Osten und Westen 400-600 n. Chr.: Kommunikation, Kooperation und Konflikt 9783515109420, 9783515111850, 3515109420

Als Kaiser Theodosius I. 395 überraschend starb, ging die Herrschaft über das römische Imperium an seine beiden Söhne üb

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Osten und Westen 400-600 n. Chr.: Kommunikation, Kooperation und Konflikt
 9783515109420, 9783515111850, 3515109420

Table of contents :
VORWORT
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG
DAS AUSEINANDERDRIFTEN VON OST UND WEST
I. IDENTITÄTSKONSTRUKTION. ABGRENZUNG VOM WESTEN DURCH PAIDEIA?
DIE „ANDERE“ SPRACHE
BILDUNG ALS DISTINKTIONSMERKMAL HELLENISCHER ELITEN IM OSTEN UM 400 N. CHR.
OSTEN UND WESTEN IN DER SPÄTANTIKE
II. WAHRNEHMUNG DES ANDEREN. AUSSENPERSPEKTIVEN AUF OST UND WEST
BYZANZ IN DER WAHRNEHMUNG FRÄNKISCHER GESCHICHTSSCHREIBER DES 6. UND 7. JAHRHUNDERTS
CAPUD VICTURIARUM VESTRARUM …
DIE WAHRNEHMUNG DES CHRISTLICHEN WESTENS IM CHRISTLICHEN ORIENT AM BEISPIEL DER KIRCHE DES OSTENS (DIE SOG. NESTORIANER) IN DER SASANIDISCHEN UND FRÜHISLAMISCHEN ZEIT
III. GELINGENDE, MISSLINGENDE UND FEHLENDE KOMMUNIKATION. PÄPSTE UND BISCHÖFE UND DER OSTEN
HIERONYMUS, AUGUSTINUS UND DER OSTEN
DIE KOMMUNIKATION DER PÄPSTE MIT DEN BISCHÖFEN IM OSTEN DES RÖMISCHEN REICHES IN DER 2. HÄLFTE DES 5. JAHRHUNDERTS
DER STREIT UM DEN TITEL DES „ÖKUMENISCHEN PATRIARCHEN“ ALS KOMMUNIKATIONSPROBLEM ZWISCHEN OST UND WEST
IV. KRIEG UND KONFLIKT. OST UND WEST IM VERGLEICH
GEWALTSAME KONFLIKTE UND EINTRÄGLICHE KOOPERATIONEN
DIE ‚NEUE DEUTSCHE VERFASSUNGSGESCHICHTE‘ IM SPIEGEL EINES QUALITATIVEN FORSCHUNGSANSATZES
DAS RÖMISCHE HEERMEISTERAMT IM 5. JAHRHUNDERT
ENDZEITERWARTUNGEN UND DIE RELIGIONSPOLITISCHEN KONFLIKTE IM OSTRÖMISCHEN REICH DES 5. JAHRHUNDERTS
V. METHODISCHE PERSPEKTIVEN
KOMMUNIKATION UND VERSTEHEN
KOMMENTAR UND NACHFRAGEN
REGISTER
GEOGRAPHISCHES REGISTER
PERSONENREGISTER

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ÆTERNA Altertumswissenschaft

RO M A

Franz Steiner Verlag

carola föller / fabian schulz (hg.)

Osten und Westen 400–600 n. Chr. Kommunikation, Kooperation und Konflikt

Carola Föller / Fabian Schulz (Hg.) Osten und Westen 400–600 n. Chr.

RO M A Æ T E R N A ROMA ÆTERNA

Beiträge zu Spätantike und Frühmittelalter Herausgegeben von Volker Henning Drecoll, Irmgard Männlein-Robert, Mischa Meier und Steffen Patzold Band 4

carola föller / fabian schulz (hg.)

Osten und Westen 400–600 n. Chr. Kommunikation, Kooperation und Konflikt

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Bronzestatue der Kapitolinischen Wölfin, Kapitolinische Museen, Rom © akg / De Agostini Picture Library Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Umschlaggestaltung: r2 Röger & Röttenbacher, Leonberg Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10942-0 (Print) ISBN 978-3-515-11185-0 (E-Book)

VORWORT Der vorliegende Band ist das Ergebnis der Abschlusstagung des Promotionsverbunds „Osten und Westen 400–600. Das Auseinanderdriften zweier Teilräume des Imperium Romanum in Spätantike und Mittelalter. Ursachen, Verlauf und Folgen“, der von Oktober 2009 bis Oktober 2012 an der Universität Tübingen bestand und von Irmgard Männlein-Robert, Mischa Meier und Steffen Patzold geleitet wurde. Für den Sammelband wurden das Konzept und der Zuschnitt weiterentwickelt: Einige Vorträge wurden nicht zu Aufsätzen ausgearbeitet, andere Beiträge traten neu hinzu. Neben den Stipendiaten des Promotionsverbunds, die auf die Fragestellung zugeschnittene Aspekte ihrer Arbeit vorstellen, konnten auch ‚arrivierte‘ Wissenschaftler als Experten gewonnen werden. Die Tagung und dieser Band wären ohne die Unterstützung vieler Personen und Institutionen nicht möglich gewesen, wofür wir unseren Dank aussprechen möchten. Das evangelische Stift im Herzen Tübingens hat uns seine wunderschönen Tagungsräume zur Verfügung gestellt und in stimmungsvoller Atmosphäre bewirtet. Für die anregenden Diskussionen möchten wir uns bei den Tagungsteilnehmern, die diese leidenschaftlich geführt haben, und bei den Moderatoren, die dieser Leidenschaft Grenzen gesetzt haben, bedanken. Wir freuen uns sehr, dass der Band in die Reihe Roma aeterna aufgenommen wurde. Dem Steiner-Verlag Stuttgart, vor allem Katharina Stüdemann, ist für die kompetente Betreuung des Bandes zu danken, dessen Publikation vom Promotionsverbund „Osten und Westen“ großzügig bezuschusst wurde. Ohne die tatkräftige und engagierte Hilfe von Clara-Maria Seltmann und Daniel Schleich wäre die Organisation der Tagung und die Drucklegung dieses Bandes undenkbar gewesen; David Burkhart Janssen hat das Register erstellt – dafür sei ihnen herzlich gedankt. Abschließend danken wir Irmgard Männlein-Robert, Mischa Meier und Steffen Patzold für die Anregungen, die unsere Arbeit im DFG-Projekt „Osten und Westen 400–600. Die kulturelle Dislokation des Imperium Romanum zwischen Spätantike und Frühmittelalter“ durch die Kooperation mit dem Promotionsverbund erfahren hat, und dafür, dass sie uns mit der Herausgabe des Sammelbandes betraut haben. Tübingen, im Sommer 2015 Carola Föller Fabian Schulz

INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ............................................................................................................. 5 EINLEITUNG Das Auseinanderdriften von Ost und West. Ein neuer Blick auf die Epochenschwelle zwischen Spätantike und Frühmittelalter Carola Föller/Fabian Schulz ...................................................................... 9 I. IDENTITÄTSKONSTRUKTION. ABGRENZUNG VOM WESTEN DURCH PAIDEIA? Die „andere“ Sprache. Griechische Intellektuelle des 4. Jahrhunderts und ihre Haltung zum römischen Westen Jan R. Stenger ........................................................................................... 17 Bildung als Distinktionsmerkmal hellenischer Eliten im Osten um 400 n. Chr. Das Zeugnis der Kollektivbiographie des Eunapios Matthias Becker ........................................................................................ 37 Osten und Westen in der Spätantike. Zur Entwicklung und Bedeutung von christlichen und paganen Bildungskonzepten in der Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert Oliver Schelske .......................................................................................... 55 II. WAHRNEHMUNG DES ANDEREN. AUSSENPERSPEKTIVEN AUF OST UND WEST Byzanz in der Wahrnehmung fränkischer Geschichtsschreiber des 6. und 7. Jahrhunderts Hans-Werner Goetz................................................................................... 77 Capud victuriarum vestrarum… Die Rezeption der Schlacht von Vouillé im Jahre 507 in Quellen des 6. Jahrhunderts Christian Stadermann ............................................................................... 99 Die Wahrnehmung des christlichen Westens im christlichen Orient am Beispiel der Kirche des Ostens (die sog. Nestorianer) in der sasanidischen und frühislamischen Zeit Dmitrij F. Bumazhnov ............................................................................. 117

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Inhaltsverzeichnis

III. GELINGENDE, MISSLINGENDE UND FEHLENDE KOMMUNIKATION. PÄPSTE UND BISCHÖFE UND DER OSTEN Hieronymus, Augustinus und der Osten Fabian Schulz .......................................................................................... 135 Die Kommunikation der Päpste mit den Bischöfen im Osten des Römischen Reiches in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts Sebastian Scholz ...................................................................................... 157 Der Streit um den Titel des „ökumenischen Patriarchen“ als Kommunikationsproblem zwischen Ost und West Carola Föller .......................................................................................... 173 IV. KRIEG UND KONFLIKT. OST UND WEST IM VERGLEICH Gewaltsame Konflikte und einträgliche Kooperationen. Die Krieger Theoderichs im Osten und Westen des spätrömischen Reichs Guido M. Berndt ..................................................................................... 193 Die ‚Neue Deutsche Verfassungsgeschichte‘ im Spiegel eines qualitativen Forschungsansatzes. Einige Fragen nach der Verwendbarkeit des Deutungswerkzeuges ‚Kriegermodus‘ anhand östlicher und westlicher Quellen David Jäger ............................................................................................. 215 Das römische Heermeisteramt im 5. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister in Ost und West Anne Poguntke ........................................................................................ 239 Endzeiterwartungen und die religionspolitischen Konflikte im oströmischen Reich des 5. Jahrhunderts Katharina Enderle................................................................................... 263 V. METHODISCHE PERSPEKTIVEN Kommunikation und Verstehen. Über Bedingungen und Dimensionen des Sprachverstehens Tobias Schöttler ...................................................................................... 281 Kommentar und Nachfragen Uwe Walter ............................................................................................. 301 REGISTER Geographisches Register ................................................................................ 309 Personenregister ............................................................................................. 311

DAS AUSEINANDERDRIFTEN VON OST UND WEST Ein neuer Blick auf die Epochenschwelle zwischen Spätantike und Frühmittelalter Carola Föller/Fabian Schulz KONTEXT UND FRAGESTELLUNG Die Epochenschwelle zwischen Spätantike und frühem Mittelalter ist in den letzten Jahrzehnten rege diskutiert worden. Während in den neunziger Jahren die Kontinuitäten jener Übergangszeit betont wurden – wesentlich vorangetrieben von dem internationalen Projekt „The Transformation of the Roman World“ –, ist in jüngerer Zeit wieder die Bedeutung kriegerischer Auseinandersetzungen und epochaler Brüche betont worden. Hinzu trat die maßgeblich von Michael Borgolte entwickelte Neudefinition Europas als kulturelle Synthese der drei monotheistischen Buchreligionen. 1 Der Tübinger Promotionsverbund „Osten und Westen, 400–600 n. Chr. Das Auseinanderdriften zweier Teilräume des Imperium Romanum in Spätantike und Mittelalter. Ursachen, Verlauf und Folgen“ und das darauf aufbauende DFG-Projekt „Osten und Westen 400–600. Die kulturelle Dislokation des Imperium Romanum zwischen Spätantike und Frühmittelalter“ griffen diese Diskussionen auf, näherten sich der Epochenschwelle aber aus einer neuen Perspektive, die sich auf die Auseinanderentwicklung der beiden ehemaligen Teilbereiche des Imperium Romanum richtete. Ziel war es, die Ausbildung dieser kulturellen Differenzierung, die für die weitere Entwicklung Europas wesentlich ist, zu untersuchen und zu beschreiben. Dieser Sammelband, der auf die Abschlusstagung des Promotionsverbundes Ende Februar bis Anfang März 2013 zurückgeht, fragt demzufolge, wie sich das Auseinanderdriften zwischen Ost und West in der Zeit von 400–600 gestaltete. Dabei fokussiert er sich auf grundlegende Diskussionszusammenhänge des Promotionsverbundes: Welche Vorstellungen hatten Ost und West voneinander? Konnten und wollten sich Vertreter der beiden Seiten überhaupt noch verstehen? Wie fanden erfolgreiche Kooperationen statt? Wie kam es zu Konflikten und wie wurden diese ausgetragen? Wie unterschieden sich religiöse, kulturelle und politische Konzepte?

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Aus dem von der „European Science Foundation“ von 1993–1998 finanzierten Projekt „The Transformation of the Roman World“, sind 14 Bände hervorgegangen; die Brüche betonen Heather (2005), Ward-Perkins (2005) und Borgolte (2006).

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Carola Föller/Fabian Schulz

Die Autorinnen und Autoren der Beiträge beleuchten diese Fragen aus dem Blickwinkel unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und Epochen: Alte Geschichte, Klassische Philologie, Mittelalterliche Geschichte, Christliche Orientalistik und Kommunikationswissenschaften. 2 Dadurch wird die Übergangszeit aus ihrer Randlage am Beginn oder am Ende einer Epoche geholt und in das Zentrum des Interesses gerückt. Darüber hinaus werden durch das Zusammenführen der unterschiedlichen Disziplinen auch die geographischen Fächergrenzen überschritten. PRÄMISSEN UND ZUGRIFF Die Begriffe ‚Westen‘ und ‚Osten‘ sollen in diesem Band bewusst keine kulturell in sich geschlossenen Großräume beschreiben, 3 sondern, so die Hypothese, kulturell heterogene Räume, deren Zusammengehörigkeit vor allem dadurch bestimmt ist, dass sie sich in der Regel weniger intern unterscheiden als vom jeweils anderen. Die Grenzziehung dieser geographischen Unterteilung ist vorwiegend politisch und religiös begründet, sie beruht ungefähr auf den Grenzen, der sogenannten ‚Reichsteilung‘ von 395, der bereits eine kirchliche Spaltung im Zuge des Trinitarischen Streits vorausgegangen war. 4 Es geht bei dieser Scheidung aber weniger um eine punktgenaue Grenzziehung als um eine Orientierungslinie, die natürlich stets zu überprüfen ist und die dementsprechend anhaltend zur Disposition steht. Gerade die untersuchten antiken und mittelalterlichen Begrifflichkeiten und Wahrnehmungen weisen in einigen Fällen auf nötige, dem jeweiligen historischen Kontext entsprechende, Modifikationen hin. Hier stehen sich moderne hermeneutische Kategorien und antike und mittelalterliche Begriffe gegenüber. Diese offene Konzeption zeigt sich auch in den einzelnen Beiträgen; die Autorinnen und Autoren sind aktiv an der Aushandlung von Begriffen und Konzepten beteiligt. Dem Untersuchungszeitraum sind ebenfalls keine festen Grenzen gesetzt. Vielmehr umspannt er die Phase, in der wesentliche Prozesse des Auseinanderdriftens stattfanden. 5 Den Beginn markiert die Teilung der Herrschaft unter Theodosius’ Söhnen im Jahr 395, die sich letztlich als maßgeblich für die Folgezeit etablieren sollte, sieht man von den kurzzeitigen Verschiebungen durch die Eroberungen Justinians ab. Das Ende markieren die neuartigen kulturellen Einflüsse, die durch die muslimische Expansion hinzutreten. 6 2 3 4 5 6

Um den unterschiedlichen Fachkulturen in einem interdisziplinären Band Rechnung zu tragen, folgen die Nachweise der zitierten Quellen in den Beiträgen den jeweiligen Gepflogenheiten ihrer Fächer. Zur Kritik an essentialistischen Kulturbegriffen vergleiche Haupt/Kocka (1996), Werner/ Zimmermann (2002), Borgolte (2009) und Ulf (2009). Gottlieb (1978) und Pabst (1986). Sandberg (2008) hat zu Recht betont, dass es nie zu einer formellen Teilung des Reichs kam. Meier (2008) und (2012). Leppin (2011), Robinson (2010) und stets noch Kaegi (1992) und Lilie (1976).

Das Auseinanderdriften von Ost und West

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Den Beiträgen aller Disziplinen ist ein akteurszentrierter Ansatz gemein, der die Ergebnisse der bisherigen Struktur- und Institutionenforschung erprobt und alternative Erklärungen anbietet. 7 Daher rücken die Beiträge Denken und Handeln von Akteuren in den Vordergrund. Dieser anthropologische Ansatz erfordert zunächst, sich dem Selbstverständnis und den Abgrenzungsstrategien der Akteure zu nähern, da diese die kulturellen Identitäten der Akteure maßgeblich bestimmen. Durch die Untersuchung der Wahrnehmung des Anderen und der eigenen Verortung werden darüber hinaus die geographischen, politischen und religiösen Räume, wie sie sich aus der Sicht der Zeitgenossen darstellen, fassbar. Einen weiteren Zugriff bilden Interaktionen, die sich zwischen den Räumen abspielen und sich in Kommunikationen, Kooperationen und Konflikten äußern. Dabei steht die Frage nach sich manifestierenden Ausdifferenzierungsprozessen im Vordergrund: Diese zeigen sich in vielfältigen Untersuchungsgegenständen, wie dem Verhalten der Akteure in ihrem Umgang miteinander, den Kommunikationswegen und -formen, den Anlässen von Konflikten sowie den Arten der Konfliktaustragung. KONZEPT UND ERGEBNISSE Der erste Teil „Identitätskonstruktion. Abgrenzung vom Westen durch paideia?“ beschäftigt sich mit Bildungskonzepten des paganen wie christlichen Ostens. Die ersten beiden Aufsätze von Jan R. Stenger und Matthias Becker zeigen auf, wie östliche Intellektuelle im 4. Jh. durch die Tradition und Interpretation einer griechischen paideia ihre eigene Identität stärkten und zur Abgrenzung vom Westen benutzten, dessen Sprache und Bildungsgrad als defizitär beschrieben wurde. Diese intellektuellen Vorbehalte schlugen sich nicht nur im literarischen Schaffen nieder, sondern wirkten sich auch auf Kontakte mit Repräsentanten des Westens aus. Einen kontrastierenden Interpretationsansatz zu den Beiträgen von Stenger und Becker liefert Oliver Schelske, der aufbauend auf der Beobachtung, dass griechische Dichter ihre lateinischen Kollegen wie selbstverständlich rezipierten, zeigt, dass paideia auch als Band zwischen Osten und Westen interpretiert werden kann. Einig sind sich Stenger und Schleske allerdings darin, dass es in christlichen Kreisen deutliche Tendenzen der Abgrenzung gab, was sich auch im Beitrag von Fabian Schulz im dritten Teil bestätigt. Der Teil „Wahrnehmung des Anderen. Außenperspektiven auf Ost und West“ befasst sich sowohl mit der Wahrnehmung des Ostens durch den Westen als auch mit der Wahrnehmung des Westens durch den Osten sowie mit dem Blick von außen auf den Osten. Hans-Werner Goetz untersucht die Darstellung des Ostens bei Gregor von Tours und Fredegar, Christian Stadermann bezieht in seine Analyse der Deutung der Schlacht von Voullié auch die Wahrnehmung in östlichen Quellen ein, Dmitrij F. Bumazhnov zeigt die Wahrnehmung des christlichen Os-

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Schimank (2000).

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Carola Föller/Fabian Schulz

tens in ostsyrischen Quellen auf. Diese Außenperspektive veranschaulicht auch die Ambivalenz der Terminologie, die Räume nach Himmelsrichtungen benennt: Bumazhnov spricht – auf Basis seiner Quellen – von Byzanz als dem ‚christlichen Westen‘. Während Goetz in der Beschreibung von Gregor von Tours und Fredegar keine signifikanten Abgrenzungstendenzen ausmachen kann, stellt Bumazhnov solche besonders nach dem Konzil von Chalkedon 451 fest. Zu überlegen wäre hier, ob das mangelnde Bedürfnis nach Abgrenzung auf ein fortgeschrittenes Auseinanderdriften verweist, während ein großes Bedürfnis danach auf eine größere Nähe hindeutet. Im dritten Teil geht es um „Gelingende, misslingende und fehlende Kommunikation. Päpste und Bischöfe und der Osten“. Im Fokus der drei Beiträge stehen mit den Päpsten und den Bischöfen die Akteure der westlichen kirchlichen Elite und ihre Kommunikation mit dem Osten. Dabei bilden sie – in drei Zeitschnitten – den gesamten Untersuchungszeitraum von 400 bis 600 ab und ermöglichen so eine diachrone Perspektive. Der Beitrag von Fabian Schulz betrachtet das Verhältnis von Hieronymus und Augustinus zu der anderen Seite, Sebastian Scholz und Carola Föller widmen sich in ihren Beiträgen der Kommunikation von Päpsten, Simplicius im ausgehenden 5. Jahrhundert und Gregor dem Großen um 600, mit den östlichen Patriarchen und dem Kaiser. Schulz kann eine – nach langem Ausbleiben von Kommunikation – zumindest letztendlich aus der Sicht des Westens erfolgreiche Einwirkung auf den Osten zeigen. Scholz demonstriert hingegen, dass eine Kommunikation außerhalb bestimmter Kanäle – dem Kaiser und dem Patriarchen von Konstantinopel – nicht stattfindet. Somit werden diese zu den einzigen Informationsquellen des Papstes. Eine misslingende Kommunikation, die aus der Unterschiedlichkeit von Konzepten und dem Unverständnis gegenüber den Vorstellungen des Anderen erwächst, zeigt Föller auf. Der vierte Teil trägt den Titel „Krieg und Konflikt. Ost und West im Vergleich“ und befasst sich mit der Organisation von Kriegergruppen und den Handlungsspielräumen der militärischen Führung und beleuchtet dabei auch exemplarisch einzelne Auseinandersetzungen und Konflikte. Im Zentrum steht dabei die vergleichende Perspektive zwischen Ost und West. Die Beiträge von Guido M. Berndt und David Jäger beschäftigen sich mit der Entstehung und Verstetigung von Kriegergruppen. Während Berndt die Entstehung von Kriegergruppen am Beispiel der Goten im Osten und deren dauerhafte Etablierung in Italien aufzeigt, kann Jäger durch einen Vergleich von Hunnen und Westgoten plausibel machen, dass solche Kriegergruppen sich oft nur kurzzeitig zusammenfanden und die beteiligten Akteure sich nicht dauerhaft als Krieger begriffen. Anne Poguntke und Katharina Enderle befassen sich mit Handlungsspielräumen von Heermeistern. Poguntke zeigt durch einen Vergleich des westlichen Heermeisters Stilicho und seines östlichen Kollegen Gainas, dass der Heermeister im Westen einen relativ großen Handlungsspielraum hatte, wohingegen Gainas im Osten durch den Kaiser in seinem Handeln begrenzt wurde. Am Beispiel des Usurpators und vormaligen Heermeisters Basiliskos, verdeutlicht Enderle, wie seine Politik und die seiner Gegner durch Endzeiterwartungen beeinflusst wurden.

Das Auseinanderdriften von Ost und West

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Der fünfte Teil „Methodische Perspektiven“ umfasst zwei Beiträge, die sich mit Grundannahmen und Zugriffen des vorliegenden Bandes beschäftigen. Tobias Schöttler erweitert den Blickwinkel der historisch arbeitenden Disziplinen um eine kommunikationswissenschaftliche Perspektive. In seinem Beitrag, der sich mit den Bedingungen von Verstehen beschäftigt, zeigt er die Grenzen der gängigen kommunikationswissenschaftlichen Theorien auf und entwirft ein dynamisches Modell unterschiedlicher Verstehensdimensionen, das die jeweils spezifischen Bedingungen berücksichtigt. Er gibt damit komplementär zu den exemplarisch arbeitenden Einzelstudien des Bandes eine Anregung zu weiterer theoretischer Fundierung. In seinem abschließenden Kommentar beleuchtet Uwe Walter Chancen und Grenzen der Tagungs(band)konzeption mit Implikationen, die über die Tübinger Ost-West-Projekte hinausweisen. Dabei regt er an, in weiterführenden Studien auch verstärkt nach verbindenden Faktoren und Möglichkeiten des Verstehens zu fragen, wobei sich ein Vergleich mit der hohen Kaiserzeit als hilfreich erweisen könnte. LITERATURVERZEICHNIS Michael Borgolte (2006), Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300–1400 n. Chr. (Siedler Geschichte Europas 2), München. Michael Borgolte (2009), Migration als transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Europa. Ein neuer Pflug für alte Forschungsfelder, in: HZ 289, S. 261–285. Gunther Gottlieb (1978), Ost und West in der christlichen Kirche des 4. und 5. Jahrhunderts, München. Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka (1996) (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main. Peter Heather (2005), The Fall of the Roman Empire, London. Walter E. Kaegi (1992), Byzantium and the Early Islamic Conquests, Cambridge. Hartmut Leppin (2011), Justinian. Das christliche Experiment, Stuttgart. Ralph-Johannes Lilie (1976), Die byzantinische Reaktion auf die Ausbreitung der Araber. Studien zur Strukturwandlung des byzantinischen Staates im 7. und 8. Jahrhundert (Miscellanea Byzantina Monacensia 22), München. Mischa Meier (2012), Die Teilung des Römischen Reiches in Ost und West, in: Matthias Puhle/Gabriele Köster (Hrsg.), Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter, Regensburg/Magdeburg, S. 189–195. Mischa Meier (2008), Eschatologie und Kommunikation im 6. Jahrhundert n. Chr. – oder: Wie Osten und Westen beständig aneinander vorbeiredeten, in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hrsg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen (Millenium Studien 16), Berlin/New York, S. 41–73. Angela Pabst (1986), Divisio Regni. Der Zerfall des Imperium Romanum in der Sicht der Zeitgenossen, Bonn. Chase F. Robinson (2010), The Rise of Islam 600–706, in: Ders. (Hrsg.), The Formation of the Islamic World (The New Cambridge History of Islam 1), Cambridge, S. 173–225. Kaj Sandberg (2008), The so-called division of the Roman Empire in AD 395. Notes on a persistant theme in modern historiography, in: Arctos 42, S. 199–213. Uwe Schimank (2000): Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie, Weinheim. Christoph Ulf (2009), Rethinking cultural contacts, in: Ancient West & East 8, S. 81–132.

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Carola Föller/Fabian Schulz

Bryan Ward-Perkins (2005), The Fall of Rome and the End of Civilization, Oxford. Michael Werner/Bénédicte Zimmermann (2002), Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der histoire croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: Geschichte und Gesellschaft 28, S. 607–636.

I. IDENTITÄTSKONSTRUKTION. ABGRENZUNG VOM WESTEN DURCH PAIDEIA?

DIE „ANDERE“ SPRACHE Griechische Intellektuelle des 4. Jahrhunderts und ihre Haltung zum römischen Westen Jan R. Stenger ZUSAMMENFASSUNG Griechische Autoren des 4. Jahrhunderts bringen in verschiedenen Kontexten Vorbehalte gegen die lateinische Sprache und die Kultur des römischen Westens zum Ausdruck. Lassen diese Haltungen und Stereotype auf eine beginnende Entfremdung zwischen den beiden Hälften des Römischen Reiches in der Spätantike schließen? Der Aufsatz versucht diese Frage zu beantworten, indem er ausgehend vom Sprachbewusstsein der griechischen Intellektuellen untersucht, wie sie den römischen Westen wahrnahmen und bewerteten und wie sich ihre Perzeption auf direkte Kontakte mit Repräsentanten Roms auswirkten. Zwar kann man nicht von einer generellen Ablehnung Roms sprechen; vielmehr sind individuelle Unterschiede zu berücksichtigen. Gegenüber der Zeit der Zweiten Sophistik ist jedoch eine wachsende Entfremdung vom Westen zu konstatieren, die mit den gewandelten Rahmenbedingungen der Spätantike, beispielsweise Regionalisierungstendenzen, zusammenhängt. SPRACHEN, KULTUREN, STEREOTYPE Wer sich heutzutage mit einem gewissen Dünkel über das ubiquitäre Denglisch oder das Franglais seiner Zeitgenossen mokiert, kann sich in bester Gesellschaft wähnen. Schon die antiken Griechen kultivierten eine unübersehbare Hochnäsigkeit gegenüber dem Idiom der alles dominierenden Weltmacht. Mit spitzer Feder desavouierte der alexandrinische Epigrammatiker Palladas in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die Schwäche seiner Landsleute für lateinische Floskeln: Kriegt ein Freund was von dir, gleich schreibt er dir „Domine Frater“; gibst du dagegen ihm nichts, spricht er nur „Frater“ dich an. O, wie feil es doch ist, dies Wort! Doch möchte ich niemals 1 „Domine“ hören, denn Geld domiziliert nicht bei mir. 1

Anthologia Palatina 10,44: Ἢν ὁ φίλος τι λάβῃ, „δόμινε φράτερ“ εὐθὺς ἔγραψεν·

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Jan R. Stenger

Auch heute kleidet sich Sprachkritik oft in scherzhafte Form, sorgt für Heiterkeit und bietet willkommenen Stoff für smalltalk, wie die Publikumserfolge eines Bastian Sick eindrucksvoll untermauern. 2 Gleichwohl bergen solche Spitzen einen ernsthaften Kern, transportieren sie doch zwischen den Zeilen kulturelle Stereotype oder Vorurteile, die auf Vorbehalte gegenüber fremden Sprachen, wenn nicht gar Völkern schließen lassen. Noch deutlicher kommt diese Reserve zum Vorschein, wenn wir Libanios’ allseits bekannte Bemerkungen über das Lateinische in Augenschein nehmen. Fast durchweg bezeichnet er es als „die andere Sprache“ und stellt es „unserer Sprache“, dem Griechischen, gegenüber. 3 Die Opposition zwischen den beiden Weltsprachen zeigt nicht allein, wie der antiochenische Sophist Identität durch Alterität und Abgrenzung konstruiert, sondern offenbart, wenn man sie im Kontext liest, eine Furcht vor der Überfremdung durch alles Römische, die in den Bedeutungsverlust des Griechischen zu münden droht. Mit erstaunlicher Hartnäckigkeit gelang es dann Libanios’ Kollegen Themistios, die andere Sprache zu ignorieren. Obgleich er eine bemerkenswert lange Karriere am Hof im Dienste mehrerer römischer Kaiser absolvierte und gleich zweimal in der Ewigen Stadt offizielle Ansprachen hielt, machte er keine Anstalten, Latein zu lernen, ja kokettierte noch mit seiner Ignoranz. 4 Sprachkritik, Furcht vor Überfremdung, Ignoranz: Dokumentieren diese Haltungen, wenn wir sie als repräsentativ für die griechischen Gebildeten nehmen, ein generelles Auseinanderdriften, eine Entfremdung zwischen den beiden Reichsteilen im 4. Jahrhundert? Führten sie zu Unverständnis und hoben kulturelle Gräben zwischen Orient und Okzident aus? In der heutigen globalisierten Welt sind wir für derlei Befindlichkeiten, die sich durch Sprachkontakte ergeben, sensibilisiert, und Bücher wie das Guy Deutschers stoßen auf große Resonanz in verschiedenen Ländern und Sprachen. 5 Die Berechtigung unserer Frage ist umso größer, wenn wir uns vor Augen halten, dass die Sprache kein autarker, isolierter Bereich der menschlichen Natur ist, sondern integraler Bestandteil des kognitiven Haushaltes und insofern eng mit dem Denken verknüpft. Und es kann kein Zweifel bestehen, dass sprachliche Formulierungen kulturspezifische Aspekte, Konnotationen und Bewertungen transportieren, erst recht wenn sie kulturelle Institutionen repräsentieren. Man denke nur an die konzeptuellen und kulturellen Unterschiede, die sich hinter den Termini philia, amicitia, Freundschaft verbergen. Das Beherr-

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ἢν δ’ αὖ μή τι λάβῃ, τὸ „φράτερ“ εἶπε μόνον· ὤνια γὰρ καὶ ταῦτα τὰ ῥήματα. αὐτὰρ ἔγωγε οὐκ ἐθέλω „δόμινε“, οὐ γὰρ ἔχω δόμεναι. Siehe auch Anthologia Palatina 9,502. Die deutsche Übertragung von Beckby (1964) vermag das Wortspiel mit lateinisch domine und griechisch δόμεναι nur näherungsweise herauszubringen. Zu Palladas’ Umgang mit lateinischen Lehnwörtern siehe Wilkinson (2010). Sick (2007). Libanius, Orationes 1,234; 43,3–5; Epistulae 363,1; 539,2; 955,1. Themistius, Orationes 6,71c–d. Zu Themistios’ politischen Tätigkeiten Vanderspoel (1995). Deutscher (2010). Die Beiträge in Cotton u.a. (2009) untersuchen Sprachkontakte im östlichen Mittelmeerraum anhand von dokumentarischen Texten der Kaiserzeit.

Die „andere“ Sprache

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schen einer fremden Sprache 6 bedeutet dann auch, dass man in eine andere Weltsicht oder Weltanschauung eintaucht, sich eine andere Perspektive zu eigen macht. 7 Umgekehrt spricht die Ablehnung einer fremden Sprache von Desinteresse oder gar Xenophobie. 8 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden untersucht, ob wir solch eine geistige Haltung der spätantiken Griechen zum Lateinischen und zum römischen Westen rekonstruieren können, wenigstens in Grundrissen. 9 Das unabweisbare Sprachbewusstsein der Autoren könnte ein geeigneter methodischer Zugriff auf deren kulturellen Horizont sein. 10 Sollte die Kategorie des Auseinanderdriftens von Osten und Westen heuristischen Wert für unser Erkenntnisinteresse besitzen, so wäre genauer darauf zu achten, ob zwischen der Kaiserzeit und der Spätantike signifikante Änderungen in den Einstellungen der gebildeten Griechen zu Rom aufgetreten sind. 11

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Zu Mehrsprachigkeit und Identitäten in der Antike siehe jetzt den Sammelband von Mullen und James (2012). 7 Zur Frage einer Beziehung zwischen sprachlicher Repräsentation und Kognition vgl. im Übrigen schon Gregorius Nyssenus, Contra Eunomium 2,1,399f. 8 Deutlichen Ausdruck verleiht etwa Johannes Chrysostomos diesem Zusammenhang in homilia 4,3 in 2 Tim. (PG 62,622), bemerkenswerterweise aus Sicht der Römer. Die gleiche kulturelle Überheblichkeit der Römer konstatiert Themistios in Orationes 23,298b–c. Zur Bewertung von Sprachen vgl. auch Gregorius Nyssenus, Contra Eunomium 2,1,406–408. 9 Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, das Verhältnis zwischen den Griechen und dem Westen durch die gesamte Spätantike hindurch zu verfolgen oder gar bis in die byzantinische Zeit, als sich die Griechen des Byzantinischen Reiches selbst im politischen Sinne als Römer definierten. Siehe Kaldellis (2007), dessen Bemerkungen zur Kaiserzeit und zur Spätantike allerdings teilweise problematisch sind. 10 Ausgespart werden soll Kaiser Julian, der aufgrund seiner Herkunft, Sozialisation und politischen Rolle einen Ausnahmefall bildet. Als Angehöriger der Kaiserfamilie, Caesar, Befehlshaber und schließlich Augustus war für ihn die Beherrschung des Lateinischen unabdingbar, zumal er lange Zeit in Gallien verbrachte. Es überrascht nicht, dass er in seinen (auf Griechisch verfassten) Schriften genauere Kenntnisse der römischen Geschichte und der lateinischen Literatur verrät als seine griechischen Zeitgenossen, insbesondere im Hymnus auf die Göttermutter und in den Kronia bzw. Caesares. Freilich verstand er sich selbst in erster Linie als Grieche und stellte durch seine Werke und philosophischen Neigungen unter Beweis, dass er in der griechischen Tradition beheimatet war. Nicht ohne Grund sah Julian Marc Aurel als seinen fähigsten Vorgänger auf dem Thron an. Zu Julians Lateinkenntnissen Libanius, Orationes 12,92; Ammianus Marcellinus 16,5,7. Stenger (2009), S. 27–30; Elm (2012). Zur Haltung der Griechen gegenüber Rom vgl. die ältere Studie von Fuchs (1938), deren Belegstellensammlung immer noch nützlich ist. 11 Zwei wichtige Punkte sind hierbei zu bedenken: Erstens handelt es sich bei „Westen“ und „Osten“ um heutige Kategorien, die bei den spätantiken Autoren keine genaue Entsprechung haben und somit nicht einfach für deren Denken vorausgesetzt werden können. Und zweitens darf der Terminus des Auseinanderdriftens nicht so verstanden werden, dass vor der Spätantike eine vollkommen homogene kulturelle Einheit zwischen dem griechischen Osten und dem lateinischen Westen geherrscht hätte.

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… BUT, FOR MY OWN PART, IT’S ALL LATIN TO ME Betrachten wir zunächst die Einstellung des Libanios, der als Rhetoriklehrer von Berufs wegen über Sprache reflektierte. 12 Wie angedeutet, sieht er die Sprache der Römer überwiegend als Gegenpol zu seiner eigenen Muttersprache. Dieses Charakteristikum lässt sich nicht einfach damit erklären, dass Latein neben dem Griechischen die zweite Weltsprache war und in Antiochia als einem Verwaltungszentrum tagtäglich zu hören gewesen sein wird. Seine Äußerungen haben vielmehr einen anderen, verräterischen Zungenschlag. Der Kontext, in dem er despektierlich über das Lateinische redet, ist in den meisten Fällen das Feld der Bildung und des rhetorischen Unterrichts. Wenn Libanios das Lateinische zur Kenntnis nimmt, beklagt er meistenteils, dass wohlhabende Väter ihre Söhne zum Sprachstudium nach Rom schickten, weil sie sich davon bessere Karrierechancen versprächen. 13 Er malt in düsteren Farben eine allgemeine Lage an die Wand, in welcher der Zeitgeist gegen das Griechische und die griechische Rhetorik steht. 14 Was er selbst lehre, gelte vielen Angehörigen der Elite nichts mehr; stattdessen liefen sie in Scharen zu Lehrern des Lateinischen. Im selben Atemzug nennt er des Öfteren das Erlernen der Stenographie oder, als rotes Tuch, das Studium der Jurisprudenz an der Hochschule von Berytos, wo auf Latein unterrichtet wurde.15 Aus seiner Sicht ist das Beherrschen des Lateinischen eine reine Fertigkeit, ein Schlüssel zum raschen Aufstieg in der Verwaltung und am Hofe. Es fällt ins Auge, dass Libanios in diesem Zusammenhang nirgends der anderen Sprache einen kulturellen Wert zubilligt oder kulturelles Interesse als Motivation für das Studium gelten lässt. 16 Ganz im Gegenteil, den Part des Kulturträgers übernimmt exklusiv das Griechische, das für ihn nicht allein Kommunikationsmittel ist, sondern Literatur, paideia, Religion und kulturelle Identität verkörpert. In dieselbe Stoßrichtung zielt es, wenn er hohe Amtsträger wegen ihrer mangelnden Griechischkenntnisse verachtet oder stellenweise das Eindringen der lateinischen Sprache in den Festbetrieb von Antiochia als Symptom des Verfalls identifiziert.17 Durch all

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Stenger (2009), S. 204; 219; Nesselrath (2012), S. 52f. Zu seiner Biographie Wintjes (2005). Libanius, Orationes 43,3–6; 48,22; Epistulae 951; 964,2. Vgl. Epistulae 238,2. Libanius, Orationes 43,4; Epistulae 955,1. Libanius, Orationes 48,22; 49,27f.; Epistulae 1203. Hose (2000); Heath (2004), S. 293f. und 327f.; Cribiore (2007), S. 206–212. 16 In seinem Panegyricus auf Constans und Constantius kann Libanios allerdings nicht umhin, das Zugeständnis zu machen, beide Kaiser seien in der Rhetorik beschlagen, „die den Römern zukomme“, d.h. in der lateinischen (Orationes 59,34). Dass er sich dem Kontext und dem Adressaten anzupassen wusste, bezeugt auch sein Brief an Ammianus Marcellinus, in dem er Rom als Stadt bezeichnet, die auf Erden nicht ihresgleichen habe, und anerkennt, dass sie viele Redner hervorbringe (Epistulae 1063). 17 Libanius, Orationes 1,156; 40,6–10. In Orationes 10,14f. betrachtet Libanios die Rufe römischer Zuschauer als Störung der Würde der sportlichen Agone im Plethron von Antiochia. Zu Libanios’ Vorstellungen von einem vorbildlichen Amtsträger und seinen Fähigkeiten Drecoll (2004).

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diese Bemerkungen zur Konkurrenz der Sprachen zieht sich die Sorge, das Griechische, Dreh- und Angelpunkt seines eigenen Lebens, verliere allgemein an Geltung und werde in den Schmutz gezerrt. Die Vorstellung, es komme zu einem Kampf zwischen griechischer Bildung und lateinischer Ausbildung, ist seinem individuellen Horizont, seinem persönlichen Interesse geschuldet. Sofern es die Umstände nahelegten, konnte Libanios einen versöhnlicheren Ton anschlagen und sogar jemanden für das Beherrschen beider Sprachen loben. 18 Grundsätzlich jedoch legt er, sobald er sich zu Sprachfragen äußert, einen kulturellen Dünkel an den Tag. Mit einer ähnlichen Reserve begegnet der etwas jüngere Zeitgenosse Eunapios von Sardes dem Lateinischen. Obgleich er ein umfangreiches Werk über die Geschichte des Reiches in seiner eigenen Zeit vorlegte und die Taten Kaiser Julians ins Zentrum stellte, blieb ihm alles Römische augenscheinlich fremd. Statt sich als glühender Verehrer des letzten paganen Kaisers ganz mit der römischen Sache zu identifizieren, wirft er den Blick eines Griechen auf das Reich, wie seine Bemerkungen zur Sprache zeigen. Mehrfach fühlt er sich bemüßigt zu erklären, wie die Römer bestimmte Phänomene und Einrichtungen in ihrer Sprache bezeichneten. 19 Als Publikum seines Werkes hat er primär griechische Leser im Blick, denen trotz ihrer Zugehörigkeit zum Imperium Romanum die Sprache der Verwaltung und des Militärs nicht geläufig ist – oder die zumindest diese Attitüde pflegen. Deutlich verraten die vollständig überlieferten Vitae sophistarum Eunaps Fremdheit. Der geistige Horizont, den er in dieser Biographiensammlung aufspannt, erstreckt sich ausschließlich auf den griechischen Kulturkreis. 20 Platon und der Neuplatonismus bilden den intellektuellen Hintergrund, die Viten des Philostrat geben das literarische Vorbild ab, und herausragende Philosophen und Rhetoren scheint es allein unter den Griechen zu geben. Kulturelle Strömungen im Westen liegen außerhalb von Eunaps Blickfeld. Wenn einmal Römisches ins Spiel kommt, so macht der Autor keinen Hehl aus seinen Vorbehalten. Rom ist für ihn die Stadt der Schwelgerei, der Oberflächlichkeit und des Scheins. 21 Ebenso wie dem Libanios dient Eunap trotz seinem Interesse an den Angelegenheiten des Reiches das Römische hauptsächlich als Kontrastfolie des Fremden. Etwas subtiler verfährt der Athener Sophist Himerios in zwei Reden, die er an Adressaten aus dem lateinischsprachigen Westen richtet. 22 Als er eine Ansprache

18 Libanius, Orationes 12,92; Epistulae 668,1; 1296,2; 1493,2. 19 Eunapius, Vitae sophistarum 7,3,8; 7,6,10; 9,2,19. Zu römischen Bräuchen 6,3,11; 9,2,11. Becker (2013), S. 49f. 20 Siehe jetzt Becker (2013), bes. S. 48–51. 21 Als der Sophist Eusebios von Alexandria, ein Schmeichler und Intrigant, nach Rom kommt, findet er dort ein vorzüglich geeignetes Betätigungsfeld (Eunapius, Vitae sophistarum 10,7,10–12). Der ganze Passus trägt den Stempel eines Antagonismus zwischen der wahren athenischen paideia und der römischen und alexandrinischen Oberflächlichkeit. 22 Deutsche Übersetzung und Kommentierung bei Völker (2003), englisch bei Penella (2007).

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vor dem aus Dalmatien stammenden comes Ursacius hielt, 23 ließ er den Amtsträger ohne Umschweife spüren, dass dieser als Fremder in den griechischen Kulturkreis eingetreten war. Angesichts der mangelnden Bildung und Kultiviertheit des Widmungsträgers mag dies gerechtfertigt gewesen sein; 24 gleichwohl fällt auf, wie dieses Motiv die Rede dominiert zu haben scheint. Und auch hier gehen Sprache und Bildung Hand in Hand, um die kulturelle Differenz zu konstruieren. Himerios berichtet ausführlich, wie einst der Hyperboreer oder Skythe Abaris aus dem hohen Norden nach Athen gekommen sei. 25 Der Barbar durchläuft einen bemerkenswerten Assimilationsprozess: Indem er die griechische Sprache annimmt, wird er gleichsam zum Griechen; er vollzieht eine Metamorphose vom rohen Wilden zum zivilisierten Menschen und wird in der Akademie und dem Lykeion sozialisiert.26 Durch diese Erzählung schimmert nicht nur des Redners Stolz auf die kulturelle Leistung seiner Heimatstadt hindurch, sondern er verwendet dieses historische exemplum auch dazu, eine Parallele zu dem „Illyrer“ Ursacius zu ziehen, der gleichfalls aus dem Norden nach Griechenland gereist war. Ohne Zweifel war diese Analogie als Panegyrik intendiert; bei näherer Betrachtung entpuppt sie sich freilich als wenig schmeichelhaft. Dass es sich bei der Parallelisierung des Römers mit einem Skythen nicht um einen Augenblickseinfall oder gar Fauxpas handelt, belegt eine weitere Ergebenheitsadresse, mit der Himerios den Römer Privatus bedachte. Diesem oblag es, in Athen den Sohn eines hohen Beamten zu erziehen. 27 Statt Privatus als Kollegen zu begrüßen, steht der Redner nicht an, den Adressaten als Fremdling zu identifizieren. In diesem Falle ist es der berühmte Skythe Anacharsis, der ein Muster für den Akkulturationsprozess abgibt. 28 Soweit es der fragmentarische Zustand der Rede erkennen lässt, entdeckt Himerios erneut eine enge Parallele zwischen dem Ankömmling aus dem Westen und dem nördlichen Barbaren, der Athen aufsucht, um dort die Verwandlung in einen zivilisierten Menschen zu erleben. Anacharsis saugt so gründlich die griechische Sprache und die attische Bildung in sich auf, dass er seine skythische Muttersprache gänzlich ablegt. Zudem sehen wir ihn mit einem herausragenden Repräsentanten hellenischer Kultur im Gespräch, dem Politiker und Dichter Solon. Abermals greift

23 Zu ihm PLRE I 984f.; Barnes (1987), S. 214; Penella (2007), S. 213f. Die Rede wurde in Athen vorgetragen. 24 Dies gilt jedenfalls, sofern die abschätzigen Bemerkungen Ammians derselben Person gelten (Ammianus Marcellinus 26,4,4; 5,7). 25 Vgl. Herodotus, Historiae 4,36; Plato, Charmides 158c; Iamblichus, De vita Pythagorica 92f. 26 Himerius, Orationes 23,4 und 7f. 27 Laut handschriftlicher Überlieferung war er Erzieher des Sohnes des Ampelios. Ampelios stammte aus Antiochia und amtierte 359/60 als proconsul. Barnes (1987), S. 215f. 28 Himerius, Orationes 29, Z. 2–21, bes. 4–7 („Dem Aussehen nach Skythe, war er sogleich, als er von der Rhetorik kostete, der Sprache nach attisch, statt skythisch zu sprechen. Von Natur aus war er imstande, den hergebrachten Brauch zu überwinden, und sein Streben nach Vollkommenheit ließ die väterliche Sitte hinter sich.“ Σκύθης μὲν ὢν τῷ σχήματι, ἅμα δὲ τῷ λόγων γεύσασθαι, ἦν εὐθὺς] τὴν φωνὴν ἀντὶ τοῦ σκυθίζειν Ἀττικός· δεινὴ γὰρ ἡ φύσις νικῆσαι | νόμον, καὶ ἀρετῆς ἔρως ἔθος ἐκβῆναι τὸ πάτριον).

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Himerios einen fest verwurzelten literarischen Topos für die Hellenisierung und gleichzeitige Humanisierung des Barbaren auf, um über seine eigene Haltung zu den Vertretern des römischen Westens zu sprechen. 29 Ähnlich wie die Skythen der Vergangenheit sind die Römer diejenigen, die als Fremde von außen kommen und Aufnahme unter die Griechen begehren. Damit sie zu vollgültigen Menschen heranreifen, müssen sie ein Eintrittsbillet lösen, nämlich das Eigene abstreifen und sich assimilieren. 30 Wie die Kolonialherren des 19. Jahrhunderts ist der Athener Himerios tief durchdrungen von dem Glauben an die eigene kulturelle Überlegenheit und dem Sendungsbewusstsein, der Welt die Segnungen der Zivilisation zu bringen. 31 Dabei werden großzügig die Römer unter die Barbaren subsumiert. Um nicht den Eindruck zu erwecken, die kulturellen Vorbehalte gegen das Lateinische und den Westen seien ausschließlich eine Angelegenheit der paganen Intellektuellen gewesen, sei hinzugefügt, dass sich die Kirchenväter, sofern sie in der griechischen Tradition aufgewachsen waren, nicht grundsätzlich von ihnen unterschieden. Selbst die christliche Praxis, Heiden als „Griechen“ zu titulieren, die von einer Distanz gegenüber der hellenischen Tradition spricht, 32 blieb ohne Auswirkung auf ihre Haltung gegenüber dem Westen. Zog schon das sprachliche Gewand des Neuen Testaments zwangsläufig eine Privilegierung des Griechischen vor dem Lateinischen nach sich, so zögerten Gregor von Nazianz, Gregor von Nyssa und Basileios der Große nicht, ihre Anhänglichkeit an die hellenische Sprache und Kultur kundzutun, selbst wenn sie als Christen den Wert weltlicher Bildung relativieren mussten. 33 Gregor von Nazianz beispielsweise wehrte sich vehement gegen Kaiser Julians Ansinnen, die Christen von den Quellen des Griechentums abzuschneiden. 34 Weder er noch sein Namensvetter aus Nyssa be-

29 Zu Anacharsis als exemplarischem Muster für eine gelungene Akkulturation bzw. Assimilation siehe Herodotus, Historiae 4,76f.; Plutarchus, Solon 5; Diogenes Laertius, Vitae philosophorum 1,101f.; Lucianus, Scytha 1–8; Lucianus, Anacharsis; Ps.-Anacharsis, Epistulae; Cicero, Tusculanae disputationes 5,32. 30 Zu den kulturellen Austausch- und Assimilierungsprozessen zwischen Griechen und Römern vgl. die interessante Parallele aus der Zeit der Zweiten Sophistik in Ps.-Dio Chrysostomus, Orationes 37,25–27 (Favorinus). Kaldellis (2007), S. 32f. 31 Vgl. Themistius, Orationes 23,298b–d, wo Themistios für sich in Anspruch nimmt, er habe, animiert durch seine große Popularität in Rom im Jahre 357, den Römern die Heiligtümer des Pythagoras, des Platon und des Aristoteles erschlossen. Als hätte es nie eine Rezeption griechischer Philosophie in Rom gegeben, macht erst Themistios die dortige Elite mit griechischem Denken vertraut. Siehe ferner seine Bemerkung in Orationes 31,354c über den Rombesuch 376. Ähnliches bei Eunapius, Vitae sophistarum 4,1,6. Opelt (1969), S. 32f. 32 Kaldellis (2007), S. 121–131; Stenger (2009), S. 22–25. 33 Siehe beispielsweise Gregorius Nyssenus, Epistulae 14; Gregorius Nazianzenus, Orationes 2,3; 43,11 und 21; Basilius, Epistulae 74; 135. Rochette (1997), S. 251. Basileios und Gregor von Nazianz hatten in Athen eine klassische Ausbildung genossen, und Basileios wirkte selbst eine zeitlang als Rhetoriklehrer. Zur Spannung zwischen weltlicher paideia und Christentum bei den Kappadokiern Rousseau (1994), S. 27–60. 34 Gregorius Nazianzenus, Orationes 4 und 5, bes. 4,4–6; 100–107. Elm (2012), S. 336–377; 433–478.

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herrschten das Lateinische, und letzterer bestärkte in einem Brief sogar Libanios in seiner Abneigung gegen die „barbarische“ Sprache und in dem Glauben an den kulturellen Wert des Griechischen. 35 Für ihn wie für Johannes Chrysostomos galt das Lateinische lediglich als Instrument oder Zusatzkompetenz derjenigen, die nicht von einer weltlichen Karriere lassen mochten. 36 Insgesamt kamen für eine sei es positive, sei es polemische Auseinandersetzung mit der traditionellen Bildung auch den östlichen Kirchenvätern einzig griechische Denker in Betracht. In diesem geistigen Milieu war eine vorurteilsfreie Beschäftigung mit dem Lateinischen schlechterdings undenkbar, von kultureller Neugier ganz zu schweigen. Aus der Gewissheit kultureller Überlegenheit heraus taxierten die griechischen Intellektuellen Individuen und Völker nach ihrer Fähigkeit, sich das Griechische und die athenische paideia anzueignen. In einer Zeit, als die Frage der hellenischen Identiät in verschiedenen Kontexten virulent wurde, 37 setzten sie die eigene Muttersprache als absoluten Maßstab. Was Sprache und Kultur angeht, war kein Wille vorhanden, die Distanz zu Rom zu überbrücken. DIE BEGEGNUNG MIT DEM ANDEREN Wie sah es jedoch mit diesen Einstellungen aus, wenn sich die Möglichkeit eines persönlichen Kontakts oder zur Zusammenarbeit mit Angehörigen der westlichen Elite eröffnete? Standen auch hier Vorbehalte oder Ressentiments im Wege? Das immense Briefcorpus des Libanios gestattet uns einen Einblick in solche Beziehungen und erlaubt gewisse Rückschlüsse, obgleich es lediglich einen begrenzten Ausschnitt präsentiert. Unter den zahlreichen Empfängern der Briefe begegnen wir drei führenden Persönlichkeiten aus dem Westen, die hier interessant sein könnten: zum einen dem Heermeister fränkischer Herkunft Richomer, zum anderen dem gebildeten Römer Postumianus und drittens dem Kopf der paganen römi-

35 Gregorius Nazianzenus, Epistulae 173,1; Gregorius Nyssenus, Epistulae 14,6. Der Brief legt ferner in seiner Zitattechnik beredtes Zeugnis für den Bildungshorizont Gregors ab. Er verbindet Anspielungen auf die klassische griechische Literatur und die Heilige Schrift; römische Literatur hingegen zählt selbstverständlich nicht zum Bildungskanon eines östlichen Kirchenvaters oder eines Rhetoriklehrers. Die Außenperspektive des Griechen auf die Römer und das Reich illustriert beispielsweise auch Gregors Bemerkung zur Umbenennung Neokaisareias in De vita Gregorii Thaumaturgi (46,897). Zu den geistigen bzw. kulturellen Übereinstimmungen zwischen den paganen Intellektuellen und den Kirchenvätern des vierten Jahrhunderts siehe Stenger (2012). 36 Joannes Chrysostomus, Adversus oppugnatores vitae monasticae 3,5 (PG 47,357); vgl. 3,12 (PG 47,368). 37 Stenger (2009), S. 22–34; Stenger (2014). Die Konzentration der paganen wie christlichen Denker auf diese Frage und der Umstand, dass religiöse Differenzen hierbei in ethnischen Kategorien gedeutet wurden, mögen die Neigung verstärkt haben, in der pagan-christlichen Debatte den Westen auszublenden.

