagogische Referat Deutschländers, der die „Richtlinien für die künftige Gestaltung von Bajs Jakob“ skizzierte.214 Unter anderem wurde im Anschluss an die Referate und Diskussionen beschlossen, die Bet Jakob-Schule in Krakau, die bisher provisorisch drei Monate lang Lehrerinnen ausgebildete hatte, „zu einem allen Anforderungen entsprechenden Lehrerinnenseminar durch gründliche fachliche Ausbildung“ (ein bis zwei Jahre) auszubauen und „für diese Spezialaufgabe“ ausländische Dozenten – gemeint waren solche aus dem deutschsprachigen orthodoxen Judentum – anzuwerben. Darüber hinaus sollten gemäß einem weiteren Beschluss für die bereits amtierenden Lehrerinnen jedes Jahr zweimonatige Fortbildungskurse abgehalten werden,215 „in denen die in der Praxis stehenden jungen Lehrerinnen durch intensive Arbeit unter Leitung geschulter Lehrkräfte sowohl methodisch als inhaltlich für ihre heilige Aufgabe immer mehr tauglich gemacht werden“216 sollten. Ziel war es, dass jede Lehrerin an vier solchen Kursen teilnehmen und in der Zwischenzeit den behandelten Lehrstoff gründlich bearbeiten sollte. Im Anschluss an diese vier Kurse sollten die jungen Lehrerinnen noch ein „Examen“ ablegen und „dann auf dem Niveau einer gut ausgebildeten Lehrerin stehen“.217 Diese Beschlüsse, die wohl unter maßgeblichem Einfluss von Deutschländer zustande gekommen waren,218 machten deutlich, dass man bei der Lehrerinnenausbildung einen gewissen Kulturtransfer favorisierte, indem die bei orthodoxen deutschen Rosenbaum, Ferienfortbildungskurs, in: Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 10. Rosenbaum, Ferienfortbildungskurs, in: Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 10. Rosenbaum, Ferienfortbildungskurs, in: Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 10. Vgl. Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 32. Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 24; Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 33. Die Eröffnung des Bes Jaakauv-Fortbildungskurses bei Krakau, in: Der Israelit, Blätter 16, 13. 8. 1925, 1. 217 Rosenbaum, Ferienfortbildungskurs, in: Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 11. 218 Vgl. hierzu auch Aus der polnischen Agudas Jisroel. Beth Jakob Konferenz in Warschau, in: Der Israelit, Blätter 6, 12. 3. 1925, 3.

211 212 213 214 215 216

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288 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Juden übliche Seminarausbildung institutionalisiert werden sollte und hierfür als kulturelle Mittler ausländische, also deutschsprachige orthodoxe Juden fungieren sollten.219 Ebenso war auch die Idee einer Fortbildung der schon aktiven Lehrerinnen, die laut der deutschen Dozentin Judith Rosenbaum „so plötzlich und ohne genügende Ausbildung zu ihrem Amte“220 gelangt waren, eine aus dem orthodoxen deutschen Judentum übernommene Neuerung. Mit der Umsetzung dieser Beschlüsse wurde Deutschländer selbst beauftragt.

Fortbildungskurse Nur wenige Monate später, im August 1925, wurde in dem kleinen, in den Karpaten gelegenen Ort Robo¯w der erste von insgesamt fünf Bet JakobSommerfortbildungskursen eröffnet, an dem 48 junge Bet Jakob-Lehrerinnen teilnahmen. Als Leiter dieses und der folgenden Kurse fungierte der ausgewiesene Pädagoge Deutschländer selbst, während ihm folgende Mitarbeiter als Dozenten zur Seite standen: seine Frau Resi (1926 und 1927), Judith Rosenbaum aus Frankfurt am Main (1925 – 1929), der Rabbiner und Oberschullehrer Dr. Ernst Ehrentreu (1896 – 1978) aus München (1925), Rosalie Mannes221 (1904–?) aus Zürich (1925), Betty Rothschild (1896 – 1934) aus Zürich (1926), Eva Landsberg aus Breslau (1927), Gymnasiallehrer Bromberg aus Warschau (1927) und die Begründerin des Bet Jakob-Schulsystems Sara Schenirer aus Krakau (1925 – 1929).222 Vor dem Beginn des ersten Kurses hatten insbesondere die mit dem Bet Jakob-Schulwesen verbundenen polnischen Juden einige Zweifel, „ob sich die Zusammenarbeit der einheimischen und der ausländischen Kräfte ohne Reibung und in voller Harmonie vollziehen werde“.223 Vor allem Sara Schenirer hegte große Befürchtungen, dass es zwischen den modern-orthodoxen Dozenten aus dem Westen und den ihnen anvertrauten Mädchen aus chassidischen Kreisen zu einem ideologischen Konflikt kommen könnte.224 Besonders prägnant formulierte die Dozentin Judith Rosenbaum die heikle Situation der Begegnung von Ost und West: „The three Western teachers (from Frankfurt, Munich, and Zurich) were for the first time in their lives confronted with pupils brought up in an intensely Hasidic atmosphere, entirely cut off from the perplexing cultural and social problems of the 219 Laut Seidman habe allerdings Schenirer den Nutzen orthodoxer deutscher Pädagogen, die in Polen Orthodoxie lehren, in Frage gestellt. Vgl. Seidman, Renesans, 19. 220 Rosenbaum, Ferienfortbildungskurs, in: Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 11. 221 Rosalie Mannes war mit Jacob Rosenheims Sohn Isaak (1900 – 1947) verheiratet. 222 Vgl. Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 34. 223 Die Bedeutung der Beis Jaakauw-Fortbildungskurse für das polnische Judentum, von M. S. Fraenkel in Krakau, in: Der Israelit 19, 24. 9. 1925, 3. 224 Vgl. Dansky, Rebbetzin, 70.

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Die Reform der Mädchenerziehung im osteuropäischen Judentum

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world outside. The Hasidic girls of Poland were for the first time in their lives confronted by representatives of the Torah im Derekh Eretz principle as interpreted by Samson Raphael Hirsch and his disciples, who were Torah-true university graduates. It was a great experiment, as risky and vital as a new birth.“225

Hauptproblem war also letztlich, wie die chassidischen Mädchen auf das von den westlichen Dozenten vertretene Prinzip der Tora im derech erets reagieren würden. Dass dieser erste Fortbildungskurs wie auch alle weiteren schließlich zu einem großen Erfolg wurden226, war laut Rosenbaum allein Deutschländer zu verdanken, der als Mittler und Brückenbauer zwischen Ost und West fungierte.227 Die große Bedeutung Deutschländers und der westlichen Dozenten für Qualität und Gelingen der Fortbildungskurse betonte auch Schenirer nach dem zweiten Kurs, der 1926 in Jordano¯w stattfand.228 Wie aus ihrem Bericht hervorgeht, unterrichteten die an Universitäten ausgebildeten Dozenten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die polnischen Kursteilnehmerinnen in pädagogisch moderner Weise. Gleichzeitig wurde aber auch, wie Deutschländer nach dem 1928 in Rabka abgehaltenen vierten Fortbildungskurs bemerkte229, auf die didaktische Weiterbildung der Lehrerinnen selbst Wert gelegt, mit denen die Thesen moderner deutscher Pädagogen wie Georg Kerschensteiner (1854 – 1932) und Adler besprochen wurden.230 Zudem wurden die Lehrerinnen in allgemeiner und besonderer Methodik und Psychologie unterrichtet.231 Damit zeigte sich, dass ein Kulturtransfer angestrebt wurde, bei dem den Lehrerinnen aus dem chassidischem Milieu moderne deutsche Pädagogik, Didaktik und Methodik für ihren Lehrberuf vermittelt wurden. Wie dominant der Einfluss der deutschen Orthodoxie und ihres Tora 225 J. Grunfeld, Deutschlaender, 303. 226 Vgl. Die Bedeutung der Beis Jaakauw-Fortbildungskurse für das polnische Judentum, von M. S. Fraenkel in Krakau, in: Der Israelit 19, 24. 9. 1925, 3 – 4. 227 Vgl. J. Grunfeld, Deutschlaender, 303. Vgl. zum ersten Fortbildungskurs in Robo¯w auch den zeitgenössischen Bericht von Judith Rosenbaum In den Karpathen, in: Der Israelit, Blätter 17, 27. 8. 1925, 1. 228 Vgl. Schenirer, in Bees Jaakauw, in: Der Israelit, Blätter 19, 21. 10. 1926, 3. In ähnlich positiver Weise hatte sich auch schon der Krakauer Jude Fraenkel über den ersten Fortbildungskurs in Robo¯w geäußert: „Da entstand uns Rettung durch ,Agudas Jisroel‘ und durch unsere westlichen Schwestern! Denn in Robow ist die Kraft der wahren jüdischen Tochter erwacht; sie lernte zum ersten Mal in unserem Kreis das wahre Judentum kennen und erstaunte über seine Erhabenheit. […] Es ist dem westlichen Judentum beschieden, eine vielleicht noch nie dagewesene geistige Rettungsarbeit in wahrem jüdischem Sinne zu leisten, und die Leitung der Beis Jaakauw-Schulen kann nicht Worte des Dankes genug finden für diese Arbeit.“ Die Bedeutung der Beis Jaakauw-Fortbildungskurse für das polnische Judentum, von M. S. Fraenkel in Krakau, in: Der Israelit 19, 24. 9. 1925, 3 – 4. 229 Vgl. zu dem vierten Fortbildungskurs in Rabka auch den aus der Feder von Judith Rosenbaum stammenden Bericht Ferienkurs Beth Jakob in Rabka in Der Israelit 37, 13. 9. 1928, FeuilletonBeilage, 19. 230 Aus der letzten Sitzung der Bajs Jakob-Verwaltung, in: Der Israelit, Blätter 21, 18. 10. 1928, 3. 231 Vgl. Rosenbaum, Zweite Fortbildungskurs, in: Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 17.

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290 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert im derech erets-Prinzips bei den Bet Jakob-Fortbildungskursen war, wird auch bei den einzelnen Lehrgegenständen deutlich. Die jüdischen Fächer waren in Anlehnung an das moderne deutsch-orthodoxe Schulsystem klar untergliedert in Chumesch (Pentateuch), Neviim (Propheten), Tehilim (Psalme), Dinim (Gesetze), Kohelet (Ekklesiastes), Grammatik, Geschichte und jüdische Lektüre, wobei Autoren der letztgenannten Gebiete erwartungsgemäß der Begründer des deutsch-orthodoxen Ideals von Tora im derech erets Samson Raphael Hirsch und einer seiner wichtigsten Nachfolger, Isaak Breuer, waren.232 Und selbst die in den Fortbildungskursen behandelte Profanliteratur entstammte dem damals für orthodoxe deutsche Juden üblichen Kanon, wurde doch mit den Teilnehmerinnen beispielsweise Goethes Iphigenie auf Tauris oder Schillers Gedankenlyrik durchgenommen.233 Schon allein durch die fünf Sommerfortbildungskurse, die fast ausschließlich von orthodoxen Pädagogen des deutschsprachigen Judentums gestaltet wurden, kam eine große Zahl von Bet Jakob-Lehrerinnen mit dem Tora im derech erets-Prinzip auf praktische Weise in Berührung. Insgesamt wurden diese fünf Kurse von 466 Teilnehmerinnen aus Polen besucht.234 Obwohl viele von ihnen an mehreren Kursen teilnahmen, war dies doch eine beeindruckende Zahl. Darüber hinaus konnten die bereits amtierenden Bet Jakob-Lehrerinnen spezielle Kurse des orthodoxen Berliner Rabbinerseminars besuchen, wo sie bei Moses Auerbach, Samuel Grünberg (1879 – 1959) und Joseph Wohlgemuth in Bibelexegese, Geschichte und religiösen Pflichten unterrichtet wurden.235 Der sich daraus ergebende Multiplikatoreffekt musste gerade in Bezug auf einen weiteren Kulturtransfer in den einzelnen Schulen große Erwartungen wecken.

Das Bet Jakob-Lehrerinnenseminar in Krakau Wie schon erwähnt, hatte man bei der ersten Bet Jakob-Konferenz in Warschau im Februar 1925 unter anderem den Beschluss gefasst, die seit 1919 bestehende Krakauer Bet Jakob-Schule zu einem modernen Lehrerinnenseminar auszubauen, wobei hierfür ausländische Dozenten angeworben werden sollten. Deutschländer wurde damit beauftragt, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Bis dahin hatte Sara Schenirer die Ausbildungsanstalt geleitet, wobei die Erfolge nur mäßig waren und die daraus hervorgegangenen Lehrerinnen 232 Vgl. Der Israelit, Blätter 20, 3. 11. 1927, 1. Über den Erfolg des Unterrichts berichtete Rosenbaum nach dem zweiten Fortbildungskurs in Jordano¯w 1926 ausführlich. Vgl. Rosenbaum, Zweite Fortbildungskurs, in: Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 17. 233 Vgl. Der Israelit, Blätter 20, 3. 11. 1927, 1; Der Israelit, Blätter 21, 18. 10. 1928, 3. 234 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 72. 235 Vgl. Eisner, Reminiscences, 40.

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nicht den Erkenntnissen der Zeit entsprechend auf ihre künftige Arbeit vorbereitet waren.236 Als faktische Leiterinnen des reformierten Krakauer Seminars, das erste seiner Art, das somit auf keine Vorbilder zurückgreifen konnte237, jedoch zum Vorbild für weitere derartige Anstalten werden sollte238, fungierten seit 1925 nur noch ausgebildete orthodoxe Pädagoginnen aus dem deutschsprachigen Judentum, die uns bereits im Zusammenhang mit den Sommerfortbildungskursen begegnet sind: Betty Rothschild aus Zürich (1925 bis 1926), Judith Rosenbaum aus Frankfurt am Main (Frühjahr 1926 bis Herbst 1927) und Eva Landsberg aus Breslau (ab Frühjahr 1927). Diese Dozentinnen hatten die Aufgabe, eine „Seminarklasse selbständig und fast ohne Mithilfe bis zur Abschlußprüfung auszubilden“.239 Die Abschlussprüfungen wurden unter dem Vorsitz von Deutschländer abgehalten. Wie Judith Rosenbaum später berichtete, hütete Deutschländer diese Einrichtung wie seinen Augapfel. Drei bis vier Mal im Jahr kam er aus Wien nach Krakau, um den Lehrbetrieb zu inspizieren, mit den Lehrerinnen Haushaltsplan und Lehrordnung für das kommende Schuljahr festzulegen sowie praktischen und psychologischen Beistand zu leisten.240 Nach einem offiziellen Bericht von 1937 über das Bet Jakob-Schulwesen war Krakau „ein Beispiel für den vollendeten Takt, mit dem Dr. Deutschländer sein pädagogisches und organisatorisches Genie walten ließ, ohne bestehende Werte des Ostjudentums durch seine eigene westliche Jüdischkeit beeinflussen zu wollen“.241 Insofern hatte also Deutschländer beim Transfer des deutsch-jüdischen Seminarmodells den besonderen polnischjüdischen Gegebenheiten Rechnung getragen. Wie bei den Bet Jakob-Sommerfortbildungskursen war auch der Lehrplan des Krakauer Lehrerinnenseminars durchdrungen von Hirschs Tora im derech erets-Prinzip. Als grundlegende Lehrziele hatte man neben umfassenden Kenntnissen in den jüdischen Fächern auch eine „gründliche Ausbildung in den Profanfächern“ Polnisch (Sprache, Literatur, Geographie und Geschichte 236 Vgl. Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 31. Vgl. auch die Äußerung Judith Rosenbaums, wonach die Mädchen „so plötzlich und ohne genügende Ausbildung zu ihrem Amte“ (Rosenbaum, Ferienfortbildungskurs, in: Deutschländer [Hg.], Bajs Jakob, 11) gelangt waren, womit die Notwendigkeit von Fortbildungskursen begründet wurde. 237 Vgl. J. Grunfeld, Deutschlaender, 307. 238 Im Oktober 1930 wurde in Wien ein Bet Jakob-Seminar und Anfang 1936 eines in Czernowitz eröffnet. Daneben gab es seit Oktober 1936 in Bratislava eine Bet Jakob-Fortbildungsschule, die als Seminar-Ersatz diente und die von Eva Landsberg aus Breslau, ehemals Leiterin der Krakauer Anstalt, geführt wurde. Vgl. Programm und Leistung, 243, 245. 239 Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 35. 240 Vgl. Beth-Jakob-Arbeit Sommer 5691 (1931). Aus einem Bericht von Dr. L. Deutschländer, in: Die Jüdische Presse 29, 24. 7. 1931, 2; J. Grunfeld, Deutschlaender, 306. Auch habe Deutschländer in vorausschauender Weise die jungen Lehrerinnen dazu angehalten, systematische Stundenpläne zu erstellen, eine laut Scharfer zu dieser Zeit „revolutionäre Idee“. Scharfer, Schenirer, 274. 241 Programm und Leistung, 244.

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292 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Polens), Deutsch (Sprache und Literatur), Pädagogik, Psychologie, Geschichte und Geographie sowie die „pädagogische Ausbildung und Schulung auf Grundlage moderner Unterrichtsprinzipien“ festgesetzt.242 Ähnlich wie bei den Fortbildungskursen waren die jüdischen Gegenstände systematisch untergliedert in Pentateuch, Propheten und andere Bücher der Bibel, Pirkei Avot (Sprüche der Väter), Gesetzeslehre, Biblische Geschichte, Jüdische Geschichte und Grammatik. Beim Unterricht dieser Fächer, die in der ersten und zweiten Seminarklasse insgesamt 24 Wochenstunden in Anspruch nahmen, spielten die herausragenden Vertreter der Tora im derech erets-Ideologie eine bedeutende Rolle. So wurde der Pentateuch nicht nur mit dem traditionellen Kommentar von Raschi, sondern auch mit dem von Hirsch gelesen. Ebenso wurde die Gesetzeslehre unter anderem anhand der Schriften Hirschs (Chorev, Gesammelte Schriften und Neunzehn Briefe über das Judentum) und Isaak Breuers (Judenproblem und Messiasspuren) gelesen.243 Gleichzeitig ließen sich auch der Unterricht in der jüdischen Geschichte („Von der Erschaffung der Welt bis zur Jetztzeit“) und der systematische Unterricht in hebräischer Grammatik auf den Einfluss der deutschen Neo-Orthodoxie zurückführen. Der Unterricht in den Profanfächern, der zwölf und 15 Wochenstunden umfasste, entsprach nicht nur an sich, sondern auch in seiner Ausgestaltung ebenfalls dem deutsch-orthodoxen Ideal der Tora im derech erets. Die Lehre von der Pädagogik war nach modernen Gesichtspunkten unterteilt in einzelne Gebiete wie Geschichte der Pädagogik, Erziehungslehre, allgemeine Methodik und spezielle Methodik der verschiedenen Unterrichtsfächer, allgemeine Schulkunde und auf die Bet Jakob-Schulen abgestimmte besondere Schulkunde, Schulhygiene und die Lektüre von Werken deutscher Pädagogen (wie Foerster, Kerschensteiner und Spranger). Außerdem standen Psychologie und Polnisch (Literatur, Geschichte, Geographie), dieses nach dem Programm der staatlichen polnischen Lehrerbildungsanstalten, sowie Gymnastik, Exkursionen und Handarbeiten auf dem Lehrplan. Selbstverständlich durfte auch Unterricht in der deutschen Sprache nicht fehlen. Gemäß dem erklärten Lernziel sollten die Lehramtskandidatinnen die Werke der „wichtigsten religiösen Literatur in deutscher Sprache“, unter anderen auch Hirschs jüdische Schriften, lesen und einzelne klassische Schriften etwa von Goethe, Schiller, Hebbel, Lessing, Zweig und Beer-Hofmann verstehen können.244 Als Deutschlehrbuch diente das von Deutschländer während des Ersten Weltkriegs für die besetzten Gebiete im Osten herausgegebene Buch Westöstliche Dichterklänge.245 Darüber hinaus waren auch die im Seminar abgehaltenen Examina nach 242 Vgl. Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 39. 243 Dies änderte sich auch nicht, als 1933 ein neuer Lehrplan eingeführt wurde. Vgl. zu diesem Programm und Leistung, 330. 244 Vgl. Programm und Leistung, 42 – 43. Vgl. hierzu auch Weissman, Bais Ya’akov, 285. 245 Deutschländer (Hg.), Dichterklänge.

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modernen Gesichtspunkten gestaltet. Während die mündliche Prüfung aus Stichproben in allen Fächern und einer Lehrprobe bestand, unterteilte sich die schriftliche Prüfung in einen Lehrprobenentwurf, einen pädagogischen Aufsatz und eine Arbeit über einen Text aus dem Tanach.246 Den modernen, aber moderaten Charakter des Seminars betonte Deutschländer, als er erklärte, dass „Schulrat und Dozenten […] auf dem Boden einer gemäßigten gesunden Schulreform“247 stünden. Der große Einfluss Deutschländers und der orthodoxen Dozentinnen aus Deutschland zeigte sich schon beim ersten regulären Examen im Krakauer Seminar. Laut Judith Rosenbaum wiesen „[d]ieselben Mädchen, die noch vor eineinhalb Jahren vollkommen unwissend in jüdischen Dingen hierher kamen, […] jetzt neben gutem profanem Wissen eine umfassende Kenntnis der ganzen Tora auf“.248 Demnach hatten die angehenden Lehrerinnen das Tora im derech erets-Prinzip zumindest in theoretischer Hinsicht angenommen.249 Darüber hinaus waren sie offenbar nicht nur imstande, die Pesukim (biblischen Verse) nach Raschi zu erklären, sondern sie entwickelten auch „die Probleme laut Hirschscher Art“250, womit ausdrücklich auf einen Kulturtransfer aus der deutschen Neo-Orthodoxie hingewiesen wurde. Nach Rosenbaums Ansicht hatte also der an Hirschs Werk orientierte Lehrplan das Denken der Zöglinge des Lehrerinnenseminars grundlegend beeinflusst. Überhaupt scheint das pädagogische System der orthodoxen deutschen Dozentinnen zu guten Erfolgen geführt zu haben, da die angehenden Lehrerinnen nun die „grammatikalisch schwersten Formen“ zergliedern konnten und „gute Kenntnisse und grundlegendes Verständnis in perek [Pirkei Avot = Sprüche der Väter], tehelim [Psalme], nevi’im [Propheten], Geschichte usw.“251 zeigten. Wie aus den Erinnerungen von Bet Jakob-Schülerinnen hervorgeht, konnten die im Geiste Hirschs ausgebildeten Lehrerinnen ihre Zöglinge tatsächlich tiefgreifend beeinflussen.252 Als einige Jahre später der Hamburger Rabbiner Dr. Joseph Carlebach (1883 – 1942), der Bruder von Emanuel, an einer Keren Ha-Tora-Fahrt zu jüdischen Kulturstätten des Ostens teilnahm und auch das Bet Jakob-Seminar in Krakau besuchte, wurden er und seine Begleiter angesichts der dortigen Eindrücke „in den Taumelzustand der Begeisterung versetzt“. Dabei stand für ihn außer Zweifel, dass diese überaus günstigen Eindrücke in erster Linie dem orthodoxen deutschen Judentum und seinen in der Bet Jakob-Bewegung engagierten Repräsentanten zu verdanken waren: Vgl. Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 43 – 44. Deutschländer (Hg.), Bajs Jakob, 44. Schlußprüfung im Beth-Jakob-Seminar zu Krakau, in: Der Israelit, Blätter 7, 14. 4. 1927, Dies wurde auch vom Hamburger Rabbiner Joseph Carlebach implizit bestätigt. Vgl. Carlebach, Keren, 1183. 250 Schlußprüfung im Beth-Jakob-Seminar zu Krakau, in: Der Israelit, Blätter 7, 14. 4. 1927, 251 Schlußprüfung im Beth-Jakob-Seminar zu Krakau, in: Der Israelit, Blätter 7, 14. 4. 1927, 252 Vgl. Bacon, Politics, 170.

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2. J. 2. 2.

294 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert „Dieser Anblick und diese Erfahrung mußten auf uns um so nachhaltiger wirken, als sie uns letztlich auch wieder das schöne Bewußtsein gaben von der hohen Bedeutung des deutschen Judentums für den Osten. Die Pädagogik als Kunst, die Erziehung als Wissenschaft, das ist ihre Ueberlegenheit. Wenn das polnische Judentum sich heute erzieherisch stark fühlt, so ist das, wie man wohl ohne Ueberheblichkeit behaupten darf, das Verdienst deutscher Männer und Frauen. […] Leo Deutschländer war es, der das gesamte Mädchenschulerziehungswesen aus der Niedrigkeit emporgehoben und zu solch starker Entfaltung gebracht hat. […] Wie es eine in Deutschland lebende Persönlichkeit war, durch welche sich all die verschiedenen Landsmannschaften zum Bunde zusammenschließen konnten, so waren es jene hervorragenden Vertreter jüdischer Pädagogik aus Deutschland, die durch ihre Leistung bewiesen haben, wieviel wir einander zu geben haben, wie und in welcher Art einer dem andern helfend und fördernd in den grundlegenden Angelegenheiten des Judentum beistehen kann.“253

Hier drängt sich die Frage auf, warum vor allem die chassidischen Kreise offenbar bereit waren, ihre Töchter von Deutschländer sowie anderen orthodoxen deutschen Erziehern und Rabbinern zu Lehrerinnen ausbilden zu lassen oder sie in die Bet Jakob-Schulen zu schicken. Aus folgenden Anekdoten lässt sich vielleicht eine Antwort darauf herleiten. Ein junges Mädchen aus traditionsorientiertem Elternhaus hörte Vorträge Deutschländers über die Psalmen (Tehilim), wobei der orthodoxe deutsche Erzieher sie einmal fragte, warum sie eigentlich seinen Unterricht besuche, denn ihr Vater sei doch ein viel größerer Talmid Chacham (religiös Gelehrter) als er selbst. Sie solle daher nach Hause gehen und dem Vater zuhören. Diese Achtung Deutschländers für das traditionelle osteuropäische Judentum zeigte sich auch bei anderer Gelegenheit, als der Vater desselben Mädchens von einem Chassid angegriffen wurde, weil er seine Tochter in die Bet Jakob-Schule schicke, wo ein „Herr Doktor“ Tanach unterrichte. Der kritisierte Vater entgegnete hierauf, er habe diesen „Herrn Doktor“ in „unserem“ Bet Midrasch gesehen, seine Art des Betens beobachtet und auch seine Demut sowie seine Achtung und seinen Respekt für die Talmud-Gelehrten in Augenschein nehmen können. Einem solchen Mann könne er getrost sein Kind anvertrauen.254 Ungeachtet des anekdotischen Charakters zeigt dies sehr anschaulich, dass es noch immer die schon seit langem bestehenden Vorbehalte gegen deutsche (promovierte) Juden gab, die für irreligiös gehalten wurden. Deutschländer 253 J. Carlebach, Die Agudas Jisroel und ihre Institutionen im Osten, in: Der Israelit 1, 5. 1. 1933, 2. Auch in dem Bericht über die Bet Jakob-Schulen von 1937 – Deutschländer war seit zwei Jahren tot – wurde darauf hingewiesen, dass sein langjähriger Mitarbeiter darauf achte, dass „die Grundlinien, nach denen Dr. Deutschländer s. z. l. die Erziehungsarbeit an den Beth JakobSeminarien durchgeführt sehen wollte, strikte eingehalten werden“. Programm und Leistung, 271. 254 Vgl. J. Grunfeld, Deutschlaender, 317. 1937 wurde übrigens in einem Bericht die „unvergleichliche Wirkung der Tenach-Vorlesungen Dr. Deutschländers“ (Programm und Leistung, 286) erwähnt.

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konnte sich jedoch vor allem wegen seiner religiösen Observanz und Gelehrsamkeit das Vertrauen traditionsorientierter Kreise erwerben. Ähnliches dürfte auch für die anderen Dozenten aus dem deutschsprachigen Raum gegolten haben. Darüber hinaus sollte freilich nicht übersehen werden, dass die Bet Jakob-Bewegung mit der Agudat Israel und dem Keren Ha-Tora institutionell verbunden war, also über die Unterstützung religiöser Autoritäten verfügte, und dass gerade auch Deutschländer erhebliche Anstrengungen unternahm, um das traditionelle osteuropäische Schulwesen, insbesondere die Jeschivot, zu fördern und zu erhalten. Dies alles wirkte vertrauensbildend und dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, traditionsorientierte Kreise im Rahmen der Bet Jakob-Schulen für die Töchtererziehung und das Tora im derech erets-Ideal zu öffnen.

Wesen, Entwicklung und Bewertung der Bet Jakob-Bewegung Hatten die deutschen Rabbiner Carlebach und Kohn während des Ersten Weltkriegs versucht, mit ihren gemäßigten Reformen der Chadarim das traditionsorientierte polnische Judentum für ein gewisses Maß an derech erets zu gewinnen, so setzten sich vor allem Schenirer und Deutschländer im Rahmen der Bet Jakob-Bewegung nach dem Krieg dafür ein, den Töchtern aus traditionellem Elternhaus die Tora zu vermitteln. In diesem Sinne waren die meisten der Bet Jakob-Lehranstalten keine Vollschulen, sondern nur religiöse Ergänzungsschulen. Während die Mädchen wie bisher ihre säkulare Erziehung vormittags in den öffentlichen polnischen Schulen erhielten, sorgte Bet Jakob an den Nachmittagen (und Sonntag morgens) für eine fundierte jüdische Erziehung.255 Allerdings unterhielt Bet Jakob auch Schulen, in denen im Sinne von Tora im derech erets beide Bereiche abgedeckt wurden.256 So hatte man beispielsweise das von Carlebach und Kohn gegründete Warschauer Mädchengymnasium Chavatselet in das Beth Jakob-Schulsystem integriert und Ende 1928 im litauischen Paneve˙zˇys ein Mädchengymnasium unter dem Namen Bet Jakob eröffnet257, das aber Javne, dem orthodoxen Schulwerk in 255 Dies war allerdings in den Augen der Bet Jakob-Repräsentanten alles andere als ein Idealzustand. So hatte Deutschländer 1929 die allgemeinen Volksschulen als ein häufig auftretendes großes Hindernis bezeichnet und den Wunsch geäußert, „daß in den Beth Jakob-Schulen auch der Unterricht der profanen Fächer immer mehr aufgenommen werden könnte.“ Seine Haltung begründete er insbesondere mit dem schädlichen Einfluss des Religionsunterrichts, der an den allgemeinen Volksschulen erteilt werde. Deutschländer, Erziehungswerk, 75. Auf dieses Problem reagierte man offenbar auch durch Bereitstellung „eigener“ Religionslehrerinnen. 1931 berichtete Tartakower, dass von den bislang 150 Absolventinnen des Krakauer Lehrerinnenseminars ein Teil für den Religionsunterricht an den staatlichen Volksschulen angestellt worden sei, „was einigermaßen zur Hebung dieses völlig verwahrlosten Unterrichts beiträgt.“ Tartakower, Schulwesen, 297. 256 Vgl. Bacon, Politics, 169; Bacon, Revival, 74; Frost, Schooling, 87 – 88. 257 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 71, 76.

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296 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Litauen, unterstand. Grundsätzlich galt, dass Bet Jakob in den größeren Städten Ganztagsschulen betrieb, in denen die jüdischen Gegenstände (Tefila [Gebet], Übersetzung der Gebete, Religion, jüdische Geschichte, Jiddisch, Pentateuch und Grammatik sowie die Propheten) auf Jiddisch258 und die säkularen Fächer im Umfang der öffentlichen Elementarschulen auf Polnisch unterrichtet wurden. In den kleineren Städten beschränkte sich der Unterricht hingegen in der Regel auf die Religion. Darüber hinaus nahm sich die Bewegung auch der Berufsausbildung traditioneller jüdischer Mädchen an, indem schon in den 1920er Jahren Gewerbeschulen für Absolventinnen in Lemberg, Warschau und Krakau errichtet wurden.259 In den 30er Jahren kamen schließlich noch 30 weitere Gewerbeschulen hinzu, wobei sich vor allem Bertha Pappenheim für die Gründung von „sozialpädagogischen“ Anstalten innerhalb des Schulwerks eingesetzt hatte.260 Schließlich zeigte sich der Anspruch der Bet Jakob-Bewegung, der das ganze Leben umfasste, auch in der Einrichtung von modernen Kindergärten261, wie es Pappenheim seinerzeit für Galizien vorgeschlagen hatte, in Abendkursen für berufstätige jüdische Frauen sowie in der 1927 ins Leben gerufenen Bnot Agudat Israel-Bewegung für die schulentwachsenen jüdisch-orthodoxen Mädchen.262 Die Akzeptanz und die Bedeutung der Bet Jakob-Schulen gehen nicht nur aus den Erinnerungen von Bet Jakob-Schülerinnen hervor263, sondern zeigen sich auch am beträchtlichen Anstieg der Zahl der Lehranstalten und Schülerinnen. Während Ende 1924 30 solche Schulen bestanden, an denen 4 490 Mädchen unterrichtet wurden, waren es fünf Jahre später schon 147, in denen 16 145 junge Jüdinnen aus traditionellem Elternhaus lernten.264 Darüber 258 Zum Lehrplan vgl. Frost, Schooling, 88. 259 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 71. 260 Vgl. Programm und Leistung, 277 – 278; Beys Yankev, in: YIVO Encyclopedia, Bd. 1, 176; Bacon, Politics, 169 – 170. Bacon irrt jedoch, wenn er behauptet, dass die Berufsschulen der Bet Jakob-Bewegung erst in den letzten Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstanden. Solche Anstalten gab es, wie erwähnt, schon in den 1920er Jahren. 261 Vgl. hierzu auch die Schilderung der Breslauer Jüdin Eva Landsberg – Dozentin und Leiterin des Bet Jakob-Seminars in Krakau – über die weitreichende erzieherische Funktion der Bet Jakob-Kindergärten, in der der alte Topos des schmutzigen und unreinen osteuropäischen Judentums reaktiviert wird. Programm und Leistung, 274 – 275. Grundsätzlich war Bet Jakob, so der Bericht von 1937, „der beste Boden für Volksbelehrung über Volksgesundheit.“ In diesem Sinne wurden daher auch besondere Kurse für Hygiene innerhalb des Schulwerkes eingerichtet. Programm und Leistung, 276. Es scheint außer Frage zu stehen, dass gerade der Hygiene-Diskurs bzw. die Bedeutung der Reinlichkeit aus dem deutschen Judentum in die Bet Jakob-Bewegung getragen worden war. 1929 hatte Deutschländer die Einrichtung eines Bet Jakob-Heimes in Krakau auf die unhaltbaren hygienischen Zustände am dortigen Seminar zurückgeführt und dabei die drastischen Eindrücke einer aus dem Westen stammenden Jüdin angeführt. Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 73 – 74. Zur Hygiene als Kategorie der OstWest-Dichotomie vgl. Oleszak, Beit Ya’akov, 288. 262 Darüber hinaus gab es auch einen Kinderverband namens Batje, der 1937 ca. 20 000 jüdische Kinder zu seinen Mitgliedern zählte. 263 Vgl. Bacon, Politics, 169. 264 Vgl. die Tabelle in FN 210.