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schen Aristokratie, Q. Aurelius Symmachus. 38 Mit allen drei tauschte der antiochenische Rhetoriklehrer in der Regierungszeit des Theodosius Briefe aus, und Richomer lernte er zudem persönlich kennen, als dieser in seiner Funktion als magister militum per Orientem im Jahre 383 am Orontes weilte. 39 Die Bekanntschaft mit Richomer erstreckte sich über mehrere Jahre hinweg bis 392; noch in der Autobiographie erinnert sich Libanios mit sichtlicher Freude des Umgangs mit ihm. Zu dem an Symmachus gerichteten Brief existierte eine Vorgeschichte, da mehrere Jahre zuvor dessen Vater Avianius bei einem Aufenthalt in Antiochia die Gesellschaft des Libanios gesucht hatte und sich beide in freundschaftlicher Atmosphäre ausgetauscht hatten. 40 Später sandte dann der Sohn Symmachus einen Brief nach Antiochia, um diese Freundschaft aufleben zu lassen, worauf Libanios erfreut erwiderte. Ebenso hatte Postumianus den Kontakt zu ihm gewünscht und einen Brief geschickt, ohne dass wir etwas über den konkreten Anlass wüssten. 41 Grundsätzlich bestanden also denkbar günstige Voraussetzungen, um sich über gemeinsame Interessen zu verständigen und im besten Falle ein reichsweites soziales Netzwerk von führenden Vertretern der Tradition zu etablieren. 42 In einer Zeit, als das Christentum sich in voller Breite mit kaiserlichem Wohlwollen zur Dominanz aufschwang, hätte dies für beide Seiten lukrativ sein können. 43 Libanios zeigt sich in seinen Briefen angetan von diesen Beziehungen und bekundet überschwengliche Freude über die Freundschaft zu den Standesgenossen aus dem Westen. Die betreffenden Briefe sind mit Komplimenten und Freundschaftsmotiven gespickt, so dass kein gravierender Unterschied zur Korrespondenz mit griechischen Gebildeten auszumachen ist. Neben der philia spielt selbst38 Libanius, Epistulae 866; 972; 1007; 1024 (Richomer); 1036 von 392 (Postumianus); 1004 von Ende 391 (Symmachus). 39 Libanius, Orationes 1,219f.; Epistulae 866; 972; 1007; 1024. Nesselrath (2012), S. 102f. Zu Postumianus PLRE I 718f. (Nr. 3); Richomer PLRE I 765f.; Symmachus PLRE I 865–870 (Nr. 4). Wintjes (2005), S. 211f. 40 Libanius, Epistulae 1004,6–8. Avianius war 361 als Gesandter des Senats nach Antiochia gekommen. PLRE I 863–865; Bruggisser (1990), S. 21f. 41 Postumianus’ Großvater war im Jahre 314 Konsul. Er selbst gehörte dem Kreis um Symmachus an und ist vermutlich mit dem bei Macrobius erwähnten Postumianus identisch (Macrobius, Saturnalia 1,1,7). Welche Vorgeschichte dieser Brief hatte, lässt sich nicht mehr eruieren. Kenntlich ist immerhin, dass Libanios den Onkel des Postumianus als Beamten in Antiochia kennengelernt hatte und über die Familie seines Adressaten Bescheid wusste. Es existierte also schon vor dem Brief ein gewisser Kontakt. 42 Dies gilt umso mehr, wenn man berücksichtigt, dass Symmachus und Libanios nicht nur direkten Kontakt miteinander hatten, sondern auch indirekten über gemeinsame Bekannte. Symmachus korrespondierte ebenso wie Libanios über mehrere Jahre hinweg mit Richomer (insgesamt 16 Briefe: Symmachus, Epistulae 3,54–69) und mit Iamblichos aus Apameia (Symmachus, Epistulae 9,2; Libanius, Epistulae 1466); Postumianus war mit Symmachus befreundet. Etwas Initiative vorausgesetzt, wären mithin die Bedingungen für ein weitreichendes soziales Netzwerk gegeben gewesen. 43 Weiterhin kommt Aradius Rufinus in Betracht (PLRE I 775f. [Nr. 11]), ein in Rom geborener Heide, an den Libanios mehrere Briefe richtete und auf den er einen Panegyricus verfasste (Libanius, Epistulae 1124; 1135).

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verständlich die Bildung die Hauptrolle. Wie es unter Briefschreibern der Spätantike üblich ist, zollt Libanios dem hohen Niveau der paideia seiner Adressaten großen Respekt, und wir können vermuten, dass diese sich ihrerseits von Libanios’ Bildung beeindruckt gezeigt haben. Ebenso lassen zahlreiche Anspielungen erkennen, dass er mit der Weltanschauung und dem Engagement des Symmachus und Richomers sympathisierte. Er preist das Eintreten für die Tradition der Väter und zeigt sich gewiss, bei den Adressaten auf eine verwandte Anhänglichkeit an die alten Götter zu treffen. 44 So erscheint die Hypothese verlockend, Libanios habe den Kontakt zu Symmachus just in dem Moment gepflegt, als er seine Rede für die Tempel publizierte, und den Römer als Geistesverwandten betrachtet. 45 Gleichwohl scheint es zu weiterreichenden Konsequenzen nicht gekommen zu sein, geschweige denn zu gemeinsamen Aktivitäten. Die Sprachbarrieren waren es sicherlich nicht, die dies verhinderten. Zwar war Libanios darauf angewiesen, sich die Briefe des Symmachus und des Postumianus übersetzen zu lassen, und tadelte den letzteren jovial für den Gebrauch des Lateinischen. 46 Die Vertrautheit der römischen Aristokraten mit dem Griechischen und hellenischer Kultur hätten jedoch eine tragfähige Grundlage gebildet. 47 Freilich lässt sich eine gewisse Distanz nicht verkennen. Zum einen sieht es aus, als wäre die Kontaktaufnahme ausschließlich vom Westen ausgegangen. Es waren Symmachus und Postumianus, welche die Initiative zum Briefwechsel ergriffen; und Richomer suchte in Antiochia von sich aus den berühmten Sophisten auf, um ihm seine Aufwartung zu machen. Sie zeigten Interesse an einem Exponenten griechischer paideia, wie es etwa gleichzeitig Vettius Agorius Praetextatus trieb, Themistios’ Paraphrase der Analytica des Aristoteles zu übersetzen. 48 Libanios’ Bereitschaft, auf die Römer zuzugehen, scheint hingegen begrenzt gewesen zu sein. Was er in den Briefen an Lob oder an Gemeinsamkeiten vorbringt, geht kaum über die konventionelle Brieftopik hinaus oder bewegt sich gänzlich im Allgemeinen, Unverbindlichen. Überdies verharrt er vollkommen in seinem graecozentrischen Kosmos. Postumianus ruft er einen veritablen griechischen Autorenkanon in Erinnerung, um ihn auf die hellenische Bildung einzuschwören, und sonst bedient er sich allein griechischer Kategorien, um über seine Beziehung zu den Adressaten zu

44 Libanius, Epistulae 866,3; 972,1 und 4f.; 1024,3f.; 1004,8; 1036,1; 6; 8. 45 Libanius, Orationes 30. Bruggisser (1990), S. 20. 46 Libanius, Epistulae 1004,4; 1036,4–7. Zu seinen fehlenden Lateinkenntnissen siehe auch Orationes 12,92. Während sein Großvater das Lateinische beherrschte (Orationes 1,3), war sein Onkel Phasganios dieser Sprache nicht mächtig (Orationes 49,29). Rochette (1997), S. 132–135; Cribiore (2007), S. 208f.; Nesselrath (2012), S. 52f. 47 Avianius hatte Wert darauf gelegt, dass sein Sohn zweisprachig und umfassend gebildet sei, wie es dann seinerseits Symmachus bei seinem Sohn tat. Vgl. Symmachus, Epistulae 4,20,2. 48 Boethius, In librum Aristotelis Peri hermeneias commentarii (ed. sec.) 1,289. Vanderspoel (1995), S. 184 vermutet, dass Themistios 376 Praetextatus in Rom begegnet sei, ferner anderen führenden Senatsmitgliedern, darunter Symmachus. Praetextatus hatte sich außerdem intensiv mit Philostrats Vita Apollonii befasst.

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sprechen. 49 Beispielsweise stilisiert er sein Verhältnis zum Militär Richomer als das zwischen Agamemnon und Homer. 50 Immerhin demonstrierte er hier etwas größeres Engagement, indem er anlässlich des Konsulats 384 einen Panegyricus auf den Franken hielt, der leider verloren ist. Aufgeschlossenheit für die Belange in Rom oder Neugier auf die römische Kultur der Aristokraten sucht man in all diesen Zeugnissen vergeblich. Es mag vor diesem Hintergrund mehr als Zufall zu sein, dass in der Briefsammlung keine weiteren Schreiben an Symmachus und Postumianus vorhanden sind. Ebenso spricht es Bände, dass Libanios’ Kontakte zu prominenten Heiden des Westens erst in die Periode fallen, als die paganen Kulte starkem Druck ausgesetzt waren und das Christentum den Sieg davonzutragen drohte. Als es um seine Sache noch besser stand und er zuversichtlicher sein konnte, kam es Libanios nicht in den Sinn, nach Gleichgesinnten in Rom Ausschau zu halten. Libanios’ Interesse an diesen Freundschaften war höchst einseitig. Unfreiwillig geben die Briefe und noch die Autobiographie klare Auskunft darüber. Wie ein roter Faden zieht sich nämlich ein Motiv durch die Texte: Libanios’ Prestigegewinn. Er gibt sich keine Mühe zu verheimlichen, wie sehr er sich geschmeichelt fühlte, wenn diese hochrangigen Repräsentanten des Westens seine Nähe suchten. Überall in Antiochia reichte er den Brief des Symmachus herum und gab ihn allen zu lesen, ob sie wollten oder nicht. 51 Ebensowenig verzichtet er in den Schreiben an Richomer darauf, immer wieder zu betonen, welchen Prestigegewinn ihm die Bekanntschaft mit dem magister militum beschert habe. 52 Richomer erschien ihm außerdem der geeignete Mann, um die Aufmerksamkeit des Kaisers Theodosius nach Antiochia zu lenken. 53 Um Reputation und Einfluss kreisten die Gedanken des selbstgefälligen Sophisten, und auch wenn wir die Kommunikation nicht vollständig rekonstruieren können, vermag man sich des Eindrucks nicht zu erwehren, Libanios habe seine Gesprächspartner aus dem Westen in erster Linie vor den eigenen Karren spannen wollen. Möglicherweise war sich dafür ein Symmachus zu schade. ZWEI WELTEN Libanios’ Athener Kollege und Rivale Himerios war persönlichen Kontakten in den Westen ebenfalls nicht abgeneigt. Gleich drei der Reden, von denen wir noch Kenntnis haben, waren an einen Repräsentanten der römischen Reichsgewalt

49 Libanius, Epistulae 1036,4f. Selbst gegenüber einem führenden Aristokraten wie Postumianus kann Libanios nicht seine Herablassung ablegen. Er ermahnt ihn, sich durch den Gebrauch der griechischen Sprache den Ehrennamen „Athener“ redlich zu verdienen. 50 Libanius, Epistulae 972,3. 51 Libanius, Epistulae 1004,4f.; 1036,3. 52 Libanius, Epistulae 866,1; 1024,2f. 53 Libanius, Orationes 1,219f.; Epistulae 1024,3.

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(wenngleich einen griechischen), den proconsul Asiae Nicomachus Flavianus, gerichtet. 54 Obgleich Flavianus sich jeweils nur auf der Durchreise in Athen aufhielt, war Himerios daran gelegen, sich ihm mit öffentlichen Ansprachen zu empfehlen. Leider erlaubt der fragmentarische Zustand der Reden keine genaueren Aussagen, aber Timothy Barnes hat die plausible Vermutung geäußert, es sei das Festhalten an den paganen Kulten gewesen, das für den Redner attraktiv gewesen sei. 55 Das gleiche Interesse, Beziehungen zu einflussreichen Unterstützern der paganen Sache zu knüpfen, könnte den Redner bewogen haben, weiteren, aus dem Westen stammenden Amtsträgern Reden zu widmen, so etwa dem proconsul Achaiae und paganen Eiferer Vettius Agorius Praetextatus. 56 Vermutlich sah Himerios die günstige Gelegenheit, ein Netzwerk aus führenden griechischen wie römischen Anhängern der Ideale des verstorbenen Kaisers Julian zu knüpfen, um den neuen Tendenzen nicht gänzlich das Feld zu überlassen. 57 Trotz dieser Absicht lässt jedoch Himerios ebensowenig wie Libanios ein Interesse an der Kultur Hesperiens durchblicken. Er bemüht sich zwar redlich, wenigstens einige Hinweise auf die Herkunft der Widmungsträger einzuflechten. Beispielsweise lässt er Bemerkungen zur Stadt des Romulus und zum römischen Senat fallen. 58 Insgesamt aber werden diese Reden von griechischem Denken und griechischer Literatur beherrscht. Was Himerios an Anspielungen macht und an Zitaten in seine Ansprachen einstreut, ist der hellenischen Tradition entnommen. Hätte er ein genuines Interesse an Rom gehegt, müssten sich davon Spuren in seinen übrigen, aus dem Schulalltag hervorgegangenen Reden finden lassen. Hier bleibt er jedoch ganz wie Libanios in der klassizistisch geprägten, griechischen Vorstellungswelt befangen, ohne einen Blick über den Tellerrand zu werfen. Offensichtlich schien es Himerios geraten, wenn es gelegen kam, in der Öffentlichkeit den Kontakt zum Westen zu demonstrieren, um daraus Vorteile für seine Interessen zu ziehen. Im Privaten und im Schulbetrieb dagegen sah er keine Veranlassung, einmal die vertrauten Geleise der griechischen Klassik zu verlassen. Ein ähnliches, zwischen öffentlichen Anlässen und privaten Anliegen differenzierendes Janusgesicht bietet uns Themistios dar. Wenn von den hier vorgestellten griechischen Denkern einer gewichtige Gründe für eine Beschäftigung mit dem Westen gehabt hätte, dann er. Diente er doch über mehrere Jahrzehnte hinweg mehreren römischen Kaisern als Hofredner, Berater und Mittelsmann. Unter seinen Widmungsträgern befanden sich mit Valentinian und Valens Kaiser aus dem lateinischsprachigen Westen, die des Griechischen nicht mächtig und der höheren Bildung anscheinend wenig zugetan waren. In der Tat zeigen seine

54 Himerius, Orationes 12; 36; 43 aus dem Jahr 381, als Nicomachus zu seinem Amtsantritt reiste. Nicomachus stammte, wie Himerios erwähnt (12,17; 12,36), aus Griechenland und hatte seine Bildung in Athen empfangen. 55 Barnes (1987), S. 224f. 56 Himerius, Orationes 51, in Konstantinopel vorgetragen. PLRE I 722–724 (Nr. 1). 57 Stenger (2009), S. 87 mit Anm. 299. 58 Himerius, Orationes 36,11 (Z. 33–35); 41,9 (Z. 95); 62,5 (Z. 39f.).

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Staatsreden, vergleicht man sie mit den Werken des Libanios und des Himerios, eine größere Aufgeschlossenheit gegenüber Rom, ungeachtet der Verständnisschwierigkeiten. Während diese nur äußerst rudimentäre Kenntnisse römischer Geschichte und Institutionen besessen zu haben scheinen, kommt Themistios in seinen Kaiserreden immer wieder auf Begebenheiten der römischen Geschichte, auf frühere Kaiser und ihre Politik sowie auf den Senat zu sprechen. Mit schöner Regelmäßigkeit geben Augustus, Titus, Trajan und Marc Aurel ihr Stelldichein; 59 ebensowenig fehlen Größen der römischen Republik wie Camillus oder Cato. In die sinistren Tyrannen reihen sich mehrfach Nero, Domitian und Caracalla ein.60 Bei näherer Betrachtung bemerken wir jedoch, dass diese Kenntnisse nicht allzu tief gehen und augenscheinlich Beispielsammlungen entstammten, wie sie von den Rednern gerne geplündert wurden. 61 Vereinzelt unterläuft Themistios sogar eine Verwechslung, die seine mangelnde Vertrautheit mit der römischen Geschichte verrät. Gedeutet wird das römische Kaisertum von Themistios ausschließlich in griechischen Denkmustern. Es liegt ihm gänzlich fern, aus einer westlichen Perspektive auf die Spitze des Imperium Romanum zu blicken. Was allein vonnöten ist, um die Aufgabe des Kaisers zu verstehen und zu meistern, ist die platonische Philosophie, flankiert von etlichen Entlehnungen aus den Größen der griechischen Literatur und Geistesgeschichte. Es kam Themistios sicherlich auch zupass, dass er sich neben Platon, den er immer wieder nennt, an ein weiteres griechisches Vorbild anlehnen konnte, um sein Verhältnis zum Herrscher und die Pflichten des weise regierenden Kaisers zu definieren. Obgleich er ihn eher selten nennt, ist der Einfluss Dions von Prusa allenthalben zu spüren, sowohl in der Gedankenwelt als auch in der literarischen Technik. 62 Und durch die von klassischen Anspielungen durchsetzten Reden Dions für Kaiser Trajan konnte sich Themistios darin bestärkt fühlen, dass man dem römischen Kaisertum mit dem Rüstzeug griechischer Kultur und Literatur gerecht wurde. Geringfügig größere Mühe gab sich Themistios, die Belange Roms zu würdigen, als er zweimal in seiner Karriere Gelegenheit hatte, die Ewige Stadt zu besuchen und dort öffentlich als Vertreter der östlichen Reichshälfte aufzutreten. In beiden Fällen, in den Jahren 357 und 376, wird er mit Sicherheit Angehörige der römischen Elite getroffen haben, vielleicht auch Symmachus, und mit deren spezifischen Vorstellungen in Berührung gekommen sein. Immerhin weiß er sich in beiden Ansprachen so an den genius loci anzupassen, dass er der Stadt Rom und ihrer Tradition seine Bewunderung nicht versagt. Wenn auch auf Griechisch, zollt er in der Rede für die Decennalien des Constantius dem caput mundi, der „großen Stadt“, Respekt, wenn er sie als Stadt der Triumphe und als Machtzentrum der 59 Siehe etwa Themistius, Orationes 5,63d; 7,96b; 8,108b–c, 115c; 11,145b; 13,173b–c; 17,215a (Augustus, Tiberius, Trajan, Hadrian, die Antoninen); 6,80a; 8,107a; 13,174c (Titus). Zu Themistios’ Sicht auf die römischen Kaiser siehe Stenger (2009), S. 125–127. 60 Themistius, Orationes 6,72d, 74c; 8,110c; 18,219a; 19,229c; 34,15 (p. 460,8f.). 61 Colpi (1987), S. 171f. 62 Colpi (1987), S. 149–163; Vanderspoel (1995), S. 7–9.

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Welt feiert. 63 Ferner geht er auf die zweite Gründung der Stadt durch den Retter Roms Camillus und auf Pompeius ein. 64 Indessen ist durchweg der Blickwinkel des Griechen mit Händen zu greifen. Generell geht das Lob Roms nur selten über die Topoi hinaus, die der Rhetor Menander empfiehlt. Ferner bemüht sich Themistios nach Kräften, eine Balance zwischen dem alten Rom und dem neuen, Konstantinopel, zu halten und beide Metropolen als weitgehend gleichberechtigte Lenkerinnen des Reiches zu präsentieren. Sein Fokus liegt genau genommen sogar eher auf der Neugründung Konstantins, da es zu dieser Zeit seine Aufgabe war, den Senat Konstantinopels zu rekrutieren und als gewichtiges Organ zu etablieren. 65 So wird er mit dieser Rede mindestens ebenso auf ein griechisches Publikum gezielt haben wie auf die anwesende römische Elite. Nicht ohne Grund dominieren in der Ansprache die bekannten Motive und Themen, die dem hellenischen Erbe verpflichtet sind. Etwas deutlicheres römisches Kolorit trägt dann die zweite römische Rede, die er 376 für Gratian hielt. In ihr lässt sich tatsächlich der Versuch ausmachen, an die Ansichten und Interessen des Auditoriums, des Senats und der römischen Führungsschicht, anzuknüpfen. 66 Im pathetischen Schlusspassus lässt Themistios die zentrale Stellung des Senats und die pagane Tradition Roms hochleben, was in einer Anrufung an die Götter kulminiert. 67 In Ansätzen können wir bei Themistios den Willen erkennen, in den Staatsreden Griechisches und Römisches zu integrieren. Diese Integration erfolgt freilich stets unter hellenischen Vorzeichen: Während der Westen weitgehend auf den Part des Militärs und der Machtausübung reduziert wird, steuert der Osten den geistigen Überbau bei, ohne den der Erfolg des Ganzen nicht denkbar wäre. Bestätigt wird dieses Bild durch die Reden, die Themistios’ eigenem Anliegen, seiner philosophischen und rhetorischen Tätigkeit in Konstantinopel, gelten. 68 Wie Himerios keinen Grund sah, im Schulbetrieb vom Kanon der griechischen Klassik abzuweichen, so war Themistios damit zufrieden, sein Wirken allein auf die Archegeten Sokrates, Platon und Aristoteles zurückzuführen, ohne zeitgenössischen Entwicklungen Tribut zu zollen. Als befände er sich im Athen der klassischen Zeit, stilisiert sich Themistios als zweiter Sokrates, der im ständigen Konkurrenzkampf gegen die Sophisten die Fahne der öffentlich wirksamen 63 64 65 66 67

Themistius, Orationes 3,42c–d; 43b–d. Themistius, Orationes 3,42d–43a; 43c–d. Vanderspoel (1995), S. 55f. Stenger (2009), S. 132f. Themistius, Orationes 13,178b–c: „Auch der sakrosankte und heilige Staat, den ihr zusammen mit dem Gott alle Tage und Stunden verwaltet für das Menschengeschlecht, dessen Leitung ihr für alle Zeiten erlangt habt, früher mit Waffengewalt, jetzt aber mit einem besseren Schutz: dem religiösen Kult.“ 180a–b: „Du aber, Vater der Götter, Vater der Menschen, Zeus, Herr und Beschützer Roms, und du, Stammmutter Athene, und du, göttlicher Quirinus, Beschützer der römischen Vormacht, verleiht es meinem Liebling [Gratian], Rom zu lieben und von Rom wiedergeliebt zu werden!“ 68 Themistius, Orationes 20–34; die Reden 31 und 34 befassen sich auch intensiv mit Themistios’ politischem Engagement. Übersetzungen und Anmerkungen bei Penella (2000).

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Philosophie hochhält. 69 Aus der Sicht eines Griechen hatten die Römer, ihre Sprache und ihr Denken zu diesem Diskurs nichts beizutragen. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, sich für sein Ideal des politisch und rhetorisch engagierten Philosophen etwa auf Cicero zu berufen; zu fern liegt trotz aller geistigen Verwandtschaft der Westen. Die Rivalität zwischen Philosophie und Rhetorik wird nach wie vor auf Griechisch ausgetragen. Wenn es Themistios um die eigene geistige Physiognomie ging, beschränkte sich sein Horizont auf den hellenischen Kulturkreis, wie er von den Größen der Klassik geprägt worden war. 70 Von der Warte des Libanios aus, deren Anker nicht die Philosophie, sondern die Rhetorik war, bot sich die Welt im selben Lichte dar. Aufgrund seiner Stellung in Antiochia und seinen privilegierten Beziehungen zu Kaiser Julian konnte er nicht umhin, Rom und Italien zur Kenntnis zu nehmen, sofern es die Umstände empfahlen. Hätte er in seinem Panegyricus auf Kaiser Constantius oder erst recht in der Festrede auf den Konsulat Julians Rom, den Senat und das Imperium mit Schweigen übergangen, hätte er bei den Adressaten vermutlich höchste Verwunderung erregt. 71 Die Gelegenheit und die Konventionen der Gattung machten es erforderlich, selbst in einer griechischen Rede den Belangen der Römer Rechnung zu tragen. 72 Indessen fühlte sich Libanios nicht bemüßigt, seine Kenntnisse römischer Geschichte und Kultur zu vertiefen. Was er zum Westen zu sagen hat, beschränkt sich auf die große Politik und geht nicht in die Tiefe. Und als ihm im Jahre 356 bei den Olympien seiner Heimatstadt die Ehre widerfuhr, die zentrale Festrede zu halten, blendete er in charakteristischer Weise die jüngere, von den Römern gelenkte Geschichte Antiochias vollkommen aus. 73 Wie fremd ihm der lateinischsprachige Teil des Mittelmeerraumes blieb, bekunden schließlich die Reden, die im Kontext seiner Rhetorikschule angesiedelt sind. Nirgends kam Libanios auf den Gedanken, seine Schüler in die Leistungen bedeutender Römer in Geschichte und Literatur einzuweihen, was angesichts seiner sprachlichen Inkompetenz nicht erstaunt. Um ihnen die richtigen Vorbilder an die Hand zu geben,

69 Stenger (2009), S. 220–223. 70 Dies zeigt die Bestandsaufnahme von Colpi (1987) in wünschenswerter Klarheit. 71 Libanius, Orationes 59 (auf Constantius); Orationes 12, 13, 17 und 18 (auf Julian). Ein Panegyricus auf Kaiser Valens ist verloren (vgl. Orationes 1,144). 72 Siehe beispielsweise Libanius, Orationes 59,10–22 (Constantius Chlorus und Konstantin), 127–136 (Constans’ Erfolge im Westen); 12,8–10 (zur Einrichtung des Konsulats in Rom). Obgleich Libanios in Rede 12 über das Römische Reich und den Konsulat spricht, ist seine Perspektive durchweg eine östliche, griechische, wie all seinen Anspielungen, historischen Beispielen und Deutungsmustern zu entnehmen ist (vgl. etwa 12,17 „die Söhne der Römer“). Selbst dort, wo er kurz auf das Ende der römischen Königszeit eingeht, ordnet er Rom durch Hinweise auf Sparta und die Tyrannenmörder in den griechischen Kontext ein. 73 Libanius, Orationes 11. Die römische Fremdherrschaft über Antiochia wird in zwei Paragraphen summarisch abgehandelt (129f.), wobei Libanios hervorhebt, dass das kulturelle Leben der Stadt weitgehend unberührt geblieben sei. Zur Präsentation der städtischen Identität und Geschichte in dieser Rede siehe Stenger (2009), S. 306–313.

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genügten Homer, Thukydides und Demosthenes. 74 Zeit seines Lebens bewahrte sich Libanios eine Reserve, wenn nicht Abneigung gegenüber der Reichsgewalt, die sich im Übrigen auch auf die östliche Hauptstadt Konstantinopel erstreckte. 75 Folgerichtig reduzierte er den Westen auf eine bestimmte Funktion, den Bereich der großen Politik und des Militärs, während er auf kulturellem Gebiet von möglichen Errungenschaften der Römer gänzlich unbeeindruckt blieb. 76 Aller individuellen Vorlieben ungeachtet geben uns Himerios, Themistios und Libanios einen einheitlichen Eindruck, den, wie bereits angedeutet, 77 Eunap verstärken könnte. Obgleich sie zahlreiche Gelegenheiten wahrnahmen, mit hohen und teilweise hochgebildeten Repräsentanten des Westens zusammenzutreffen und sich gedanklich auszutauschen, vermieden sie es, den Römern, der lateinischen Sprache und den Traditionen Italiens einen Platz in ihrem intellektuellen Kosmos einzuräumen. Der kulturelle Referenzrahmen, in dem sich ihr Denken bewegte und der sich eben auch in ihrer Einstellung zur Sprache manifestierte, blieb ein dezidiert griechischer. Selbst wenn sie Rom und Italien in den Blick nahmen – auf dem Feld der Politik und des Kriegswesens –, erkannten sie bestenfalls die herausragenden Leistungen der Machthaber an, doch ließen sie keine nennenswerte Sympathie erkennen. Die geistigen Kategorien, um die Welt zu deuten, entnahmen sie der hellenischen Denktradition, ohne den zeitgenössischen Entwicklungen Zugeständnisse zu machen. Wo es stärker um ihre persönlichen Belange ging, die Philosophie und die Rhetorik, übersahen sie geflissentlich alles, was sich außerhalb Griechenlands abspielte. So können wir ohne Übertreibung konstatieren, dass aus Sicht der griechischen Intellektuellen zwei Welten koexistierten, die nur punktuell miteinander in Berührung kamen. Solche Kontakte scheinen freilich nur dann stattgefunden zu haben, wenn Vertreter des Westens auf die Griechen zukamen, seien es hochrangige Amtsträger, seien es führende Persönlichkeiten wie Symmachus. Statt selbst die Initiative zu ergreifen, begnügten sich die griechischen Autoren mit dem Reagieren, wofern sie nicht offene Ablehnung kultivierten. Sie blieben in ihrer eigenen kulturellen Welt gefangen, in der Rom weitgehend die Rolle der Vergleichsfolie zugewiesen bekam. Rom stand für die große Politik, militärische Triumphe und eine effiziente Verwaltung, während Hellas ganz wie in den Zeiten des klassischen Athen der Welt Humanität, Zivilisation und paideia brachte, unübertrefflich artikuliert in der griechischen Sprache. Anders als die großen Ausnahmen Ammianus Marcellinus und Claudianus eigneten sich Libanios, Themistios, Himerios

74 Einen Eindruck von Libanios’ rein griechischem kulturellem Horizont gibt die umfangreiche Studie von Schouler (1984). 75 Zu seiner Abneigung gegen Konstantinopel, die sich auch sprachlich niederschlägt („die Stadt Thrakiens“), Libanius, Orationes 1,279; Epistulae 1210,2; 1477,5. 76 In Einzelfällen vereinnahmte Libanios Leistungen und Erfolge des römischen Militärs für die Griechen, so etwa in seiner Deutung des Feldzuges Kaiser Julians gegen die Perser (Epistulae 1402). 77 Oben S. 19.

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und Eunap das Römische nicht an. Nur selten sagten sie einmal in der ersten Person „wir“, wenn sie über Ereignisse sprachen, die das ganze Römische Reich betrafen. 78 Sie integrierten das römische Element nicht in ihre Identität, sondern blieben Hellenen und, wenn es um die regionale Identität ging, Syrer oder Athener. 79 DER BLICK VON AUSSEN Welche Erkenntnisse lassen sich daraus mit Blick auf die Frage nach dem Auseinanderdriften ziehen? Wir sind von den Haltungen der griechischen Intellektuellen zur lateinischen Sprache ausgegangen und haben die Sprache bzw. das Sprachbewusstsein als Indikator für das Weltbild zu Rate gezogen. Drei Resultate verdienen besondere Beachtung: Erstens legen die griechischen Autoren trotz ihren Ressentiments gegen das Lateinische keine generelle Ablehnung alles Westlichen an den Tag. Stattdessen können wir eher von einer ambivalenten Einstellung sprechen, die sich je nach dem situativen Kontext und dem intendierten Adressaten als Ressentiment, als griechischer Kulturchauvinismus oder gar Kolonialismus, als Bereitschaft zur Kooperation oder auch als Respekt vor den großen Leistungen in Politik und Krieg äußern kann. Falls es zu einem Auseinanderdriften kam, dann rührte dies nicht von einer tief sitzenden Abneigung her und zudem handelte es sich um deutlich individuell geprägte Einstellungen. Zweitens verhinderte jedoch die Selbstgewissheit, dass die Griechen seit Homer den Gipfel der menschlichen Kultur okkupiert hielten, ein genuines Interesse am anderen. Wer wie Libanios, Himerios und Themistios felsenfest davon überzeugt war, dass griechische Geistesgrößen alles Wesentliche zu den Erscheinungen der Welt gesagt hatten, ja dass wahre Humanität das Beherrschen griechischer Sprache und den Besitz der paideia voraussetze, verspürte nicht den Drang, sich ernsthaft mit fremden Kulturen auseinanderzusetzen. Offensichtlich errichtete der versteinerte Klassizismus der hellenischen Kultur hohe Mauern, die den Blick nach außen verbarrikadierten. Nur wer wie Ammian die Gelegenheit ergriff, die Mauern zu überspringen, vermochte ein Verständnis für Rom zu entwickeln, dies jedoch um den Preis, dass er von den Landsleuten ignoriert oder – wie im Falle der Lateinstudenten – sogar angefeindet wurde. Unter diesen Bedingungen musste der Verkehr zwischen dem Westen und Osten eine Einbahnstraße bleiben. Was die Vorstellung eines Auseinanderdriftens angeht, so lohnt drittens ein Blick auf die Zweite Sophistik, deren Vertreter von Themistios und Libanios hoch 78 Siehe beispielsweise Libanius, Orationes 24,1. 79 Libanios zählt sich in dem an seinen engen Freund Anatolios gerichteten Brief Epistulae 391 zu den Syrern, und zwar in expliziter Abgrenzung von den Römern (vgl. Orationes 52,35). Er geht hier darauf ein, dass Anatolios 355 die Praefektur in Rom angetragen worden war. Siehe auch Orationes 64,9; Epistulae 363,1; 1073,1 (im Hinblick auf Anatolios selbst).

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geschätzt wurden. 80 Dionys von Halikarnass, Plutarch, Dion von Prusa, Appian, Herodes Atticus oder Cassius Dio waren selbstverständlich von der Geltung der griechischen Kultur nicht minder tief durchdrungen. Auch sie waren fest in der etablierten Tradition verankert und wussten sich den Archegeten Homer, Herodot, Thukydides, Platon und Demosthenes verpflichtet, ohne die Verbindlichkeit des Kanons in Zweifel zu ziehen. Gleichzeitig verstanden sie sich jedoch darauf, ihre lokale griechische Identität mit einem aufrichtigen Interesse an Rom zu verknüpfen. 81 Die Historiker widmeten ihre Werke der Geschichte des Imperium Romanum in all ihren Facetten; der Biograph und Kulturhistoriker Plutarch bemühte sich, unter den Römern bedeutende Persönlichkeiten zu finden oder römische Sitten und Institutionen zu verstehen; Dion erteilte Kaiser Trajan seinen philosophischen Rat; Aelius Aristides pries die Stadt Rom ebenso wie Athen; teilweise erlangten sie selbst einflussreiche Positionen in der römischen Ämterhierarchie, lebten längere Zeit in Italien und der Hauptstadt oder pflegten zumindest intensive Kontakte zu führenden Römern oder zum Kaiserhaus. Es war ihnen ein Anliegen, ihren griechischen Landsleuten Rom näher zu bringen und begreifbar zu machen. Anscheinend bildete die vergleichsweise junge Herrschaft der Römer über den griechischen Osten, aber auch das rege Interesse der Kaiser und der römischen Führungsschicht an der hellenischen Kultur eine intellektuelle Herausforderung, nicht nur den eigenen, griechischen Standpunkt zu überdenken und zu definieren, sondern auch der anderen Seite, so gut es ging, gerecht zu werden. Im 4. Jahrhundert hingegen scheinen sich die Intellektuellen des Ostens so weit mit der politischen Dominanz der Römer abgefunden zu haben, dass sie diesen Zustand als gegeben hinnahmen, ohne den Aufstieg Roms noch erklären zu müssen. 82 Nachdem man einmal die Stellung Griechenlands innerhalb des Imperium akzeptiert hatte, nahm man wieder weitgehend die überkommene Außenperspektive auf den Westen ein, als handelte es sich um ein fremdes Land. Dies scheint zu einer gewissen Indifferenz gegenüber dem Westen geführt zu haben. Hinzu kommt, dass sich in der Spätantike die allgemeinen Rahmenbedingungen signifikant geändert hatten. In vielen Bereichen können wir Phänomene der Segmentierung, der Desintegration und der Regionalisierung erkennen, sei es in der Verwaltung, der Wirtschaft oder den Eliten. 83 In diesem Klima mögen manche 80 Wie erwähnt war Themistios stark von Dion von Prusa beeinflusst. Ebenso lassen sich Spuren der Benutzung des Aelius Aristides finden. Libanios besorgte sich ein Bildnis des letzteren (Epistulae 1534,1f.). Colpi (1987), S. 165–168; Vanderspoel (1995), S. 9. 81 Die Haltung der Griechen im ersten vorchristlichen Jahrhundert und in der Zweiten Sophistik zu Rom und zu ihrer eigenen Identität steht im Zentrum der Forschung zu dieser geistigen Strömung und hat in den letzten Jahren eine wahre Flut von Publikationen ausgelöst. Siehe beispielsweise Woolf (1994); Whitmarsh (2001); Schmitz und Wiater (2011). 82 Sofern man den griechischen Autoren des vierten Jahrhunderts, seien sie pagan oder christlich, das Etikett der „Dritten Sophistik“ anheften möchte, wäre bei aller Kontinuität zur Zweiten Sophistik in dieser veränderten Haltung zu Rom eine signifikante Fortentwicklung zu sehen. Vgl. Stenger (2009), S. 16 mit Anm. 69. 83 Zur politischen Fragmentierung siehe beispielsweise Potter (2010).

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Griechen, zumal solange ihnen der direkte Zugang zur politischen Führung des Reiches fehlte, ein Gefühl der Isolation verspürt oder einen allgemeinen Bedeutungsverlust befürchtet haben. Der Rückzug auf die vermeintliche Gewissheit der griechischen Sprache und Kultur wäre dann möglicherweise als Kompensationsstrategie zu verstehen. Unter diesen Voraussetzungen war der Weg zu einer Aneignung des Römischen, zur Identifikation mit der gemeinsamen Sache oder gar zum produktiven Umgang mit der griechisch-römischen Doppelkultur verbaut. Obgleich die Ursachen für diese Haltung schon geraume Zeit im griechischen Selbstverständnis angelegt waren, kann man in diesem signifikanten Unterschied zur hohen Kaiserzeit tatsächlich einen Schritt zu einem kulturellen Auseinanderdriften erkennen, auch wenn nicht alle Griechen diese Haltung teilten. LITERATURVERZEICHNIS Timothy D. Barnes (1987), Himerius and the Fourth Century, in: CPh 82, S. 206–225. Hermann Beckby (Hrsg.) (1964), Anthologia Graeca, Buch IX–XI, 2. Aufl., München. Matthias Becker (2013), Eunapios aus Sardes. Biographien über Philosophen und Sophisten. Einleitung, Übersetzung, Kommentar (Roma Aeterna 1), Stuttgart. Philippe Bruggisser (1990), Libanius, Symmaque et son père Avianius. Culture littéraire dans les cercles païens tardifs, in: AncSoc 21, S. 17–31. Bruno Colpi (1987), Die παιδεία des Themistios. Ein Beitrag zur Geschichte der Bildung im vierten Jahrhundert nach Christus, Bern u.a. Hannah M. Cotton, u.a. (Hrsg.) (2009), From Hellenism to Islam. Cultural and Linguistic Change in the Roman Near East, Cambridge. Raffaella Cribiore (2007), The School of Libanius in Late Antique Antioch, Princeton, NJ. Guy Deutscher (2010), Through the Language Glass. Why the World Looks Different in Other Languages, London. Carsten Drecoll (2004), Sophisten und Archonten. Paideia als gesellschaftliches Argument bei Libanios, in: Barbara Borg (Hrsg.), Paideia. The World of the Second Sophistic (Millennium Studien 2), Berlin und New York, S. 403–417. Susanna Elm (2012), Sons of Hellenism, Fathers of the Church. Emperor Julian, Gregory of Nazianzus, and the Vision of Rome (The Transformation of the Classical Heritage 49), Berkeley/Los Angeles/London. Harald Fuchs (1938), Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt, Berlin. [ND 1964] Malcolm Heath (2004), Menander. A Rhetor in Context, Oxford. Martin Hose (2000), Die Krise der Rhetoren. Über den Bedeutungsverlust der institutionellen Rhetorik im 4. Jhdt. und die Reaktion ihrer Vertreter, in: Christoff Neumeister/Wulf Raeck (Hrsg.), Rede und Redner. Bewertung und Darstellung in den antiken Kulturen, Möhnesee, S. 289–299. Anthony Kaldellis (2007), Hellenism in Byzantium. The Transformations of Greek Identity and the Reception of the Classical Tradition, Cambridge. Alex Mullen/Patrick James (Hrsg.) (2012), Multilingualism in the Graeco-Roman Worlds, Cambridge. Heinz-Günther Nesselrath (2012), Libanios. Zeuge einer schwindenden Welt, Stuttgart. Ilona Opelt (1969), Das Nationalitätenproblem bei Eunapios von Sardes, in: WS 82, S. 28–36. Robert J. Penella (2000), The Private Orations of Themistius. Translated, Annotated, and Introduced, Berkeley/Los Angeles/London.

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BILDUNG ALS DISTINKTIONSMERKMAL HELLENISCHER ELITEN IM OSTEN UM 400 N. CHR. Das Zeugnis der Kollektivbiographie des Eunapios Matthias Becker ZUSAMMENFASSUNG Die Kollektivbiographie des Eunapios über neuplatonische Philosophen und Sophisten ist ein bedeutendes Zeugnis für den Stellenwert der παιδεία in paganen Intellektuelleneliten an der Schwelle zum 5. Jahrhundert. Denn der Facettenreichtum der παιδεία wird nicht nur mit den Mitteln einer hagiographisch stilisierten Biographik ausgelotet, sondern auch im Rahmen eines hellenischen Identitätsbewusstseins in dezidiert polemischer Manier funktionalisiert. Im vorliegenden Beitrag wird erörtert, wie Eunapios sein religiös aufgeladenes Bildungskonzept gezielt einsetzt, um sein idealisiertes Intellektuellenideal von drei Kollektiven abzugrenzen: erstens von den Christen, zweitens von paganen Kontrahenten, deren Bildung als defizitär beurteilt wird, und drittens von den als weitgehend ungebildet gedeuteten Römern im Westen des Imperium Romanum. EINLEITUNG Unter jenen spätantiken Textzeugnissen, die Aufschluss darüber gewähren, was pagane Intellektuelle unter παιδεία verstanden, nimmt die Kollektivbiographie des Eunapios eine exponierte Stellung ein. Denn im Verhältnis zum Textumfang befasst sich dieses um 400 in Sardes entstandene Werk vergleichsweise extensiv mit Aspekten der traditionellen griechischen παιδεία. 1 Wie Eunapios selbst bemerkt, gehört es zu seinem literarischen Programm, „Biographien von in jeder Hinsicht gebildeten Männern“ zu verfassen. 2 Diese Zentralität der Bildung, die Eunapios 1

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Siehe hierzu die zahlreichen Belege von παιδεία, παιδεύειν und verwandten Begriffen in den Vitae philosophorum et sophistarum, die Avotins/Avotins (1983), S. 176 auflisten. Auch in anderen Philosophenbiographien werden Bildungskonzepte in die Protreptik des Textes integriert. Hervorgehoben sei hier z. B. Jamblichs De vita Pythagorica, in welcher der pythagoreischen παιδεία viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, vgl. Staab (2002), S. 287–351; 462–472. Eunapius, Vitae sophistarum 6,2,12: ἐμοὶ δέ, ὥσπερ προείρηται, πεπαιδευμένων ἀνδρῶν εἰς πᾶσαν παιδείαν ἀναγράφοντι βίους [...]. Der Text des Eunapios wird nach der Kapitelzählung

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immer wieder an den portraitierten Philosophen, Sophisten und Medizinern hervorscheinen lässt, steht im Zusammenhang mit paganen Versuchen im 4. Jahrhundert, eine hellenische Kollektividentität zu konstruieren. Der παιδεία kommt im Rahmen dieses Identitätsdiskurses eine entscheidende Rolle zu. Nach Jan Stenger fungiert sie nämlich in Verbindung mit einem Ethos der Philanthropie und der althergebrachten polytheistischen Religion als ein Qualifikationsmerkmal „für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Hellenen“. 3 Nun ist es für pagan-hellenische Autoren des 4. Jahrhunderts wie Libanios, Julian Apostata oder Eunapios symptomatisch, Identität nicht allein aus der Innenperspektive heraus zu begründen, sondern auch mittels der Kategorie der Alterität. Die Bildungsvorstellung des Eunapios legt hiervon Zeugnis ab. Nicht nur soll sein Text als ein protreptisches Plädoyer für die herkömmliche Elitenbildung dienen. Vielmehr setzt Eunapios eigene Akzente und präsentiert seiner Leserschaft eine nuancierte Konzeption von παιδεία, die immer auch als Abgrenzungsmerkmal gegen drei Kollektive intendiert ist, nämlich erstens gegen die Christen, zweitens gegen die paganen Vertreter eines als defizitär eingeschätzten Bildungsideals und drittens gegen den angeblich bildungsfernen Westen des Imperium Romanum. Bevor diese identitätsbedingten und auf bewusst selektiver Wahrnehmung basierenden Abgrenzungsversuche näher erläutert werden, soll zunächst das Bildungskonzept des Eunapios skizzenhaft dargestellt werden. ZUM BILDUNGSKONZEPT DES EUNAPIOS Die Vielschichtigkeit des Begriffs παιδεία spiegelt sich auch im Sprachgebrauch des Eunapios. So bezeichnet παιδεία bei Eunapios sowohl die „Erziehung“ bzw. „Unterweisung“ in philosophischen und rhetorischen Schulkontexten als auch das Resultat von Lernprozessen im Sinne einer umfassenden paganen Bildung und Sozialisation.4 Charakteristisch ist für Eunapios eine holistische Bildungsvorstellung, die näherhin beschrieben werden kann als die Zusammenschau von philosophischer, rhetorisch-literarischer und medizinischer Bildung. Diese drei Elemente möchte er nicht strikt getrennt voneinander wissen, sondern versteht sie gewissermaßen als komplementär. In zahlreichen Selbsterwähnungen führt Eunapios sich als exemplum hierfür ein, indem er sich nicht nur als einen versierten Rhetoriker präsentiert, sondern auch als einen Philosophiebegeisterten, der über medizinische Kenntnisse verfügt. 5 Damit ist das Bildungskonzept des Eunapios aller-

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der Edition von Giangrande (1956) zitiert. Kürzlich ist eine neue textkritische Edition der Vitae des Eunapios mit einer differierenden Kapitelzählung erschienen, siehe Goulet (2014a) und Goulet (2014b). Stenger (2009), S. 22–34, hier 28; Becker (2013), S. 280–281. Vgl. Tanaseanu-Döbler/Döbler (2012b), S. 1–4. Eunapius, Vitae sophistarum 6,1,6; 10,1,6; 23,3,15–16; 23,6,3–8; vgl. dazu auch Stenger (2009), S. 231.

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dings noch nicht erschöpfend umrissen. Denn alle drei Bereiche – die Philosophie, die Rhetorik und die Medizin – werden zusätzlich von einem religiösen Element durchdrungen. In den Einzelbiographien zu Philosophen, Sophisten und Medizinern liefert uns Eunapios detaillierte Hinweise darauf, wie er sich die Ausprägungen von παιδεία in den genannten Bereichen vorstellt und wie die religiöse Grundierung der παιδεία im Einzelnen beschaffen ist. 6 Was die Philosophie anbetrifft, so wird v.a. Porphyrios, der in der Spätantike von Christen und Heiden gleichermaßen für seine breite Gelehrsamkeit geschätzt wurde, 7 mit umfassender Bildung assoziiert. Die Spannbreite seines geistigen Schaffens habe nach Eunapios von Rhetorik und Grammatik über Arithmetik, Geometrie und Musik bis hin zur Philosophie, Dialektik, Ethik und Physik gereicht. 8 Speziell die Philosophie habe er in all ihrem Facettenreichtum studiert. 9 Dieses Charakteristikum verbindet ihn übrigens mit Chrysanthios, dem Lehrer des Eunapios, von dem Ähnliches mit Nachdruck gesagt wird. 10 Neben der Lektüre philosophischer Werke wie denen Plotins, des Aristoteles oder Platons schreibt Eunapios der Kenntnis dichterischer und rhetorischer Werke in der Philosophenausbildung eine wichtige Rolle zu.11 Als einem professionellen Rhetoriklehrer ist es Eunapios natürlich ein Anliegen, auf die rhetorischen Fertigkeiten von Philosophen hinzuweisen, so diese vorhanden waren. Eine herausragende Performanz wird diesbezüglich v.a. Porphyrios und den Jamblich-Schülern Sopatros und Eustathios attestiert. 12 Wichtiger allerdings als die breit gefächerte παιδεία, die mit dem philosophischem Wissen eine Einheit bilden soll, ist für Eunapios das religiöse Element, ohne das die παιδεία unvollständig wäre. Religiöses Wissen und rituelle Praktiken gehören nicht nur essentiell zum Bildungsbegriff des Eunapios, sondern auch zu

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Zur religiösen Dimension der παιδεία in paganen Philosophenzirkeln der Spätantike siehe Kirschner (1984), S. 105–109. 7 So bezeichnet ihn etwa Augustinus als doctissimus philosophorum (Augustinus, De civitate Dei 19,22) und Simplikios nennt ihn ὁ πολυμαθέστατος τῶν φιλοσόφων (Simplikios, In Aristotelis Physica commentaria, S. 151,23–24 Diels), vgl. dazu Sodano (1993), S. 232 Anm. 66 und Becker (2013), S. 203. 8 Eunapius, Vitae sophistarum 4,1,4; 4,2,2. Zur Dialektik siehe auch die einleitenden Bemerkungen zu Alypios bei Eunapius, Vitae sophistarum 5,3,1 (ὁ διαλεκτικώτατος) sowie 7,2,2 (διαλεκτικαὶ μηχαναί). 9 Eunapius, Vitae sophistarum 4,1,4. 10 Eunapius, Vitae sophistarum 23,1,8: καὶ πρὸς πᾶν εἶδος φιλοσοφίας τρέψας τὴν ψυχήν, καὶ πᾶν εἶδος ἀναλεγόμενος; 23,1,9: ὥστε πᾶν μὲν εἶδος αὐτῷ παντοίας παιδείας εἰς ἄκρον ὑπάρχειν; vgl. dazu Männlein-Robert (2001), S. 247; Tanaseanu-Döbler (2013), S. 152–153. 11 Eunapius, Vitae sophistarum 3,3 (Plotin- und Platon-Lektüre); 6,8,2 (Dichter-, Philosophenund Rhetoren-Lektüre); 23,1,8 (Lektüre des Aristoteles und Platons). Zur bildungskanonischen Relevanz der selektiven Lektüre bestimmter paganer Autoren in den paganen Bildungseliten des 4. Jahrhunderts siehe Becker (2013), S. 304 mit Anm. 524–527. 12 Eunapius, Vitae sophistarum 5,1,5; 6,2,1–2 (jeweils Sopatros); 6,5,1–2; 6,5,4–8 (jeweils Eustathios).

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seiner Auffassung von Philosophie. 13 Hierin zeigt sich die Zugehörigkeit des Eunapios zur Schule Jamblichs: Dieser hat den Platonismus im 3. und 4. Jahrhundert nicht nur religionsphilosophisch ausgestaltet, sondern auch theurgische und mysterienreligiöse Praktiken befürwortet, die durch ihre verdächtige Nähe zur Magie einen Kontrast zum eher rational ausgerichteten Platonismus in der Nachfolge Plotins bildeten. Konkret umfasst das religiöse Element bei Eunapios praktizierte Spiritualität in Form von Gebet, Opferkult, theurgischen Ritualen, 14 Mysterienweihen und Gottesdiensten, aber auch die Empfänglichkeit für göttliches Reden im Traum sowie Hellseherei, Telepathie, Präkognition und Orakelgläubigkeit. In den stark hagiographisch geprägten biographischen Skizzen über Jamblich und Sosipatra tritt dieses Element besonders hervor, aber auch in der Porphyrios-, der Maximus- und der Chrysanthios-Vita. 15 Im Bildungsbereich der Rhetorik ist ebenfalls eine religiöse Transzendierung von Fachkompetenzen festzustellen. Das Corpus der Rhetoren-Viten bei Eunapios bietet hier einerseits einen kulturgeschichtlich wertvollen Einblick in die Arbeit und Ausbildung griechischer Sophisten im Athen des 4. Jahrhunderts. 16 Andererseits gewährt es auch einen Einblick in Besonderheiten, die Eunapios mit der Rhetorik verknüpft. Zur rhetorischen παιδεία zählen naturgemäß zunächst die solide Kenntnis klassischer griechischer Autoren, 17 eine fast religiöse Verehrung der griechischen Sprache, die sich auch im rhetorischen Archaismus zeigt, 18 die Fähigkeit zur Stehgreifrede, 19 ein gutes Gedächtnis, 20 die Einteilung vorgegebener Streitfälle, 21 ein charismatisches Auftreten, 22 stimmlicher Wohlklang 23 und ein vereinnahmendes Sprechen in sprachlicher Anmut 24 – um hier nur einige Punkte

13 Tanaseanu-Döbler (2012a), S. 129–136; vgl. auch Tanaseanu-Döbler (2012b), S. 93. 14 Zur Theurgie bei Eunapios siehe Tanaseanu-Döbler (2013), S. 152–161. 15 Belege für alle hier genannten Teilaspekte der religiös-philosophischen Bildung bei Becker (2013), S. 57; vgl. auch Civiletti (2007), S. 45–53; Tanaseanu-Döbler (2012c), S. 346 mit Anm. 59. 16 Zum Corpus der Rhetoren-Viten siehe Civiletti (2007), S. 33–41; Goulet (2010); Becker (2013), S. 417–519. 17 Eunapius, Vitae sophistarum 10,1,6 (Eunapios). 18 Eunapius, Vitae sophistarum 16,2,3–5 (Libanios). 19 Eunapius, Vitae sophistarum 9,2,15 (Prohairesios). 20 Eunapius, Vitae sophistarum 10,5,3 (Prohairesios), dazu Becker (2013), S. 456. Gute Gedächtnisleistung ist bei Eunapios in Übereinstimmung mit der platonischen Tradition auch ein Merkmal des Philosophen, wie er an Priskos verdeutlicht (8,1,1); dazu Becker (2013), S. 407–408. 21 Eunapius, Vitae sophistarum 21,1 (Epiphanios). 22 Vgl. hierzu v.a. das religiös stilisierte Auftreten des Prohairesios: Eunapius, Vitae sophistarum 10,5,4; 10,7,1–2. 23 Vgl. z. B. Eunapius, Vitae sophistarum 9,2,17 (κρότος des Prohairesios); weitere Belege bei Becker (2013), S. 428. 24 Zur Wichtigkeit der χάρις für das schöne Sprechen und Schreiben bei Eunapios siehe Becker (2013), S. 210–211; 568–569.