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hinaus lagen nach den Angaben Deutschländers aus demselben Jahr noch aus 600 weiteren Orten Gesuche um Gründung einer Bet Jakob-Schule vor.265 Die Bet Jakob-Bewegung hatte offensichtlich die richtige Antwort auf die mangelnde religiöse Erziehung orthodoxer Mädchen und die damit einhergehende Assimilation gefunden, was im Übrigen nicht auf Polen beschränkt blieb. Auch in Rumänien, der Tschechoslowakei, Ungarn und Lettland sollten zahlreiche Bet Jakob-Schulen entstehen. Trotz der beeindruckenden Zahlen darf nicht übersehen werden, dass die Gründung von Bet Jakob-Schulen und die damit verbundene formale religiöse Erziehung traditionsorientierter Mädchen durchaus auch auf Widerstand stoßen konnten. Im März 1932 berichtete eine Jüdin in Nachalath Z’wi über die erste orthodoxe jüdische Mädchenschule im vom Chassidismus stark geprägten „Unterland“ (Ostslowakei), die ungefähr ein halbes Jahr zuvor nach dem Vorbild der bestehenden Bet Jakob-Schulen errichtet worden war. Dabei gab es erhebliche Schwierigkeiten, wie die anonyme Verfasserin des Berichts, die sich als Leiterin dieser Anstalt zu erkennen gab – also die aus Frankfurt am Main stammende Johanna Roos, die wohl wichtigste Aktivistin des Bet JakobSchulwesens in der Ostslowakei266 –, darlegte. So hatte man beispielsweise darauf verzichtet, der neuen Lehranstalt den Namen Bet Jakob zu geben, da der örtliche Rabbiner befürchtet hatte, dass durch eine Anlehnung an die „AgudaPolitik“ die N9K7J (hebr.: tsedikut = Frömmigkeit) gefährdet werde. Von weitaus größerer Bedeutung war aber der Hinweis der Schulleiterin, dass die dortigen orthodoxen Kreise dem Ideal der Tora im derech erets noch immer ganz fernstünden. Für sie gebe es nur das eine oder das andere. Während die Söhne nur in der Tora unterrichtet würden, erhielten die Töchter nur Unterricht im derech erets. Ein „,Mensch-Jißroel‘“, wie Hirsch den vom Tora im derech erets-Prinzip durchdrungenen Juden bezeichnet hatte, sei hingegen „ein für hiesige Begriffe unerreichbares Phantasiegebilde“. Vor diesem Hintergrund seien in der von ihr geleiteten Mädchenschule Chumesch (Pentateuch) wie auch jeder andere Übersetzungsunterricht strengstens verboten, so dass die Kinder zunächst nur das Lesen und Schreiben sowie einige wenige religiöse Gesetze (dinim) lernen dürften. „Daß dies“, so die Schulleiterin weiter, „für eine Schule, die sich nach Hirsch’schen Ideen und Grundsätzen richtet, nicht genügen kann, ist klar, aber hier mußte man sich langsam durchzusetzen versuchen.“ Daher wurde bald in die Schule auch noch Deutschunterricht eingeführt, der allerdings nicht nur die Funktion des Spracherwerbs erfüllte, sondern auch dazu diente, zusätzlichen Religionsunterricht zu erteilen, indem in den Konversationsstunden zumeist jüdische Themen behandelt wurden. Ähnlich wie die religiöse Erziehung orthodoxer deutscher Mädchen seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer deutlich penibleren Beachtung der Religionsgesetze im Vergleich zu früheren Generationen 265 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 79. 266 Vgl. Programm und Leistung, 345 – 347.

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298 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert geführt hatte, konnte auch die Schulleiterin konstatieren, dass es „an Hand der geistvollen Erklärungen unseres Meisters“ – gemeint war natürlich Hirsch – zu einem geistigen Umschwung bei den Mädchen gekommen sei, die bisher nur „notdürftig“ gewusst hätten, was am Schabbat nicht erlaubt sei und diese Verbote, da ihnen ihr Sinn nicht geläufig sei, daher auch nicht so genau einhielten. Um das Interesse an der Lehranstalt weiter zu fördern, hielt die Schulleiterin darüber hinaus allwöchentlich einen Vortrag über den Inhalt des Wochenabschnitts, wobei sie sich auch hier an Hirschs Erklärungen orientierte. Wie sie meinte, hatten die positiven Ergebnisse „den Kreisen, die skeptisch auf das Wirken dieser Schule hinschauten und fürchteten, nachteilige Folgen aus den deutschen Kulturgütern durch diese Schule prophezeien zu müssen“, gezeigt, dass ihre Befürchtungen grundlos gewesen seien. Insofern war also die ablehnende Haltung vor allem in einer Furcht vor einem Kulturtransfer (in Form von „deutschen Kulturgütern“) begründet. Nachdem aber nun das Misstrauen abgebaut worden sei, könne man hoffen, dass bald auch die Erlaubnis erteilt werde, das Studium der religiösen Quellen im Sinne Hirschs zu betreiben. Noch hielt man sich also an den Satz des Rabbiners Eliezer aus der Mischna, wonach die Unterrichtung der Tochter in der Tora wie eine Sünde zu betrachten war. Für die Schulleiterin stand daher fest, dass erst dann, wenn das daraus resultierende Verbot aufgehoben werde, auch der Nutzen „ihrer“ Schule dauerhaft sei. Grundsätzlich bestand für sie das Heil der jüdischen Mädchen in Osteuropa in erster Linie in einer Übertragung der Hirsch’schen Lehren: „In der Kleinarbeit um die Erhaltung der jüdischen weiblichen Jugend im Osten verspürt man deutlich, wie sehr das wahre geistige Erbgut Rabbiner Hirschs imstande ist, die Massen der jüdischen Töchter vor dem Untergang zu retten. Es werden sich s.G.w. [so Gott will] nach dem Vorbild unserer Schule in absehbarer Zeit weitere Institute dieser Art in der hiesigen Gegend bilden, und auch dort wird sich Rabbiner Hirsch @‘J: als der rechte Wegbereiter erweisen.“267

Wie das angeführte Beispiel der Gründung einer Bet Jakob-Schule in der Slowakei gezeigt hat, war es nicht immer leicht, die religiöse Unterweisung für jüdische Mädchen aus traditionsorientiertem Elternhaus zu institutionalisieren. Letztlich hing wohl viel davon ab, ob die örtliche religiöse Autorität 267 Rabbiner Samson Raphael Hirsch und die jüdische Mädchenerziehung im Osten, in: Nachalath Z’wi 2 (1932), Heft 5/6, 189 – 191. Wie aus einem Bericht über das Bet Jakob-Schulwesen aus dem Jahre 1937 hervorgeht, wurde diese erste Bet Jakob-Schule der Slowakei in Kosˇice (Kaschau) gegründet. Auch in diesem Bericht wird erwähnt, dass „gerade in der östlichen Slovakei die inneren jüdischen Widerstände gegen die von Beth Jakob gepflegte Töchtererziehung außerordentlich stark gewesen waren“. Programm und Leistung, 255. Sobald aber der „Bann“ gebrochen war, konnten auch hier deutliche Fortschritte verzeichnet werden. Zwischen 1932 und 1936 wurden dort immerhin 13 Bet Jakob-Lehranstalten gegründet. Vgl. Programm und Leistung, 255.

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ihre Zustimmung erteilte.268 Zugleich wies der Bericht aber auch darauf hin, welch große Bedeutung Hirsch im Rahmen der Bet Jakob-Bewegung hatte. Symbolhaft zum Ausdruck kam diese beachtliche Relevanz des „Vaters“ der deutschen Neo-Orthodoxie auch darin, dass nach einem Reisebericht des deutschen Rabbiners Wolf S. Jacobson (1894 – 1973) in vielen Bet-Jakob Schulen das Bildnis Hirschs zu finden war.269 Während es im galizischen Stanislau und anderen Städten der durch sein Bild symbolisierte Geist Hirschs war, der die orthodoxen Mädchen des Ostens rettete,270 so war es in Gura Humora angeblich sein eigen Fleisch und Blut, da laut Jacobson die dortige Bet Jakob-Schule, zu dieser Zeit die einzige in der gesamten Bukowina, von einer Urenkelin S. R. Hirschs geleitet wurde.271 Gerade auch die deutsche Orthodoxie ließ kaum eine Gelegenheit aus, die überragende Bedeutung Hirschs für das traditionelle osteuropäische Judentum, insbesondere für die weibliche Jugend, herauszustellen und den erfolgreichen Kulturtransfer zu feiern. In seinem Nachruf auf die verstorbene Begründerin der Bet Jakob-Bewegung Sara Schenirer erklärte Deutschländer, „daß die innere Festigung des gigantischen Beth Jakob-Werkes ohne das Werk von Samson Raphael Hirsch undenkbar ist, wie es als eine Fügung der Vorsehung betrachtet werden muß, daß die Gründerin in der Urkraft ihrer chassidischen Seele so glücklich durch die Lehren eines S. R. Hirsch ergänzt wurde. […] Sarah Schenirer ist die Frau gewesen, die Samson Raphael Hirsch, seine Schriften, seine ganze Ideenwelt der weiblichen Jugend des Ostens nahegebracht hat.“272 Wie Deutschländer deutlich machte, basierte das ideologische Fundament der Bet Jakob-Bewegung auf Hirschs Weltanschauung, wobei er auch Schenirers Rolle als kulturelle Mittlerin hervorhob. Wenn der aus Berlin stammende orthodoxe Pädagoge dabei ausdrücklich auf die grenzüberschreitende Wirkung Hirschs hinwies, dann schwang zwischen den Zeilen auch Selbstvergewisserung mit. Die deutsche Orthodoxie besaß gerade in Bezug auf religiöse Gelehrsamkeit ein nicht zu bestreitendes Unterlegenheitsgefühl gegenüber ihrem osteuropäischen Pendant, wobei religiöse Autoritäten im Osten dieses Gefühl nicht selten zu bestärken suchten. Mit der Bet Jakob-Bewegung, deren ideologische Wurzeln in der deutschen Orthodoxie lagen, hatte man aber bewiesen, dass auch das orthodoxe deutsche Judentum zur Stärkung religiösen Wissens und vor allem religiöser Observanz im Osten entscheidend beitragen konnte. In diesem Fall wurde das Gefühl latenter Unsicherheit von einem der Stärke und Überlegenheit verdrängt. Die deutsche Orthodoxie, die innerhalb des deutschen Judentums nur eine kleine Minderheit darstellte, 268 Die Frage, ob Frauen die Tora studieren dürfen, ist bis heute selbst in der Bet Jakob-Bewegung nicht gänzlich geklärt. Vgl. Loewenthal, Experience, 451. 269 Vgl. Der Israelit, Blätter 13, 4. 7. 1929, 3. 270 Vgl. Der Israelit, Blätter 22, 1. 11. 1928, 12. 271 Vgl. Der Israelit, Blätter 4, 12. 2. 1931, 4. 272 Deutschländer, Sarah Schenirer 8’’F, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 7/8, 169 – 171.

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300 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert hatte ihren traditionsorientierten Brüdern in Osteuropa, die immer noch die Mehrheit im dortigen Judentum repräsentierten, in entscheidender Weise geholfen. Und hierauf musste, ob unmittelbar oder mittelbar, auch immer wieder hingewiesen werden. So stellte Deutschländer, der auch jiddischsprachige Broschüren und Lehrbücher für die Bet Jakob Bewegung herausgab,273 1929 fest, dass „das Mädchenschulwesen im Osten erst dem Keren Hathora sowohl pädagogisch wie wirtschaftlich seinen heute in der ganzen Welt anerkannten Aufschwung“274 verdanke, womit er letztlich vor allem seine eigene Arbeit als geschäftsführender Direktor des Tora-Fonds ins rechte Licht rückte.275 Noch deutlicher war im Jahr zuvor Pinchas Kohn geworden, als er bei der Konferenz der polnischen Aguda sein Referat über Die Weltlage der Aguda dazu genutzt hatte, „dem polnischen Judentum klarzulegen, was es Leo Deutschländer danke, der sein ganzes Leben der jüdischen Tochter des Ostens (Bet-Ja’akav) weihe“.276 Deutschländers Tod sieben Jahre später nahm Der Israelit schließlich zum Anlass, ihn regelrecht als Retter der orthodoxen weiblichen Jugend in Osteuropa zu feiern.277 Die Bet Jakob-Bewegung war zweifellos eine dezidierte Antwort des traditionsorientierten Judentums auf die Moderne,278 die ideell wie personell in erster Linie auf die deutsche Orthodoxie Hirsch’scher Prägung zurückging und, so der herausragende Historiker der jüdischen Orthodoxie Mordechai Breuer, eine „wahrhafte Revolution“ in der orthodoxen Gesellschaft Polens, Litauens, der Nachfolgestaaten des Habsburgerreichs wie auch Rumäniens auslöste.279 Diese Revolution war allerdings vor allem deshalb erfolgreich, weil sich in der Bet Jakob-Bewegung das Erziehungskonzept der deutschen NeoOrthodoxie mit einer entschieden weiblichen Art chassidischer Spiritualität verband,280 also Eigenes und Fremdes eine für die Empfängerkultur akzeptable Synthese bildeten. Das Vermächtnis der deutschen Neo-Orthodoxie in Form der Bet Jakob273 Vgl. Niger (Hg.), Leksikon, Bd. 2, 495. 274 Deutschländer, Erziehungswerk, 67. 275 Agnieszka Oleszak hat in einem Aufsatz, der nach Einreichung meiner Dissertation erschien, auch darauf hingewiesen, dass Deutschländer 1923 als entscheidendes Jahr der Bet JakobBewegung herausgestellt habe, um damit den Einfluss der deutschen Neo-Orthodoxie wie auch die organisatorische und finanzielle Unterstützung durch den Keren Ha-Tora zu betonen. Vgl. Oleszak, Beit Ya’akov, 282. 276 Der Israelit, Blätter 23, 15. 11. 1928, 2. 277 Vgl. Dr. Leo Deutschländer @‘‘J:, in: Der Israelit 33, 15. 8. 1935, 3. Vgl. darüber hinaus auch die Aussage Judith Grunfeld-Rosenbaums, die eng mit der Bet Jakob-Bewegung verbunden war, wonach erst Deutschländers organisatorisches und erzieherisches Genie die Bet Jakob-Bewegung zum Erfolg geführt habe. Grunfeld-Rosenbaum, Schenierer, 426 – 427. Vgl. auch J. Grunfeld, Deutschlaender, 307 – 308. 278 Vgl. Reißner, „Schul“ und Schule im neuen Polen, in: Der Morgen 7 (1931), Heft 4, 336; Frost, Schooling, 43 – 44. 279 Breuer, Orthodoxy, 85. Vgl. auch Oleszak, Beit Ya’akov, 289 – 290. 280 Vgl. Loewenthal, Experience, 434; Oleszak, Beit Ya’akov, 289.

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Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland

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Schulen lebt bis heute weltweit fort281, wobei zur Geschichte der Bewegung und zu ihren wichtigsten Repräsentanten interessanterweise in den letzten Jahren mehrere populäre Werke orthodoxer Provenienz erschienen sind.282 Diese Werke zielen in erster Linie darauf ab, traditionsorientierten Lesern ein nachahmenswertes Vorbild und die Möglichkeit der Identifikation mit „Helden“ der Orthodoxie zu bieten. Für die wissenschaftliche Forschung mögen sie auf Grund fehlender Quellennachweise und gewisser Ungenauigkeiten kaum von Nutzen sein, ihre Existenz zeugt jedoch von der großen identitätsstiftenden Bedeutung, die die Bet Jakob-Bewegung für die Orthodoxie noch heute hat.

4. Die Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland (1915 – 1939) „Drin Bildung sich mit Religion vermählet“ oder „Bringing Torah Im Derech Eretz to Lithuania“: Die Gründung des jüdischen Realgymnasiums in Kovno/Kaunas als „Kultur-Revolution“? Die Rabbiner Pinchas Kohn und Emanuel Carlebach gelangten, wie bereits dargestellt, ursprünglich als Vertreter der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums in die von deutschen Truppen besetzten ehemaligen Gebiete des Zarenreichs. Im Gegensatz dazu kamen orthodoxe Rabbiner wie Leopold Rosenak oder Joseph Carlebach, der Bruder von Emanuel, auf anderem Weg in das Kriegsgebiet: als Soldaten der kaiserlichen deutschen Armee. In dieser Eigenschaft sollten sie auch bedeutende administrative Aufgaben der Besatzungsbehörden übernehmen, die ihnen erhebliche Möglichkeiten der Einwirkung auf das dortige Judentum zu geben schienen. So fungierte Feldrabbiner Rosenak, der Schwager der CarlebachBrüder, seit dem 1. November 1915 als Berater des Oberbefehlshabers Ost 281 Vgl. hierzu beispielsweise folgende Bemerkung in einem Beitrag für eine von Haredim (orthodoxen Juden) betriebene Internetseite: „This idea of Rav Hirsch’s [Tora im derech erets] is the basic one that shapes the curriculum of the Bais Yaakov school system today.“ Chevroni, Indepth features. The Unacknowledged Heritage. The Contribution of German Chareidim to the New Yishuv, in: Dei’ah veDibur, 5. 1. 2005, http://www.chareidi.org/archives5765/VRH65fea tures2.htm (letzter Aufruf 1. 8. 2012). 282 Vgl. Benisch, Heart (Dies ist das Werk einer ehemaligen Schülerin von Schenirer, wobei aber das Dargestellte weit über das persönlich Erlebte hinausgeht); Teller, Builders (Schenirer ist eine der drei dargestellten Persönlichkeiten); Dansky, Rebbetzin; Benisch, Dragon (Erinnerungen über die Geschichte von Bet Jakob-Schülern während des Holocaust). Die Werke sind entweder bei Feldheim Publishers oder bei Mesorah Publications erschienen, beides Verlage, die sich auf jüdisch-religiöse Literatur spezialisiert haben.

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302 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert (Oberost) in Kultus, Schul- und sonstigen Angelegenheiten der jüdischen Bevölkerung im litauischen Kaunas (russ. Kovno). Bereits im folgenden Monat sollte in dieser Stadt ein jüdisches Realgymnasium mit deutscher Unterrichtssprache eröffnet werden, wobei nicht ganz klar ist, von wem die Initiative dafür ausging. Wie Joseph Carlebach später schrieb, hatte er von der Militärverwaltung Oberost den Befehl erhalten, dieses Realgymnasium, das er in den folgenden Jahren leiten würde, für die jüdische Bevölkerung in Kaunas zu gründen.283 Demgegenüber heißt es in einem zeitgenössischen Bericht des KfdO über die ökonomische und kulturelle Lage der Juden in Kaunas, der Feldrabbiner, gemeint war Rosenak, habe eine neue Schule „proklamiert“,284 was Carlebachs Schwager als Hauptinitiator erscheinen lässt. Wahrscheinlich hat Feldrabbiner Rosenak als Berater von Oberost in jüdischen Angelegenheiten die Besatzungsbehörden auf die Notwendigkeit der Gründung einer höheren jüdischen Schule in Kaunas hingewiesen und dafür nicht nur die Zustimmung, sondern auch den Auftrag erhalten, diese Idee umzusetzen. Als Direktor der neuen Lehranstalt bot sich Rosenaks Schwager Joseph Carlebach geradezu an. Er verfügte durch seine jahrelange Lehrtätigkeit an der jüdischen Religionsschule in Berlin, am jüdischen Lehrerseminar in Jerusalem und an der Berliner Margaretenschule nicht nur über große pädagogische Erfahrung, sondern stand auch – ebenso wie Rosenak selbst – auf dem Boden des gesetzestreuen Judentums. Dies waren zweifellos günstige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Schulgründung. Weniger günstig war jedoch, dass die beiden orthodoxen deutschen Rabbiner die neue Lehranstalt offenbar dazu nutzen wollten, Kulturtransfers zu initiieren. Wie aus einem Bericht des KfdO hervorgeht, hätte man eigentlich auf Grund der von den Besatzungsbehörden garantierten Freiheit der Unterrichtssprache annehmen können, dass an der künftigen Schule die Schüler auf Jiddisch unterrichtet würden. Rosenak und Carlebach hätten aber von Beginn an erklärt, der Unterricht werde aus folgenden Gründen auf Deutsch erteilt: „1.) weil Jüdisch keine Sprache ist und 2.) müssen die Juden als Vermittler und Träger der deutschen Kultur dienen“.285 Diese Äußerung der beiden Rabbiner zeigt, dass auch sie die in Deutschland weitverbreitete Ansicht verinnerlicht hatten, wonach die Juden Osteuropas dort das „germanische“ Element repräsentierten, das im Sinne der deutschen Politik nutzbar gemacht werden sollte.286 Die neue Schule in Kaunas sollte also dazu dienen,

283 Vgl. J. Carlebach, Chederprozess, 1057. 284 Bericht über die ökonomische und kulturelle Lage der Juden Kownos vor dem Kriege und während des Krieges. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. 285 Bericht über die ökonomische und kulturelle Lage der Juden Kownos vor dem Kriege und während des Krieges. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. 286 Paradigmatisch hierfür ist der Beitrag von Carlernst Donner in der vom Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens herausgegebenen Zeitschrift Im Deutschen Reich von 1914, der den Titel Die russischen Juden als Pioniere des Deutschtums im Osten trug. Vgl.

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die jüdischen Schüler auf ihre Aufgabe als kulturelle Mittler des Deutschtums vorzubereiten.287 Darüber hinaus weist die despektierliche Aussage über das Jiddische darauf hin, dass die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im deutschen Judentum aufgekommene Verachtung für den „Jargon“ noch immer virulent war, auch innerhalb der deutschen Orthodoxie.288 Vor diesem Hintergrund dürfte es kaum verwundern, wenn anfangs die „frommen Ostjuden nichts von einer deutschsprachigen Militärschule wissen“289 wollten. Noch vor Eröffnung der Anstalt ging daher Carlebach in deutscher Uniform und mit Kipa von Haus zu Haus, um den Eltern die „Wichtigkeit der Schule und ihrer Ziele“ auseinanderzusetzen und Schüler für die Einrichtung zu gewinnen.290 Als die Schule, die unter der Obhut der jüdischen Gemeinde stand, schließlich am 15. Dezember 1915 eröffnet wurde, fanden sich laut Angaben Heinrich Eisemanns (1890 – 1972), des künftigen Mitarbeiters in dem von Hermann Struck (1876 – 1944) geleiteten Jüdischen Referat Oberost, trotz Carlebachs persönlicher Werbung gerade einmal 23 Schüler ein,291 die von drei

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Donner, Die russischen Juden als Pioniere des Deutschtums im Osten, in: Im Deutschen Reich 20 (1914), Nr. 10 – 12, 381 – 382. Vgl. hierzu auch die folgende Bemerkung aus einem Brief des orthodoxen deutschen Juden Sigmund Fraenkel, in dem er Staatsminister von Hertling darum bat, zusammen mit Abraham Hirsch, Ezra Munk und Jacob Rosenheim eine (trennungs-)orthodoxe Delegation zum Oberkommando Ost in Litauen unternehmen zu dürfen: „Die Reise würde unter meiner Führung vorgenommen und übernehme ich selbstverständlich jedwede Verantwortung dafür, daß auch diese Reise nur im Interesse des Deutschtums im Osten gelegen und ausschließlich vaterländischen und idealen Zwecken dient, wobei wir insbesondere unsere dortigen Glaubensgenossen darüber aufklären wollen, daß ihre Angliederung an Deutschland und an die deutsche Kultur in keiner Weise ihre Anhänglichkeit an ihre religiösen Ideale und Überlieferungen gefährden oder beeinträchtigen wird.“ Brief Fraenkels an Staatsminister von Hertling, 18. 9. 1916, in: Fraenkel, Aufsätze, 210. Trotz seiner negativen Haltung gegenüber dem Jiddischen war Rosenak durchaus bereit, sich des „Jargons“ zu bedienen. Schon im Februar 1915 hatte er in einem Brief an den Ausschuss des Verbandes der Deutschen Juden darauf hingewiesen, dass er in Osteuropa als Feldrabbiner nützlicher wäre, da er nicht nur slawische Sprachen gut beherrsche, sondern auch den „Jargon“, also Jiddisch. Brief Rosenaks an den Ausschuss des Verbandes der Deutschen Juden, 19. 2. 1915. CJ, 1,75 C Ve 1, Nr. 397 (Ident. Nr. 13020), Bl. 1. Dass sich Rosenak tatsächlich nicht scheute, Jiddisch zu verwenden, zeigt auch seine im Januar 1916 auf Jiddisch verfasste Aufforderung an die Rabbiner in Kaunas, den deutschen Behörden Fälle von ansteckenden Krankheiten zu melden. Vgl. Matthäus, Judenpolitik, 165. Daneben schrieb Rosenak aber auch Flugblätter an die jüdische Bevölkerung in polnischer, russischer und hebräischer Sprache. Vgl. bspw. Anlage zu Rosenak, Bericht aus Białystok vom 26. 9. 1915 über meine Tätigkeit vom 27. August bis zum 24. September 1915. CJ, 1,75 C Ve 1, Nr. 397 (Ident. Nr. 13020), Bl. 157. Gillis-Carlebach, Ost, 30. Gillis-Carlebach, Messiasse, 126. Zu einzelnen Begegnungen Carlebachs mit seinen künftigen Schülern und Schülerinnen vgl. Gillis-Carlebach, Ost, 30. Vgl. Agudas Jisroel und die Ostjuden, in: Der Israelit 42, 17. 10. 1918, 7. Laut eines Berichts in der Jüdischen Rundschau hätten 20 Knaben und 30 Mädchen anfangs die neu eröffnete Schule in Kaunas besucht. Vgl. Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 193. Diese Zahlen, die bis heute zitiert werden (vgl. z. B. Brämer, Carlebach, 65), sind wohl

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304 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Lehrern unterrichtet wurden.292 Ungeachtet der Anlaufschwierigkeiten wuchs die Schülerschaft sehr schnell an. Dies dürfte mehrere Gründe gehabt haben. Zunächst einmal waren Rosenak und Carlebach so vorausschauend, die von ihnen angestrebte Umsetzung des Tora im derech erets-Ideals auf zwei verschiedene „Lehrertypen“ aufzuteilen: Während Carlebach und andere deutsche (jüdische und nichtjüdische) Soldaten die profanen Fächer wie Deutsch, Latein, Französisch, Mathematik, Physik und Chemie unterrichteten, wurden für die religiösen Gegenstände örtliche Rabbiner und Talmudgelehrte herangezogen.293 Mit dieser Maßnahme konnte man den Ängsten der Eltern und örtlicher religiöser Autoritäten vor einer mangelhaften religiösen Unterweisung wirksam begegnen. Sodann dürfte es auch großen Anklang gefunden haben, dass der promovierte Rabbiner Joseph Carlebach selbst bei einem örtlichen Talmudgelehrten, Schmuel Chajim Jancˇuk, die mündliche Lehre nach der litauischen Methode studierte.294 Im Gegensatz zu den Rabbinern des 19. Jahrhunderts erkannte Carlebach, der für deutsche Verhältnisse sehr gute Kenntnisse der jüdischen Quellen besaß, die Überlegenheit der osteuropäischen Religionsgelehrten in dieser Beziehung an und wollte daher von ihnen lernen. Von Beginn an war also klar, dass die orthodoxen deutschen Rabbiner in Kaunas, vor allem Carlebach, nicht nur derech erets verbreiten, sondern sich auch Kenntnisse der Tora (im weitesten Sinne) aneignen wollten. Dies wirkte mit Sicherheit vertrauensbildend. Schließlich wirkte sich wohl noch ein weiterer Umstand günstig auf die von Carlebach und Rosenak ins Leben gerufene Schule aus. Nur eineinhalb Monate nach Gründung der neuen Lehranstalt konnte durch großen Einsatz Rosenaks die berühmte Jeschiva in Vilijampole (Slobodka), einem Vorort von Kaunas, wiedereröffnet und durch finanzielle Mittel der Agudat Israel weiter unterhalten werden. Bei der feierlichen Wiedereröffnung sprach Kaunas‘ Rabbiner Israel Nisan Kark in seinem Namen und dem der jüdischen Bewohner von Kaunas und Vilijampole vor allem dem deutschen Feldrabbiner besonderen Dank für die Bemühungen aus, was nicht ohne wohlwollende Resonanz geblieben sein dürfte.295 Selbst Rosenaks Äußerung, dass nun wohl das Tora im

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zu hoch gegriffen. Die Zahlen Eisemanns, der mit dem Schulprojekt eng vertraut war und gegenüber diesem eine äußerst positive Haltung einnahm, dürften realistischer sein. Vgl. Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 193. Allerdings hat Carlebach nach Aussage eines seiner Schüler neben profanen Gegenständen auch Bibelunterricht erteilt. Dies dürfte aber eher die Ausnahme gewesen sein. Vgl. die Aussage Joseph Achais bei Gillis-Carlebach, Ost, 32. Vgl. Gillis-Carlebach, Ost, 30. Carlebach hatte im Übrigen seinen „alten Rebbe“ auch viele Jahre später nicht vergessen. Als 1929 der Schwiegersohn von Schmuel Chajim Jancˇuk durch die Krankheit eines seiner Kinder in Berlin in schwere Not geriet, bemühte sich Carlebach darum, diesem zu helfen, indem er Bekannte aus der Zeit in Kaunas wie Sammy Gronemann, Heinrich Eisemann und andere kontaktierte, damit auch diese einen Unterstützungsbeitrag leisteten. Vgl. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 416, o. P. Zur feierlichen Wiedereröffnung der Jeschiva in Vilijampole vgl. Die Jüdische Presse 5, 4. 2. 1916, 69; Der Israelit 6, 10. 2. 1916, 1 – 2; Deutsche Israelitische Zeitung 7, 17. 2. 1916, 3.

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derech erets-Ideal in seiner deutschen Ausprägung Einzug in die wiedererstandene Jeschiva halten werde, scheint keinen Widerspruch hervorgerufen zu haben.296 Nur eineinhalb Jahre nach Gründung der höheren jüdischen Schule in Kaunas besuchten bereits 550 Schüler und Schülerinnen die Anstalt, wobei nun nicht weniger als 30 Lehrer dort unterrichteten.297 In der Folgezeit stieg die Schülerschaft schließlich sogar auf ungefähr 800 an.298 Angesichts der hohen Schülerzahl hatte man es sogar für nötig gehalten, die Einrichtung in eine Knaben- und eine Mädchenanstalt mit neun und acht Klassen aufzuteilen.299 Obwohl oder weil die Besatzungsbehörden den beeindruckenden Erfolg der Einrichtung ausdrücklich anerkannten,300 versuchten sie schon bald, massiv in das Schulreglement einzugreifen. Im Mai 1916 oder 1917301 schrieb Carlebach in einem dramatischen Brief an seinen abwesenden Schwager Rosenak, dass es „unserer Schule an den Kragen“ gehe, da der „Chef der Verwaltung […] sie erwürgen“ möchte. Dieser wolle die Lehranstalt in eine Volksschule umwandeln und sie der Stadt übergeben. „Die Gemeinde soll“, so Carlebach, „ganz ausgeschaltet sein, deren Souveränität oder Besitzerrecht will er nehmen.“ Gleichzeitig solle die Zahl der jüdischen Schüler sinken, was darauf hindeutete, dass die Besatzungsbehörden den rein jüdischen Charakter des Realgymnasiums abschaffen wollten. „Als erster Akt des Zerstörerwerks“ sei bereits einer der Lehrer abkommandiert worden. Es wäre aber „ein Jammer, wenn der Chef siegen sollte“. Für Carlebach wäre dies nicht nur „Vandalismus“ gewesen, da die Schule immerhin von 500 Schülern besucht wurde, sondern er sah auch noch eine andere verhängnisvolle Konsequenz voraus. Nach seinem Wunsch sollte, wie er unmissverständlich klarmachte, das Realgymnasium nach Frankfurter Vorbild zum Prototyp eines Tora im derech erets-Schulwesens im Besatzungsgebiet avancieren: „Die Schule kann im okkupierten Gebiete eine Bedeutung erlangen wie die Hirschische in Frankfurt.“ Er sah also hier vor allem auch den angestrebten Kulturtransfer in Gefahr, was ihn nicht zuletzt dazu bewog, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um das drohende Unheil abzuwenden. So schrieb er, Oberost habe Rosenak die Konzession für eine höhere Schule, ein Realgymnasium, in der jüdischen Gemeinde erteilt und nicht für eine Volksschule. Daher könne die deutsche 296 Vgl. Deutsche Israelitische Zeitung 7, 17. 2. 1916, 3. 297 Vgl. Agudas Jisroel und die Ostjuden, in: Der Israelit 42, 17. 10. 1918, 7. Vgl. auch den Brief J. Carlebachs an Rosenak, Mai 1917, in: J. Carlebach, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, 111, in dem von ca. 500 Schülern die Rede ist. 298 Vgl. J. Carlebach, Chederprozess, 1057. 299 Vgl. Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 193. 300 Vgl. hierzu den Brief J. Carlebachs an Rosenak, Mai 1917 (oder 1916), in: J. Carlebach, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, 111; Gronemann, Hawdoloh, 194. 301 Die Herausgeber der Schriften Joseph Carlebachs haben diesen Brief auf Mai 1917 datiert, der Verfasser der vorliegenden Arbeit geht hingegen davon aus, dass der Brief im Mai 1916 verfasst wurde.

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306 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Regierung ihr Wort nicht so einfach zurücknehmen. Rosenak solle also an die zuständige Abteilung von Oberost, an den Verwaltungschef selbst und vielleicht auch an den Oberbürgermeister schreiben.302 Wie die Angelegenheit im Einzelnen geregelt wurde, ist nicht bekannt. Das Realgymnasium in Kaunas überstand jedenfalls die deutsche Besatzungszeit unbeschadet, und somit war es Rosenak und Carlebach gelungen, die Pläne des Verwaltungschefs zu durchkreuzen. Wie aus dem Brief an Rosenak hervorgeht, wollte Carlebach die von ihm geleitete Schule zu einer Musteranstalt der Vermittlung von Tora im derech erets ausbauen. Dieses Vorhaben stieß allerdings nicht auf allgemeine Zustimmung. So lesen wir in einem zeitgenössischen Bericht des teilweise prozionistischen KfdO: „Besonders plastisch wirkt der orthodox-assimilatorische Geist der Schule in Bezug auf Hebräisch, das hier in eine ,heilige Sprache‘ verwandelt worden ist. Als Beispiel würde wohl genügen, darauf hinzuweisen, daß in der ersten Knabenklasse, die Kinder von 13 – 16 Jahren besuchen, nur 3 Stunden wöchentlich Hebräisch gelehrt wird, davon 2 Stunden Talmud. Jüdische Geschichte wird in dieser Klasse überhaupt nicht zugelassen.“303

Diese Kritik war – aus der Sicht eines Zionisten – keineswegs unbegründet. Carlebach und Rosenak waren entschiedene Anhänger der deutschen Orthodoxie Hirsch’scher Prägung und somit auch ebenso entschiedene Gegner des Zionismus. Insofern war es nur allzu verständlich, dass sich der Unterricht des Hebräischen eher auf das biblische als auf das moderne Hebräisch (Ivrit) bezog. Und doch mussten sich Carlebach wie auch die Besatzungsbehörden dem Druck der Schülerschaft beugen. Die meisten Zöglinge stammten offensichtlich aus nationaljüdischem Umfeld und sprachen in ihrem Elternhaus modernes Hebräisch. Daher verlangten sie auch in der Schule eine ausreichende Berücksichtigung von Ivrit, die der Rabbiner wohl eher widerwillig zugestehen musste. Als schließlich der Schulrat eine Einschränkung der Hebräischstunden verlangte, sollen sich nach Angabe des Berliner Anwalts und Schriftstellers Sammy Gronemann (1875 – 1952), der ebenfalls persönlich mit der Lehranstalt verbunden war, nahezu alle Schüler noch am selben Tag abgemeldet haben. Der Schulrat machte daraufhin einen Rückzieher.304 In einem Bericht der zionistischen Jüdischen Rundschau von 1918 wird mitgeteilt, dass vormittags ein bis zwei Stunden dem Hebräisch- und Bibelunterricht vorbehalten seien, während am Nachmittag dem Talmudstudium für die Knaben keine Beschränkung auferlegt werde.305 302 Vgl. den Brief J. Carlebachs an Rosenak, Mai 1917 (oder 1916), in: J. Carlebach, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, 111. 303 Bericht über die ökonomische und kulturelle Lage der Juden Kownos vor dem Kriege und während des Krieges. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. 304 Gronemann, Hawdoloh, 194 – 195; Gronemann, Erinnerungen, 263. 305 Vgl. Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 193.