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zu erwähnen. Doch die Beherrschung der Rhetorik in Theorie und Performanz ist – wie im Falle der Philosophie – nicht ausreichend. Wie Eunapios v.a. in der Biographie seines Rhetoriklehrers Prohairesios hervorhebt, spricht der umfassend gebildete Redner mit göttlicher Eingebung, welche die bloße rhetorische Technik transzendiert: Prohairesios redet gemäß Eunapios mithilfe seines „Dämons“, 25 und die Wirkungen dieser göttlichen Inspiration lassen ihn vor seinem Publikum wie ein sprechendes Götterbild erscheinen, wie ein Abbild des Hermes Logios. 26 Das Wohnhaus des Prohairesios in Athen, in welchem Eunapios seinen Rhetorikunterricht erhielt, erscheint an einer Stelle der Kollektivbiographie als ein heiliger Tempel der Musen und des Hermes. 27 Indem sich Eunapios einer derartigen Metaphorik bedient, wird die Rhetorik geradezu zu etwas Heiligem. Diese Vorstellung von der Sakralität der Redekunst lässt sich auch beim zeitgenössischen Rhetor Himerios nachweisen, der mittels mysterienreligiöser Metaphorik die religiöse Komponente der Rhetorik ebenfalls stark betont. 28 Die Verquickung angelernter Fachkenntnis mit einer Ausrichtung des Individuums auf das Göttliche ist auch für die Mediziner-Viten charakteristisch. Immer wieder wird in diesen kurzen Texten auf die theoretische und praktische Beherrschung der Heilkunst hingewiesen. Doch sicheres Beherrschen medizinischer Fachtermini, rhetorische Kompetenz, Allgemeinbildung, anatomischer Sachverstand, Kenntnisse in der Herstellung und Anwendung von Medikamenten und in den verschiedenen Behandlungsarten sind auch hier nicht genug. 29 Bezeichnend ist, was Eunapios über Ionikos schreibt, einen aus Sardes stammenden Iatrosophisten. Zusätzlich zu seinem medizinischen Fachwissen, so Eunapios, „verfügte er über sichere Kenntnisse auf allen Gebieten der Philosophie inklusive der Gottbegeisterung (θειασμόν) – sei es nun in jener Form, die aus der Medizin zu den Menschen kommt zum Zwecke der Vorerkennung von Krankheiten, sei es in jener, die ihren göttlichen Wahnsinn aus der Philosophie schöpft (ἐκ φιλοσοφίας παράβακχος ὤν) und die auf denjenigen ruht und sich ausbreitet, die sie aufzunehmen und zu bewahren imstande sind.“ 30 Das Medizinstudium des Oribasios, der später zum Leibarzt des Kaisers Julian Apostata avancierte, umschreibt Eunapios mittels eines platonisierenden Sprachgebrauchs als „Nachahmung des Gottes seiner Heimat“ Pergamon. 31 Damit spielt er nicht nur auf Asklepios an, sondern sakralisiert die Beschäftigung mit der Heilkunst insgesamt. 25 26 27 28 29

Eunapius, Vitae sophistarum 10,4,10. Zum „Dämon“ des Prohairesios siehe auch 10,3,3. Eunapius, Vitae sophistarum 10,5,4. Eunapius, Vitae sophistarum 9,1,4. Stenger (2009), S. 80–85; Becker (2013), S. 420–421. In der kurzen Notiz zu Ionikos hebt Eunapios diese Kompetenzen hervor, siehe Eunapius, Vitae sophistarum 22,1,1–5. 30 Eunapius, Vitae sophistarum 22,2,1, dazu Becker (2013), S. 533–534. 31 Eunapius, Vitae sophistarum 21,1,3. Mit der Vorstellung von der „Nachahmung Gottes“ spielt Eunapios offensichtlich auf das im zeitgenössischen Platonismus weit verbreitete Telos der „Angleichung an Gott“ an (ὁμοίωσις θεῷ), siehe Becker (2013), S. 526 und Goulet

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Aus dieser Skizze der inhaltlichen Ausrichtung des Bildungskonzepts geht hervor, wie hell Eunapios in den Bereichen der Philosophie, Rhetorik und Medizin das religiöse Element hervorscheinen lässt. Vor diesem Hintergrund dürfte die Abgrenzungsfunktion der παιδεία klarer werden, die nun im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen soll. BILDUNG ALS ABGRENZUNGSFAKTOR (I) – WIDER DIE CHRISTEN Wenngleich die Kollektivbiographie des Eunapios nicht vorrangig eine christenkritische Schrift ist, zählt die Auseinandersetzung mit dem als bedrohlich wahrgenommenen Christentum dennoch zum literarischen Programm: So polemisiert Eunapios gegen christliche Kaiser wie Konstantin den Großen oder Theodosios den Großen, er stilisiert christliche Kaiser wie Konstantin oder politische Amtsträger wie Ablabios und Festus zu Gottesfeinden, die von der göttlichen Vorsehung getötet werden, er entfesselt Invektiven gegen Mönche in Ägypten und Griechenland, zeigt sich empört über den Reliquienkult und bezichtigt Christen der Gottlosigkeit und des Tempelvandalismus. 32 Indem er die Zerstörung des Serapeions 391 in Alexandria durch die Christen mit mythologischer Metaphorik als eine Gigantomachie deutet, setzt er die christliche Religion bewusst in eine destruktive Konkurrenz zum polytheistischen Götterkult der Zeit. 33 Die Destruktivität des Christentums zeigt sich nach Ansicht des Eunapios an den Ruinen paganer Tempel und an der zunehmenden Behinderung paganer Religion und Kultausübung in der Öffentlichkeit, aber auch an der Verschmähung philosophischer παιδεία durch die Christen. Der Bildungsgrad paganer Intellektueller markiert spätestens seit dem 2. Jahrhundert eine Abgrenzung zu den als bildungsfern eingeschätzten Christen. Zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert unterstellen platonische Christenverächter wie Kelsos, Porphyrios und Julian Apostata unisono ihren Gegnern Bildungsmängel und Vernunftlosigkeit. 34 Diesen Eindruck gewinnt man auch aus der Lektüre der Vitae philosophorum et sophistarum, denn für den Neuplatoniker Eunapios scheint es schlechthin keine christlichen Intellektuellen zu geben. Obwohl etwa Basilius der Große, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomos oder Amphilochios von Ikonion Schüler von Sophisten wie Prohairesios und Libanios waren, denen der Biograph aus Sardes auch in seiner Kollektion biographische Skizzen (2014b), S. 276 Anm. 7; zur platonischen Angleichung an Gott siehe ferner Männlein-Robert (2013). 32 Becker (2013), S. 68–72. 33 Becker (2011), S. 469 Anm. 105; Becker (2013), S. 341–351. Zur Rezeption der auf die Christen gemünzten Gigantenmetaphorik im späteren Neuplatonismus siehe Athanassiadi (1993), S. 7. 34 Siehe z. B. Origenes, Contra Celsum 1,9; Porphyrios, Contra Christianos fr. 5; 6; 55 Harnack; Julianus Apostata, Contra Galilaeos fr. 1 Masaracchia, sowie Lona (2005), S. 197–204; Becker (2013), S. 345–346 und Pietzner (2013), S. 1–9.

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widmet, blendet Eunapios sie in seinem Text vollständig aus. 35 Dies kann zwei Gründe haben: Entweder hat er von ihnen wirklich keine Notiz genommen oder aber – was wahrscheinlicher ist 36 – sein Schweigen hat strategische Gründe. Denn eine christliche Intellektualität hätte der Homogenität seines Feindbilds widersprochen. Jedenfalls entsteht aufgrund seiner bewusst selektiven Wahrnehmung eine klare Grenze zwischen seinem elitären paganen Leserpublikum und den Christen, die mit dem Verdikt des Kulturvandalismus und mangelnder Bildung belegt werden. Folgende Belege sprechen für sich. Die Vernunftlosigkeit christlicher Mönche malt Eunapios sehr drastisch aus, indem er sie dehumanisiert: Nur dem Anschein nach seien sie Menschen, in Wirklichkeit jedoch lebten sie wie die Säue. Bedenkt man, dass gemäß der antiken philosophischen Tradition die Vernunftbegabung den Menschen von den Tieren unterscheidet, dann werden Tiervergleiche wie dieser in ihrer Härte erst verständlich. 37 Eines Tiervergleichs bedient sich Eunapios auch, um die Rohheit des christlichen Amtsträgers Festus zu unterstreichen, der 372 den Philosophen Maximus hinrichten ließ. Eunapios stellt ihn vor als einen „Mörder mit der Seele eines Metzgers“, 38 der bei der brutalen Hinrichtung „der wahrsinnigen Sau, die in seiner Seele hauste, freien Lauf“ gelassen habe. 39 Im Hintergrund dieser herben Invektive steht eine von Platons Politeia inspirierte Seelenlehre, die die widervernünftigen Seelenteile mit Tiermetaphern umschreibt: Nach Platon stehen ein vielköpfiges Tier, welches den begehrenden Seelenteil repräsentiert, sowie ein Löwe, der den muthaften Seelenteil symbolisiert, einem sogenannten „inneren Menschen“ gegenüber, mit dem Platon den denkfähigen und göttlichen Seelenteil um-

35 Vgl. Stenger (2009), S. 108–109 mit Anm. 406. Ein besonders brisanter Fall in dieser Hinsicht ist Prohairesios selbst, der Rhetoriklehrer des Christenfeinds Eunapios: Da er vom Rhetorenedikt Julians im Jahre 362 betroffen war, ist Eunapios dazu gezwungen, an einer Stelle auf sein Christsein anzuspielen (10,8,1), das sonst nur von christlichen Autoren erwähnt bzw. impliziert wird, siehe die Belege bei Breitenbach (2003), S. 148–150 und Stenger (2009), S. 108 Anm. 406. Dennoch wird Prohairesios von seinem Schüler Eunapios im übrigen Text der Viten durchweg als paganer Rhetoriker stilisiert, was denn auch manche Gelehrten zu der Annahme veranlasst hat, Prohairesios sei ein Heide gewesen, so zuletzt Stenger (2009), S. 108–109, bes. Anm. 406 (mit Lit.); Goulet (2014a), S. 9 Anm. 2; Goulet (2014b), S. 83 Anm. 1 und S. 265 Anm. 12. Dass Eunapios diesen Eindruck erwecken will, steht außer Frage. Meiner Ansicht nach handelt es sich hierbei aber um eine Übertünchung seines Christseins mit den Mitteln literarischer Stilisierung, vgl. Becker (2013), S. 483–484. Diese wurzelt nicht zuletzt darin, dass es für Eunapios christliche Intellektualität und Bildung nicht geben kann – schon gar nicht im Falle seines eigenen Lehrers. 36 Zu den Erwähnungen des Johannes Chrysostomos in den Schlusskapiteln der Historien des Eunapios siehe Hartmann (2014), S. 77–78 mit Anm. 75. 37 Eunapius, Vitae sophistarum 6,11,6. 38 Eunapius, Vitae sophistarum 7,6,6: φονικήν τινα καὶ μαγειρώδη ψυχὴν τὸν Φῆστον. 39 Eunapius, Vitae sophistarum 7,6,7: ἄφθονόν τινα χορηγίαν τῷ συώδει καὶ λελυσσηκότι τῆς ψυχῆς νέμων. Vgl. dazu Stenger (2009), S. 225 mit Anm. 170. Zu den Tiervergleichen bei Eunapios siehe auch Baldwin (1990), S. 6–7.

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schreibt. 40 Die Kultivierung dieses „inneren Menschen“ mittels philosophischer παιδεία verfehlen die Christen offensichtlich. Ähnliche Züge der Unkultiviertheit verleiht Eunapios auch dem unter Konstantin amtierenden christlichen Prätorianerpräfekten Ablabios, 41 und so können die literarischen Portraits des Festus und des Ablabios als bewusst gestaltete, negative „Gegenbilder“ zu den von Eunapios portraitierten Neuplatonikern verstanden werden. 42 Im Rahmen seiner Mönchskritik kontrastiert Eunapios ferner die „intelligiblen Götter“ (νοητοὶ θεοί) der philosophischen Tradition mit dem christlichen Gottesdienst, der Sklaven gewidmet sei. 43 Unter „Sklaven“ sind im Mikrokontext der Passage in einem speziellen Sinne die christlichen Märtyrer gemeint. Im weiteren Sinne bezieht sich Eunapios hier allerdings auf die Christen insgesamt, denn die Christen als Sklaven zu diffamieren ist in der paganen Polemik gegen die Christen seit Kelsos üblich. Kelsos bedient sich dieser Anschuldigung, um sich über den niedrigen Bildungsstand der Christen und ihre Bildungsfeindlichkeit zu mokieren. 44 Auch Julian Apostata illustriert die Bildungsferne der Christen mit dem Sklavenvergleich. 45 Eunapios beschließt die Passage, in der er die Ereignisse um die Zerstörung des Serapeions schildert, mit dem Hinweis auf eine Prophezeiung des Antoninos. Antoninos, der Sohn Sosipatras, hatte nämlich die Zerstörung der Tempel vorhergesagt, und so schreibt Eunapios resümierend: „Schmerzlich war indes für diejenigen, die Vernunft besaßen, das von ihm [sc. Antoninos] prognostizierte Ende der Heiligtümer.“ 46 Die Formulierung „diejenigen, die Vernunft besaßen“, bezieht sich hier auf pagane Philosophen und Intellektuelle im Gegensatz zu den auf Tier- und Sklavenniveau herabgesunkenen Christen. 47 In der soeben erwähnten Prophezeiung des Antoninos wird das Christentum als eine „Finsternis“ bezeichnet, die sich aus „Mythen“ bzw. „Lügengeschichten“ speise und das „Schönste auf Erden“, nämlich die althergebrachte Philosophie und die traditionelle Religion, tyrannisiere. 48 Auch Julian Apostata, Libanios und Himerios sehen im christlichen Glauben eine „Finsternis“, die auf der Erde liegt. 49 Während Lichtsymbolik für die Klarheit des Geistes und für Erkenntnis steht, ist die Semantik des Finsteren vor dem Hintergrund philosophischer Bildung mit

40 Platon, Respublica 588a–589b, dazu Heckel (1993), S. 11–26. 41 Stenger (2009), S. 225 mit Anm. 170. Auch bei Libanios finden sich Passagen, in denen christliche Beamte nicht nur als korrupt und ungebildet präsentiert werden, sondern gar als Intriganten gegen pagane Intellektuelle, siehe Stenger (2009), S. 223–224. 42 Hartmann (2014), S. 68. 43 Eunapius, Vitae sophistarum 6,11,8–9. 44 Origenes, Contra Celsum 6,12–14. 45 Julianus Apostata, Contra Galilaeos fr. 55,230; 60,249c–d Masaracchia; siehe dazu Becker (2013), S. 346. 46 Eunapius, Vitae sophistarum 6,11,12: καὶ λυπηρὸν τοῖς νοῦν ἔχουσι τὸ προεγνωσμένον ἐκείνῳ τῶν ἱερῶν τέλος. 47 Cox Miller (2000), S. 224–225. 48 Eunapius, Vitae sophistarum 6,9,17. 49 Belege bei Becker (2013), S. 329.

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Unwissenheit und Erkenntnismangel konnotiert. 50 Mit der Erwähnung der Mythengläubigkeit der Christen argumentiert Eunapios in dieselbe Richtung: Bereits Julian bedient sich dieses Arguments, um die christliche Religion als irrational und lügnerisch zu diffamieren. 51 Ein letzter Text sei genannt, in dem Eunapios sich vom Bildungsniveau der Christen abgrenzt. Es handelt sich hier um eine Episode in der Maximus-Vita, wo von der Erziehung Julian Apostatas durch kaiserliche Eunuchen berichtet wird. Deren παιδεία sei im Hinblick auf die charakterliche Erhabenheit Julians schlechthin unzulänglich gewesen. Aus diesem Grund hätten sie den jungen Julian auch in keiner Weise belehren können. 52 Dieses Bildungsversagen der kaiserlichen Eunuchen impliziert „die Unzulänglichkeit des Christentums“ 53 überhaupt und dient als Negativfolie für die in diesem Zusammenhang beschriebene Hinwendung Julians zur Philosophie. 54 BILDUNG ALS ABGRENZUNGSFAKTOR (II) – WIDER PAGANE BILDUNGSDEFIZITE Im Hinblick auf die hellenische Kollektividentität sind es indes nicht nur die Christen, gegen die sich Eunapios über eine starke Betonung der παιδεία abgrenzt. Seine Biographien zeugen auch von innerpaganen Auseinandersetzungen um die inhaltliche Ausgestaltung von παιδεία. Und so ist die pagane Bildungselite, die Eunapios im Blick hat, keineswegs als so homogen und geschlossen einzuschätzen, wie dies vielleicht vor dem Hintergrund des pagan-christlichen Konflikts den Anschein haben könnte. 55 Zur Funktion der Biographiensammlung des Eunapios gehört es meines Erachtens nicht, eine pagane „Geschlossenheit“ angesichts des problematischen Verhältnisses zu den Christen zu inszenieren. 56 Dagegen spricht schon die bewusst selektive Personenauswahl, wodurch Eunapios bestimmte Vertreter paganer Intellektualität im 4. Jahrhundert in seiner Kollektivbiographie absichtlich ignoriert, wie Themistios oder Hypatia von Alexandria. 57 Dagegen sprechen aber auch die innerpaganen Konfliktthemen, die Eunapios teils sehr offen

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Belege bei Becker (2013), S. 328–329. Julianus Apostata, Contra Galilaeos fr. 1,39b Masaracchia. Eunapius, Vitae sophistarum 7,1,6–8. Tanaseanu-Döbler (2008), S. 76. Zur Konversion Julians zur Philosophie siehe Tanaseanu-Döbler (2008), S. 57–154. Vgl. hierzu Stenger (2009), S. 22: „Außerdem impliziert der Begriff der kollektiven Identität nicht, dass eine totale Gleichheit, also Identität im Wortsinne, unter den Mitgliedern der Gruppe herrscht.“ 56 Gegen Walter (2008), S. 394; siehe dazu Becker (2013), S. 236–237 Anm. 469. Auf die kompetitive Funktion spätantiker Philosophenviten innerhalb paganer Milieus bzw. innerhalb neuplatonischer Schulzirkel weist ferner Urbano (2013), S. 1–31, hin, der freilich auch – und dies mit Recht – die Auseinandersetzung mit dem Christentum nicht ausblendet. 57 Becker (2013), S. 36–38 (mit Lit.); siehe dazu auch Goulet (2014a), S. 179–180.

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anspricht. Neben den Fragen nach dem Sozialverhalten Intellektueller 58 und nach der Möglichkeit glaubwürdiger Askese sozial privilegierter Philosophen 59 ist es die Frage nach der παιδεία, die im Text des Eunapios mithin kontrovers verhandelt wird. Ein Faktor hierbei ist die Kritik an einem wirtschaftlichen Karrieredenken, das die klassische παιδεία zu einem bloßen Mittel zum Zweck degradiert. Auch im Werk des Libanios finden sich kritische Bemerkungen zu jungen Menschen, die die Rhetorik, die Jurisprudenz, die Stenographie und die lateinische Sprache nur deshalb studieren, um in einer höheren Laufbahn viel Geld zu verdienen.60 Ein derartiges Schicksal hat sich laut den Angaben des Eunapios auch der Vater des Aidesios für seinen Sohn ausgedacht. Da die Familie zwar von guter Abstammung gewesen sei, aber wenig Reichtum besessen habe, habe der Vater seinen Sohn Aidesios nach Griechenland geschickt „zwecks einer Ausbildung, die Geld einbringen sollte“. Aber Aidesios entschied sich anders, wurde Philosoph und ein Schüler Jamblichs. 61 Diese Episode will Eunapios weniger als eine biographische Information verstanden wissen denn als ein grundlegendes statement über die bedrohliche Verzwecklichung philosophischer παιδεία durch das Streben nach Reichtum, dem die wahren Philosophen freilich widerstehen. 62 In der Prohairesios-Vita wird die Rhetorik im Athen des 4. Jahrhunderts einer Kritik unterzogen. Die Lektüre der Kollektivbiographie erweckt den Eindruck, als habe es zu Lebzeiten des Eunapios nur einen wirklich fähigen Sophisten gegebenen, nämlich Prohairesios, bei dem Eunapios sich ausbilden ließ. Die übrigen Sophisten, die Eunapios teils auch persönlich als Student kennenlernte, bleiben im Niveau hinter Prohairesios zurück. Eunapios berichtet davon, wie anlässlich eines sophistischen Agons in den 340er Jahren der hochgebildete praefectus praetorio Orientis Illyrici Anatolios nach Athen kam. Seine Evaluation der professionellen Kompetenzen der Sophisten fällt negativ aus. Eunapios schreibt, Anatolios habe sich über die Studierenden lustig gemacht wegen deren Lehrern und habe die Väter der jungen Männer bemitleidet ob der schlechten Qualität der παιδεία, die ihre Söhne vermittelt bekämen. 63 Ein ähnlich vernichtendes Verdikt trifft den Sophisten Diophantos, den Eunapios als Student hörte. Er schreibt: „Hier in diesem vorliegenden Werk jedoch irgendetwas von dem zu erwähnen, was er gesagt hat oder woran ich mich erinnern kann, das scheint mir abwegig. Denn es handelt sich bei dem vorliegenden Werk um die Erinnerung an erwähnenswürdige Männer, nicht um eine Satire.“ 64

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Dazu Stenger (2009), S. 234–236; Becker (2011); Tanaseanu-Döbler (2012c), S. 356–357. Dazu Becker (2012). Stenger (2009), S. 218–219. Eunapius, Vitae sophistarum 6,1,1–3 (Zitat 6,1,1: ἐπὶ παιδείαν χρηματιστικήν). Becker (2012), S. 132–135. Eunapius, Vitae sophistarum 10,6,8–9. Eunapius, Vitae sophistarum 12,2.

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Natürlich braucht Eunapios eine Negativfolie, vor deren Hintergrund das Lob seines eigenen Lehrers noch überschwänglicher wird. Eine solche Negativfolie bilden die Kurzviten über Rhetoriker, 65 zu denen die soeben erwähnte DiophantosVita gehört. Doch die Kritik an den Rhetorikern hat nicht allein enkomiastische Gründe, sondern steht auch in einem systematischen Zusammenhang mit dem Bildungskonzept des Eunapios. Denn die Rivalen des Prohairesios ermangeln aufs Ganze gesehen die religiöse Dimension der Rhetorik; ihr Verständnis von der Redekunst ist laut Eunapios teilweise zu technisch, weshalb ihr Reden der wahren Autorität ermangelt. Die fehlende Inspiration hebt Eunapios in der DiophantosVita genauso hervor wie in der Miniaturbiographie über Sopolis. Dort heißt es in ironischem Duktus: „Auch Sopolis hat der Verfasser des vorliegenden Werkes oft gehört. Er war ein Mann, der sich zwang, seine Reden im Stil der Alten zu halten, und bemühte sich redlich darum, in Berührung mit der vernünftigen Muse zu kommen. Er klopfe zwar oft an deren Tür, doch es wurde ihm nicht sehr häufig geöffnet. Und wenn sie sich dann doch ein wenig und mit Knarren auftat, schlich aus dem Inneren nur ein zarter und schwacher Hauch göttlicher Inspiration (θείου πνεύματος) heraus.“ 66

So, wie Prohairesios im Corpus der Rhetoren-Viten die ganze Fülle der παιδεία inklusive der religiösen Dimension verbürgt, so steht Chrysanthios gegen Ende der Biographien-Sammlung als Garant einer paganen παιδεία, die über das wahre religiöse Wissen verfügt und die sich nicht gegen Geld zur Schau stellt. Im Zuge einer Reise nach Sardes, die entweder in die 370er oder in die 380er Jahre zu datieren ist, 67 soll der vicarius Asiae Justus eine mantische Opferzeremonie in der Heimatstadt des Eunapios veranstaltet haben. Neben Eunapios und seinem Lehrmeister Chrysanthios ließ Justus auch „diejenigen rufen, die allenthalben für ihre παιδεία berühmt“ gewesen seien. 68 Die weitere Beschreibung dieser Intellektuellen lässt sogleich deren Zwielichtigkeit zu Tage treten. Eunapios schreibt: „Die fanden sich schneller ein, als man sie rufen konnte, da sie voller Bewunderung für diesen Mann [sc. Justus] waren und dachten, jetzt sei die Zeit gekommen, ihre Kenntnisse zur Schau zu stellen. Einige verließen sich auf ihre Schmeichelkünste, als wäre das ihre παιδεία, und machten sich dadurch Hoffnungen, entweder Ehre, ein bisschen Anerkennung oder auch Geld zu gewinnen.“ 69

Als Justus die versammelte Bildungselite danach fragt, ob sie die Körperhaltung des geschlachteten Opfertiers erklären könnten, ist einzig Chrysanthios dazu imstande, dem vicarius Asiae eine Antwort zu erteilen. Deutlich tritt hier der Kontrast zwischen der philosophisch-religiösen παιδεία des Chrysanthios und einer als defizitär präsentierten paganen παιδεία hervor, die die religiöse Dimension aus65 Civiletti (2007), S. 20; Becker (2013), S. 488; 490–491; 493; 495–496; 498; vgl. auch Goulet (2014a), S. 194 Anm. 2. 66 Eunapius, Vitae sophistarum 13,1. 67 Vgl. Becker (2013), S. 556 (mit Lit.). 68 Eunapius, Vitae sophistarum 23,4,3. 69 Ebd.

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blendet und sich als dubioses Mittel zum Zweck des Geehrt-Werdens und des finanziellen Gewinns versteht. BILDUNG ALS ABGRENZUNGSFAKTOR (III) – WIDER DEN WESTEN ALS BILDUNGSWÜSTE Zusätzlich zur Abgrenzung gegen die als ungebildet verschrienen Christen und gegen pagane Vertreter einer defizitären παιδεία ist es der Westen des Imperium Romanum, von dem Eunapios sich im Rahmen seiner hellenischen Identitätskonstruktion abgrenzen möchte. 70 Es ist ihm ein Anliegen, „[k]ulturelles Leben im Westen“ 71 des Reiches nahezu gänzlich auszublenden, um den Osten als einen Ort wahrer Kultur zu akzentuieren. Die Vitae philosophorum et sophistarum entstanden aus kleinasiatischer Perspektive wenige Jahre nach der Reichsteilung 395 und spiegeln in ihrem Sprachgebrauch die politische Aufteilung des Imperiums in eine Ost- und eine Westhälfte: Unter „Osten“ (ἡ ἑῴα) versteht Eunapios folglich das Reichsgebiet östlich von Illyrien, v.a. Griechenland und Kleinasien bis hin zu Syrien. 72 Mit „Westen“ (ἡ ἑσπέρα) ist v.a. das Gebiet Italiens gemeint, aber auch das römisch kontrollierte Gallien (Γαλλία, Γαλατία), das mehrfach erwähnt wird. 73 Bereits nach einer flüchtigen Lektüre der Kollektivbiographie kann sich der Leser des Eindrucks nicht erwehren, dass Intellektualität bzw. Kultur insgesamt auf den Osten des Reiches beschränkt zu sein scheint. Dieses Phänomen lässt sich in allen spätantiken Philosophen-Viten mit Ausnahme der Vita Plotini des Porphyrios nachweisen. 74 Im Hintergrund steht hierbei zunächst die historische Entwicklung und geographische Situierung der platonischen Schulzirkel im Laufe des 4. Jahrhunderts: Nach dem Tod des Porphyrios, der aller Wahrscheinlichkeit nach zuletzt in Rom wirkte, 75 verlagern sich die Zentren des von Eunapios portraitierten Platonismus jamblichischer Prägung in den Osten. 76 So hatte der JamblichSchüler Aidesios eine Schule in Pergamon und von den Meisterschülern des Ai-

70 Der folgende Abschnitt orientiert sich inhaltlich und sprachlich an Becker (2013), S. 48–51. 71 Stenger (2009), S. 204. Zu den geographischen Angaben in den Vitae des Eunapios siehe jetzt auch die belegreiche Überblicksdarstellung bei Goulet (2014a), S. 257–273. 72 Eunapius, Vitae sophistarum 6,3,9; 10,3,12; Eunapius, Fragmenta historica 62/1 Blockley. 73 Eunapius, Vitae sophistarum 7,3,7; 7,5,2; 10,7,1; 10,7,6; 22,2,3; Eunapius, Fragmenta historica 62/1, 66/2 Blockley. 74 Vgl. Hartmann (2006), S. 45. 75 Eine offizielle Schulleitung kann Porphyrios nicht nachgewiesen werden, siehe Smith (2010), S. 355. Die Porphyrios-Vita des Eunapios ist das einzige Indiz dafür, dass Porphyrios gegen Ende seines Lebens in Rom wirkte, weil er dort nach seiner Rückkehr von Sizilien (4,1,10) auch gestorben sein soll (λέγεται). Schon das von Eunapios gebrauchte Verb λέγεται (4,2,6) deutet auf eine nicht gesicherte mündliche Überlieferung hin. 76 Fowden (1982), S. 40–48.

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desios lehrte später Priskos in Athen, 77 Maximus in Ephesus und Chrysanthios in Sardes, wo schließlich auch Eunapios selbst seine philosophische Ausbildung erhielt. Wenn demnach Eunapios davon spricht, nach dem Tod Jamblichs in den 320er Jahren hätten sich seine Schüler im ganzen Römischen Reich verstreut, 78 ist damit im Grunde der Osten gemeint, und zwar speziell Kleinasien. Jenseits dieser historisch bedingten geographischen Gegebenheiten ordnet sich Eunapios mit seiner Geographie hellenischer Intellektualität in den paganen Identitätsdiskurs im 4. Jahrhundert ein, bei dem hellenische Intellektuellenkultur dezidiert dem als fremd und im Hinblick auf die παιδεία als bedrohlich empfundenen Westteil des Reiches gegenübergestellt wird. 79 Hier bietet v.a. das Œuvre des Libanios einen wichtigen Vergleichspunkt. Er sieht die hellenische Kultur gefährdet durch das abflauende Interesse an griechischer Rhetorik im 4. Jahrhundert, durch das Aufblühen lateinischer Studien aus karrieristischen Gründen sowie durch die steigende Beliebtheit der Jurisprudenz und der Stenographie. 80 Konsequenzen des Umgangs mit dieser unterschwelligen Konkurrenzsituation sind bei Eunapios das absichtliche Ignorieren, wodurch sich der Mangel an Bezügen auf den Westen erklären lässt, ein gleichgültiges Erwähnen von Einzelphänomenen und die subtile bis offene Herabwürdigung „der Anderen“. Gleichgültigkeit spiegelt sich etwa in der nur aus einem formelhaften Satz bestehenden Kurznotiz zu Theon, einem im Westen des Reiches (Γαλατία) praktizierenden Arzt bzw. Iatrosophisten, der „zu dieser Zeit [sc. im 4. Jahrhundert] viel Ruhm geerntet“ habe. 81 Dieser eine kurze Satz fungiert als Übergang von der Biographie des aus Sardes stammenden Mediziners Ionikos zur Vita über den ebenfalls aus Sardes stammenden Philosophen Chrysanthios. Zu den „Römern“ baut Eunapios in seinem Werk verschiedentlich Distanz auf. Streckenweise behandelt er sie wie ein fremdes, fast exotisches Volk. So fühlt er sich dazu verpflichtet, seinen Lesern bestimmte Sitten und Spracheigenheiten zu explizieren: Er erläutert etwa die römische Kaiserproskynese, übersetzt lateinische Begriffe und erklärt Aspekte des römischen Kalenders. 82 Möglicherweise 77 Goulet (2012), S. 47–48. Bei Eunapios tritt Athen allerdings vornehmlich als Hort der Rhetorik in Erscheinung. Die Zentralität Athens wird z. B. bei der Neubesetzung des Rhetoriklehrstuhls des Julianos deutlich. Dort kommt es zur Endausscheidung zwischen sechs Athener Rivalen, zu denen auch Prohairesios gehört. Die Studenten werden ihnen nach Nationalitäten zugewiesen, was Eunapios zu einem Kampf um alle römisch beherrschten Gebiete (τὰ ὑπὸ Ῥωμαίοις ἔθνη) ausgestaltet, deren junge Menschen nach Athen kommen, um Rhetorik zu studieren (10,3,11–12), vgl. bes. 10,3,11: καὶ περὶ λόγων οὐκ ἦν αὐτοῖς ἡ στάσις, ἀλλ’ ὑπὲρ ἐθνῶν ὅλων ἐπὶ τοῖς λόγοις. Dadurch erscheint Athen als wahre Bildungshauptstadt des Ostens. 78 Eunapius, Vitae sophistarum 5,3,10. 79 Opelt (1969), S. 32; Stenger (2009), S. 204. 80 Stenger (2009), S. 218–220 (mit Belegen). 81 Eunapius, Vitae sophistarum 22,2,3; dazu Becker (2013), S. 535. 82 Eunapius, Vitae sophistarum 6,3,11 (römische Kaiserproskynese); 7,3,8 (Latein); 7,6,10 (römischer Kalender); 9,2,19 (lateinischer Ausdruck). Zur Zweisprachigkeit äußert sich Eunapios aber auch neutral: So habe der Großvater seines Lehrmeisters Chrysanthios Schriften auf

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kann Eunapios an einer schwer verständlichen Stelle gar eine abschätzige Bemerkung über das Lateinische nachgewiesen werden. 83 Grundsätzlich ist für Eunapios das Gebiet des Westens, Rom eingeschlossen, identisch mit einem Ort der Unkultur: „Römer“ tragen bei ihm das generelle Stigma unkultivierter Rohheit. Umso mehr überrascht es, wenn Eunapios von Ausnahmen dieser Regel berichtet. So weist er bei der namenlosen Erwähnung des Prokonsuls, der dem Gerichtsprozess um Julianos und Apsines samt ihren rivalisierenden Sophistenschulen in Athen vorsteht, explizit darauf hin, dass dieser „für einen Römer“ gar nicht so ungebildet sei. 84 Die Stadt Rom erscheint in der Biographiensammlung des Eunapios primär als Eroberungsobjekt hellenischer Kultur: 85 In bewusst gewählter Kriegsmetaphorik, die sachlich an das alte Horazdiktum vom kulturellen Sieg Griechenlands über die unkultivierten Römer erinnert, 86 interpretiert Eunapios den Studienortwechsel des Porphyrios von Athen nach Rom als eine Stadteroberung „durch die Philosophie“. 87 Rom ist damit in den Augen des Eunapios im Hinblick auf kulturelle Leistungen vornehmlich rezeptiv, nicht aber produktiv. Auf eine ganz ähnliche Aussage zielt die Episode, in der Eunapios davon berichtet, wie seinem Athener Rhetoriklehrer Prohairesios zu Ehren in Rom eine lebensgroße Statue aufgestellt wird, welche die Inschrift trägt: „Die Herrscherin Rom (ehrt) den König der Beredsamkeit“. 88 Diese Kontrastierung von „Geist und Macht als sich wechselseitig beeinflussenden Faktoren der Geschichte“ 89 ist in der Kollektivbiographie ein bedeutendes Thema: Politische Herrschaft und Kultur geraten dadurch in einen scharfen Gegensatz. Ein gewisses Missverhältnis zu Rom wird auch im Kommentar des Eunapios zu einem Lehrexport des Prohairesios nach Rom kenntlich: Dieser sendet seinen Schüler Eusebios, einen Alexandriner, weniger aus Qualitätsgründen nach Rom, sondern weil Eusebios in Athen für Disharmonien sorgte und sich überdies zum Staatsdienst hingezogen fühlte. Eunapios freilich unterlässt es nicht zu betonen, dass Eusebios als Ägypter ohnehin nicht gerade mit rhetorischem Talent begabt war. 90 Dies kann nicht zu-

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Latein und Griechisch verfasst (23,1,3–4). Zur tendenziellen Vermeidung von Latinismen bei Eunapios siehe Baldwin (1990), S. 11. Eunapius, Vitae sophistarum 10,6,1; siehe dazu Civiletti (2007), S. 599–600 Anm. 647; Becker (2013), S. 462–463. Eunapius, Vitae sophistarum 9,2,4: ἐῴκει δὲ ὡς Ῥωμαῖός τις οὐκ εἶναι τῶν ἀπαιδεύτων, οὐδὲ τῶν ὑπ’ ἀγροίκῳ καὶ ἀμούσῳ τύχῃ τεθραμμένων; siehe dazu Vollebregt (1929), S. 125–26; Civiletti (2007), S. 560 Anm. 547. Opelt (1969), S. 32–33. Horatius, Εpistulae 2,1,156: Graecia capta ferum victorem cepit. Eunapius, Vitae sophistarum 4,1,6 (διὰ σοφίας). Eunapius, Vitae sophistarum 10,7,4. Hahn (1990), S. 495–496. Eunapius, Vitae sophistarum 10,7,10–12, dazu Becker (2013), S. 480–481. Im Hinblick auf die Bildung im Osten des Reiches nimmt Ägypten in der Kollektivbiographie des Eunapios eine Sonderstellung ein: Einerseits wird v.a. Alexandria mit seinem Serapeion und den zahlreichen Wissenschaftseinrichtungen (vgl. Ammianus Marcellinus, Res gestae 22,15–16) als kulturelles Glanzlicht beschrieben, vgl. z. B. 6,10,6–10; 20,5. Andererseits bietet der Text des

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letzt als eine Spitze gegen die Stadt Rom gewertet werden, die vielleicht die politische Macht symbolisiert, aber im literarischen Konstrukt des Eunapios an kultureller Qualität arm ist. Das Desinteresse an Rom als einer „Metropole des Geistes“ 91 nährt sich aus einer Liebe zu Griechenland als Hort hellenischer Kultur, aus dem man laut Eunapios, Libanios, Himerios und Julian „sein Selbstverständnis als Gebildeter geradezu wie seine Abstammung herleitet.“ 92 Diese Griechenlandsehnsucht exemplifiziert Eunapios am eindrucksvollsten an dem aus Berytos stammenden Prätorianerpräfekten Anatolios. Obwohl er in den juristischen Ausbildungsstätten in Berytos und Rom ausgebildet wurde, die speziell im 4. Jahrhundert in eine Konkurrenzstellung zur griechischen Rhetorik traten, 93 führt ihn Eunapios als einen überzeugten Hellenen ein. 94 Außer dem oben bereits erwähnten Sophistenagon in den 340er Jahren, den er initiierte, um die Qualität griechischer Beredsamkeit zu evaluieren, 95 versammelte er im Rahmen seiner Reise nach Athen laut den Angaben des Eunapios die griechische Bildungselite um sich, allen voran Prohairesios und den Dichter Milesios, und pflegte die griechische Symposientradition mit all ihren kulturellen Aspekten. 96 An dem paganen politischen Amtsträger Anatolios und übrigens auch an dem vicarius Asiae Justus illustriert Eunapios, wie politische Beamte durch ihre hellenische παιδεία und Religiosität ihre politische Macht richtig kanalisieren können. Die Förderung der hellenischen Kultur im Osten, die diese Personen betreiben, unterscheidet sie nicht nur von christlichen Beamten wie Ablabios oder Festus, die pagane Philosophen hinrichten lassen. Sie unterscheidet sie auch von römischen Beamten, die in der vorurteilsbehafteten Wahrnehmung des Eunapios primär unkultiviert sind. Als eine solche Förderung der hellenischen Kultur, die sich ihrer religiösen, geographischen und geistigen Wurzeln bewusst bleibt, kann letztlich auch die Kollektivbiographie des Eunapios gelesen werden. Das Bildungskonzept, das darin präsentiert wird, ist an der Schwelle zum 5. Jahrhundert für die Adressaten des Eunapios im kleinasiatischen Sardes von leitbildhafter Signifikanz. Durch den starken Bezug auf die Kategorie der Alterität besitzt dieser Text allerdings auch in der politisch unruhigen Zeit kurz nach dem Gainas-Aufstand 97 als Selbstbesinnungshilfe eine wichtige Orientierungsfunktion für die hellenischen Bildungseliten im Osten insgesamt.

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Eunapios an zwei Stellen diskriminierende Bemerkungen über Ägypter (6,3,1–2; 10,7,11– 12), siehe dazu Opelt (1969), S. 30–31; Becker (2013), S. 264 und S. 480; Goulet (2014a), S. 270–271. Formulierung nach Hose/Levin (2009). Stenger (2009), S. 34–53, hier 37. Stenger (2009), S. 219. Eunapius, Vitae sophistarum 10,6,3: διαφερόντως Ἕλλην. Eunapius, Vitae sophistarum 10,6,7–10. Eunapius, Vitae sophistarum 10,6,11–13. Becker (2013), S. 31; Goulet (2014a), S. 96–97.

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OSTEN UND WESTEN IN DER SPÄTANTIKE Zur Entwicklung und Bedeutung von christlichen und paganen Bildungskonzepten in der Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert Oliver Schelske ZUSAMMENFASSUNG Für die Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass das Phänomen der sich entfremdenden Reichshälften neben politischen, administrativen und militärischen nicht zuletzt kirchenpolitische und religiös-mentale Gründe hatte. Dies zeigt sich in einem im Vergleich zum paganen veränderten christlichen Bildungsideal, in dem ein Bildungskanon, der griechisch-östliche wie lateinischwestliche Texte und Literatur gleichermaßen umfasste, eine immer geringere Rolle spielte. Gleichzeitig lässt sich auf nicht-christlicher Seite zunehmend die Bereitschaft erkennen, die Einheit der paganen (d.h. lateinischen wie griechischen) paideia zu demonstrieren, was sich vor allem am Beispiel der Dichtung zeigt. In Fragen einer gemeinsamen Identität von Ost und West in der Spätantike sind folglich im christlichen und im paganen Spektrum tendenziell gegenläufige Entwicklungen zu berücksichtigen. Die Geschichte des Römischen Reiches vom 4. bis ins 6. Jahrhundert ist komplex. Viele Entwicklungen dieser Zeit in politischer, literarischer, kultureller, philosophischer und religiöser Hinsicht sind nur schwer auf einen Nenner zu bringen; Kontinuitäten und Veränderungsprozesse lassen sich gleichermaßen feststellen. Gleichwohl ist das Phänomen einer gegenseitigen Entfremdung, ja ein ‚Auseinanderdriften‘ 1 der beiden Reichshälften, d.h. des griechischen Ostens und des lateinischen Westens, zu beobachten. Als Initialzündung für den Prozess einer sich allmählich, aber unaufhaltsam vollziehenden Trennung des Reiches in zwei getrennte Sphären lassen sich einerseits die Reichsreformen unter Diokletian im 1

Der Begriff des ‚Auseinanderdriftens‘ steht im Zentrum des Antragstextes des Promotionsverbunds „Osten und Westen 400–600 n. Chr.“, dessen Abschluss der vorliegende Tagungsbzw. Sammelband bildet, siehe http://www.uni-tuebingen.de/fakultaeten/philosophischefakultaet/fachbereiche/geschichtswissenschaft/forschung/osten-und-westen-400-600nchr/startseite.html (26.03.2014). In der dort eingeführten Bedeutung wird er auch im Folgenden verwendet.

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3. Jahrhundert, vor allem aber die sogenannte Reichsteilung nach dem Tode Theodosius’ I. im Jahr 395 ausmachen. 2 In Hinsicht auf die politischen Entwicklungen spricht für eine solche Sicht, dass in der Tat etwa 80 Jahre nach dem letztgenannten Datum der westliche Kaiser des Imperium Romanum, Romulus Augustulus, abgesetzt und die römische hier de facto durch eine barbarische Herrschaft ersetzt wurde. 3 Dabei ist zwar zu beachten, dass mit der Errichtung gentiler Herrschaften auf dem Boden der westlichen Reichshälfte mitnichten de iure ein ‚Ende‘ des ‚weströmischen‘ Reichs einherging. 4 Barbarische Herrscher empfanden ihre (offizielle) Rolle – zunächst – durchaus als die eines von Konstantinopel legitimierten Verwalters der Herrschaft im Westen, was dem Selbstverständnis des römischen Ostens ohnehin entsprach. 5 Spätestens die weiträumigen (wenn auch nicht auf Dauer zu haltenden) Rückeroberungen großer Gebiete auf dem Boden der westlichen Reichshälfte wie in Nordafrika, Italien oder Spanien sind impliziter Beleg dafür, dass die Einheit des Römischen Reiches noch im 6. Jahrhundert als solche empfunden wurde (oder instrumentalisiert werden konnte). 6 Dennoch ist neben den faktischen politischen Entwicklungen auch ein Auseinanderstreben in kultureller Hinsicht zu beachten. 7 Zunehmende Kommunikationsschwierigkeiten 8 bzw. Sprachbarrieren zwischen den Reichshälften, eine kontinuierliche Ausdifferenzierung der Verwaltungseinheiten 9 und nicht zuletzt kirchen- und dogmenspezifische Auseinandersetzungen zwischen Ost und West sind hierfür deutliche Symptome. 10 Wie für die politische Entwicklung ist jedoch auch hier zu fragen, inwiefern der Prozess der ‚kulturellen‘ Entfremdung als einheitlich (in dem Sinne, dass er alle gesellschaftlichen Gruppierungen des Römischem Reiches gleicher-

Mazal (2001), S. 11; Krause (2006), S. 418; Heuss (20018), S. 482. Demandt (2008²), v.a. S. 150–152. Heuss (20018), S. 497: „Der Untergang des Römischen Reiches im Westen war kein Rechtsvorgang, sondern ein politischer Pozess, der sich in keinem juristischen Ebenbild niederschlug.“ Siehe außerdem Demandt (2008²), S. 499–501 (mit einem knappen Überblick über die bereits in der Antike als Ende des weströmischen Kaiserreichs empfundenen Daten). 5 Demandt (2008²), S. 148–164. Noch Theoderich der Große etwa soll den (weströmischen) Kaiserornat (die ornamenta palatii), der ihm vom oströmischen Kaiser Anastasios I. zugeschickt worden sein soll, getragen haben (a.a.O., S. 162; Anonymus Valesianus XI 53.64). Zur Relevanz dieser vestia regia siehe auch König (1997), S. 132. 6 Für eine zusammenfassende Darstellung der Rückeroberungen unter Justinian siehe Meier (2003), S. 247–250. 7 Zur mit den politischen Entwicklungen einhergehenden kulturellen Dynamik siehe Fuhrmann (1994), S. 83: „Da sich die Griechen mit dem Lateinischen seit jeher schwer getan hatten, begannen die beiden Reichshälften schon im 4. Jahrhundert sprachlich und kulturell auseinanderzudriften.“ Außerdem Cameron (2011), S. 529f. 8 Zum Problem dessen, was als ‚Kommunikation‘ bzw. nur als ‚Kontakt‘ zwischen Ost und West zu verstehen ist, siehe Meier (2008), S. 44. 9 Zu den unterschiedlichen administrativen Entwicklungen in beiden Reichshälften siehe Stein (1928), S. 337–343, v.a. S. 342f. 10 Die Konsequenzen der Reichsteilung in kirchlich-dogmatischer Hinsicht betont Gahbauer (1985).

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maßen erfasste) sowie als zeitlich linear aufzufassen ist, oder ob sich vielmehr gruppenspezifische Entwicklungen, Umkehrphasen oder zumindest retardierende Momente feststellen lassen. Neben den oben genannten Desintegrationssymptomen lässt sich immerhin Zwei- und Mehrsprachigkeit auch lange nach 395 noch feststellen, die nicht nur marginale Gesellschaftsgruppen umfasste, 11 während gleichzeitig das Aufkommen von Übersetzungen literarischer Texte in die jeweils andere Sprache sich nicht nur als Symptom zunehmender Entfremdung, sondern im Gegenteil (auch) als Interesse am jeweils anderen deuten lässt. 12 Es ist daher zu untersuchen, in welchen gesellschaftlichen Kontexten sich der Prozess des ‚Auseinanderdriftens‘ manifestierte und welche Faktoren als die jeweiligen intellektuellen Voraussetzungen anzusehen sind. Erst bei näherer Betrachtung dieser Aspekte lässt sich anschließend klären, in welchem Verhältnis die politische und die kulturell-mentalitätsbezogene Entfremdung von griechischem Osten und lateinischem Westen vom 4. bis zum 6. Jahrhundert zueinander stehen. Ist das Phänomen der kulturellen Entfremdung durch die politischen Entwicklungen bedingt, begleitet es sie oder besteht überhaupt ein Zusammenhang? Eine solche Untersuchung hat es idealiter zur Aufgabe, ein äußerst facettenreiches, alle gesellschaftlichen Gruppen differenziert erfassendes, in möglichst kleine Zeiteinheiten unterteiltes Gesamtbild zu entwerfen, was im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht möglich ist. Es soll aber der Versuch unternommen werden, exemplarisch einen Gesichtspunkt herauszugreifen, an dem besonders gut deutlich wird, welche desintegrativen Kräfte neben dem ereignispolitischen Geschehen seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert ihre Wirkung zu entfalten begannen. Dieses exemplum ist die Ablösung der alten, paganen Bildungsidee durch ein christliches Erziehungs- und Bildungsideal, das, wie zu zeigen sein wird, eine entscheidende Rolle für den Prozess der auseinanderstrebenden und sich damit herauskristallisierenden Identitäten von Ost und West spielt. Damit soll ein Aspekt näher untersucht werden, der aufgrund seiner in literarischen Texten analysierbaren Form in heuristischer Hinsicht geeignet ist, die Bipolarität von Osten und Westen sowie den Kontrast von christ-

11 Latein blieb mit einigen Ausnahmen in Ägypten bis in byzantinische Zeit die Sprache der römischen Armee, siehe Rochette (1997), S. 147, auch wenn dies nicht notwendigerweise bedeutet, dass dieser Umstand zu einer umfassenden Verbreitung des Lateinischen im Osten auch in der Bevölkerung beigetragen hat (ebd., S. 148). Gleichzeitig hat der Umstand, dass Lateinkenntnisse einer Karriere innerhalb der römischen Administration äußerst nützlich gewesen sein dürften, offensichtlich dazu beigetragen, dass Lateinkenntnisse nicht nur in den oberen, sondern durchaus auch in den niederen Verwaltungsebenen östlicher Verwaltungseinheiten die Regel waren, siehe Rochette (1997), S. 208. 12 Gärtner (2005), S. 21: „Häufig wird das Vorhandensein von griechischen Vergilübersetzungen als Argument dafür angeführt, daß das Original von Griechen nicht gelesen wurde. Doch ist dies keineswegs zwingend, da es ja auch lateinische Homerübersetzungen gab, die Interessierten aber dennoch zum Original griffen. In jedem Fall bezeugen diese Übersetzungen Neugier für lateinische Literatur, d.h. deren Inhalte, selbst bei den Griechen, die der fremden Sprache nicht mächtig waren.“ Siehe außerdem Werner (1983), S. 592.

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licher und paganer Identität gleichermaßen zu erfassen und diese im Sinne von sich überschneidenden und überkreuzenden Wirkungen zu begreifen. Zur Frage kollektiver Identitäten in der Spätantike ist in den vergangenen Jahren eine Fülle von Literatur erschienen. 13 Die meisten Untersuchungen kommen dabei zu dem Schluss, dass insbesondere von griechischer Seite ein nahezu vollkommenes Desinteresse an allem Nicht-Griechischen bestand. 14 Das inhaltliche Spektrum des Labels ‚griechisch‘ ist dabei zunächst erläuterungsbedürftig. Stenger weist zurecht darauf hin, dass der Begriff des ‚Hellenischen‘ in hohem Maße zur Definition und Selbstinszenierung gerade der paganen griechischen Elite diente, dass also der Hellenenbegriff vor allem ein religiös-kämpferischer war. 15 Dieser Schlussfolgerung ist unbedingt zuzustimmen. Die Hoffnungen, die griechischsprachige Rhetoren des 4. Jahrhunderts, vor allem Libanios, Themistios, Himerios und Eunap, in das pagane Restitutionsprogramm des Kaisers Julian setzten, ist evident. Es ist allerdings zu fragen, inwieweit die im Hellenenbegriff offensichtlich angelegte Abgrenzung zum Christlichen notwendigerweise mit der zum Lateinischen bzw. zum Westen identisch ist. In eine solche Richtung lassen sich zwar einerseits Äußerungen verschiedener Sophisten des 4. Jahrhunderts deuten, an denen man die Herablassung oder zumindest eine gewisse Gönnerhaftigkeit, mit der man von griechisch-intellektueller Seite lateinisch sprechenden Vertretern des Westens begegnete, in der Tat ablesen kann. Libanios lässt gegenüber mehreren seiner lateinischen Briefpartner durchscheinen, dass die lateinischen, an ihn gerichteten Briefe aufgrund der notwendigen Übersetzungen eine Menge Zeit und Mühe gekostet hätten 16 und der Verfasser (in diesem Fall Postumianus) 17 als guter

13 Zu nennen sind hier vor allem die einschlägigen Monographien von Johnson (2013), Sandwell (2007), Siniossoglou (2008) und Stenger (2009), aber auch die monumentale Studie von Cameron (2011). Interessanterweise konzentrieren sich viele der genannten Arbeiten zur spätantiken Identität auf nur wenige antike Autoren, v.a. Libanios (Sandwell, Stenger), Johannes Chrysostomos (Sandwell), Theodoret (Siniossoglou) und Porphyrios (Johnson), d.h. schwerpunktmäßig Autoren aus oder der näheren Umgebung von Antiochia und Tyros. Auch Themistios (Konstantinopel), Himerios (Athen) und Eunap (Athen/Sardes), auf die Stenger in seiner Studie ebenfalls dezidiert eingeht, entstammen sämtlich der östlichen Reichshälfte; zu dieser Auswahl siehe Stenger (2009), S. 19f. 14 Stenger (2009), S. 204: „Unvollständig bliebe das Bild des Intellektuellen ohne einige Aspekte, die […] im Zentrum der Selbstwahrnehmung der paganen Autoren standen. Der wahre Ἕλλην ἄνθρωπος war ohne das Leben mit den klassischen Autoren und in der ruhmvollen griechischen Vergangenheit, den Stolz auf die griechische Sprache und das Praktizieren des Götterkultes nicht denkbar. Kein Zufall war es, dass die Perspektive der Autoren gänzlich auf den Osten des Reiches beschränkt blieb. Kulturelles Leben im Westen wurde weitgehend ignoriert, und das Lateinische, die ‚Sprache der anderen‘, wurde etwa von Libanios als Bedrohung für die griechische Kultur wahrgenommen […].“ Siehe aber auch Stengers differenzierte Ausführungen in seinem Beitrag zu diesem Band. 15 Stenger (2009), S. 72; 205f. 16 In einem Brief an Symmachus (1004 F) erwähnt Libanios etwa den Umstand, dass er den Brief des Symmachus, den er mit dem vorliegenden Schreiben beantworte, ihm erst durch einen Dolmetscher übersetzt werden musste.

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Kenner des Griechischen den nächsten Brief doch auf Griechisch schreiben möge. 18 In demselben Brief beschreibt Libanios, wie sich aufgrund der geschilderten Übersetzungsschwierigkeiten eine ganze Gruppe von Griechen im Stil einer unterhaltsamen Rate-Runde an dem lateinischen, an ihn adressierten Brief versucht habe, um das Schriftstück wie ein Puzzle sinnvoll zu übersetzen (Libanios, Epistulae 1036 F): „Er [sc. der Brief des Postumianus] half schon, als man ihn mir entgegenstreckte […] und noch mehr, als er übersetzt wurde; es war gewiss ein mühsames Geschäft, eure Sprache in die unsere zu übertragen, und so haben wir den, der jeweils die folgenden Worte am raschesten erfasst hatte, als Sieger bekränzt.“ 19

In der Einordnung solcher Äußerungen und den Konsequenzen, die man aus ihnen in Bezug auf eine hellenische Identität im oder seit dem 4. Jahrhundert ziehen kann, ist jedoch höchste Vorsicht geboten. So ist zu fragen, ob nicht das in der Tat einheitliche Bild, dass man von einer hellenischen Identität bei Libanios, Themistios und Himerios ziehen kann, in hohem Maß ,berufsbedingt‘ und so nicht ohne weiteres zu verallgemeinern ist: 20 Immerhin handelt es sich bei ihnen allen um Rhetoren, die ihren Lebensunterhalt mit der Vermittlung griechischer Kultur verdienten. Welchen Anlass sollten diese haben, sich zur lateinischen Kultur in der Öffentlichkeit positiv zu äußern? Noch dazu, wenn ihre eigenen Schulen, etwa in Antiochia (wie im Falle des Libanios), in direkter Konkurrenz zu nahegelegenen lateinischen Bildungszentren wie etwa der im gesamten Reich bekannten Juristenschule von Beirut standen? 21 Die Äußerungen, in denen eine Ablehnung des Lateinischen durch Griechen erkennbar ist, deuten oft selbst darauf hin, dass im Hintergrund der hellenischen Sorgen um die Bewahrung bzw. Konzeptionierung ihrer griechischen Identität nicht zuletzt praktische Gründe stehen. So beklagt sich der bereits erwähnte Libanios wiederholt darüber, dass alle Welt sich dem lateinischsprachigen Jurastudium widme, und zwar aus schnödem Gelderwerbs- und Karrieredenken (Libanios, Orationes 1, 214): „Ein Unglück, das wie ein Erdbeben die Redekunst erschütterte, war die Flucht aus dem Lager der hellenischen Sprache und die Fahrt nach Italien, um in der dortigen Sprache reden zu lernen. Man argumentierte nämlich, ein brauchbares Instrument sei jetzt nicht mehr die helle17 Zur Differenzierung der verschiedenen Träger des Namens siehe Seeck (1906), S. 243 (hier Nr. III). 18 Libanios, Epistulae 1036 F. 19 Ἧς ἦν μέν τι κέρδος καὶ προτεινομένης […], πλέον δ’ ἑρμηνευομένης, πόνος δὲ ἄρα τὸ πρᾶγμα γεγένηται τοῖς ἄγουσιν εἰς τὴν ἡμετέραν φωνὴν τὴν ὑμετέραν, καὶ ὁ νικήσας τὸ προσιὸν ἑλεῖν ἐστεφανοῦτο. 20 Zur Rivalität verschiedener Disziplinen, etwa der (griechischen) Rhetorik mit der (römischen) Jurisprudenz im Sinne einer Schlüsselqualifikation siehe Kraus (2012), S. 123;127. 21 Im Unterschied zu den meisten anderen römischen Kolonien, deren Charakter über längere Zeiträume einer durchgehenden Hellenisierung gewichen zu sein scheinen, bewahrte gerade die Kolonie in Berytos/Beirut – vermutlich auch aufgrund der dort ansässigen juristischen Ausbildungsstätte – ihren durchweg römischen Charakter, siehe Rochette (1997), S. 145. Zur Konkurrenz zwischen Berytos und Antiochia s.u. Anm. 27.

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Oliver Schelske nische Bildung, sondern die lateinische; mit ihr sei Macht und Reichtum verbunden, während die hellenische nichts anzubieten habe als sich selbst. Doch ließ ich mich nicht zur Fahnenflucht verleiten: Wenn ich auch nicht verkannte, wie es mit meiner Sache stand, glaubte ich ihr doch die Treue halten zu müssen; denn auch meine Mutter hätte ich im Unglück nicht allein gelassen, und mein Beruf verdiente nicht geringer geachtet zu werden.“ 22

In einem späteren Abschnitt fährt er fort (Libanios, Orationes 1, 234): „Leider hat unsere hellenische Sprache und Bildung jetzt an Bedeutung gegenüber der anderen, der lateinischen, so viel verloren, dass ich befürchten muss, die neue Jurisprudenz werde zu ihrem völligen Untergang führen. Ich meine damit nicht Reskripte und Gesetze, sondern die Bewertung der beiden Sprachen, die darin zum Ausdruck kommt, dass die Lateinkundigen die Macht erobert haben.“ 23

Diese Beispiele und Äußerungen sprechen einerseits für sich. Sie können trotzdem nicht den Anspruch erheben, repräsentativ zu sein. Ein anderes Bild ergibt sich, sobald man gegenteilige Äußerungen derselben Rhetoren mitberücksichtigt, in denen der Fokus nicht auf dem konkreten Unterrichtsgeschehen in Syrien, d.h. meist Antiochia oder Athen liegt, sondern andere Teile des Imperiums, etwa Rom und der Westen, in den Blick genommen werden. 24 So deuten Äußerungen wiede-

22 Κακὸν δὲ ἕτερον σεισμὸν ἐπενεγκὸν τῇ τέχνῃ, φυγὴ μὲν ἀπὸ τῆς τῶν Ἑλλήνων φωνῆς, πλοῦς δὲ ἐπ’ Ἰταλίας ζητούντων κατ’ ἐκείνους διαλέγεσθαι· τοὺς γὰρ δὴ λόγους τῶν λόγων γενέσθαι δυνατωτέρους καὶ εἶναι μετ’ ἐκείνων δυνάμεις τε καὶ πλούτους, ἐν δὲ τοῖς πλὴν αὐτῶν οὐδέν. οὐ μὴν ἐπειθόμην γε ταῖς περὶ τοῦ με δεῖν λιπεῖν τὴν τάξιν παραινέσεσιν, ἀλλ’ οὐκ ἠγνόουν μέν, οἷ τὸ πρᾶγμα ἀφῖκται, δίκαιος δὲ ὅμως ἠξίουν εἶναι περὶ αὐτό, οὐδὲ γὰρ μητέρα ἀτυχοῦσαν ἀφεῖναι ἂν ἔρημον, τοῦτο δὲ οὐκ ἀτιμότερον. 23 Ἀλλὰ τά γε τῶν ἡμετέρων λόγων νῦν πλέον ἢ πρότερον ἥττηται τῶν ἑτέρων, ὥσθ’ ἡμῖν καὶ φόβον ὑπὲρ αὐτῶν γενέσθαι, μὴ ἐκκοπῶσιν ὅλως, νόμου τοῦτο ποιοῦντος. γράμματα μὲν οὖν καὶ νόμος τοῦτο οὐκ ἔπραττεν, ἡ τιμὴ δὲ καὶ τὸ τῶν τὴν Ἰταλὴν ἐπισταμένων γενέσθαι τὸ δύνασθαι. 24 In einem Brief an Priskos etwa (Libanios, Epistulae 947 F) stellt Libanios die Römer den Barbaren gegenüber (ἔδωκε [sc. Julian] Ῥωμαίων μὲν ἄρχειν, βαρβάρους δὲ ἐλαύνειν), in einem Schreiben an Richomer (Epistulae 972 F) gibt Libanios zu, dass sich Antiochia (bzw. Daphne) nicht mit Rom vergleichen könne. Ähnliches lässt sich auch bei Himerios beobachten, der zwar einerseits nicht müde wird, insbesondere die Leistungen seiner Vaterstadt Athen als der Archegetin hellenischer Bildung zu rühmen, andererseits aber auch durchaus positive Wertungen der Stadt Rom oder ihres mythischen Gründers Romulus in den Gang seiner Argumentation einfließen lässt, siehe Himerios, Orationes 37,1–2; 41,9; 62,5 (Lob Roms, das allerdings der noch größeren Pracht Konstantinopels, des neuen Roms, unterliegt). Viele der genannten ‚Hellenen‘ verfügten zudem schon berufsbedingt über mehr oder weniger weitreichende Kenntnisse der römischen Verwaltungsstrukturen wie etwa Themistios, der einen Großteil seines Lebens am kaiserlichen Hof, z.T. mit eigenen politischen Funktionen verbrachte (was wohl kaum ohne gewisse Kenntnisse des Lateinischen denkbar ist; zur Bedeutung des Römisch-Lateinischen für Themistios siehe Stenger [2009], S. 129, der zurecht darauf hinweist, dass Themistios auch römische Exempla in seine Reden einbringt), oder der bereits erwähnte Himerios, der, wie aus vielen seine Reden hervorgeht, mit zahlreichen hochgestellten Personen der römischen Verwaltung Kontakt hatte. Auch Libanios selbst hielt trotz seiner Defizite im Lateinischen (Rochette [1997], S. 132–134; Stenger [2009], S. 19f.) Briefkontakt mit verschiedenen Vertretern der paganen Elite Roms.

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rum des Libanios (um bei diesem zu bleiben) in einem privaten Kontext gegenüber Lateinern darauf hin, dass in der demonstrativen Ablehnung alles nicht Hellenischen die Abgrenzung vor allem als eine gegenüber dem christlichen, d.h. nicht-paganen Bereich vorgenommen wird. In einem Brief an den wie Libanios selbst aus Antiochia stammenden, aber Latein schreibenden Ammianos Marcellinus 25 äußert er sich dezidiert positiv über Rom als Hort der Bildung und Zierde der Welt (vgl. Libanios, Epistulae 1063 F): „Du bist zu beneiden um Rom und Rom um dich; denn du hast eine Stadt gewonnen, die ihresgleichen sucht in der ganzen Welt, und diese Stadt hat einen Mann gewonnen, der nicht zurücksteht hinter ihren Bürgern, deren Vorfahren Götter waren. Es wäre für dich bereits rühmlich, wenn du dich in einer solchen Stadt schweigend aufgehalten und die Reden, die andere dort halten, angehört hättest – bringt doch Rom viele Redner hervor, die den Spuren der Väter folgen.“ 26

Von einer Ablehnung des Westens oder Vorbehalten gegenüber der lateinischsprachigen Sphäre per se kann hier keine Rede sein. 27 Im Sinne einer gemeinsamen Identität wird vielmehr die explizit pagane Haltung des jeweiligen Gegenübers betont. 28 Dieser Sachverhalt lässt es ratsam erscheinen, den Aspekt der Sprachbeherrschung (der bei der Betrachtung sprachlich-kultureller Identitäten grundsätzlich wichtig ist und in zahlreichen Untersuchungen analysiert wurde 29) beiseite zu lassen und das Augenmerk stattdessen auf den Aspekt des Bildungshorizonts zu legen, über den man – je nach kulturell-religiöser Identität – in der 25 Zur Wahl des Lateinischen durch Ammianus siehe Szidat (1977), S. 21–27. 26 Καὶ σὲ ζηλῶ τοῦ Ῥώμην ἔχειν κἀκείνην τοῦ σέ· σὺ μὲν γὰρ ἔχεις ᾧ τῶν ἐν γῇ παραπλήσιον οὐδέν, ἡ δὲ τὸν τῶν ἑαυτῆς πολιτῶν, οἷς πρόγονοι δαίμονες, οὐχ ὕστερον. ἦν μὲν οὖν δή σοι μέγα καὶ τὸ μετὰ σιγῆς ἐν τῇ τοιαύτῃ διάγειν καὶ τὸ λόγους ὑπ’ ἄλλων λεγομένους δέχεσθαι—πολλοὺς δὲ ἡ Ῥώμη τρέφει ῥήτορας πατράσιν ἀκολουθοῦντας. 27 Hierzu siehe auch Kraus (2012), v.a. S. 127–133, der darauf hinweist, dass Libanios zunächst sogar versuchte, einen Lehrstuhl für römisches (!) Recht in Antiochia einzurichten, um seine Studenten davor zu bewahren, sich zwischen (griechischem) Rhetorikunterricht und (römischem) Rechtsunterricht entscheiden zu müssen (128f.). Zu den Kontakten des Libanios zu verschiedenen Vertretern der westlichen Elite siehe auch Stengers Beitrag in diesem Band. 28 Das Motiv des Rückbezugs auf die paganen Gottheiten, das zwischen Scheiber und Adressat eines Briefes Gemeinsamkeiten schaffen soll, zieht sich wie ein roter Faden durch das Briefcorpus des Libanios; neben den bereits erwähnten Schreiben an prominente Adressaten sei exemplum gratia auf einen Brief an Maximos (Epistulae 694 F bezüglich der Restaurierung des paganen Götterkults) sowie einen an Alexandros (Epistulae 1411 F anlässlich komplexer Religionszugehörigkeiten innerhalb ein und derselben Familie) hingewiesen. Zur Betonung der paganen Religiosität bei Libanios im Verbund mit der paganen paideia siehe Stenger (2009), v.a. S. 71–79. 29 Zum Phänomen einer weitverbreiteten Zweisprachigkeit im Imperium Romanum der Spätantike gehört auch die Einrichtung lateinischer wie griechischer Lehrstühle (etwa in Konstantinopel [siehe Rochette 1997, S. 141f.], Athen oder Rom; zur Einrichtung von Lehrstühlen beider Sprachen im gesamten Reich siehe Kraus [2014], v.a. S. 138) sowie das erstaunlichen Anwachsen zweisprachiger Papyri im 4. und 5. Jahrhundert als Beleg für einen lateinischen Unterricht auch in griechischen Kontexten; hierzu siehe zusammenfassend Gärtner (2005), S. 16f.; außerdem Marrou (1957), S. 377.

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Spätantike verfügte. Denn Bildung, d.h. nach antikem Verständnis vor allem die fundierte Kenntnis der literarischen und philosophischen ‚Klassiker‘, verfügte nach althergebrachter, d.h. paganer Vorstellung über eine erhebliche religiöse Komponente. Ein augenscheinlicher und vor allem praktisch-politischer Beleg dafür ist z.B. das Bemühen von paganer Seite, Christen nicht die Deutungshoheit und Lehrbefugnis in den offensichtlich für die eigene Identität als zentral empfundenen Bereichen der Bildung und Literatur zu überlassen. Kaiser Julian erließ mit dem sogenannten Rhetorenedikt 30 ein Verbot, das Christen den Unterricht im Kernbereich kultureller Vermittlung, d.h. in der Rhetorik, untersagte, 31 ein Umstand, der von dem wachen Bewusstsein der stark religiös verankerten Funktion paganer Bildung zeugt. Es geht bei den Auseinandersetzungen in ‚Bildungsfragen‘ folglich nicht um ‚bildungsbürgerliche‘ Konflikte (etwa zwischen Griechen und Lateinern, wenngleich althergebrachte Befindlichkeiten dieser Art natürlich latent mitschwingen können), sondern vor allem um Fragen der religiösen Identität. Dies führt zu der Frage, worin die Bildung im Sinne ‚hellenischer‘ Identität eigentlich bestand. Grenzte sich diese sowohl gegenüber aller nicht-paganen wie nicht-griechischen Bildung ab (womit impliziert ist, dass es im Bereich der paganen Bildung neben der griechischen etwa auch eine lateinische Bildung gab, die als voneinander unabhängig zu denken wären), oder ging es in erster Linie darum, die pagane Bildung als solche (griechisch wie lateinisch) gegenüber dem Christentum abzugrenzen? Zur Klärung dieser Frage ist es notwendig, zwei Sachverhalte zu berücksichtigen. Erstens – in Hinsicht auf innerpagane Differenzierungen –, inwiefern pagane griechische und lateinische Texte als ein gemeinsames Feld bzw. literarisches ‚Netz‘ zu verstehen sind (was vor allem hinsichtlich der Rezeption lateinischer Texte im griechischen Milieu lange Zeit nicht unumstritten war und im Nachweis weiterhin mit nicht unerheblichen methodischen Problemen verbunden ist). Zweitens – auf einer eher theoretischen Ebene – die Differenzierung zwischen christlichen und paganen Vorstellungen, d.h. ob sich hier wie dort unterschiedliche ‚Bildungskonzepte‘ erkennen lassen, die jeweils Rückschlüsse auf eine Ausdifferenzierung von (griechischem) Osten und (lateinischem) Westen erkennen lassen. Ein für die Beantwortung der ersten Frage besonders aufschlussreiches Teilgebiet antiker eruditio bzw. paideia ist die Dichtung. Im Unterschied zu anderen ‚Bildungs-Disziplinen‘ wurde hier keine der beiden Sprachen als ausschließlich oder zumindest vornehmlich angemessen empfunden (wie im Bereich von Philosophie, Rhetorik und Medizin das Griechische, im Bereich des Rechts, des Militärs oder der Administration das Lateinische) 32; eine reichhaltige und qualitativ hochwerti30 CTh XIII 3, 5 Mommsen. 31 Zum Problem des (ursprünglichen) genauen Wortlauts und inhaltlichen Umfangs des Edikts siehe Harries (2012), v.a. S. 130f. Zur im erhaltenen Wortlaut nicht ohne weiteres offensichtlichen Zielsetzung des Rhetorenedikts oder -gesetzes siehe Rosen (2006), v.a. S. 270–273. 32 Zur Bedeutung der Medizin im Rahmen hellenischer Identität siehe Stenger (2009), v.a. S. 57–59; 61; 63–69; zur Bedeutung des Lateinischen im Bereich von Militär, Verwaltung und

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ge Dichtungsproduktion auf beiden Seiten ist hierfür der beste Beleg. Dabei erweist sich das Bild einer gesamt-paganen, griechische wie lateinische Texte einbeziehenden Dichtung bei genauerem Hinsehen als höchst komplex und erläuterungsbedürftig. Denn obwohl sich für nahezu alle bedeutenden Dichter der Kaiserzeit und Spätantike namhafte Stimmen finden, die die Kenntnis wenn nicht Transtextualität 33 eines Textes in Bezug auf Vertreter des jeweils anderen Sprachraums konstatieren (angefangen bei Quintus von Smyrna 34 über Triphiodor, 35 den anonymen Verfasser der Argonautika des Orpheus 36 bis Nonnos,37 um von den lateinischen Vertretern ganz zu schweigen), hat es sich in vielen konkreten Fällen als höchst schwierig erwiesen, die entsprechenden Nachweise im Sinne unwiderlegbarer Beweise zu erbringen, da die Sprachverschiedenheit ein oft unüberwindbares Hindernis im Sinne eindeutiger Evidenz darstellt. Ein entscheidener Schritt bestand folglich darin, vom ewig problematischen Suchen nach direkten Zitationen Abschied zu nehmen und stattdessen die komplexen motivischen, narrativen oder poetologischen Konzeptionen, in deren Bahn sich eine die griechische wie lateinische Dichtung umfassende, gegenseitige literarische Rezeption nachvollziehen lässt, in den Blick zu nehmen. Auch unter diesem erweiterten Blickwinkel hat es sich zwar im Detail oft als problematisch erwiesen, einen griechischen Text als Hypertext eines lateinischen Hypotextes zu erweisen (und umgekehrt) 38: Das Argument der Skeptiker, die auch motivische oder narrative Parallelen mit gemeinsamen Vorlagen, dem Vorhandensein von (z.B. mythologischen) Handbüchern oder dem allgemeinen Charakter von Motiven erklären, wiegt i.d.R. schwer. Dass ein solches Unterfangen andererseits prinzipiell – unter geeigneten Voraussetzungen – möglich ist, lässt sich an einem Beispiel aber dennoch demonstrieren. Wenn etwa in den (griechischen) Argonautika des Orpheus (vermutlich 5. Jahrhundert) beschrieben wird, wie die Argonauten bei ihrem Aufenthalt in Kyzikos am Ufer des heutigen Marmarameeres der Göttin Rhea im Hinterland ein Versöhnungsopfer darzubringen haben (Argonautika des Orpheus 546–555), da sie versehentlich ihren Gastgeber, der ebenfalls Kyzikos heißt, um-

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Recht siehe Rochette (1997), S. 147 („[…] la langue officielle de l’armée romaine était le latin“); S. 208 („Il faut attendre l’époque où une connaissance du droit romain – et donc du latin – fut exigée des hellénophones qui souhaitaient faire carrière dans l’administration […]“). ‚Transtextualität‘ hier verstanden nach Genette (1993), S. 9f. als auf andere Texte verweisende, „textuelle Transzendenz“. Becker (1913); Keydell (1954); D’Ippolito (1988), v.a. S. 379; siehe aber auch D’Ippolito (1985) mit ausführlicher weiterer Literatur. Noack (1892), v.a. S. 457–460. Venzke (1941), S. 111f.; Vian (2002²), S. 22–28; Schelske (2011), S. 5f;30. D’Ippolito (1964), v.a. S. 69–85, v.a. S. 75. Irmscher (1985), S. 281 hat darauf noch einmal nachdrücklich hingewiesen, indem er eine wenn auch nie unumstrittene, sich aber doch hartnäckig haltende Meinung so charakterisierte, dass es „zu den Paradoxa unserer Wissenschaft [gehört], dass die historische Einheit des griechisch-römischen Altertums allgemein anerkannt ist, dass aber die Literatur ebendieses griechisch-römischen Altertums keineswegs als wechselseitige Einheit erfasst wird.“

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gebracht haben (Argonautika des Orpheus 523–525), so löst es beim Rezipienten nicht unerhebliche Verwunderung aus, dass gleich im Anschluss an die Schilderung des Rhea-Opfers (Argonautika des Orpheus 601–617) recht unmotiviert davon die Rede ist, dass die Argonauten am Ufer des Meeres – nach der Rückkehr aus dem Landesinneren und bereits an Bord der Argo zurückgekehrt – einen zweiten, offensichtlich von ihnen selbst errichteten Altar erblicken (Argonautika des Orpheus 626–628), der nachfolgende Generationen an das hier Geschehene erinnern soll, ein erzähllogisch auffälliges Detail. Interessanterweise finden sich nun in den beiden anderen großen Argonauten-Epen der Antike, den (griechischen) Argonautika des Apollonios Rhodos sowie den (lateinischen) des Valerius Flaccus beide Altar-Verortungen wieder, nämlich die im Landesinnern bei Apollonios (1,1123f.) und die am Strand bei Valerius (3,426f.), ein Umstand, den der (griechische) Verfasser der Argonautika des Orpheus dazu nutzte, das Motiv zu verdoppeln – und den Aspekt der Notwendigkeit des Sühneopfers im Sinne religiöser Notwendigkeit damit womöglich noch stärker zu betonen, ein in diesem Epos auch sonst stark verankerter Zug. 39 Die Konstellation verschiedener Texte zueinander ist in vielen Fällen nicht so günstig wie im vorgeführten Beispiel; es wird aber deutlich, dass unter bestimmten Voraussetzungen die enge Vernetzung griechischer und lateinischer Texte (und zwar in beide Richtungen) als plausibel anzunehmendes Szenario gelten kann. Abgesehen von Fällen intertextueller Vernetzung, die implizit erfolgen, ist die enge gegenseitige Verzahnung des Literaturbetriebs (auch über die Dichtung hinaus) in zahllosen Fällen zudem evident, etwa wenn sie explizit erfolgt. Die Beispiele hierfür sind zahllos und größtenteils allgemein bekannt, auf die Kenntnis und Nutzung lateinischer Geschichtsschreibung durch die griechischen ‚Kollegen‘ 40 sei nur en passent hingewiesen, auch die vorhandenen Grammatiken, die es Griechen ermöglichte und erleichterte, Latein zu lernen, 41 die in Verwaltungsund Militärkreisen ohnehin zwangsläufig vorhandenen zweisprachigen Kenntnisse 42 und die interessanten, vor allem im 5. Jahrhundert in Ägypten vermehrt auftretenden zweisprachigen Papyri 43 gehören hierher. Gleichzeitig bedeutet die Kenntnis der lateinischen Literatur durch Griechen natürlich nicht notwendigerweise deren Wertschätzung oder die ihrer Verfasser; 44 zudem kann die Auseinandersetzung mit relevanten Hypotexten des anderen Sprachraums im Rahmen der 39 Zum religiös-philosophischen Charakter der Argonautika des Orpheus siehe Schelske (2011), v.a. S. 67–115. 40 Dihle (1989), z.B. 357f. (Cassius Dio); 491 (Zosimos); siehe außerdem Werner (1983), S. 592; Reichmann (1943), S. 3–9. 41 Zu nennen ist hier etwa die griechisch-lateinische Grammatik des Dositheus aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts, siehe Dihle (1989), S. 450; hierzu sowie zu den sogenannten Pseudo-Dositheana siehe auch Marrou (1957), S. 385–387. 42 Werner (1983), S. 591. 43 Zu den bilingualen Papyri siehe etwa Gärtner (2005), S. 16–18. 44 Schon in Lukians Nigrinus etwa oder in De mercede kommt der beißende Spott über das Römisch-Lateinische zum Ausdruck, siehe auch Reichmann (1943), S. 12f.

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griechisch-lateinischen Dichtung der späten Kaiserzeit und Spätantike auch durch bewusste Abweichung oder Aussparung von als kanonisch geltenden Vorbildern erfolgen. 45 Alle genannten Beispiele und Aspekte sind jedenfalls darin eindeutig, dass lateinische Dichter durch ihre griechischen Kollegen offensichtlich zur Kenntnis genommen und wie selbstverständlich rezipiert wurden – was umgekehrt ohnehin evident ist und nie ernstlich bestritten wurde. Dies gilt z.T. sogar für diejenigen Bereiche, in denen auf griechischer wie lateinischer Seite in der Tendenz eine der beiden Sprachen dominierte wie im Bereich der Philosophie das Griechische. Dies zeigt beispielhaft eine Schrift wie der anonym überlieferte Dialog über die Wissenschaft der Politik, der De scientia politica dialogus aus dem 6. Jahrhundert, verfasst vermutlich in Byzanz zur Zeit Justinians.46 In diesem Dialog, von dem nur Teile überliefert sind, geht es um Fragen der konkreten Staatsführung wie um den idealen Staat im Allgemeinen. Protagonisten sind Menas und Thomas, beide an historische Personen angelehnte Charaktere der hohen Reichsverwaltung. 47 Interessant ist nun, dass in diesem griechisch-sprachigen Traktat in großem Stil nicht nur auf Platons Politeia und platonische Staats- und PoliteiaModelle rekurriert wird, was nur natürlich wäre. Neben Platon wird aber wie selbstverständlich auch auf Cicero (Dialogus V 48.64.209 u.ö. 48), Cato (V 151f.), Livius (V 161), Seneca (V 161) oder Juvenal (V 147) Bezug genommen. Auch deren Erwähnung und Allusion bedarf offenbar beim intendierten Publikum des Dialogus keiner weiteren Rechtfertigung oder Erklärung, die Kennntnis auch der lateinischen Literatur wird kommentarlos vorausgesetzt. Der Verfasser des Dialogus lässt einen seiner Protagonisten sogar explizit sagen, dass er sich, um Ciceros Einschätzung des Sokrates zu zitieren, sehr gerne des Lateinischen bediene (Dialogus V 209): „Denn sehr zurecht benennt Cicero den Sokrates, wenn er ihn einen ‚Anführer‘ sowie – um mich von mir aus auch selbst lateinisch auszudrücken – einen ‚princeps‘ der gesamten wahrhaften Philosophie nennt.“ 49

Lateinische Autoren werden herangezogen, sofern es nur inhaltlich sinnvoll ist und im Bereich der lateinischen Literatur relevante Positionen und Werke vorhanden sind, was im Fall Ciceros, Catos oder Senecas offenbar so empfunden wurde. Wie in den weiter oben diskutierten Bereichen der Dichtung (Quintus von Smyrna, Triphiodor, Argonautika des Orpheus, Nonnos), der Geschichtsschreibung (Cassius Dio, Zosimos) oder der Rhetorik bzw. Grammatik (Dositheus) sind auch im Bereich der politischen Philosophie wesentliche Beiträge von lateinischen Verfassern erbracht worden, die, indem sie als solche im Rahmen griechi45 Bär (2009), S. 16 mit Verweis auf Cuypers (bezüglich der Posthomerica des Quintus Smyrnaeus im Verhältnis zu Vergils Aeneis). 46 Mazzucchi (2002), S. XV datiert die Schrift auf 532/3 n. Chr. 47 Mazzucchi (2002), S. XIII–XV. 48 Zur Bedeutung insbesondere Ciceros für den Dialogus siehe Bell (2009), S. 64–72. 49 Εὖ γὰρ ὀνομάζει Κικέρων Σωκράτη, ἀρχηγὸν καί, ἵνα ἑκὼν ῥωμαΐσω καὶ αὐτός, πρίγκιπα τῆς ὅλης καὶ ἀληθοῦς φιλοσοφίας ἀποκαλῶν.

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scher Texte gewürdigt werden, einen gemeinsamen Bildungshorizont, der griechische wie lateinische Literatur und Diskurs-Beiträge gleichermaßen umfasst, erkennen lassen. Vor diesem Hintergrund stellt sich daher die Frage, ob von einem Auseinanderdriften von Osten und Westen, von griechischer und lateinischer Sphäre seit dem 4. Jahrhundert überhaupt die Rede sein sollte. Den bis hierhin formulierten Ausführungen zum Trotz lassen es verschiedene Entwicklungen und Ereignisse, angefangen von der Abschaffung des Lateinischen als Amtssprache unter Herakleios um 630, 50 die nachweislich abnehmenden Sprachkenntnisse des Griechischen im Westen wie des Lateinischen im Osten, 51 vor allem aber die zunehmenden Konflikte innerhalb der neuen Leitidentität, dem Christentum, die sich in zahlreichen Krisen, anbahnenden Schismen und Konzilskonflikten äußerten,52 dennoch angebracht erscheinen, von dem eingangs erwähnten Prozess einer Entfremdung zu sprechen. Doch wie ist ein solches Paradoxon einer Entfremdung einerseits bei gleichzeitiger, zumindest zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert literarisch manifester, gegenseitiger kultureller Durchdringung und Anerkennung zu erklären? In diesem Kontext ist es hilfreich, für einen Augenblick noch einmal zum Dialogus de scienta politica aus dem 6. Jahrhundert zurückzukehren oder besser: einen Umstand ins Auge zu fassen, der bislang unerwähnt blieb. Denn obwohl der Text unter Justinians Herrschaft in Konstantinopel entstanden sein dürfte, spricht vieles dafür, dass sein Verfasser nicht Christ, sondern Vertreter der alten paganen Identität war. 53 Dies soll nicht bedeuten, dass auf christlicher Seite nicht Personenkreise existiert hätten, die aufgrund ihrer ausgeprägten und ganz am alten ‚Klassiker-Kanon‘ ausgerichteten paideia bzw. eruditio ebenfalls in der Lage gewesen wären, einen Text wie den Dialogus zu verfassen. 54 Doch Beispiele für die explizite Wertschätzung des jeweils anderen Sprachbereichs als solchem 50 Rochette (1997), S. 143; 341. 51 Rochette (1997), passim. 52 Für das 4. Jahrhundert siehe Hauschild (2000²), S. 33f. sowie passim für die späteren Jahrhunderte; einen entsprechenden Überblick für das 4. und 5. Jahrhundert bieten auch Gottlieb/Rosenberger (2003), v.a. S. 27–40; zur Verwobenheit von kirchlichen mit machtpolitischen Streitigkeiten siehe zudem Heuss (20018), S. 364–472; zur Einheit der Kirche Hauschild (1986), S. 9. 53 Ich folge hierin den Einschätzungen von Bell (2009), S. 76–79 und O’Meara (2003), 59. Darauf, dass der Verfasser des Dialogus dem paganen Spektrum zuzuordnen ist, deutet auch die Erwähnung einer Region der Seligen (V 166) für das Leben nach dem Tod sowie das in V 194 angedeutete Konzept der Welt als einer irdischen Kolonie nach himmlischem Muster (das eher in platonische als in christliche Richtung zu weisen scheint, siehe O’Meara [2002], S. 53; O’Meara [2003], S. 176; Bell [2009], S. 183; zu platonischen Jenseitsvorstellungen siehe außerdem Männlein-Robert [2012], S. 17–30 sowie Männlein-Robert/Schelske [2012], S. 83–92, v.a. 86; 91f.). 54 Nicht nur für die Kirchenväter des 4. Jahrhunderts, etwa Basilios, Gregor von Nyssa oder Gregor von Nazianz steht eine außerordentliche, am klassischen Kanon geschulte Bildung außer Frage, sondern auch die umfassende Bildung eines Isidor im 6./7. Jahrhundert führt diese Tradition fort (wenngleich sie nicht mehr die Regel dargestellt zu haben scheint).

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sind im Bereich christlicher Autoren rar gesät. Vorherrschend (im lateinischen Westen) sind tendenziell eher häufig emotional gefärbte Bekenntnisse wie dasjenige Augustins, gegenüber dem Griechischen (als Junge) heftige Abneigung verspürt zu haben, 55 oder (auf griechischer Seite) Äußerungen wie die des Gregor von Nyssa, der Libanios (!) gegenüber in einem Brief die lateinische Sprache einerseits als barbarisch bezeichnet und – hierin dem Adressaten durchaus vergleichbar – davon spricht, dass sich diejenigen, die sich aus Geldgründen dem Lateinischen zuwendeten, wie Deserteure und Fahnenflüchtige verhielten (Gregor von Nyssa, Epistulae 14,6): „Denn ich halte es nicht für eine gute Entscheidung, wenn einige einen Fehler machen, indem sie von der griechischen zur barbarischen Sprache desertieren, Söldner werden und den Soldatenlohn anstelle des Ruhms in der Redekunst wählen, daß Du deshalb die Redekunst verurteilst und Schweigen über das Leben verhängst.“ 56 (Ü Teske)

Es ist daher aufschlussreich, sich im Sinne des zweiten oben formulierten Sachverhalts der Frage nach möglichen, im Hintergrund solcher Äußerungen stehenden Bildungskonzeptionen zuzuwenden. In etwa zeitgleich zu dem eben erwähnten Dialog über die Politik als Wissenschaft, d.h. ebenfalls im 6. Jahrhundert, verfasste Cassiodor seine höchst bedeutsame, über Jahrhunderte wirkmächtige Einführung in die Wissenschaften – und zwar in die geistlichen wie die weltlichen –, die als Kontrastfolie zu einem Werk wie dem Dialogus, aber auch dem gesamten griechisch-römischen Panorama der Spätantike, wie es weiter oben skizziert wurde, geeignet sind. Die Institutiones sind deshalb besonders aufschlussreich, da sie aus der Sicht desselben Verfassers unterschiedliche Gewichtungen für den anzustrebenden Bildungshorizont der adressierten Schüler offenbaren, ein Umstand, der als solcher deutlicher in den Vordergrund gerückt zu werden verdient als bislang geschehen. So beginnt Cassiodor seine Unterweisung in die geistlichen Wissenschaften mit den Kirchenvätern und der Heiligen Schrift. Dabei werden, obwohl seine Schüler dem lateinischen Westen entstammen, zunächst zwar auch griechische Kirchenväter erwähnt, etwa der, wie Cassiodor selbst formuliert, nicht unproblematische Origenes. Doch nach einem solchen Auftakt fährt Cassiodor programmatisch fort, dass der Blick fortan und ganz fokussiert auf die lateinisch-sprachige Literatur und Schriften gerichtet werden solle (Cassiodor, Institutiones 1, 4): „Es heißt, die Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments seien von der ersten bis zur letzten Zeile auf griechisch von Clemens aus Alexandrien mit dem Beinamen Stromateus, von Bischof Cyrill aus derselben Stadt, von Johannes Chrysostomos, Gregor und Basilius und nicht zuletzt auch von anderen hochgelehrten Männern ausgelegt worden, die das redegewandte Griechenland feiert. Wir dagegen wollen lieber mit Hilfe des Herrn den lateinischen

55 Augustinus, Confessiones 1,13f. 56 Οὐδὲ γὰρ καλῶς ἔχειν φημὶ κρίσεως, εἴ τινες ἁμαρτάνουσι πρὸς τὴν βάρβαρον γλῶσσαν ἀπὸ τῆς Ἑλληνίδος αὐτομολοῦντες καὶ μισθοφόροι στρατιῶται γινόμενοι καὶ τὸ στρατιωτικὸν σιτηρέσιον ἀντὶ τῆς ἐν τῷ λέγειν δόξης αἱρούμενοι, διὰ τοῦτό σε καταδικάζειν τῶν λόγων καὶ ἀφωνίαν τοῦ βίου καταψηφίζεσθαι.

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Oliver Schelske Verfassern folgen – wir schreiben ja schließlich für Italer und möchten daher gerne auch die römischen Schriftausleger mühelos zugänglich machen. Außerdem nimmt jeder viel lieber das an, was in der Sprache seiner Väter gesagt wird.“ 57 (Ü Bürsgens)

Eine solche Einengung des Blickwinkels mutet auf den ersten Blick natürlich an und ist – etwa in pädagogischer Hinsicht – sicherlich nachvollziehbar. Auch der Umstand, dass schriftliche Arbeiten wie Lektüre in der eigenen Sprache naturgemäß leichter von der Hand gehen und in diesem Sinne erstrebenswert sind, findet sich bereits bei Libanios im paganen Spektrum (s.o.). Doch bei Libanios findet sich im Unterschied zur vorliegenden Stelle auch das Lob der Anstrengung in der Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Kultur und die Anerkennung dieses Bestrebens im Sinne einer vollendeten Bildung (wie in dem bereits zitierten Brief an den Lateiner Postumianus 58 oder in der Anerkennung römischer Redner im Brief an Ammianus Marcellinus) 59. Dieser Aspekt spielt für Cassiodor (und soweit ich es sehe, auch für alle anderen Bildungsprogramme auf christlicher Seite) keine nennenswerte Rolle. Wie stark die veränderten Lehrinhalte sich auf die sich abschwächende und letztlich gänzlich schwindende Ermunterung zur Beschäftigung mit einem lateinische wie griechische Texte umfassenden Kanon auswirkt, wird besonders eindrücklich deutlich, wenn derselbe Cassiodor seinen Lesern im zweiten Buch, wenn es um die weltliche Bildung geht, wie selbstverständlich den Umgang mit den Texten griechischer Autoren empfiehlt und dringend nahelegt. So wird die Parallelität von griechischer und lateinischer Literatur betont, wenn es darum geht zu erklären, was unter einem Dichter bzw. einem Redner zu verstehen ist (Cassiodor, Institutiones 2, praef. 4): „[…] wie das Wort ‚Dichter‘ gebraucht wird: Bei den Griechen versteht man darunter Homer, bei den Lateinern Vergil. Fällt dagegen das Wort ‚Redner‘, so meint man bei den Griechen Demosthenes, bei den Lateinern Cicero – ungeachtet der vielen Dichter und Redner, die in beiden Sprachen Unterrichtsgegenstand sind.“ 60 (Ü Bürsgens, leicht modifiziert)

Kurz darauf betont Cassiodor noch einmal, dass sich seine folgenden Ausführungen auf griechische wie lateinische Autoren gleichermaßen zurückführen ließen (Cassiodor, Institutiones 2, praef. 5):

57 Ferunt itaque Scripturas divinas veteris novique Testamenti ab ipso principio usque ad finem Graeco sermone declarasse Clementem Alexandrinum cognomento Stromateum et Cyrillum eiusdem civitatis episcopum et Iohannem Chrysostomum, Gregorium et Basilium, necnon et alios studiosissimos viros quos Graecia facunda concelebrat. Sed nos potius Latinos scriptores Domino iuvante sectamur, ut quoniam Italis scribimus, Romanos quoque expositores commodissime indicasse videamur. Dulcius enim ab unoquoque suscipitur quod patrio sermone narratur. 58 Libanios, Epistulae 1036 F. 59 Libanios, Epistulae 1063 F. 60 […] ut poeta dictus intellegitur apud Graecos Homerus, apud Latinos Vergilius, orator enuntiatus apud Graecus Demosthenes, apud Latinos Cicero declaratur, quamvis multi et poetae et oratores in utraque lingua esse doceantur.

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„Auch wollen wir nicht verschweigen, dank welcher sowohl griechischen als auch lateinischen Autoren die von uns behandelten Kommentare Berühmtheit erlangt haben. Hierdurch sollen die, die eine umfassende Lektüre wünschen, nach einer Einführung in Gestalt von knappen Zusammenfassungen die Worte der Vorfahren klarer erfassen.“ 61 (Ü Bürsgens)

Im weiten Verlauf des zweiten Buches wird Cassiodor zudem immer wieder auch auf die exakte Nennung des griechischen Wortlauts Wert legen. 62 Das offensichtliche Bestreben, die Schüler mit griechischem Wissen sowie explizit mit griechischem Wortlaut vertraut zu machen, d.h. den lateinischen Horizont bewusst zu erweitern, ist – vor allem hinsichtlich der Diskrepanz in Bezug auf Cassiodors Ausführungen im 1. Buch im Kontext der geistlichen Studien – bemerkenswert. Aus diesem Befund lassen sich nun einige Schlussfolgerungen ziehen. Cassiodors programmatische Ausführungen sollen wie der in deutlichem Kontrast dazu stehende pagane Dialogus als typisch für ihren jeweiligen Kontext aufgefasst werden. Die Institutiones etwa nehmen Entwicklungen auf, die sich bereits viel früher im Christentum ausmachen lassen. So lässt sich das Phänomen der Konzentration auf den eigenen Sprachraum auf christlicher Seite schon früh wahrnehmen. Dazu gehört, dass – ganz abgesehen von den Schriften des Neuen Testaments – die Sprache der Kirche in den ersten zwei Jahrhunderten ohnehin nur das Griechische war und von einer Zweisprachigkeit bzw. einem beide Sprachsphären umfassenden Horizont daher nicht die Rede sein konnte; selbst in Rom wurde der Ritus erst unter Papst Damasus latinisiert. 63 Sprachprobleme bzw. die Notwendigkeit, komplexe Sachverhalte sprachlich korrekt in das jeweils andere Idiom zu übertragen, sind daher ständiger Begleiter aller Konzilien gewesen und machten es notwendig, Dolmetscher – in beide Richtungen – von Anfang an hinzuzuziehen. 64 Hinzu kommt, dass Äußerungen wie der bereits erwähnte Brief des Gregor von Nyssa an Libanios, in dem der griechische Kirchenvater dem paganen Rhetoriklehrer die Überlegenheit der griechischen Sprache gegenüber dem Lateinischen versicherte (und womit er vermutlich in beruflicher Hinsicht offene 61 Neq illud quoque tacebimus, quibus auctoribus tam Graecis quam Latinis quae dicimus exposita claruerunt, ut qui studiose legere voluerint, quibusdam compendiis introducti lucidius maiorum dicta percipiant. 62 Siehe z.B. (Cassiodor, Institutiones 2,3,14): Definitionum prima est usiodes, id est, substantialis […]. Secunda est species definitionis, quae Graece ennoëmatice dicitur, latine enuntiatio nuncupatur […]. Tertia species definitionis est, quae graece pyoedes dicitur, latine qualitatiua […]. Quarta species definitionis est, quae graece hypographice, latine descriptionalis nuncupatur, […] etc.' [Kursive durch OS]. Die erste Definitionsart ist οὐσιώδης, das heißt wesentlich […]. Die zweite Definitionsart ist die, die im Griechischen ἐννοηματική beziehungsweise im Lateinischen Aussage heißt […]. Die dritte Definitionsart ist die, die im Griechischen ποιώδης genannt wird und im Lateinischen qualitative (sc. Definitionsart) heißt. Die vierte Definitionsart ist die, die griechisch ὑπογραφή heißt, lateinisch die beschreibende (sc. Definitionsart) genannt wird […] etc. [Ü Bürsgens]. 63 Demandt (2008²), S. 288. 64 Hierzu zusammenfassend Rochette (1997), S. 150–154, v.a. 150f. mit weiterer Literatur; siehe außerdem Schwartz (1933), S. 245–253; Bardy (1948), S. 1–79.

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Türen einrannte), auch eine dahinterstehende Geisteshaltung zum Ausdruck bringen dürften. Für Gregor wie für die anderen griechischen Kirchenväter 65 spielt die Anerkennung des Lateinischen als komplementäre Größe, wie sie sogar bei Libanios in privaten Äußerungen im Rahmen des paganen Bildungungskanons erkennbar sind, keine Rolle. Auf nicht-christlicher Seite hingegen ist – nicht nur im Dialogus, sondern, wie gezeigt, in vielen Kontexten – das Bemühen erkennbar, das gesamte Spektrum der griechisch-lateinischen (nicht christlichen!) paideia zu evozieren und seiner eigenen Identität damit Ausdruck zu verleihen. Wenn trotz dieser beiden offensichtlich nebeneinander bestehenden Phänomene der Bewahrung der griechisch-römischen Bildungseinheit auf paganer und der sprachlich-kulturellen Ausdifferenzierung auf christlicher Seite ein ‚Auseinanderdriften‘ von griechischem Osten und lateinischem Westen vom 4. bis zum 6. Jahrhundert festzustellen ist, so lässt sich im Sinne eines Fazits vermuten, dass dies vor allem damit zu tun hat, dass sich die Kräfteverhältnisse zwischen diesen beiden Polen exakt in dieser Zeit entscheidend und endgültig verschoben haben. Das mentale, auf sich ausdifferenzierender Identität beruhende Auseinanderstreben von Osten und Westen in der Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert – unbeschadet der politisch-administrativen Bedeutung der Reichsteilung von 395 – findet seinen Ausdruck nicht zuletzt in einem veränderten Bildungs- und Identitätsverständnis, das mit der Deklaration des Christentums zur Staatsreligion im Jahr 381 einhergeht und u.a. in Cassiodors Institutiones repräsentiert wird. Die tieferliegenden Gründe für diese Entwicklung wie Re-Regionalierungstendenzen, die mit der Ausbreitung des Christentums einhergingen, 66 sowie die stärkere Beachtung volkssprachlicher Literatur und Übersetzungen 67 sind als wichtige Faktoren bereits herausgearbeitet worden. Auch dass die fortschreitende Christianisierung als ein wesentlicher Faktor für das ‚Ende‘ des Römischen Reiches in seiner althergebrachten, Osten und Westen umfassenden Form zu verstehen ist, ist seit Gibbon vertreten und etwa von Momigliano 68 und Heuss 69 wieder aufgenommen worden. So sieht Momigliano die Auswirkungen der sich zunehmend verfestigenden kirchlichen Strukturen darin, dass „die besten Männer nicht mehr dem Staat, sondern

65 Auch Gregor von Nazianz bringt seine Unkenntnis der lateinischen Sprache unmissverständlich zum Ausdruck (Gregor von Nazianz, Epistulae 173, 1). Johannes Chrysostomos hatte in jungen Jahren zwar offensichtlich Latein gelernt, bedauerte dies aber offenbar sehr (Adversus oppugnatores vitae monasticae III 5 [=PG, 47, col. 357, l. 19–28]). 66 Brown (1996), v.a. S. 70–72; Bengtson (20029), S. 545 spricht sogar von einem „Erstarken des nationalen Bewusstseins, das in den Ländern des Ostens vor allem vom Mönchtum getragen wurde […]“. 67 Hierzu siehe Demandt (2008²), S. 289, der darauf hinweist, dass das Erstarken von Volksprachen neben dem Lateinischen und Griechischen nur solche umfasst, die ihrerseits Kirchensprachen wurden. Siehe auch Bengtson (20029), S. 539f. 68 Momigliano (1963), S. 6. 69 Heuss (20018), S. 492–496 weist darauf hin, dass nicht die innerkirchlichen Konflikte als Konsequenz der Reichsteilung, sondern vielmehr die z.T. erbittert geführten innerkirchlichen Auseinandersetzungen zur Schwächung und Desintegration des Reiches beitrugen.

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der Kirche zur Verfügung standen“. 70 Die vorliegenden Ausführungen sollten einen solchen ‚strukturalistischen‘ Ansatz hingegen erweitern und zeigen, dass sich der Prozess der Christianisierung nicht nur in strukturellen Veränderungen (wie von Momigliano beschrieben), sondern vor allem auch innerkirchlich (und damit de facto die östliche wie die westliche Reichshälfte betreffend!) auswirkte. 71 Dies zeigt besonders prägnant der Vergleich eines programmatischen Ausbildungsprogramms wie das Cassiodors im Vergleich mit einem zeitgenössischen paganen Text wie dem Dialogus, die beide je unterschiedliche Entwicklungen vom 4. bis zum 6. Jahrhundert repräsentieren. Mit der Verbreitung des Christentums ging ein gewandeltes Verständnis von Bildung einher, das den alten, d.h. paganen Literatur-, Philosophie- und Wissenschaftskanon zwar nicht aufgab, ihm aber im Unterschied zur neuen, geistlichen paideia nur den zweiten, entschieden nicht religiösen Rang zuwies (wie in der Bucheinteilung Cassiodors auch äußerlich sichtbar); sich im Bereich der geistlichen Studien dagegen auf den eigenen Sprachraum zu konzentrieren, ging vermutlich nicht zuletzt mit den Anforderungen einer Schriftreligion wie dem Christentum an sprachliche Präzision einher. Im paganen Bereich hingegen, der sich in einem komplexen, sich wechselseitig bedingenden Prozess der Fremd- und Selbstzuschreibung auch als solcher zu begreifen begann, 72 hat es, so scheint es, eine in der Kaiserzeit einsetzende und sich in der Spätantike verstärkende, auch literarisch oder in Briefen nachweisbare Form der Annäherung von griechischem Osten und lateinischem Westen gegeben. Dieses Interesse füreinander konnte sich etwa in Plutarchs kaiserzeitlichem Bestreben, durch die Konzeption seiner Doppelbiographien ein besseres Verständnis für die jeweils andere Kultur zu schaffen, niederschlagen, wie auch in den zahlreichen impliziten und expliziten Rezeptionsbeispielen griechischer Literatur durch lateinische Autoren, aber eben auch lateinischer Texte durch griechische Verfasser. Dieses Phänomen wurde allerdings durch die historische Entwicklung und die Marginalisierung der eigenen Einflussmöglichkeiten in einer zunehmend christlichen Umwelt selbst marginalisiert, so dass sich für die Zeit vom 4. bis zum 6. Jahrhundert das komplexe Bild einer im paganen Bereich sich eher verstärkenden als abschwächenden Durchdringung und gegenseitigen Anerkennung, im christlichen Bereich hingegen das eines zunehmend schwächer werdenden kulturellen Verständnisses für den jeweils anderen ergibt.

70 Momigliano (1963), S. 10f. 71 Wie tiefgehend und offensichtlich aus sich selbst heraus entstanden die innerchristlichen Differenzen zwischen den beiden Reichshälften waren, hat Meier (2008) am Beispiel unterschiedlicher Endzeiterwartungen in Ost und West herausgearbeitet (prägnant S. 66) und dabei die entscheidende Frage gestellt, ob nämlich „das antike Christentum überhaupt aus sich selbst heraus ein gesteigertes Potential gesellschaftlicher Integrationsfähigkeit [besaß]“. Es sei jedenfalls auffällig, „daß in der kurzen Phase, in der die Dominanz des Christentums im wesentlichen unbestritten war [sc. vom 4.–6. Jahrhundert], ein beachtlicher Entfremdungsprozess zwischen christlichen Gesellschaften zu beobachten ist.“ (S. 71). 72 Herrero (2010), S. 251–255; Stenger (2009), v.a. S. 110f.