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Die nationaljüdische Orientierung der Schülerschaft war jedoch nicht nur auf der sprachlichen Ebene erkennbar, sondern äußerte sich noch weitaus konkreter. Als bei einer großen Schulfeier anlässlich des Chanuka-Festes 1916 die Schüler nach den Aufführungen die Ha-Tikva (die spätere Nationalhymne Israels) anstimmten, erhoben sich alle Anwesenden und sangen zum Teil mit. Nach dem Ende der Veranstaltung hielt jedoch Carlebach den Anwesenden eine „Standpauke“ und wies ausdrücklich darauf hin, „daß seine Schule nicht zionistisch und nicht nationaljüdisch“ sei. Demgemäß verbot er auch das Singen der Ha-Tikva im Bereich des Schulgeländes. Als einige Tage später wieder ein Schulfest stattfand, sang die Schülerschaft trotz Carlebachs ausdrücklichen Verbots erneut die Nationalhymne des künftigen jüdischen Staates. Carlebach als Gegner des Zionismus war erzürnt, blieb aber offenbar von der Hartnäckigkeit seiner Schüler nicht unberührt. Im folgenden Jahr zeigte sich bei der Chanuka-Schulveranstaltung ein Gesinnungswandel des deutschen Rabbiners. Am Ende der Vorstellung stand Carlebach im Kreis seiner obersten Knaben- und Mädchenklasse auf der Bühne und richtete zum Abschluss des Festes nach Aussage des anwesenden Gronemann ungefähr folgende Worte an das Publikum: „,Und nun bitte ich Sie alle, sich von Ihren Plätzen zu erheben und unsere Hymne, die nationale Hymne des jüdischen Volkes, die Hatikwah, anzuhören!‘“306 Gegenüber Gronemann, einem überzeugten Zionisten, soll Carlebach die Änderung seiner Haltung damit begründet haben, „daß die nationale Begeisterung und der nationale Wille der jüdischen Jugend anzuerkennen sind und daß daran vorüberzugehen blöd und verbrecherisch“307 sei. Dies scheint für eine tolerante Gesinnung des Rabbiners zu sprechen, von einer Hinwendung zum Zionismus konnte aber keinesfalls die Rede sein. Ganz im Gegenteil, der Repräsentant der Zionistischen Vereinigung für Deutschland Julius Berger (1883 – 1948) berichtete in einem Brief vom August 1918 an Eisemann, dass Carlebach in Warschau eine „antizionistische Hetzrede der unverschämtesten Observanz gehalten“ und damit nur bestätigt habe, „was uns über den gänzlich zionistenfresserischen Standpunkt des Herrn Dr. Carlebach aus Kowno bereits aus Oberost berichtet worden“ [im Original unterstrichen]308 sei. Interessanterweise blieb das Verhältnis zwischen den orthodoxen deutschen Lehrern, die dem Zionismus ablehnend gegenüberstanden, und der Schülerschaft, die mit ihm sympathisierte, dennoch ein herzliches. Wie Gronemann bemerkt, brachten die Zöglinge des Realgymnasiums Carlebach 306 Gronemann, Hawdoloh, 195 – 196; Gronemann, Erinnerungen, 263. Vgl. hierzu auch den Bericht der zionistischen Jüdischen Rundschau von 1918, in der erklärt wurde, dass die „von der Anstalt aus Anlaß der jüdischen Feste abgehaltenen Feiern […] sich immer wieder zu jüdischnationalen Kundgebungen, an denen sich die gesamte Einwohnerschaft lebhaft beteiligt“, gestalten. Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 193. 307 Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 196. 308 Brief Bergers an Eisemann, 13. 8. 1918. CZA, Z3/134.

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308 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert „Anhänglichkeit und Verehrung“ entgegen, die nicht zuletzt auch damit zu erklären war, dass dieser ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Schülern pflegte und gegenüber den „Ostjuden“ nicht den Hochmut entwickelte, der für viele deutsche Juden, auch orthodoxer Richtung, damals üblich war.309 Ähnliches lässt sich übrigens auch von dem orthodoxen Pädagogen Deutschländer, einem engen Freund Carlebachs, der ebenfalls den politischen Zionismus ablehnte, berichten. Er war nicht nur Lehrer am jüdischen Realgymnasium in Kaunas, sondern auch an der höheren jüdischen Mädchenschule (dem sogenannten Gutmann-Gymnasium) in Białystok.310 Und auch hier scheinen sich die Schülerinnen mehrheitlich zum Zionismus bekannt zu haben. Dennoch waren die Mädchen bei Deutschländers Abreise sehr traurig, hatte sich doch hier ebenfalls ein sehr freundschaftliches Verhältnis zwischen dem orthodoxen deutschen Lehrer und seinen osteuropäischen Schülerinnen entwickelt. Selbst Deutschländers ablehnende Haltung gegenüber dem Zionismus hatte diesem Verhältnis nicht geschadet, wobei Gronemann meint, dass die Mädchen diese Haltung „allesamt wohl nur für eine Kaprice des guten Leo“311 hielten und ihm einfach nicht glaubten. Obwohl die ideologischen Trennlinien in Kaunas (und Białystok) zwischen Lehrer- und Schülerschaft verliefen, kam es zu keinem Eklat. Während zur selben Zeit in Warschau Joseph Carlebachs Bruder Emanuel und Pinchas Kohn in heftige Auseinandersetzungen mit den dortigen Zionisten und anderen Nationaljuden verwickelt waren, blieben in Litauen derartige, offen ausgetragene Kämpfe aus. Dies ist allerdings nicht verwunderlich. Im Generalgouvernement Warschau hatten sich die beiden deutschen Rabbiner auch politisch engagiert und mit Unterstützung des Gerer Rebbe sogar eine Partei, die Agudat Ha-Ortodoksim, gegründet. Dieser Eintritt der polnischen Orthodoxie in die politische Arena löste die schweren Konflikte aus, nicht aber das Wirken auf dem Gebiet der Erziehung. Hier stimmten nicht nur alle Seiten darin überein, dass eine Reform des traditionellen jüdischen Schulwesens unbedingt erforderlich war, sondern es entwickelte sich insoweit sogar eine Kooperation zwischen Carlebach und Kohn auf der einen und den Vertretern des prozionistischen KfdO auf der anderen Seite. Ebenso war auch in Litauen, wo allerdings keine orthodoxe Parteiorganisation ins Leben gerufen wurde, eine gewisse Zusammenarbeit auf erzieherischem Gebiet zwischen antizionistischen Orthodoxen (Agudisten) und Zionisten zu beobachten, die zwar nicht immer reibungslos, aber doch ohne größere Auseinandersetzungen funktionierte. In dem von Carlebach geleiteten Realgymnasium lehrten neben den nichtjüdischen Offizieren nur orthodoxe Juden, darunter einige aus Deutschland (Joseph Carlebach, Leo Deutschländer, Nachman Schlesinger

309 Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 194. 310 Vgl. Deutschländer (Hg.), Dichterklänge, V. 311 Gronemann, Hawdoloh, 189.

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[1883 – 1942] und Siegbert Halberstadt [1891 – 19??]312). Darüber hinaus konnten aber auch ausgewiesene Zionisten wie Gronemann und Hermann Struck, der freilich auch orthodox war, Vorträge in der Schule halten. Die Zusammenarbeit zwischen Agudisten und Zionisten (oder Mizrachisten, was Struck betrifft) zeigte sich ebenfalls, als im Juli 1917 ein Referat für jüdische Angelegenheiten in Oberost eingerichtet wurde, zu dessen Leiter Struck ernannt wurde, zu dem aber auch Deutschländer und Heinrich Eisemann, ein Jugendführer der Agudat Israel in Frankfurt und enger Vertrauter von Jacob Rosenheim, überwechselten.313 Diese Zusammenarbeit sollte schließlich über das Realgymnasium in Kaunas hinaus fortgesetzt werden. Im Frühjahr 1918 kristallisierte sich nach dem Vorbild in Kaunas314 ein Plan für die Errichtung eines religiösen Realgymnasiums in Wilna heraus, wobei ein Großteil der Initiative dazu von Eisemann ausging. Die deutsche Agudat Israel, die mit der Durchführung des Vorhabens betraut werden sollte, machte zur Bedingung, dass alle künftigen Lehrkräfte eine orthodoxe Lebensanschauung hatten und einen orthodoxen Lebenswandel nach dem Vorbild von Carlebach und Deutschländer führten, dass die Anstellung ausländischer Lehrkräfte nur nach Absprache mit Agudat Israel erfolgte und dass der Lehrplan zusammen mit den örtlichen RabbinerAutoritäten ausgearbeitet werde. In Berlin setzte sich der Rektor des orthodoxen Rabbinerseminars Mei(e)r Hildesheimer (1864 – 1934) an die Spitze einer Spendenkampagne, die auch darauf abzielte, andere Strömungen des Judentums, insbesondere die zionistische Bewegung, mit einzubeziehen. So sicherte beispielsweise der Vorsitzende der Zionistischen Vereinigung für Deutschland Arthur Hantke (1874 – 1955) zu, dass er den Aufruf persönlich unterzeichnen werde. Dies dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, dass Struck im März 1918 in einem Brief an Hantke erklärt hatte, man könne sich „vom zionistischen Standpunkt aus unbedingt“ an dem geplanten Wilnaer Schulwerk beteiligen, „da ein derart unsinniges Vorgehen wie das der Herren Kohn und Carlebach in Warschau in Wilna nirgends Boden finden würde. Hier muss eben alles, mit Ausnahme gewisser anti-religiöser sozialistischer Bestrebungen national-jüdisch werden.“315 Hauptgrund für die Einbeziehung der Zionisten seitens der deutschen Aguda war wohl der, dass, wie bereits bei der Schule in Kaunas deutlich geworden war, der nationaljüdische Gedanke unter den litauischen Juden weitverbreitet war. Eisemann konnte für sein Vorhaben auch die Zustimmung prominenter Wilnaer Juden erlangen, darunter von Rabbiner Jitschak Rubinstein (1880 – 1945) dem Mizrachi-Führer, und Schimschon Rosenbaum (1859 – 1934), dem Führer der zionistischen Bewegung in Litauen. Noch bevor 312 313 314 315

Vgl. Breuer, Rabanim, 135. Vgl. Breuer, Rabanim, 134 – 135. Vgl. CZA, Z3/132. Brief Hermann Strucks an Arthur Hantke, 7. 3. 1918. CZA, Z3/132.

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310 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert die Spendensammlung offiziell im Juni 1918 begann, waren bereits 200 000 Mark für das Schulprojekt zusammengekommen. Nun entstanden allerdings gewisse Unstimmigkeiten. Die Zionisten in Berlin und Wilna waren plötzlich der Meinung, dass die Gründung des Gymnasiums in Wilna den Einfluss der Orthodoxie nur vergrößern würde, da der Lehrplan „allzu religiös“ sei. Daher verweigerte beispielsweise Hantke seine Unterschrift unter den Spendenaufruf, während andere bedeutende Persönlichkeiten außerhalb der Trennungsorthodoxie, darunter Zionisten und Orthodoxe, die normalerweise gegen die Freie Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums und die Agudat Israel eingestellt waren, den Appell unterzeichneten. Eisemann, der offenbar einen Bruch mit der Zionistischen Vereinigung für Deutschland in dieser Angelegenheit vermeiden wollte, ließ schließlich Hantke wissen, dass die Schule von keinen äußeren Einflüssen abhängig sein, sondern von einem örtlichen Rat geleitet werde, zu dem auch Rosenbaum gehören sollte. Die Unterrichtssprache werde Hebräisch sein, was sicherlich auch ein Zugeständnis an die Zionisten war. Eisemann bestand nur darauf, dass die Lehrkräfte Schomrei Mitsvot, also religiös observante Juden waren. Nachdem sich Rosenbaum wie auch Rubinstein gegenüber Hantke für die Gründung der Einrichtung ausgesprochen hatten, erklärte sich der Vorsitzende der Zionistischen Vereinigung für Deutschland auch im Namen seiner Organisation ebenfalls einverstanden. Dabei soll Rosenbaum zu Hantke gesagt haben: „,Sehr gut, dass das Gymnasium in unseren Händen sein wird, und so wird es auch sein.‘“316 Diese Äußerung zeigt, dass das Projekt eines jüdischen Gymnasiums in Wilna keineswegs frei war von Parteiinteressen. Schwere Konflikte blieben aber aus. So hatte die Jüdische Rundschau, das Organ der deutschen Zionisten, das die Tätigkeit Emanuel Carlebachs und Kohns in Warschau immer wieder scharf attackiert hatte, offensichtlich kein Problem damit, dass die Gründung des Wilnaer Gymnasiums „in die Hände des jetzigen Leiters des Kownoer Realgymnasiums, Oberlehrer Dr. Josef Carlebach“,317 gelegt werden sollte. Als schließlich im folgenden Jahr in Wilna ein hebräisches Gymnasium eröffnet wurde, hatte es eine eindeutig zionistische Orientierung, wobei der deutsche Rabbiner wie auch die Agudat Israel mit dieser Gründung nichts mehr zu tun hatten.318 Sieht man davon ab, dass die Schülerschaft des Realgymnasiums in Kaunas sehr nationaljüdisch eingestellt war, was den Lehren Hirschs völlig widersprach, so ist das Tora im derech erets-Ideal durchaus verwirklicht worden. Es wurden sowohl säkulare wie auch religiöse Gegenstände unterrichtet, die als wahre Umsetzung von Tora im derech erets offenbar auch miteinander verbunden wurden. Wenn aber Gronemann erklärt, Carlebach habe es „glänzend“ verstanden, „seine Schüler unter Berücksichtigung ihrer Eigenart in die 316 Zu Vorangegangenem vgl. Breuer, Rabanim, 136 – 137, Zitat, 137. 317 Vom jüdischen Schulwerk in Litauen, in: Jüdische Rundschau 25, 21. 6. 1918, 193. 318 Zur Eröffnung vgl. Jüdische Rundschau 71, 7. 10. 1919, 552.

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Kultur des Westens einzuführen“,319 dann ist dies zwar ein beachtliches Lob, es greift jedoch zu kurz. Abgesehen von den naturwissenschaftlichen Fächern entsprach der im Realgymnasium gelehrte derech erets nicht einfach einer allgemeinen Profanbildung, sondern es handelte sich hierbei entschieden um die Vermittlung deutscher Kulturgüter, was keineswegs nur an der Unterrichtssprache lag. So erfahren wir aus einem Inspektionsbericht des KfdO von 1916, dass die Zöglinge zum Beispiel im Literaturunterricht bei der Interpretation eines Gedichts genau erklären konnten, „welches die Erbämter im alten deutschen Reiche waren“, und auch Goethes Beschreibung der Kaiserkrönung kannten.320 Gerade Carlebach hat offenbar, wie aus den Erinnerungen eines seiner Schüler hervorgeht, intensiv die Klassiker der deutschen Literatur – Lessing, Goethe und Schiller – durchgenommen und von seinen Zöglingen, die zunächst nur Grundkenntnisse des Deutschen hatten, auch eine zeitaufwendige häusliche Lektürevorbereitung verlangt. Dass er dabei aber das Tora im derech erets-Ideal in dem Sinne, wie es Hirsch verstanden hatte, keineswegs aus den Augen verlor, zeigt das folgende Zitat von Joseph Achai (1898 – 1988), einem ehemaligen Schüler am Realgymnasium in Kaunas: „,Joseph Carlebach liebte die deutsche Literatur ; für fast alles jedoch fand er einen ursprünglichen und beweisbaren Gedankenansatz aus Bibel und Talmud.‘“321 Der Wille, das Tora im derech erets-Ideal mit besonderer Betonung der deutschen Kultur zu verbreiten, kam im Übrigen auch bei Deutschländer, der zeitweise ebenfalls am „Carlebach-Gymnasium“ unterrichtet hatte, zum Ausdruck. Im Kriegsjahr 1918 gab er für das Gebiet des Oberbefehlshabers Ost unter dem Titel Westöstliche Dichterklänge ein jüdisches Lesebuch heraus, das neben jüdischen Quellenauszügen vor allem auch Ausschnitte aus deutschen und anderen Klassikern mit jüdischer Thematik enthielt.322 Im Vorwort äußerte der orthodoxe Pädagoge den Wunsch, dass sein Werk „in Schule und Haus, hier im Osten wie in der Heimat seinen Zweck erfülle, die Liebe zum väterlichen Erbe stärke und Interesse für deutsche Dichtung wecke“.323 Die Hoffnungen orthodoxer deutscher Juden wie Rosenak, Carlebach und Deutschländer, dass sich das Tora im derech erets-Ideal in einer eindeutig deutschen Ausprägung im Realgymnasium in Kaunas etablieren werde, wurden jedoch schwer enttäuscht. Dies hatte zum einen mit dem militärischen Zusammenbruch Deutschlands und der Entstehung eines unabhängigen li319 Gronemann, Hawdoloh, 194. 320 Jüdische Schulen in Oberost [Bericht weist nur Jahreszahl 1916 auf und keinen Namen]. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. 321 Zitiert nach Gillis-Carlebach, Ost, 33. 322 Hierzu gehörten beispielsweise Hebbel, Herder, Rückert oder auch Lord Byron. Für Deutschländers Toleranz sprach, dass er auch Ausschnitte aus Martin Bubers oder Heinrich Heines Werk in sein Lesebuch miteinbezog. 323 Deutschländer (Hg.), Dichterklänge, V–VI. An anderer Stelle des Vorworts spricht sich Deutschländer nochmals in aller Deutlichkeit für das Tora im derech erets-Ideal aus. Deutschländer (Hg.), Dichterklänge, IV.

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312 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert tauischen Staates, zum anderen vor allem aber auch mit der bereits ausführlich geschilderten Orientierung der Mehrheit der Schülerschaft zu tun. Carlebach und Deutschländer setzten nach dem Ende des Krieges ihre Tätigkeit als Direktor und Lehrer am Realgymnasium eine Zeit lang fort und konnten noch das erste Abitur, das auch von der litauischen Regierung anerkannt wurde, abnehmen.324 Schon im März 1919 verließ Deutschländer jedoch die Lehranstalt, da er zum Leiter des jüdischen Erziehungswesens im litauischen Kultusministerium ernannt worden war.325 Ein Jahr später wechselte Carlebach von Kaunas nach Lübeck, um dort das seit dem Tod seines Vaters vakante Rabbinat zu übernehmen. Nachfolger Carlebachs als Schuldirektor wurde der orthodoxe deutsche Pädagoge Nachman Schlesinger, der bereits als Lehrer am Realgymnasium tätig war und durch seine Qualifikation als wissenschaftlicher Oberlehrer und ehemaliger Leiter der Tachkemonischule in Jaffa (1909 – 1911) beste Voraussetzungen für seine neue Aufgabe vorweisen konnte.326 Carlebach hatte zwar den Forderungen seiner Schüler und den neuen politischen Gegebenheiten nach Kriegsende Rechnung getragen, indem an Stelle des Deutschen das Hebräische als Unterrichtssprache eingeführt wurde,327 ein grundsätzlicher Kurswechsel, etwa zum Zionismus hin, war damit allerdings nicht beabsichtigt. Noch in der letzten Sitzung vor seiner Abreise hatte der deutsche Rabbiner dem Schulvorstand das Versprechen abgerungen, „dass der Geist der bisherigen Führung weiter in der Schule herrschen soll“. Wie Carlebach jedoch von Deutschländer erfahren musste, hatte derselbe Vorstand entgegen der Zusicherung den neuen Direktor mit dem Hinweis begrüßt, die Schule werde nun „einen ganz neuen Kurs“ einschlagen.328 Dem offensichtlich desillusionierten Schlesinger schrieb Carlebach einen tröstlichen Brief, in dem er darauf hinwies, dass sich „Parteischlagwörter […] breiter [machen], als die wirklichen tieferliegenden Bedürfnisse und Strebungen, und da den Menschen des Ostens jede Disziplin fehlt, so zeigen sie sich schlimmer, als sie wirklich sind. In den meisten Punkten sind dort die Verhältnisse genau umgekehrt wie bei uns im geleckten Europa, wo nach Aussen hin alles sehr ansprechend sich gibt und das Hässliche tief unter der Oberfläche schlummert. Dort ist es umgekehrt.“329 Auch wenn Carlebach den osteuropäischen Juden im Kern einen positiven Charakter attestierte und daher eine gewisse Gelassenheit an den Tag legte, so 324 Vgl. J. Carlebach, Chederprozess, 1057. Im Frühjahr 1919 war dem Gymnasium vom litauischen Bildungsminister die Rechte einer Vollanstalt und das Recht zur Abnahme der Abiturprüfung verliehen worden. Vgl. Der Israelit 13, 3. 4. 1919, 4. 325 Vgl. Der Israelit 13, 3. 4. 1919, 4. 326 Vgl. Auerbach, Schlesinger, 97. 327 Vgl. Ben-Efrim, studentnschaft, 370. 328 Brief J. Carlebachs an Kalvariski, 30. 4. 1920. Zitiert nach J. Carlebach, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, 118. 329 Brief J. Carlebachs an Schlesinger, 30. 4. 1920. Zitiert nach J. Carlebach, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, 116.

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war er doch über die Entwicklung der von ihm aufgebauten Schule sehr besorgt. Noch am selben Tag schrieb er an einen Vertrauten im Vorstand des Gymnasiums in Kaunas. Da er von der Schule „nichts Günstiges“ höre, forderte er ihn auf, im Vorstand „entschieden“ darauf zu dringen, „dass der religiöse Charakter der Schule unangetastet bleibt“. Er meinte, es wäre doch „sehr schrecklich, wenn alle dort geleistete Arbeit umsonst sein würde“.330 Seine Bemühungen blieben aber vergeblich. Das hebräische Gymnasium in Kaunas, das auch in der Zwischenkriegszeit im Volksmund als „CarlebachGymnasium“ bezeichnet wurde, war, wie Gronemann 1924 schrieb, „eine durch und durch hebraistisch-nationaljüdische Institution und die eigentliche Pflegestätte der zionistischen Idee geworden“.331 Auf der Ebene dieser Lehranstalt war also der beabsichtigte Transfer des deutsch-orthodoxen Prinzips der Tora im derech erets gescheitert. Und doch kann von einem grundsätzlichen Misserfolg in dieser Beziehung keine Rede sein. Mag das „Carlebach-Gymnasium“ entgegen der Intention seiner Gründer auch in zionistisches Fahrwasser geraten sein, so hatte es doch eine erhebliche Signalwirkung für die traditionsorientierten Juden Kaunas’ und Litauens gehabt: Die praktische Umsetzung des Tora im derech eretsIdeals an Ort und Stelle hatte die (nichtzionistischen) traditionsorientierten Autoritäten Litauens nicht nur für diese Form der Antwort auf die Moderne, sondern auch für orthodoxe deutsche Juden als kulturelle Mittler empfänglich gemacht. In der Folgezeit sollten (neo-)orthodoxe Rabbiner und Pädagogen wie Joseph Carlebach, Leo Deutschländer, Nachman Schlesinger, David Carlebach (1899 – 1952) und andere entscheidend am Aufbau eines orthodoxen Schulwesens im unabhängigen Litauen mitwirken, wobei der Versuch einer Versöhnung von Tradition und Moderne die wesentliche Neuerung war. Am Beginn des Prozesses von „Bringing Torah Im Derech Eretz to Lithuania“, wie Shlomo Carlebach das entsprechende Kapitel in der Biographie seines Vaters Joseph genannt hat,332 stand aber die „Kultur-Revolution“ in Form des Realgymnasiums in Kaunas.

Die Professionalisierung des Lehrberufs und der Aufbau eines orthodoxen Schulwesens in Litauen Nachdem bereits in Warschau unter der Leitung Emanuel Carlebachs Fortbildungskurse für die Lehrer der Chadarim eingeführt worden waren, wurde 330 Brief J. Carlebachs an I., 30. 4. 1920. Zitiert nach J. Carlebach, Ausgewählte Schriften, Bd. 4, 117. 331 Gronemann, Hawdoloh, 194. Vgl. hierzu auch Alexander Carlebachs Äußerung, dass nach Joseph Carlebachs Weggang aus Kaunas die Schule mehr denn je zu einer Hochburg der säkularen Haskala und des Nationalismus geworden sei. Vgl. A. Carlebach, Adass, 124. Vgl. auch J. Carlebach, Jüdische Gymnasien des Ostens, in: Israelitisches Familienblatt 10, 8. 3. 1934, 17. 332 Vgl. S. Carlebach, Ish.

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314 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert diese Maßnahme auch im Bereich von Oberost aufgegriffen. Anfang September 1917 berichtete Hermann Struck, Leiter des Jüdischen Dezernats in Oberost, bei einer Sitzung deutsch-jüdischer Organisationen, dass er den Leiter der Kultusabteilung (Kirchen- und Schulabteilung) bei Oberost habe überzeugen können, Fortbildungskurse für Chederlehrer einzuführen.333 Es sollte jedoch noch ein weiteres halbes Jahr dauern, bis die deutsche Militärverwaltung in Litauen auf Befehl des Oberbefehlshabers Ost die Einrichtung eines auf drei Monate berechneten Melamdim-Fortbildungskurses ankündigte und um Mitteilung geeigneter Kandidaten bat. Wie man der Bekanntmachung entnehmen konnte, war es „Zweck des Kursus […], die Teilnehmer in enger Anlehnung an die Praxis unter Hintansetzung von theoretischen Erörterungen bekanntzumachen mit den Aufgaben der Schule als geistiger und körperlicher Erziehungsanstalt, mit der zweckmäßigen Einrichtung und Ausstattung der Schulräume, der Aufstellung der Lehr- und Stundenpläne, sowie überhaupt einem geordneten Lehrverfahren. Zugleich sind die Kursisten in die Kenntnis der deutschen Sprache einzuführen und auch für die Erteilung des Deutsch- und Rechenunterrichtes vorzubereiten.“334 Weiter hieß es in der Bekanntmachung, als Kursleiter sei „ein reichsdeutscher jüdischer Oberlehrer“ vorgesehen. Darüber hinaus sollten die „Bewerber“ – wohl um die Maßnahme nicht von Beginn an scheitern zu lassen – ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass bei der Durchführung des Fortbildungskurses die religiösen Vorschriften der Juden in umfassender Weise beachtet würden. Zum ersten Leiter dieses Kurses wurde Deutschländer ernannt, der sich hierfür nicht nur durch seine pädagogischen Kenntnisse, sondern auch durch sein umfassendes jüdisches Wissen und seine religiöse Observanz qualifizierte. Einzige Quelle für den Ablauf des Kurses ist Gronemanns Hawdoloh und Zapfenstreich, wo in unnachahmlicher satirischer Art und Weise folgende Details dargestellt werden: Noch vor Beginn der Fortbildung wurde Deutschländer vom Schulrat instruiert, er dürfe „,bei diesen Leuten vor allen Dingen nicht zu viel voraussetzen‘“. Sofern er biblische Geschichte unterrichte, dürfe er nicht die ganze Geschichte Abrahams innerhalb einer Stunde behandeln, sondern in dieser Zeit allenfalls die „,Begegnung Abrahams mit den Engeln‘“. Angesichts dieser Instruktion wurde es Deutschländer, wie Gronemann sagte, „recht schwül“. Der orthodoxe deutsche Pädagoge ließ sich jedoch zunächst nicht beirren. Der Kurs, für den sich zahlreiche Personen angemeldet hatten, lief an. Darf man Gronemann Glauben schenken, so hielt Deutschländer tatsächlich vor großem Publikum einen Vortrag über Abraham und die Engel. Im Anschluss an seine Ausführungen wies er darauf hin, dass die Zuhörer noch die Teilnahmegebühr für den Kurs zu entrichten hätten und 333 Vgl. LBI, JMB, „Komitee für den Osten“, MF 13, Reel 1, o. P. 334 Bekanntmachung des Chefs der Militärverwaltung Litauens, 6. 3. 1918. Archiv des Joseph Carlebach-Instituts, ohne Signatur.

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dies am besten gleich erledigten. Dabei stellte sich, so Gronemann, heraus, dass die meisten Anwesenden eigentlich keine Melamdim, sondern Händler waren, die nur auf diese Weise den dringend benötigten „Reiseschein“ nach Kaunas erhalten konnten. Nachdem sie dort ihre Handelsgeschäfte abgeschlossen hatten, wollten sie verständlicherweise wieder abreisen und nicht weiterhin am Kurs teilnehmen, geschweige denn die Gebühr bezahlen. Infolgedessen wurde die vermeintliche Melamdim-Fortbildung vorzeitig abgebrochen und auch nicht mehr fortgesetzt.335 Ob sich dies tatsächlich so zugetragen hat, wie es Gronemann auf humorige Art schildert, lässt sich nicht feststellen. Gewisse Zweifel sind jedoch angebracht. In der Bekanntmachung des Chefs der Militärverwaltung war vom Unterricht in religiösen Gegenständen keine Rede, sondern es handelte sich in erster Linie um die Vermittlung von elementaren Kenntnissen des Schulwesens und von profanem Wissen. Dabei sollte vor allem auch die deutsche Sprache im Vordergrund stehen. Wenn man bedenkt, dass sich in Warschau und Białystok-Grodno die Melamdim-Fortbildungskurse, insbesondere die Deutschstunden, einer regen Beteiligung erfreuten,336 so wäre es sehr verwunderlich, wenn dies in Kaunas ganz anders gewesen wäre. Auf jeden Fall sollte Deutschländer schon bald unter veränderten Bedingungen erneut Leiter eines Lehrerkurses werden, an dem mit Joseph Carlebach und Siegbert Halberstadt noch weitere orthodoxe deutsche Juden als Dozenten beteiligt waren. Im Kriegsjahr 1915 hielten sich etwa 300 Jeschiva-Bachurim, darunter sowohl Sympathisanten als auch Gegner des Zionismus, in Wilna auf, die schon bald unter Führung des Rabbiners Jitschak Schmuelovits eine Vereinigung namens Tseirei Mizrachi (eigentlich: Jugend des geistigen Zentrums) gründeten. Möglicherweise in Abkehr von einer prozionistischen Ausrichtung ging aus diesen Kreisen die Vereinigung Beit Israel (Haus Israels) hervor, die sich vor allem zum Ziel gesetzt hatte, die traditionellen religiösen Werte durch gründliches Studium der Quellen zu bewahren. Daraus entwickelte sich schließlich die Tseirei Israel (Jugend Israels), an deren Gründung zwar kein orthodoxer deutscher Jude beteiligt war, zu deren aktiven Mitgliedern aber schon bald Deutschländer gehören sollte.337 Als Tseirei Israel im September 1919 in der künftigen litauischen Hauptstadt Kaunas eine Konferenz abhielt, war das Erziehungsproblem Hauptge335 Gronemann, Hawdoloh, 157 – 158. 336 Vgl. Breuer, Rabanim, 132, FN 52; Im Bericht der Militärverwaltung Białystok-Grodno für die Zeit vom 1. Oktober 1916 bis April 1917 wurden die jüdischen Lehrer für ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dem deutschen Bildungsmodell ausdrücklich gelobt, während „sich neuerdings bei einer Anzahl polnischer Lehrkräfte in den Städten Białystok und Grodno eine kaum noch verhüllte Abneigung gegen deutsche Schulzucht und Unterrichtsmethode als ein offenbarer Ausfluß von Strömungen im benachbarten Generalgouvernement Warschau bemerkbar“ gemacht habe. Verwaltungsbericht, 35 – 36. 337 Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 353 – 355.

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316 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert genstand der Verhandlungen. Dabei wurde der deutliche Wunsch nach Gründung moderner orthodoxer Schulen laut, wobei das von Carlebach geleitete Realgymnasium sicherlich als Vorbild diente. Da man aber gleichzeitig eingestehen musste, dass der Mangel an geeigneten Lehrkräften sehr groß war und dringend behoben werden musste, wurde beschlossen, zunächst einen einjährigen Lehrerkurs abzuhalten, um Jeschiva-Bachurim auf ihre künftige Aufgabe vorzubereiten. Zum Leiter dieses Kurses wurde Deutschländer berufen, der auch Psychologie und Pädagogik unterrichtete, während Joseph Carlebach Geographie von Erets Israel und Siegbert Halberstadt Biologie lehrten. Den Unterricht in den jüdischen Gegenständen wie Tanach, Talmud oder auch Hebräisch erteilten hingegen litauische Juden.338 Wie schon beim Realgymnasium in Kaunas wurde hier ebenfalls eine „Arbeitsteilung“ zwischen traditionsorientierten deutschen und litauischen Juden vorgenommen: während Letztere für Tora im weitesten Sinne zuständig waren, oblag den Erstgenannten der Unterricht im derech erets. Jeder verlegte sich demnach auf seine „Stärken“, womit nicht zuletzt auch mögliche Konflikte vermieden werden konnten. Im April 1921 legten 26 Jeschiva-Zöglinge vor Vertretern der litauischen Regierung ihre Abschlussprüfung in dem von Deutschländer geleiteten Lehrerkurs ab und erhielten dafür ein Diplom.339 Dieser Kurs diente letztlich als Nucleus nicht nur für ein orthodoxes Lehrerseminar, sondern auch für die Herausbildung eines auf traditionell-religiöser Grundlage beruhenden Schulwesens in Litauen. Im späten Frühjahr 1920 wurde aus Kaunas berichtet, dass dort ein „jüdischer Verein für Erziehung und Kultur“ unter dem Namen Javne gegründet worden war, an dessen Spitze neben Oberrabbiner Schapiro, den Rabbinern von Aleksotas und Vilijampole, dem Vizeminister für Handel und Industrie Rachmielewicz sowie S. Szereszewski auch die beiden orthodoxen deutschen Juden Deutschländer und Schlesinger standen. Schlesinger, der zu dieser Zeit bereits die Leitung des Realgymnasiums von Carlebach übernommen hatte, amtierte als „Leiter“ des Schulwesens,340 womit die Bedeutung der von Carlebach gegründeten Schule als Prototyp des Javne-Schulwesens hervorgehoben wurde. Carlebach gehörte demnach nicht zu den offiziellen Mitbegründern von Javne, da er bereits das Rabbinat in Lübeck übernommen hatte. Knapp zehn Jahre später sollte aber Deutschländer in seiner Bestandsaufnahme des orthodoxen Schulwesens in Europa erklären, dass Javne 1919 – also ein Jahr früher – von Oberrabbiner Schapiro, ihm selbst und Carlebach ge-

338 Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 356. Die Behauptung von Joseph Carlebachs Tochter, wonach sich ihr Vater „für intensive Lehrerkurse in einem, von ihm organisierten, religiösen Lehrerseminar ,Jawne‘“ (J. Carlebach, Alltag, 18) eingesetzt habe, ist unrichtig. Das Seminar entstand erst später, der Lehrerkurs wurde von Deutschländer geleitet. 339 Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 356; Das jüdische Lehrerseminar in Litauen. Nach einem Bericht seines Leiters F. Getz, in: Jeschurun 9 (1922), Heft 1/2, 69. 340 Der Israelit 25, 24. 6. 1920, 5.