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II. WAHRNEHMUNG DES ANDEREN. AUSSENPERSPEKTIVEN AUF OST UND WEST

BYZANZ IN DER WAHRNEHMUNG FRÄNKISCHER GESCHICHTSSCHREIBER DES 6. UND 7. JAHRHUNDERTS Hans-Werner Goetz ZUSAMMENFASSUNG Die Frage, welche Rolle Byzanz in den Transformationen der westlichen Königreiche gespielt hat, wird hier im Spiegel der Wahrnehmung zweier fränkischer Geschichtsschreiber, Gregors von Tours und Fredegars, untersucht: Was berichten sie über Byzanz, wie wird das bewertet und welche Schlüsse lassen sich daraus für seine Präsenz im westlichen Bewusstsein ziehen? Beide Autoren sind nicht an der byzantinischen Geschichte um ihrer selbst willen interessiert, sondern erwähnen Byzanz, das als diplomatischer Partner wichtig bleibt, eher sporadisch und im Zusammenhang mit dem Frankenreich. Die anekdotenhaften Lehrerzählungen präsentieren Byzanz darüber hinaus als Modell: für schlechte wie für ideale Kaiser, für Tugend und Treue, christliche Fürsorge, aber auch christliches Fehlverhalten und nicht zuletzt als Motor der Christianisierung. Bleibt das historische Wissen über Byzanz (und ein Interesse daran) eher gering und sein politischer Einfluss beschränkt, so gerät es doch keineswegs aus dem Blick und es wird auch nicht zur Negativfolie für die eigene Identität, sondern gewinnt hier eine neue modellhafte Bedeutung für christlich-ethische Exempelerzählungen. BYZANZ UND DER WESTEN IM FRÜHEN MITTELALTER: FRAGESTELLUNG UND FORSCHUNGSSTAND Allzu lange wurde Byzanz, historisch wie auch institutionell, bekanntlich von der abendländischen Geschichte abgetrennt, bis Byzantinisten wie Franz Dölger und Werner Ohnsorge die byzantinisch-abendländischen Beziehungen als wichtiges Forschungsfeld entdeckt haben. 1 Das hat sich heute, im europäischen Streckverband, aber auch in dem gewachsenen Interesse an Kulturtransfer und interkulturellen Bezügen, zumindest dem Anspruch nach, gründlich geändert. 2 Nahezu alle jüngeren Handbücher enthalten Abschnitte über die byzantinisch-abendländischen

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Vgl. Dölger (1953); Ohnsorge (1947); Ohnsorge (1958); Ohnsorge (1966); Ohnsorge (1983). Vgl. auch Baker (1973); Konstantinou (1997). Zur Vielfalt der Kontakte vgl. Tinnefeld (2001).

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Beziehungen. 3 Die im Tübinger Promotionsverbund und in diesem Band behandelte Epoche (400–600) ist für solche Fragen tatsächlich von besonderem Interesse, da Byzanz, nach der von Historikern wie Peter Heather immer noch (bzw. wieder) als „The Fall of the Roman Empire“ bezeichneten Auflösung des Weströmischen Reiches 4 in ein Bündel von Barbarenreichen, gerade in dieser Zeit das (einzige) Kaisertum und das Imperium Romanum (als Gesamtreich) repräsentiert oder zumindest symbolisiert und jedenfalls seinen Anspruch darauf nie aufgegeben hat. Die Frage, welche Rolle Byzanz in dem langen Prozess der „Transformation of the Roman World“ 5 tatsächlich (noch) gespielt hat − und ich bleibe, trotz Peter Heather und Bryan Ward-Perkins, 6 der gar vom „Ende der Zivilisation“ schreibt, dabei, dass es sich hier um zum Teil sehr langfristige und je nach Perspektive variable Transformationen und nicht um einen eher plötzlichen Bruch handelt − und welche Einstellung die neuen Herrscher im Westen gegenüber Byzanz eingenommen haben, ist somit ebenso zentral wie brisant. Vor allem Evangelos Chrysos hat immer wieder davor gewarnt, die Bedeutung des geographisch fernen Kaisers in diesem Prozess zu unterschätzen. 7 Wenn man heute gern die römischen Kontinuitätslinien hervorhebt − auch wenn das als notwendige Reaktion auf die germanophile deutsche Geschichtswissenschaft vergangener Zeiten vielleicht teilweise nun in der anderen Richtung überzeichnet sein mag −, dann stellt sich die Frage nach dem Anteil von Byzanz in solchen Prozessen umso dringlicher. Ein − auch in diesem Rahmen − beschrittener (und mir selbst besonders nahe liegender) Zugang ist eine Untersuchung der Wahrnehmung des jeweils Anderen: Was wusste man im werdenden Abendland überhaupt (noch) von Byzanz? Wann und in welchen Kontexten gerät es in das Blickfeld westlicher Autoren? Wie wird es dabei bewertet? Und welche Schlüsse lassen sich daraus für das Verhältnis beider Mächte und für die byzantinische bzw. kaiserliche ‚Präsenz‘ im westlichen Bewusstsein ziehen? Ist man sich, mit anderen Worten, der von Chrysos und anderen postulierten Bedeutung von Byzanz tatsächlich auch bewusst gewesen? Denn was gar nicht erst wahrgenommen, reflektiert oder diskutiert wird, ist entweder so selbstverständlich, dass es keinerlei Erwähnung bedarf, oder aber − und das ist in diesem Fall sicher wahrscheinlicher − es hat keine Bedeutung (mehr). Die Wahrnehmung von Byzanz im Westen vermag daher nicht nur Aufschluss 3

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Für das frühe Mittelalter mag hier kurz auf die vergleichende und vom Ansatz her durchaus wegweisende, allerdings auf einem in allen drei Kulturen, Abendland, Byzanz und Islam, auf einem völlig veralteten Forschungsstand basierende Arbeit von Pitz (2001), verwiesen werden, die gleichsam nach gründlicheren Tiefenbohrungen verlangt. Heather (2005). Dabei sei hier nur kurz auf die 14 Bände der im Brill-Verlag erschienenen, gleichnamigen Reihe verwiesen (die noch in der Reihe Brill’s Serien on the Early Middle Ages fortgesetzt wird). Für die politischen Aspekte sei davon stellvertretend genannt: Goetz/Jarnut/Pohl (2003). Vgl. Ward-Perkins (2005). Stellvertretend für manches verweise ich auf Chrysos (2003), der vor allem auf die gleichzeitigen Wandlungsprozesse in Byzanz selbst aufmerksam macht.

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darüber zu geben, ob und in welcher Weise man den anderen zur Kenntnis nahm, sondern lässt auch dessen Stellenwert im eigenen Bewusstsein erkennen. 8 Der Forschungsstand zu diesem Komplex ist, soweit ich sehe, eher mager, doch hat die Berner Dissertation von Fred Haenssler die Frage des westlichen Griechenbildes bereits 1960 in sämtlichen relevanten Barbarenreichen umfassend, und zwar Reich für Reich und Autor für Autor, untersucht und bietet eine Grundlage für die angesprochenen Fragenkomplexe. 9 Haensslers Darstellung ist allerdings deutlich von dem Anliegen geleitet, den Beginn einer Abgrenzung von Byzanz und die Entstehung eines negativen Griechenbildes, wie es im Mittelalter seiner Meinung nach dann vorherrschend ist (aber auch das wäre zu differenzieren), weiter hinauszuschieben und erst im Langobardenreich festzumachen. Bis dahin stellt er in allen Reichen Anerkennung und Respekt vor dem Vertreter der römischen Tradition fest: Byzanz behielt seine Weltgeltung und blieb politischer und kultureller Maßstab. „Wir kommen zum Schluß,“ so lautet sein Ergebnis, „daß sich im Westen vor 800 keine gemeinabendländische Abneigung gegen den Osten nachweisen läßt. Ein allgemeiner westlicher Antibyzantinismus [...] entstand erst, nachdem sich das Papsttum vom östlichen Kaisertum abgewendet hatte und antiöstliche Tendenzen durch ein westliches Imperium [...] kräftigen politischen Rückhalt erhielten.“ 10 Dadurch gerät die hier gestellte Frage in seinen Ausführungen in den Hintergrund, auch wenn sie inhaltlich mitschwingt. Die hier vorgetragenen Beobachtungen sind demgegenüber allerdings erheblich bescheidener. Ich frage nach der Byzanzwahrnehmung von nur zwei Autoren, beides Chronisten, in nur einem Reich, dem Frankenreich, nämlich bei Gregor von Tours am Ende des 6. und bei ‚Fredegar‘ in der Mitte des 7. Jahrhunderts. Ich bin mir natürlich bewusst, dass ich mich mit dem ersten Autor ganz am Ende des hier behandelten Zeitraumes befinde und mit dem zweiten bereits darüber hinausgehe, aber eine geeignete Quellenlage für diese Frage ist im Merowingerreich nun einmal spärlich. Zwar fällt der Großteil der erwähnten Ereignisse durchaus in diesen Zeitraum, doch bei der Frage nach Wahrnehmungen, Vorstellungen und Deutungen sind natürlich nicht die Ereignisse, sondern die sie übermittelnden Autoren, ist deren Vorstellungswelt und somit auch die Abfassungszeit ihrer Werke entscheidend. GREGOR VON TOURS Gregor von Tours muss sicher nicht näher vorgestellt werden. Seine einst als „Frankengeschichte“ deklarierten Historien − Gregor selbst wurde noch vor weni8

Wieweit sich darin, als Brücke zu einem der drei Teile dieses Bandes, zugleich „Kommunikationsmodi“ oder eine „konkrete Kommunikationspraxis“ widerspiegeln, die auf eine „kulturelle Entfremdung“ verweisen, wird sich auf diesem Wege allerdings kaum hinreichend klären lassen. 9 Haenssler (1960). Eine zeitliche Fortsetzung des mittelalterlichen Griechenbildes bietet die amerikanische Dissertation von Arbagi (1969). 10 Haenssler (1960), S. 108.

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gen Jahren als „Le père de l’Histoire de la France“ apostrophiert 11 − entziehen sich so ziemlich jeder gattungsmäßigen Einordnung: Sie sind Weltchronik (Beginn mit der Schöpfung), Reichsgeschichte (aber gerade nicht ‚Volksgeschichte‘), in gewissem Maße auch Bistumsgeschichte und vor allem Zeitgeschichte mit starken autobiographischen Einschlägen in einem: Sechseinhalb der zehn Bücher behandeln Gregors eigene Bischofszeit, und Gregor selbst hat in der merowingischen Politik kräftig mitgewirkt. Sein Urteil über Byzanz ist daher das eines Angehörigen der gallo-romanischen Aristokratie, eines gebildeten Bischofs, eines Geschichtsschreibers und eines Politikers. Auf die Narrativität, Struktur und Charakter der Historien hat eindrücklich zuerst Walter Goffart, 12 auf seine − nicht zuletzt kirchlich-theologische − Gedankenwelt vor allem Martin Heinzelmann aufmerksam gemacht. 13 Auch wenn Gregors Berichte sich keineswegs auf das Frankenreich beschränken, liegt Byzanz kaum in seinem engeren Gesichtskreis. An insgesamt 22 Stellen wird es oder wird der Kaiser (irgendwie) erwähnt. Das ist bei dem Umfang der Historien vielleicht nicht viel, aber doch mehr, als man vom Gesamteindruck des Werks her erwarten würde. Vieles beschränkt sich allerdings auf sehr kurze und vielfach beiläufige Nachrichten. Was berichtet Gregor überhaupt? Er gibt keine Folge der byzantinischen Kaiser in Form der Erwähnung aller Herrscherwechsel, wie es in einer Chronik ja durchaus nahe läge. Eine eruierbare Kaiserfolge beschränkt sich vielmehr auf seine eigene Zeit: Justinian − Justinus II. − Tiberios I. − Maurikios. 14 Im ersten Buch berichtet Gregor kurz und knapp, dass Kaiser Theodosius, der sich ganz auf die Gnade Gottes verließ, als Sieger in Konstantinopel einzog. 15 Zur Zeit Chlodwigs (Buch 2) wird Byzanz nur ein einziges Mal erwähnt, als Kaiser Anastasios I. dem Frankenkönig nämlich in jener ebenso oft wie strittig diskutierten Szene den sogenannten ‚Ehrenkonsulat‘ verlieh. Gregor spricht allerdings klar von codecillos de consolato, einem Brief über den Konsulat. 16 Chlodwig legte daraufhin in der Martinskirche in Tours die (offenbar mitgelieferte) Purpurtunika, den Staatsmantel (chlamys) und das Diadem an und verteilte, hoch zu Ross reitend, Gold und Silber unter das Volk. Von diesem Tage an, so Gregor, wurde er Konsul und Augustus genannt. 17 Man kann daraus auch auf eine Gleichrangigkeit, freilich dank kaiserlicher Erhebung, schließen. Kurz wird sodann erwähnt, dass der Kaiser (der 11 Verdon (1989). 12 Goffart (1988), S. 112–234. 13 Heinzelmann (1994). Gregors Byzanzbild wird in beiden Arbeiten nicht angesprochen, die es somit nicht als zentral ansehen, obwohl es, wie sich zeigen wird, sowohl für Gregors Narrativität als auch auch für sein christliches Weltbild aussagekräftig ist. 14 Gregor von Tours, Historiae 2,11, ed. Krusch/Levison S. 61, erwähnt nur kurz die Nachfolge Markians auf Julian: vgl. dann ebd. 4,40, S. 171ff., zu Justinus II.; ebd. 5,19, S. 225, zur Erhebung des Tiberios zum Mitkaiser; ebd. 5,30, S. 235, zum Tod Justins und zur Alleinherrschaft des Tiberios; ebd. 6,30, S. 298f., zum Tod des Tiberios und zur Nachfolge des Maurikios. 15 Ebd. 1,42, S. 28. 16 Vgl. Mathisen (1997); zuletzt Castritius (2010). 17 Gregor von Tours, Historiae 2,38, ed. Krusch/Levison, S. 88f.

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hier gar nicht namentlich genannte Justinian) den sieglosen Belisar aus Italien abrief und durch Narses ersetzte, der aber von dem fränkischen dux Buccelenus vertrieben wurde. 18 Später wurde Buccelen von Narses getötet und Italien wieder unter kaiserliche Herrschaft gebracht. 19 Kurz vorher eroberte das Heer des Kaisers einige Städte in Spanien. 20 Kurze Erwähnung findet auch, dass der Westgote Herminegild im Kampf gegen seinen Vater Leovigild die Griechen zu Hilfe rief. 21 Nachrichten über Byzanz sind demnach insgesamt erstens eher spärlich und sie stehen zweitens, wie bei dem Italienzug Theudeberts, sehr häufig mit der Geschichte des Frankenreichs in Beziehung. Das gilt auch für den Westgoten Hermenegild, der mit Ingunde, der Tochter König Sigiberts, verheiratet war. In allen übrigen Fällen geht es um Gesandtschaften und Bündnisse. 22 So schickte Sigibert sogar namentlich genannte Gesandte, nämlich den Franken Warmar und den Arverner Firminus, zu Kaiser Justin nach Konstantinopel, die dort, in einer fast kryptischen Nachricht, in einer Unterredung mit dem Kaiser erhielten, was sie wünschten (also wohl den Frieden, um den sie gebeten hatten). 23 Dreizehn Jahre später schickte Chilperich eine Gesandtschaft an Tiberios und zeigte Gregor anschließend mit Kaiserbild und Umschrift versehene Goldmünzen dieses Kaisers und andere Geschenke, welche die Gesandten mitgebracht hatten. Dass sie drei Jahre unterwegs waren, deutet an, dass solche Kontakte kaum kurzfristige Reaktionen sein konnten, auch wenn Gregor das in diesem Fall ausdrücklich als Ausnahme mit dem aus politischen Gründen notwendigen Umweg über das Gotenreich und den Wetterproblemen der Seefahrt erklärt. 24 Dem König Childebert soll Kaiser Maurikios (zum Jahr 584) 50.000 Goldsolidi für einen Italienzug gegen die Langobarden ausgehändigt haben. (Als der Kaiser aber hörte, dass der Franke mit den Langobarden Frieden geschlossen habe, verlangte er sein Geld zurück − vergeblich, wie Gregor betont; Childebert würdigte ihn zunächst nicht einmal einer Antwort, 25 schickte allerdings im folgenden Jahr auf Drängen des Kaisers zur Rückgabe des Geldes ein Heer nach Italien.) 26 18 Ebd. 3,32, S. 128. Vgl. dazu Haenssler (1960), S. 57f. 19 Gregor von Tours, Historiae 4,9, ed. Krusch/Levison, S. 140f. 20 Ebd. 4,8, S. 140. Ebd. 4,44, S. 179f., erwähnt Gregor beiläufig einen kaiserlichen Statthalter in Susa. 21 Ebd. 5,38, S. 245. Später (ebd. 8,18, S. 384) hieß es, Hermenegilds Gemahlin Ingunde sei nach Konstantinopel gebracht worden; dann aber berichtet Gregor (widersprüchlich dazu), sie sei beim Heer zurückgelassen worden und verstorben, ehe sie mit ihrem Sohn zum Kaiser gebracht werden konnte (ebd. 8,28, S. 390f.). 22 Ebd. 3,33, S. 129, wird ganz beiläufig eine Gesandtschaft Theudeberts an Justinian erwähnt. 23 Ebd. 4,40, S. 172 (zum Jahr 568): Denique Sigyberthus rex legatus ad Iustinum imperatorem misit, pacem petens, id est Warmarium Francum et Firminum Arvernum. Qui euntis evectu navali, Constantinopolitanam sunt urbem ingressi, locutique tamen cum imperatore, quae petierant obtenuerunt. – Mit den Gesandten der Perser gab es hingegen Streit. 24 Ebd. 6,2, S. 266. 25 Ebd. 6,42, S. 314. 26 Ebd. 8,18, S. 385. Vgl. Haenssler (1960), S. 58. Gregor, Historiae 9,20, ed. Krusch/Levison, S. 440, berichtet, dass Guntchramn die Langobarden aus Italien vertreiben und die Herrschaft des Kaisers restituieren sollte. Ein Jahr später schickte auch Childebert Gesandte an den Kai-

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Eine letzte Gesandtschaft an Kaiser Maurikios verdient besondere Beachtung: Die Gesandten Gripo und seine Gefährten gerieten in Karthago zwar in eine schlimme Lage − viele wurden wegen eines Diebstahls von den Soldaten getötet −, der Kaiser aber versprach sofort, die Schuldigen nach dem Urteil, das Childebert fällen werde, zu bestrafen. 27 Zwölf Karthager wurden daraufhin gefesselt und in Ketten zu Childebert geschickt, der sie, so der Kaiser, töten oder gegen 300 Goldmünzen freikaufen konnte, „damit keinerlei Grund zur Feindschaft zwischen beiden entstehe“. 28 Der Frankenkönig und Gripo aber wollten die wahren Schuldigen in Karthago durch den Kaiser selbst bestraft sehen. Da Gregor darauf nicht mehr zurückkommt, wissen wir nicht, wie die Sache ausgegangen ist; wahrscheinlich war sie bis zum Abbruch der Historien nicht gelöst. Insgesamt aber zeugen die Nachrichten von politischen und diplomatischen Kontakten zwischen den Merowingern und Byzanz, die offenbar immer dann berichtet werden, wenn es etwas Besonderes zu vermelden gab. Die Beziehungen waren zwar nicht immer spannungsfrei, doch wird ebenso häufig, und gerade noch zuletzt, das beiderseitige Bemühen um ein Einvernehmen deutlich. Entsprechend findet sich bei Gregor in Bezug auf Byzanz auch keine klare politische Tendenz. Die Bindung des Papsttums an Byzanz wird deutlich, wenn Gregor der Große sich an Kaiser Maurikios, dessen Sohn er getauft hatte, mit der Bitte wandte, seiner Wahl zum Papst nicht zuzustimmen (ein typisch mittelalterliches Verhalten, um zu zeigen, dass man ein Amt auf keinen Fall selbst anstrebe). Daraus wurde zwar nichts, weil man den Boten abfing, 29 doch zeigt die Anekdote in unserem Zusammenhang jedenfalls deutlich, dass eine kaiserliche Zustimmung zur Papsterhebung von Gregor wie selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Drittens aber gewinnt Byzanz zuweilen sogar so etwas wie eine Vorbildfunktion. Bezeichnend dafür ist der ausführliche Bericht über den (Mit-)Kaiser Tiberios, der vom Volk gewählt wurde, als Kaiser Justinus dem Wahnsinn verfiel, und den Gregor als nützlich, tüchtig und weise beschreibt (utilem, strinuum atque sapientem). 30 Er wird damit zum Gegenbild des Justinus, den Gregor schon beim Herrschaftsantritt als dem Geiz ergeben und als Verächter der Armen und Plünderer der Senatoren charakterisiert und als Häretiker (als Anhänger des Pelagius) gebrandmarkt hatte, 31 während Tiberios sein Leben ganz der christlichen Armenund Nächstenliebe widmete. Im Mittelpunkt der Berichte über Tiberios steht tat-

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ser, dass er jetzt gegen die Langobarden ziehen werde, wurde dort jedoch vernichtend geschlagen (ebd. 9,25, S. 444f.). Ebd. 10,2, S. 482f. Kaiser und König waren wohl wegen des sich anschließenden Langobardenfeldzugs (ebd. 4,3, S. 483f.) an einem Einvernehmen interessiert, von dem Gregor aber nichts berichtet. Ebd. 10,4, S. 487: ut, si eos interficere vellit, haberet licentiam; sin autem ad redimendum laxaret, CCC pro unoquoque acceptis aureis, quiesceret, sicque ut quod vellit elegeret, quo facilius, sopito scandalo, nulla occansio inter ipsos inimicitiae oreretur. Ebd. 10,1, S. 478f. Ebd. 5,19, S. 225. Ebd. 4,40, S. 172: vir in omni avaritia deditus, contemptor pauperorum, senatorum spoliatur. [...] Quem etiam ferunt in heresi Pelagiana dilapsum.

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sächlich nicht dessen Herrschaft, sondern geradezu ausschließlich seine Freigebigkeit und Almosenbereitschaft. Als die vielen Armenschenkungen ihm den Vorwurf der Verschwendung einbrachten, entgegnete er, dass er damit einen Schatz im Himmel bereite. Und damit er in seiner Großzügigkeit fortfahren konnte, fand er im Palast hinter einer Marmortafel mit dem Kreuz Christi wunderbarerweise einen riesigen Schatz. Damit nicht genug, entdeckte ihm ein alter Wächter auch noch den vergrabenen Schatz des Narses. Beides nutzte Tiberios zu noch größerer Freigebigkeit. 32 Als man ihn, zum Alleinherrscher geworden, zugunsten des Neffen seines Vorgängers, Justinian, stürzen wollte, kam Tiberios dem zuvor und ließ sich, mit Unterstützung des „Papstes der Stadt“ (also des Patriarchen von Konstantinopel), zum Kaiser erheben. Die Verschwörer aber gingen „voller Scham“ auseinander, weil sie, so Gregor, nichts gegen einen Mann ausrichten konnten, der seine Hoffnung auf Gott gesetzt hatte. 33 Gewissermaßen nebenbei besiegte er dann noch die Perser vernichtend (und auch daran interessiert Gregor vor allem die reiche Beute.) 34 Eine letzte (gute) Tat beging Tiberios, als er, dem Tod nahe, Sophia (der Gemahlin Justins) zuliebe, zwar Maurikios als Nachfolger nominierte, eine geplante Heirat der Kaiserinwitwe mit Maurikios aber verhinderte, indem er diesen mit seiner eigenen Tochter vermählte und ihn selbst zu aequitas und iustitia ermahnte. 35 Tiberios, „der alle liebte und von allen geliebt wurde“, wird anlässlich seines Todes noch einmal als Inbegriff der Güte, Freigebigkeit und Gerechtigkeit herausgehoben. 36 Er wird von Gregor damit zum Sinnbild des guten, christlichen und von Gott gegen alle Anfeindungen beschützten Herrschers stilisiert, der ein wahrhaft christliches Verhalten an den Tag legt. Dass er byzantinischer Kaiser war, spielt dabei letztlich keine Rolle. Das Herrscherideal an sich ist entscheidend. Umgekehrt bedeutet das aber auch, dass Byzanz von solchen Idealen bei Gregor keineswegs ausgeschlossen wird. 37 Der Überblick macht zweierlei deutlich: Zum einen bleibt Byzanz durchaus im Blick, doch ist Gregor nicht an der byzantinischen Geschichte und an der byzantinischen Politik an sich interessiert, sondern kommt nur dort auf Byzanz zu sprechen, wo es fränkische Kontakte oder besonders Erwähnenswertes gibt. Zu32 Ebd. 5,19, S. 225ff. 33 Ebd. 5,30, S. 235f.: Factionarii quoque operientes ad circum, cum cognovissent quae acta fuerant, pudore confusi, sine effectu regressi sunt, nihil homini, qui in Deo spem posuerat, adversare valentes. – Auch einem zweiten Anschlag durch die alte Kaiserin Sophia kam Tiberios zuvor. Mit Justinian ging er dann ein Eheversprechen für eine Doppelhochzeit ihrer Kinder ein (die aber nicht zur Ausführung gelangte). 34 Ebd. S. 236. 35 Ebd. 6,30, S. 298f. 36 Ebd. S. 298: Hoc anno Tiberius imperator migravit a saeculo, magnum luctum relinquens populis de obito suo. Erat enim summe bonitatis, in aelimosinis prumptus, in iudiciis iustus, in iudicando cautissimus; nullum dispiciens, sed omnes in bona voluntate conplectens. Omnes diligens, ipse quoque diligebatur ab omnibus. 37 Ein Vorbildcharakter wird auch deutlich, wenn König Chilperich dem lateinischen Alphabet unter anderem den griechischen Buchstaben Omega hinzufügt; ebd. 5,44, S. 254. Da Gregor das im Kontext falscher Glaubenslehren und ungelenker Verse berichtet, erhält es allerdings auch eine negative Note.

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letzt gerät es (beinahe) ganz aus dem Blickfeld, 38 wäre da nicht die ausführliche Erzählung von der Gesandtschaft Gripos. Zum andern kommt dem Kaiser sicherlich keine Schlüsselposition im Westen zu. Das Verhältnis der Frankenkönige zum Basileus ähnelt dem zu anderen Mächten und findet auf gleicher Ebene statt. Hier aber scheint Byzanz ganz anerkannt zu sein, in einem Maße, dass Gregor von dort mehrfach sogar Lobenswertes und Vorbildhaftes berichten und Tiberios zum Idealkaiser stilisieren kann. Es bliebe zu überlegen, wieweit er damit die (oft gescholtenen) fränkischen Könige seiner Zeit konfrontieren wollte. FREDEGAR Interessanter noch als Gregor ist Fredegar, der, obwohl er von Gregor abhängig ist, gerade in seinen Berichten über Byzanz recht eigenständig verfährt. Die Berichte verteilen sich über alle Bücher und nehmen im Verlauf der Chronik in der Häufigkeit keineswegs ab; noch am Ende finden sich sogar die längsten Erzählungen. Aus dieser Perspektive kann man also weder von einer schwindenden Bedeutung von Byzanz im Westen (die zweifellos der realen Entwicklung entspräche) noch von einem nachlassenden Interesse sprechen. Die Forschung zu Fredegar konzentriert sich bis heute − neben der Ausschlachtung als Quelle für die spätere Merowingerzeit − nahezu ausschließlich auf die schwierigen Überlieferungs- und Verfasserfragen 39 und hat sich gelegentlich mit seiner Geschichtsschreibung, 40 jedoch höchst selten mit seiner Vorstellungswelt befasst. 41 Seine

38 Kaum mit Byzanz in Verbindung gebracht werden kann der Bericht über die Zerstörung Antiochias (offenbar) durch ein Erdbeben (Historiae 10,24, S. 516f.), bei der es Gregor vielmehr um die Parallele zu Sodom und Gomorrha geht, weil eine gerechte Familie gerettet wird. 39 Zur Quellenkritik vgl. vor allem Collins (2007); zu den wesentlichen Problemen Ders. (1996). Von den grundlegenden älteren Werken seien exemplarisch genannt: Krusch (1882), der für mehrere Verfasser eintritt; dagegen: Lot (1914); Hellmann (1935), der die Abfassung der Chronik auf zwei Autoren verkürzt. Eine kritische Sichtung der früheren Theorien bietet Goffart (1963), der wieder vehement für einen einzigen Verfasser plädiert. Das bestärkt aus philologischer Sicht: Erikson (1965). Collins (2007) hat der Diskussion eine neue Variante hinzugefügt: Es gibt nur einen Verfasser der Fredegarchronik, die aber in zwei Versionen überliefert ist, deren jüngere er „Historia Francorum“ nennt und die nicht einfach Fortsetzung, wie bisher angenommen, sondern eigenständige Bearbeitung (und Fortsetzung) des ganzen Fredegar ist. Das ist eine interessante Wendung, und man darf gespannt sein, welche Erkenntnisse sich daraus aus einer künftigen Edition dieser Historia gewinnen lassen. Für die hier verfolgte, sich auf Fredegar selbst konzentrierende Frage bleibt das allerdings unerheblich. 40 Eine Würdigung seiner Geschichtsschreibung bietet Wallace-Hadrill (1957–1958); einen gerafften Überblick über alle historiographischen Probleme gibt Ganshof (1970), darin ganz kurz S. 20 auch zu Byzanz bei Fredegar; eine Charakterisierung der Chronik und ihrer Tendenzen bietet Scheibelreiter (1999). 41 So betont Scheibelreiter (2002), am Beispiel der Taufe Chlodwigs (im Vergleich mit Gregor von Tours), wie sehr Fredegar die vergangenen Ereignisse aus seiner Zeit heraus betrachtet und bewertet. Wood (1994) bespricht einige wiederkehrende Themen bei Fredegar. Aspekte der politischen Ideen und Ideale Fredegars behandelt Mangiameli (1996/97).

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Sicht über Byzanz ist, soweit ich sehe, wieder nur in der Dissertation Haensslers 42 sowie, zu jeweils speziellen Aspekten, in Aufsätzen von Georg Scheibelreiter43 und Stefan Esders 44 behandelt. Auch Fredegar liefert keine Geschichte von Byzanz, sondern einzelne, in den Chronikbericht eingewobene Nachrichten. Dabei kann man vielleicht zwischen zwei Arten von Berichten unterscheiden, auch wenn sich beides mehrfach überschneidet und für Fredegar selbst gleichermaßen zur ‚Geschichte‘ gehört: zum einen die (meist kurzen) historischen Nachrichten über Byzanz und zum andern die längeren anekdotenhaften Episoden. Ob die frühen, dem ‚Liber generationis‘ entnommenen Nachrichten über die Ursprünge der Griechen von Japhet und Ivan 45 schon (retrospektive) Assoziationen zu Byzanz wecken, ist kaum beweisbar und eher unwahrscheinlich. 46 Bei der eigentlichen byzantinischen Geschichte 47 ist es zunächst auffällig, dass Fredegar die Reichsteilung von 395 mit keinem Wort erwähnt. Er sieht darin offenbar kein entscheidendes Ereignis oder gar den Beginn einer Auseinanderentwicklung. Die der Chronik des Hieronymus entnommene, aber bis auf seine Gegenwart fortgeführte Kaiserliste von Konstantin bis Herakleios beschränkt sich aber ganz auf die oströmischen, wörtlich: „in Konstantinopel herrschenden Kaiser“. 48 Damit verknüpft Fredegar die Kontinuität des Imperium von vornherein mit dem Ostreich, während die chronikalischen Nachrichten sowohl die östlichen wie die westlichen Kaiser berücksichtigen, ohne jeweils nach Ost und West zu differenzieren, wie schon bei der Nachfolge des Arcadius und des Honorius: 49 Alle erscheinen Fredegar gleichermaßen als römische Kaiser. Fredegar lässt sie quasi zusammen 30 Jahre lang regieren (das träfe nur auf Honorius zu!) und erweckt den Anschein einer gemeinsamen Regierung, zumal die Reichsteilung erneut unerwähnt bleibt. 50 Im Chroniktext selbst werden bis 42 43 44 45 46

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Zu Fredegar: Haenssler (1960), S. 58ff. Scheibelreiter (1984). Esders (2009). Fredegar, Chronicon 1,5, ed. Krusch, S. 21. Ebd. 1,11, S. 25f., erwähnt Fredegar die Teilung unter Noahs Söhne. Der Westen fällt Japhet zu. In der Aufzählung der Sprachen (ebd. 1,6, S. 23f.) fehlen die Griechen! Im folgenden Kapitel nennt Fredegar dagegen gleich fünf gentes Grecorum: Ioner, Arkader, Boethier, Aeoli und Lakedämonier (ebd. 1,7, S. 24). Die viel behandelte Origo Francorum, die die Franken aus Troja einwandern lässt, setzt diese parallel zu Makedoniern und Türken und betont, dass sowohl Franken als auch Makedonier stets die Freiheit bewahrt hätten (ebd. 2,4/6, S. 45f.). Auf die oft diskutierte, aber kaum lösbare Frage nach Fredegars (byzantinischen) Quellen kann hier nicht eingegangen werden. Die eigenwilligen Berichte machen eine klare Identifizierung nahezu unmöglich und betreffen jeweils nur einzelne Teile der Erzählungen, gewährleisten in jedem Fall aber eine eigenständige Bearbeitung und eröffnen daher Einblick in Fredegars Sichtweise. Fredegar, Chronicon 1,26, ed. Krusch, S. 41f.: Theodosius, Arcadius, Theodosius II., Markian, Leon, Leo minor, Zenon, Anastasios, Justin, Justinian, Justin II. (Iustinus Subfios), Tiberios, Maurikios, Phokas (Fogas), Herakleios. Fredegars Berichte schließen dann noch Teile der Zeit Konstans II. ein. Ebd. 2,50, S. 70: Arcadius et Honorius, filii Theudosio, defuncto patri, regnaverunt an. 30. Bei den Nachrichten über Vandalen und Burgunder datiert Fredegar hingegen nach Theodosius II. (ebd. 2,51, S. 72) und lässt nach dessen Tod Markian folgen (ebd. 2,52, S. 73), der

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auf Zenon und Anastasios tatsächlich sämtliche Kaiser von Markian bis Konstans II. erwähnt und manchen werden sogar ausführliche Geschichten gewidmet. Der historische Rahmen wirkt damit weit vollständiger als bei Gregor. Die nacheinander in jeweils eigenen Kapiteln erzählte Geschichte der Germanenreiche 51 zeigt (implizit, wie ich betonen muss) folgendes Resultat: Das Vandalenreich wird von Ostrom aus zerstört, das Ostgotenreich Theoderichs kann sich durch Glück und Listen halten, das Frankenreich zeigt sich von Ostrom unberührt (jedenfalls wird der Kaiser hier gerade unter Chlodwig nicht erwähnt; auf Maurikios’ Rolle bei Chlodwigs Vater Childerich komme ich gleich noch zurück). Wenn man diesen Berichten eine bewusste Struktur unterstellen darf, wäre (nur) das Frankenreich von Byzanz ganz unabhängig, auch wenn es verschiedene, im Folgenden noch anzusprechende Berührungen gab. Bei den Langobarden gab es hingegen mehrfach Versuche, sich wieder der kaiserlichen Herrschaft zu unterwerfen. 52 Die Erhebung Justinians 53 wird in Form einer Anekdote erzählt, auf die ebenfalls noch einzugehen ist. Beim Untergang des Ostgotenreichs wird Byzanz nicht oder nur indirekt durch Nennung des Patricius Narses erwähnt (der seinerseits Belisar getötet hatte): 54 Narses tötete Totila; 55 der fränkische dux Buccelinus aber vertrieb Narses und beherrschte Italien, 56 wurde dann jedoch seinerseits von Narses besiegt und getötet. 57 Wie so oft, verwebt Fredegar hier mehrere historische Motive zu einer unhistorischen Einheit. Später aber berichtet Fredegar ausführlich vom Tod Justins II., der 18 Jahre lang im Wahnsinn gelebt hatte, und von der Nachfolge des Tiberios und dessen

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dann wiederum gemeinsam mit Avitus herrscht (ebd. 2,54, S. 75: Marcianus et Avitus concordis principato Romano utuntur imperio). Gleiches wiederholt sich mit Maiorian in Italien und Leon in Konstantinopel, die beide agusti appellantur (ebd. 2,55, S. 76). Im 5. Kaiserjahr Leons folgt (im Westen) Severus nach (ebd. 2,56, S. 77). Ebd. 2,57 befasst sich mit den Ostgoten, 2,58 mit Franken und Westgoten, 2,60 mit Vandalen, 2,61 mit dem Ende der Vandalenherrschaft durch Belisar. So unterwarf sich nach der Erhebung Autharis zum neuen König der gleichnamige dux Authari dem Kaiser (ebd. 4,45, S. 143). Unter der zwölfjährigen Langobardenherrschaft der zwölf duces wurden dann zwölf Gesandte (einer pro dux) zu Kaiser Maurikios gesandt, die um kaiserlichen Frieden und Schutz (pacem et patriocinium imperiae) baten, schickten zugleich aber auch Gesandte an die Frankenkönige zwecks deren Patrocinium (ebd. 4,45, S. 143). Diplomatische Kontakte zwischen Langobarden und Byzanz gab es auch unter dem König Adaloald (ebd. 4,45, S. 143f.). Dabei versuchte der byzantinische Gesandte Eusebius allerdings, den Kaiser mit einer Salbe willenlos zu machen und Italien dem Kaiser zuzuführen. Daraufhin erhoben die Langobarden Arioald und vergifteten Adaloald (ebd. 4,49f., S. 145). Haenssler (1960), S. 59, schließt aus der Episode zu verallgemeinernd auf eine verbreitete Ansicht, „die Byzantiner seien schlau und listig“. Später suchte König Arioald den ‚römischen‘ Patricius Isaak dazu zu bewegen, den dux Taso von Tuszien zu töten, und verzichtete dafür auf ein Drittel der römischen Tribute (ebd. 4,69, S. 155f.). Ebd. 2,62, S. 85f. Ebd. 2,62, S. 86/88. Ebd. 3,43, S. 106. Ebd. 3,44, S. 106. Ebd. 3,50, S. 106.

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Versöhnung mit dem Thronanwärter Justinian 58 (und er übernimmt, wenn auch sehr verkürzt, Gregors Schilderungen der Freigebigkeit dieses Herrschers ). 59 Zwei kurze Episoden betreffen das Frankenreich. So floh der merowingische Thronprätendent Gundowald zu Narses, der ihn zu Kaiser Maurikios weiterschickte (bevor er ins Frankenreich zurückkehrte). 60 Von Gregor übernimmt Fredegar auch die Nachricht, dass Childebert vom Kaiser Maurikios 50.000 Goldstücke erhielt, um die Langobarden aus Italien zu vertreiben, betont aber, dass Childebert mit den Langobarden Freundschaft schloss. 61 Auf Maurikios ist ebenfalls noch zurückzukommen. Dieser wurde schließlich vom Patricius Phokas (Fredegar nennt ihn durchweg Fogas), der als Sieger aus Persien heimkehrte, tirannico ordine getötet, 62 bis dessen erbärmliche Herrschaft seinerseits von Herakleios beendet wurde: Nachdem Phokas „wie ein Wahnsinniger“ den (kaiserlichen) Schatz ins Meer geworfen hatte, um ihn Neptun zum Geschenk zu machen, ergriffen ihn die Senatoren, hieben ihm Hände und Füße ab, ertränkten ihn und erhoben Herakleios. 63 Später schlossen Gesandte König Dagoberts mit diesem Kaiser einen dauernden Frieden (pacem perpetuam). 64 Alle Kaiser (Maurikios, Phokas und Herakleios) aber mussten sich persischer Angriffe erwehren. Phokas verfällt bei Fredegar also nicht der damnatio memoriae wie in Byzanz (worauf Mischa Meier auf dem Mainzer Historikertag aufmerksam machte), wird allerdings ähnlich negativ bewertet. Anders, differenzierter, verhält es sich mit Herakleios. Er konnte zwar Persien dem Reich restituieren, 65 musste sich dann aber der Sarazenen erwehren, bevor er starb und die Herrschaft seinem Sohn Konstantin III. hinterließ. 66 Die letzte, Byzanz betreffende Nachricht vermeldet den Tod Konstantins und die Nachfolge seines noch minderjährigen Sohnes Konstans II. (641). Auch unter dessen Herrschaft setzten sich die Sarazeneneinfälle fort. Die Sarazenen eroberten Jerusalem und zerstören andere Städte, durchzogen Ägypten, eroberten Alexandrien, verwüsteten und eroberten ganz Afrika und töteten den Patricius Gregor (von Karthago). Das ist übrigens einer der wenigen abendländischen Berichte (außerhalb Spaniens), die in dieser Zeit den Eroberungszug des Islam, wenn auch kurz, nachvollziehen. Am Ende verblieben dem Kaiser lediglich Konstantinopel, die Provinz Thrakien, einige Inseln sowie die Romana provincia, und selbst um diese zu bewahren, musste er den Sarazenen Tribute zahlen: Drei 58 Ebd. 3,80f., S. 114f. 59 Ebd. 3,79, S. 114: Sophia warf Tiberios vor, den Schatz durch seine Almosen zu verschwenden. Tiberios fand daraufhin im Palast ein Kreuz auf einem Stein und darunter zwei Kreuze, unter denen 1.000 Goldmünzen lagen, die er divino amore unter die Armen verteilen ließ. Fredegar übernimmt auch Gregors Bericht von der Auffindung des Schatzes des Narses, den Tiberios ebenfalls unter die Armen austeilte (ebd. 3,80, S. 114). 60 Ebd. 3,89, S. 117. 61 Ebd. 3,92, S. 118. 62 Ebd. 4,23, S. 129. Tiranneco ordine ebd. 4,63, S. 151f. 63 Ebd. 4.63, S. 151f.: imperium adreptus nequissime regerit. Der Bericht ist so nicht zutreffend (Phokas wurde hingerichtet). 64 Ebd. 4,62, S. 151. 65 Ebd. 4,64, S. 152f. 66 Ebd. 4,66, S. 153f.

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Jahre lang soll er täglich eintausend Goldsolidi geblecht bzw. gegoldet haben, bis er neue (Streit-)Kräfte sammeln, das Imperium Stück für Stück zurückgewinnen und den Tribut verweigern konnte. Den Ausgang wollte Fredegar an gegebener Stelle berichten − er war ihm also offenbar bereits bekannt −, ist dazu aber nicht mehr gekommen. 67 Soweit die ‚historischen‘ Nachrichten. Interessanter sind die (eher ‚unhistorischen‘) Episoden. Darunter fallen zunächst die Berichte über Leon I. und den Ostgotenkönig Theoderich auf, der permissum Leonis aug. in Italien herrschte, sich tatsächlich aber, wie Fredegar betont, mit den Goten freiwillig der kaiserlichen Herrschaft unterstellt hatte. 68 Fredegar geht es um seinen (glücklichen) Erfolg. Von Leon nach Konstantinopel zitiert, um ihn töten zu lassen, wurde er von seinem Freund Ptolemaios gerettet, der sich seinerseits von den Goten gefangen nehmen und als Geisel benutzen ließ und dadurch Theoderich auslösen konnte. 69 Als Theoderich dem Kaiser später den Gehorsam versagte und erneut nach Konstantinopel zitiert wurde, rettete Ptolemaios ihn ein zweites Mal, indem er beim Mahl in Anwesenheit des ostgotischen Gesandten − in Anspielung auf den Namen des Kaisers (Leon) − die Löwenfabel erzählte: Der Löwe wird als stärkstes aller Tiere zum König erwählt und möchte den Hirsch, der zur Huldigung gekommen war, verspeisen. Dieser kann zwar fliehen, verliert aber sein Geweih. Der listige Fuchs kann ihn überreden, noch einmal an den Hof zu kommen, wo er in Stücke zerlegt wird. Der Fuchs frisst sein Herz, und als der Löwe es nicht findet, behauptet er, der Hirsch habe gar kein Herz gehabt, denn andernfalls hätte er ihn wohl kaum überlisten können. Der kluge Theoderich aber hat offenbar ein Herz, denn er versteht diese Andeutungen und verweigert dem Imperium fortan den Gehorsam. 70 Die Episode ist typisch für Fredegars Erzählungen. Sie erklärt auf eingängige, man ist geneigt zu sagen: ‚fabelhafte‘ Art Theoderichs ‚Überleben‘ und Rettung, verbreitet dabei allerdings kein negatives Byzanzbild, wie man meinen könnte, wohl aber ein negatives Bild des löwenartig gefährlichen Kaisers Leon. Das Ganze ist um so bemerkenswerter, als der „Tyrann“ Theoderich bei Fredegar ansonsten eher negativ charakterisiert wird. 71 Die längste, nicht minder ausgeschmückte Episode rankt sich wenig später um das Verhältnis des Kaisers Justinian zu dessen späteren Feldherrn Belisar, und auch hier greift Fredegar, im Anschluss an die kurz berichtete Zerstörung des Vandalenreichs durch Belisar, weit in eine ebenso unhistorische wie unpolitische

67 Ebd. 4,81, S. 162. Vgl. dazu Esders (2009), S. 292ff. 68 Zur Darstellung Theoderichs bei Fredegar vgl. Borchert (2005), der es allerdings wieder mehr um die (byzantinischen) Quellen als um die Vorstellungen Fredegars geht, und die zu dem Ergebnis gelangt, dass Fredegar insgesamt nicht schlecht informiert war. 69 Fredegar, Chronicon 2,57, ed. Krusch, S. 78ff. 70 Ebd. 2,57, ed. Krusch, S. 81f. 71 Vgl. ebd. 2,59, ed. Krusch S. 83, zum gerechten Tod Theoderichs, weil er den Papst Johannes und den Patricius Symmachus schuldlos hatte umbringen lassen. Nach einer Vision Gregors des Großen wurde Theoderich daher gefesselt in die Hölle gezerrt.

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‚Vorgeschichte‘ zurück: 72 Lange vor der Kaiserkrönung genießen Justinian und Belisar, die sich lebenslange Treue und Freundschaft geschworen haben, 73 ein Schäferstündchen mit zwei Schwestern aus dem Volk der Amazonen. (Im Schlaf schützt ein Adler, als prophetisches Vorzeichen, den künftigen Kaiser mit seinen Flügeln vor einem Sonnenbrand.) Im Scherz gelobt Justinian der Antonia − Fredegar nennt, trotz mancher Ähnlichkeiten mit Theodora, beide Frauen Antonia −, sie zu heiraten, falls er Kaiser würde. 74 Beide tauschen Ringe aus, und Belisar gelobt dasselbe gegenüber Antonias Schwester (Antonia). Als Justinian nach dem Tod Justins und seinem Persersieg dann tatsächlich von Heer und Senat zum Kaiser ausgerufen wird, schleicht sich Antonia in den Palast ein und fragt scheinheilig, was geschehen sollte, wenn ein junger Mann ihr mit diesem Ring die Ehe versprochen habe. Justinian bestimmt daraufhin, dass ein solches Versprechen unbedingt einzuhalten sei, erkennt den Ring und macht sie tatsächlich zur Kaiserin. 75 Diesem märchenhaften Vorspann folgt nun die eigentliche, ‚historische‘ Erzählung. Von Justinian zum Patricius über die römischen Teile Afrikas gemacht, verleumden die neidischen Senatoren Belisar beim Kaiser mit der Nachricht, dass er einen Umsturz plane. Justinian befiehlt ihm daraufhin, die Vandalen aus Afrika zu vertreiben, ein Unterfangen, an dem vor ihm schon viele gescheitert waren (und damit knüpft die Episode an die im vorigen Kapitel vermeldete, historische Nachricht vom Untergang des Vandalenreichs an). Mit nur 12.000 persönlichen pueri und 18.000 Kriegern (priliatores), die Belisar als Patricius unterstehen, scheint das ein unmögliches Unterfangen. Aus seiner Niedergeschlagenheit aber befreien ihn seine zuerst verschmähte Frau − „eine solche Angelegenheit berät man nicht mit Frauen“ 76 −, eine Christin, durch ihr Gottvertrauen − „der ungläubige Mann wird durch die gläubige Frau gerettet werden“ (1. Kor 7,14) 77 −, die Bekehrung Belisars (der in Wirklichkeit natürlich längst Christ war) 78 und ihr listiger Plan: Sie führt selbst einen Teil des Heeres (schließlich ist sie Amazone) und tötet, während die Vandalen gegen Belisar ziehen, deren Frauen und Kinder. Die zurückeilenden Vandalen aber werden nun von beiden Heeren umzingelt und niedergemacht. Das alles geschieht, wie mehrfach betont wird, nach Gottes Plan (omnipotentia Dei virtute; divino protecti auxilio; providentia Dei). Der Vanda72 Ebd. 2,62, S. 85–88. Eine ausführliche Interpretation dieser Geschichte als (märchenhafter) Erzählung und ihres historischen Hintergrunds gibt Scheibelreiter (1984). 73 Fredegar, Chronicon 2,62, ed. Krusch, S. 85: erantque ab invicem nimia delictione amplexi, iurantes sibi, quantum cuiusquam ex his causa proficerit, pare sempiternam fidem servarit. 74 Ebd.: ‚Si imperatur effectus fueris, erit digna ancilla tua tibi concubito.‘ Et ille subridens, cum ei fuisset difficile hoc esse honore dignum, dixit ad eam: ‚Si imperatur effectus fuero, tu mihi eris agusta.‘ 75 Hier spiegelt sich nicht eine Friedelehe mit einem Freudenmädchen wider (so Scheibelreiter [1984], S. 276), sondern die getreuliche Einhaltung des Eheversprechens. 76 Fredegar, Chronicon 2,62, ed. Krusch, S. 86: ‚Haec causa consiliare mulieribus non expedit, nec quicquam et tecum in hanc rem utile.‘ 77 Ebd. S. 87: Salvabitur vir infidelis per mulierem fidelem. 78 Scheibelreiter (1984), S. 278, erkennt in dem Vorgang Parallelen zur Bekehrung Chlodwigs. Allerdings überwiegen, wenn Fredegar darauf anspielen wollte, insgesamt doch die Unterschiede.

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lenkönig Gelimer wird gefangen genommen und − unter listigem Wortbruch − gefesselt vor Justinian geführt. Als er sich hier über die Beleidigungen seitens der Hofleute beschwert, kämpft er auf eigenen Wunsch hin allein mit zwölf jungen Männern, die er durch List einen nach dem andern besiegt. 79 Justinian macht ihn daraufhin zum Eunuchen und zum Patricius der an das Perserreich grenzenden Provinzen. (Das ist Strafe und Auszeichnung zugleich.) Belisar aber wird bald darauf erneut verleumdet und entmachtet, rettet Justinian − ich kürze hier stark ab − jedoch bei einem Putschversuch, indem er den Usurpator tötet und Justinian die Krone überbringt, die kaiserliche Huld (natürlich) wiedererlangt und noch viele Persersiege erringt, bis er in Italien von Buccelenus getötet wird (was so nicht Gregors Bericht entspricht). Die Geschichte, die ich bewusst in dieser Ausführlichkeit referiert habe, ist viel zu vielschichtig, um sie leicht ausdeuten zu können. Sie erweist sich weniger als Geschichtsbericht über Byzanz denn als Parabel und Plädoyer für (persönliche und politische) Treue (die sich gegen alle Anfechtungen am Ende durchsetzt): bei der Einlösung des Heiratsversprechens Justinians, der Treue Antonias gegenüber Belisar und vor allem den mehrfachen Treuerweisen Belisars gegenüber Justinian. 80 Bezeichnend dafür sind Belisars Worte nach dem Putschversuch: „Ich aber will dir Böses mit Gutem vergelten und frage dich nicht danach, ob du dein Treueversprechen gehalten hast, sondern erinnere mich an mein Versprechen und bewahre dir die Treue ungeschmälert.“ 81 Das Ganze ist auch eine Parabel für Heldenmut und Belohnung (sowohl Justinians wie Belisars), vielleicht auch für den Wagemut und die List von Frauen, schließlich aber und vor allem für das Christentum, denn Belisars Erfolg erwächst ihm erst aus der Bekehrung durch seine christliche Gemahlin. Das alles wird geschickt mit dem historischen Hintergrund verwoben. Auch diese Episode ist also keine Erzählung über Byzanz (auch wenn sie von Byzanz handelt). 82 Gleichwohl bleibt es bemerkenswert, wie unbefangen Fredegar den Vorfall nach Byzanz verlegen bzw. für diese Parabel über vorbildliche private ebenso wie politische und christliche Treue ein byzantinisches Beispiel wählen kann. Byzanz als solches wird also ganz und gar nicht negativ bewertet. 79 Ebd., S. 279, macht auf die Parallele der zwölf Gegner Belisars zu seinen zwölf getöteten Gefährten aufmerksam und deutet den Kampf in den Augen des fränkischen Adels als erfolgreiche Blutrache. 80 Auch ebd., S. 280, spricht von einer „Parabel der unzerstörbaren Treue“. Dass Justinian hier als charakterloser Schwächling dargestellt wird (so ebd. S. 280), kann ich nicht nachvollziehen, auch wenn er den Einflüsterungen seines Hofes gegen Belisar glaubt. Das verhilft erst − geradezu episch − zu dessen Bewährung. 81 Fredegar, Chronicon 2,62, ed. Krusch, S. 88: Ego vero tibi reddam bona pro malis, et non fidem tuam tractans, sed meam meminens promissionem fidemque servans inlibatam. 82 Wenn Scheibelreiter (1984), S. 270 und noch einmal S. 271, betont, dass hier keinerlei Adaption an fränkische Verhältnisse stattfindet, würde das für eine ‚byzantinische‘ Geschichte sprechen. Die dargestellte Funktion ist allerdings auf sein (fränkisches) Publikum gerichtet. Die Geschichte erscheint aus dieser Sicht recht konsistent und zeugt nicht unbedingt von Fredegars Unvermögen, divergierende Elemente zu einem Entwurf zu verschmelzen (so Scheibelreiter [1984], S. 280).