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Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland

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gründet worden sei.341 Dies ist allerdings nicht korrekt, da das litauische Bildungsministerium Javne erst am 8. November 1920 offiziell bestätigte.342 Auch wenn Carlebach nicht persönlich an der Gründung von Javne beteiligt war, so war er dies doch jedenfalls ideell durch die Leitung des Realgymnasiums und seine Dozententätigkeit im Lehrerkurs der Tseirei Israel. In der Folgezeit blieben er und sein Freund Deutschländer, der seit März 1919 Referent für das jüdische Schulwesen im litauischen Kultusministerium war, eng mit der Entwicklung von Javne verbunden. Wie schon gesagt, wurde nach Beendigung des Lehrerkurses von Tseirei Israel in Kaunas das Javne-Lehrerseminar gegründet. Erster Leiter dieses Seminars war F. Getz, der nach Deutschländers Weggang aus Litauen bereits die Leitung des Lehrerkurses übernommen hatte. 1923 wurde die Javne-Lehrerausbildungsanstalt von Kaunas nach Telsˇiai (Telz oder Telschi) verlegt und direkt dem Vorsteher der dortigen Jeschiva unterstellt, um den religiösen Erziehungsgeist im Seminar zu stärken. Leiter wurde nun Jitschak Raphael Holzberg (1885 – 1981), der später als Jitschak Raphael Etsion zum Inspektor der staatlichen religiösen Schulen in Israel aufstieg und 1965 dem JavneSchulwesen im zweiten Band des jiddischsprachigen Jizkor-Buches über Litauen eine Darstellung widmen sollte. Das auf vier Jahre angelegte JavneLehrerseminar war das einzige für jüdische Lehrer in Litauen, da das zionistisch-hebräischsprachige Schulnetz Tarbut nur zweijährige pädagogische Kurse abhielt und das bundistisch-jiddischsprachige Erziehungswesen Kultur-Lige keinerlei Lehrerausbildung betrieb. Aufnahmeberechtigt für das Javne-Seminar waren Schüler, die vier Klassen Gymnasium absolviert oder ein Eintrittsexamen bestanden hatten. Da die überwiegende Mehrheit der Seminarschüler Jeschiva-Bachurim waren, wurde eine Vorbereitungsklasse für die Aufnahmeprüfung eingerichtet. Der Lehrplan umfasste täglich vormittags drei Stunden Talmud und nachmittags Tanach, Hebräisch, allgemeine Fächer (entsprechend dem Curriculum eines Realgymnasiums), Pädagogik, Methodik, Psychologie und Geschichte der Pädagogik. Zusätzlich zur Landessprache Litauisch wurde Deutsch als Fremdsprache wie in den übrigen litauischen Gymnasien unterrichtet.343 Auch wenn zumindest in der Anfangsphase noch erhebliche Defizite der Lehrerkandidaten bei den säkularen Kenntnissen zu beklagen waren, so war doch im Lehrplan des Seminars zweifellos das Tora im derech erets-Prinzip angewandt worden.344 Daran hatten orthodoxe deutsche 341 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 57. In einem Bericht des Israelit vom August 1935 wurde erklärt, dass Carlebach und Deutschländer gemeinsam die „Grundlage“ für Javne gelegt hätten. Ob damit tatsächlich die Gründung gemeint war oder nur die „Vorarbeit“ im Rahmen des Realgymnasiums in Kaunas muss dahingestellt bleiben. Vgl. Der Israelit 33, 15. 8. 1935, 3. 342 Auch Holzberg, der mit Javnes Entwicklung persönlich verbunden war, gibt 1920 als Gründungsjahr der Organisation an. Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 357. 343 Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 358 – 360. 344 In seinem 1922 veröffentlichten Bericht über das Javne-Lehrerseminar hatte der Leiter F. Getz auf die unzureichende Unterrichtszeit in den profanen Fächern hingewiesen und diesbezüglich

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318 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Juden wie Carlebach, Deutschländer, Schlesinger und Halberstadt sicher bedeutenden Anteil. Sie hatten nicht nur ihre profanen Kenntnisse, vor allem im Bereich der Pädagogik und Didaktik, zur Verfügung gestellt, sondern auch die Praktikabilität der Tora im derech erets vorgelebt und nicht zuletzt damit bestimmte Vorbehalte abbauen können.345 Religiöse Observanz und Moderne schlossen sich, das hatten sie demonstriert, keineswegs aus. Insofern ist Mordechai Breuer darin zuzustimmen, dass ein gewisser Wandel des orthodoxen Erziehungssystems in Litauen gerade auch auf die Initiative der deutschen Orthodoxie zurückzuführen war. Diese hatte bei der Entstehung des Javne-Erziehungssystems Geburtshilfe geleistet.346 Zu ergänzen wäre Breuers Diktum noch dahingehend, dass orthodoxe deutsche Juden, insbesondere Rabbiner und Rabbinatskandidaten, auch später in bedeutendem Maße an der Ausgestaltung des Javne-Schulwesens mitgewirkt haben. Allerdings darf man nicht außer Acht lassen, dass es noch andere Faktoren gab, die zu der erwähnten Entwicklung geführt hatten. Zum einen war bei traditionsorientierten Juden Litauens schon während des Krieges zunehmend der Gedanke aufgekommen, dass eine Reform des Erziehungswesens notwendig sei.347 Zum anderen war man aber grundsätzlich gezwungen, die gesetzlichen Mindestanforderungen an den Profanunterricht einzuhalten.348 Damit sicherte man sich die staatliche Anerkennung des Schulwesens. So wurden die Abschlussprüfungen am Javne-Seminar in Anwesenheit eines Beamten des Bildungsministeriums abgenommen und die Lehrerdiplome von der Regierung anerkannt. Das Abgangszeugnis berechtigte nicht nur zur Erteilung von Unterricht in einer staatlichen jüdischen Volksschule und zu deren Leitung, sondern auch zur Immatrikulation an einer Universität.349 Bereits im Schuljahr 1920/21, nur wenige Monate nach der Gründung, verfügte Javne über 30 Elementarschulen, an denen 2 362 Schüler unterrichtet wurden,350 während das zionistische Schulnetz Tarbut 46 solcher Anstalten mit 3 337 Schülern unterhielt.351 Wie sehr die Javne-Lehranstalten, an denen re-

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Abhilfe gefordert. Vgl. Das jüdische Lehrerseminar in Litauen. Nach einem Bericht seines Leiters F. Getz, in: Jeschurun 9 (1922), Heft 1/2, 70. Wie ernst es dem orthodoxen deutschen Juden Leo Deutschländer mit der Verbreitung des derech erets unter den litauischen Juden war, ist auch daran zu erkennen, dass er einer von fünf Gründern eines Vereines zur Verbreitung der Hochschulbildung unter den Juden in Litauen war, der sich im März 1920 offiziell konstituiert hatte. Vgl. LCVA, 402, 4, 97, 1. Vgl. Breuer, Rabanim, 150. So hatte angeblich der Telsˇiaier Rabbiner Bloch, einer der führenden Repräsentanten Javnes, einige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Erster Verständnis für die Notwendigkeit einer modernen religiösen Erziehung sowohl von Jungen als auch von Mädchen geäußert. Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 361. Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 57. Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 360. Freilich hatte die Mehrheit der Javne-Schulen bereits zuvor bestanden und war nach Gründung der Organisation dieser nur unterstellt worden. Zudem gab es noch 68 Pschara-Schulen, an denen 2 850 Schüler unterrichtet wurden. Diese

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ligiöser und säkularer Unterricht weitgehend auf Hebräisch erteilt wurde, auf Zustimmung in der Bevölkerung stießen, zeigt eine Äußerung des JavneSeminarleiters Getz von Anfang 1922, wonach bei ihm noch 80 weitere Lehrkräfte angefordert worden waren.352 Tatsächlich wies die Entwicklung ungebrochen nach oben. Sieben Jahre später hatte sich das Javne-Volksschulwesen mit 70 Anstalten, 6 500 Schülern und 280 Lehrern mehr als verdoppelt.353 Dabei ist zu beachten, dass Javne im Gegensatz zum traditionellen jüdischen Schulwesen der Vergangenheit auch Mädchen eine entsprechende Elementarschulbildung zukommen ließ, die neben den allgemeinen Fächern die Gebete, die Bibel mit Raschis Kommentar und die jüdischen Religionsgesetze umfasste. Darüber hinaus bildete Javne zeitweise speziell Lehrerinnen für diese Aufgabe aus.354 Allein mit dem Aufbau eines Volksschulwesens auf religiöser Grundlage war es jedoch nicht getan. Bereits Anfang 1922 hatte Getz darauf hingewiesen, dass der Kampf Javnes nicht nur den Elementarschulen von Tarbut und Kultur-Lige gelten könne, sondern folgerichtig auch ihren Gymnasien. Wie der Leiter des Javne-Lehrerseminars erklärte, trugen diese jüdischen Gymnasien ihren Namen zu Unrecht, da sie weder jüdisch noch Gymnasien seien. Doch klinge schon der Begriff Gymnasium wie ein „Zauberwort“, denn viele jüdische Eltern in Litauen wollten ihren Kindern eine Mittelschulbildung ermöglichen. Infolgedessen sollte auch Javne als Gegenmaßnahme gegen die als irreligiös betrachteten Gymnasien der beiden anderen jüdischen Erziehungsorganisationen „technische Mittelschulen“ ins Leben rufen. Dies dürfte aber, so Getz, noch einige Zeit dauern, da das Lehrerseminar erst noch Lehrkräfte für diese Aufgabe heranbilden müsse.355 Trotz des akuten Mangels an geeigneten Lehrern wurde bereits 1921 (ungefähr zu der Zeit, als Getz seinen Bericht über das Seminar verfasste) in Telsˇiai das erste Javne-Gymnasium für Mädchen gegründet. Daran wird erneut deutlich, wie ernst Javne in Abkehr von früheren Zeiten die formale Erziehung des weiblichen Geschlechts nahm. Gerade auch daran dürfte Carlebach, der, wie erwähnt, am Realgymnasium in Kaunas nach einiger Zeit eine eigene Mädchenabteilung unterhalten hatte, wesentlichen Anteil gehabt

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sogenannten Kompromissschulen vertraten keine bestimmte Richtung und verloren deshalb im Laufe der Zeit auf Grund einer zunehmenden Politisierung und Ideologisierung stark an Boden. Vgl. Levin, Litvaks, 147. Schulman gibt zwar dieselben Schulzahlen an, allerdings unterscheiden sich die Schülerzahlen: Javne 3 360 Schüler, Tarbut 4 339, Kultur-Lige 1 754 und die Pschara-Schulen 4 120. Vgl. Schulman, schuln, 337. Vgl. Das jüdische Lehrerseminar in Litauen. Nach einem Bericht seines Leiters F. Getz, in: Jeschurun 9 (1922), Heft 1/2, 69. Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 57. Zur Javne-Lehrerinnenausbildung vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 360 – 361; Deutschländer, Erziehungswerk, 58. Das jüdische Lehrerseminar in Litauen. Nach einem Bericht seines Leiters F. Getz, in: Jeschurun 9 (1922), Heft 1/2, 70 – 71.

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320 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert haben. Weitere Javne-Mädchengymnasien wurden 1925 in Kaunas und 1928 in Paneve˙zˇys gegründet. Ebenfalls 1928 wurde schließlich in Kaunas das erste und einzige Javne-Knabengymnasium Litauens eröffnet.356 Von den insgesamt 14 jüdischen Progymnasien und Gymnasien, die Anfang der 30er Jahre in Litauen existierten, unterhielt Javne somit vier, während das zionistisch orientierte Schulwesen Tarbut acht und die Jiddischisten zwei Anstalten betrieben.357 Wie Carlebach Jahre später schrieb, entsprachen die Javne-Gymnasien in ihrer Ausrichtung den höheren deutsch-jüdischen Schulen in Hamburg, Frankfurt, Köln, Berlin und Breslau, die sie sich zum Vorbild genommen hatten.358 Vor allem auch daran ist zu erkennen, in welchem Maße Javne eine Versöhnung von Tradition und Moderne nach deutschem Vorbild angestrebt hatte. Noch augenfälliger wird dies, wenn man bedenkt, dass Javne diese Gymnasien trotz des erheblichen Mangels an Lehrern mit höherer Schulbildung gegründet und sich nicht gescheut hatte, gerade in den Anfangsjahren traditionsorientierte Lehrer aus Deutschland an ihren Mittelschulen anzustellen.359 Diese deutsch-orthodoxen, akademisch gebildeten Lehrkräfte waren im Regelfall angehende Rabbiner, die an einer der litauischen Jeschivot studierten oder studiert hatten, um ihr talmudisches Wissen zu vervollkommnen.360 So hatte beispielsweise der 1899 in Klaipeda (Memel) geborene Dr. David Carlebach, Sohn von Emanuel, 1928 das Direktorat am JavneKnabengymnasium in Kaunas übernommen, das als deutlicher Hinweis auf das Tora im derech erets-Ideal Universalschule für Tora und Wissenschaft hieß. Zuvor, von 1924 bis 1927361, hatte er die berühmte Jeschiva in Slobodka/Vilijampole besucht, die seine beiden Onkel Leo Rosenak und Joseph Carlebach während des Ersten Weltkriegs tatkräftig unterstützt hatten.362 Weitere Bei356 Wie erwähnt, hatte das von Carlebach gegründete Realgymnasium auf Grund einer fundamentalen Änderung der Ausrichtung nie zu Javne gehört. 357 Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 361; Levin, Litvaks, 148. 358 Vgl. J. Carlebach, Jüdische Gymnasien des Ostens, in: Israelitisches Familienblatt 10, 8. 3. 1934, 17. 359 Wie aus einem Brief Deutschländers an Carlebach vom 26. 11. 1923 hervorgeht, hatte Javne schon zu dieser Zeit die Zentrale des Keren Ha-Tora in Wien ersucht, bei Maßnahmen zur Ausund Weiterbildung von Lehrern sowie bei der Beschaffung von Lehrmaterial behilflich zu sein. Vgl. Brief Deutschländers an J. Carlebach, 26. 11. 1923. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 414, o. P. 360 Zur Anstellung orthodoxer deutscher Juden als Lehrer an den Gymnasien vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 364. 361 Vgl. hierzu den auf Litauisch verfassten Lebenslauf David Carlebachs. LCVA, 391, 7, 894, 2. 362 Vgl. Der Israelit, Blätter 12, 31. 5. 1928, 4; Deutschländer, Erziehungswerk, 58; A. Carlebach, Adass, 122 – 124. Laut Holzberg, zunächst selbst Leiter des 1925 gegründeten Javne-Mädchengymnasiums in Kaunas, sei David Carlebach der Direktor dieses Gymnasiums gewesen und nicht der Javne-Mittelschule für Knaben, die erst 1928 eröffnet wurde. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 363. Aus den übrigen Quellen geht jedoch hervor, dass Carlebach der Leiter der Knabenschule war. Carlebach selbst hat in seinem bereits erwähnten Lebenslauf angegeben, dass er schon 1927 für Javne tätig gewesen sei. Möglicherweise war Carlebach an beiden Javne-Gymnasien in Kaunas als Direktor tätig. Bereits 1929 sollte aber Carlebach

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spiele sind Dr. Max Kober (1900 – 1987) und Dr. Fritz Elieser Bloch363 (1903 – 1979), die ebenfalls eine litauische Jeschiva besuchten, aber auch als Lehrer am Javne-Mädchengymnasium in Paneve˙zˇys tätig waren. Dass orthodoxe deutsche Rabbinatskandidaten an litauischen Jeschivot studierten und darüber hinaus als Lehrer säkularer Fächer an Javne-Gymnasien wirkten, zeigt anschaulich, wie sehr beide Seiten bereit waren, im Sinne einer Annäherung an Hirschs Tora im derech erets-Ideal voneinander zu lernen. Während orthodoxe deutsche Juden die Überlegenheit ihrer traditionsorientierten Glaubensgenossen in Litauen hinsichtlich der religiösen Gelehrsamkeit anerkannten und daher ihr talmudisches Wissen in den Jeschivot Litauens erweitern wollten, zollte die litauische Orthodoxie umgekehrt toratreuen deutschen Juden durch eine Anstellung an den Gymnasien Respekt bezüglich ihrer säkularen Kenntnisse. Wie sich schon während des Krieges bei der Fächerverteilung an Carlebachs Realgymnasium in Kaunas gezeigt hatte, war jede Seite jeweils für den Bereich zuständig, in dem sie nach beider Überzeugung überlegen war. Gerade diese Abgrenzung dürfte die zunehmende Akzeptanz des Tora im derech erets-Ideals im traditionsorientierten litauischen Judentum befördert haben. So hatte Deutschländer 1929 rückblickend berichtet, dass bei der Gründung des Keren Ha-Tora auf der ersten Kenessio Gedaulo der Agudat Israel 1923 die Autonomie der verschiedenen Landesorganisationen in Erziehungsfragen festgelegt wurde, da „die Gaonim [Talmud-Autoritäten] des Ostens mit vollem Recht in der Ueberpflanzung westlicher Erziehungsgrundsätze nach dem Osten eine schwere Gefahr erblickten“. Zwar lobte Deutschländer „die dank der segensreichen Arbeit vor allem von Samson Raphael Hirsch und von Israel Hildesheimer erzielten Fortschritte“ im Westen, er musste aber auch einräumen, dass die Masse der dortigen Juden diesen Bildungsansatz nicht übernommen hatte. Ungeachtet „aller Anerkennung des westlichen Systemes“ sei unter der westlichen Orthodoxie ein „Mangel an Thorawissen“ festzustellen, der eine allgemeine Übertragung ihres Systems auf das osteuropäische Judentum ausschließe. Insofern seien die „im Osten seitens der Keren Hathora tätigen westlich gebildeten Erzieher […] nur Exponenten der modernen pädagogischen Technik“.364 Dieses Urteil des Leiters des Keren Ha-Tora war allerdings etwas zu pauschal. Freilich vermittelten die orthodoxen deutschen Lehrer, gleichgültig, ob sie für Bet Jakob oder für Javne tätig waren, vor allem auch die modernen Litauen wieder verlassen, um das vakante Rabbinat in Köln zu übernehmen. Wie Rabbiner Wolf S. Jacobson in seinem Reisebericht aus Litauen Ende 1929 mitteilte, wartete das Knabengymnasium in Kaunas „sehnsüchtig auf den Nachfolger des von allen, Lehrern, Schülern und Eltern schmerzlich vermißten Dr. David Carlebach“. Der Israelit, Blätter 25, 24. 12. 1929, 2. 363 Nach dem Holocaust sollte Bloch Württembergischer Landesrabbiner werden und mehrere Jahre als Vorsitzender der Rabbinerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland fungieren. Vgl. hierzu Sauer/Hosseinzadeh, Leben, 275 – 279. 364 Deutschländer, Erziehungswerk, 52.

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322 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Errungenschaften der Pädagogik und Didaktik. Auf der anderen Seite gingen sie eindeutig darüber hinaus, da sie ganz allgemein profanes Wissen unterrichteten und die Schülerschaft dafür empfänglich stimmten. Deutschländer, der selbst erheblichen Anteil daran hatte, war dies zweifellos bestens bekannt. Seine zurückhaltende Formulierung dürfte demnach in erster Linie auf das Bestreben zurückzuführen sein, die deutsche Orthodoxie Hirsch’scher Prägung nicht dem Verdacht der kulturellen Hegemonialisierung des traditionellen osteuropäischen Judentums auszusetzen. Bereits 1924 hatte der orthodoxe Israelit berichtet, dass der ehemalige litauische Minister Simon (Schimschon) Rosenbaum, ein führender Repräsentant der zionistischen Bewegung in Litauen, „von einer fixen Idee besessen [sei], der Idee nämlich, daß das orthodoxe Frankfurt darauf ausgehe, das jüdische Litauen, speziell Kowno [Kaunas], geistig zu annektieren“.365 Von einer „geistigen Annexion“ konnte indessen keine Rede sein, da beide Seiten als Gebende und Nehmende auftraten. Dass aber die deutsche NeoOrthodoxie ungeachtet eines nicht zu bestreitenden Mangels an Tora-Wissen ihren traditionsorientierten Glaubensgenossen in Litauen den Tora im derech erets-Ansatz und eben nicht nur eine zeitgemäße Pädagogik als Antwort auf die Moderne vermitteln wollte und sollte, wurde bei der Mitte Februar 1927 in Litauen abgehaltenen Javne-Erziehungskonferenz deutlich, an der unter anderen auch die Repräsentanten der deutschen Orthodoxie Joseph Carlebach, Mei(e)r Hildesheimer und Leo Deutschländer als Referenten teilnahmen.366 Wie Der Israelit berichtete, bestand der „Zweck, der mit der Einladung der ausländischen Delegierten verbunden war, […] vornehmlich darin die Judenheit des Ostens mit dem Westen und den Methoden der westlichen Erziehungsbestrebungen vertraut zu machen“.367 In diesem Sinne hielt Deutschländer als Leiter des Keren Ha-Tora einen Vortrag, in dem er darauf hinwies, dass die Aufgabe des Tora-Fonds „besonders für Litauen darin besteht, mitzuwirken an der Schaffung der Synthese von jüdischer Eigenkultur und profaner Weltkultur und so die Brücke zwischen Ost und West zu schlagen“.368 Ebenso wie Deutschländer einer Übertragung des Tora im derech erets-Ideals nach Litauen in aller Klarheit vor den Delegierten des JavneKongresses das Wort redete, sprach sich auch Rabbiner Hildesheimer dafür aus. In seiner Rede zeichnete er zunächst die Entwicklung der deutschen 365 Die Phantasien eines Ministers, in: Der Israelit 26, 26. 6. 1924, 1. 366 Vgl. Der Israelit 8, 24. 2. 1927, 5. Welch enorme Bedeutung der Teilnahme Carlebachs an der Konferenz beigemessen wurde, zeigen zwei hebräische Briefe der Javne-Zentrale in Kaunas an den deutschen Rabbiner. Vgl. Briefe der Javne-Zentrale in Kaunas an J. Carlebach, 19. Kislev 5687 (= 25. 11. 1926) und 27. Kislev 5687 (= 3. 12. 1926). LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 413, o. P. 367 Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 2. In ganz ähnlicher Weise formulierte dies auch Rabbiner Botschko, der vierzehn Jahre zuvor Litauen verlassen hatte. Vgl. Botschko, Die Jabneh-Konferenz und das östliche Kulturproblem, in: Der Israelit, Blätter 7, 14. 4. 1927, 2. 368 Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 2.

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Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland

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Orthodoxie nach und veranschaulichte schließlich, wie Hirsch das Tora im derech erets-Prinzip erfolgreich als Abwehrkonzept eingesetzt habe, um die jüdische Jugend für die drohenden Gefahren von außen zu rüsten. Ausdrücklich erklärte Hildesheimer, der Westen möge in dieser Hinsicht dem Osten als Vorbild dienen, wobei er allerdings einem radikalen Kulturtransfer insofern eine Absage erteilte, als er empfahl, die besonderen osteuropäischjüdischen Gegebenheiten bei der Gründung der entsprechenden Schulen in ausreichendem Maße zu berücksichtigen.369 Nur Carlebach sprach sich auf den ersten Blick gegen Tora im derech erets aus, als er den „großen europäischen Kulturbankrott“ erwähnte, der eine Sehnsucht nach Rückgewinnung des alten Glaubens und der früheren Lebensweise ausgelöst habe. Überall sei heute der Ruf „Zurück zur Thora“ zu vernehmen, ein Appell, dem man volle Anerkennung zollen müsse.370 Wenn sich Carlebach, selbst ein ausgewiesener Vertreter von Tora im derech erets, in dieser Weise äußerte, hatte dies vor allem einen Grund. Er wollte den Zuhörern der litauischen Orthodoxie die Befürchtung nehmen, dass der von seinen beiden Mitstreitern Deutschländer und Hildesheimer angestrebte Transfer des Tora im derech erets-Prinzips nach Litauen, wie das deutsch-orthodoxe Beispiel eindringlich zeigte, zu Lasten des Tora-Studiums gehen werde. Dass Carlebach mit seiner Betonung der Rückbesinnung auf die Tora keineswegs dem derech erets oder dem Transfer des Hirsch’schen Prinzips eine Absage erteilt hatte, war nur wenige Monate später einem Bericht des Rabbiners über die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland zu entnehmen, in dem er insbesondere auch auf seine Reise in diese Staaten und den JavneKongress einging. Für Carlebach stand fest, dass das traditionsorientierte osteuropäische Judentum vor allem auf dem Gebiet der Erziehung „unsere Hilfe“ fordere, habe doch der „Name Samson Raphael Hirsch […] Klang bekommen in den dortigen Ländern“.371 Es werde, so der Hamburger Rabbiner, Hirsch mit Josua ben Gamla verglichen, dem Hohepriester im ersten nachchristlichen Jahrhundert, der sich besonders um die Erziehung der jüdischen Jugend verdient gemacht hatte. Die Javne-Konferenz sei daher ein vielversprechender Anfang gewesen, der für die Zukunft Positives erwarten lasse. Allerdings musste Carlebach auch große Probleme eingestehen, die der Verbreitung des Tora im derech erets-Prinzips in Litauen und Lettland, der „Revolution des Chinuch [Erziehung]“372, entgegenstanden. Zunächst konstatierte er – wie schon mehr als fünf Jahre zuvor der damalige Leiter des Javne-Lehrerseminars Getz – allerorten einen erheblichen Mangel an päd369 Vgl. Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 3. 370 Vgl. Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 3. 371 J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 1. 372 J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 1.

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324 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert agogisch gebildeten Lehrkräften insbesondere mit höherer Bildung. Um diesen Mangel zu beheben, schlug er zwei Maßnahmen vor: Erstens sollten einzelne Begabte aus Litauen und Lettland nach Deutschland kommen, um dort rasch ausgebildet zu werden. Konkret empfahl Carlebach „seine“ Jeschiva in Hamburg, die sich besonders zum Ziel gesetzt habe, im Sinne des Tora im derech erets-Ansatzes „jungen Menschen aus dem Osten eine Synthese des Jüdischen mit dem Allgemeinen zu ermöglichen“,373 worin man auch schon Erfolge aufzuweisen habe.374 Während auf diese Weise junge traditionsorientierte Juden aus Litauen und Lettland mit dem Tora im derech erets-Prinzip im Ursprungsland bekanntgemacht wurden,375 das sie nach Rückkehr in ihre Herkunftsländer gleichsam als „eigene“ Mittler verbreiten sollten,376 sah der zweite Vorschlag Carlebachs den umgekehrten Weg vor: Es sollten junge deutsch-orthodoxe Akademiker angeworben werden, für einige Jahre nach Osteuropa zu gehen, um dort als Lehrer zu wirken. Wie Carlebach aus eigener Erfahrung bezeugen konnte, waren dies keineswegs verlorene Jahre. Ganz im Gegenteil würden die Lehrer „innerlich von dort ebenso viel mit[bringen], als wie sie dort geben“. Dabei meinte der Hamburger Rabbiner offensichtlich nicht nur die Erweiterung ihres religiösen Wissens, sondern auch die Bestätigung, dass Hirschs Ansatz immer noch gültig sei. In Zeiten, in denen gerade in der jüngeren Generation der deutschen Orthodoxie zunehmend Zweifel in dieser Beziehung aufkämen, sollten junge orthodoxe Lehrer in Litauen und Lettland „das richtige Gefühl ihres Könnens und von der Werbekraft unserer Ueberzeugung“377 erhalten. Der Gang in den Osten sollte also nicht nur der Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals dienen, sondern in gewisser Weise auch affirmativen Charakter im Sinne einer Selbstbestätigung haben. Tatsächlich war bezüglich des Mangels an hinreichend ausgebildeten Lehrern im Javne-Schulwerk auf der erwähnten Erziehungskonferenz der Beschluss gefasst worden, die Hilfe der deutschen Orthodoxie in Anspruch zu nehmen. Es sollten orthodoxe deutsche Rabbiner, unter anderen David Carlebach und Fritz Elieser Bloch, als Lehrer an Javne-Schulen angestellt werden, und es sollten Sommerfortbildungskurse für Lehrkräfte eingerichtet werden,378 wobei als Dozenten wohl von Beginn an Carlebach und Deutschländer, „die erprobten Pioniere des modernen orthodoxen Chinuch in Li373 J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 1. Eine nahezu wortgleiche Formulierung findet sich in dem zwei Jahre später erschienenen Beitrag Carlebachs Das Erziehungswerk „Jawne“ in Litauen, in: Deutschländer, Erziehungswerk, 100. 374 Vgl. Der Israelit 15, 14. 4. 1927, 5. 375 In einem Brief der Javne-Zentrale in Kaunas an Carlebach aus dem Jahre 1931 wurde beispielsweise der Unterricht von Javne-Lehrern in Hamburg im kommenden Sommer angesprochen. Vgl. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 416, o. P. 376 Vgl. Der Israelit 15, 14. 4. 1927, 5. 377 LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 416, o. P. 378 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 29.

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Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland

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tauen“,379 vorgesehen waren. Schon 1925 hatte Carlebach dem Javne-Lehrerseminar in Telsˇiai sein vorübergehendes Kommen, um die Lehrerkandidaten fortzubilden, zugesagt. Im September 1926 hatte man schließlich konkret angefragt, ob Carlebach im Winter seine Zusage einlösen wolle. Dabei sollte der deutsche Rabbiner in erster Linie die Lehrerkandidaten, die in diesem Jahr das Seminar absolvierten, in Pädagogik und Methodik unterrichten und insbesondere auch die neuen pädagogischen Methoden sowie die Haltung des Judentums gegenüber diesen Methoden darstellen.380 Da Carlebach offenbar wegen des Aufwands und der Reisekosten zögerte, wurde ihm etwas mehr als zwei Monate später in einem neuen Schreiben mitgeteilt, dass der Seminarrat sich über die Notwendigkeit seines Besuchs trotz der dadurch verursachten Kosten und Mühen einig sei. In ein paar Monaten würden die Seminarschüler als Lehrer amtieren, jedoch seien zuvor noch Pädagogikvorlesungen sowohl theoretischer als auch praktischer Art unbedingt erforderlich.381 Offenbar hatte aber Carlebach, der als Rabbiner in Hamburg stark beansprucht war, keine Zeit, über den Javne-Erziehungskongress hinaus noch pädagogische Fortbildungskurse in Telsˇiai abzuhalten, so dass das Anliegen des JavneLehrerseminars, zumindest für dieses Mal, unberücksichtigt blieb. Insgesamt waren die Javne-Erziehungskonferenz und die damit verbundenen Veranstaltungen ein großer Erfolg und ein besonderer Ansporn, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen.382 Wie der aus Litauen stammende Rabbiner Jerachmiel Elijahu Botschko (1892 – 1956) in seinem Bericht erklärte, konnte die ausländische Delegation die ihr gestellte Aufgabe, also das Werben für das Tora im derech erets-Ideal, erfüllen. Dies sei schon allein daran deutlich geworden, dass sich die vielen an der Konferenz teilnehmenden Rabbiner wie auch das Publikum einstimmig für das Javne-Schulwesen ausgesprochen hätten, da ihrer Meinung nach nur derart verfasste Schulen einen Abfall der Jugend vom Judentum verhindern könnten.383 Das hier zu Tage 379 Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 3. 380 Vgl. Brief des Javne-Lehrerseminars an Carlebach, 22. 9. 1926. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 413, o. P. 381 Vgl. Brief des Javne-Lehrerseminars an Carlebach, 27. Kislev 5687 (= 3. 12. 1926). LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 413, o. P. 382 Im Übrigen blieb dies nicht die einzige Javne-Konferenz, an der sich orthodoxe deutsche Juden beteiligten. Ende 1928 sollte an der litauischen Landeskonferenz der in der Javne-Bewegung zusammengeschlossenen Lehrer in Kaunas neben Rabbiner David Carlebach erneut Deutschländer teilnehmen. Während Carlebach ein Referat zu den Gegenwartsproblemen der jüdischen Erziehung hielt, sprach Deutschländer zum einen über Die geistige Lage des allweltlichen Judentums, zum anderen aber über sein „Lieblingsthema“, nämlich Biblische Motive im Goetheschen Faust. Vgl. Litauen. Konferenz der Jawne-Lehrer, in: Der Israelit 4, 24. 1. 1929, 7; Deutschländer, Erziehungswerk, 12. Schon allein das Thema dieses Vortrags, der von der orthodoxen Akademikervereinigung Litauens organisiert worden war, zeigt, wie fortgeschritten inzwischen die Annäherung der litauischen Orthodoxie an das Tora im derech eretsIdeal war. 383 Auch Carlebach hat in seinem Bericht erklärt, dass er und seine Mitstreiter mit ihren Vorträgen

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326 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert tretende Abwehrkonzept lässt sich mit den eindringlichen Worten Botschkos wie folgt beschreiben: „Es muß dem Drang der Jugend nach profanem Wissen Rechnung und mit dem Prinzip von tora vederech eretz Ernst gemacht werden, will man es verhüten, daß die Jeschiwaus sich entleeren und die Gymnasien sich auf deren Kosten mit Schülern füllen.“384

Nach Ansicht des Rabbiners sollten die Javne-Schulen jedoch keinesfalls die Jeschivot ersetzen, sondern nur eine Alternative für diejenigen religiösen Kinder darstellen, die nicht ihre ganze Jugend in einer Talmud-Hochschule verbringen konnten oder wollten.385 Gerade auch für Deutschländer und Carlebach hatte die Reise nach Litauen einen überaus positiven Effekt, konnten sie sich doch persönlich davon überzeugen, dass ihr Wirken nicht vergebens gewesen war. Nach Abschluss der Erziehungskonferenz fuhren sie in Begleitung Botschkos nach Telsˇiai, wo sie zunächst die dortige weltberühmte Jeschiva aufsuchten, die großen Eindruck auf sie machte. Danach besuchten sie das ebenfalls in Telsˇiai angesiedelte Lehrerseminar, zu dem sie seinerzeit durch den Lehrerfortbildungskurs der Tseirei Israel den Grundstein gelegt hatten. Mit Befriedigung konnten Carlebach und Deutschländer feststellen, dass die von ihnen geprüften Seminarschüler sowohl in den jüdischen wie auch in den profanen Fächern sehr gute Kenntnisse aufwiesen. Von besonderer symbolischer Bedeutung war schließlich der Besuch des Javne-Mädchengymnasiums in Telsˇiai. Die dortige Direktorin, eine gewisse Dr. Levithan, entpuppte sich als eine ehemalige Schülerin von Carlebach und Deutschländer in Kaunas, die nun selbst einer modernen orthodoxen Mittelschule mit etwa 150 Schülerinnen in acht Jahrgangsstufen vorstand. Deutlicher konnte der Multiplikatoreffekt des ehemaligen Realgymnasiums in Kaunas nicht vor Augen geführt werden. Unterstrichen wurde dies noch durch die ebenfalls hervorragenden Kenntnisse der Mädchen.386 Abends hatten Carlebach, Deutschländer und Botschko bei einer „Art ,Pädagogische[m] Volksmeeting‘“ nochmals Gelegenheit, vor großem Publikum für das Tora im derech erets-Ideal in einzelnen Vorträgen zu werben. Am Ende der Referate äußerte der Organisator der Veranstaltung „begeisterte Worte des Dankes“, wobei er der Hoffnung Ausdruck verlieh, „daß der Geist S. R. Hirschs @‘J:, dessen Träger die Versammlung die Ehre hatte, zu hören, auch auf positive Resonanz gestoßen seien. Vgl. J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 2. 384 Botschko, Die Jabneh-Konferenz und das östliche Kulturproblem, in: Der Israelit, Blätter 7, 14. 4. 1927, 1. 385 Vgl. Botschko, Die Jabneh-Konferenz und das östliche Kulturproblem, in: Der Israelit, Blätter 7, 14. 4. 1927, 1 – 2. 386 Zu Vorangegangenem vgl. Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 3.

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die Jugend des Ostens begeistern und durchdringen möge“.387 Alles in allem war die Reise Carlebachs, Deutschländers, Botschkos und Hildesheimers nach Litauen eine Werbetour für das Hirsch’sche Konzept, aber auch eine örtliche Bestandsaufnahme des bereits Erreichten. Wenn man bedenkt, dass noch bei der Gründung der Agudat Israel 15 Jahre zuvor die osteuropäischen Rabbiner, nicht zuletzt auch die Repräsentanten der litauischen Mitnaggdim, einem möglichen Transfer des Tora im derech erets-Prinzips eine kategorische Absage erteilt hatten, dann wird das ganze Ausmaß der bei der Javne-Erziehungskonferenz zu Tage getretenen Entwicklung offensichtlich. Etwas mehr als eineinhalb Jahre später erschien im Israelit ein Artikel über Javne aus Kaunas, in dem berichtet wurde, dass sich in Litauen „das sogenannte Thora im Derech erez-Prinzip immer weiter Bahn bricht“, da die religiösen Autoritäten zunehmend die Notwendigkeit einsähen, auch die säkularen Gegenstände in das Curriculum der orthodoxen Lehranstalten einzuführen. In dieser Beziehung habe Javne „Vorbildliches“ geleistet.388 Wie erwähnt, hatte die im Februar 1927 durchgeführte Javne-Erziehungskonferenz beschlossen, Sommerfortbildungskurse für Lehrkräfte zu veranstalten. Bereits im Frühjahr 1928 hatte Deutschländer bei Carlebach angefragt, ob er im Sommer in Telsˇiai Kurse abhalten könne. Um seine Gemeinde, insbesondere die Religionsschule, nicht zu vernachlässigen, hatte Carlebach abgesagt, jedoch zwei andere orthodoxe deutsche Pädagogen empfohlen, die seiner Meinung nach dieser Aufgabe gerecht werden konnten.389 Offenbar fanden aber Lehrerfortbildungskurse weder in diesem noch im folgenden Jahr statt, möglicherweise aus Mangel an geeigneten Dozenten aus dem Westen. Im August 1930 wurde schließlich unter der Leitung Carlebachs im litauischen Ostseebad Palanga (Polangen) ein vom litauischen Bildungsministerium anerkannter Fortbildungskurs für 52 Lehrkräfte organisiert, an dem auch Deutschländer als Dozent teilnahm.390 Zusätzlich zum Unterricht in Handarbeiten, Zeichnen, Turnen sowie litauischer Sprache und Literatur, der von einheimischen Lehrkräften erteilt wurde, hielten Carlebach und Deutschländer „allgemeine pädagogische Vorlesungen“, die wohl auf Grund beträchtlicher Defizite in dieser Hinsicht vom Hamburger Rabbiner als „wichtiger“ angesehen wurden. Wie Carlebach in seinem Bericht über das Lehrerfortbildungsseminar erklärte, repräsentierte das Kursprogramm hinsichtlich seiner Themen und Dozenten sämtliche weitreichenden Ziele, die sich Javne vorgenommen hatte: „Himmlisches und Irdisches, Thora und Profankultur,

387 Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 4. 388 Litauen, in: Der Israelit 48, 29. 11. 1928, 7. 389 Vgl. Brief J. Carlebachs an Deutschländer, 24. 5. 1928. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 415, o. P. 390 Vgl. C. (J. Carlebach), Der Lehrerkurs des Keren hathora in Polangen (Litauen), in: Der Israelit, Blätter 13, 21. 8. 1930, 3; Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 365.