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Byzanz spielt wieder eine Rolle in der Childerichsage: Childerich, der Sohn Merowechs und Vater Chlodwigs, wird wegen seiner Ausschweifungen von den Franken vertrieben und flieht zu den Thüringern, wird durch verschiedene Listen seines Getreuen Wiomad aber wieder eingesetzt: Als die Franken, die zunächst den römischen Statthalter Ägidius zu ihrem König machen (vielleicht eine Reminiszenz auf die römische Herrschaft über Gallien), bald aber dessen Herrschaft überdrüssig werden, rät Wiomad listig zur Tributeintreibung. Als Ägidius auf Wiomads Rat hin auch noch hundert Franken töten lässt, wünscht man sich Childerich zurück. Dieser schickt, wieder auf Anraten Wiomads − und nun kommt Byzanz ins Spiel −, zu Kaiser Maurikios und erbittet 50.000 Solidi, um die Franken damit noch geneigter zu machen, und erhält sie. Childerich selbst reist nach Byzanz und verkündet (alles auf Wiomads Rat hin), Ägidius wolle sich Byzanz tributpflichtig machen, anstatt seinerseits dem Staatsschatz Tribute zu zahlen (möglicherweise eine aktuelle Anspielung auf die derzeitigen Tribute an die Sarazenen). Daraufhin lässt Maurikios die Gesandten des Ägidius einkerkern, während Childerich im Auftrag des Kaisers zurückkehrt, um diesen an Ägidius zu rächen. Childerich wird von den Franken wieder eingesetzt, verzichtet auf alle Steuern und lässt viele ‚Römer‘ niederhauen. 83 Es ist schier unmöglich, diese völlig unhistorische Episode klar zu deuten. Sie suggeriert aber immerhin, dass Childerich vom Kaiser gegen den römischen Statthalter unterstützt wurde, der dem Kaiser seinerseits noch steuerpflichtig war, während die Franken (fortan?) auf Steuerabgaben verzichteten. Wenn man so will, fasst Fredegar hier die fiskalische Transformation von einer steuerbelasteten römischen Antike zum Steuerparadies im fränkischen Mittelalter in eine legendenhafte Episode, in der Byzanz (wie Ägidius) zum ausgetricksten Helfer und Werkzeug, aber auch zum Bankkaufmann avanciert, der den Coup finanziert. Die Merowinger verdanken ihre Herrschaft somit (auch) Byzanz, ohne vom Kaiser abhängig zu werden. In einer weiteren Erzählung steht erneut eine Frau im Mittelpunkt, nämlich die Gemahlin eines Perserkönigs Anaulf (wohl Chosroes I.), Caesara, die ihren heidnischen Mann verlässt, zunächst unerkannt nach Konstantinopel flieht und hier darum bittet, vom Patriarchen Johannes getauft zu werden. Erst die ständigen Gesandtschaften des Perserkönigs − Fredegar spricht durchweg vom „Kaiser der Perser“ − nähren den Verdacht (bezeichnenderweise wieder zuerst bei der Kaiserin), dass es sich bei der Fremden um die persische Königin handeln könne. Mit den Gesandten konfrontiert, wird sie erkannt, redet aber erst mit ihnen, als auch sie zum Christentum übertreten (was sie bereitwillig tun), und sie will nur dann zurückkehren, wenn auch der Perserkönig sich zum Christentum bekehrt (voluerit fieri christianus et baptismi gratiam accipere), und auch dieser will sich mit 60.000 Persern gern in Antiochia von Johannes taufen lassen; die Taufe nimmt dann der Patriarch Gregor von Antiochia vor. Den Kaiser Maurikios bittet der König um einen Bischof und genügend Kleriker. Dieser willigt bereitwillig ein und so wird ganz Persien ad Christi cultum baptizantur. 84 Auch mit dieser Ge83 Fredegar, Chronicon 3,11, ed. Krusch, S. 95ff. 84 Ebd. 4,9, S. 125f.

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schichte macht es uns Fredegar hinsichtlich unseren Fragen nicht leicht, doch auch sie fügt sich in die bereits behandelten Episoden ein: Wieder geht es nicht um Byzanz, dem nur eine Nebenrolle zufällt, sondern um die Christianisierung, bei der Frauen für Fredegar eine hohe Bedeutung erlangen, 85 doch dieses Mal nicht eines wichtigen Feldherrn (wie bei Belisar), sondern eines ganzen Volks und Reichs (was auch zum Ende der Dauerkämpfe zwischen Byzanz und dem Perserreich hätte führen können). 86 Gleichwohl ist es Fredegar erneut selbstverständlich, dass Byzanz hier zum Vermittler des Christentums wird. 87 Dass die letzte und zugleich überhaupt längste Episode über Byzanz gegen Ende der Chronik eingefügt ist, zeigt, dass Fredegar Byzanz bis zuletzt keineswegs aus den Augen verliert. Aber auch sie ist alles andere als ‚eingleisig‘ für ein Byzanzbild. Es geht um Herakleios und seine Perser- und Sarazenenkämpfe, 88 die sich nahtlos an den schon behandelten Sturz des Phokas durch Herakleios anschließen und die Stefan Esders erst kürzlich gründlich behandelt hat, 89 die hier unter dem Aspekt des Byzanzbildes aber noch einmal aufzugreifen sind. Fredegars differenzierte Sicht weicht hier durchaus von der byzantinischen Tradition ab. Zunächst wird der Kaiser als listiger Held gefeiert, der den Angriff der Perser auf Konstantinopel dadurch abwenden kann, dass er den „Kaiser der Perser“, Chosroes (II.), zu einem Zweikampf auffordert, bei dem der Sieger beide Reiche beherrschen solle. Während dieser − warum auch immer er sich auf diesen Handel einlässt − einen seiner Patricii an seiner Stelle zum Zweikampf schickt, irritiert Herakleios diesen listig mit der fiktiven Frage, weshalb ihm sein Heer gegen die Abmachung folge, und schlägt ihm, als er sich umwendet, den Kopf ab. Die Perser wenden sich daraufhin zur Flucht und töten ihren eigenen Herrscher („wie es einem Tyrannen gebührt“). 90 Herakleios kann Persien unterwerfen − Fredegar ist wieder die Erbeutung vieler Schätze wichtig − und dort die byzantinische Herr-

85 Anders als bei Gregor, ruft auch Chlodwig in der legendären Alemannenschlacht Christus auf Anraten seiner Gemahlin Chrodechilde an (ebd. 3,21, S. 101). 86 Tatsächlich gehen die Kämpfe jedoch weiter; vgl. ebd. 4,64, S. 152f., zu Herakleios: Die Perser drangen zu seiner Zeit bis Chalkedon vor. 87 Die Bedeutung des Christentums für Fredegar betont auch Haenssler (1960), S. 60. Fredegar, Chronicon 4,11, ed. Krusch, S. 126f., berichtet vom Auffinden der Tunika Christi, die von den Bischöfen von Antiochien, Jerusalem und Konstantinopel gemeinsam zum Kreuz Christi getragen wurde. 88 Ebd. 4,64–66, S. 152ff. 89 Esders (2009), weist darauf hin, dass Fredegar dem Geschehen denkbar fern steht und doch zugleich den frühesten abendländischen Bericht über die arabische Expansion liefert. Wie im folgenden deutlich wird, würde ich den Bericht über Herakleios jedoch nicht als ‚Exkurs‘ deuten (so ebd., S. 244). 90 Fredegar, Chronicon 4,64, ed. Krusch, S. 152. Dem von Andreas Kusternig in der Freiherrvom-Stein-Gedächtnisausgabe S. 231 übersetzten „wie es einem Tyrannen gebührt“ entspricht im lateinischen Text allerdings ein harmloseres, aber auch mehrdeutiges propries tiranneco ordene. Haenssler (1960), S. 59, schließt aus der Episode, „daß die Franken die Byzantiner eher für kräftige, tapfere Krieger denn für Schwächlinge hielten“.

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schaft restituieren. 91 Als „neuer David“ erhält Herakleios gleichsam biblischheilsgeschichtliche Züge (ist allerdings auch der Zwerg, der den Riesen Goliath, das Perserreich, bezwingt). Im folgenden Kapitel wird Herakleios gleichsam als Idealkaiser porträtiert: „herrlich anzusehen“, „von schönem Antlitz und wohlbemessener Statur“, „tapferer als alle anderen und ein vorzüglicher Kämpfer“, der oft allein mehrere Löwen in der Arena wie auch in freier Wildbahn tötete. Dazu ist er noch kenntnisreich in den Wissenschaften und Astrologe, 92 und dieser letzte Hinweis führt Fredegar zur eigentlichen Erzählung: Als solcher erkennt der Kaiser nämlich, dass das Römische Reich von beschnittenen Völkern zerstört würde. Er schickt daher zu König Dagobert − erneut gibt es also einen Frankenbezug − und bittet diesen, alle Juden in seinem Reich zu taufen, was Dagobert − angeblich − erfüllt. 93 Wieder geht es also auch um Christianisierung. Dasselbe veranstaltet Herakleios in seinem Reich. Dabei missversteht er allerdings die Prophezeiung, weil die Gefahr nicht von den Juden, sondern den Sarazenen droht, 94 die − wie Fredegar im nächsten Kapitel schildert − die byzantinischen Provinzen plündern. (Die Geschichte ist vielfach, auch von mir selbst, auf Fredegars Sicht der Sarazenen ausgewertet worden; hier geht es aber um seine Sicht von Byzanz.) Das byzantinische Heer erleidet eine katastrophale Niederlage − angeblich fallen 150.000 (römische) Soldaten; die Beutestücke werden ironischerweise Herakleios anschließend zum Kauf angeboten, der indes ein neues Heer aufstellt, die Kaukasische (bei Fredegar heißt es „Kaspische“) Pforte öffnen lässt, um ein neues, noch größeres Heer gegen die Sarazenen zu führen. Doch auch dieses Heer wird „vom Schwert Gottes zerschmettert“ (gladio Dei Aeragliae exercitus percotitur), wie Fredegar kommentiert, und der größte Teil devino iudicio − offenbar durch ein Unwetter oder eine Seuche − hingerafft. 95 Wegen der großen Verluste verzichtet das Heer auf eine Schlacht und kehrt zurück, während die Sarazenen weiterhin die römischen Provinzen heimsuchen. Herakleios aber verzweifelt darüber, und bezeichnenderweise kehrt Fredegar jetzt das positive Kaiserbild gleich mehrfach um und bezichtigt Herakleios des Inzests − er war mit seiner Nichte, der Tochter seiner Schwester, 91 Allerdings ist Fredegars Bericht (Chronicon 4,64, ed. Krusch S. 153), die Perser hätten erst drei Jahre später einen neuen Kaiser erwählt, nicht richtig. 92 Ebd. 4,65, S. 153: Aeraglius emperatur erat speciosus conspecto, pulcra faciae, status formam digne minsure, fortissemus citiris, pugnatur aegregius, nam et sepe leones in arenas et in aerimis plures singulos interfecit. Cum esset litteris nimius aeruditus, astralocus effecetur. – Zur Episode vgl. Haenssler (1960), S. 58f. 93 Fredegar, Chronicon 4,65, ed. Krusch, S. 153: per quod cernens, a circumcisis gentibus divino noto emperium esse vastandum, legationem ad Dagobertum regem Francorum dirigens, petens, ut omnes Iudeos regni sui ad fidem catolecam baptizandum preciperit. Quod protenus Dagobertus emplevit. 94 Ebd.: Aeraglius per omnes provincias emperiae talem idemque facere decrevit. Ignorabat, unde haec calametas contra emperium surgerit. – Zu orientalischen Parallelen dieses Berichts vgl. Esders (2009), S. 247ff. 95 Fredegar, Chronicon 4,65, ed. Krusch, S. 154. Zur Kaspischen Pforte und zu dieser Schlacht am Yarmuk (636) vgl. Esders (2009), S. 285ff.

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verheiratet − und der Häresie − „der Unglückliche“ (infelex) sei Anhänger des Eutyches gewesen (einer gemäßigteren Spielart der Monophysiten) −, bis er schließlich ganz vom Glauben an Christus abfällt (Christi cultum relinquens) und − man kann ergänzen: in gerechter Strafe − grausam an einem Fieber stirbt (crudeleter vitam finivit). 96 Ihm folgt, so schließt Fredegar scheinbar nüchtern, sein Sohn Konstantin (III.), unter dessen Herrschaft das Reich maßlos von den Sarazenen verwüstet wird. Diese Geschichte ist erneut schwer zu deuten. 97 Der Held Herakleios, der die Perser bezwingt und die Christianisierung der Juden, wenn auch zwangsweise, erreicht, scheitert nicht nur gegen die Sarazenen, sondern auf der ganzen Linie, indem er sich selbst vom Christentum abkehrt. Ein größeres Vergehen als diese ‚Entchristianisierung‘ kann es für Fredegar kaum geben. Begründet wird dieser Bewertungswandel aber nicht. Fredegar beruht in den älteren Parteien auf Gregor, dem er manche Nachricht über Byzanz entnimmt, aber doch entscheidend abändert und ergänzt. Sein Bild der Byzantiner ist dem Gregors durchaus nicht einfach ähnlich, wie Haenssler, mit dem Blick allein für eine Suche nach Abwertungen, meint. 98 Fredegar bezieht Byzanz auf der einen Seite stärker in den Geschichtsablauf ein als seine Hauptquelle und kennt fast die komplette Kaiserfolge. Auf der anderen Seite gestaltet er deren episodisch-exemplarische Darstellung erst richtig aus. Dabei geht es auch ihm in erster Linie aber weder um Byzanz selbst oder dessen Rang oder Vorrang im damaligen Machtgefüge noch um eine eindeutige Wertung – es gibt gute und schlechte Kaiser –, sondern um das schlaue, vorbildhafte, tugendhafte und christliche Verhalten (oft gar nicht so sehr der Kaiser selbst als vielmehr ihrer Epigonen wie Ptolemäus, Wiomad oder Belisar), und es geht nicht zuletzt um die Christianisierung. Zugleich bleibt es jedoch auffällig, dass fast alle ausführlichen Anekdoten mit Byzanz zu tun haben. FAZIT Wenn ich abschließend versuche, die vorgetragenen Beobachtungen auf die Ziele des Promotionsverbundes und das Konzept dieses Bandes auszurichten, dann fällt es alles andere als leicht, den Bogen von der mikroskopischen und individuellen Wahrnehmungsebene auf die eingangs angesprochenen makrohistorischen Entwicklungen zu spannen. Mit aller Vorsicht lassen sich vielleicht folgende Feststellungen treffen: Die Wahrnehmung von Byzanz durch Geschichtsschreiber im Frankenreich des 6. und 7. Jahrhunderts spiegelt tatsächlich beide möglichen Re96 Fredegar, Chronicon 4,66, ed. Krusch, S. 154. 97 Nach Esders (2009), S. 291f. und S. 309f., geht es Fredegar um die religiöse Dimension und die Parallelen zwischen Herakleios und Dagobert, die beide, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, der Hybris verfallen und entsprechend mit einem schändlichen Tod bestraft werden. Dabei orientiert sich Fredegar an seiner Vorstellung von einem christlichen Herrschertum. 98 Haenssler (1960), S. 58.

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lationen zwischen Ost und West wider: Sie zeugt nicht unbedingt von intimem Wissen, bestätigt aber zumindest, dass Byzanz keineswegs völlig aus dem Blickfeld geraten ist. Bei Fredegar erscheint das insgesamt sogar (wieder) präsenter als bei dem früher schreibenden Gregor, auf dem Fredegar ansonsten weitgehend fußt. Wenn George Arbagi in seiner Dissertation im Frankenreich eine kontinuierlich abnehmende Kenntnis über Byzanz feststellt − gut informiert bis 570, zunehmend schweigsamer bis 670, und seither „nearly totally ignorant“ −, 99 dann trifft das auf Gregor und Fredegar also nicht zu. Doch geht es bei diesen Autoren in erster Linie gar nicht nur um „Kenntnisnahme“. Weit wichtiger ist die Anwendung der vorhandenen Kenntnisse in episodischen Erzählungen sowie deren Bewertung. Vergessen ist Byzanz also keineswegs. Kenntnisse darüber werden jedoch nur bei Bedarf ausführlicher aktiviert. Es wäre daher zu erkunden, worin ein solcher Bedarf besteht. Byzanz ist zunächst ‚das Imperium‘ (allerdings nicht das einzige, auch das Perserreich ist imperium), 100 das, mit Arbagi, vielleicht „some respect“ verdient. 101 Sieht man sich die Belege näher an, dann spricht daraus jedoch kaum mehr ein unmittelbarer politischer Einfluss oder eine fortdauernde intensive politische (oder auch kulturelle) Bedeutung des Basileus und seines (Ost-)Römischen Reichs im Westen Europas, ja, meines Erachtens nicht einmal ein „Vorrang“, wie noch Haenssler meint. 102 Politisch zeugt die fränkische Historiographie durchaus von dem „Auseinanderdriften zweier Teilräume des Imperium Romanum in Spätantike und Mittelalter“, wie der Untertitel des Promotionsverbundes suggeriert. „Ursachen, Verlauf und Folgen“ dieses Prozesses − mit dem Schlusstitel des Verbundes − lassen sich aus der historiographischen Wahrnehmung allerdings kaum erschließen, da die Autoren selbst das nicht reflektieren können. So wenig Byzanz politisch insgesamt auch hervortreten mag, bleibt nicht nur seine Bedeutung im Osten unbestritten, sondern ihm fällt in der Erinnerung vor allem Fredegars auch im Westen in Schlüsselsituationen immer noch eine − scheinbar beiläufig in den umgewerteten Berichten durchscheinende − (mit-)entscheidende Rolle als Helfer, Financier und diplomatischer Partner zu: bei der Errichtung der Frankenherrschaft Childerichs gegen den Römer Ägidius ebenso wie bei der Aufrichtung einer unabhängigen Ostgotenherrschaft Theoderichs.

99 Arbagi (1969), S. 5: „If we discover that Latin sources from 476 to 570 are fairly wellinformed about happenings in the East, become increasingly silent from 570 to 670, and are nearly totally ignorant of Eastern affairs thereafter until about 1000, it would be realistic to infer that Byzantium and Byzantine affairs did not obtrude themselves into the thought-world of the Latin West as often in the ninth century as they had in, say, the sixth.“ Vgl. ebd. S. 4: „As we shall see, however, the West after about 670 knew very little of this imperial ideology, and what little it did know it did not comprehend.“ 100 Vgl. Haenssler (1960), S. 65f., der zugleich darauf aufmerksam macht, dass auch res publica oft Byzanz bezeichnet und das (S. 69) als Indiz der römischen Erbschaft deutet. 101 Arbagi (1969), S. 6f.: „In the period from about 480 to about 670, Byzantine military and political power commanded some respect among the German kingdoms of West Europe.“ 102 Haenssler (1960), S. 75f.

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Haenssler suchte nach den Anfängen eines Antibyzantinismus und fand stattdessen nur Bewunderung. Beides geht letztlich an der Sache vorbei. Die überwiegend anekdotisch konzipierten Episoden nehmen schon bei Gregor und ganz besonders bei Fredegar vielmehr einen exemplarisch-ethischen (wie auch unterhaltsamen) Zweck an und konzentrieren sich dabei merklich auf christliche, ethische und ‚virtuelle‘ Aspekte (damit meine ich Tugenden). Sie verstehen sich nur noch bedingt als zeitgebunden und ließen sich grundsätzlich auch aus anderen Epochen, Gegenden und Reichen berichten. Dennoch ist es wohl kein Zufall ist, dass Gregor und Fredegar Entsprechendes immer wieder aus Byzanz berichten. Tiberios dient beiden Autoren als Muster der Freigebigkeit, Belisar und Justinian sind Exempel für (vor sechs oder sieben Jahrzehnten hätte man gesagt:) eine sprichwörtliche ‚germanische‘ Treue. Vor allem aber geht es immer wieder um Christianisierung. Dem stehen freilich auch Muster schlechter Kaiser: Leon, Phokas, am Ende auch Herakleios, gegenüber, und auch das sind (ethische) Exempelerzählungen. Ein „Antibyzantinismus“, 103 das ist Haenssler zuzugestehen, spricht daraus gewiss nicht, aber das ist auch gar nicht das Problem der fränkischen Chronisten gewesen. Ihre Geschichtsdarstellung dient nicht einer aufstrebenden fränkischen Identität durch Abgrenzung von Byzanz. Selbst Theoderich ist ein Tyrann, der lediglich den Mordgelüsten Kaiser Leons entkommt. Von „Kommunikation zwischen den beiden auseinanderdriftenden Reichsteilen“ (so das Konzept) zeugen die beiden Chronisten dennoch nur bedingt, zumal Fredegars Quellen in den meisten Fällen nicht ermittelbar sind und mögliche Vorlagen aus Byzanz nach allgemeiner Ansicht allenfalls indirekt verwendet worden sein können. Fredegar vermittelt dem Westen byzantinische Geschichte (episodenhaft!) in einer Weise, die ein Verständnis ohne weiteres erlaubt und folglich nicht auf eine ‚kulturelle Entfremdung‘ verweist, wie im 10. Jahrhundert dann bei Liutprand von Cremona (die damit selbstverständlich nicht ausgeschlossen und, von außen her, gewiss auch zu beobachten ist), aber er vermittelt sie einem westlichen, sich (in unseren Augen) allmählich entromanisierenden Publikum. Das verleiht Byzanz immerhin eine Modellfunktion, mit vorbildhaften ebenso wie mit abschreckenden Episoden. Das ist nicht wenig. Es gesteht Byzanz allerdings eine ganz anders gelagerte, nämlich eine ins Christliche und Ethische transportierte Bedeutung zu, als sie das Imperium für die Barbaren der Antike seit den ‚Germanenfeldzügen‘ des Augustus bis hin zu ihren Reichsgründungen und zum Ende eines weströmischen Kaisertums und darüber hinaus genossen hat. In diesem Sinn spiegelt die Wahrnehmung von Byzanz in der fränkischen Historiographie durchaus wesentliche Transformationen des Zeitalters wider.

103 Vgl. Haenssler (1960), S. 76, zum Frankenreich, und S. 108 in der Gesamtzusammenfassung.

Byzanz in der Wahrnehmung fränkischer Geschichtsschreiber

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CAPUD VICTURIARUM VESTRARUM … Die Rezeption der Schlacht von Vouillé im Jahre 507 in Quellen des 6. Jahrhunderts Christian Stadermann ZUSAMMENFASSUNG Im französischen Geschichtsbewusstsein gilt Chlodwig I. als Begründer (des) Frank(en)reichs, dessen Annahme des katholischen Glaubens und Sieg über die Westgoten wegweisend waren, denn dadurch einte er Gallien konfessionell sowie politisch. Diese Sichtweise geht zurück auf die Werke Gregors von Tours. Wie deuteten aber die Zeitgenossen Gregors innerhalb und außerhalb des Frankenreichs jene Ereignisse? Ein Vergleich des Quellenmaterials zeigt, dass diesen eine solche Tragweite des Geschehens noch nicht bewusst war, wie denn eine, das gesamte Frankenreich umspannende, kollektive Identität noch nicht bestanden hat, sondern gerade die Konfrontation mit den Westgoten in ihren regionalen, für kleine Gruppen bedeutsamen Auswirkungen betrachtet wurde. Gregors Idee von Vouillé setzt die Schlacht bei Vouillé selbst voraus, so dass diese im frühen 6. Jahrhunderts noch nicht bestanden haben kann, sondern sich erst entwickelte. Gregor von Tours greift ältere Entwicklungslinien auf, bündelt sie und gibt den Ereignissen als Gründungsakt des Frankenreichs Sinn, was durch die Rezeption seiner Werke in der Erinnerungsbildung als Gründungsmythos dominant werden sollte. EINLEITENDE BEMERKUNGEN Im Jahr 2012 erschien ein von Ralph Mathisen und Danuta Shanzer herausgegebener Sammelband unter dem Titel „The Battle of Vouillé, 507 CE. Where France began“, 1 der impliziert, dass die darin versammelten Beiträge die Schlacht bei Vouillé als ein Schlüsselereignis für die Herausbildung einer kollektiven Identität der Bewohner des Merowingerreiches werten, die in ihrer weiteren Entwicklung bis in die Gesellschaft des heutigen Frankreich nachwirkt, indem Chlodwig I. als dessen Begründer betrachtet wird. 2 Was war geschehen? In einer Schlacht nahe

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Vgl. Mathisen/Shanzer (2012). Zum Nachleben Chlodwigs I. vgl. Ludwig (1997), S. 241–261; Becher (2011), S. 275–282.

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Vouillé bei Poitiers 3 besiegte das Heer Chlodwigs dasjenige des Westgotenkönigs Alarichs II. In der weiteren Folge brach die westgotische Herrschaft südlich der Loire zusammen, so dass Chlodwig sein Reich über weite Teile Südgalliens auszudehnen vermochte. Ein Blick in besagten Sammelband macht deutlich, worauf eine solche Wertung ruht: Es sind die Decem libri Historiarum des Bischofs Gregor von Tours. Wie deuteten aber die Zeitgenossen Gregors innerhalb wie außerhalb des Merowingerreiches jenes Geschehen? Wurde es auch von ihnen als Zäsur betrachtet, so dass von einem identitätsstiftenden Ereignis für die Bevölkerung des Merowingerreiches im 6. Jahrhundert gesprochen werden kann? Hierzu bietet sich ein Vergleich der Interpretatio Gregoriana mit drei Quellengruppen an: einmal die Gegenseite, d.h. Texte aus dem westgotischen Spanien, Texte aus dem oströmischen Einflussbereich, das ostgotische Italien eingeschlossen, sowie Quellen aus dem merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts. Zunächst sei aber die Deutung des Touroner Bischofs mit Blick auf den fränkisch-westgotischen Krieg, der für ihn in der Schlacht bei Vouillé im Jahr 507 gipfelte, vorausgeschickt. DIE SCHLACHT BEI VOUILLÉ IN DER DARSTELLUNG GREGORS VON TOURS Gregor von Tours sieht in Chlodwigs I. Sieg über die Westgoten, wie auch in seinem vorausgegangenen Übertritt zum katholischen Glauben die bedeutendsten Leistungen des Frankenkönigs, nimmt beider Darstellung doch fast die Hälfte der Kapitel ein, die von der Regierung Chlodwigs handeln. Beides ist in ein übergeordnetes Narrativ, einer Passio catholicorum in Galliis, eingebunden, deren dramatischer Schlusspunkt die Schlacht bei Vouillé bildet. Dieses Narrativ besteht aus zwei aufeinander zulaufenden Erzählsträngen, die gleich einem Prolog in die Auseinandersetzung des Jahres 507 münden. Durch die Narrativierung erfolgt das Überführen von Vergangenem in sinnhafte Strukturen, indem Ereignisse, Personen und Gruppen ihre Bedeutung für den Ausgang des Narrativs erhalten. 4 Der eine Erzählstrang handelt von der gewaltsamen Unterdrückung der Katholiken Galliens durch die arianischen Westgotenkönige, insbesondere Eurich, dem Vater König Alarichs II., so dass sich diese nach der Herrschaft der katholischen Franken sehnen, wie der Touroner Bischof ausführt. 5 Der andere Erzählstrang präsentiert die Franken unter ihrem König Childerich I. sowie dessen Sohn und Nachfolger Chlodwig I. als Sachwalter der Interessen Galliens, zunächst noch an der 3 4 5

Wider neuere Einwände gegen Vouillé als Ort der Auseinandersetzung vgl. Mathisen (2012a), S. 43–61. Zur Rolle der Narrativierung im Prozess der Wahrnehmung und Deutung vgl. Polkinghorne (1998), S. 12–45. Vgl. Gregor von Tours, Decem Libri Historiarum II 25: Euarix rex Gothorum […] gravem in Galliis super christianis intulit persecutionem. Truncabat passim perversitate suae non consentientis, clericus carceribus subegebat, sacerdotis vero alius dabat exilio, alius gladio trucidabat. Vgl. ebd., II 35: Multi iam tunc ex Galleis habere Francos dominos summo desiderio cupiebant.

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Seite römischer Amtsträger, mit denen sie gemeinsam gallisches Gebiet gegen Sachsen, Alamannen und Westgoten verteidigen. 6 Diese narrativen Linien laufen aufeinander zu: Hier der „fähige und tüchtige“ (utilis et strenuus) Childerich, 7 dort der persecutor Eurich. 8 Beider Söhne, der „furchtsame“ (metuens) Alarich und der „große und hervorragende Kämpfer“ (magnus et pugnator egregius) Chlodwig, 9 treffen in einer finalen Auseinandersetzung um Gallien auf dem campus Vogladensis aufeinander, die der katholische Frankenkönig für sich entscheidet. 10 Die Schlacht gegen die Alamannen wenige Jahre zuvor, in deren Kontext Gregor Chlodwig konvertieren lässt, wird zu einer Bewährungsprobe, die den Merowinger erst in den Stand versetzt, nun mit dem katholischen Glauben gewappnet, die eigentliche, für Gallien entscheidende Konfrontation mit den arianischen Westgoten zu wagen und zu bestehen. 11 In Gregors Deutung wurzelt der Konflikt in Spannungen zwischen den konfessionellen Gruppen innerhalb der Bevölkerung des Westgotenreiches. In einer Fokalisierung, die Gregors Vorstellungen offenbart, wird das Handeln Chlodwigs dahingehend motiviert, dass die Arianer illegitim über einen Teil Galliens gebieten, der ihnen mit Gottes Hilfe zu entreißen sei. 12 Damit wird die Auseinandersetzung zu einem bellum iustum im augustinischen Sinne, d.h. zu einem durch den Willen Gottes legitimierten Krieg. Der Touroner Bischof präsentiert den Merowinger als den Schutzherrn der gallischen Katholiken und der Kirche, dem in der bevorstehenden Konfrontation mit den häretischen Westgoten der Beistand Gottes und seiner Heiligen gewiss ist. Zunächst gewinnt Chlodwig die Hilfe des heiligen Martin von Tours. Krieger, die im Gebiet von Tours plündern, rügt er mit den Worten, wie der Sieg zu erhoffen sei, wenn sie den Heiligen erzürnten. 13 6

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Vgl. ebd., II 18: Paulos vero comes cum Romanis ac Francis Gothis bella intulit et praedas egit. Vgl. ebd., II 19: […] inter Saxones atque Romanos bellum gestum est; sed Saxones terga vertentes, multos de suis, Romanis insequentibus, gladio reliquerunt; insolae eorum cum multo populo interempto a Francis captae atque subversi sunt. […]. Odovacrius cum Childerico foedus iniit, Alamannusque, qui partem Italiae pervaserant, subiugarunt. Vgl. dazu Frye (1992), S. 1–14. Vgl. ebd., II 12: ‚[…] utilitatem tuam [Childerich I.], quod sis valde strinuus […]‘. Vgl. Kapitelüberschrift zu ebd., II 25: De Euvarege persecutore. Vgl. ebd., II 27: Ad ille [Alarich II.] metuens, ne propter eum iram Francorum incurrerit, ut Gothorum pavere mos est, vinctum legatis tradedit. Vgl. ebd., II 12: Hic [Chlodwig I.] fuit magnus et pugnatur egregius. Vgl. ebd., II 37: Chlodovechus rex cum Alarico rege Gothorum in campo Vogladense decimo ab urbe Pictava miliario convenit […]. Zu Konversion und Alemannenschlacht, deren Datierung und Umstände vgl. Vogel (1886), S. 385–403; Krusch (1893), S. 427–448; Krusch (1932), S. 457–469; Von den Steinen (1933), S. 51–66; Lot (1938), S. 63–69, Weiss (1971); Wood (1985), S. 249–272; Spencer (1994), S. 97–116; Shanzer (1998), S. 29–57; Geuenich (1998), S. 423–437; Schäferdiek (2004), S. 105–121; Becher (2011), S. 174–203. Vgl. Gregor von Tours, Decem Libri Historiarum II 37: Chlodovechus rex ait suis: ‚Valde molestum fero, quod hi Arriani partem teneant Galliarum. Eamus cum Dei adiutorium, et superatis redegamus terram in ditione nostra‘. Vgl. ebd., II 37: ‚Et ubi erit spes victuriae, si beato Martino offendimus?‘

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Für Gregor von Tours dient das Plünderungsverbot des Königs nicht dem Schutz der lokalen Bevölkerung vor Kriegsschäden, sondern dient allein dazu, den Beistand seines Bistumspatrons zu erlangen. In aller Ausführlichkeit schildert der Historiograph, wie des Königs Gesandten in Tours ein Vorzeichen des kommenden Sieges gegen das „ungläubige Volk“ (incredula gens), welches Gott und dem Heiligen immerzu feindselig ist, zuteilwird. 14 Der anstehende Waffengang ist nicht als bellum gentium gedeutet, sondern religiös aufgeladen als „Krieg wider häretische Scharen“. Der eigentliche Schlachtverlauf interessiert den Bischof von Tours weniger. Vielmehr führt er mit dem heiligen Hilarius von Poitiers einen weiteren Helfer Chlodwigs ein. Ein von der Hilariusbasilika in Poitiers ausgehendes Licht weist dem König, gleich dem Pharos von Alexandria, den Weg zu den, so wörtlich, haereticas acies, um diese bekämpfen zu können. 15 Chlodwig tötet Alarich. Die Goten ergreifen die Flucht. Mit Gottes Hilfe erringt der Merowinger den Sieg und bringt ganz Gallien unter seine Herrschaft. 16 Dabei fallen in Angoulême, gleich dem biblischen Jericho, die Mauern bereits beim Anblick des Königs, so sehr stehe er in der Gnade Gottes. 17 Daraufhin kehrt Chlodwig nach Tours, dem Ausgangspunkt seines Feldzuges, zurück, um der Kirche des heiligen Martin Geschenke darzubringen. 18 Kondensiert bringt Gregor von Tours seine Deutung nochmals in der Vorrede des dritten Buches seiner Historien zum Ausdruck: Wie Hilarius von Poitiers einst als „Verteidiger der unteilbaren Trinität“ (individuae Trinitatis defensor) die Irrlehre des Arius in theologischen Streitgesprächen bekämpfte und mit Gottes Beistand überwand, so erficht der die Trinität bekennende Chlodwig mit Gottes Hilfe den Sieg über die Anhänger der arianischen Lehre und dehnt sein Reich „über ganz Gallien“ (per totas Gallias) aus. Alarich, der die Trinität leugnet, verliert Reich und Leben. 19 Gregors Selektionsmuster unterstreichen ein reflexives Vor14 Vgl. ebd., II 37: ‚Ite et forsitan aliquod victuriae auspicium ab aedae sancta suscipitis. […] Si tu, Domine, adiutor mihi es et gentem hanc incredulam semperque aemulam tibi meis manibus tradere decrevisti, in ingressu basilicae sancti Martini dignare propitius revelare, ut cognuscam, quia propitius dignaberis esse famulo tuo‘. 15 Vgl. ebd., II 37: Veniente autem rege apud Pictavus, dum eminus in tenturiis commoraret, pharus ignea, de basilica sancti Helari egressa, visa est ei tamquam super se advenire, scilicet ut, lumine beati confessoris adiutus Helarii, liberius hereticas acies, contra quas saepe idem sacerdos pro fide conflixerat, debellaret. 16 Vgl. ebd., II 37: Cumque secundum consuetudinem Gothi terga vertissent, ipse rex Chlodovechus victuriam, Domino adiuvante, obtinuit. 17 Vgl. ebd., II 37: Chlodovechus […] Ecolisnam venit. Cui tantam Dominus gratiam tribuit, ut in eius contemplatione muri sponte corruerent. Tunc, exclusis Gothis, urbem suo dominio subiugavit. 18 Vgl. ebd., II 37: Post haec, patrata victuria, Turonus est regressus, multa sanctae basilicae beati Martini munera offerens. 19 Vgl. ebd., III Prologus: Arrius enim, qui huius iniquae sectae primus iniquosque inventur fuit, interiora in secessum deposita, infernalibus ignebus subditur, Hilarius vero beatus individuae Trinitatis defensor, propter hanc in exilium deditus, et patriae et paradiso restauratur. Hanc Chlodovechus rex confessus, ipsus hereticos adiuturium eius oppraesset regnumque suum per totas Gallias dilatavit; Alaricus hanc denegans, a regno et populo atque ab ipsa, quod magis est, vita multatur aeterna.

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gehen, indem ausgeblendet wird, was der Sinngebung einer Auseinandersetzung zwischen Recht- und Irrgläubigen zuwiderläuft. So fehlen Verweise auf frühere Kämpfe zwischen Alarich und Chlodwig, die für den Merowinger wenig vorteilhaft verliefen. 20 Nur beiläufig deutet Gregor an, dass nicht alle Eroberungen Chlodwigs gehalten werden konnten, wobei er Rückschläge in die Zeit nach dem Tode des Königs verlegt, um seinen Protagonisten nicht zu beschädigen. 21 Die Beteiligung der arianischen Burgunder auf Seiten Chlodwigs findet sich unterschlagen, da dies die Konzeption eines wider die Arianer geführten Krieges durch den rex confessus stört, hätten die Burgunder Anteil daran besessen. Die Schlacht bei Vouillé ist Schlusspunkt seines Narrativs, in welchem die Westgoten als Gegner und die Franken als Sachwalter der Interessen Galliens auftreten. Sie ist ein Ringen von rechtem und falschem Glauben, in dem der rex confessus mit Beistand Gottes und seiner Heiligen obsiegt. Religionswechsel sowie Gotenkrieg sind für Gregor für ganz Gallien bedeutsam, denn dadurch eint der Merowinger Gallien politisch wie religiös. Mit Chlodwig nimmt das Frankenreich seinen Ausgang. Er ist capud victuriarum vestrarum. 22 QUELLEN AUS DEM WESTGOTISCHEN SPANIEN Wie ist es um die Außenwirkung von Konversion und Sieg bei Vouillé über die Grenzen Galliens hinaus bestellt? Hierfür werden zunächst die im westgotischen Spanien des 6. und frühen 7. Jahrhunderts entstandenen Quellen betrachtet. Ihre Auswertung zeigt, dass die Niederlage Alarichs II. auf dem campus Vogladensis zwar als Zäsur gewertet wird, da mit ihr das regnum Tolosanum, wie es in den Consularia Caesaraugustana heißt, 23 bzw. das regnum Galliae, wie es Isidor von Sevilla im frühen 7. Jahrhundert nennt, 24 sein Ende fand, eine religiöse Deutung des Konfliktes aber nicht erfolgt, wie auch von dem Religionswechsel Chlodwigs keine Notiz genommen wird. Als casus belli gilt ihnen, wie auch dem Verfasser der Chronica Gallica a. DXI, 25 das Streben des Frankenkönigs, die gallischen 20 Zu den Kämpfen Chlodwigs I. mit Alarich II. in den 490er Jahren vgl. Levison (1898), S. 62– 67; Mathisen (2012), S. 3–9. 21 Vgl. Gregor von Tours, Decem Libri Historiarum III 21: Gothi vero cum post Chlodovechi mortem multa de id quae ille adquesierat pervasissent […]. 22 Vgl. ebd., V Prologus: Recordamini, quid capud victuriarum vestrarum Chlodovechus fecerit, qui adversos reges interficet, noxias gentes elisit, patrias subiugavit, quarum regnum vobis integrum inlesumque reliquit! 23 Vgl. Consularia Caesaraugustana, a. 507: His diebus pugna Gotthorum cum Francorum Boglada facta. Alaricus rex in proelio a Francis interfectus est: regnum Tolosanum destructum est. 24 Vgl. Isidor von Sevilla, Historia Gothorum c. 36: [...] adversus quem [Alarich II.] Fluduicus Francorum princeps Galliae regnum affectans Burgundionibus sibi auxiliantibus. Bellum movet fusisque Gothorum copiis ipsum postremum regem apud Pictavium superatum interfecit. 25 Zur Entstehung der Chronica Gallica a. DXI auf der Iberischen Halbinsel vgl. Gillett (1999), S. 36.

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Territorien des Westgotenreiches seiner Macht einzuverleiben. 26 Ein diesbezüglicher Wandel im Bewusstsein lässt sich erst nach der Konversion der Westgotenkönige zum katholischen Glauben erkennen. Einem Brief König Sisebuts aus der zweiten Dekade des 7. Jahrhunderts ist zu entnehmen, dass er die militärischen Niederlagen der Goten in der Vergangenheit dem falschen Bekenntnis zuschreibt. 27 QUELLEN AUS DEM OSTRÖMISCHEN EINFLUSSBEREICH Ähnlich nimmt sich der Befund des im ostgotischen Italien entstandenen Quellenmaterials aus. In der Korrespondenz Theoderichs des Großen mit den Konfliktparteien wird Bezug auf dem Krieg vorausgehende Differenzen genommen. In einem Schreiben an Alarich II. ist von einem „nichtigen Streit“ (parva contentio), einer Sache „von Worten“ (de verbis) die Rede, 28 will man nicht annehmen, dass die verschiedene Auslegung der Heiligen Texte mit Blick auf das Verhältnis von Christus zu Gott Vater oder Unterschiede im Gloria als nichtiger Streit um bloße Worte aufgefasst wurden. In einem Schreiben an Chlodwig spricht Theoderich abermals von einem Streit aus „nichtigen Gründen“ (causae mediocres). Es sei ein Zeichen von Ungestüm, dass Chlodwig aufgrund einer „unbedeutenden Angelegenheit“ (causa levis), auf die erste Gesandtschaft hin, sofort zu den Waffen greifen und sich auf einen „beschwerlichen Krieg“ (durissimus conflictus) einlassen wolle. 29 Dem Konflikt ging ein diplomatisches Geplänkel voraus, worauf auch verweist, dass Alarich sich nicht de verbis reizen lassen solle. Chlodwig wird als Aggressor betrachtet, wenn Theoderich die Könige der Warnen, Heruler und Thüringer vor einem Bruch der lex gentium durch den Frankenkönig warnt, der sich schließlich auch gegen sie stellen werde. 30 Von kon-

26 Vgl. Chronica Gallica a. DXI, 688–691: Occisus Alaricus rex Gothorum a Francis. Tholosa a Francis et Burgundionibus incensa et Barcinona a Gundefade Burgundionum capta […] est. 27 Vgl. Epistolae Wisigoticae, Ep. 9: Immensas tunc calamitates et diversa penuria acerbissima, crebrius bella et quotidiana miseria, indigentia fruguum et pestifera vulnera hanc insolentius gentem retroacto tempore praessit; postquam sidereus fulgor corda fidelium corruscavit et orthodoxa fides mentibus cecatis emicuit, aucta pace catholicorum, Domino commodante, Gotorum viget imperium. 28 Vgl. Cassiodor, Variae III 1, 3: Non vos parentum fusus sanguis inflammat, non graviter urit occupata provincia: adhuc de verbis parva contentio est […]. 29 Vgl. ebd., III 4, 2–3: Quae cum ita sint, miramur animos vestros sic causis mediocribus excitatos, ut cum filio nostro rege Alarico durissimum velitis subire conflictum, ut multi, qui vos metuunt, de vestra concertatione laetentur. […] Virtus vestra patriae non fiat inopinata calamitas, quia grandis invidia est regum in causis levibus gravis ruina populorum. Dicam libere, dicam affectuose quod sentio: impatiens sensus est ad primam legationem arma protinus commovere. 30 Vgl. ebd., III 3, 2–3: […] legatos vestros […] ad Francorum regem Luduin destinate, ut aut se de VVisigotharum conflictu considerata aequitate suspendat et leges gentium quaerat aut om-

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fessionellen Spannungen findet sich nichts. In Theoderichs Korrespondenz mit Alarich heißt es, dass eine „Schuld“ (debitum) beglichen werden möge, was auf etwaige, dem Konflikt vorausgehende ökonomische Verwerfungen hindeutet, wie sie Avitus von Vienne in einem zeitgenössischen Brief andeutet. Darin ist zu lesen, dass Alarich eine Änderung im Wertmetallgehalt von Münzen angeordnet hatte, was der Münzfälschung Vorschub leistete und dem Untergang vorausgegangen sei. 31 Nicht undenkbar ist, dass Alarich dem Frankenkönig tributpflichtig war und mit minderwertigen Münzen zahlte, worauf ein diplomatischer Schlagabtausch folgte. 32 Theoderich selbst entfaltete eine hektische Diplomatie. In einem Schreiben Theoderichs an den Burgunderkönig Gundobad ist von einer causa die Rede, die man vernünftig regeln solle. 33 Wohl hatte der Ostgotenkönig Kenntnis davon, dass sich Gundobad auf Seiten Chlodwigs zu stellen gedachte, wenn er diesen warnt, etwas zu tun, wodurch er Schuld auf sich laden und ihm, Theoderich, „großen Schmerz“ (gravis dolor) bereiten würde. 34 Auch blieb ihm ein Zusammengehen von Frankenkönig und Ostrom nicht verborgen, mahnt er Chlodwig doch, sich nicht von „fremder Missgunst“ (aliena malignitas) aufstacheln zu lassen, würden doch nur andere davon profitieren, denn derjenige sei nicht vertrauenswürdig, der andere ins Verderben schickt. 35 Theoderich war sich bewusst, dass es sich um einen von langer Hand geplanten Waffengang handelt, der das Machtgefüge im Westen würde destabilisieren können. 36 Der mit Theoderichs Korrespondenz betraute Cassiodor thematisiert in seiner bis in das Jahr 519 reichenden Chronik lediglich das Eingreifen der Truppen Theoderichs im Jahre 508. 37 Dieses in Ravenna gemeinhin als expeditio Gallicana bezeichnete Einschreiten wurde als „Befreiung“ der provinciales Galliarum von

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nium patiatur incursum, qui tantorum arbitrium iudicat esse temnendum. […] Nam si tanto regno aliquid praevaluerit, vos aggredi sine dubitatione praesumit. Vgl. Avitus von Vienne, Ep. 87: [...] mixturam: vel illam certe, quam nuperrime rex Getarum secuturae praesagam ruinae monetis publicis adulterium firmantem mandaverat. Zu einer möglichen Tributpflicht Alarichs II. gegenüber Chlodwig I. im Kontext des Friedensschlusses von Amboise um 502 vgl. Wood/Shanzer (2002), S. 251. Vgl. Cassiodor, Variae III 2, 3: […] quatenus causa, quae inter eos vertitur, amicis mediis rationabiliter abscidatur. Vgl. ebd., III 2, 1: […] si quid in vobis delinquitis, meo graviter dolore peccatis. Vgl. ebd., III 4, 4–5: Quapropter ad excellentiam vestram […] legatos nostros magnopere credidimus dirigendos, per quos etiam ad fratrem vestrum, filium nostrum regem Alaricum scripta nostra direximus, ut nullatenus inter vos scandala seminet aliena malignitas […]. Illi enim credere debetis, quem vestris utilitatibus arridere cognoscitis, quoniam qui vult alterum in praecipites casus mittere, eum certum est fideliter non monere. Zu einem Versuch des Kaisers, die Machtposition Theoderichs im Westen zu erschüttern, dies im Nachgang militärischer Auseinandersetzungen des Ostgotenkönigs mit Ostrom auf dem Balkan vgl. Ausbüttel (2003), S. 115–122. Vgl. Cassiodor, Chronica, a. 508: […] contra Francos a domno nostro destinatur exercitus, qui Gallias Francorum depraedatione confusas victis hostibus ac fugatis suo adquisivit imperio.

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der gentilitas propagiert. 38 Theoderich wollte das Entsenden eines Heeres nach Gallien als Eintreten für den allgemeinen Schutz, für die Verteidigung sowie für das gemeinsame Wohl aller verstanden wissen. 39 Seinen Truppenführer in Avignon mahnt er, für ein friedliches Zusammenleben seiner Soldaten mit der dortigen Bevölkerung zu sorgen. Sei man doch zu deren Schutz und nicht zu deren Bedrückung gekommen. 40 Hatten die Bewohner Arles’ doch die Nöte einer Belagerung wegen ihnen (nostris partibus) ausgehalten 41 und keineswegs Chlodwig bereitwillig die Tore geöffnet, wie Gregor von Tours glauben machen will. Blicken wir nach Konstantinopel. Der dort um die Mitte des 6. Jahrhunderts wirkende Jordanes übergeht das seinem auf den Ruhm der West- und Ostgotenkönige ausgerichtete Darstellungsinteresse zuwiderlaufende Geschehen bei Vouillé nahezu vollständig. Er kann sich allerdings der Ironie des Schicksals nicht verschließen, wenn er konstatiert, dass große Reiche unter gleichnamigen Herrschern aufsteigen und vergehen: Wie das Römische Reich mit Augustus seinen Anfang und mit einem Augustulus sein Ende nahm, so begann und endete auch das westgotische mit einem Alarich. 42 Prokop, ein Zeitgenosse des Jordanes, der die Kriege Kaiser Justinians gegen die Goten in Italien beschreibt, kommt in einem Exkurs auf die Auseinandersetzung zwischen Chlodwig und Alarich zu sprechen. Ausgelöst worden sei diese von dem Machthunger des ersteren. Letzterer habe unbesonnen nicht die Verstärkungen aus Italien abgewartet, sondern auf das Drängen der Seinen übereilt die Entscheidung gesucht. 43 Auch zitiert Prokop ein kaiserliches Schreiben an die Söhne Chlodwigs, worin diese zur Waffenhilfe gegen die Ostgoten in Italien aufgefordert werden. Dies ist interessant, denn Justini38 Vgl. ders., Variae V 23, 1: […] in expeditione Gallica […]. Vgl. ebd., VIII 10, 6: Ammonet etiam expeditio Gallicana […]. Vgl. ebd., III 17, 4: Gentilitas enim vivit ad libitum […]. 39 Vgl. ebd., I 24, 1: […] pro communi utilitate exercitum ad Gallias constituimus destinare […]. Vgl. ebd., IV 36, 2–3: […] pro generali securitate […] pro defensione cunctorum […]. 40 Vgl. ebd., III 38, 2: Vivat noster exercitus civiliter cum Romanis: prosit eis destinata defensio nec aliquid illos a nostris sinatis pati, quos ab hostili nitimur oppressione liberari. 41 Vgl. ebd., III 32, 1: Arelatensibus itaque, qui nostris partibus perdurantes gloriosae obsidionis penuriam pertulerunt […]. 42 Vgl. Jordanes, Getica 245: Huic successit proprius filius Alarichus, qui nonus in numero ab illo Alarico magno regnum adeptus est Vesegotharum. Nam pari tenore, ut de Augustis superius diximus, et in Alaricis provenisse cognoscitur, et in eos saepe regna deficiunt, a quorum nominibus inchoarunt. Quod nos interim praetermisso sic ut promisimus omnem Gothorum texamus originem. Jordanes vermerkt lediglich das Eingreifen Theoderichs des Großen. Vgl. ebd., 302: Non minore tropeo de Francis per Ibbam, suum comitem, in Galliis adquisivit plus triginta milia Francorum in proelio caesa. 43 Vgl. Prokop, Bella V 12, 33–40: Μετὰ δὲ Γερμανοὶ τῆς δυνάμεως σφίσιν ἐπίπροσϑεν ἰούσης ἐν ὀλιγωρίᾳ ποιησάμενοι Θευδέριχόν τε καὶ τὸ ἀπ҆ αὐτοῦ δέος ἐπί τε Ἀλάριχον καὶ Οὐισιγότϑους ἐστράτευσαν. ἃ δὴ Ἀλάριχος μαϑὼν Θευδέριχον ὅτι τάχιστα μετεπέμπετο. […] καὶ τελευτῶντες ἐς Ἀλάριχον πολλὰ ὕβριζον, αὐτόν τε διὰ τὸ τῶν πολεμίων δέος κακίζοντες καὶ τοῦ κηδεστοῦ τὴν μέλλησιν ὀνειδίζοντες. ἀξιόμαχοι γὰρ αὐτοὶ ἰσχυρίζοντο εἶναι καὶ ῥᾷον κατὰ μόνας περιέσεσϑαι Γερμανῶν τῷ πολέμῳ. διὸ δὴ καὶ Γότϑων σφίσιν οὔπω παρόντων Ἀλάριχος ἠνάγκαστο τοῖς πολεμίοις διὰ μάχης ἰέναι. καϑυπέρτεροι δὲ Γερμανοὶ ἐν τῇ ξυμβολῇ ταύτῃ γενόμενοι τῶν τε Οὐισιγότϑων τοὺς πλείστους καὶ Ἀλάριχον τὸν ἄρχοντα κτείνουσι.