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328 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert Theoretisches und Praktisches miteinander zu verbinden.“391 Kurzum, der von Carlebach geleitete pädagogische Weiterbildungskurs hatte in seinen Augen den Anspruch Javnes auf Vermittlung des Tora im derech erets-Prinzips untermauert. Als „Krönung“ bezeichnete es Carlebach, dass einer der führenden Rabbiner Litauens auch an dem Kurs teilnahm und selbst „über das Wesen des Judentums und seine erzieherischen Probleme“392 Vorträge hielt. Dies war, auch wenn Carlebach es nicht explizit sagte, gleichsam die Absegnung des Hirsch’schen Prinzips durch eine religiöse Autorität, was für den Auf- und Ausbau eines religiösen Schulwesens von außerordentlicher Wichtigkeit war. Schon dreieinhalb Jahre zuvor hatte Carlebach in seinem Bericht über die Javne-Erziehungskonferenz „das Faktum der Zusammenarbeit der Rabbiner mit der Schule“ zu Recht als „eine Tatsache von ungeheurer Bedeutung“393 herausgestellt. Nicht minder wichtig war es für Carlebach – auch dies hatte er bereits in seinem Bericht über die Erziehungskonferenz von 1927 betont –, dass der Kurs „ein wundervolles Zusammenwirken“ von ost- und westeuropäischem Judentum darstellte.394 Erneut hatte sich gezeigt, wie sehr inzwischen Teile der Orthodoxie in Ost und West (wieder) bereit waren, angesichts einer von beiden Seiten wahrgenommenen existentiellen Bedrohung in harmonischer Weise zusammenzuarbeiten und voneinander zu lernen. Der Lehrerfortbildungskurs hatte zweifellos Anklang gefunden. Auch im folgenden Jahr fragten die Vertreter Javnes (wie auch Carlebach) bei Deutschländer an, ob im Sommer erneut ein solcher Kurs stattfinden könne. Deutschländer lehnte jedoch angesichts der Weltwirtschaftskrise, die die Finanzierung eines Fortbildungsseminars unmöglich machte, ab und teilte Javne mit, dass ein Kurs alle zwei Jahre ausreichend sei.395 Die wirtschaftliche und pädagogische Not Javnes war allerdings so groß, dass der Leiter des orthodoxen Schulwerks in Litauen Rabbiner Kopelovicˇ Carlebach ungefähr zwei Monate später dringend bat, in pädagogischen Angelegenheiten nach Litauen zu kommen und darüber hinaus eine „Schnorreise“ (sic!) nach England zu unternehmen.396 Während Deutschländer von einem Besuch Englands abriet, hielt er eine Reise nach Litauen aus pädagogischen Gründen für sehr notwendig, vorzugsweise aber 391 C. (J. Carlebach), Der Lehrerkurs des Keren hathora in Polangen (Litauen), in: Der Israelit, Blätter 13, 21. 8. 1930, 3. 392 C. (J. Carlebach), Der Lehrerkurs des Keren hathora in Polangen (Litauen), in: Der Israelit, Blätter 13, 21. 8. 1930, 3. 393 J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 1. 394 1927 hatte Carlebach in ähnlicher Weise geschrieben, dass die Javne-Konferenz „die innige Verbundenheit von Ost und West, der Thoratreuen aller Länder“ (J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 2) aufgezeigt habe. 395 Vgl. Brief Deutschländers an J. Carlebach, 28. 4. 1931. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 416, o. P. 396 Vgl. Brief J. Carlebachs an Deutschländer, 16. 6. 1931. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 416, o. P.

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im Winter, da finanzielle Mittel für einen Sommerkurs fehlten.397 Schließlich fand im Sommer eine Keren Hathora-Fahrt zu jüdischen Kulturstätten des Ostens statt, die auch nach Litauen führte, allerdings ohne Fortbildungskurse oder ähnliche Veranstaltungen. Dieses Mal waren es die deutschen Rabbiner, die sich fortbildeten, indem sie verschiedene Jeschivot besuchten und sich über deren jeweilige spezielle Lehrmethode (den derech ha-limud) informierten. Im folgenden Sommer fand aber wieder ein Javne-Lehrerfortbildungskurs in Palanga statt, bei dem Carlebach erneut den Pädagogikkurs leitete.398 Der große Erfolg des Javne-Schulwesens in der Zwischenkriegszeit war nicht zuletzt darin begründet, dass die Organisation in den ersten zehn bis zwölf Jahren ihres Bestehens weitgehend orthodox-überparteilich war, also nicht nur von Agudisten, sondern auch von Anhängern des Mizrachi, des religiös orientierten Zionismus, getragen wurde.399 Wie schon im Zusammenhang mit der Entwicklung des Realgymnasiums in Kaunas im und nach dem Ersten Weltkrieg deutlich geworden ist, fand der Zionismus in der jüdischen Bevölkerung Litauens einen nicht geringen Rückhalt, was auch für die Anhänger der Orthodoxie galt. Ein militanter Antizionismus, wie ihn Emanuel Carlebach und Pinchas Kohn während des Ersten Weltkriegs der in Warschau gegründeten, chassidisch dominierten Agudat Ha-Ortodoksim verordnet hatten, hätte in Litauen wohl fatale Konsequenzen für die Anhängerschaft der mitnaggdisch geprägten Orthodoxie und ihr Schulwesen gehabt. Dies hatten offenbar auch Joseph Carlebach und Deutschländer erkannt, die zwar das Hirsch’sche Bildungsprinzip der Tora im derech erets nach Litauen transferieren wollten, aber eben nicht den von Hirsch und später vor allem von den Breuers angeführten Kampf gegen den Zionismus, sei er nun rein weltlich oder religiös konnotiert.400 So hatte es Carlebach 1931 in einem Brief an Deutschländer ausdrücklich als „Fehler“ bezeichnet, dass die Agudat Israel „in den Kampf mit dem Mizrachi eingetreten ist, und daß sie sich durch den unheilvollen Einfluß von Pinchas Kohn zu einem politischen Instrument überhaupt hergegeben hat […] [und] wie verhängnisvoll dadurch das Renommee der A. J. [Agudat Israel] beeinflußt worden ist“. Daher dürfe man sich nicht wundern, wenn jetzt niemand mehr die Agudat Israel als eine „religiöse Korporation“ betrachte.401 Gerade die politisch zurückhaltende Art der beiden orthodoxen deutschen Rabbiner, die eigentlich eng mit der Agudat Israel und ihren Or397 Brief Deutschländers an J. Carlebach, 21. 6. 1931. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 416, o. P. 398 Vgl. Programm und Leistung, 327. 399 Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 357. 400 Die Kritik an dem zionistischen Schulwesen Tarbut richtete sich dementsprechend nicht so sehr gegen den darin zum Ausdruck kommenden jüdischen Nationalismus, sondern gegen den rein weltlichen Lehrplan und die teilweise antireligiöse Agitation der Lehrerschaft. 401 Brief J. Carlebachs an Deutschländer, 23. 8. 1931. LBI, JMB, Joseph Carlebach Family Collection, MF 416, o. P.

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330 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert ganisationen wie dem Keren Ha-Tora verbunden waren, dürfte bei der Verbreitung des Hirsch’schen Bildungsideals in Litauen von Vorteil gewesen sein. Seit Beginn der 30er Jahre verstärkte sich allerdings der Einfluss der Agudat Israel in Javne wie auch in der Tseirei (Agudat) Israel.402 Zu dieser Zeit leitete aber beispielsweise die polnische Aguda eine Annäherung an die zionistische Bewegung und ihre Ziele ein. Vor diesem Hintergrund dürfte also bei den Repräsentanten von Javne und Tseirei (Agudat) Israel die Hinwendung zur Agudat Israel wohl kaum als Kampfansage gegen den Zionismus verstanden worden sein. Vielmehr blieben Javne und Tseirei (Agudat) Israel ihrem Kurs treu, in erster Linie das von Hirsch entwickelte Prinzip der Tora im derech erets zu verbreiten. Dafür spricht auch, dass Rabbiner Jitschak Eliezer Hirschowitz (1871 – 1941) aus Virbalis (Virbalen) 1935 auf der Konferenz der Tseirei (Agudat) Israel in Sˇiauliai zu ihrem Vorsitzenden gewählt wurde.403 Hirschowitz war der einzige Rabbiner aus Osteuropa, der dem Vorstand der 1930 in Frankfurt gegründeten Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft angehörte. Diese Gesellschaft hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Weltanschauung Hirschs, insbesondere das Tora im derech erets-Prinzip „in den breiten jüdischen Volksmassen“ bekanntzumachen, was in erster Linie durch „Popularisierung“ seiner Werke in jiddischer und hebräischer Übersetzung bewerkstelligt werden sollte.404 Allein schon diese Zielsetzung deutete darauf hin, dass man vor allem das osteuropäische Judentum im Auge hatte. Tatsächlich hatte Hirschowitz in dieser Beziehung bereits Vorbildliches mit der auszugsweisen Übersetzung von Hirschs Pentateuchkommentar ins Hebräische und deren Veröffentlichung geleistet, wobei der Wilnaer Rabbiner Chaim Ozer Grodzenski (1863 – 1940) in seiner Haskama (rabbinische Bestätigung) zu dieser Übersetzung seine Bewunderung wie auch die Bedeutung der Werke Hirschs für das gegenwärtige osteuropäische Judentum eindrucksvoll herausgestellt hatte.405 Hirsch und Tora im derech erets waren tatsächlich in Litauen „angekommen“. Nicht zufällig nannte man Telsˇiai, wo neben der berühmten Jeschiva auch das Javne-Lehrerseminar und das erste Javne-Mädchengymnasium beheimatet waren, das „Frankfurt Litauens“406. Wie sehr man inzwischen den Tora im derech erets-Ansatz übernommen hatte, verdeutlicht auch die dort erschienene hebräischsprachige Zeitschrift der Tseirei (Agudat) Israel HaNe’eman (Der Treue). Ende 2008 schrieb ein Rabbiner, diese Zeitschrift zeige in beeindruckender Weise, in welchem Ausmaß die litauische Jeschiva-Welt Elemente des deutsch-jüdischen Derech angenommen habe. Neben detaillierten Informationen über Angelegenheiten des deutschen Judentums wurden auch zahlreiche literarische Beiträge veröffentlicht, die sich mit histori402 403 404 405 406

Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 357. Vgl. Chronik, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 11/12, 349. Die Rabbiner-Hirsch-Gesellschaft, in: Nachalath Z’wi 1 (1930), Heft 1, 2. Vgl. Nachalath Z’wi 1 (1930), Heft 2, 70; I. Grunfeld, Generations, 39. Chronik, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 11/12, 349.

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schen und philosophischen Themen befassten. Zu Recht wies der Rabbiner darauf hin, dass dieses Genre in der Tradition neo-orthodoxer deutscher Autoren stand, allen voran des Rabbiners Marcus Lehmann (1831 – 1890), der übrigens auch im traditionsorientierten polnischen Judentum seit dem Ersten Weltkrieg dank Kohn und Carlebach eine große Leserschaft hatte. Darüber hinaus scheute sich Ha-Ne’eman aber auch nicht, entsprechende nichtjüdische Literatur, zum Beispiel Goethe, in Übersetzung zu veröffentlichen.407 Demnach hatte der Tora im derech erets-Ansatz über die Javne-Schulen hinaus die litauische Orthodoxie insgesamt erfasst. Laut Holzberg, zeitweiliger Leiter des Javne-Lehrerseminars und Direktor des Javne-Mädchengymnasiums in Kaunas, hatte das Javne-Schulnetz, „eine der schönsten Errungenschaften des litauischen Judentums“, erfolgreich nach einer „Vereinigung der Tora mit dem Schönsten und Besten der menschlichen Kultur“ gestrebt, „wobei weder auf die Werte der Tora noch auf die gehobenen Errungenschaften des menschlichen Geistes verzichtet wurden“.408 An anderer Stelle betont Holzberg, dass weder die weltlichen Fächer eine Beigabe zu den jüdischen noch die jüdischen Fächer eine Beigabe zu den weltlichen Fächern gewesen seien. Vielmehr seien alle Fächer vom jüdischen Geist durchdrungen gewesen und hätten eine harmonische Einheit gebildet.409 Wenn man einem der wichtigsten Aktivisten der Javne-Bewegung Glauben schenken darf, hatte Javne das Tora im derech erets-Prinzip, wie es Hirsch ursprünglich entwickelt hatte, in mustergültiger Weise umgesetzt. Während die Unterrichtspraxis in neo-orthodoxen deutschen Schulen in den seltensten Fällen von einer „Integration von ,Tora‘ und ,Derech Erez‘“ oder von einer „jüdischen Durchgeistigung aller Lehrfächer“ bestimmt war, sondern nur ein unverfängliches Nebeneinander aufwies,410 scheint Javne die von Hirsch eigentlich intendierte Verbindung der beiden Pole in einem jüdisch-religiösen Gesamtrahmen gelungen zu sein. Gerade auch in diesem Sinne dürfte folgende Äußerung des aus Litauen stammenden Rabbiners Jechiel Weinberg, Dozent am orthodoxen Berliner Rabbinerseminar, gemeint gewesen sein, als er 1937 erklärte: „Für uns aber – und ich sage es mit stolzer Betonung – für uns Ostjuden bedeutet Rabbiner Hirsch viel mehr, und wir glauben auch, ihn besser verstanden zu haben.“411 Denn nach Weinbergs Meinung hatte Hirsch das Tora im derech erets-Prinzip so verstanden, dass die Tora das Primäre, Wesenhafte sei, während derech erets nur „der Raum oder richtiger der Stoff [ist], an dem sich die Thora auszuwirken hat“.412 So gesehen wurden wohl die

407 Bechhofer, East Meets West. Ish Yehudi. The Life and Legacy of a Torah Great, Rav Joseph Tzvi Carlebach, in: The Jewish Observer (Organ der Agudath Israel of America) 41 (2008), Nr. 9, 37. 408 Vgl. Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 368. 409 Halevi Etsion (Holzberg), Javne-schuln, 353. 410 Breuer, Orthodoxie, 112. 411 I. Weinberg, Rabbi Samson Raphael Hirsch, in: Nachalath Z’wi 7 (1937), Heft 4/5/6, 133. 412 I. Weinberg, Rabbi Samson Raphael Hirsch, in: Nachalath Z’wi 7 (1937), Heft 4/5/6, 136.

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332 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert wenigsten orthodoxen deutschen Juden dem eigentlichen Tora im derech erets-Prinzip gerecht. In den vorstehenden Ausführungen ist deutlich geworden, dass orthodoxe deutsche Rabbiner (und Pädagogen) in Litauen einen wesentlichen Anteil an der Entstehung eines modernen orthodoxen Schulwesens in Anlehnung an Hirschs Tora im derech erets hatten. 1937 existierten insgesamt 92 JavneLehranstalten (Volksschulen, Gymnasien, Talmud Torot, Lehrerseminar) für Knaben und Mädchen, an denen über 8 200 Schüler unterrichtet wurden.413 Was im Ersten Weltkrieg durch orthodoxe Rabbiner in deutscher Uniform begann und in der Nachkriegszeit eine bemerkenswerte Entwicklung erfuhr, sollte im Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende finden. Unmittelbar nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Litauen 1940 wurden die JavneSchulen geschlossen. Und der Zerstörung des Schulnetzes folgte die Vernichtung eines Großteils ihrer ehemaligen Lehrer und Schüler im Holocaust.414 Tora im derech erets-Schulwesen in Lettland Das gleiche Schicksal ereilte auch das moderne orthodoxe Schulwesen in Riga, das seine Wurzeln ebenfalls im neo-orthodoxen deutschen Judentum hatte. Das eher kleine Schulwerk war 1920 von der Jugendorganisation der Agudat Israel in Riga gegründet worden und umfasste nach fünf Jahren eine Knabengrundschule, eine Mädchengrundschule und ein Knabengymnasium. Daneben gab es auch noch Schulen in Daugavpils (Dünaburg oder Dwinsk) und in Liepa¯ja (Libau). Insgesamt wurden im Rahmen dieses Schulwesens, das teilweise vom Keren Ha-Tora finanziert wurde, 300 Schülerinnen und Schüler unterrichtet.415 Der Anspruch des Schulnetzes auf Umsetzung des Hirsch’schen Bildungsideals wurde durch seine Bezeichnung unterstrichen: Tora im derech erets. Das Tora im derech erets-Schulwesen hatte allerdings größte Entwicklungsschwierigkeiten. Dies lag zum einen wohl an der bereits stark fortgeschrittenen Säkularisierung der Juden in den lettischen Städten, zum anderen aber auch, ähnlich wie bei Javne in den Anfangsjahren, am Mangel an gut ausgebildeten Lehrern. In einem Artikel des deutsch-orthodoxen Israelit von 413 Vgl. das Verzeichnis der Javne-Schulen in Programm und Leistung, 378. 414 Vgl. hierzu auch die sich aufdrängende kontrafaktische Frage Rabbiner Bechhofers: „It is fascinating to contemplate the ,What if ?‘ What if the Holocaust had not occurred and turned everything to naught? Would the introduction of a two-track school system have continued to grow and further influence the broader context of Eastern European Orthodoxy?“ Bechhofer, East Meets West. Ish Yehudi. The Life and Legacy of a Torah Great, Rav Joseph Tzvi Carlebach, in: The Jewish Observer (Organ der Agudath Israel of America) 41 (2008), Nr. 9, 37. 415 Vgl. Eine Pflanzstätte der Thorakultur in Lettland, in: Der Israelit 32, 6. 8. 1925, 6. Ungefähr drei Jahre später soll das Schulwerk schließlich 48 Lehrer und etwa 500 Schüler umfasst haben. Deutschländer, Erziehungswerk, 59.

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Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland

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1925 wurde dazu erklärt, dass der „Westen“ mit seinem „pädagogischem und schultechnischem Gute“ dem lettischen Tora im derech erets-Schulwesen Hilfe leisten müsse. Konkret solle, forderte der anonyme Verfasser des Beitrags, ein „Komitee führender Schulmänner des Westens […] gebildet werden, das der Leitung und dem pädagogischen Rat der Schulen mit Rat und Gutachten beisteht“.416 Um den Verdacht zu zerstreuen, dass das Tora im derech eretsSchulwesen der lettischen Orthodoxie in erster Linie an Geldleistungen aus dem Westen interessiert sei, hieß es ausdrücklich, dabei handele es sich nicht um finanzielle, „sondern um intellektuelle Hilfe, womöglichst gegenseitige“417. Mit dem Hinweis auf die gegenseitige Unterstützung wurde betont, dass die lettische Orthodoxie oder das von ihr unterhaltene Schulwesen nicht nur als Bittsteller oder als Nehmende auftrat. Vielmehr hatte auch sie etwas zu bieten. Kurz gesagt sollte die deutsche Orthodoxie ihre Kenntnisse im derech erets zur Verfügung stellen und im Gegenzug jüdisch-religiöses Wissen vermittelt bekommen. Dies korrespondierte mit dem ungefähr zwei Jahre später geäußerten Gedanken Carlebachs, dass orthodoxe deutsche Pädagogen „Aufbauhilfe“ im osteuropäischen Schulwesen leisten sollten, dabei aber eben so viel mitnehmen könnten, wie sie gäben. Zumindest auf informeller Ebene wurde tatsächlich ein „Komitee führender Schulmänner des Westens“ gebildet, dem Deutschländer und Carlebach angehörten. Nachdem die beiden im Februar 1927 an der Javne-Erziehungskonferenz in Kaunas teilgenommen und auch das litauische orthodoxe Schulwerk eingehend inspiziert hatten, reisten sie nach Lettland weiter, wo sie sich das dortige Tora im derech erets-Schulwesen ansahen. Möglicherweise hatte sich in den letzten eineinhalb Jahren einiges gebessert, fand doch nicht nur die „technische und hygienische Ausstattung“, sondern auch die „pädagogische Leitung“ die „vollste Zufriedenheit“418 der beiden orthodoxen deutschen Juden. Obwohl das Tora im derech erets-Schulwesen in Lettland nach der Zahl seiner Einrichtungen und Schüler unbedeutend war, wurde Deutschländer als Direktor der Keren Ha-Tora-Zentrale vom lettischen Ministerpräsidenten und den Ministern für Kultur und Äußeres zu Unterredungen empfangen. Er erstattete dem Ministerpräsidenten Bericht über die Arbeit des Keren Ha-Tora, der sich in allen europäischen Staaten für eine Erneuerung der religiösen Erziehung der Jugend einsetze, unter anderem auch in Lettland im Rahmen des Tora im derech erets-Schulwesens. Ähnlich hatten Carlebach, Deutschländer und Rachmielewicz, Vorsitzender der Javne-Erziehungskonferenz und ehemaliger Vizeminister für Industrie und Handel, wenige Tage zuvor auch den litauischen Präsidenten Antanas Smetona (1874 – 1944) – seit zwei Mo416 Eine Pflanzstätte der Thorakultur in Lettland, in: Der Israelit 32, 6. 8. 1925, 6. 417 Eine Pflanzstätte der Thorakultur in Lettland, in: Der Israelit 32, 6. 8. 1925, 6. 418 Keren Hathora in Lettland, in: Die Jüdische Presse 9, 4. 3. 1927, 67. Wortgleich in: Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 4.

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334 Deutsche Juden und die Bildungsrefom in Osteuropa im 20. Jahrhundert naten durch einen Staatsstreich im Amt – über die Ziele von Javne und den Verlauf der Konferenz unterrichtet.419 Die orthodoxen deutschen Juden suchten also den Kontakt zu den Regierungen Lettlands und Litauens, was nach Meinung Carlebachs auch sehr notwendig war. In seinem etwa zwei Monate später veröffentlichten Artikel über die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland bekannte der deutsche Rabbiner, dass die Orthodoxie in den beiden baltischen Staaten keinen guten Draht zu den dortigen Regierungskreisen habe. Dies liege, so Carlebach, insbesondere am Misstrauen der Regierungsinstanzen, die den Verdacht nicht loswürden, dass „sich die orthodoxen Institutionen nicht den staatlichen Notwendigkeiten einfügen könnten“. Hier konnte aber nach Ansicht des deutschen Rabbiners die Keren Ha-Tora-Zentrale Abhilfe schaffen, indem sie in lettisch- und litauischsprachigen Broschüren „Wesen und Sein der orthodoxen Erziehungsfragen“ darlegte und diese dann allen Beamten des Kultusministeriums wie auch Schulinspektoren übergab. Konkret sollte in den Handreichungen insbesondere die Entwicklung der deutschen Orthodoxie als ein Vorbild dargestellt werden, das auch übertragbar sei: „Es muß auf den Parallelvorgang in anderen Ländern, die hervorragenden pädagogischen Leistungen der deutschen Orthodoxie hingewiesen und daraus die Möglichkeit, ja die Ueberlegenheit unserer pädagogischen Arbeit in formaler und materieller Hinsicht, im geistigen wie im moralischen Sinn, ohne Uebertreibung erwiesen werden.“420

Zwar wissen wir nicht, ob Deutschländer und auch Carlebach bei ihren Unterredungen mit den lettischen und litauischen Regierungsvertretern tatsächlich explizit auf die Überlegenheit des deutsch-orthodoxen Erziehungsmodells hingewiesen haben, doch dürfte allein schon die Unterredung mit zwei herausragenden Repräsentanten dieses Modells einen positiven Eindruck hinterlassen haben. Wenn Carlebach einerseits feststellen musste, dass die litauische und die lettische Orthodoxie über schlechte Beziehungen zu den jeweiligen Regierungen verfügten, so musste er andererseits aber auch mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen, „wie weit einzelne Rabbinen wie Laien es in der Kunst der Versammlungsführung, der Massenbeherrschung, des politischen Arrangements gebracht haben“.421 Dies sollte sich insbesondere bei den schulischen Aktivitäten der Agudat Israel in Lettland wenige Jahre später eindringlich zeigen. Nach dem rechtsgerichteten Staatsstreich Karl Ulmanis’ (1877 – 1942) vom 15. Mai 1934 erlangte die Aguda auf erzieherischem Gebiet bedeutende Macht. Da die lettischen Repräsentanten der Agudat Israel treue 419 Vgl. Der Israelit, Blätter 5, 10. 3. 1927, 3 – 4. 420 J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 1. 421 J. Carlebach, Die Lage der Orthodoxie in Litauen und Lettland, in: Der Israelit, Blätter 8, 5. 5. 1927, 1.

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Verbreitung des Tora im derech erets-Ideals in Litauen und Lettland

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Anhänger des neuen Regimes waren, wurde ihr nach dem Putsch die Aufsicht über alle hebräischen und jiddischen Schulen des Landes übertragen. Dies ermöglichte der Aguda die Einführung eines neuen Lehrplans auf der Grundlage der jüdischen Religion, der unter anderem den Schulbesuch mit bedecktem Haupt vorschrieb.422 Damit war ihr etwas gelungen, was sie unter demokratischen politischen Bedingungen mit ihrem Tora im derech eretsSchulwesen niemals erreicht hätte. Hatte Carlebach noch wenige Jahre zuvor von einem schlechten Draht der lettischen Orthodoxie zu den Regierungskreisen gesprochen, so hatte sich die Situation nun grundlegend geändert. Folgt man der Meinung Carlebachs, so kam auf diese Weise die jüdische Schülerschaft der anderen Schulwerke, die nun ebenfalls von Agudat Israel kontrolliert wurden, in gewisser Weise in den „Genuss“ der pädagogischen Errungenschaften des deutschen Judentums. Nur zwei Monate vor Ulmanis’ Staatsstreich hatte Carlebach in seinem Beitrag über jüdische Gymnasien im Osten auch das Tora im derech erets-Gymnasium in Riga erwähnt, das ebenso wie die anderen jüdisch-orthodoxen Mittelschulen in Osteuropa nach Vorbildern in Deutschland gestaltet war. Allerdings musste er zugestehen, dass es die Lehranstalten im Osten viel schwerer hätten als die im Westen, da den dortigen Lehrern im Gegensatz zu ihren Kollegen im deutschen Judentum die „innere Sicherheit in der philosophischen Auseinandersetzung mit der Umwelt“ fehle; er fügte hinzu: „Um so mehr darf der deutschen Judenheit der Ruhm zugebilligt werden, pädagogisch für das ganze Judentum Unendliches geleistet zu haben. Wenn wir heute geschlossen darum uns mühen, die Position unserer jüdischen Schule uns zu bewahren, so ist dies nicht nur für uns selbst; es ist für alle nach einem vollgehaltigen Judentum sich sehnenden jüdischen Lehrer und Eltern von fern und nah ein Ziel von entscheidender, vitaler Wichtigkeit.“423

Demnach kamen nun auch die Schülerinnen und Schüler des ehemals zionistischen Schulwesens in Lettland mit den pädagogischen Leistungen des deutschen Judentums in Berührung. Ob aber Zwang wirklich zu positiven Ergebnissen führen konnte, muss dahingestellt bleiben.

422 Vgl. Levin, Education, 128. Vgl. hierzu auch Mendelsohn, Jews, 248, 250. 423 J. Carlebach, Jüdische Gymnasien des Ostens, in: Israelitisches Familienblatt 10, 8. 3. 1934, 17.

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V. „Heimkehr ins Judentum“: Auf der Suche nach einer jüdischen Tradition in Osteuropa Allgemein ist festzustellen, dass die deutschen Rabbiner und die deutschjüdischen Pädagogen, die im 19. Jahrhundert in Osteuropa wirkten, der osteuropäisch-jüdischen Kultur nur geringe Bedeutung beimaßen, ja sie sogar als rückständig und minderwertig betrachteten. In ihrem Weltbild galt das im Zuge der Haskala entstandene deutsch-jüdische Kulturmodell als überlegen, das demnach auch auf das osteuropäische Judentum übertragen werden sollte. Zweifel, ob der eingeschlagene Weg des deutschen Judentums tatsächlich der richtige war, kamen bei ihnen nicht auf. Ganz im Gegenteil, die von ihnen wahrgenommene eklatante Rückständigkeit der großen Mehrheit ihrer Glaubensbrüder im Osten bestärkte sie noch in ihrer Haltung. In diesem Sinne hatte der Gang nach Osten auch affirmativen Charakter. Einzig Lilienthal scheint einen gewissen Zweifel gehegt zu haben, dessen er sich aber wohl nicht bewusst war. 1844 wurde in der AZJ ein Brief veröffentlicht, den der Rabbiner ihr kurz zuvor aus dem Russländischen Reich zugesandt hatte. Darin erklärte er, seiner Meinung nach rechtfertige man alle Verfolgungen der Juden durch den Talmud, wobei man sich auf Eisenmengerische Talmud-Auszüge berufe. Daher sei es an der Zeit, eine wissenschaftliche Bearbeitung des Talmuds zu veröffentlichen, um damit allen Verdächtigungen und Streitigkeiten ein Ende zu bereiten.1 Wenn Lilienthal in diesem Zusammenhang darauf hinwies, „[w]elche tüchtige[n] Rabbinen, welche enorme[n] Talmudisten“2 er von seinen Bekannten aus dem Zarenreich zu diesem Werk empfehlen könne, drückte dies nicht nur große Anerkennung für das talmudische Wissen im osteuropäischen Judentum aus, sondern es war implizit auch das Eingeständnis, dass das deutsche Judentum in dieser Hinsicht nicht mehr ebenbürtig war. Die zunehmende Aneignung säkularer Bildungsinhalte wurde mit dem Verlust von Kenntnissen über die religiösen Quellen erkauft. Angesichts dieses warnenden Beispiels war die Weigerung der Mehrheit der osteuropäischen Juden, eine Reform des Erziehungswesens zuzulassen, durchaus verständlich. Gleichwohl blieb das deutsche Judentum weiterhin von seiner Überlegenheit überzeugt, was nicht minder für die deutsche Neo-Orthodoxie galt, die mit ihrem Tora im derech erets-Ansatz die richtige Antwort auf die Moderne gefunden zu haben glaubte. Dabei übersah aber die Mehrheit ihrer Reprä1 Vgl. Bearbeitung des Talmuds, in: AZJ 12, 18. 3. 1844, 161. 2 Bearbeitung des Talmuds, in: AZJ 12, 18. 3. 1844, 162.