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an beruft sich auf den gemeinsamen katholischen Glauben, der dem Arianismus entgegengesetzt sei. 44 Man hatte in Konstantinopel Kenntnis von dem Übertritt der Frankenkönige zum katholischen Glauben, der damit eine Außenwirkung zeigt. Auch betrachtete man diesen als einende Grundlage, auf der gemeinsames Handeln denkbar war, wie der Historiograph Agathias bestätigt. Dieser verfasste um 580, einem Zeitpunkt zu dem Kaiser Tiberios den Frankenkönig Childebert II. als Bündnispartner gegen die Langobarden gewinnen wollte, 45 ein Geschichtswerk in Anschluss an jenes des Prokop. In seinem Bestreben, das Bündnis mit den Franken, die Agathias als römergleich charakterisiert, zu rechtfertigen, betont er auch den gemeinsamen katholischen Glauben. 46 Deutlich ist, dass das Charakteristikum eines einenden Glaubens in Situationen mobilisiert werden konnte, in denen ein gemeinsames Handeln gewünscht war. Dass dieser sich nicht als tragfähige Handlungsgrundlage erwies, beklagt bereits Prokop denn die Frankenkönige trugen keinerlei Bedenken, sich mit den arianischen Ostgotenkönigen gegen die kaiserlichen Truppen in Italien zu verbünden. 47 QUELLEN AUS DEM MEROWINGERREICH DES 6. JAHRHUNDERTS Von der Außenwirkung nun zur Wahrnehmung und Deutung innerhalb der Grenzen des Merowingerreiches: Die Mitte des 6. Jahrhunderts verfasste Lebensbeschreibung des Presbyters Eptadius streift den Konflikt nur insofern, 48 als dass Chlodwig zahlreiche Gefangene macht, die er auf die Gebiete seines Reiches verteilt, so auch auf den Raum Auxerre, der Heimat des Eptadius, der einige von ihnen freikauft. Die Wurzeln des Konfliktes interessieren den Autor nicht, lediglich die Beteiligung eines burgundischen Kontingents, das bis Limoges vorstößt,

44 Vgl. ebd., V 5, 8–9: Γότϑοι Ἰταλίαν τὴν ἡμετέραν βίᾳ ἑλόντες οὐχ ὅσον αὐτὴν ἀποδιδόναι οὐδαμῆ ἔγνωσαν, ἀλλὰ καὶ προσηδικήκασιν ἡμᾶς οὔτε φορητὰ οὔτε μέτρια. διόπερ ἡμεῖς μὲν στρατεύειν ἐπ҆ αὐτοὺς ἠναγκάσμεϑα, ὑμᾶς δὲ εἰκὸς ξυνδιαφέρειν ἡμῖν πόλεμον τόνδε, ὃν ἡμῖν κοινὸν εἶναι ποιεῖ δόξα τε ὀρϑή, ἀποσειομένη τὴν Ἀρειανῶν γνώμην, καὶ τὸ ἐς Γότϑους ἀμφοτέρων ἔχϑος. 45 Vgl. Epistolae Austrasicae, Ep. 48. 46 Vgl. Agathias, Historiae I 2, 3–4: Εἰσὶ γὰρ οἱ Φράγγοι οὐ νομάδες, ὥσπερ ἀμέλει ἔνιοι τῶν βαρβάρων, ἀλλὰ καὶ πολιτεία ὡς τὰ πολλὰ χρῶνται Ῥωμαϊκῆ καὶ νόμοις τοῖς αὐτοῖς καὶ τὰ ἄλλα ὁμοίως ἀμφί τε τὰ συμβόλαια καὶ γάμους καὶ τὴν τοῦ ϑείου ϑεραπείαν νομίζουσιν. Χριστιανοὶ γὰρ ἅπαντες τυγχάνουσιν ὄντες καὶ τῆ ὀρϑοτάτη χρώμενοι δόξη· ἔχουσι δὲ καὶ ἄρχοντας ἐν ταῖς πόλεσι καὶ ἱερεῖς, καὶ τὰς ἑορτὰς ὁμοίως ἡμῖν ἐπιτελοῦσι, καὶ ὡς ἐν βαρβάρω γένει ἔμοιγε δοκοῦσι σφόδρα εἶναι κόσμιοί τε καὶ ἀστειότατοι καὶ οὐδέν τι ἔχειν τὸ διαλλάττον ἢ μόνον τὸ βαρβαρικὸν τῆς στολῆς καὶ τὸ τῆς φωνῆς ἰδιάζον. 47 Vgl. Prokop, Bella VI 25, 2: ὅρκων τοίνυν ἐν τῷ παραυτίκα καὶ ξυνϑηκῶν ἐπιλελησμένοι, αἵπερ αὐτοῖς ὀλίγῳ πρότερον πρός τε Ῥωμαίους καὶ Γότϑους ἐπεποίηντο (ἔστι γὰρ τὸ ἔϑνος τοῦτο τὰ ἐς πίστιν σφαλερώτατον ἀνϑρώπων ἁπάντων) ἐς μυριάδας δέκα εὐϑὺς ξυλλεγέντες, ἡγουμένου σφίσι Θευδιβέρτου, ἐς Ἰταλίαν ἐστράτευσαν, ἱππέας μὲν ὀλίγους τινὰς ἀμφὶ τὸν ἡγούμενον ἔχοντες […]. 48 Zur Datierung vgl. Becher (2011), S. 164.

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findet Beachtung. 49 Der Fokus des Verfassers ist deutlich lokal. Gleiches hat für die in den 540er Jahren entstandene Vita des Caesarius von Arles zu gelten. Die Bezugnahme auf den Krieg des Jahres 507/508 dient hier der zeitlichen und thematischen Einordnung der Belagerung der Stadt Arles durch fränkische und burgundische Truppen, wobei ein vor den Stadttoren gelegenes Kloster dem „Wüten der Barbaren“ (ferocitas barbarorum) zum Opfer fällt. 50 In einer Predigt erinnert Caesarius an jener Tage Schrecken. Unter Benutzung einer Schrift des Quodvultdeus von Karthago spricht der Arelatenser Bischof von Provinzen, die in Knechtschaft gerieten, von Müttern, die ihren Familien, und stillenden Frauen, denen ihre Säuglinge entrissen worden seien. Allenthalben seien Trauer und Schmerz gewesen, als der dominus barbaricus nach Arles kam und „Angst und Schrecken“ (timor et horror) verbreitete. 51 Entgegen der Angabe Gregors von Tours, die gallische Bevölkerung habe die Herrschaft der Franken begrüßt, öffnet Arles nicht die Tore. Im Gegenteil beteiligen sich über jedwede ethnischen und religiösen Trennlinien hinweg, die in der Vorstellung der Autoren kongruieren, alle Bewohner an der Verteidigung der Stadt. 52 Die Folgen der Schlacht bei Vouillé werden nur in ihren regionalen Auswirkungen betrachtet, indem dadurch die Provence und Arles vom Westgoten- an das Ostgotenreich übergehen. 53 Ebenfalls nur in ihren lokalen Auswirkungen wird die Auseinandersetzung in der Vita des Maxentius aus dem Poitou betrachtet, die in zwei hochmittelalterlichen Redaktionen vorliegt, welche aber ältere Kunde bewahrt haben. 54 Darin ist von einer Plünderung des Klosters des Maxentius durch die als barbarisch klassifizierten Truppen Chlodwigs, die

49 Vgl. Vita s. Eptadii, c. 12: Iterum parvo post tempore castro provincie Limovicine Idunum nomine iussu regis Burgundionum a Romanis effractum est […]. Vgl. ebd., c. 13: […] praecellentissimus Clodoveus rex Francorum in Gocia cum exercitu esset ingressus, et ab illo Alaricus rex Gottorum fuisset interfectus, facta est captivorum innumerabilis multitudo, qui dispersi per regionibus sunt dilatati. 50 Vgl. Vita s. Caesarii I 28: Etenim, obsidentibus Francis ac Burgundionibus civitatem, iam enim Alarico rege a victoriosissimo rege Chlodoveo in certamine perempto [...]. In hac ergo obsidione monasterium, quod sorori seu reliquis virginibus inchoaverat fabricari, multa ex parte destruitur, tabulis ac cenaculis barbarorum ferocitate direptis pariter et eversis. 51 Vgl. Caesarius von Arles, Serm. 70: […] quando totae provinciae in captivitatem ductae sunt, sustinuimus, matres familias abductas, praegnantes abscisas, et nutrices avulsis e manibus parvulis atque in via semivivis proiectis nec vivos ipsos filios retinere, nec mortuos permissae sunt sepelire. Cruciatus in utroque magnus et dolor: haec dolebat avibus canibusque proiectum suum parvulum; haec metuebat offendere dominum barbaricum. Timor et horror tortores cordis pariter insistebant. Caesarius benutzt hier Quodvultdeus, De tempore barbarico II 5. 52 Beispielsweise werden Goten und Arianer gleichgesetzt. Vgl. Vita s. Caesarii I 30: Domus vero ecclesiae et cubiculum antistitis Arrianorum mansionibus constipatur. Unus tamen ex ipsis Gothis, qui se in lectulo illius, aliis contradicentibus, conlocavit […]. 53 Vgl. ebd., I 28: […] Theudericus Italiae rex provinciam istam, ducibus missis, intraverat. Vgl. ebd., I 34: Sic deinde a Wisigothis ad Austrogothorum devoluta est regnum […]. 54 Vgl. Heinzelmann (1996), S. 98: „Clovis est impliqué dans cette histoire, ce qu’il était très vraisemblablement déjà dans la Vie utilisée par Grégoire […].“ Zu den beiden hochmittelalterlichen Redaktionen vgl. Kumaoka (2009), S. 513–531.

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sich auf dem Marsch nach Poitiers befinden, die Rede. 55 Diese hatten sich weder als „Befreier“ Galliens von arianischer Häresie gesehen, noch wurden sie als solche von der Klostergemeinschaft, aus der sich der Autor rekrutierte, wahrgenommen. Weder Anlass noch Ausgang des Konfliktes zwischen Franken und Westgoten werden thematisiert, sondern lediglich die Auswirkungen für die eigene Gemeinschaft. Gleichfalls lokales Kolorit weisen zwei weitere Texte auf, allerdings kommen sie in ihrer Deutung jener Gregors von Tours nahe. Da Gregor beide kannte und benutzte, handelt es sich um ältere Traditionen, die der Bischof von Tours aufgegriffen hat. Eine Tradition stammt aus dem Umfeld der Kirche des Hilarius zu Poitiers. Unter Zuhilfenahme lokaler Überlieferung verfasste Venantius Fortunatus um 570 ein Buch über die Wunder des Hilarius. 56 Auch Venantius berichtet von einem von der Hilariuskirche ausgehenden Licht, das Chlodwig leitet. Dieses vergleicht er allerdings nicht mit dem Leuchtturm von Alexandria, wie Gregor von Tours, sondern mit der Feuersäule, die den Israeliten den Weg aus Ägypten wies. 57 Wohl ebenfalls durch den Touroner Bischof aufgegriffen scheint ein Vergleich Chlodwigs mit Hilarius, wie ihn die Schrift des Venantius Fortunatus bietet. Wie dereinst Hilarius mit Worten auf Synoden wider die arianische Lehre und Kaiser Constantius II. stritt, so focht der Frankenkönig mit dem Schwert auf dem Schlachtfeld gegen den arianischen Alarich, den wiedergekehrten Constantius. 58 Obgleich die Deutung der Auseinandersetzung an jene Gregors denken lässt, will Venantius von einer ganz Gallien betreffenden Tragweite des Geschehens nichts wissen, vielmehr ist es ihm um den Anteil der Kirche von Poitiers und ihres Patrons an dem Sieg des Merowingers zu tun. Eine zweite Tradition erreicht uns aus dem Gebiet von Agen in Gestalt der Leidensgeschichte des Märtyrers Vincentius, entstanden um die Mitte des 6. Jahr-

55 Vgl. Vita s. Maxentii, c. 11: […] Franci cum Gothis conflictu bellico advenirent, praecedente eos Chlodovaeo rege. Cum autem monasterio propinquassent, in quo sanctus Maxentius pastor habebatur egregius, et venissent in villam vocabulo Vocladum, instinctu diaboli cogitare coeperunt, ut idem monasterium debellare deberent. 56 Zur Datierung vgl. Meyer (1901), S. 23; Berschin (1986), S. 281f. 57 Vgl. Venantius Fortunatus, Liber de virtutibus s. Hilarii, c. 7: […] Chlodoveus dum contra haereticam gentem pugnaturus armatas acies commovisset, media nocte meruit de basilica beati viri lumen super se venientem adspicere, admonitus, ut festinanter sed non sine venerabilis loci oratione adversum hostes conflictaturus descenderet. Quod ille diligenter observans et oratione occurens tanta prosperitate altero pro se pugnaturo processit ad bellum, ut intra horam diei tertiam ultra humana vota sortiretur victoriam. Ubi multitudo cadaverum colles ex se visa sit erexisse. […] Similis quaedam contigit Israhelitici temporis huius causa virtutis. Nam ibi columna ignis praecesserat, hic figura lampadis admonebat. 58 Vgl. ders., Vita s. Hilarii, c. 5: Igitur Constantii imperatoris tempore cum Arriana haeresis venenata de radice flore toxico pullularet, tunc vir sanctissimus timore nudus fidei fervore vestitus quasi signifer belligerator per medias acies inter hostiles fremitus inter haereticos gladios se ingerebat […]. Vgl. ders., Liber de virtutibus s. Hilarii, c. 8: […] credebat sibi contra Halaricum Arrianum iterum redire Constantium. […] Nam qui tunc in synodo ad confundendum hostem verba fidelia protulit, hic in campo arma tractavit victoria.

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hunderts. 59 In ihr heißt es, ein arianischer Priester namens Wictharius aus dem Volk der Goten habe das Grab des Märtyrers zerstört. Daraufhin wirkt dieser ein Wunder und treibt Wictharius samt seinem Volk über die „Spanischen Alpen“. 60 Die gotisch-fränkische Auseinandersetzung, an deren Ende der Untergang des Reiches von Toulouse steht, ist personifiziert auf den Konflikt zwischen Vincentius und Wictharius reduziert, wodurch die Tragweite der Auswirkungen auf den Raum Agen begrenzt bleibt. Hintergrund der Auseinandersetzung sind zwar konfessionelle Spannungen, Auslöser ist aber die Zerstörung des Märtyrergrabes. Es existierten folglich ältere Traditionen im Hinblick auf die Konfrontation Chlodwigs mit Alarich, in denen die Deutung Gregors von Tours in Grundzügen bereits angelegt war. Allerdings ist ihnen eine ganz Gallien betreffende Tragweite noch nicht eigen. Vielmehr repräsentieren sie ein frühes Stadium der Traditionsbildung, in welcher der Fokus lokal ist und die Auswirkungen mit Blick auf das Poitou, das Limousin oder die Provence behandelt werden. Einige Texte nehmen keine Notiz von Konversion und Schlacht bei Vouillé, obgleich ihre Autoren Kenntnis davon hatten. Hierzu zählt die um 520 entstandene älteste Vita der heiligen Genovefa von Paris, deren Verfasser nicht nur Zeitzeuge beider Ereignisse, sondern zudem ein Vertrauter des Königspaares war. 61 Er nennt den Frankenkönig nicht rex confessus wie Gregor, sondern rex bellorum iure tremendus crebro, womit für ihn dessen gesta memorabilia nicht in der Annahme des katholischen Glaubens bestehen, sondern in seinen Kriegstaten. 62 Ebenfalls keinen Eindruck haben Taufe und Sieg über Alarich auf den Autor einer vor 543 entstandenen Vita des Remigius von Reims gemacht, dabei war es Remigius, der Chlodwig aus der Taufe hob. 63 Der Verfasser der Lebensbeschreibung des Bassus von Saintes,64 einem Zeitgenossen Alarichs II., spricht von den tempora Gothorum und einer Zeit, in der Frankenkönige über Saintes gebieten. Die Modalitäten des Übergangs thematisiert er nicht. 65 Marius von Avenches, ein Zeitgenosse Gregors von Tours, gedenkt in seiner um 580 entstandenen Chronik weder der Konversion Chlodwigs noch dessen Sieges bei Vouillé. Das Werk des Bischofs von Avenches ist in einer weiteren Hinsicht bedeutsam. Es wird angenommen, dass er auf eine ältere Quelle zurückgreifen konnte, die ihn über das Frankenreich des frühen 6. Jahrhunders in 59 Darauf verweist die Aussage in der Passio s. Vincentii, c. 6, das Geschehen habe sich in iuvenelis etas zugetragen. 60 Vgl. ebd., c. 6: […] arriane haeresis venenis interius penetrata pervenit, ut diruere martyris basilicam, dissoluere sepulturam […]. Quod Wictharium, arriane legis potentissimum et iniquissimum sacerdotem, etiam iuvenelis etas meminit presumpsisse. […] Nam statim cum genere, familiis omnique laborum utilitate privatum intra Spaniarum alpes ad precem martyris ultio divina migravit et omnem generationis illius superbum potentiae dominatum de loco sepulture suae proximo vir Deo placitus obtentu deprecationis a[d]movit. 61 Vgl. Heinzelmann/Poulin (1986), S. 178. 62 Vgl. Vita s. Genovefae, c. 56: […] Chlodovechus rex bellorum iure tremendus […]. 63 Vgl. Schäferdiek (1983), S. 256–278. 64 Zur Datierung vgl. Heinzelmann (2010), S. 44. 65 Vgl. Vita s. Bassi, c. 1: In tempore, dum Ariana haeresis Gothorum gentis pulsaret, et terram Galliarum sua perfidia occupasset […].

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Kenntnis setzte. 66 Dies impliziert, dass diese zeitnähere Quelle bereits keine Nachricht über Konversion und Gotenkrieg enthielt und Marius sie dahingehend auch nicht ergänzte, entweder weil es ihm nicht geraten schien oder er keine Kenntnis davon besaß. Beide Erklärungsansätze legen den Schluss nahe, dass den Ereignissen nicht die epochale Bedeutung zukam, die ihnen Gregor von Tours beimisst. Dennoch ist dessen Deutung Chlodwigs als Schutzherr der katholischen Kirche Galliens, der aufgrund seines rechten Bekenntnisses siegt, nicht aus der Luft gegriffen. So nennen die Akten des Konzils von Orléans des Jahres 511 den Merowinger einen „Sohn der katholischen Kirche“ (catholicae ecclesiae filius), den, von „priesterlichem Geiste“ (sacerdotalis mens) beseelt, die „Sorge um den Glauben“ (gloriosae fidei cura) zur „Pflege der katholischen Religion“ (religionis catholicae cultus) antreibe. 67 Remigius von Reims apostrophiert Chlodwig in einem zeitgenössischen Brief „nicht nur als Verkünder des katholischen Glaubens, sondern auch als dessen Verteidiger“ (non solum praedicator fidei catholicae, sed defensor). 68 In seinem Antwortschreiben auf die Einladung Chlodwigs, seiner Taufe beizuwohnen, nennt Bischof Avitus von Vienne die Konversion nostra victoria, denn nun habe nicht allein die Graecia, der Osten, sondern auch der Westen einen princeps legis nostrae. 69 Chlodwigs Einladung wird in der Forschung dahingehend interpretiert, dass er seine Konversion dem gallischen Episkopat angezeigt habe, um dessen Sympathien zu gewinnen. 70 Bereits Knut Schäferdiek warnte vor solch einem Schluss, 71 der keineswegs zwingend ist, denn in anderen Briefsammlungen hat sich keine Einladung erhalten. Vernachlässigt wurde bisher das Nahverhältnis, in dem Avitus und Chlodwig standen. Der Bischof von Vienne verfasste eine verlorene Schrift über die Konversion einer Schwester Chlodwigs, korrespondierte mit diesem bereits vor dessen Taufe 72 und stand der burgundischen Königsfamilie nahe, zu der auch Chrodechilde, Chlodwigs Gemahlin, zählte. Nicht ausgeschlossen ist, dass Avitus Anteil an dem Zustandekommen dieser Verbindung hatte, wie er auch mit der Eheschließung einer Tochter Gundobads betraut war. 73 Eher richtete sich die Einladung an Personen, die dem Königspaar verbunden waren. Der merowingischen Königsfamilie standen zwei wei66 Vgl. Favrod (1990), S. 7–9. 67 Vgl. Concilium Aurilianense a. 511, Incipit: Domno suo catholicae ecclesiae filio Chlothovecho gloriosissimo regi omnes sacerdotes […]. Quia tanta ad religionis catholicae cultum gloriosae fidei cura vos excitat, ut sacerdotalis mentis affectum sacerdotes de rebus necessariis tractaturos in unum collegi iusseritis […]. 68 Epistolae Austrasicae, Ep. 3. 69 Vgl. Avitus von Vienne, Ep. 46: […] vestra fides nostra victoria est. […] Gaudeat equidem Graecia principem legisse nostrum: sed non iam quae tanti muneris donum sola mereatur. Illustrat tuum quoque orbem claritas sua, et occiduis partibus in rege non novi iubaris lumen effulgurat. 70 Vgl. zuletzt Becher (2011), S. 195. 71 Vgl. Schäferdiek (2004), S. 119 f. 72 Vgl. Shanzer (1998), S. 54: „Clearly there had been correspondence for some time, perhaps even an encounter.“ 73 Vgl. Avitus von Vienne, Ep. 5; Shanzer (1998), S. 55.

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tere Bischöfe nahe, die auf Chlodwigs Religionswechsel zu sprechen kommen: Nicetius von Trier und Venantius Fortunatus. 74 In einem um 565 abgefassten Brief an eine Enkelin Chlodwigs wertet der Bischof von Trier dessen Sieg bei Vouillé als Resultat seiner Konversion. 75 Venantius Fortunatus, späterer Bischof von Poitiers, weist Charibert, einen Enkel Chlodwigs, darauf hin, dass dessen Glaube ihm die Siege über seine Feinde gewährte. 76 Es existierte ein Personenkreis, der Chlodwig als Schutzherr der Kirche und dessen Sieg über die Westgoten als Folge seiner Konversion betrachtete. Diese Personen haben eines gemein: die Königsnähe. 77 Auch gab es bezüglich Chlodwig kritische Stimmen, die sein Einmischen in kirchliche Belange als unkanonisch werteten. 78 In ihnen haben sich Reste eines Diskurses erhalten, in dem um das Durchsetzen des jeweiligen Chlodwigbildes gerungen wurde. ZUSAMMENFASSUNG Ein Vergleich des Quellenmaterials macht deutlich: Weder im westgotischen Spanien noch im ostgotischen Italien zeitigt der Religionswechsel Chlodwigs eine Reaktion, soweit die Überlieferung einen solchen Schluss zulässt. Die Schlacht bei Vouillé wird im westgotischen Spanien insoweit als Zäsur gewertet, als dass mit ihr die gallischen Territorien verloren gingen. In Konstantinopel wurde der katholische Glaube als einendes Charakteristikum mobilisiert, wenn eine gemeinsame Außenpolitik des Kaisers mit den Frankenkönigen gewollt war. Das im merowingischen Gallien des 6. Jahrhunderts entstandene Quellenmaterial betont im Hinblick auf die Auseinandersetzung Chlodwigs mit den Westgoten, die als Konflikt zweier gentes barbarorum gesehen wurde, das Leiden der Bevölkerung. 74 Zur Beziehung des Venantius Fortunatus zu den Merowingern vgl. George (1992), S. 18: „The Merovingians were Fortunatus’ patrons in terms of power and social standing; in terms of cultural influence, the poet was often theirs.“ 75 Vgl. Epistolae Austrasicae, Ep. 8: […] qui baptizatus quanta in hereticos Alaricum vel Gundobadum regum fecerit, audisti […]. 76 Vgl. Venantius Fortunatus, Carm. VI 2, 29–34: […] avis: nam quoscumque velim veterum memorare parentum, stirpis honorificae regius ordo fluit, cuius celsa fides eduxit ad astra cacumen, atque super gentes intulit illa pedes, calcavit hostes tumidos, erexit amicos, fovit subiectos conteruitque feros. 77 Ob dies in Zusammenhang mit einer von Yitzhak Hen (1993), S. 271–276, postulierten promerowingischen ‚Propaganda‘ durch den gallischen Episkopat des 6. Jahrhunderts steht, müssen weitere Untersuchungen aufzeigen. 78 Die Einmischung Chlodwigs I. in die Besetzung von Bistümern wurde von einigen Bischöfen als unkanonisch gewertet. Vgl. Epistolae Austrasicae, Ep. 3: Ego Claudium presbyterum feci, non corruptus praemio, sed praecellentissimi regis testimonium, qui erat non solum praedicator fidei catholicae, sed defensor. Scribitis: Canonicum non fuisse, quod iussit; summo fungamini sacerdotio. Auf dem Konzil von Orléans des Jahres 511 ließ Chlodwig seinen Einfluss auf den Eintritt in den Klerus festschreiben. Vgl. Concilium Aurilianense a. 511, c. 4: […] ut nullus saecularium ad clericatus officium praesumatur nisi aut cum regis iussione aut cum iudicis voluntate […].

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Von einer „Befreiung“ von arianischer Häresie ist keine Rede. Die Truppen Chlodwigs wurden weder als „Befreier“ wahrgenommen noch betrachteten diese sich als solche. Eine das gesamte Gallien betreffende Tragweite des Geschehens ist den Autoren noch nicht bewusst, deren Deutungen in ihrem lokalen Kolorit ein frühes Stadium der Traditionsbildung repräsentieren, indem die Auseinandersetzung in ihren regionalen Auswirkungen behandelt wird. Dies verweist darauf, dass im Frankenreich über weite Strecken des 6. Jahrhunderts noch keine, das gesamte Reich umspannende kollektive Identität existierte. Eine solche setzt einen gemeinsamen Kommunikations- und Interaktionsraum voraus, der noch nicht bestanden haben dürfte. Vielmehr existierten viele kleinräumige, lokale Identitäten, wie denn das Gallien jener Zeit in verschiedene civitates zerfiel, deren Träger das Geschehen um Konversion und Vouillé in der für sie bedeutsamen Weise verarbeiteten. Dennoch ist Gregors Deutung der Schlacht bei Vouillé als Konfrontation eines rechtgläubigen Königs mit Häretikern keineswegs aus dem Nichts entstanden, sondern ist in älteren Traditionen aus dem Umfeld der Kirche zu Poitiers und gallischer Bischöfe in Königsnähe angelegt, die den Merowinger als Vorkämpfer der Orthodoxie begreifen, welche die Vorstellungen des Touroner Bischofs von Chlodwig als novus Constantinus,79 als einer religiös codierten Identifikationsfigur, geprägt haben dürften. 80 Gregors Deutung ist dahingehend bedeutsam, dass sie bestehende Traditionslinien zusammenführt, um die Rolle seines eigenen Bistums in der Auseinandersetzung mit dem Arianismus erweitert, und das Geschehen in seiner Tragweite auf eine Ebene transponiert, in der es für die Identität aller Bewohner Galliens entscheidend ist, indem Chlodwig durch seinen Religionswechsel und anschließenden Sieg bei Vouillé Gallien territorial-politisch und religiös eint. Durch die Rezeption seiner Historien sollte Gregors Deutung in der Erinnerungsbildung dominierend werden. 81 79 Vgl. Gregor von Tours, Decem Libri Historiarum II 31: Procedit novos Constantinus ad lavacrum […]. 80 Gregor von Tours zeigt sich vertraut mit den Briefen des Avitus von Vienne. Vgl. ebd., II 34: Scripsit enim humiliarum librum unum, de mundi principio et de diversis aliis conditionibus libros sex versu conpaginatus, epistolarum libros novem, inter quas supradictae contenentur epistolae. Auch lagen ihm Briefe des Remigius von Reims vor. Vgl. ebd., II 31: Pro qua cum rex contristaretur, sanctus Remegius consolaturiam misit epistolam, quae hoc modo sumpsit exordium […]. Gregor kannte die Passio des Vincentius von Agen, wie auch die Vita des Maxentius aus dem Poitou. Für letztere vgl. ebd., II 37: Multasque et alias virtutes operatus est, quas si quis diligenter inquiret, librum Vitae illius legens cuncta repperiet. Vgl. ders., Liber in Gloria martyrum, c. 104: Vincentius autem Agenensis urbis et ipse martyr, cuius passionis historia ab incolis retenetur […]. Auch war ihm die Hilariusvita des Venantius Fortunatus bekannt. Vgl. ders., Liber in Gloria confessorum, c. 2: Ad cuius beatum sepulchrum multae quidem virtutes ostensae narrantur, quas liber vitae eius contenet. 81 Vgl. dazu beispielsweise die im 9. Jahrhundert entstandene Vita s. Iuniani confessoris Commodoliacensis, c. 2: Cum valde in Galliarum vel Aquitanicae provintiae terminis seva sub Gothorum Alarico principe Arriana heresis sectaretur, et Francorum gens eo tempore gentilitatis teneretur errore, praedicante sancto Remigio Remensis urbis episcopo, Clodoveus rex Francorum cum multa gentilium turba supersticiosa ac funesta ad baptismi gratiam convolavit. Qui mox cunctam gentem Francorum ab baptismatis partem exortare coepit, ut sub leve iugum Christi fortia colla dulci onere religarent; qui mox, cum sacerdotibus, Christi praeeunte

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gratia, inito consilio, ut gens heretica a christianorum repelleretur dominatu bellum cum supradicto rege Alarico in Pictavorum terminis indidit; moxque divino fultus auxilio, Arrianorum interfectum principem, cum suis satellitibus a Galliarum atque Aquitanorum finibus eius superstitionis abstulit dogma et cunctos unius verae fidei christianae ac catholicae religionis instituit disciplinis.

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Vita sancti Caesarii episcopi Arelatensis libri duo, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. III), Hannover 1896 (ND 1995), S. 433–501. Vita sancti Eptadii presbyteri Cervidunensis, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. III), Hannover 1896 (ND 1995), S. 184–194. Vita sancti Iuniani confessoris Commodoliacensis, ed. Bruno Krusch (MGH SS rer. Merov. III), Hannover 1896 (ND 1995), S. 376–379. Vita sancti Maxentii abbatis in agro Pictaviensis (AA SS Iunii V), Antwerpen 1709, S. 169–176.

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DIE WAHRNEHMUNG DES CHRISTLICHEN WESTENS IM CHRISTLICHEN ORIENT AM BEISPIEL DER KIRCHE DES OSTENS (DIE SOG. NESTORIANER) IN DER SASANIDISCHEN UND FRÜHISLAMISCHEN ZEIT Dmitrij F. Bumazhnov ZUSAMMENFASSUNG Im Aufsatz wird der Versuch unternommen, die Wandlungen in der Wahrnehmung des christlichen byzantinischen Westens in der vor allem im persischen Mesopotamien vertretenen ostsyrischen Kirche des Ostens zwischen dem frühen 4. und späten 8. Jahrhundert zu verfolgen. Herangezogen werden die Unterweisung 5 des Aphrahat (geschrieben 337), die Viten des Narsai († um 500), des Katholikos Mār Āḇā († 552) und des Märtyrers Mār Gīwargīs († 612 oder 615), der 26. Brief des Katholikos Timotheos I. († 823) sowie andere ostsyrische Quellen. Ihre Analyse zeigt, dass die anfänglich positive Bewertung des vor kurzem christlich gewordenen Römischen Reiches bei Aphrahat bei den „nestorianischen“ Syrern nach dem 4. Ökumenischen Konzil von Chalzedon 451 durch eine andere abgelöst wurde, in der das Motiv des Verderbens des wahren Glaubens im chalzedonisch orientierten Byzanz immer stärker hervorgehoben wurde. Eine weitere Ursache dieser Entwicklung war die dauerhafte politische Anfeindung zwischen den Byzantinern und Persern bzw. abbasidischen Arabern. EINFÜHRUNG Der Titel dieses Aufsatzes bedarf einer erklärenden Anmerkung. Es soll nämlich eine kurze Erläuterung zum vorausgesetzten Konzept des Christlichen Orients erfolgen. Mit diesen Worten nehme ich Bezug auf das Fach „Sprachen und Kulturen des Christlichen Orients“, das sich mit nationalen Formen des Christentums im Nahen Osten, Transkaukasien und Afrika 1 von der römischen Kaiserzeit bis in die Gegenwart beschäftigt. 2 Diese Region deckt sich nur teilweise mit Byzanz bzw. mit dem Osten des Römischen Reiches zwischen 400 und 600. Ganz außerhalb dessen lagen Nubien und Äthiopien; Georgien, Armenien und kaukasisches

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Vor allem in Ägypten, Nubien und Äthiopien. Siehe dazu Albert (1993) und Kaufhold (2007).

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Albania (Ἀλβανία) bildeten eine Art Pufferzone zwischen dem Sasanidenreich und den Byzantinern und wechselten als Vasallenstaaten bald der einen bald der anderen Großmacht öfters ihre politische Richtung; schließlich lebten im Reich der Sasaniden selbst syrische und arabische Christen. Dem byzantinischen Territorium sind gänzlich die koptischen Christen in Ägypten zuzuordnen; die östlichen Provinzen Palästina, Syrien, Arabien, Mesopotamien u.a. waren von den christlichen Syrern und Arabern bewohnt. Bereits diese Übersicht mag deutlich machen, dass der Blick aus dem Christlichen Orient auf den christlichen Westen nicht selten ein Blick von außerhalb des Römischen bzw. Byzantinischen Reiches gewesen sein und – wie wir sehen werden – diesem als einem Ganzen gegolten haben konnte. Dies ist insbesondere bei der syrischen Kirche des Ostens der Fall, die sich nicht zuletzt durch ihren Namen als eine „östlich vom Römischen Reich gelegene“ Kirche definierte und auf die christlichen Gemeinden zurückgeht, welche bereits seit dem frühen 2. Jahrhundert im Parthischen und später auch im Sasanidischen Reich existierten. 3 Seit dem 5.–6. Jahrhundert sind die Ostsyrer auch als „Nestorianer“ bekannt. 4 Im Folgenden biete ich zur Orientierung eine kurze Skizze der Geschichte dieser Kirche bis zum 8. Jahrhundert, um danach eine Reihe von ostsyrischen Quellen vom 4. bis zum späten 8. Jahrhundert vorzustellen, die die Achse „Osten“ – „Westen“ in unterschiedlicher Weise thematisieren. Die dadurch, wie ich hoffe, deutlich zu sehende Wandlung in der Wahrnehmung des „Westens“ ist das eigentliche Thema dieses Aufsatzes. AUS DER GESCHICHTE DER KIRCHE DES OSTENS Die Anfänge des Christentums im heutigen Irak und Westiran liegen im Dunkeln. 5 Aus der Parthischen Zeit (bis 224) sind keine schriftlichen Quellen überliefert. Aus dem späten 3. Jahrhundert liegen Märtyrerakten vor. 6 Sporadische Christenverfolgungen, die sehr oft Kriege mit dem Römischen bzw. Byzantinischen Reich begleiteten, beginnen in der Sasanidischen Zeit im 3. Jahrhundert und sind

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Der heutige offizielle Name der Kirche des Ostens ist Die Heilige und Apostolische Kirche des Ostens der Assyrer. Allgemein zu der Kirche des Ostens mit weiterführender Literatur siehe Brock/Coakley (2011) und Hage (2007), S. 269–313. Zu der Frühgeschichte der Kirche des Ostens siehe Baum/Winkler (2000) und Labourt (1904), S. 1–18. Teule (2008), S. 11–30 bietet einen geschichtlichen Überblick bis 1553, als ein Teil der Kirche des Ostens eine Union mit Rom bildete. Über die Verehrung des Nestorius in der Kirche des Ostens siehe Seleznyov (2009). Der Terminus „Nestorianer“ wurde manchmal von den Mitgliedern der Kirche des Ostens als Selbstbezeichnung verwendet, siehe z.B. Chronique de Séert 26 (295,9 Scher). Chaumont (1988), S. 1–53, Fiey (1970), S. 1–65 und Jullien/Jullien (2003), S. 27–60. Siehe z.B. Brock (1978).

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bis zum Ende der Sasanidischen Dynastie im 7. Jahrhundert zu registrieren. 7 Eine übergreifende Kirchenstruktur fehlt bis 410, als auf der Synode von SeleukiaKtesiphon ein Katholikos für alle persischen Christen gewählt wurde. 8 Auf der gleichen Synode wurden auch die Beschlüsse des 1. Ökumenischen Konzils in Nizäa von 325 sowie einer Reihe von Lokalsynoden des 4. Jahrhunderts im Römischen Reich rezipiert. 9 Eine andere Synode dieser Zeit (424) verbietet den persischen Bischöfen, sich über den Katholikos bei den Patriarchen der Byzantiner zu beschweren. Somit wird die Kirche des Ostens offiziell völlig selbstständig. 10 Seit dem frühen 5. Jahrhundert werden in der theologischen Schule von Edessa die exegetischen Werke des Bischofs von Mopsuestia, Theodoros, ins Syrische übersetzt und im Schulunterricht eingesetzt. 11 Die Theologie des Theodoros, der dazu neigte, die menschliche Natur Christi als eine vom Logos getrennte Person zu denken, wurde auf dem 4. Ökumenischen Konzil in Chalzedon 451 verurteilt. Auf dem 3. Ökumenischen Konzil in Ephesus 431 wurde die Lehre eines Schülers des Theodoros, des Bischofs von Konstantinopel, Nestorius, mit dem Bann belegt. 489 wurde die dem Nachlass des Theodoros treue theologische Schule von Edessa auf Betreiben des lokalen chalzedonensischen Bischofs geschlossen. Die Lehrer und Schüler flohen ins persische Nisibis, 12 wo die Schule neu etabliert und zum wichtigen Zentrum der „nestorianischen“ Theologie wurde. 13 Aus dem 6. Jahrhundert sind Zeugnisse über theologische Dispute überliefert, die die „Nestorianer“ – nicht selten im Beisein eines persischen Großkönigs – mit den syrischen Miaphysiten führten. 14 Im 7. Jahrhundert erreichte die „nestorianische“ Mission China. 15 Ihren Höhepunkt hatte die Kirche des Ostens unter dem Katholikos Timotheos I. (727/28–823), 16 der einen freundlichen Umgang mit einer ganzen Reihe von abbasidischen Kalifen 17 pflegte und dadurch seine Kirche

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Siehe dazu Rist (1996). Zur Bedeutung und Stellung der ostsyrischen Katholikoi siehe Macomber (1968), Müller (1969), Suermann (2007) und besonders ausführlich Abramowski (2011). 85 Jahre nach dem Konzil von Nizäa! Zum Problem der Abwesenheit der Kirche des Ostens auf den westlichen Synoden siehe Brock (1995). Siehe dazu Abramowski (2011), S. 32–47 und Hage (1999). Zur Rezeption der Werke des Theodoros in der theologischen Schule von Edessa/Nisibis siehe Becker (2006), S. 113–125. Siehe dazu Reinink (1995). Allgemein zu der Schule von Edessa/Nisibis siehe Drijvers (1995) und Vööbus (1965). Siehe dazu weiter unten, S. 124–125. Wie die Inschrift auf der 781 in der damaligen chinesischen Hauptstadt Xi’an errichteten Stele berichtet, hat die nestorianische Missionsdelegation China bereits 635 erreicht; zu der Stele und ihrer zweisprachigen (syrisch-chinesischen) Inschrift siehe Longfei (2004). Die neueste umfassende Monographie über Timotheos ist Berti (2009). Zur Bedeutung des Timotheos und seiner Zeit in der Geschichte der Kirche des Ostens siehe Santoro (2008). Über die meistens freundschaftlichen Beziehungen des Timotheos zu den Kalifen seiner Zeit siehe Putman (1977), S. 127–145.

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im Kalifat fest zu etablieren wusste. Er war auch derjenige, der den Patriarchensitz von Seleukia-Ktesiphon nach Bagdad im späten 8. Jahrhundert verlegen ließ. APHRAHAT (4. JAHRHUNDERT) Mit Aphrahat († nach 345) kommt der erste uns namentlich bekannte christliche Autor aus dem Persischen Reich auf den Plan. Den uns hier interessierenden Text, die Unterweisung 5, 18 hat er kurz vor dem Ausbruch des Krieges zwischen den Persern und Byzantinern, den der persische Großkönig Schapur II. 337 begonnen hat, 19 geschrieben. Aphrahat beobachtet, wie sich das persische Heer auf den Krieg vorbereitet (V,1), und entfaltet in der an einen unbekannten Freund gerichteten Unterweisung 5 seine Sicht auf die bevorstehenden Kriegshandlungen. Diese Sicht ist durch die christliche Exegese von den Kapiteln 2 und 7 aus dem biblischen Buch des Propheten Daniel geprägt. In Daniel 2 hat der König Nebukadnezar einen Traum, in dem er ein Standbild sieht, dessen Haupt golden, die Brust und Arme silbern, der Bauch und die Schenkel bronzen und die Füße teils aus Eisen, teils aus Ton sind. 20 Das Standbild wird von einem Stein zerstört, der ihn an den Füßen trifft. 21 In Daniel 2,36–45 werden die einzelnen Teile des Standbildes als Königreiche ausgelegt, die auf das Haupt (das Reich des Nebukadnezars selbst) folgen. Der Stein bedeutet „ein Reich“, „das in Ewigkeit nicht untergeht“. 22 In Daniel 7 hat der Prophet selbst eine Vision, in der ihm vier Tiere erscheinen, 23 die in Daniel 7,17–25 ebenfalls als eine Folge von Königen bzw. Königsreichen gedeutet werden. Nach der Folge von Tieren übergibt Gott „die Herrschaft und die Macht […] dem Volk der Heiligen des Höchsten“, 24 das durch eine geheimnisvolle Figur des Menschensohnes (Daniel 7,13) symbolisiert wird. Seit Hippolyt von Rom (frühes 3. Jahrhundert) hat die christliche Exegese in dem Stein (Daniel 2,44) und dem Menschensohn (Daniel 7,13) Christus gesehen, der die Abfolge von Assyrern, Medern bzw. Persern, Griechen und Römern durch sein ewiges Reich ablöst. 25 Aphrahat folgt dieser Deutung, erweitert sie aber auf eine höchst bedeutsame Weise. Das, worauf es ihm ankommt, ist die These, dass

18 Der üblichen deutschen Übersetzung „Unterweisung“ entspricht der syrische Begriff taḥwīṯā (< ḥawī, „zeigen“); treffend ist die gängige lateinische Übersetzung demonstratio. 19 Über die die Verfassung der Unterweisung 5 begleitenden politischen Ereignisse siehe Pierre (1988), S. 84–85 und Bruns (1991), S. 52–53; 156–167. 20 Daniel 2,31–32. 21 Daniel 2,34. 22 Daniel 2,44, Zitat nach der Einheitsübersetzung 1980. 23 Daniel 7,1–7. 24 Daniel 7,27, Zitat nach der Einheitsübersetzung 1980. 25 Zur frühchristlichen Rezeption des Danielbuches im Allgemeinen vgl. Oegema (2003), speziell zu Daniel 7,13 vgl. Casey (1976), S. 20–26.

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die Römer, mit welchen er die Byzantiner identifiziert, 26 aufgrund des Zeugnisses der beiden Danielkapitel das letzte Reich vor dem ewigen Reich Christi sind. Insofern sind sie durch kein anderes Reich zu besiegen (V,22,24). 27 Christus wurde dem Römischen Reich bereits durch die Kopfsteuer (Lukas 2,1f) zugerechnet und half den Römern im Krieg wie den Seinen. 28 Nachdem die Juden ihn als ihren König nicht anerkannt hatten, hat er die Weltmacht an die Römer abgegeben, die diese in Ehren halten, um sie Christus bei seiner zweiten Ankunft zurückzugeben. 29 Dem möglichen Einwand, dass die Römer doch durchaus manchmal im Krieg besiegt worden waren, begegnet Aphrahat mit der Erklärung, dass es deswegen der Fall sein könnte, weil die Römer damals Christus nicht mit in den Kampf führen wollten. 30 Damit nimmt Aphrahat deutlich Bezug auf die Christianisierung des Imperium Romanum durch den Kaiser Konstantin. Seine Botschaft ist eindeutig: Das nun christlich gewordene Reich der Römer ist unbesiegbar, weil es so nach dem göttlichen Heilsplan sein soll, dem die ganze Menschengeschichte unterliegt. 31 Die erste uns bekannte Stellungnahme der persischen Christen zum Westen ist also ausgesprochen römerfreundlich; die Zeit unter den eignen persischen Herrschern wird als „böse und ungerecht“ charakterisiert. 32 Derartige Stimmungen unter den persischen Christen waren dem damaligen persischen Großkönig Schapur II. wohl kein Geheimnis. Als Reaktion darauf begann 340/341 die erste längere Christenverfolgung in Persien, die bis zum Tode Schapurs 379 dauerte. 33 NARSAI UND MĀR ĀḆĀ (5.–6. JAHRHUNDERT) Die in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ansetzende Rezeption der Entscheidungen des Konzils von Chalzedon unter den christlichen Syrern brachte eine deutliche Akzentverschiebung in der Wahrnehmung des römisch-byzantinischen 26 Die Römer bzw. Griechen bezeichnet Aphrahat als „Söhne Esaus“ (bnay ‘Isū), siehe z.B. V,24 (233,7 Parisot). Die Identifikation von Edom/Esau mit dem Römischen Reich und dem vierten Tier aus Daniel 7 ist jüdisch und findet sich im Ansatz schon in 4 Esra 6,7–10; 11,1– 2,5–6; 12,10–11 (verfasst um 100 n. Chr.). In den nachfolgenden Jahrhunderten findet diese Bezeichnung breite Verwendung in der rabbinischen Literatur; siehe dazu OberhänsliWidmer (2008), S. 279ff. Zur Identifikation der Griechen und Römer im Sinne einer Weltepoche vgl. Aphrahat, Demonstratio XXII,25 (1044,17–19 Par.). 27 Die in Demonstratio V formulierte politische Theologie Aphrahats wurde ausführlich analysiert in Afinogenov (1994), S. 184–186; außerdem wird in Tubach (2003) fast ausschließlich Demonstratio V behandelt. 28 Aphrahat, Demonstratio V,24 (233,21–23 Par.). 29 Aphrahat, Demonstratio V,22 (229,26–232,2 Par.) und Demonstratio V,24 (233,5–15 Par.). 30 Aphrahat, Demonstratio V,24 (233,25–235,6 Par.). 31 Aphrahat, Demonstratio V,1 (184,3–4 Par.) und Demonstratio V,23–24. 32 Aphrahat, Demonstratio V,1 (184,4–7 Par.). 33 Vgl. Rist (1996), S. 30–31. Ausführlich über politische und religiöse Motive dieser Christenverfolgung siehe Schwaigert (1988), S. 77–81 und Wiesenhöfer (1993), S. 376–379.

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Westens durch die Ostsyrer mit sich. Diese Verschiebung ist beispielsweise in der Lebensgeschichte 34 des ostsyrischen Kirchenlehrers Narsai klar zu erkennen, die in der Kirchengeschichte des Ostsyrers Barḥaḏbšabbā ‘Arḇāyā (spätes 6. – frühes 7. Jahrhundert) nachgezeichnet wurde. 35 Narsai wirkte als Lehrer und Leiter der berühmten Schule der Perser in Edessa von zirka 450 bis zur seiner Vertreibung aus der Schule um das Jahr 471.36 Weil man ihm in Edessa die Zusammenarbeit mit den Persern gegen die Byzantiner – also den Hochverrat – inkriminierte, 37 musste er nach Nisibis fliehen, 38 wo er mit kurzer Unterbrechung bis zu seinem Tode um 500 lehrte. Die politischen Verleumdungen blieben allerdings auch in Nisibis nicht aus, hier hieß es allerdings, dass Narsai byzantinischer Spion sei. 39 Barḥaḏbšabbā berichtet von der theologischen Polemik, die Narsai mit Jakob von Sarug († um 521) führte, dessen christologische Position sich in der ersten Annäherung als gemäßigt promiaphysitisch umschreiben lässt. 40 Eine besondere Brisanz bekommt dabei das gute Verhältnis der jeweiligen Konfession zu dem persischen Großkönig, ein Anliegen, um welches Narsai ebenfalls bemüht war. 41 Der Kampf der Konfessionen und enge Verquickung von Theologie und Politik färbten seit dieser Zeit unentwegt die Linsen, durch die die Ostsyrer den christlichen Westen wahrnahmen. 42 Barḥaḏbšabbā zeigt das unmissverständlich, wenn er den Bischof Barṣauma, welcher in Nisibis Narsai empfängt, zu dem berühmten Lehrer sagen lässt, dass Gott seine Flucht zu den Persern in die Wege geleitet hätte, weil die Römer der wahren Lehre unwürdig wären und durch den Verlust eines solch großen Lehrers für ihre Sünden bestraft werden sollten. 43 In einem anderen Werk 44 schreibt

34 Pinggéra (2007), S. 248 bemerkt zu dem Narsai dem Großen gewidmeten Kapitel 31 der Kirchengeschichte: „Formal handelt es sich bei dem Kapitel über Narsai um eine stringent durchkomponierte Heiligenvita.“ 35 Über Person und Werk des Barḥaḏbšabbā ‘Arḇāyā siehe Becker/Childes (2011). Der syrische Titel der konventionell sogenannten Kirchengeschichte (Historia ecclesiastica) lässt sich als „Geschichte der heiligen Väter, die um der Wahrheit willen verfolgt wurden“ übersetzen (Pinggéra (2007), S. 245). Es handelt sich dabei um „eine „Ahnengalerie“ nestorianischer Rechtgläubigkeit“, ebd. 36 Zur Chronologie Narsais siehe Van Rompay (2011), S. 303; zu seiner Tätigkeit in der Schule von Edessa siehe Vööbus (1965), 57–121. 37 Barḥaḏbšabbā, Historia ecclesiastica 31 (600–601 Nau). 38 Barḥaḏbšabbā, Historia ecclesiastica 31 (603–605 Nau). 39 Barḥaḏbšabbā, Historia ecclesiastica 31 (614 Nau). 40 Zur Polemik mit Jakob siehe Barḥaḏbšabbā, Historia ecclesiastica 31 (612 Nau). Eine Übersicht der wissenschaftlichen Diskussion über die christologische Position des Jakob bietet Muraviev (2009), S. 314–320. 41 Barḥaḏbšabbā, Historia ecclesiastica 31 (613 Nau). 42 U.a. gegen die miaphysitische Propaganda war das ostsyrische Konzil von 486 unter der Leitung des Katholikos Acacius gerichtet, siehe dazu Gero (1981), S. 49. 43 Barḥaḏbšabbā, Historia ecclesiastica 31 (607,8–11 Nau).

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Barḥaḏbšabbā zu dem 489 erfolgten Transfer der Schule von Edessa ins persische Nisibis: „Edessa verfinsterte sich, Nisibis leuchtete auf. Unter den Römern wurde Unwissenheit erfüllt, unter den Persern – Erkenntnis der Gottesfurcht.“ 45 Bereits hier klingt an, dass Persien nun gegenüber dem Westen das Reich des wahren Glaubens geworden war. Das Bemühen um ein gutes Verhältnis zum persischen Großkönig hatte bei Narsai persönliche Gründe: Ein Ausschnitt aus seinem Mimra wurde nämlich von Schach Kavad so interpretiert, als wäre der Autor ein erklärter Feind des persischen Thrones. Diesen Eindruck konnte Narsai glücklicherweise durch einen anderen Mimra korrigieren, welcher für den Großkönig ins Persische übersetzt wurde und ihn offenbar zufriedenstellte. 46 Barṣauma, ein Studienkollege des Narsai in der Schule von Edessa, den wir schon als Bischof von Nisibis kennengelernt haben, ging in seinen Beziehungen zur persischen Obrigkeit viel weiter. Obwohl wir nicht genau wissen, ob er einen bestimmten staatlichen Posten innehatte, ist es sehr wahrscheinlich, dass er, wie Stephen Gerö in seinem Buch über Barṣauma schreibt, an den Herrscher „any information of military value“ 47 aus seiner Grenzregion lieferte. Die Tendenz der zunehmenden Wertschätzung der persischen Staatsmacht bei den persischen Christen ging seit dem späten 5. Jahrhundert Hand in Hand mit der Entwicklung des konfessionellen Bewusstseins der Kirche des Ostens. 48 Von der steigenden Bedeutung des Herrschers zeugt z.B. die Tatsache, dass die biblischen drei Könige, die dem neugeborenen Jesus ihre Geschenke brachten und im Matthäusevangelium als μάγοι, d.h. als zoroastrische Priester bezeichnet wurden, 49 seit dem späten 5. Jahrhundert im syrischen Osten immer mehr als „Könige“ gal-

44 Der syrische Titel dieses Werkes lässt sich als „Die Ursache der Begründung der Schulsitzung“ wiedergeben; ich verweise darauf mit der lateinischen Abkürzung Causa. Das Werk ist eine zwischen 581 und 610 gehaltene, längere Rede gerichtet an die neuen Studenten der theologischen Schule von Nisibis, in der die Weltgeschichte von der Schöpfung an als eine Schulgeschichte aufgefasst wurde, die bis zum aktuellen Zustand der Schule von Nisibis erzählt wird. Der Titel nimmt Bezug auf die mawtbā (hier „Schulsitzung“, abgeleitet von y-t-b, „sitzen“). Diese syrische Wurzel ist urverwandt mit der hebräischen Wurzel y-š-b, „sitzen“, vgl. hebr. yešivah, das „academic session or period“ bedeuten kann, wie es mit mawtbā in unserem Titel der Fall ist (Adam (2006), S. 105). Adam Becker geht davon aus, dass Barḥaḏbšabbā ‘Arḇāyā beide Werke (Historia ecclesiastica und Causa) geschrieben hat, vgl. Adam (2006), S. 100 und Adam/Childers (2011), S. 57. Zur diesbezüglichen wissenschaftlichen Diskussion siehe Pinggéra (2007), S. 246–247 mit Anm. 14. 45 Barḥaḏbšabbā, Causa (386,9–10 Scher). Zum Transfer der Schule vgl. Reinink (1995). 46 Barḥaḏbšabbā, Historia ecclesiastica 31 (613 Nau). 47 Gero (1981), S. 36. 48 Zur Identitätsfindung der syrischen Nestorianer siehe Reinink (2009). Parallele Prozesse bei den syrischen Miaphysiten werden beleuchtet bei Menze (2008) und Wood (2010). Vgl. auch Anm. 42 oben. 49 Matthäus 2,1,7.