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Auf der Suche nach einer jüdischen Tradition in Osteuropa

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sentanten, dass in der Praxis ein starkes Ungleichgewicht zu Gunsten des derech erets bestand. Sie mögen ein religiös observantes Leben geführt haben, ihre Kenntnis des traditionellen Schrifttums war aber im Vergleich zum Gros ihrer osteuropäischen Glaubensgenossen gering. Zwar wurden an allen orthodoxen Schulen fakultative Talmudstunden angeboten, sehr viele orthodoxe Eltern in Deutschland zeigten sich jedoch mit dem Minimum an jüdischen Pflichtstunden zufrieden. Für sie war es ausreichend, wenn ihre Kinder mit dem Pentateuch vertraut waren.3 Dementsprechend hätte im 19. Jahrhundert, wie Jacob Katz einmal sagte, selbst der orthodoxeste Jude im Westen seinen Sohn nicht zum Talmud-Studium auf eine der berühmten Jeschivot Osteuropas geschickt. Bestätigt wird dies von Jacob Rosenheim, einem der führenden Repräsentanten der deutschen Neo-Orthodoxie und zeitweiligem Führer der orthodoxen Agudat Israel-Weltorganisation, der in seinen Erinnerungen bekannte: „Meine eigenen Eltern würden einen etwaigen Wunsch ihres Sohnes noch irgendwo in der Welt eine Jeschiwoh aufzusuchen (ich dachte gar nicht daran), als vollkommenen Wahnsinn angesehen haben. So vollständig war in den Kreisen der sogenannten Neu-Orthodoxie Westeuropas, die gänzlich auf den Schultern Samson Raphael Hirschs stand, die alte Jeschiwoh-Tradition in Vergessenheit geraten, die doch noch 50 Jahre vorher, in Süddeutschland zum mindesten, lebendig gewesen sein dürfte.“4

Hierin äußerte sich das gewandelte Selbstverständnis der deutsch-jüdischen Orthodoxie in aller Deutlichkeit. Die Beschäftigung mit den jüdischen Quellen hatte ihre frühere Wichtigkeit erheblich eingebüßt, während die Partizipation an der Kultur der Mehrheitsgesellschaft stark zugenommen hatte. Daher bezeichnete man allmählich vor allem denjenigen als orthodox, der ein verinnerlichtes Verständnis von Glauben besaß und somit bewusst ein den Religionsgesetzen entsprechendes einwandfreies Leben führte. Doch wurde die Problematik, die darin lag, dass jüdisches Wissen im Vergleich zu früheren Generationen wie auch zur osteuropäischen Orthodoxie bei den gesetzeskonformen Juden Deutschlands bedeutend zurückgegangen war, nicht gänzlich ignoriert. Seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts drängten bestimmte orthodoxe Kreise darauf, das Talmudstudium wieder intensiver zu betreiben. Diesem Drängen wurde schließlich Rechnung getragen, als der in Ungarn aufgewachsene neue Rabbiner der austrittsorthodoxen Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main Salomon Breuer 1891 dort eine Jeschiva eröffnete. Bei der großen Mehrheit der orthodoxen deutschen Juden bestand allerdings (noch) kein Bedürfnis nach einem

3 Vgl. Breuer, Orthodoxie, 110. 4 Rosenheim, Erinnerungen, 24.

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gründlichen Studium des Talmuds in traditionellem Rahmen. Denn lange Zeit studierten fast nur ausländische Juden an Breuers Jeschiva.5 Was für die deutsche Neo-Orthodoxie galt, traf in noch höherem Maße auf die nicht-orthodoxe jüdische Bevölkerung und folglich auf die überwiegende Mehrheit des deutschen Judentums überhaupt zu. Zumeist war das geringfügige jüdische Wissen in den wenigen Wochenstunden Religionsunterricht erworben worden. So war gewissermaßen der Verzicht auf eine dezidiert jüdische Identität der Preis für den Eintritt in die Mehrheitsgesellschaft. Seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war indessen ein kleiner Teil der deutschen Juden nicht mehr bereit, diesen hohen Preis zu zahlen. Sie bemühten sich um eine Wiederbelebung des verloren geglaubten kulturellen Erbes der Väter, freilich unter radikal anderen, nämlich säkularen Bedingungen. Von besonderem Gewicht bei diesem Prozess der Jüdischen Renaissance, wie ihn Buber in einem Aufsatz von 1900 bezeichnete, war der sogenannte Kulturzionismus, dessen Wurzeln dort lagen, wo jüdische Kultur noch lebendig war : in Osteuropa. Ebenso mehrten sich auch um die Jahrhundertwende bei den Anhängern der deutschen Neo-Orthodoxie Zweifel an der Gültigkeit des Systems von Tora im derech erets als einer legitimen Lebensweise und Denkrichtung, das die überlieferten Gesetze und Denkmuster des Judentums aufrechterhielt. Angesichts der Tatsache, dass sich das orthodoxe Judentum einer großen jüdischen Mehrheit gegenübersah, für die die jüdische Tradition weitgehend an Bedeutung verloren hatte, und im Bewusstsein eines brüchigen Fundaments, auf dem der Traditionalismus vieler ihrer Mitglieder stand, richtete sich auch ihr Blick immer stärker nach Osten. Das Gefühl einer grundsätzlichen Unterlegenheit im Tora-Wissen ließ sich nicht verhehlen, war man doch für ein weitergehendes Verständnis der schriftlichen Lehre wie auch für wichtige halachische Entscheidungen von osteuropäischen Autoritäten abhängig. Und doch wurden die Errungenschaften der letzten 50 Jahre keineswegs in Frage gestellt. Zwar gab es auf religiösem Gebiet unbestreitbare Defizite, dafür hatte man jedoch im weltlichen Bereich einiges zu bieten. Während die westliche Orthodoxie auf Grund ihrer geringeren Torakenntnisse als zu wenig jüdisch erschien, wurde die osteuropäische Orthodoxie wegen ihres Mangels an Allgemeinbildung als zu wenig kultiviert oder zivilisiert angesehen. Insofern hatten Zweifel an der Gültigkeit des Tora im derech erets-Ideals ambivalenten Charakter und zogen zunächst keine Konsequenzen nach sich. Vielmehr war die deutsche Neo-Orthodoxie immer noch davon überzeugt, dass dieses Ideal trotz aller Mängel weitgehend auf das osteuropäische Judentum übertragen werden sollte, da es ein wirksames Abwehrkonzept sei, um den modernen Erscheinungen, nämlich der fortschreitenden Säkularisierung und dem

5 Vgl. Breuer, Orthodoxie, 111 – 112.

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Glaubensabfall, die Stirn zu bieten und so das traditionelle Judentum zu erhalten.6 Die existentielle Tragweite, die inzwischen einzelne jüdische Publizisten, die im Westen sozialisiert worden waren, dem osteuropäischen Judentum beimaßen, verdeutlicht eine apodiktische Äußerung Nathan Birnbaums (1864 – 1937) vom Herbst 1909: „Stirbt aber das Ostjudentum ab, dann ist niemand mehr da, der jüdisches Leben und jüdische Kultur weiter durch die Zeiten tragen könnte.“7 Birnbaum gab damit zu verstehen, dass der Schlüssel zu einer Rejudaisierung der westeuropäischen Juden im Osten lag.8 In dieser Haltung waren sich Kulturzionisten und orthodoxe Juden weithin einig.9 Niemand anderes als Birnbaum selbst veranschaulichte dies auf prägnante Art und Weise. Während er in seinen jungen Jahren noch einer der herausragenden Vertreter und Mitbegründer des Zionismus, dann des Kulturzionismus war, sollte er in seinen späteren Jahren einer der bedeutendsten Repräsentanten der Aguda-Orthodoxie werden. Trotz all dieser ideologischen Transformationen blieb Birnbaum zumindest in einem wichtigen, wenn nicht entscheidenden Punkt seinen Grundsätzen treu: Zeit seines Lebens war er ein leidenschaftlicher Gegner der „Assimilationssucht“, wie er sich als Zwanzigjähriger einmal ausgedrückt hatte. Daher hörte er auch nie auf, sich für die Wiederbelebung und Verteidigung einer genuin jüdischen Identität einzusetzen.10 Auch wenn Birnbaum und andere gegen die „Assimilationssucht“ der mittel- und westeuropäischen Juden mit Verve anschrieben, die große Mehrheit der solchermaßen Kritisierten wollte von seinen Ideen nichts wissen. Ganz im Gegenteil, als nur wenige Jahre später der Erste Weltkrieg ausbrach, ließ sich zunächst ein Großteil der deutschen Juden von der deutschnationalen Begeisterung anstecken, was sich insbesondere auch auf ihre utopischen Zukunftsvorstellungen von den osteuropäischen Juden auswirken sollte. Im Oktober 1914 hielt Professor Ludwig Stein11 (1859 – 1930) im Verein für jüdische Geschichte und Literatur der Juden einen Vortrag, in dem er Folgendes erklärte: „Nur die deutsche Kultur hat uns Juden die Form des Aufstieges zur Klassizität gebracht. Zur Klassizität haben die Juden es auch nur in der deutschen Kultur gebracht.“ Wie in jenen Tagen nicht unüblich, 6 Vgl. Breuer, Orthodoxy, 77 – 78. 7 Birnbaum, Emanzipation, 33. 8 Vier Jahre später wurde Birnbaum in dieser Hinsicht noch deutlicher. Vgl. Birnbaum, Sprachadel. Zur jüdischen Sprachfrage, in: Die Freistatt. Alljüdische Revue 1 (1913), Nr. 3, 137 – 138. 9 Vgl. hierzu auch Aschheim, Jew, 14. Allgemein zum Stellenwert der osteuropäischen Juden in der Ideologie der deutschen Zionisten vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Reinharz, Jews, 55 – 64, bes. 59 – 60. 10 Vgl. hierzu das Kapitel Die Metamorphosen des Nathan Birnbaum bei Wistrich, Juden, 313 – 342, bes. 315 – 316, 342. 11 Zu Stein vgl. Haberman, Stein, 91 – 125.

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wies Stein mit Blick auf das osteuropäische Judentum darauf hin, „daß von den elf Millionen Juden zehn Millionen jüdisch-deutsch als ihre Muttersprache haben. Vielleicht lag es im Plane der Vorsehung, daß die Juden nicht in Petersburg zugelassen wurden, um Pioniere des Deutschtums zu bleiben und wieder Deutsche zu werden. Unsere Soldaten stehen vor Warschau! Das ist die neueste Meldung. Wenn es gelingt, Rußland dahin zu jagen, wohin es gehört, nach Asien, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß wir die russischen Juden zurückführen in die deutsche Kultur und Zivilisation.“12 Steins Ansicht, dass der Krieg die Möglichkeit eröffne, die osteuropäischen Juden endlich mit der überlegenen deutschen Kultur zu beglücken, war zu diesem Zeitpunkt alles andere als eine Minderheitsmeinung innerhalb des deutschen Judentums. Und doch sollte sich im Laufe des Krieges ein gewisser Wandel einstellen. Wie Aschheim bemerkt, erzeugte gerade bei vielen deutsch-jüdischen Soldaten die persönliche Begegnung mit ihren osteuropäischen Glaubensgenossen ein tieferes jüdisches Bewusstsein.13 Bei aller Sympathie, die wohl die meisten Juden in deutscher Uniform ihren notleidenden Brüdern im Osten entgegenbrachten, ließ sich allerdings eine ambivalente Haltung kaum bestreiten. Einerseits war man oftmals begeistert über die noch echtjüdische Lebensweise der osteuropäischen Juden. Andererseits konnten viele aber auch nicht verhehlen, wie abgestoßen sie waren von der vermeintlichen Unzivilisiertheit und Kulturlosigkeit, wie sie sich im Schmutz, in der Unhygiene, der Unordnung und der Unsprache in ihren Augen auszudrücken schienen. Die meisten deutsch-jüdischen Soldaten dürften daher das Diktum des Feldrabbiners Sali Levi (1883 – 1941) durchaus geteilt haben: „Der Jude in Russisch-Polen ist, wie es einmal ausgesprochen wurde, ein ungeschliffener Edelstein. Unscheinbar, häßlich und abstoßend, wenn man nur auf das Äußere sieht, aber leuchtend und erfreuend, wenn man in den Kern eindringt.“14 Dafür, dass die jüdischen Soldaten tatsächlich zum Kern des osteuropäischen Judentums vordrangen und sich davon beeinflussen ließen, sollten vor allem auch die Feldrabbiner sorgen. Auf der vierten Konferenz der Feldrabbiner des Ostens in Białystok im März 1917 wies Rosenak seine Kollegen bei einem Vortrag über Die Feldpredigt, ihre Themen und ihre Texte auf mehrere Gesichtspunkte hin, die ihm bei der Auswahl und der Behandlung der Feldpredigttexte beachtenswert erschienen. Zum Beispiel sollte die Feldpredigt „das religiöse Leben der Ostjuden und ihre[r] Auffassung vom jüdischen Leben und der jüdischen Lehre für die Westjuden nutzbar“15 machen. Damit gab Rosenak zu verstehen, dass die osteuropäischen Juden zur jüdischen 12 13 14 15

AZJ 43, 23. 10. 1914, Beilage: Der Gemeindebote, 1. Vgl. Aschheim, Brothers, 151. Levi, Erlebnissen, 5. Protokoll der 4. Konferenz der Feldrabbiner des Ostens in Białystok, 5. März 1917. CJ, 1,75 C Ve 1, Nr. 377, Feldrabbinerkonferenzen (Ident. Nr.: 13000), Bl. 114.

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Auf der Suche nach einer jüdischen Tradition in Osteuropa

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Identitätsbildung ihrer Glaubensgenossen aus dem Westen einen Beitrag leisten konnten. Wie dies im Einzelnen aussehen sollte, ließ er offen. Aber schon die Tatsache, dass dieser orthodoxe Rabbiner, der, wie an anderer Stelle erwähnt, das Jiddische nicht als eine Sprache anerkannte und damit ebenfalls nicht frei von Vorbehalten war, den osteuropäischen Juden einen wie auch immer gearteten Vorbildcharakter zuschrieb, markierte eine Haltung, die noch kurz zuvor undenkbar gewesen wäre. Mögen die deutsch-jüdischen Soldaten ihren Glaubensgenossen im Osten auch neuerdings Sympathien entgegengebracht haben, die bis dahin kaum bestanden hatten,16 so waren die seit mehreren Generationen existierenden Vorurteile doch keineswegs obsolet. Dies galt aber auch umgekehrt, also für die Art, in der die deutschen Juden von den osteuropäischen Juden wahrgenommen wurden. So beschrieb Feldrabbiner Dr. Siegbert Neufeld (1891 – 1971) in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel Warum verachten uns die Ostjuden? die verschiedenen Gegensätze im osteuropäischen Judentum und fügte hinzu: „[A]ber alle Richtungen haben eins gemeinsam, den Glauben, daß nur hier im Osten wahres Judentum zu finden sei, daß der Westeuropäer, insbesondere der Deutsche, überhaupt kein Jude mehr sei.“17 Er war daher, wie er berichtete, immer wieder ungläubig gefragt worden, ob er tatsächlich Jude sei und ob er tatsächlich, obwohl man gewusst habe, dass er Rabbiner war, das Schabbatgebot und andere Religionsvorschriften einhalte. Wenn man dann von seinem Judentum überzeugt gewesen sei, habe man noch sein Deutschtum in Frage gestellt. Denn für sie, die sich „religiös und national als Juden fühl[t] en“, sei es „unverständlich, daß man Jude und Deutscher zugleich sein kann“.18 Ganz ähnliche Erfahrungen machte Feldrabbiner Dr. Jacob Sänger (1878 – 1938), der in Galizien eingesetzt war und die Haltung der osteuropäischen Juden gegenüber (modernen) deutschen Rabbinern wie folgt charakterisierte: „Der Doktorrabbiner nimmt bei diesen Juden eine ganz eigentümliche, uns merkwürdig berührende Stellung ein. Auf der einen Seite staunen sie ihn an als einen Menschen, der mit der Wissenschaft engere Fühlung genommen als auch nur einer von ihnen, auf der anderen Seite nehmen sie ihn gerade deshalb als Rabbiner nicht für voll. Sie schenken ihm kein Vertrauen, halten ihn in jüdischen Dingen für einen Am 16 Die enorme Hilfe, die deutsche Juden für ihre Glaubensgenossen im Osten in den Jahrzehnten zuvor geleistet hatten (für Pogromopfer, für Emigranten, für Hungernde), hatte zumeist nur wenig mit Sympathie oder mit aufrichtigem Mitleid zu tun, dafür um so mehr mit der Befürchtung, dass diese „unzivilisierten“ Juden sich im Westen niederlassen und mit ihren negativen Eigenschaften die emanzipatorischen „Errungenschaften“ der westlichen Juden bedrohen könnten. Vgl. hierzu auch Aschheim, Jew, 10. Wie Aschheim betont, war die kulturelle Distanz inzwischen so groß, dass die westeuropäischen Juden nur noch eine philanthropische und paternalistische Haltung gegenüber ihren Glaubensbrüdern im Osten einnehmen konnten. Vgl. Aschheim, Jew, 10. 17 Neufeld, Warum verachten uns die Ostjuden?, in: Der Israelit 32, 8. 8. 1918, 3. 18 Neufeld, Warum verachten uns die Ostjuden?, in: Der Israelit 32, 8. 8. 1918, 3.

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„Heimkehr ins Judentum“

Haarez [Einfaltspinsel oder Ungebildeten], und so waren sie in der Tat erstaunt und sichtlich erfreut, als ich die Frage eines ganz besonders Wißbegierigen, ob ich auch schon einmal Talmud und Schulchan Aruch gelernt habe, mit gutem Gewissen bejahen konnte.“19

Die Begegnung zwischen deutschen und osteuropäischen Juden auf dem östlichen Kriegsschauplatz bot also die Möglichkeit, schon lange bestehende Vorurteile auf beiden Seiten zu überprüfen und unter Umständen zumindest ansatzweise zu revidieren. Welche Auswirkungen dies haben konnte, zeigte sich beispielsweise an der Haltung des liberalen Rabbiners Dr. Jakob Sonderling (1878 – 1964), der ebenfalls als Feldrabbiner in Osteuropa diente, dort aber auch familiäre Wurzeln hatte. In einem während des Krieges vor der Gesellschaft für jüdische Volkskunde in Hamburg gehaltenen Vortrag warnte er seine Zuhörer nicht nur vor vorschnellen Urteilen über die osteuropäischen Juden, sondern sprach sich auch für eine Bewahrung der osteuropäisch-jüdischen Kultur und gegen einen sofortigen und radikalen Kulturtransfer von West nach Ost aus: „Falsch hingegen und verderblich wäre es, zu versuchen, westeuropäische Kultur ganz ohne Vorbereitung und Uebergang auf diese selbständige Kultur aufzupfropfen.“20 Doch prophezeite der liberale Rabbiner, dass von der Begegnung der deutsch-jüdischen Soldaten mit ihren Glaubensgenossen im Osten ein Impuls für ein neues Verständnis vom Judentum ausgehen werde, das nicht ohne Auswirkungen bleibe: „Eine Folge des Krieges wird für das Judentum aber darin bestehen, daß die heimkehrenden jüdischen Soldaten ein neues Judentum in deutschen Landen aufrichten, und stolz und unbekümmert ihres Weges ziehen werden und mit manchem Vorurteil gegen die östlichen Juden brechen werden.“21

Nach Sonderlings Meinung war für die deutschen Juden das Zusammentreffen mit ihren osteuropäischen Glaubensbrüdern die Gelegenheit, sich wieder stärker auf ihre jüdischen Wurzeln zu besinnen. Nicht von West nach Ost sollte also der Transfer, die Übertragung von jüdischem Kulturgut, gehen, sondern von Ost nach West.22 Während Sonderling offenließ, worin genau dieses neue deutsche Judentum bestehen konnte oder sollte, machte um dieselbe Zeit der Pressburger Rabbiner Jakobowitz einen weitaus konkreteren Vorschlag, wie deutsche Juden 19 Sänger, Im galizischen Judenviertel, in: AZJ 32, 6. 8. 1915, 379. 20 Nathan, Bericht, 32. Im darauffolgenden Jahr sollte Sonderling in einem Vortrag in Riga über das Ostjudenproblem seine Absage an einen Kulturtransfer von West nach Ost nochmals bekräftigen. Insbesondere warnte er in dieser Beziehung vor einer „kritiklosen Herübernahme deutsch-jüdischer Gemeindeformen“ und erklärte das „für Deutschland giltige Schulprinzip für den Osten unbrauchbar.“ Der Israelit 25, 20. 6. 1918, 4. 21 Deutsche Israelitische Zeitung 9, 1. 3. 1917, Beilage: Die Laubhütte, 11. 22 Viele Jahre später sollte Sonderling in einer kurzen englischsprachigen Autobiographie bekennen, dass ihn die vier Jahre in Russland zum Juden gemacht hätten. Sonderling, This is my Life, Jacob Sonderling Papers, MS-582, Box 1, Folder 7, AJA, 5.

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mit Hilfe des osteuropäischen Judentums jüdische Identität zurückgewinnen könnten: „Wie gut und vorteilhaft wäre es doch für deutsche Jünglinge, wenn ihre Eltern sie wenigstens ein oder zwei Jahre zum Besuche einer Jeschiwo nach Ungarn schicken würden, damit sie ihr jüdisches Wissen zunächst bereichern und vertiefen, sodann aber auch aus eigener Anschauung erfahren, was es heißt, A==BM AM@ [hebr.: leschem schamajim = für den Gott des Himmels] lernen, welche hohe versittlichende Kraft in dem Bewußtsein ruht, aus dem ewigen Quell der Thora, den Mut des reinen Lebens zu trinken […]. Besonders aber könnte das in Ungarn rege Thoralernen seine Saaten über die deutschen Fluren ergießen und dort herrliche Früchte zeitigen, wenn die deutschen Jünglinge sich zu Vermittlern dieser geistigen Saat gestalten und sich an den ungarischen Hochburgen der Thora einen Teil ihrer Ausbildung holen würden.“23

Einige Jahre vorher hätte Der Israelit kaum seine Spalten für einen solchen Vorschlag hergegeben. Denn letztlich war der Abdruck von Jakobowitz’ Artikel eine stillschweigende Zustimmung der Herausgeber des orthodoxen Organs zu diesen Ausführungen, in denen nicht nur auf die persönlichen Vorteile eines Jeschiva-Studiums im Osten, sondern auch auf die positiven Auswirkungen für das deutsche Judentum insgesamt hingewiesen wurde: Nach ihrer Rückkehr konnten die deutschen Jeschiva-Bachurim als Mittler einer erneuerten Kultur des Toralernens im deutschen Judentum auftreten. In eine ganz ähnliche Richtung, wenn auch unter säkularem Vorzeichen, wiesen die Ausführung des Berliner Zionisten und Mitglied der jüdischen Studentenvereinigung Maccabaea Gerhard Holdheim (1892 – 1967) vom Januar 1917, der erklärte, dass der Krieg „die Juden des Ostens in den Vordergrund unseres Interesses gerückt“ habe, wobei Polen „das Land der unbegrenzten jüdischen Möglichkeiten“ sei: „Ein gewaltiges Feld liegt vor uns, für unsere zionistische Arbeit, aber auch ein gewaltiges Feld für die Neugestaltung unseres eigenen jüdischen Menschentums. Die Frage, ob der Ostjude in menschlicher Hinsicht mehr oder weniger wertvoll ist als der Westjude, soll hier nicht untersucht werden, denn sie ist völlig belanglos für unsere Stellung den Juden Polens gegenüber. Auf jeden Fall ist er der jüdischere, und nur vom Osten her können wir abstrakten Nationalisten, die wir uns nach mehr Judentum sehnen, neu belebende Kräfte erwarten. Zu den östlichen Juden in ein enges Verhältnis zu gelangen, wird unsere erste und wichtigste Aufgabe nach dem Kriege sein. […] Und wer es irgendwie kann, wird mehrere Jahre in Polen zubringen. Er wird seinen Wohnsitz dorthin verlegen und seinem Beruf entsprechend dort wirken, den polnischen Juden zu Nutze, aber auch sich selbst: denn nur ein enges Gemein-

23 Jakobowitz, Ein „Mitteleuropa“ fürs Thorastudium, in: Der Israelit 34, 24. 8. 1916, 3.

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schaftsleben mit unseren östlichen Brüdern wird uns zu ganzen Juden machen können.“24

Das deutsch-jüdische Kriegserlebnis im Osten und die Verwerfungen, die die militärischen Auseinandersetzungen mit sich brachten, sollten tatsächlich tiefgreifende Folgen für das deutsche Judentum haben. Die jüdische Renaissance in der Zeit der Weimarer Republik25 wäre ohne diese Begebenheiten wohl kaum denkbar gewesen. Natürlich darf auch diese außerordentlich ergiebige Wiederbelebung oder Neuerfindung jüdischer Kultur nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nur eine Minderheit des deutschen Judentums betraf. Insofern dürfte es wenig überraschen, dass die Minderheit der Minderheit in ihrer Suche nach einem vermeintlich authentischen Judentum, das man im Osten vermutete, kaum wahrgenommen wurde. Denn auch die deutsche Orthodoxie war vom Krieg in einer Weise beeinflusst worden, der in den nächsten beiden Jahrzehnten zu einer deutlichen Transformation führen sollte. Zwar hatte schon kurz vor Ausbruch des Weltkriegs eine misstrauische Annäherung zwischen deutscher und osteuropäischer Orthodoxie begonnen, aber erst der Krieg selbst sollte ihr Verhältnis auf eine völlig neue Grundlage stellen. Vertreter der deutschen Orthodoxie Hirsch’scher Prägung, vor allem Rabbiner, leisteten in dieser Zeit regelrechte „Aufbauhilfe“, die in erster Linie als Beitrag zur Wahrung des toratreuen Judentums verstanden wurde.26 Auch wenn dies die Einführung oder Übertragung nichtjüdischer kultureller Güter mit sich brachte, so bemühten sich orthodoxe deutsche Rabbiner und Pädagogen doch gleichzeitig darum, traditionelle jüdische Institutionen zu erhalten. Neben den Chadarim verdankten insbesondere viele Jeschivot im Osten ihren Fortbestand dem tatkräftigen Einsatz orthodoxer deutscher Juden, der auch in der Zwischenkriegszeit mit Hilfe des von Deutschländer geleiteten Keren Ha-Tora anhielt.27 Die Bewahrung der Jeschiva-Kultur in Osteuropa war für die Repräsentanten der deutschen Orthodoxie nicht nur ein Mittel, um die religiöse Gelehrsamkeit des traditionellen osteuropäischen Judentums zu retten, sondern auch ein Weg zur Erhaltung eines Judentums, 24 Holdheim, Rückblicke und Ausblicke. Betrachtungen zur K.J.V.-er Tagung, in: Der Jüdische Student 13, 26. 1. 1917, 348. Ein markantes Beispiel für einen deutschen Zionisten, der kurz nach Kriegsende den Gang nach Osten wagte, ist Max Mayer. Seit 1919 leitete er das von ihm errichtete jüdische Gymnasium im litauischen Marijampole˙. Nach sechs Jahren kehrte er nach Deutschland zurück, um dort die Jugend- und Kulturabteilung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland zu leiten. Dies eröffnete ihm, wie er erklärte, die Möglichkeit, den Juden im Westen all das zurückzugeben, was er im Osten erlebt und gelernt hatte. Vgl. Mayer, Jew, 344 – 357, bes. 357. 25 Vgl. hierzu vor allem Brenner, Kultur. 26 Vgl. bspw. Grill, Politicisation, 227 – 247; Grill, Tageszeitung, 185 – 207. 27 Vgl. Deutschländer, Erziehungswerk, 18. Zu Deutschländers Bedeutung für Erhaltung und auch Errichtung von Jeschivot vgl. Dr. Leo Deutschländer @’’:, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 11/12, 344.

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das ihrer Auffassung von Authentizität am ehesten entsprach. In diesem Sinne war es nur folgerichtig, wenn sich einzelne orthodoxe deutsche Juden nach dem Krieg darum bemühten, die Jeschiva als Ort der Vermittlung religiösen Wissens im deutschen Judentum wiederzubeleben. Bestes Beispiel dafür ist Joseph Carlebach, der während seiner Dienstzeit in Kaunas zusammen mit seinem Schwager Rosenak die Jeschiva in Slobodka massiv unterstützt und auch den Talmud nach der litauischen Methode studiert hatte.28 Als Carlebach nach dem Krieg die Nachfolge seines Vaters als Rabbiner in Lübeck antrat, begleitete ihn Samuel Joseph Rabinow (1889 – 1963), ein herausragender Talmudist und ehemaliger Schüler des Chofets Chaim (1838 – 1933). Neben dem Wunsch, damit die rabbinische Rechtsprechung in Deutschland zu fördern,29 war Hauptgrund für die Übersiedlung Rabinows nach Deutschland der, dass Carlebach in Lübeck eine Jeschiva zu gründen beabsichtigte und hierfür nicht auf die Mitarbeit eines exzellenten Talmudgelehrten verzichten wollte. Kurze Zeit später übernahm Carlebach das Direktorat der TalmudTora-Realschule in Hamburg und erbat sich von seiner neuen Gemeinde, Rabinow nach Hamburg mitbringen zu dürfen, um dort ebenfalls eine Jeschiva zu gründen.30 Kurz zuvor (1919) hatte ein gewisser Moses Schneider (1884 – 1954), der wie Rabinow aus Litauen stammte, in Frankfurt am Main auch eine Jeschiva gegründet, die bei der orthodoxen Jugend auf sehr positive Resonanz stieß.31 Die Wiederbelebung der Jeschiva-Kultur auf deutschem Boden mit Hilfe osteuropäischer Juden war eine Möglichkeit für das orthodoxe deutsche Judentum, eine intensive Beschäftigung mit dem rabbinischen Schrifttum zu fördern und somit wieder an eine verloren gegangene Tradition anzuknüpfen. Eine andere Option bestand darin, diese Tradition, wie es Jakobowitz seinerzeit vorgeschlagen hatte, durch den Besuch einer Jeschiva in Osteuropa selbst zu reaktivieren. Die besondere Attraktivität eines solchen Besuchs ergab sich daraus, dass das Talmudstudium mit einer Teilhabe am osteuropäischjüdischen Alltag verbunden war, der deutsche Bachur sich also im vermeintlich echtjüdischen Milieu bewegen und in der permanenten Begegnung mit seinen osteuropäischen Glaubensgenossen weitere Impulse für eine Rückbesinnung auf jüdische Werte erhalten konnte. Und gerade diese Option wuchs in der Zwischenkriegszeit zu einer regelrechten Bewegung an, die, wie 28 Vgl. Gillis-Carlebach, Messiasse, 127. 29 Vgl. Breuer, Orthodoxie, 352. 30 Vgl. J. Carlebach, Alltag, 19. Vgl. auch die einleitenden Sätze aus dem Tätigkeitsbericht der Hamburger Jeschiva, in dem ihre Gründung in direkten Zusammenhang mit den Erfahrungen im Osten während des Ersten Weltkriegs gestellt werden. Tätigkeitsbericht über die ThoraLehranstalt „Jeschiwah“ E.V. Hamburg, in: Lorenz, Juden, 792 – 793. Im Übrigen sollte neben Rabinow schon bald ein weiterer Jude aus Litauen – Rabbiner Resnick – als Dozent an der Hamburger Jeschiva unterrichten. Vgl. hierzu Tätigkeitsbericht über die Thora-Lehranstalt „Jeschiwah“ E.V. Hamburg, in: Lorenz, Juden, 795 – 796. 31 Vgl. Breuer, Orthodoxie, 352.

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Grunfeld schreibt, großes Gewicht in der Geschichte der deutschen Orthodoxie erlangte.32 Viele angehende deutsch-orthodoxe Rabbiner und andere interessierte Juden strömten in den 20er und 30er Jahren in die osteuropäischen Jeschivot, um dort für einige Jahre Talmud zu studieren und damit ihre religiöse Gelehrsamkeit zu erweitern.33 Bei dieser Entscheidung spielten offenbar vor allem zwei Gründe eine Rolle. Entweder empfand der aus Deutschland stammende Bachur seine Kenntnisse in der schriftlichen, aber vor allem auch in der mündlichen Lehre als ungenügend und wollte diesem Mangel abhelfen. Insofern ging es darum, das deutliche Ungleichgewicht zwischen Tora und derech erets auszugleichen. Oder aber der Besuch einer Jeschiva war Ausdruck einer grundsätzlichen „Kultur-Kritik“34 und darum eine Absage an das bislang gültige Prinzip der deutschen Neo-Orthodoxie, wie es Hirsch formuliert hatte. In diesem Fall ging es folglich nicht mehr so sehr um Tora und derech erets, sondern um Tora statt derech erets. Die Wurzeln der deutsch-orthodoxen Tendenz, in der Zwischenkriegszeit an einer osteuropäischen Jeschiva zu studieren, lagen in der orthodoxen Jugendbewegung, insbesondere dem Ezra, sowie im Studentenbund.35 Damit zeigte sich, dass gerade ein Teil der jüngeren Generation innerhalb der deutschen Orthodoxie beabsichtigte, einen neuen Weg einzuschlagen. Hatte Rabbiner Jakobowitz 1916 junge deutsche Juden dazu aufgerufen, ein oder zwei Jahre an einer Jeschiva des Ostens zu studieren, so konnte er drei Jahre später feststellen, dass sein Appell nicht ohne Wirkung geblieben war. Bereits 1919 stammten immerhin mehr als 40 % der Bachurim an der Jeschiva in Bratislava aus Deutschland.36 Von weitaus größerer Bedeutung für die junge Generation der deutschen Orthodoxie sollten allerdings drei andere Jeschivot in Osteuropa werden: die Mirer, die Telzer (in Telsˇiai) und die Slobodkaer (in Vilijampole), die als Inbegriff der berühmten litauischen Jeschiva- und Mussarkultur galten. Bereits 1924 hatte Joseph Carlebach einen programmatischen Aufsatz veröffentlicht, in dem er Kritik an der modernen jüdischen Schulerziehung im Westen übte und ihr das Ideal der litauischen Jeschiva-Erziehung, dem die deutsche Orthodoxie nachstreben solle, gegenüberstellte, denn dort sei das „Ideal der entschiedenen Schulreformer längst verwirklicht“.37 Ein Beispiel für einen deutschen Jeschiva-Bachur in Osteuropa ist Simon Schwab (1908 – 1995), der 1908 in Frankfurt am Main geboren wurde und bis zu seinem 15. Lebensjahr die von S. R. Hirsch gegründete Realschule und 32 Vgl. I. Grunfeld, Generations, 63. 33 Dabei ist freilich zu beachten, dass nicht nur orthodoxe Juden aus Deutschland, sondern auch aus anderen „westlichen“ Ländern, insbesondere Großbritannien und den USA, in der Zwischenkriegszeit in großer Zahl den Weg in osteuropäische Jeschivot fanden. 34 Breuer, Orthodoxie, 351. 35 Vgl. I. Grunfeld, Generations, 63. 36 Zu den Zahlen vgl. Jüdische Rundschau 5, 20. 1. 1920, 32. 37 J. Carlebach, Bestrebungen, 1097 – 1098.

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anschließend Salomon Breuers Jeschiva besuchte. Von 1926 bis 1929 studierte er an der Telzer und von Herbst 1929 bis 1931 an der Mirer Jeschiva.38 Wie ein Biograf meint, waren die dortigen Talmudgelehrten von größtem Einfluss auf die Entwicklung des angehenden Rabbiners, habe sich doch Schwab eine Synthese von osteuropäisch-jüdischer Tora-Gelehrsamkeit und den Lehren Hirschs und Breuers angeeignet.39 Demnach kam Schwab wohl der ursprünglichen Auffassung der Tora im derech erets sehr nahe. Dabei war es für den Rabbiner besonders wichtig, diese neue Haltung bezüglich des „neoorthodoxen Bündnisses zwischen Kultur und Tradition“,40 also die stärkere Gewichtung und Berücksichtigung der religiösen Gelehrsamkeit, an seine orthodoxen Glaubensgenossen in Deutschland weiterzugeben. Als er 1933 im bayerischen Ichenhausen Bezirksrabbiner wurde, wollte auch er eine Jeschiva eröffnen. Doch nachdem bereits einige Bachurim gekommen waren, drohte die Hitlerjugend mit der Anwendung von Gewalt, so dass das ganze Projekt scheiterte.41 Im folgenden Jahr veröffentlichte Schwab unter dem bezeichnenden Titel Heimkehr ins Judentum eine Schrift, in der er die deutschen Juden aufforderte, weitaus mehr Zeit für eine gründliche Beschäftigung mit der Tora aufzuwenden und sich von der modernen Kultur zu befreien oder, wie er es nannte, die „Antiassimilation“42 anzustreben. Auch wenn sich in dieser Schrift angesichts der nationalsozialistischen Herrschaftsübernahme eine radikale Absage an das Tora im derech erets-Prinzip auszudrücken schien,43 so blieb Schwab doch dem Hirsch’schen Ideal sein Leben lang treu.44 Freilich ließ sich der prägende Einfluss seiner Erfahrung in den beiden osteuropäischen Jeschivot nicht verleugnen. Dies zeigte sich deutlich, als er 1958 Rabbiner an der New Yorker Gemeinde K’hal Adath Jeschurun (Washington Heights) und damit Kollege von Joseph Breuer (1882 – 1980) wurde. Während Breuer das Rabbinat ganz in der Tradition Hirschs und der von ihm gegründeten Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt ausübte, nahm Schwab laut Lowenstein gegenüber einigen liberaleren Aspekten der Hirsch’schen Lehre einen eher zweifelnden Standpunkt ein, was auf seinen Aufenthalt an osteuropäischen Jeschivot zurückzuführen war.45 Weitere Beispiele für deutsche Bachurim in osteuropäischen Jeschivot sind Auch zwei seiner Brüder sollten an einer osteuropäischen Jeschiva studieren. Vgl. Schwab, Rav, 46; Haus, Juden auf dem Lande, 110. Breuer, Orthodoxie, 352. Vgl. Schwab, Rav, 46 – 47. Um deutlich zu machen, was er damit meinte, fügte er diesem Abschnitt den hebräischen Nebentitel IL4 ýL7 @9F (= avel derech erets, die Sünde des derech erets) hinzu. 43 So schrieb Schwab beispielsweise: „Gott will unsre D i s s i m i l a t i o n, aber auch die zeitgenössische Menschheit wünscht sie, warum sollen wir uns gegen Gott u n d Menschheit stemmen wollen?“ Schwab, Heimkehr, 145. Auch wenn sich in Schwabs Werk eine fundamentale Kulturkritik Bahn brach, so schien er dennoch keineswegs eine völlige Lossagung vom derech erets zu beabsichtigen. 44 Vgl. Schwab, Tora, 236 – 252. 45 Vgl. Lowenstein, Frankfurt, 157. 38 39 40 41 42

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der bereits erwähnte Dr. David Carlebach und Dr. Jechiel Michel Schlesinger (1898 – 1948) aus Hamburg. Wie Alexander Carlebach meint, hatte bei David Carlebach der Besuch der Slobodkaer Jeschiva46 und des dortigen Kollel47 einen solch bleibenden Eindruck hinterlassen, dass er sich mit der litauischen Mussar- und Jeschiva-Kultur in starkem Maße identifizierte. Letzten Endes sei er mit ganzem Herzen „ostjüdisch“ geworden. Dies wurde besonders augenfällig, als er nach seiner Rückkehr aus Litauen die Nachfolge seines verstorbenen Vaters Emanuel als Rabbiner der Gemeinde Adass Jeschurun antrat. In seiner Antrittspredigt geißelte er die Spaltung zwischen den alteingesessenen und den aus Osteuropa zugewanderten Juden und machte klar, dass er diese Erscheinung in seiner Gemeinde nicht dulden werde. Zwar hatte auch schon sein Vater, nicht zuletzt durch seine Tätigkeit in Memel und Warschau beeinflusst, für eine wohlwollende Haltung gegenüber den Ostjuden plädiert, doch hatte er es nicht, wie sein Sohn später, in derart kategorischer Weise getan.48 Einer der Kommilitonen Carlebachs an der Jeschiva in Slobodka war Jechiel Michel Schlesinger, der angeblich zum besten Bachur avancierte. Welch besondere Bedeutung für ihn eine genaue Kenntnis der Jeschiva-Kultur hatte, wird schon allein daran erkennbar, dass er noch in zwei weiteren Jeschivot – in Turnau und im weißrussischen Mir – studierte. Nach seiner Rückkehr wurde Schlesinger Dajan der Israelitischen Religionsgesellschaft in Frankfurt49 und übernahm damit Aufgaben der rabbinischen Rechtsprechung. Insofern trug der Besuch osteuropäischer Jeschivot auch dazu bei, ein Gebiet zu fördern, auf dem die deutsche Orthodoxie bislang weitgehend von ihren osteuropäischen Glaubensgenossen abhängig gewesen war. Für Schlesinger war die JeschivaErfahrung in Osteuropa schließlich so prägend, dass er nicht nur andere junge orthodoxe deutsche Juden veranlasste, an einer osteuropäischen Jeschiva zu studieren, sondern auch nach seiner Flucht aus Deutschland in Jerusalem selbst eine Jeschiva (Kol Tora) gründete, die bis heute eine der renommiertesten und größten ihrer Art weltweit ist.50 Ein letztes Beispiel für die prägende Wirkung des Besuchs einer osteuropäischen Jeschiva ist Bert Lehmann. Dieser wurde 1916 in Stockholm geboren, zog aber 1928 mit seiner Familie nach Hamburg, da ihm sein Vater eine gute jüdische Erziehung bieten wollte, was in Schweden nicht möglich gewesen wäre. In Hamburg besuchten er und seine Brüder die Talmud-Tora-Real46 Wie aus seinem auf Litauisch verfassten Lebenslauf hervorgeht, besuchte David Carlebach zwischen 1924 und 1927 die Jeschiva in Slobodka/ Vilijampole. Vgl. LCVA, 391, 7, 894, 2. 47 Institution, an der in erster Linie verheiratete Männer ihr talmudisches Wissen weiter vertiefen können. 48 Vgl. A. Carlebach, Adass, 125. 49 Vgl. A. Carlebach, Adass, 122. 50 Vgl. Musman, Chassidus Ashkenaz Restored. HaRav Yechiel Schlesinger zt’l – 9th Adar 5759, His Fiftieth Yahrtzeit, 3. Teil, in: Dei’ah veDibur, 28. 7. 1999, http://www.chareidi.org/archives5759/ devorim/ashkenaz.htm (letzter Aufruf 7. 8. 2012).

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schule, die kurz zuvor noch von Joseph Carlebach geleitet worden war. Im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung und der immer weiter um sich greifenden Verfolgungen jüdischer Bürger beschloss der Vater, mit seiner Familie nach Schweden zurückzukehren. Anfang 1937 entschied sich Bert Lehmann schließlich dafür, an der Mirer Jeschiva zu studieren, um sein dürftiges Wissen über die Quellen des Judentums zu erweitern. Zwar hatte er wohl nie vor, Rabbiner zu werden, und auch sein Aufenthalt von eineinhalb Jahren war kaum dazu angetan, ihm zu einer größeren religiösen Gelehrsamkeit zu verhelfen, doch übte das Jeschiva-Erlebnis auf ihn, wie er selbst im Folgenden bekennt, eine einschneidende Wirkung aus: “When I came back home to Sweden […] I was so deeply impressed and so deeply felt the ruach [Geist] of the Mir that I was able to give that to my brothers, and they continued in a yeshivishe style of learning. Through this trip, I brought real Yiddishkeit to our family. I’ll tell you frankly, if I would never have made that trip, I and my brothers would probably have ended up with non-Jewish wives in Sweden. And that changed the whole family structure, even my parents. We had German Orthodoxy at home but that was a far cry from the Orthodoxy of the Mir.”51

Gerade diese Stärkung der jüdischen Tradition und des jüdischen Empfindens, wie sie Lehmann für sich und seine Familie konstatiert, dürfte für die meisten deutschen Bachurim in osteuropäischen Jeschivot von wesentlicher Bedeutung gewesen sein. In diesem Sinne trugen die Jeschivot in Osteuropa entscheidend dazu bei, dass ein Teil der deutschen Orthodoxie ihre „Heimkehr ins Judentum“ antreten konnte.52 Ganz wichtig bei diesem Prozess einer gewissen Dissimilation war sicher auch die Sprache. Denn die Umgangssprache in den Jeschivot war Jiddisch, das, so Zvi Erich Kurzweil (1911 – 1992), der als orthodoxer deutscher Jude die Mirer Jeschiva besuchte, auch die ausländischen Bachurim in „verhältnismäßig kurzer Zeit“53 erlernten. Damit bedienten sich deutsche Juden wieder eines Idioms, das im deutschen Judentum, auch bei der Orthodoxie, seit der Emanzipationszeit als Sprache des Ghettos und als Mauscheldeutsch weitgehend in Misskredit geraten war. Folglich waren der aktive Gebrauch und die Beherrschung des Jiddischen auch ein positives Bekenntnis zur jüdischen (Diaspora-)Tradition. Wie das Beispiel 51 Zitiert nach Cooper, ATrip Back in Time. The Mirer Yeshiva in 1937 – 38, in: Hamodia Magazine, 19. 7. 2006. 52 Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es auch Fälle gab, in denen deutsche Bachurim sich nicht an das Jeschiva-Leben anpassen konnten. Kurzweil erwähnt beispielsweise einen aus Deutschland stammenden Jeschiva-Zögling in Mir, der nicht mehr an den Schi’urim (Lehrveranstaltungen) teilnahm. Kurzweil, der das Gespräch mit seinem Kommilitonen suchte, fand diesen in gedrückter Stimmung vor, was seiner Meinung nach damit zusammenhing, dass er vor allem mit der Lebensform und Lernordnung an der Jeschiva nicht zurecht kam. Trotz Kurzweils Zureden verließ dieser Bachur kurze Zeit später die Jeschiva ganz. Kurzweil, Abschied, 81. 53 Kurzweil, Abschied, 81.

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Emanuel Carlebachs zeigt, beneideten orthodoxe deutsche Väter ihre Söhne, die eine osteuropäische Jeschiva besucht hatten, nicht zuletzt deshalb, weil sie fließend Jiddisch sprechen konnten.54 Welch positive Haltung die deutsche Orthodoxie inzwischen gegenüber dem Jiddischen als Bestandteil jüdischer Kultur einnahm, drückte Joseph Carlebach 1931 unter dem Eindruck seiner Teilnahme an der Keren Ha-Tora-Fahrt zu jüdischen Kulturstätten des Ostens wie folgt aus: „Die Umgangs- und Zeitungssprache ist so durchsetzt von der internationalen Terminologie des gesellschaftlichen, kulturellen Lebens, hat sich die wissenschaftliche Kunstsprache so vollkommen in Lehnwörtern zu eigen gemacht, daß das vielverspottete Jiddisch ein Kulturinstrument ersten Ranges wurde und daher schon die gesprochene Sprache dem Einzelnen die Elemente allgemeinen Kulturlebens zuträgt.“55

Eine solche Äußerung aus dem Mund eines deutschen Rabbiners wäre noch zwei Jahrzehnte zuvor wohl kaum denkbar gewesen. Mit ihr bestätigte Carlebach unausgesprochen, dass auch die deutschen Bachurim durch Verwendung des Jiddischen eine engere Verbindung mit der jüdischen Kultur eingingen. Wie schon erwähnt, konnte mit der Entscheidung, eine osteuropäische Jeschiva zu besuchen, nicht nur der Wunsch verbunden sein, das talmudische Wissen in einer echtjüdischen Atmosphäre zu vertiefen, sondern auch eine radikale Absage an das Tora im derech erets-Prinzip. Insbesondere infolge des Erstarkens der nationalsozialistischen Bewegung seit Ende der 1920er Jahre und der Machtübernahme Hitlers 1933 geriet Hirschs Ideal in eine schwere Krise und wurde, wie Kurzweil bemerkt, zunehmend „als unzeitgemäße Utopie“ betrachtet. Auch wenn Kurzweils Feststellung, dass das „Aufkommen des Nationalsozialismus […] zur Absage an die deutsche Kultur führte“ und orthodoxe deutsche Juden stattdessen die „Geschlossenheit der ostjüdischen Thorakultur als neues Ideal“56 wählten, für diesen Zeitpunkt zu pauschal erscheint, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass es große Bedenken gegen die Gültigkeit des Tora im derech erets-Prinzips gab. Nach Meinung Hermann Schwabs trugen gerade der Besuch und die Atmosphäre einer osteuropäischen Jeschiva dazu bei, dass deutsche Bachurim am Tora im derech erets-Ideal zu zweifeln begannen oder diesem gegenüber sogar eine feindselige Haltung einnahmen. Dabei übersahen sie in seinen Augen aber einen bedeutenden Punkt: „In questioning or rejecting Hirsch’s interpretation of ,Yafe Talmud Torah im derekh eretz‘ they forgot that for the

54 Vgl. A. Carlebach, Adass, 69 – 70. 55 J. Carlebach, Keren, 1128. 56 Kurzweil, Abschied, 69.

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best part of a century this interpretation had served as a guide to thousands and had saved three generations for Judaism.“57 Daher dürfte es kaum verwundern, wenn sich gerade die ältere Generation innerhalb der deutschen Orthodoxie gegen eine radikale Absage an das von Hirsch formulierte Prinzip wandte, musste sie doch in dieser Absage vor allem auch eine fundamentale Infragestellung ihres eigenen Lebenswegs erblicken. 1931 führte ein gewisser W. Halberstadt58 in einem Artikel für die kurz zuvor gegründete Monatsschrift Nachalath Z’wi, die in erster Linie das Erbe Hirschs verteidigen und verbreiten sollte, aus, dass im orthodoxen deutschen Judentum das Tora im derech erets-Prinzip in eine Krise geraten sei und viele auf Grund der Berührung mit dem osteuropäischen Judentum in jüngster Zeit meinten, man solle wieder zu einer „naiveren, ursprünglicheren Auffassung des Judentums zurückkehren“. Für Halberstadt war diese Auffassung völlig unhaltbar, da die deutsche Orthodoxie „viel zu sehr in die Bande der westeuropäischen Kultur verstrickt [sei], als daß eine Rückkehr zu einem naiv erfaßten Judentum möglich wäre“. Ganz im Gegenteil solle sich die deutsche Orthodoxie davor hüten, eine solche Lebensanschauung vom osteuropäischen Judentum zu übernehmen. Der Transfer müsse vielmehr, wie er fast schon beschwörend sagte, in die andere Richtung gehen: „Nur die Erfassung und Weiterbildung des Ideals, wie es Hirsch @‘‘J: uns gelehrt, ist für uns möglich, und hier scheint mir auch der Weg gewiesen zu sein, der im Osten zu gehen ist, wenn es dort nicht in absehbarer Zeit zu einem ähnlichen Zusammenbruch kommen soll, wie wir ihn in Deutschland am Beginn des 19. Jahrhunderts erlebt haben. Nicht Rückkehr zum naiven, gefühlsmäßig erfaßten Judentum für den Westen, sondern Entwicklung zum sinn- und verstandesmäßig erfaßten Judentum für den Osten, das ist der Weg, der eingeschlagen werden muß, um den Juden die 8L9N [hebr.: Tora] zu erhalten. Und das scheint mir Grund genug, um in dieser Zeitschrift die Skizzierung des Bildungsideals S. R. Hirschs @‘‘J: zu rechtfertigen.“59

Tatsächlich übersahen diejenigen orthodoxen deutschen Juden, die das Tora im derech erets-Prinzip grundsätzlich in Frage stellten, dass sich das traditionelle osteuropäische Judentum, allen voran das litauische, in dieser Zeit den Lehren Hirschs zunehmend annäherte und eine radikale Absage des Erwerbs von säkularer Bildung langsam aufgab.60 Dafür waren neben den zahlreichen 57 Schwab, History, 128. 58 Es dürfte sich hierbei um Willy (Seev) Halberstadt (1888 – 1938) handeln, der zwischen 1926 und 1928 Leiter der Grund- und Volksschule der Adass Jisroel in Berlin war. Vgl. Sinasohn, Geschichte, 55 – 57. 59 W. Halberstadt, Das Bildungsideal S. R. Hirschs @‘‘J:, in: Nachalath Z’wi 1 (1931), Heft 7, 243 – 244. 60 Selbst religiöse Autoritäten wie der Gerer Rebbe, der die Beschäftigung mit säkularen Gegenständen als verboten bezeichnete, konnte nicht umhin, seinen großen Respekt für S. R. Hirsch auszudrücken. Gegenüber dem bereits erwähnten Simon Schwab wies er ausdrücklich darauf hin, dass man dennoch die Ehre von „Rabbiner Hirsch, dem Zaddik aus Frankfurt bewahren

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„Heimkehr ins Judentum“

traditionsorientierten Schulen, in denen ein Minimum an säkularer Bildung angeboten wurde, gerade die Jeschivot selbst das beste Beispiel. So war die Telzer Jeschiva nicht nur eng mit dem Javne-Schulwesen, in dem im Grunde das Tora im derech erets-Prinzip Anwendung fand, verbunden, sondern auch die Jeschiva selbst war keineswegs unberührt von säkularer Bildung. In einer Mechina (Vorschule), die auf den Jeschiva-Besuch vorbereiten sollte, wurden die zehn- bis fünfzehnjährigen Knaben nicht nur in Tanach, Talmud und anderen jüdischen Gegenständen unterrichtet, sondern auch in Rechnen und Litauisch.61 Mag man dies noch als reines Zugeständnis an die Regierung bewerten, so galt es für die Zustände in der Jeschiva selbst nicht. Wie Esriel Carlebach (1909 – 1956), der die Telzer (und später die Slobodkaer) Jeschiva besucht hatte, zu berichten wusste, lasen die dortigen Bachurim auch ausgiebig nichtjüdische Literatur (in hebräischer Übersetzung), was „zwar offiziell nicht geboten, so doch wenigstens nicht verboten“62 war. Welch tiefen Eindruck die Bekanntschaft der osteuropäischen Bachurim mit deutscher Kultur hinterließ, zeigt folgende Schilderung Carlebachs: „Jener dort hat Deutsch gelernt und liest mit einem Freund Faust, bloß spricht er das Fejscht aus. Neulich erklärte er mir, daß er ,von Goethe halte’, in einem Ton, als ob mir, dem ,Daitsch‘ ein persönlicher Gefallen damit erwiesen sei. […] Es sieht sich seltsam an, wie in der litauischen Hütte um den dreibeinigen Tisch JeschiwahBachurim sitzen und bei einer Kerze in Werken blättern, die so entfernte Welten behandeln, die mit für sie so abstrakten Begriffen rechnen. Es müßte wohl Gegenstand gesonderter Betrachtung sein, wie das gesunde, jüdische Empfinden dieser Talmudschüler den inneren Kämpfen der Helden deutscher Romane und Dramen begegnet. Soviel scheint sicher : Viel so verständnisvolle, natürlich fühlende Leser wird man nicht sobald anderswo finden. Interessant ist es für den Deutschen, der, wenn er kaum angekommen, mit Fragen überfallen wird, wie: Was haltet Ihr von Werther? Wos is dos: transzendental? Ihr halt Kant far a Frumen?“63

Demnach erweiterten die orthodoxen deutschen Juden, die an einer osteuropäischen Jeschiva lernten, nicht nur ihr religiöses Wissen, sondern sie unterstützten auch die osteuropäischen Bachurim bei der Auseinandersetzung mit der nichtjüdischen Kultur.64 Schon 1927 hatte Rabbiner Klein erklärt, dass

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müsse, weil er ein lebender Mussar-Sefer [Moral-Buch] gewesen ist“. Die Äußerung des Gerer Rebbe ist zu finden bei I. Grunfeld, Generations, 48. Vgl. Telschi, in: Jeschurun 11 (1924), Heft 5/6, 302. Esriel Carlebach, Telschi, in: Menorah 4 (1926), Heft 1, 42. Esriel Carlebach, Telschi, in: Menorah 4 (1926), Heft 1, 42 – 43. Eine gewisse Annäherung an die nichtjüdische Kultur zeigte sich darüber hinaus auch darin, dass die Bachurim laut Carlebach wochentags halb, am Schabbat aber ganz europäisch gekleidet gewesen sein. Vgl. Esriel Carlebach, Telschi, in: Menorah 4 (1926), Heft 1, 43. Dies galt sicherlich auch für die Mirer Jeschiva, an der zwar für die einheimischen JeschivaZöglinge die Lektüre weltlicher Bücher verboten war, jedoch nicht für die aus dem Ausland

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Auf der Suche nach einer jüdischen Tradition in Osteuropa

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die orthodoxe deutsche Jugend, sofern sie ihren säkularen Kenntnissen „auch noch wirklichen Reichtum an Thaurokenntnissen“ hinzuzufügen imstande sei, „mustergebend für die um die heiligsten jüdischen Güter schwer ringenden Brüder im Osten werden“65 könne. In dieser Beziehung sei die orthodoxe Jugend aus Deutschland auf dem besten Weg, denn der Besuch von osteuropäischen Jeschivot sei keine Ausnahme mehr. Dass dieser aber zur Selbstverständlichkeit werde, daran müsse unablässig gearbeitet werden. In diesem Sinne sollte der Jeschiva-Besuch der Vervollkommnung des Tora im derech erets-Prinzips dienen, damit es dann der osteuropäischen Orthodoxie als Vorbild in ihrem Kampf gegen die Erscheinungen der Moderne dienen konnte. Acht Jahre später sollte Rabbiner Klein in seinem Artikel Thora im Derech Erez erneut darauf hinweisen, dass Hirschs Bildungsideal auch für das osteuropäische Judentum großen Nutzen gehabt habe und noch immer habe, da die dortige Jugend, mit Ausnahme der Jeschiva-Zöglinge, „ganz verwahrlost“66 sei. Diese Meinung eines Vertreters der älteren Generation innerhalb der deutschen Orthodoxie war, wie erwähnt, alles andere als ungewöhnlich. Was aber aufhorchen ließ, war Folgendes: Wie Klein erklärte, hatten ihm viele religiöse Autoritäten des osteuropäischen Judentums zu verstehen gegeben, „daß sie es für ein großes Glück betrachten würden, wenn ihnen ein Rabbiner Hirsch erstünde“.67 Zwei Jahre später musste der aus Litauen stammende Rabbiner Weinberg, der am Berliner Rabbinerseminar unterrichtete, zwar eingestehen, dass die Toragrößen in Osteuropa immer noch mit Skepsis dem Erziehungssystem Hirschs begegneten, doch gab es seiner Meinung nach keine Alternative zur Etablierung des Tora im derech erets-Prinzips im osteuropäischen Judentum.68 Nur zweieinhalb Jahre später brach mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs

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stammenden. Vgl. Kurzweil, Abschied, 73. Es bedarf wohl kaum Phantasie, um auch hier einen kulturellen Austausch zwischen den beiden Gruppen zu vermuten. Klein, Agudas Jisroel und die Jugend, in: Der Israelit, Blätter 11, 16. 6. 1927, 1. H. Klein, Thora im Derech Erez, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 9/10, 247. Vgl. hierzu auch die Äußerung des Czortkower Rebbe gegenüber Klein, dass die deutsche Orthodoxie sich darum bemühen solle, die Werke Hirschs ins Hebräische zu übersetzen, damit die polnischen Chassidim ihre Jugend vor den Missinterpretationen der Feinde des Tora-Judentums schützen können. Hirsch sei, so der Rebbe, „sowohl modern als auch echt jüdisch, nein er ist sogar chassidisch“. Zitiert nach I. Grunfeld, Generations, 47. H. Klein, Thora im Derech Erez, in: Nachalath Z’wi 5 (1935), Heft 9/10, 247. Vgl. hierzu auch die Bemerkung Hermann Schwabs, der ca. Ende der 20er Jahre den bedeutenden chassidischen Aktivisten A. G. Fridenzon in Ło¯dz˙ besuchte und überrascht war zu hören, dass dessen Sohn Samson Raphael hieß. Wie ihm Fridenzon erklärte, sei seine Verwunderung nicht ungewöhnlich. Als er während der Brit Mila seines Sohnes gefragt wurde, ob es in Polen keine großen Männer gegeben habe, nach denen er seinen Sohn benennen könne, soll er sein Bedauern ausgedrückt haben, dass es nicht schon 50 Jahre früher einen S. R. Hirsch in Polen gegeben habe und er dessen Andenken durch seinen Sohn ehren wolle. Vgl. Schwab, History, 138 – 139. Weinberg, Zur Auseinandersetzung über S. R. Hirsch und seiner „Thora im Derech Erez Devise“, in: Nachalath Z’wi 7 (1937), Heft 7 – 9, 192 – 193.

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„Heimkehr ins Judentum“

die Katastrophe über das europäische Judentum herein. Der Zivilisationsbruch durch die millionenfache industrielle Ermordung der europäischen Juden brach auch den hoffnungsvollen Prozess der ideellen Annäherung zwischen deutscher und osteuropäischer Orthodoxie, bei dem orthodoxe deutsche Juden als Mittler von säkularer Bildung und traditionsorientierte Juden in Osteuropa als Mittler einer erneuerten Torakultur auftraten, abrupt ab. Auf schreckliche Weise sollte der Teil der orthodoxen deutschen Jugend, der angesichts der aufkommenden Naziherrschaft dem Tora im derech eretsPrinzip eine radikale Absage erteilt hatte, in seiner Ansicht bestätigt werden.

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Schlussbetrachtung: Deutsche Rabbiner und deutsch-jüdische Pädagogen in Osteuropa und die Bildungsreform

Ganz gleich, ob die in Osteuropa tätigen deutschen Rabbiner und deutschjüdischen Pädagogen der reformorientierten oder der orthodoxen Richtung zuneigten, setzten sie sich alle in Anlehnung an das Ideal des deutsch-jüdischen Bildungsmodells für eine Modernisierung des jüdischen Erziehungswesens in Osteuropa ein, die in erster Linie die Einführung von säkularen Lehrgegenständen, die Professionalisierung des Lehrberufs (in Verbindung mit einer zeitgemäßen Lehrmethode) sowie den systematischen Schulunterricht für das weibliche Geschlecht umfassen sollte. In ihrem Anspruch, das jüdische Bildungswesen in Osteuropa mehr oder weniger zu modernisieren, hatten die deutschen Rabbiner und deutsch-jüdischen Pädagogen im Regelfall in der Obrigkeit einen Verbündeten, da auch diese die Umgestaltung der Erziehung als ein geeignetes Mittel zur „Verbesserung“ der Juden, insbesondere als eine Maßnahme zur Annäherung an die Mehrheitsbevölkerung betrachtete. Dies galt jedoch nur solange, wie die Aneignung von kulturellem Kapital der jüdischen Bevölkerung keinen Konkurrenzvorteil gegenüber den Nichtjuden zu verschaffen schien. Allerdings bleibt zu betonen, dass die ersten modernen jüdischen Schulen in Osteuropa sich zwar stark am deutsch-jüdischen Bildungsmodell der Emanzipationszeit orientierten, jedoch ohne „fremde“ Mittler gegründet worden waren. Die von Herz Homberg beaufsichtigten jüdisch-deutschen Normalschulen in Galizien, in denen auch jüdische Lehrer aus dem westlichen Teil der Habsburger Monarchie unterrichteten, widersprechen dieser Feststellung nicht, handelte es sich bei den Lehranstalten im Grunde genommen doch um reine „Germanisierungsinstitute“, die jeglichen jüdischen Charakters entbehrten. Ihr Scheitern bestätigt dies nur noch umso mehr. Insofern lässt sich der Erfolg der ersten modernen jüdischen Schule in Osteuropa – Joseph Perls 1813 im galizischen Tarnopol gegründete DeutschIsraelitische Freischule – vor allem darauf zurückführen, dass trotz einer deutlichen Orientierung an deutsch-jüdischen Lehranstalten auch das religiöse Element in großem Maße berücksichtigt worden war. Dies hatte knapp drei Jahrzehnte später auch Lilienthal erkannt, der zwar zunächst für eine radikale und zwangsweise Übertragung des deutsch-jüdischen Bildungsmodells auf das russländische Judentum plädiert hatte, jedoch auf Grund der direkten Begegnung mit seinen traditionsorientierten Glaubensgenossen eine

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Schlussbetrachtung

weitaus moderatere Einstellung übernahm. Obwohl der deutsche Rabbiner gegenüber der Regierung immer wieder darauf hinwies, dass nur eine stärkere Berücksichtigung des religiösen Elements in den künftigen jüdischen Kronschulen zum Erfolg führen könne, blieben Lilienthals Warnungen bei der endgültigen Ausgestaltung der jüdischen Bildungsreform größtenteils unbeachtet. Insofern war die äußerst geringe Akzeptanz der neuen Lehranstalten von Beginn an vorprogrammiert. Diesbezüglich sind aber noch zwei weitere wichtige Faktoren im Auge zu behalten. Zum einen waren nahezu alle modernen jüdischen Schulen im Osteuropa des 19. Jahrhunderts mit einem unversöhnlichen Gegner konfrontiert, der im Westen nicht existierte: Der Chassidismus. Für diesen war jede Art von moderner jüdischer Schule, in denen säkulare Fächer unterrichtet wurden, derart inakzeptabel, dass sie boykottiert wurden. Damit war aber der Kreis der potentiellen Schülerschaft schon im Vorhinein erheblich reduziert. Der andere Grund, warum moderne jüdische Schulen in Osteuropa – so zum Beispiel die Kronschulen im Zarenreich – einen schweren Stand hatten, war ihre Frontstellung gegen das traditionelle jüdische Schulwesen. Grundsätzlich hielten die Obrigkeit, die osteuropäischen Maskilim wie auch die deutschen Rabbiner und deutsch-jüdischen Pädagogen sehr lange an der Absicht fest, mit der Einführung von zeitgemäßen Lehranstalten die Chadarim abzuschaffen. All die repressiven Maßnahmen gegen das traditionelle jüdische Erziehungswesen mussten aber zwangsläufig in den Augen der traditionsorientierten osteuropäischen Juden die neuen Schulen diskreditieren. Anstatt das „Alte“ behutsam zu modernisieren, setzte man vielmehr auf dessen Zerstörung zu Gunsten der Einführung von etwas völlig „Neuem“. Erst in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigten sich in aufgeklärten Kreisen des ost- und westeuropäischen Judentums deutliche Anzeichen einer Haltungsänderung. Anstatt den Cheder im osteuropäischen Judentum gänzlich abzuschaffen, beabsichtigte man nun, ihn zu reformieren. In dieser Beziehung standen die galizischen Schulaktivitäten der Israelitischen Allianz zu Wien oder auch die Einführung des sogenannten Cheder metukan (reformierter Cheder) im Zarenreich. Ebenso können die Baron-HirschSchulen in Galizien angeführt werden, da sie die Existenz des Cheder nicht in Frage stellten, sondern eher als Ergänzungsschulen konzipiert waren. Besonders deutlich zeigte sich diese Haltungsänderung schließlich während des Ersten Weltkriegs, als beispielsweise das traditionsorientierte polnische Judentum ihre orthodoxen Glaubensgenossen in Deutschland um Hilfe anrief, da sie eine Zerstörung des traditionellen jüdischen Elementarschulwesens und eine Übertragung westlicher Bildungsanstalten durch die deutschen Besatzungsbehörden befürchtete. Insofern sollten die beiden deutschen Rabbiner Kohn und Carlebach, die seit Januar 1916 als Repräsentanten der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums einen quasiamtlichen Status bei der deutschen Verwaltung in Warschau innehatten, einen radikalen Kulturtransfer verhindern, was auch durchaus der eigenen

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Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa

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Intention der beiden Rabbiner entsprach. War zuvor eine Schließung aller Chadarim im Raum gestanden, ging es nun um deren Reformierung. Dabei mussten Kohn und Carlebach zwischen den beiden Seiten, die zunächst in ihren Ansichten sehr weit auseinander lagen, einen Kompromiss vermitteln. Während die traditionsorientierten Autoritäten, insbesondere der Gerer Rebbe, darum rangen, möglichst keine Änderungen in den Chadarim zuzulassen, trachtete die deutsche Verwaltung nach einer weitreichenden Umgestaltung. Dazwischen standen Kohn und Carlebach, die einerseits ein vermeintlich konstitutives Element des „authentischen“ Judentums nicht preisgeben wollten, andererseits aber auch die zahlreichen Mängel des traditionellen jüdischen Elementarschulwesens in Polen keineswegs übersahen, sondern durch Reformen abstellen wollten. Allerdings zeigen Beispiele wie Chavatselet in Warschau oder das jüdische Realgymnasium in Kaunas, dass orthodoxe deutsche Rabbiner und deutschjüdische Pädagogen auch die Gründung von jüdischen Mittelschulen betrieben und somit über den Rahmen des traditionellen jüdischen Elementarschulwesens hinausgehen wollten. Die Modernisierung des orthodoxen jüdischen Erziehungswesens in Osteuropa durch Erweiterung des Lehrplans um säkulare Elementarfächer, Etablierung einer systematischen Mädchenerziehung, Professionalisierung des Lehrberufs und Verbesserung der hygienischen Bedingungen ist insbesondere auf das erfolgreiche Wirken orthodoxer deutscher Rabbiner und deutsch-jüdischer Erzieher zurückzuführen. Zum ersten Mal wurden jüdischen Knaben und vor allem auch jüdischen Mädchen aus traditionsorientiertem Hause in Schulnetzen wie Chorev, Javne oder Bet Jakob Kenntnisse der Tora und des derech erets vermittelt. In Bezug auf die Wahrnehmung der Unzulänglichkeiten und den beabsichtigten Reformmaßnahmen hatten orthodoxe deutsche Rabbiner wie Kohn und Carlebach letztlich jedoch mehr mit ihren liberalen deutschen Amtsgenossen im 19. Jahrhundert – Lilienthal, Kohn, Neumann und Schwabacher – gemeinsam als mit ihren traditionsorientierten Glaubensgenossen im Osten. Im Unterschied zu diesen setzten aber jene eher auf eine Reform innerhalb des bestehenden traditionellen Schulwesens denn auf einen völligen Neuaufbau. Dabei spielten allerdings auch regionale Unterschiede eine Rolle. Während Emanuel Carlebach und Pinchas Kohn im Generalgouvernement Warschau die bestehenden Chadarim einer äußerst gemäßigten Reform unterzogen oder reformierte Chadarim eröffneten, gründeten Joseph Carlebach und Leo Rosenak in Kaunas ein jüdisches Realgymnasium, das als Vorbild für weitere derartige Lehranstalten dienen sollte. Wenn sich im Falle Kaunas’ und später Litauens der Einfluss des deutsch-jüdischen Bildungsmodells in seiner orthodoxen Prägung weitaus deutlicher zeigte, so lag dies in erster Linie daran, dass hier die Rezeptionsbedingungen viel günstiger waren. Im mitnaggdisch geprägten litauischen Judentum nahm die Abwehrhaltung gegen moderne jüdische Lehranstalten mit säkularem Unterricht schon seit einiger Zeit sukzessive ab. Dass die orthodoxen deutschen Rabbiner und Pädagogen ihre

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Schlussbetrachtung

Bildungsreformmaßnahmen den „vielen Gesichtern der Orthodoxie“69 anzupassen wussten, spricht sicherlich für ihre Qualität als kulturelle Mittler. Auf den ersten Blick waren die orthodoxen deutschen Rabbiner und Erzieher, die sich während und nach dem Ersten Weltkrieg um eine Modernisierung des traditionellen jüdischen Erziehungswesens in Osteuropa bemühten, weitaus erfolgreicher als ihre Vorläufer im 19. Jahrhundert. Nicht zuletzt auf dem Gebiet der Mädchenerziehung waren die Mittlerleistungen herausragend, wobei in diesem Fall zu berücksichtigen ist, dass die Initiative zu einem Kulturtransfer nicht nur von „fremden Mittlern“ (orthodoxe deutsche Rabbiner und Pädagogen), sondern auch von einer „eigenen“ Mittlerin (Sara Schenirer) ausging. Allerdings darf man nicht den Fehler begehen, allzu voreilig die orthodoxen deutschen Rabbiner und Pädagogen als die geeigneteren Mittler zu bezeichnen. Das osteuropäische Judentum hatte im Laufe des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Wandel erfahren, von dem auch das traditionsorientierte keineswegs gänzlich unberührt geblieben war. Insofern fanden die deutschen Rabbiner und deutsch-jüdischen Pädagogen des 19. und die des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Bedingungen vor, die nicht ohne Einfluss auf ihre erzieherischen Aktivitäten und deren Erfolge bleiben konnten. Nur ein synchroner Vergleich, der jedoch historisch bedingt nicht möglich ist, könnte Aufschluss geben, inwiefern die orthodoxen deutschen Mittler des 20. Jahrhunderts geeigneter beziehungsweise erfolgreicher waren als ihre liberaleren Vorläufer im 19. Jahrhundert. Die mit der Jüdischen Renaissance verbundene zunehmende Hinwendung eines Teils der deutschen Juden zum osteuropäischen Judentum wurde auch bei der Haltung deutscher Rabbiner und deutsch-jüdischer Pädagogen während des Ersten Weltkriegs und danach deutlich. Das traditionsorientierte osteuropäische Judentum wurde nicht länger auf den Status eines potentiellen Rezipienten von kulturellen Gütern aus dem deutschen Judentum reduziert, sondern spielte nun auch bei der von der deutschen Orthodoxie angestrebten „Heimkehr ins Judentum“ eine wichtige Rolle. Während im 19. Jahrhundert kein orthodoxer deutscher Jude den Besuch einer osteuropäischen Jeschiva ernsthaft erwogen hätte, entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit in der orthodoxen deutschen Jugend ein regelrechter Drang in die osteuropäischen Zentren der Talmud-Gelehrsamkeit. Insofern erfolgte nun zum ersten Mal der Kulturtransfer in beide Richtungen. Während orthodoxe deutsche Rabbiner und deutsch-jüdische Pädagogen entscheidenden Anteil an einer moderaten Modernisierung des traditionellen osteuropäischen Erziehungswesens hatten und damit auch eine Rezeption des von Samson Raphael Hirsch vertretenen Tora im derech erets-Prinzips einleiteten, ermöglichte der Besuch von osteuropäischen Jeschivot orthodoxen deutschen Juden – viele von ihnen waren angehende Rabbiner – die Reaktivierung jüdischen Wissens, um damit das 69 Vgl. Heilman, Faces.

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Deutsche Juden und die Bildungsreform in Osteuropa

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Ungleichgewicht zwischen Tora und derech erets ausgleichen zu können. Diese Entwicklung einer gegenseitigen Annäherung, bei der deutsche Rabbiner und deutsch-jüdische Pädagogen eine herausragende Rolle spielten, fand im Holocaust ihr unwiderrufliches Ende.

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Abkürzungen AJA AZJ CDIA CJ CZA EE EJ INJ IRDJ JMB JNUL KfdO KJI KOR LBI LBIYB LCVA LVVA MF MGWJ OCfG

American Jewish Archives, Cincinnati/OH Allgemeine Zeitung des Judenthums Central’nyj Derzˇavnyj Istorycˇnyj Archiv Ukrani L’viv Archiv des Centrum Judaicum, Berlin Central Zionist Archives, Jerusalem Evrejskaja Enciklopedija Encyclopaedia Judaica Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts The Institute for Research on Diaspora Jewry in Modern Times Jüdisches Museum Berlin Jewish National and University Library, Jerusalem Komitee für den Osten Kalender und Jahrbuch für Israeliten Korrespondenzarchiv der orthodoxen Rabbiner Leo Baeck-Institut Leo Baeck Institute Year Book Lietuvos centrinis valstybe˙s archyvas, Vilnius Latvijas Valsts ve¯stures arhı¯vs, Riga Microfilm Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums Oesterreichisches Central-Organ für Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden OPE Obsˇcˇestva dlja rasprostranenija prosvesˇcˇenija mezˇdu evrejami v Rossii (Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland) PSZ Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii (Vollständige Gesetzessammlung des Russländischen Reichs) RGIA Rossijskij Gosudarstvennyj Istoricˇeskij Archiv St. Peterburga WZJT Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie ZDSJ Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden

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Literatur Ungedruckte Quellen Ajalooarhiiv (Estnisches Historisches Archiv in Tartu) EAA, Fond 384, 1, 925: Zirkulare und Briefwechsel des Kurators mit dem Ministerium der Volksaufklärung, den Schuldirektoraten u. a. über Verordnungen für hebräische Schulen und Lehrer (23.01.1853 – 08.01.1864) American Jewish Archives, Cincinnati/OH MS-582: Jacob Sonderling Papers Archiv des Centrum Judaicum, Berlin 1,75 C Ve 1, Nr. 377: Feldrabbinerkonferenzen 1,75 C Ve 1, Nr. 397: Feldrabbiner Dr. L. Rosenak (Bremen) – Südarmee, Oberbefehlshaber Ost u. a. Central Zionist Archives, Jerusalem Z3/132, Z3/134: Zionist, Political and Relief Work among Jews in the German Military Administration Zone „Ober-Ost“ (Lithuania, Latvia, etc.) during World War I Central’nyj Derzˇavnyj Istorycˇnyj Archiv Ukrani L’viv (Zentrales Historisches Staatsarchiv der Ukraine in L’viv) Fond 701, 3, 2715: Personalakte Abraham Kohn The Institute for Research on Diaspora Jewry in Modern Times, Bar-Ilan Universität, Ramat-Gan/Israel Korrespondenzarchiv der orthodoxen Rabbiner : Briefe Emanuel Carlebachs (EC) Jüdisches Museum Berlin, Außenstelle des Leo Baeck-Instituts MF 413 – 416: Joseph Carlebach Family Collection MF 13: Komitee für den Osten Latvijas Valsts ve¯stures arhı¯vs (Lettisches Historisches Staatsarchiv in Riga) Fond 1: Kanzlei des Liv-, Est- und Kurländischen General-Gouverneurs Fond 4011: Materialien zu Personen Rigas und der baltischen Provinzen Fond 7358: Rigaer Kahal (Rigaer Jüdische Gemeinde) Lietuvos centrinis valstybe˙s archyvas (Litauisches Zentrales Staatsarchiv) Fond 391, 7, 894: Akt im Bildungsministerium betreffend den Lehrer David Carlebach Fond 402, 4, 97: Verein zur Verbreitung der Hochschulbildung unter den Juden in Litauen Rossijskij Gosudarstvennyj Istoricˇeskij Archiv St. Peterburga (Russländisches Staatliches Historisches Archiv St. Petersburgs) Fond 821: Departement für geistliche Angelegenheiten ausländischer Prediger Fond 1269: Jüdisches Komitee

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Literatur

The Jewish National and University Library in Jerusalem ARC. 48 1281/A: Nachlass Saul Ginsburg The Magnes‘ Collection of Jewish Art and Life, University of California, Berkeley WJHC 1971.011 AR1 (BANC MSS 2010.614): Lilienthal Family Papers and Photographs

Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur Enzyklopädien, Handbücher Brocke, Michael/Carlebach, Julius (Hg.), Biographisches Handbuch der Rabbiner. Teil 1. Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781 – 1871, bearbeitet von Carsten Wilke, 2 Bd., München 2004. Brokgauz, F. A./Efron, I. A. (Hg.), Enciklopedicˇeskij slovar’, 86 Bd., St. Petersburg 1890 – 1906. Levin, Shmarya, Mottje der Melamed, in: Diederichs, Ulf (Hg.) , in Verbindung mit Otto M. Lilien, Dein aschenes Haar Sulamith. Ostjüdische Geschichten, Düsseldorf/Köln 1981, 135 – 142. Roth, Cecil/Wigoder, Geoffrey (Hg.), Encyclopaedia Judaica, 16 Bd., Jerusalem 1971/72, 22 Bd., Detroit u. a. 22007. Gincburg, David/Kacenel’son, Lev/Garkavi, Avraam (Hg.), Evrejskaja Enciklopedija, 16 Bd., St. Petersburg 1908 – 1913. Singer, Isidore (Hg.), Jewish Encyclopedia, 12 Bd., New York/London 1901 – 1906. Herlitz, Georg/Kirschner, Bruno (Hg.), Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Berlin 1927 – 1930 (Nachdruck 1987). Niger, Samuel (Hg.), Leksikon fun der najer jidischer literatur, 8 Bd., New York 1956 – 1981. Hundert, Gershon David (Hg.), The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, 2 Bd., New Haven/London 2008. Schwab, Simon, Heimkehr ins Judentum, Frankfurt a.M. 1934.

Zeitgenössische Zeitungen, Zeitschriften und Periodika Allgemeine Zeitung des Judenthums, Leipzig 1837 – 1922. Ben-Chananja. Monatsschrift (Zeitschrift) fr jdische Theologie, Szegedin 1858 – 1867. Das Judische Vort, Warschau 1917 – 1919. Den’ (Der Tag), Odessa 1869 – 1871. Der Israelit des neunzehnten Jahrhunderts. Eine Wochenschrift fr Fortschritt und Reform im Judentum, Kassel 1839 – 1848.

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Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur

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Literatur

Novyj voschod. Ezˇenedeˇlnik, posvjasˇcˇennyj evrejskim interesam (Neuer Sonnenaufgang. Wochenblatt, gewidmet jüdischen Interessen), St. Petersburg 1910 – 1915. Oesterreichisches Central-Organ fr Glaubensfreiheit, Cultur, Geschichte und Literatur der Juden, Wien 1848. Ost und West. Illustrierte Monatsschrift fr modernes Judentum, Berlin 1901 – 1923. Perezˇitoe. Sbornik, posvjasˇcˇennyj obsˇcˇestvennoj i kul’turnoj istorii evreev v Rossii (Durchlebtes. Sammelband, gewidmet der Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Juden in Russland), 4 Bd., St. Petersburg 1910 – 1913. Prilozˇenie k Gakarmelju (Beilage zum Ha-Karmel), Wilna 1860 – 1863, 1865 – 1869. Razsvet (Morgendämmerung), Odessa 1860/61. Sion. Organ russkich evreev (Sion. Organ der russischen Juden), Odessa 1861/62 Sulamith, eine Zeitschrift zur Befçrderung der Kultur und Humanitt unter den Israeliten, Leipzig 1806 – 1848. Voschod (Sonnenaufgang), St. Petersburg 1881 – 1899. Wissenschaftliche Zeitschrift fr jdische Theologie, Frankfurt a.M. 1835 – 1847. Zeitschrift fr Demographie und Statistik der Juden, Berlin 1905 – 1923 (Alte Folge).

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Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur

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Ben-Ami, Vospominanija o staroj Odesse. Moe prebyvanie v Talmud-Tore i Sirotskom dome (1868 – 70 g.) (Erinnerungen an das alte Odessa. Mein Aufenthalt in der Talmud-Tora und im Waisenhaus, 1868 – 1870), in: Evrejskaja Starina 6 (1914), 62 – 77 und 247 – 261. Bericht des Curatoriums der Baron Hirsch-Stiftung zur Befçrderung des Volksschulunterrichtes im Kçnigreiche Galizien und Lodomerien mit dem Grossherzogtume Krakau und im Herzogthume Bukowina fr das erste Verwaltungsjahr 1891, Wien 1892. Berman, Lazar‘, Osnovy Moiseeva zakona. Rukovodstvo k zakonoucˇeniju dlja evrejskago junosˇestva oboego pola (Die Grundlagen des Mosaischen Gesetzes. Lehrbuch des Gesetzesstudiums für die jüdische Jugend beiderlei Geschlechts), St. Petersburg 1874. Bernstein, Moriz, Einige kulturhistorische Blicke über die Juden in Galizien, nebst kleinen Andeutungen auf den Bildungszustand anderer Nationen, spekulativ aufgefaßt von Moriz Bernstein, Wien 1850. Birnbaum, Nathan, Die Emanzipation des Ostjudentums vom Westjudentum, in: Ders., Ausgewählte Schriften zur Jüdischen Frage, Bd. 2, Czernowitz 1910, 13 – 33. Breuer, Raphael, Die geschichtliche Aufgabe der Freien Vereinigung, Frankfurt a.M. 1936. Carlebach, Joseph, Der Chederprozess im Stadttheater zu Witebsk. Ein kulturgeschichtliches Dokument, Berlin 1924, in: Carlebach: Ausgewählte Schriften, Bd. 2, 1049 – 1079. (zuerst abgedruckt in Jeschurun 11 (1924), Heft 9/10, 394 – 420). –, Jüdischer Alltag als humaner Widerstand. Dokumente des Hamburger Oberrabbiners Dr. Joseph Carlebach aus den Jahren 1939 – 1941, ausgewählt und kommentiert von Miriam Gillis-Carlebach, Hamburg 1990. –, Keren Hathora-Fahrt zu jüdischen Kulturstätten des Ostens, Wien 1934 in: GillisCarlebach, Miriam (Hg.), Joseph Carlebach – Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Hildesheim/New York 1982, 1099 – 1187). –, Moderne Pädagogische Bestrebungen und ihre Beziehungen zum Judentum, Berlin 1924, in: Gillis-Carlebach, Miriam (Hg.), Joseph Carlebach – Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Hildesheim/New York 1982, 1080 – 1098). Dawidowicz, Lucy S., The Golden Tradition. Jewish Life and Thought in Eastern Europe, Syracuse/NY 1996 (zuerst 1967 erschienen). Deutschlnder, Leo (Hg.), Westöstliche Dichterklänge. Jüdisches Lesebuch, zur Verbreitung im Gebiet des Oberbefehlshabers Ost zugelassen, Breslau 1918. Eisemann, Heinrich/Kruskal, Herbert N. (Hg.), Jacob Rosenheim. Erinnerungen 1870 – 1920, Frankfurt a.M. 1970. Eisner, Isi Jacob, Reminiscences of the Berlin Rabbinical Seminary, in: LBIYB 12 (1967), 32 – 52. Fraenkel, Sigmund, Aufsätze und Reden, München 1930. Fried, Alexander, Gavriil Romanovich Derzhavin: „An Opinion Regarding the Prevention of Famine in White Russia and the Organization of the Way of Life of the Jews“ (1800), in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 14/2 (2004), 229 – 312.

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Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur

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–, Predigt, gehalten bei der Einweihung des deutsch-israelitischen Bethauses in Lemberg, am 18. September 1846 Abends, von Abraham Kohn, Religionsweiser und Prediger der Israeliten-Gemeinde, in: Majer Bałaban: Historia Lwowskiej Synagogi postepowej, Lwo¯w (Lemberg) 1937, 265 – 273. –, Petach sfat ever le-jeladei bnei Israel (Eröffnung der hebräischen Sprache für Kinder Israels) Lesebuch für die israelitische Jugend, zur leichten und gründlichen Erlernung der hebräischen Sprache, in grammatikalischer Stufenfolge, auf eine anziehende, geist- und herzbildende Weise von Abraham Kohn, Prediger, Religionsweiser und prov. Direktor der deutsch-israelitischen Hauptschule zu Lemberg, Wien 21845 (zuerst Frankfurt a.M. 1841). Kohn, Pinchas, Eine würdige Jubiläums-Erinnerung, in: Schriften herausgegeben vom Vorstand der Freien Vereinigung anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Vereinigung, Folge II, Frankfurt a.M. 1936. Kurzweil, Zwi Erich, Abschied und Neubeginn. Aus dem Leben eines jüdischen Erziehers, Frankfurt a.M. 1992. Levi, Sali, Aus meinen Erlebnissen bei den Juden in Russisch-Polen, in: MGWJ 60 (1916), Heft 1, 1 – 18. Levin, Shmarya, Mottje der Melamed, in: Diederichs, Ulf (Hg.), Dein aschenes Haar Sulamith. Ostjüdische Geschichten, Düsseldorf/Köln 1981, 135 – 142. Lilienthal, Max, Predigten in der Synagoge zu Riga, Riga 1841. –, Rede bei der feierlichen Eröffnung der israelitischen Schule zu Riga, den 15ten Januar 1840, gehalten von Dr. M. E. Lilienthal, Oberlehrer und Prediger, Riga und Leipzig 1840. Lilienthal, Menachem (Max): Maggid Jeschu’a, Wilna 1842 (auch enthalten in: Gotlober, Avraam B.: Zichronot u-masa’ot (Erinnerungen und Reisen), ausgewählt und hrsg. von R. Goldberg, Jerusalem 1976, 129 – 136. Lohmann, Uta/Lohmann, Ingrid (Hg.), „Lerne Vernunft!“ Jüdische Erziehungsprogramme zwischen Tradition und Modernisierung. Quellentexte aus der Zeit der Haskala, 1760 – 1811, Münster u. a. 2005. Lorenz, Ina, Die Juden in Hamburg zur Zeit der Weimarer Republik. Eine Dokumentation, Teil 2, Hamburg 1987. Lozinskij, Samuil G. (Hg.), Opisanie del byvsˇego archiva Ministerstva Narodnogo Prosvesˇcˇenija (Beschreibung der Akten des ehemaligen Archivs des Ministeriums für Volksaufklärung), St. Petersburg 1920. Lpn., C. (Wilhelm Wolfsohn), Allgemeine Schul-Anstalten. Humanität. Gemeinde, in: Delf von Wolzogen, Hanna/Shedletzky, Itta (Hg.), Theodor Fontane und Wilhelm Wolfsohn – eine interkulturelle Beziehung, Tübingen 2006, 144 – 151. Mandelschtam, Benjamin, Chazon la-mo’ed (Die Zeit ist gekommen), Wien 1877. Mayer, Max, A German Jew Goes East, in: LBIYB 3 (1958), 344 – 357. Nathan, M. N., Bericht der Gesellschaft für jüdische Volkskunde in Hamburg, in: Mitteilungen zur jüdischen Volkskunde 20 (1917), Heft 1 – 2, 30 – 32. Neumann, Abraham, Predigt, gehalten am Krönungs-Feste Seiner Majestät des Kaisers Alexander II. und Ihrer Majestät der Kaiserin Maria Alexandrowna am 26. August 1856 in der Synagoge zu Riga, Riga 1856.

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Literatur

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Gedruckte Quellen und Forschungsliteratur

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serlichen Hoheit des Großfürsten Thronfolgers Nikolaj Alexandrowitsch am 6 Mai 1884 veröffentlicht vom Stadtrabbiner Dr. Simon Leon Schwabacher. Der Reinertrag ist zur Unterstützung armer Soldaten nach treuem Dienste für Kaiser und Vaterland bestimmt, Odessa 1884. Simon, Louis, Die Juden in Rußland, Hamburg 1844. Spravocˇnaja kniga po voprosam obrazovanija evreev. Posobie dlja ucˇitelej i ucˇitel’nic evrejskich sˇkol i dejatelej po narodnomu obrazovaniju (Nachschlagebuch zu Fragen der Bildung der Juden. Hilfsmittel für Lehrer und Lehrerinnen jüdischer Schulen und Aktivisten der Volksbildung), St. Petersburg 1901. Spruchbuch. Eine Sammlung von Bibelsprchen zum Gebrauch bei dem Religions-Unterricht in den israelitischen Schulen. Auf Veranstaltung der K. Wrtt. Israelit. Oberkirchenbehçrde, Stuttgart 1835. Stanislavskij, S., Iz istorii i zˇizni odnoj evrejskoj ˇskoly (1826 – 1853gg.) (Aus der Geschichte und dem Leben einer jüdischen Schule [1826 – 1853]), in: Voschod 4 (1884), Nr. 4, 126 – 149. Toller, Ernst, Eine Jugend in Deutschland, Paderborn 2012 (zuerst 1933 in Amsterdam erschienen). Verwaltungsbericht der Militrverwaltung Bialystok-Grodno fr die Zeit vom 1. Oktober 1916 bis April 1917. Nur fr den Dienstgebrauch, o. O o. J. Wengeroff, Pauline, Memoiren einer Großmutter. Bilder aus der Kulturgeschichte der Juden Russlands im 19. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 1913. Wolf, Gerson, Die Versuche zur Errichtung einer Rabbinerschule in Österreich, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1892), 27 – 53. Zunz, Leopold, Rede, gehalten bei der Feier von Moses Mendelssohns hundertjährigem Geburtstage, den 12. Elul oder 10. September 1829 zu Berlin, in: Curatorium der „Zunzstiftung“ (Hg.), Gesammelte Schriften von Dr. Zunz, Bd. 2, Berlin 1876, 102 – 115.

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Ortsregister

Aleksandrw Łdzki 276 Berdicˇev 113–115, 127, 133, 151, 194, 196 Bolechw 222f. Borysław 230f. Bratislava 285, 291, 346 Breslau 38f., 188, 191, 279, 288, 291, 320 Brody 30, 54, 122, 228, 233 Böhmen 40, 217, 222 Bukowina 229f., 299 Brzesko 231 Be˛dzin 252f. Błaszki 252, 268–270 Białystok 308, 315, 340 Berlin 9, 30, 39, 45f., 50f., 53, 78, 80, 84, 143, 171f., 232, 239, 241, 282, 285, 290, 299, 302, 304, 306, 309f., 320, 331, 343, 351, 353 Char’kov 193, 196, 209 Chrzanw 231 Ciechocinek 276 Czernowitz 217, 291 Daugavpils (Dünaburg, Dvinsk) 332 Delatycze 256 Dessau 153 Dresden 80, 198 Dubno 123 Frankfurt/Main 37f., 80, 120, 170, 214, 232, 235, 239, 244, 246, 283, 287f., 291, 297, 305, 309, 320, 322, 330, 337, 345–348, 351

Friedrichstadt 203 Fürth 65, 153 Galizien 12, 25, 29, 40f., 43–46, 48, 52–58, 79, 113, 139, 151, 198, 210f., 213, 215–236, 296, 341, 355f. Gerolshausen 153 Grive 172 Grodno 170, 200, 273, 315 Gura Humora 299 Hamburg 232, 235, 293, 320, 323–325, 327, 342, 345, 348 Horodenka 231 Ichenhausen 347 Iława 251 Jakobstadt 159 Jalta 116 Jordano¯w 289f. Kaunas 301–306, 308–313, 315–317, 319–322, 324–327, 329, 331, 333, 345, 357 Kempen 188, 192 Kiew 110, 141f., 193–196, 209 Klaipeda (Memel) 320 Kolomea 231, 233 Kovno 168, 178, 200f., 302, 310 Krakau 84, 226, 230f., 233, 283f., 287–293, 295f. Kremenec 138 Krim 115f. Kurland 12, 23, 111, 153, 155–160, 162, 168–180, 182f., 185f., 203f.

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Ortsregister

L’viv 9 Leipzig 66, 137, 171, 198f. Lemberg 54f., 60, 139, 197, 210–219, 221–226, 228, 233, 296 Libau (Liepa¯ja) 159, 169, 172, 175f., 178–180, 332 Livland 12, 175 Lodomerien 41, 230 Ło¯dz˙ 252, 256, 276 Magdeburg 63, 69, 78f., 124, 150, 153, 224f. Memel 320, 348 Mielec 231 Minsk 84, 92–104, 107–114, 130, 139, 151, 194, 200, 256 Mir 346–349, 352 Mitau 36, 92, 153, 156f., 159, 168–170, 176, 178, 203 Mława 270 Moskau 12, 16, 181 München 9f., 65, 67, 70, 80, 97, 115, 150, 229, 244, 288

159–168, 171, 183–186, 203, 332, 335, 342 Robo¯w 288f. Rzeszw 223 Siedlce 252 Semferopol 116 Ska˛pe 252 Slobodka (Vilijampole) 304, 320, 345f., 348, 352 Stanislau 223, 230f., 233, 299 Stryj 228 Stuttgart 80, 140 Szegedin 66 Tarnobrzeg 231 Tarnopol 50–62, 64, 210–212, 355 Tarnw 223, 230f., 233 Telsˇiai (Telz, Telschi) 317–319, 325–327, 330, 346, 353 Tuckum 159, 169 Turnau 348 Vilijampole 305, 317, 321, 347, 349 Vilnius 9, 361 Virbalis (Virbalen) 330

Nowy Sa˛cz 230 Oberdorf 197 Odessa 9, 57–64, 115–117, 121–123, 127, 133f., 138, 140, 148f., 174, 177, 188–198, 201f., 208f. Padua 56, 69f., 78 Poltava 194 Paneve˙zˇys 295, 320f. Palanga (Polangen) 327, 329 Petersburg 9, 12, 57, 66f., 86, 90, 92, 96, 99, 101f., 106f., 111, 116, 122, 124, 132f., 150, 152, 155, 176, 181, 183, 191, 194–196, 202–204, 206f., 340 Rabka 289 Riga 9, 62–67, 72–75, 77, 82, 89, 92, 104, 121f., 127, 136, 149f., 153–156,

Wilna 18, 60, 74f., 83–93, 97, 99–104, 106–109, 112f., 120, 123, 127, 130, 133f., 138f., 151, 157, 170, 174, 194, 200f., 204, 309f., 315, 330 Wolanka 231 Würzburg 37, 153 Württemberg 126, 132, 140, 169, 173, 192, 197, 321 Wis´nicz 231 Wielun´ 252 Wien 17, 40f., 44, 79f., 188, 221–223, 226–229, 232f., 253, 283-285., 291, 320, 356 Warschau 18, 27, 60, 129, 142, 145, 239, 243–256, 258, 260, 262, 264–268, 271–282, 283-285., 287f., 290, 295f., 307–310, 313, 315, 329, 340, 348, 356f.

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Ortsregister Zablocie 228, 231 Zaluzˇan 211 Zawiercie 271, 280 Zgierz 252

Zˇitomir 187, 194, 204 Złoczw 223 Zürich 288, 291

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Personenregister

Abrahamson, Bernard 83 Alexander I. 48, 86, Alexander II. 159, 197, 207f. Alter, Abraham Mordechai (Gerer Rebbe) 244, 247, 252–258, 272, 278, 281f., 284, 308, 351f., 357 Aub, Hirsch 65 Auerbach, Moses 268–270, 273f., 278–280, 283, 290, 312 Bałaban, Majer 44f., 219, 267 Barasch, Julius 30 Beer-Hofmann, Richard 292 Ben-Ami/ Mark Rabinovicˇ 189 Bendavid, Lazarus 46 Berger, Julius 307 Berkowitz, Noa 82 Berman, Lazar’ 202–207, 210 Beseler, Hans von 244 Biberfeld, Eduard 267 Binsˇtok, Lev 194 Birnbaum, Nathan 339 Bloch, Fritz Elieser 32, 324 Botschko, Jerachmiel Elijahu 322, 325f. Breuer, Isaak 290, 292 Breuer, Joseph 347 Breuer, Raphael 244 Breuer, Salomon 283, 337, 347 Buber, Martin 311, 338 Byron, Lord 311 Carlebach, Alexander 277 Carlebach, David 313, 320f., 324f., 348 Carlebach, Emanuel 245–262, 264–268, 271–280, 282f., 285, 293–295, 301f., 308, 356f.

Carlebach, Esriel 352 Carlebach, Joseph 293, 301–313, 315–329, 331f., 335, 345f., 349f., 357 Carlebach, Shlomo 313 Chajes, Tsvi Hirsch 222 Chofets Chaim 284, 345 Chvolsohn, Daniel 130 Cohen, Schalom 29 Cremieux, Adolphe 110, 133 Czartoryski, Adam 49, 60 Danzig, Abraham 170 Derzˇavin, Gavriil 46–49 Deutschländer, Leo 263, 282, 284–297, 299f., 308f., 311–329, 333f., 344 Dubnow, Salomo 29 Duksˇta-Duksˇinskij 76, 81–83, 85–90, 92–96, 99, 102, 108–110, 114, 123, 136 Ehrentreu, Ernst 288 Ehrlich, Adolf 168 Eisemann, Heinrich 303f., 307, 309f. Feuchtwanger, Max 244 Finn, Samuel Joseph 107, 130 Flesch, Moritz (Mosche) 283 Fraenkel, Sigmund 244, 288f., 303 Frank, Elias Jacob 46f. Franz Joseph 229 Franzos, Karl Emil 25, 240 Friedland, Michael 184 Friedländer, David 26–29, 36, 46 Friedländer, Moritz 227, 230 Geiger, Abraham 69, 77–79 Gercen, Aleksandr 188

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Personenregister Getz, F. 317–319, 323 Ginzburg, Goracij 202, 205 Ginzburg, Mordechai Aaron 74f., 91, 130, 137, 141 Goethe, Johann Wolfgang von 290, 292, 311, 325, 331, 352 Goldenblum, Aron 188f., 191–197 Gołuchowski, Agenor 224 Gordon, Israel 91 Gotlober, Abraham Ber 107, 130, 139, 141–143 Graetz, Heinrich 21, 25f., 30 Grinboim, Tsvi/ Feedorov, Vladimir 141f. Grodzenski, Chaim Ozer 284, 330 Grudzinski, Schlomo 256 Grünberg, Samuel 290 Haas, Ludwig 243f., 250f., 266 Halberstadt, Siegbert 309, 315, 318 Halberstadt, Willy 351 Halperin, Hirsch 81 Halperin, Israel 133 Hamburg, Wolf 65 Hantke, Arthur 309f. Hebbel, Christian Friedrich 292, 311 Heine, Heinrich 311 Herder, Johann Gottfried 311 Herxheimer, Salomon 136 Hildesheimer, Israel 321 Hildesheimer, Mei(e)r 309, 322f., 327 Hirsch, Abraham 244, 303 Hirsch, Baron Maurice de 229–234, 356 Hirsch, Jakob 38, 47 Hirsch, Samson Raphael 37, 224, 238–240, 242, 279, 284, 289f.,293, 297–300, 305, 310f., 321f., 323f., 326–332, 337, 344, 346f., 350, 353, 358 Hirschowitz, Jitschak Eliezer 330 Holdheim, Gerhard 343f. Holzberg (Etsion), Jitschak Raphael 317, 320, 331 Homberg, Herz 40–46, 52, 54, 79, 210, 212, 215, 217, 219, 221, 223, 355

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Horowitz, Hirsch Ber 60 Hurwitz 93 Jacobson, Wolf S. 299, 321 Jancˇuk, Schmuel Chajim 304 Jankovic´, Teodor 39 Jellinek, Adolf 229 Jeschurun 93 Joseph II. 39, 41 Jost, Isaak Marcus 26, 77–81, 130, 152, 171 Kacenelenbogen, Hirsch 91, 106, 130 Kahan, Chone 202f. Kaplan, Wolf 165–168 Kark, Israel Nisan 304 Karo, Josef 170 Kerschensteiner, Georg 289, 292 Kiselev, Pavel 104 Klatzkin, Elijas 237f. Kljacˇko, Hirsch 85, 100f. Kober, Max 321 Kohn, Abraham 54, 139, 210–222, 224, 228 Kohn, Pinchas 244–248, 251, 253–255, 257, 259, 261f., 264, 266f., 271, 274, 276f, 279f., 282f., 295, 300f., 308–310, 329, 331, 356f. Kranz, Jakob 225f. Kurzweil, Zvi Erich 349f. Landsberg, Eva 288, 291, 296 Lebenzon, Abraham 91 Lefin, Mendel 29 Lehmann, Bert 348f. Lehmann, Marcus 331 Lessing, Gotthold Ephraim 292, 311 Levi, Sali 340 Levinzon, Isaak Ber 59, 130, 138, 142 Lilienthal, Max 64, 157, 159–163, 167–169, 175f., 181, 186f., 336, 355–357 Lissa, Jacob von 125f.

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388

Personenregister

Lurie, Aron 92 Luzzato, Samuel David 70, 77–79 Maier, Joseph 140f., 169–171, 173f. Maimon, Salomon 29 Mandel’sˇtam, Benjamin 83, 85, 91, 109f., 134, 139–142 Mandel’sˇtam, Leon 134, 155, 157, 172 Mannes, Rosalie 288 Mannheimer, Isaak Noa 79 Margolin 93 Marx, Eduard 65 Marx, George 277 Mayer, Max 257f., 264, 344 Meisel, Wolf Aloys 153 Mendelssohn, Moses 21, 25, 27, 29, 3135, 38–40, 42, 47, 50, 60, 64, 70f., 79, 87f., 123, 126, 138, 170, 212 Mikułowski-Pomorski, Jo¯zef 251 Minor, Zelik 194 Mintz, Mayer 221 Montefiore, Moses 110, 120, 133 Murav’ev, Michail 200 Nathan, Joel 172 Neufeld, Siegbert 341 Neumann, Abraham 153–156, 158–184, 186, 197, 202–207, 357 Nikolaus I. 64, 77, 81, 107, 118, 145, 154, 161, 193 Nobel, Nehemias Anton 246 Novosil’cev, Nikolaj 49 Pappenheim, Bertha 231–236, 296 Perl, Joseph 50–58, 60, 212, 218, 355 Peter I. 186 Pfeffer, Mosche 239 Philippson, Gustav 153 Philippson, Ludwig 63–66, 69f., 73, 77–82, 105, 124, 130, 150, 152f., 199, 211, 224f. Pirogov, Nikolaj 188–195 Portugalov, Venjamin 194

Postel’s, Aleksandr 157, 159, 178f., 182, 185, 200, 203 Potocki, Stanisław 49 Rabinovicˇ, Sara 232, 236 Rabinow, Samuel Joseph 345 Rapoport, Juda-Leib 55 Rappoport, Susel 92f. Rokeach, Jisachar Dov 284 Rosenak, Leopold 235f., 301–306, 311, 320, 340, 345, 357 Rosenbaum (Grunfeld), Judith 287–291, 293, 300 Rosenbaum, Schimschon 309f., 322 Rosenheim, Isaak 288 Rosenheim, Jacob 238f., 243–245, 249–251, 261, 266, 273f., 278, 288, 303, 309, 337 Rosenthal, Nissan 75, 84f., 88–91, 100f., 112 Rosenzweig, Franz 267 Rothenberg, Israel 113–115, 151 Rothschild, Betty 288, 291 Rothschild, Meyer Amschel von 120 Rubinstein, Jitschak 309f. Rückert, Friedrich 311 Rülf, Isaak 28 Salomon, Gotthold 171 Sänger, Jacob 341f. Satano¯w, Isaak 29 Schapira, Chaim Eleazar 273 Scheni(e)rer, Sara 283–285, 288–291, 295, 299–301, 358 Schick, Baruch 29 Schiller, Friedrich 290, 292, 311 Schlesinger, Jechiel Michel 348 Schlesinger, Nachman 308, 312f., 316, 318 Schmuelovits, Jitschak 315 Schneersohn, Menachem Mendel 110f., 133f. Schneider, Moses 345 Schwab, Simon 346, 350f., 353

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Personenregister Schwabacher, Simon 197–201, 357 Silberstein, David Tsvi 253 Sˇirinskij-Sˇichmatov, Platon 85, 91, 95, 110 Sittenfeld, Ephraim 61 Slonimskij, Chaim 130 Smetona, Antanas 333 Sobernheim, Moritz 247, 249 Solovejcˇik, Chaim 239 Sonderling, Jakob 342 Stadion, Franz von 219f. Stein, Ludwig 339f. Stern, Bezalel 58f., 115f., 122, 133–135, 140 Struck, Hermann 303, 309, 314 Suvorov, Aleksandr 153, 158, 179, 181, 203 Tolstoj, Dmitrij 201, 208

389

90–92, 95f., 99–102, 104f., 107, 109, 111–117, 119–123., 131–134, 137f., 140, 145f., 148, 150, 156, 186f. Volozˇiner, Isaak ben Chaim 110f., 133f. Voroncov, Michail 116 Voß, Otto Karl Friedrich von 27 Weinberg, Jechiel 242, 331, 353 Wessely, Naphtali Herz 32–36, 38f., 41 Wohlgemuth, Joseph 239–242, 290 Wolfsberg, Oscar 241 Wolfsohn, Wilhelm 58f., 198f. Wunderbar¸ Ruben Joseph 170f., 173 Zejberling, Josef 130 Ziemiałkowski, Florian 220 Zlotnik, Jehuda Leib 255, 259 Zweig, Stefan 292 Zunz, Leopold 22, 26, 77–79

Ulmanis, Karl 334f. Uvarov, Sergej 64, 67f., 73–81, 84–86,

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Jüdische Religion, Geschichte und Kultur (JRGK) Band 18: Julia Haarmann Hüter der Tradition

Band 14: Na`ama Sheffi Vom Deutschen ins Hebräische

Erinnerung und Identität im Selbstzeugnis des Pinchas Katzenellenbogen (1691–1767)

Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882-1948

2013. 290 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-57023-4 E-Book ISBN 978-3-647-57023-5

Übersetzt von Liliane Meilinger. Mit einem Vorwort von Shulamit Volkov. 2011. 219 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56938-2 E-Book ISBN 978-3-647-56938-3

Die erstmalige und umfassende Erschließung des hebräischen Selbstzeugnisses Yesh Manchilin von Rabbiner Pinchas Katzenellenbogen (1691–1767) zeichnet ein facettenreiches Bild jüdischen Lebens im Aschkenas des 18. Jahrhunderts.

Band 17: Ivonne Meybohm David Wolffsohn. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897–1914)

Sheffi beschäftigt sich mit der Übersetzung deutschsprachiger Werke ins Hebräische im jüdischen Palästina vor 1948 und der unmittelbaren Wirkung deutscher Vorbilder auf die Schaffung eines modernhebräischen Literaturkorpus.

Band 13: Stefan Siebers Der Irak in Israel Vom zionistischen Staat zur transkulturellen Gesellschaft

2013. 384 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-57028-9 E-Book ISBN 978-3-647-57028-0

2010. 120 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56937-5 E-Book ISBN 978-3-647-56937-6

Anhand der Biographie David Wolffsohns (1850er Jahre–1914), des zweiten Präsidenten der Zionistischen Organisation und Nachfolgers Theodor Herzls, analysiert Ivonne Meybohm die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation.

Stefan Siebers untersucht die politischen, sozialen und kulturellen Annäherungen, die mit dem irakischen »Exodus« zusammenhängen.

Band 12: Thekla Keuck Hofjuden und Kulturbürger Die Geschichte der Familie Itzig in Berlin 2011. 552 Seiten, mit 18 s/w und 2 Farbabb. sowie zwei Stammbäumen, gebunden ISBN 978-3-525-56974-0 Die Geschichte der Familie Itzig vermittelt einen kaleidoskopischen Blick auf die preußische Gesellschaft um 1800.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570296 — ISBN E-Book: 9783647570297

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur (JRGK) Band 11: Rebekka Voß Umstrittene Erlöser

Band 8: Barbara Rösch Der Judenweg

Politik, Ideologie und jüdisch-christlicher Messianismus in Deutschland, 1500-1600

Jüdische Geschichte und Kulturgeschichte aus Sicht der Flurnamenforschung

2011. 272 Seiten, mit 14 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56900-9

2009. 491 S. mit 9 Abb., 9 Karten u. 2 Tab., geb. ISBN 978-3-525-56998-6 E-Book ISBN 978-3-647-56998-7

Die Reformationszeit war für ihre Endzeitstimmung bekannt. Rebekka Voß zeigt die enge Verflechtung jüdischen und christlichen apokalyptischen Denkens und Aktivität in dieser Epoche.

Band 10: Sylvie Anne Goldberg Zeit und Zeitlichkeit im Judentum Aus dem Französischen von Marianne Mühlenberg. 2009. 630 Seiten, mit 14 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-54000-8 Das Judentum folgte im Verlauf seiner Geschichte verschiedenen Arten der Zeitbestimmung. Goldberg zeichnet die Entwicklung nach und stellt sich den Fragen nach der Bedeutung von von Gesetz und Auslegung.

Band 9: Tamar Lewinsky Displaced Poets Jiddische Schriftsteller im Nachkriegsdeutschland, 1945–1951

Judenwege gehören zu den vergessenen Kapiteln deutsch-jüdischer Geschichte. Das bislang von der Forschung übersehene Toponym Judenweg und seine sinnverwandten Formen bringt Rösch hier zur Sprache.

Band 7: Annkatrin Dahm Der Topos der Juden Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum 2007. 388 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56996-2 Dahm zeigt anhand der deutschsprachigen Musikliteratur wie sich subtile Beschreibungsstrategien zu eindeutigen Wertungsfolien entwickeln konnten, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in aggressive Diffamierungen verwandelten.

Band 6: Mirjam Triendl-Zadoff Nächstes Jahr in Marienbad Gegenwelten jüdischer Kulturen der Moderne

2008. 288 Seiten, mit 5 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56997-9

2007. 246 Seiten mit 8 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56995-5

Lewinsky verfolgt die Spur der Schriftsteller und Journalisten, die in jiddischer Sprache das gesellschaftliche Leben der jüdischen Displaced Persons nicht nur beschrieben, sondern auch maßgeblich prägten.

Mirjam Triendl-Zadoff reist in westböhmische Badeorte und zeigt wie sich in den Sommern vom späten 19. Jahrhundert bis in die 30er Jahre temporäre »jüdische Orte« etablierten, die zu kulturellen Zentren jüdischen Lebens in Europa wurden.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525570296 — ISBN E-Book: 9783647570297