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ten, 50 um schließlich in der ostsyrischen Fassung der Schatzhöhle (6. Jahrhundert ?) auch die Namen der wichtigen persischen Großkönige Hormizd, Jazdegerd und Peroz zu bekommen.51 In die gleiche Richtung weisen auch Texte, die von der christlichen Taufe der persischen Herrscher Khosrau I. Anuschirwan (regierte 531–579) und Khosrau II. Parwez (regierte 590–628) berichten. 52 Diese christliche Vereinnahmung der sasanidischen Herrscher lässt sich, wie es scheint, als ein Zeichen der fortgeschrittenen Akkulturation der Christen im Persischen Reich verstehen, die eine Wandlung in der Selbstidentität der Ostsyrer markiert. Einerseits handelt es sich um eine Sehnsucht nach dem nie dagewesenen „persischen Konstantin“, andererseits um einen Versuch, den persischen Staat biblisch-christlich zu deuten. Diese Umdeutung mag zugleich ein innerchristliches Ziel haben, d.h. die eigene Gemeinde anvisieren, wie auch im apologetischen Sinne den zoroastrischen Persern gelten. 53 Ein weiteres Beispiel für diese Prozesse ist die Vita des Katholikos Mār Āḇā, 54 der neun Jahre im persischen Gefängnis für seinen christlichen Glauben verbrachte, um kurz nach seiner Freilassung 552 wegen Erschöpfung zu sterben. Die kurz nach dem Tode des Katholikos verfasste Vita 55 schreibt konsequent seine Verhaftung und Martern den Ränken der zoroastrischen Priesterschaft zu, die seinen Tod zu erreichen suchte, aber immer wieder am Wohlwollen des Großkönigs Khosrau Anuschirwan zu dem Heiligen scheiterte. 56 Ihm, dem Großkönig, hat Mār Āḇā sowohl sein Überleben im Gefängnis als auch die Freilassung zu verdanken. 57 Es überrascht deswegen nicht, dass Mār Āḇā die Akten seiner im Gefängnis abgehaltenen Synode von 544 mit einer feierlichen Präambel anfängt, in der Khosrau als der „zweite Kyros“ angesprochen wird, durch den Christus seiner heiligen Kirche alle Güter zukommen ließ. 58 50 Siehe dazu ausführlich Minov (2012), S. 34–39. 51 Siehe Spelunca thesaurorum Recensio Orientalis, 45,18–19 (368,6–11 Ri) und den Kommentar zu dieser Stelle in Ri (2000), S. 454–458. Bei der Rekonstruktion der Namen der drei Könige an dieser Stelle der Schatzhöhle folge ich Bezold (1883), S. 57. Generell zur Transformation in der Wahrnehmung der Sasanidischen Großkönige im ostsyrischen Christentum siehe Jullien (2009), die eine Wandlung von dem Bild eines Christenverfolgers im 4. Jahrhundert zur Gestalt eines Christenfreundes in der späteren Zeit feststellt. 52 Siehe Schilling (2008), S. 185–189; 251–275. 53 Siehe Minov (2012), S. 70. 54 Zur Person des Mār Āḇā siehe Pigulevskaja (1948) und Fiey (2004), S. 14–16. 55 Syrischer Text: Bedjan (1895), S. 206–274, deutsche Übersetzung: Braun (1915b), S. 188– 221. 56 Vor seiner Konversion zum Christentum war Mār Āḇā selber Zoroastrier. Neben dieser Tatsache war für die zoroastrischen Priester besonders anstößig, dass er u.a. auch Zoroastrier zum Christentum bekehrte und gegen zoroastrische Ehesitten unter den Christen (Ehe zwischen engen Verwandten) predigte; siehe dazu Hutter (2003). 57 Vgl. vor allem Vita Mār Āḇā, Kap. 27–37, welche die letzten Jahre des Heiligen im Gefängnis sowie seine Freilassung beschreiben. 58 Synodicon Orientale (69,29–70,3 Chabot) (Text); 320 (französische Übersetzung).

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Wie schon oben gesagt, entwickelt sich im besagten 6. Jahrhundert parallel mit der Großkönigsideologie auch die dogmatische Lehre der sog. Nestorianer, die schließlich von Babai dem Großen (etwa 551–628) auf eine kurze christologische Formel gebracht wurde, die wir gleich kennenlernen werden. Der Schmelztiegel dieses Prozesses waren die theologischen Dispute, die die Ostsyrer – oft im Beisein eines Großkönigs – mit den in Persien ebenfalls vertretenen syrischen Miaphysiten führten. Zeugnisse davon sind u.a. in den syrischen miaphysitischen Quellen überliefert, die auf Johannes von Ephesus zurückgehen. 59 BABAI DER GROSSE UND DAS GLAUBENSBEKENNTNIS VON 612 Ein Zeugnis aus dem „nestorianischen“ Lager stellt die Vita des Märtyrers Mār Gīwargīs († 612 oder 615) des schon genannten Babai des Großen dar. 60 Die dort beschriebene Disputation hat die Weigerung des Großkönigs Khosrau II., einen neuen ostsyrischen Katholikos nach dem Tode des Vorgängers 61 wählen zu lassen, zum Hintergrund: 62 Eine Haltung die u.a. mit dem Einfluss des königlichen Leibarztes, des Miaphysiten, Gabriel von Schingar, erklärt wird. 63 Die während des Disputs, dem auch Khosrau selbst beiwohnte, von Gīwargīs vorgetragene christologische Glaubensformel „die zwei ihre Eigenschaften bewahrenden Naturen und Hypostasen der Gottheit und Menschheit in der einen Person Christi, des Sohnes Gottes“ 64 geht auf Babai selbst zurück und findet sich in seinen Werken. 65 Bezeichnend in unserem Kontext ist das im Martyrium nur beiläufig erwähntes, in der Sammlung der ostsyrischen Konzilsakten jedoch vollständig überliefertes Glaubensbekenntnis der sog. Nestorianer aus dem Jahr 612. Der eigentlichen 59 Es handelt sich um die Vita des Simeon von Bet Arscham, in der Simeon gegen den nestorianischen Katholikos Babai (497–502/3) im Beisein eines sasanidischen Beamten polemisiert; siehe Johannes von Ephesus Vitae sanctorum orientalium 10 (147–152 Brooks). Vgl. auch die Kirchengeschichte VII 20 des gleichen Johannes, wo über eine ähnliche Disputation zwischen „Nestorianern“ und Miaphysiten berichtet wird, bei der Khosrau Anuschirwan als Schiedsrichter auftritt. 60 Syrischer Text: Bedjan (1895), S. 416–571. Braun (1915b), S. 221–277 bietet eine deutsche Übersetzung des Martyriums, die längere Passagen des Originals auslässt. Über die Vita im Allgemeinen siehe Reinink (1999). 61 Gemeint ist der Katholikos Gīwargīs († 608/609). 62 Ausführlich über die Disputation und deren theologische und politische Hintergründe siehe Reinink (1999), S. 185–187. 63 Siehe z.B. Reinink (1999), S. 186–187. 64 Syrischer Text: Babai der Große, Vita Gīwargīs (515,16–516,1 Bedjan), die deutsche Übersetzung der christologischen Glaubensformel nach Braun (1915b), S. 257. 65 Vgl. Abramowski (1974), S. 219: „In der Vita des Märtyrers Georg schildert Babai die Auseinandersetzung mit den Anhängern des Henana, die Argumente, die er seinem Helden in den Mund legt, sind mindestens in der Formulierung die des Autors.“ Über Verwendung der zitierten christologischen Glaubensformel in anderen Werken Babais, vor allem im Liber de Unione, siehe Abramowski (1974), S. 227–228; 235 und Abramowski (1975), S. 328.

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Präsentation des Glaubens der Kirche des Ostens folgt dort eine Art Zusammenfassung, die erklären soll, was die „Nestorianer“ von dem Großkönig erwarten und warum. 66 Der im Glaubensbekenntnis dargelegte Glaube, so die Zusammenfassung, gehe auf die Apostel zurück und wäre in Persien immer rein und frei von jeder Irrlehre bewahrt worden. Das Römische Reich dagegen habe seit den Tagen der Apostel bis heute zahlreiche Häresien produziert. Darunter nennen die Autoren des Dokuments interessanterweise auch den Manichäismus, der historisch gesehen gänzlich auf das persische Konto geht. 67 Danach bringen die Nestorianer ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass der Großkönig dem soeben dargelegten Glauben in den von ihm eroberten römischen Gebieten zum Durchsetzten verhelfen werde. Weil das Konzil 612 stattgefunden hat, ist der historische Hintergrund dieses Wunsches leicht zu erkennen: Es sind die Siege Khosraus über Phokas und Herakleios in den ersten 15 Jahren des 7. Jahrhunderts. TIMOTHEOS I. Mit dem Katholikos Timotheos (*727/28 – † 823; Katholikos 780–823) machen wir einen Sprung in das 8. Jahrhundert, um zu sehen, welche Früchte die im 6.– 7. Jahrhundert ausgeformte konfessionelle Sicht der Ostsyrer auf den christlichen Westen getragen hat. Eine erstrangige Quelle für diese Fragestellung ist der 26. Brief des Katholikos Timotheos I. 68 In diesem an den Bischof von Ninive, Māranzeḵā, adressierten Brief äußert sich Timotheos zu den u.a. auch theologischen Unterschieden zwischen der Kirche des Ostens und dem Rest der Christenheit. 69 Seine These ist differenziert: insofern als es eine Gabe des gütigen und liebenden Gottes darstellt, ist „das Christentum eines im Osten und im Westen, im Norden sowie im Süden.“ 70 Was aber den religiösen Eifer und das Tragen der Bürden der Religion, d.h. letztlich das Aneignen der Gabe angeht, so gibt es zwischen den Orientalen und anderen Christen Unterschiede. 71 Während der christli-

66 Synodicon Orientale (567,16–31 Chab.) (Text); 584–585 (französische Übersetzung). 67 Synodicon Orientale (567,23 Chab.) (Text); 585 (französische Übersetzung). 68 Nach Bidawid (1956), S. 73 wurde der Brief um 785 verfasst; Berti (2009), S. 55–56 erwägt die Datierung vor 804–805. 69 Syrischer Text des Briefes: Braun (1914), S. 142,4–150,20; lateinische Übersetzung: Braun (1915a), S. 96–102. Französische Übersetzung: Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 5–12. 70 Timotheos, Epistulae 26 (147,31–148,2 Braun); übersetzt hier und weiter unten von mir. 71 Timotheos, Epistulae 26 (148,2–5 Br.); Übersetzung: Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 9. Die These von der gleichen Gabe des Glaubens und ihrer ungleichen Aneignung expliziert Timotheos am Beispiel des für alle gleichen Sonnenlichtes (Timotheos, Epistulae 26 (142,16– 24 Br.), Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 5) und der für alle dieselben Körner aus dem

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che Glaube bei den Ostsyrern „ohne Makel, Schmutz und Rost der Blasphemie“, das heißt „ohne Auslassungen und Hinzufügungen bewahrt wird“, 72 ist er bei den Melkiten und Severianern „nicht ohne Rost“. 73 Gleichermaßen findet sich bei denen „die Perle des Priestertums nicht ohne Schmutz und Abschaum der Blasphemie“. 74 Diese Sicht steht im Einklang mit der eigenartigen Pentarchieauffassung des Katholikos. Im gleichen Brief schreibt er von fünf Bischofssitzen, welche die „katholische Kirche, die überall unter dem Himmel ist“, 75 repräsentieren. Das Primat unter diesen fünf Patriarchaten gebührt dem Bischofsstuhl von SeleukiaKtesiphon, 76 was interessanterweise nicht direkt mit dem rechten Glauben, sondern mit der orientalischen Herkunft Jesu begründet wird, 77 der unter seinen Ahnen Abraham zählt, welcher aus dem Orient gekommen war. 78 Das Ungewöhnli-

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Gleichnis vom Sämann (Matthäus 13,1–17 und Parall.; Timotheos, Epistulae 26 (143,13ff Br.), Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 6). Timotheos, Epistulae 26 (144,16–19 Br.). Im Anschluss an diese Passage geht Timotheos ausführlich auf konkrete Glaubensunterschiede ein, siehe Timotheos, Epistulae 26 (144,25ff Br.), Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 6–9. D.h. den Anhängern des 4. Ökumenischen Konzils und den miaphysitischen Nachfolgern des antiochenischen Patriarchen Severus († 538). In seinem Dialog mit dem Kalifen al-Mahdī 15,13–15 erklärt Timotheos die militärischen Erfolge der Muslime unter Muḥammad dadurch, dass Gott damit die Perser für den Polytheismus und die Byzantiner für den Theopaschismus bestraft hat (siehe Heimgartner (2011), S. 101,39–102,11 (syrischer Text), S. 71 (deutsche Übersetzung)). Timotheos, Epistulae 26 (144,20–22 Br.). ‘dt’ qtwliq’ dtḥwt kl šmy’, Timotheos, Epistulae 26 (150,16 Br.), Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 11. Timotheos, Epistulae 26 (149,7–10,19–22 Br.), Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 10–11. Seleukia-Ktesiphon ist ausdrücklich genannt, obwohl Timotheos seinen Sitz bereits 780 nach Bagdad verlegt hat; siehe dazu Berti (2009), S. 170–173. Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 4 merken treffend an, dass Thimotheos an der genannten Stelle die Pentarchieauffassung rezipiert, die auf der Synode von Seleukia-Ktesiphon unter dem Katholikos ’Išō’yahb I. im Jahre 585 formuliert worden war (vgl. Synodicon Orientale (160 Chab.) (Text); 419–420 (französische Übersetzung)). Welches der unter Justinian I. als Pentarchie etablierten fünf Patriarchate (Rom, Konstantinopel, Alexandrien, Antiochien, Jerusalem) Timotheos verdrängt, ist nicht klar. Außer Rom und Seleukia-Ktesiphon nennt er kein anderes Patriarchat. Über den Anspruch des Timotheos, der Bischof von Seleukia-Ktesiphon bzw. Bagdad sei der Nachfolger des Apostels Petrus, siehe Gero (1982), S. 49. Dass die Ostsyrer die übrigen Christen im Glauben überträfen und als Orientalen die Quelle des christlichen Glaubens schlechthin seien, war von Timotheos vorher so detailliert dargelegt, dass diese Gedanken den Hintergrund des Primatsanspruches ganz selbstverständlich bilden. Timotheos, Epistulae 26 (148,20–24 Br.), Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 10. Die Schlussfolgerung lautet: „Es ist deswegen klar und offenbar, dass Christus vom Orient und von den Söhnen des Orients ist“ (Timotheos, Epistulae 26 (148,23–24 Br.)). Der andere Grund ist die Huldigung der ebenfalls als Orientale geltenden Magier (Matthäus 2), die als erste an Christus glaubten, siehe Timotheos, Epistulae 26 (149,10–19 Br.), Briquel-Chatonnet u.a. (2000), S. 10–11.

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che dieser Konstruktion liegt darin, dass Timotheos auf der einen Seite dem Westen den rechten Glauben abspricht und auf der anderen Seite die katholische Kirche als aus den fünf Patriarchaten bestehend denkt, von denen das seine lediglich eines ist. 79 FAZIT Vergleicht man die Äußerungen des Konzils von 612 und die Stellungnahme des Timotheos mit der römerfreundlichen Sicht des Aphrahat im 4. Jahrhundert, so fällt auf, dass Aphrahats politische Sympathie mit dem gerade christlich gewordenen Römischen Reich bis zu einem bestimmten Grad in ihr Gegenteil gewandt hatte. Das Römische Reich wird nun als Brutstätte der Irrlehren gesehen, und es ist ausgerechnet der persische Großkönig, der nach Aphrahat als Zoroastrier gegen das christliche Heer keine Chance hatte, welcher im 7.– 8. Jahrhundert den wahren ostsyrischen Glauben auf den besetzten byzantinischen Territorien militärisch durchsetzen soll. In den Akten des Konzils von 585 und bei Timotheos ist diese Sicht dadurch gemildert, dass es von der einen Christenheit ausgegangen wird, deren Primat herkunftsmäßig und im Hinblick auf den unverfälschten Glauben wiederum dem Bischofssitz von Seleukia-Ktesiphon gebührt. Wie aus unseren Ausführungen folgt, sind die wichtigsten Gründe dieser Wandlung die Glaubensspaltungen in der Folge des 4. Ökumenischen Konzils in Chalzedon sowie selbstständige theologische wie politische Entwicklung der Ostsyrer in einem dem Byzanz feindlichen Staat anzusprechen. QUELLENVERZEICHNIS Paul Bedjan (1895), Histoire de Mar Jab-Alaha et de Raban Sauma, Paris/Leipzig. Carl Bezold (Hrsg., Übers.) (1883), Die Schatzhöhle. Aus dem syrischen Text dreier unedirter Handschriften ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen versehen, Leipzig. Oscar Braun (Hrsg.) (1914), Timothei Patriarchae I Epistulae (CSCO 67, Scriptores Syri [ohne Nummer]), Paris [Nachdruck: CSCO 74, Scriptores Syri 30, Louvain 1953]. Oscar Braun (Übers.) (1915a), Timothei Patriarchae I Epistulae (CSCO 67, Scriptores Syri [ohne Nummer]), Paris [Nachdruck: CSCO 75, Scriptores Syri 31, Louvain 1953]. Oscar Braun (Übers.) (1915b), Ausgewählte Akten persischer Märtyrer mit einem Anhang Ostsyrisches Mönchsleben (Bibliothek der Kirchenväter 22), Kempten u.a. Françoise Briquel Chatonnet/Christelle et Florence Jullien/Christine Moulin Paliard/Marwan Rashed (2000), Lettre du patriarche Timothée à Maranzekhā, évêque de Ninive, in: JA 288, 1–13. Ernest Brooks (Hrsg., Übers.) (1923), John of Ephesus. Lives of the Eastern Saints (I), in: Patrologia Orientalis 17,1, Paris.

79 Spielte dabei eine Rolle, dass die Kirche des Timotheos im abbasidischen Kalifat eine Minderheit war und sich nicht stark genug fühlte, um sich für die alleinige wahre Kirche zu erklären?

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III. GELINGENDE, MISSLINGENDE UND FEHLENDE KOMMUNIKATION. PÄPSTE UND BISCHÖFE UND DER OSTEN

HIERONYMUS, AUGUSTINUS UND DER OSTEN Fabian Schulz ZUSAMMENFASSUNG Augustinus und Hieronymus lebten in einer Zeit, in der sich beide Reichshälften politisch und kulturell voneinander entfernten. Jener, der den Westen nie verließ und nur schlecht Griechisch sprach, scheint für den neuen Partikularismus zu stehen, dieser, der lange Phasen seines Lebens im Osten verbrachte, für die alte Einheit. In der Tat zeigt der Brief an Dioskoros, dass Augustinus Grenzgängertum suspekt war, und ein Passus aus dem Galaterkommentar, dass Hieronymus die Griechen als Kulturvolk bewunderte. Bei näherem Hinsehen erweist sich aber, dass auch Hieronymus dem Westen verhaftet blieb und den Osten primär als Ressource der Legitimation, der Spiritualität und des Wissens nutzte. Orient und Okzident waren für beide getrennte, klar voneinander abgegrenzte Entitäten. Die Einheit wurde nur dann hervorgekehrt, wenn man wie im Pelagius-Streit auf die andere Seite einwirken wollte. THEMA „Hieronymus war in der griechischen, lateinischen und sogar in der hebräischen Sprache gebildet, wechselte von der okzidentalen in die orientalische Kirche hinüber und lebte bis ins hohe Alter an heiligen Stätten und mit heiligen Schriften. Alle oder fast alle, die vor ihm in beiden Teilen der Welt über die kirchliche Lehre geschrieben haben, hat er gelesen.“ 1

Dieses Lob spendete Augustinus seinem kürzlich verstorbenen Kollegen, der in Stridon geboren und in Bethlehem gestorben war (419). 2 Im Kontext des Werks Gegen Julian möchte er Hieronymus mit maximaler Autorität ausstatten, da er sich in seiner Ablehnung des ,Pelagianismus‘ auf ihn beruft. 3 Er lässt Hieronymus als Ostler erscheinen (hinsichtlich Ort, Kirche und Bildung), um Julian den Rück-

1

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Augustinus, Contra Iulianum 1,34: [...] hieronymum [...] qui graeco et latino, insuper et hebraeo, eruditus eloquio, ex occidentali ad orientalem transiens ecclesiam, in locis sanctis atque in litteris sacris, usque ad decrepitam uixit aetatem: omnes que uel pene omnes qui ante illum aliquid ex utraque parte orbis de doctrina ecclesiastica scripserant legit. Zur Chronologie vgl. Williams (2006) und Hombert (2000). Vgl. auch Augustinus, Contra Iulianum 2,36, wo Hieronymus als östlicher Vorkämpfer gegen Pelagius erscheint.

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halt, den er dort genoss, zu entziehen. Aber vielleicht schwingt in diesen Worten auch ein Stück echte Anerkennung für ein Verhältnis zum Osten mit, das seinem in vielen Punkten ganz unähnlich war. Denn Augustinus verbrachte sein ganzes Leben im Westen, zeitweise in Italien und die längste Zeit in Nordafrika, wo er in Thagaste geboren und von 396 bis zu seinem Tod (430) Bischof von Hippo war. Mit der griechischen Sprache, dem Schlüssel zur östlichen Theologie, war er nie richtig warm geworden. In seinem langjährigen Kampf gegen die Anhänger des Pelagius war er auf jemanden wie Hieronymus schon zu dessen Lebzeiten angewiesen gewesen. Aber hätte sich dieser auf sein Leben zurückblickend auch als Immigrant, als intellektueller Grenzgänger und Kirchenwechsler gesehen? In diesem Aufsatz möchte ich nicht nur zeigen, wie sich beider Verhältnis zum Osten (dem Ort, den Leuten, der Kultur) entwickelt, überschnitten, unterschieden oder auch geähnelt hat. Vielmehr soll auf dieser Grundlage das Bild untersucht werden, das sich jeder von der anderen Seite und ihren Bewohnern gemacht hat. Außerdem gilt es, den Einfluss zu ermessen, den das Verhältnis zum Osten und das Fremdbild auf das eigene Selbstverständnis und die Selbstverortung hatten. Ich möchte dabei zwei Texte in den Mittelpunkt stellen, die noch kaum in diesem Zusammenhang behandelt wurden: Hieronymus’ Galaterkommentar und Augustinus’ Brief an Dioskoros. Dabei ist zu untersuchen, in wieweit auf gängige Stereotypen rekurriert wird. Schließlich soll überlegt werden, was beide unter Orient und Okzident verstanden haben. Diese Fallstudie soll dazu dienen, das kulturelle Auseinanderdriften von Westen und Osten zu erfassen. Es werden zwei christliche Autoren herangezogen, weil das Christentum epochemachend war. Dadurch korrespondiert dieser Aufsatz mit den Beiträgen von Becker und Stenger, die pagane Intellektuelle im Osten betrachten. Die Biographien von Hieronymus und Augustinus haben oft zum Vergleich eingeladen. 4 Es gibt viele Arbeiten, die das Verhältnis von Römern und Griechen, die Rezeption der griechischen Literatur und Kultur behandeln. 5 Auch zum Bild der anderen bzw. der anderen Seite, um das es hier verstärkt gehen soll, gibt es Untersuchungen. 6 An diesen Arbeiten ist bisweilen problematisch, dass sie die dichotomen Kategorien Römer/Griechen und Westen/Osten für ihre Analyse unhinterfragt voraussetzen. Dabei schreiben sie die polare Identitätskonstruktionen Römer/Griechen, die im 1. Jahrhundert vor Christus entstanden waren, fort und projizieren die räumliche Selbst- und Fremdverortung, die u.a. mit der sogenannten Reichsteilung von 395 zusammenhängt, zurück. Ich gehe hingegen davon aus, dass in den geänderten Rahmenbedingungen der Spätantike Römer/Griechen eine neue Semantik entwickelten und dass das West-Ost-Denken noch im Werden begriffen war. Um die Quellenbegriffe von den modernen hermeneutischen Kategorien zu trennen, spreche ich einerseits von Orient und Okzident und andererseits von Westen und Osten. 4 5 6

Fürst (2011), S. 337–358 und Fürst (2004); Tornau (2006) hinsichtlich paideia. Courcelle (1948); Will/Klein (1988), Bd. 14. Hunger (1987); Wölfflin (1892).

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STEREOTYPENFORSCHUNG Der hermeneutische Begriff des Stereotyps geht auf seinen einhundertsten Geburtstag zu. 7 Er wurde von einem amerikanischen Journalisten geprägt, als er Denkmuster, die die öffentliche Meinung prägen, untersuchte. Bald erhielt er Einzug in die Wissenschaft und wird seitdem von verschiedenen Fachrichtungen verwendet. Stereotypen sind verallgemeinernde Werturteile (positive wie negative), die emotional aufgeladen sind. 8 Sie bezeichnen Gruppen von Menschen, die unterschiedlich definiert sein können: rassisch, ethnisch, national, sozial, politisch, religiös, beruflich, geschlechtlich usw. Stereotypen können in einer Gruppenbezeichnung kulminieren. Stereotypen sind Wege und Ausdruck der Identitätssuche und -formulierung: denn dem Fremdbild steht ein Selbstbild gegenüber. Gleichzeitig sind sie Instrumente praktischen Handelns, z.B. zur Legitimation politischer Konzepte und von Herrschaft. Wortlaut, Bedeutung, und Funktion sind an einen bestimmten gesellschaftlichen (politischen, sozialen, ideologischen) Kontext gebunden. Mit den Gesellschaften ändern sich Stereotypen; an der Entwicklung von Stereotypen lässt sich gesellschaftlicher Wandel ablesen. An dieser Stelle setzt die historische Stereotypenforschung an. Aber passt das Paradigma auf die Vormoderne? Hahn formuliert die Hypothese, dass städtische Gesellschaften einen fruchtbareren Grund für die Produktion und Benutzung von Stereotypen darstellen als agrarische Bevölkerung und konstatiert eine Zunahme von Stereotypen seit dem 19. Jahrhundert, die er auf die Entwicklung der Massenkommunikation zurückführt. 9 Natürlich gab es auch in der Antike schon Stereotypen, die seit langem Gegenstand der Forschung sind: z.B. Barbaren oder Hexen. Aber sie wurden oft unter anderen Vorzeichen untersucht: z.B. als literarische Topoi. RÜCKBLICK Beginnen wir mit der alten Selbstsicht der Römer und ihrem Bild von den Griechen. 10 Die Suche nach einem ,wahren Kern‘ soll unterbleiben. 11 Nach dem Sieg über die Diadochen fühlten sich die Römer als Sieger und hielten die graeci, für degeneriert – d.h. nicht nur die Einwohner Griechenlands, sondern des ganzen griechischen Kulturkreises, die sich selbst Hellenen nannten. Der römische Charakter wurde mit praktischem und nützlichem Wissen, der grie7 8 9 10 11

Lippmann (1922); Vgl. Hahn (2002), S. 9f. Hahn (2002), S. 12 und Hans/Hahn (2002), S. 20–24. Hahn/Hahn (2002), S. 51ff. Vgl. Hunger (1987), Dubuission (1991). Hahn/Hahn (2002), S. 25: „Nicht die halbe Wahrheit oder die halbe Lüge macht das Stereotyp zum Stereotyp, sondern seine emotionale Geladenheit und sein apriorischer Charakter“.

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chische Charakter mit theoretischem und überflüssigem Wissen verbunden. Griechen wurden abwertend als graeculi bezeichnet; man unterstellte ihnen Weichlichkeit, Zügellosigkeit, Arroganz und Verschlagenheit. Pergraecari heißt „die Nacht durchmachen“. Natürlich stand neben der Ablehnung auch Bewunderung. Philhellenismus war verbreitet und akzeptiert – man denke an Marcus Claudius Marcellus, Scipio Africanus oder Aemilius Paullus –, aber nur so weit, wie er nicht die Tradition (mos maiorum) in Frage stellte, sondern die eigene Kultur bereicherte. Vorurteile gegen Griechen dienten dazu, die eigene Identität davon abzusetzen – als Gegenbild. 12 Römer, die im Philhellenismus zu weit gingen, konnten selbst als graeculi bezeichnet werden. 13 Beide Bilder verbindend konnten die guten Griechen der Vergangenheit von den schlechten Griechen der Gegenwart abgegrenzt werden. SPÄTANTIKE Auch in der Spätantike lebten die klassischen Griechen-Stereotypen fort, obwohl Griechen und Hellenen nicht nur zum römischen Reich gehörten, sondern (zu Beginn des 3. Jahrhundert) sogar das Bürgerrecht erhalten hatten, also Römer waren und sich auch so zu fühlen begannen. Julian sah sich selbst als „römischer“ Kaiser. 14 In den Augen des Westens war er aber ein Griechlein und Asiat. 15 Zwischen Westen und Osten gab es einen regen Verkehr von Personen und Ideen, besonders in christlichen Kreisen. 16 So hatten die Verbannungen während des trinitarischen Streits einen unfreiwilligen Austausch befördert: Eusebius von Vercelli und Hilarius von Poitiers brachten aus dem östlichen Exil theologische Konzepte und Übersetzungen mit. Athanasius von Alexandria hatte asketische Ideale in seinem römischen Exil bekannt gemacht. 17 Der Osten übte mit seinen heiligen Stätten und Praktiken eine große Anziehungskraft auf Westler aus.

12 13 14 15

Gruen (1992). Biville (2009). Kaldellis (2007), S. 47 und S. 58. Der Caesar Julian musste sich im Jahr 358 während eines Feldzuges gegen die Chamaven von seinen unterversorgten Soldaten als „Asiat, Griechlein, Betrüger und Dummkopf unter der Maske der Weisheit“ verhöhnen lassen (Ammianus Marcellinus, Rerum gestarum libri qui supersunt 17,9,3). Da Ammian an Julians Feldzügen teilnahm, könnte diese Begebenheit auf persönlich Erleben gründen. Nicht auszuschließen ist freilich, dass sie östliche Stereotypen über die Westler spiegelt. 16 McCormick (2001), Bd. 2. 17 Barnes (1993), S. 53.

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HIERONYMUS Physischer und intellektueller Grenzgänger Hieronymus folgte diesem Ruf und wurde zu einem Grenzgänger zwischen Westen und Osten. 18 Er fühlte sich früh vom asketischen Lebensstil, wie er im Osten praktiziert wurde, angezogen. In die 370er Jahre fällt ein mehrjähriger Aufenthalt in Syrien, der Hochburg der Askese. Hieronymus zog sich monatelang in die Wüste zurück und verfasste eine Heiligenvita des Paulus von Theben, den man für den ersten Eremiten hielt. In Antiochien wohnte Hieronymus bei Euagrius (zweisprachlich, möglicherweise mit westlichen Wurzeln) und lernte zwei griechischSprecher kennen, die in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen sollten: 19 Paulinus, der den dortigen Bischofssitz beanspruchte, und Epiphanius von Salamis, der diesen Anspruch unterstütze. Außerdem besuchte Hieronymus exegetische Vorlesungen bei Apollinaris von Laodizea. So perfektionierte er sein Griechisch – ob er bereits viel las, ist unsicher. 20 Der Kontakt zum Westen riss in dieser Zeit aber nicht ab, im Gegenteil. Hieronymus schrieb auf Lateinisch, schickte viele Briefe in die Heimat und diente sich Damasus, dem Bischof von Rom, an. Cain nennt den Hieronymus dieser Jahre treffend „a fish out of water“. 21 Die Jahre 381–382 verbrachte Hieronymus in Konstantinopel, der Hauptstadt der östlichen Reichshälfte. Dort hat er nach eigener Aussage theologische Vorträge von Amphilochius und Gregor von Nazianz besucht; jedenfalls stilisierte er letzteren später gerne zu seinem Lehrer, um seine Orthodoxie zu untermauern. 22 Die meisten seiner neuen Kontakte waren Lateiner, genau wie die Adressaten seiner Briefe und Schriften. Gleichzeitig pflegte Hieronymus seine alten Kontakte zu östlichen Bischöfen im Umkreis des Paulinus. In diese Zeit fällt das Konzil von Konstaninopel, auf dem Paulinus’ Anspruch auf den Bischofssitz von Antiochien konterkariert wurde. Hieronymus begleitete diesen im Anschluss nach Rom, wo dieser weiterhin Rückhalt genoss. Seine östlichen Erfahrungen und Kontakte sollten sich nach seiner Rückkehr bezahlt machen: Damasus machte ihn zu seinem Sekretär für die Korrespondenz mit dem Osten.23 Das asketische Ideal, das Hieronymus in der Vita Pauli propagiert hatte und nach dem er nun sein Leben gestaltete, verlieh ihm spirituelle Au18 Duval (1988). 19 Zur prosopographischen Aufarbeitung von Hieronymus’ Kontakten vgl. Rebenich (1992) und Fürst (2003), S. 150–220. 20 Williams (2006), S. 35: „Despite the inclusiveness of Jerome’s reading, however, it did not extend to works in Greek, much less in any other language. Jerome’s later claims to have studied with Greek teachers at Antioch and to have learned Hebrew in the desert find no reflection in the writings of the 370s.“ 21 Cain (2009), S. 8 Anm. 34. Vgl. auch Williams (2006), S. 29ff. und Rebenich (1992), S. 112. 22 Fürst (2003), S. 181 und Williams (2006), S. 44. 23 Der Brief, der auf die Zeit von 382–384 zurückblickt, hat einen terminus post quem von 409 (Hieronymus, Epistulae 123,9).

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torität. Vielleicht verfolgte er regelrecht die Strategie, sich als holy-man zu inszenieren, dessen Lebensweise und Lehre über jeden Zweifel erhaben waren. 24 Jedenfalls bildete sich um ihn ein Zirkel von Jungfrauen und Witwen der Oberschicht, die sich von seinem asketischen Eifer anstecken ließen. Damasus protegierte Hieronymus und regte mehrere Studien an. Hieronymus hatte aber viele Gegner, die sich von seinen Aufrufen zur Askese angegriffen und seinem wachsenden Einfluss bedroht fühlten. Nach Damasus’ Tod musste er Rom verlassen. Er fuhr in den Osten, zur Quelle seiner Legitimation. Nach einer Pilgerfahrt durch Palästina und Ägypten, auf der er die Wüstenväter kennenlernte, ließ er sich in Bethlehem nieder, wo er ein Kloster gründete und leitete und sich dem Schreiben widmete. Hieronymus war, wie Rebenich gezeigt hat, 25 der erste lateinische Autor, der seine Autorität als orthodoxer Übersetzer, Textkritiker und Exeget auf seiner profunden Kenntnis der Originalsprachen, Griechisch und Hebräisch, gründete. Sein Vorbild war Origenes. Hieronymus wollte das theologische Wissen des Ostens den Lesern im Westen verfügbar machen. Diese Arbeit war besonders gefragt, weil die lateinische christliche Literatur hinter der griechischen zurückstand; die christologischen Debatten des 4. Jahrhundert waren besonders auf Griechisch geführt worden. Die Westler, deren Griechisch-Kenntnisse schwanden, mussten sich mit dem komplexen theologischen System der griechischen Kirchenväter auseinandersetzen. Obwohl er der paganen Literatur abgeschworen hatte, führte er die Klassiker im Munde. 26 Seine Kenntnis der griechischen Autoren war dabei fast ausschließlich indirekt. 27 Ein Beispiel möge das illustrieren: Hieronymus schmückt einen Aufruf zur Askese mit folgendem „Bon mot der Griechen“, das „bei uns“, also im Lateinischen, vielleicht nicht so klangvoll sei: „Ein fetter Bauch bringt keinen feinen Sinn hervor“. 28 Dieses Zitat, das wohl einer Komödie entstammt, scheint er bei den griechischen patres aufgeschnappt zu haben. Wie dachte er über die andere Seite? Betrachten wir zuerst sein Bild der historischen Griechen. Griechenbild Für Hieronymus ist es ein historisches und heilsgeschichtliches Faktum, dass die Römer die Griechen besiegt haben, aber daraus entspringt bei ihm kein Überle-

24 25 26 27 28

Cain (2009), S. 198 und Cain (2011). Vgl. Rebenich (2002), S. 12. Tornau (2006), S. 75ff. zur Polemik mit Rufin. Hagendahl (1958), S. 94 und 148f. Courcelle (1948), S. 53 und S. 111. Hieronymus, Epistulae 52,11; an den Priester Nepotian (394). Auch zitiert von Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomos und Basilius von Ancyra.

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genheitsgefühl. 29 In einem Bittbrief, den Hieronymus mit einem Lob des Adressaten einleitet, stellt er sich scherzend in die Tradition der von Cicero eitel gescholtenen Griechen, die sich für ihre Lobreden bezahlen ließen. Für seine anerkennenden Worte verlange er einen hohen Preis und zwar Exemplare von theologischen Schriften. 30 Zwischen den Zeilen heißt das: Hieronymus unterscheidet sich sehr wohl von den Griechen, weil er nicht nach materiellem, sondern spirituellem Lohn strebt. Hinter der Anknüpfung steht also die Abgrenzung. Ad Galatas Aufschluss darüber, welche Vorstellungen Hieronymus mit Orient und Okzident verband, bietet ein Passus in seinem Kommentar zu den Galaterbrief, der kurz nach der Ankunft im Heiligen Land entstand (386). 31 Ausgangspunkt ist Paulus’ Vorwurf: „Ihr törichten Galater!“, den er den Adressaten wegen ihres drohenden Abfalls von seinem Evangelium gemacht hatte. 32 Dieser Ausruf wird von Hieronymus ausgiebig kommentiert. Dabei schlägt er einen völlig anderen Weg ein als die übrigen Exegeten, den Weg der Ethno- und Geographen. 33 Dieser Weg ist nicht nur auf der Folie von kirchenpolitischen Verstrickungen, sondern auch von persönlichen Einstellungen zu interpretieren. Jedes Volk, jede Region oder Provinz habe feste Eigenschaften (proprietas), die in bestimmten Stärken und Schwächen bestünden (bonum/malum, uirtutes/uitia). Die ethnische Schwäche der Galater sei, dass sie unbelehrbar, gefühllos und begriffsstutzig seien. Hieronymus schließt sich der Beobachtung von Varro und Laktanz an, 34 dass die Galater eine Mischung aus eingewanderten Galliern und ansässigen Griechen seien, woher der ursprüngliche Name ihres Landes gallograecia rühre. Eine vom Okzident ausgehende Kolonisation im Herzen des Orients könne er sich gut vorstellen, da es zahllose Beispiele für eine Bewegung in die andere Richtung gebe, von denen er einige anführt. Diese wechselseitige Migration erkläre, warum man im Okzident oft die Finesse (acumen) der Griechen und im Orient bisweilen die Stumpfheit (stolditas) der Barbaren finde. Insgesamt erklärten sich die Unterschiede innerhalb eines Volkes zumeist so. Hilarius von Poitiers hebe sich durch seine herausragende Eloquenz, die er griechischen Wur29 30 31 32 33

Anders Will/Klein (1988), Bd. 14, Sp. 443 über Hieronymus, Commentarii in Danielem. Hieronymus, Epistulae 10,3 nach Cicero, Pro Flacco 27 und 57. Hieronymus, Ad Galatas 1,3.1a und 2 praefatio. Zur Abfassung vgl. Cain (2010). Hieronymus, Ad Galatas 3,1: o insensati Galatae. Zu Augustinus und Victorinus vgl. Plumer (2003), S. 93 und 109 und Cooper (2005), S. 214– 216. Vgl. Meiser (2007), S. 120f.: Diese Anrede wirft aber auch die Frage auf, ob nicht Paulus dem Verbot Jesu widerspricht, den Bruder einen Toren zu schelten (Mt 5,22). Strobel (2003), S. 120: Paulus’ Anrede rekurriert nicht auf Barbarenklischees, sondern benutzt eine Formel der Weisheitsliteratur. 34 Die zu Grunde liegenden Werke sind nicht erhalten. Zu Quellen und Ethnogenese vgl. Strobel (2003).

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zeln verdanke, von den übrigen unbelehrbaren und primitiven Galliern ab, von denen die Galater abstammen. Die Spuren der alten Torheit hätten bis in die Gegenwart überdauert. Hieronymus legt ein historisches Modell vor, das Ausnahmen von den regionalen bzw. nationalen Stereotypen erklärt. Obwohl die Migrationsbewegungen zu einer Vermischung geführt haben, bleiben die Eigenschaften distinkt: Hilarius ist die Ausnahme von der Stumpfheit der Gallier/Barbaren; die Galater sind die Ausnahme von der Finesse der Griechen. Kultur wird nicht erlernt, sondern vererbt. Dass Hieronymus auf traditionelle Barbarenklischees über die Galater zurückgreift und den Fortbestand der alten Torheit betont, hängt sicherlich mit aktuellen Streitigkeiten zusammen, 35 was aber nicht das Griechenlob erklärt. Die positive Zeichnung der Griechen widerspricht den alten römischen Vorurteilen: Hieronymus hatte zwar eingangs die griechische levitas angeführt, aber in einem Cicero-Zitat, 36 das in den folgenden Ausführungen keine Rolle spielt, ja von ihnen konterkariert wird. Hieronymus scheint hier in der Tradition des römischen Griechenlobs zu stehen, aber er geht noch einen Schritt weiter, wenn er den klugen Griechen die dummen Barbaren gegenüberstellt. Denn das entspricht der Selbstsicht der Griechen, die sich für kulturell überlegen hielten und den Rest der Welt und zumal die Galater als Barbaren ansahen. 37 Kaiser Julian hätte Hieronymus’ Ausführungen wohl zustimmen können. 38 Diese Stereotypen sind bei Hieronymus nicht nur an Völker, sondern auch an die Räume ,Orient‘ und ,Okzident‘ gebunden: die Finesse gehört ,eigentlich‘ hierhin, die Stumpfheit dorthin. Ein generalisierendes West-Ost-Denken zeigt sich auch darin, dass Griechisch als Sprache des ganzen Orients betrachtet wird. 39 Dass Hieronymus die Passage i.G. zu anderen Kommentatoren in den Kategorien Westen/Osten bzw. Griechen/Römer interpretiert und die stereotype Selbst35 Vgl. Strobel (2003), S. 121 zur polemischen Auseinandersetzung mit dem Sektenwesen in und um Ankyra. Vgl. Antin (1966), S. 5. 36 Dieselbe Stelle bereits zitiert in Hieronymus, Epistulae 10,3 – vgl. Anm. 30. 37 Rochette (1997), S. 69–83. Laut Galen sind die barbarischen Galater nicht vom logistikon, sondern vom thymos gesteuert (De placitis Hippocratis et Platonis 3,3,6,5); vgl. auch Pausanias’ und Diodors Schilderung des Brennus-Zugs. Der von Strobel (2003), S. 271 angekündigte zweite Band, der die ideologischen und politischen Bedingungen des Galaterbildes in den literarischen Quellen behandeln soll, ist leider noch nicht erschienen. Band I behandelt das negative Keltenbild der Römer, das hier natürlich auch hineinspielen kann (dazu S. 105– 115). 38 Der Kaiser, den seine westlichen Soldaten früher einen weltfremden Philosophen gescholten hatten (Anm. 15), beklagte sich über die mangelnden Bildungsstandards im Westen: „Nur in wenigen Völkern des Okzidents lassen sich welche finden, die sich mit der Philosophie und Geometrie oder ähnlichen Wissenschaften beschäftigen [die die Griechen erfunden oder weiterentwickelt haben, wie es vorher heißt], obwohl das römische Reich seine Herrschaft bis dort ausgebreitet hat. Nur die begabtesten widmen sich der Gesprächs- und Redekunst, aber keiner anderen Disziplin.“ (Julian, Contra Galilaeos 131c). 39 Hieronymus, Ad Galatas 2 praefatio: galatas excepto sermone graeco, quo omnis oriens loquitur. Antin (1966), S. 5 verbessert Hieronymus heimlich in diesem Punkt.

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und Fremdsicht der Griechen übernimmt, könnte mit seiner Erfahrung als Grenzgänger und seiner Bewunderung für die griechische Kultur zusammenhängen. Auch Hieronymus immigriert wie die Galater vom Westen in den Osten, aber dem großen zeitlichen Abstand ist wohl zu verdanken, dass er nicht als Barbar kommt. Denn wenn er Hilarius’ schriftstellerische Begabung auf griechische Wurzeln zurückführt, konnte er das theoretisch auch für sich selbst in Anspruch nehmen. Schließlich ist die Finesse im Westen ja mittlerweile verbreitet. Außerdem waren Hieronymus’ Vorfahren möglicherweise aus den östlichen Provinzen gekommen, was die griechischen Namen der Familienmitglieder erklären würde. 40 Wenn er Hilarius zur „Rhone der lateinischen Beredsamkeit“ erhebt, 41 signalisiert das, dass griechische Rhetorik einen lateinischen Theologen auszeichnen könne, 42 was in den tempora christina alles andere als selbstverständlich war. Im Osten Hat die Bewunderung für den Scharfsinn der Griechen und ihre paideia sein Verhältnis zum Osten und seinen Bewohnern geprägt? Oder hat die Annahme von invariablen und distinkten Eigenschaften Rückschlag in seinen Kontakten gefunden? Die meisten Schriften, die zwischen 386 und 392 entstanden, sind an die Gruppe von Lateinern gerichtet, mit denen er nach Palästina gekommen war. 43 Das sollte sich mit dem Ausbruch des sogenannten ersten Origenes-Streits ändern, den sein alter Bekannter, Epiphanius, entfachte (393). Hieronymus schloss sich dessen Lager an und revidierte seine Haltung zu Origenes (vom Verehrer zum Kritiker). Das brachte ihn in Konflikt mit dem Bischof von Jerusalem, der allerdings am längeren Hebel saß: Hieronymus wurde exkommuniziert und entging nur knapp der Verbannung (er wäre wohl in den Westen zurückgekehrt). Trotz einer Versöhnung blieb ihr Verhältnis angespannt und sollte im Pelagius-Streit noch einmal explodieren (dazu später). Außerdem übersetzte Hieronymus mehrere Schriften des Theophilus von Alexandria, der auch zu den Origenes-Kritikern übergelaufen war, ins Lateinische. Dieser ist der einzig nennenswerte griechischsprachige Briefpartner dieser Jahre. Laut Rebenich garantierte bereits die Wahl des Ortes, an dem Hieronymus das Kloster gründete (Bethlehem), einen regen Austausch mit Pilgern aus Ost und

40 Rebenich (1992), S. 33 Anm. 85. 41 Antin (1966) untersucht die Metapher ausgiebig und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein dahingesagtes Lob handelt, in dem vielleicht gewisse Reserven mitschwingen (S. 20). Denn grundsätzlich ist seine Einstellung gegenüber Hilarius wohlwollend (S. 8). 42 An anderer Stelle verspottet Hieronymus den „gallischen Kothurn“, der sich mit griechischen Blüten schmückt Hieronymus, Epistulae 58,10 an den Priester Paulinus (BKV 395 oder 396); vgl. bereits Hieronymus, Epistulae 37,3 an Marcella BKV 384–385). 43 Williams (2006), S. 95.

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West. 44 In der Tat scheint es Gäste gegeben zu haben, die kein Latein sprachen; vielleicht hat Hieronymus für sie manchmal auf Griechisch gepredigt. 45 Aber die Brüder, die wir kennen, stammten aus dem Westen. 46 Hieronymus publizierte weiterhin auf Lateinisch. Rom, der Westen, die lateinischsprachige Welt blieben der Fokus. 47 Bei näherer Betrachtung erscheint Hieronymus also als ‚Expat‘, sein Kloster als Exklave. 48 In jedem Fall war es für ihn eine große Erfüllung an dem Ort zu leben und zu wirken, an dem das Evangelium seinen Ausgang genommen hatte. Hieronymus versucht viele Westler zur Pilgerfahrt oder Übersiedlung in den Osten zu überreden. 49 In einem Brief von 386 spricht er über die Motive: 50 Zahllose Pilger seien bereits nach Jerusalem gekommen im Glauben, es möge ihnen etwas abgehen, wenn sie Christus nicht an den Stätten (loca) verehrt hätten, an denen der erste Strahl des Evangeliums am Kreuz aufleuchtete. 51 Diese Evidenz war kirchenpolitisch heikel. Denn die östlichen Bischöfe konnten sich gegenüber dem Westen darauf berufen, dass in ihrem Land der Heiland geboren und der Glaube seinen Ausgang genommen habe. 52 Dessen war sich Hieronymus sicherlich bewusst. In einem Brief, den er dem Bischof von Rom zehn Jahre zuvor aus Syrien geschrieben hatte, hatte er das östliche Legitimationskonzept noch nach Westen übertragen: Weil der Orient zerstritten und in Häresie versunken sei, gehe die Sonne der Gerechtigkeit (= Christus) im Okzident auf – beim Sitz Petri.53 Dies hatte dem Bischof von Rom wahrscheinlich gefallen, 54 der die Grabstätte des Petrus stark machte. 55 Nun hatte Hieronymus die Kraft der heiligen Stätte für sich und die Lateiner gewonnen.

44 Rebenich (1992), S. 195. 45 Courcelle (1948), S. 39 mit Anm. 6; Kelly (1975), S. 133 mit Anm. 26. 46 Die Klöster, die Hieronymus und andere im Heiligen Land gründeten, werden bisweilen „lateinische“ genannt. 47 Fürst (2003), S. 75; Rebenich (1992), S. 193–208. 48 Die Lateiner im Osten bildeten eine lockere Gemeinschaft: Silvanus (Alexandria) bat Hieronymus im Jahr 404, die griechische Fassung der koptischen Regel des Pachomius für die lateinischen Mönche in Ägypten zu übersetzen. 49 Vgl. Maraval (1988). 50 Hieronymus, Epistulae 46 [BKV zwischen 386 und 387] Paula und Eustochium an Marcella. Die Absender sind in Bethlehem und wollen Marcella, ihre römische Freundin überreden, sich bei ihnen im Heiligen Land niederzulassen. Hieronymus, der Marcellas Lehrer war, wird nicht erwähnt, der Brief ihm trotzdem zugeschrieben. Vgl. Maraval S. 346 mit Anm. 8 zu Datierung und Autorenschaft. 51 Hieronymus, Epistulae 46,9. 52 Gregor von Nazianz, De Vita Sua 1691ff. über das ökumenische Konzil von 381, an dem Hieronymus vielleicht teilgenommen hat, vgl. Williams (2006), S. 42ff. 53 Hieronymus, Epistulae 15,1 [376/377]: nunc in occidente sol iustitiae oritur. Rebenich (2002), S. 33–35 liefert Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen. 54 Conring (2001), S. 204 spricht von einer „captatio benevolentiae“. 55 Damasus’ Gedicht wird von Zwierlein (2010), S. 171f. zitiert und kommentiert.

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Ein Brief von 394 bezeugt, dass Hieronymus im Westen nicht als graeculus gelten mochte, gleichzeitig aber auf seiner paideia beharrte. Mit beißendem Hohn wendet sich Hieronymus gegen einen Mönch, der in Rom seine Bücher gegen Jovinian (Aduersus Iouinianum) in der Öffentlichkeit abfällig beurteilt hatte. Seine Invektive ist in überschwängliches Lob gehüllt: jener sei ein autochthoner Dialektiker, ein Autodidakt, der im Gegensatz zu ihm nicht Aristoteles lesen brauchte. Kein Wunder, dass solch ein Latinist und Meister der Beredsamkeit ihn übertreffe, der er seit einiger Zeit weg sei, ohne Gelegenheit Lateinisch zu sprechen: ein halbes Griechlein oder ein ganzer Barbar. 56 Die ironische Inversion umkehrend bedeutet das im Klartext: Er ist kein Latinist, ich kein Grieche und erst recht kein Barbar. Paideia gibt es nicht umsonst und macht einen nicht zum graeculus. 57 AUGUSTINUS Splendid isolation? Viele Arbeiten behandeln Augustinus’ Kenntnis und Bewertung der griechischen Sprache, sein Verhältnis zur klassischen paideia, seine Rezeption von griechisch schreibenden Theologen. 58 Das Bild das sich ergibt, ist ambivalent, komplex und schwankend: Augustinus hat den Griechischunterricht, den er als Kind genossen hat, in schlechter Erinnerung und lehnt paideia vollmundig ab. 59 Griechische Literatur rezipiert er zumeist in Übersetzungen. Andererseits muss man den Habitus des Bischofs in Rechnung stellen, der die christliche Theologie für die höchste Philosophie hält. Auch wenn er zur eigenen Erziehung und dem überkommenen Bildungsideal auf Distanz ging, ist sein Werk ohne diese Basis nicht zu denken. Mit den Jahren ist eine wachsende Kenntnis des Griechischen zu verzeichnen. Die Wertschätzung der griechischen Philosophen steht außer Frage, die Auseinandersetzung mit den griechischen Theologen und Kirchenvätern ist spärlicher. 60

56 Hieronymus, Epistulae 50, 2 ad Domnionem [394]; Text im CSEL 54: nec mirum, si me et absentem et iam diu absque usu latinae linguae semibarbarum que homo latinissimus et facundissimus superet. Drei von vier Handschriften (allerdings eine nach Verbesserung) haben semigraeculum barbarumque. Ich möchte an den Handschriften mit semigraeculum festhalten, da es sich um die lectio difficilior handelt und graeculus nach dem 4. Jahrhundert außer Gebrauch kommt; dagegen spräche höchstens, dass semigraeculus im Gegensatz zu semibarbarus ein Neologismus ist und ein Konnektor fehlt. 57 Eine ähnliche Einstellung scheint dem Brief an Vigilantius zu Grunde zu liegen (Hieronymus, Epistulae 61; 396). Darin verhöhnt er den Adressaten als Esel, der die Finger von der Lyra lassen sollte – vgl. Williams (2006), S. 257. 58 Neuschäfer (2004); Brown (2000 [1967]), passim. 59 Brown (2000 [1967]), S. 113 die Protagonisten in Contra Academicos verkünden stolz, dass sie von griechischen Denkern nichts wissen. 60 Brown (2000 [1967]), S. 268 und Bartelink (1987).

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Da sich im über 200 Briefe umfassenden Corpus des Augustinus nur ein einziger an einen Ostler fand (Ep. 179 an Johnnes von Jerusalem), sprach Brown von einer „splendid isolation from the world of Greek Christianity“. Dieses Dictum hat er später revidiert, 61 als neue Briefe auftauchten, die weitere Kontakte mit Ostlern bezeugen. 62 Aber die Neufunde verstärken nur den Eindruck, dass Augustinus’ Interesse punktuell war. Denn wie der bereits bekannte Brief stehen sie im Zusammenhang mit der Pelagius-Affäre – dazu später. Außerdem wird Augustinus bei seinen Adressaten vorstellig, als wäre er ein Unbekannter, und scheint im Osten schlecht vernetzt zu sein. 63 Persönlichen Kontakt zu Ostlern hat er wenig gehabt. Denn er verbrachte sein Leben ausschließlich im lateinischsprachigen Teil des Reichs, die längste Zeit an der Peripherie. 64 Griechenbild Welches Bild hat Augustinus von den Bewohnern der anderen Seite? Augustinus benutzt in De civitate dei [413–427] die überkommenen Griechen-Stereotypen, wenn er in die römische Vergangenheit zurückblickt, um von ihr gute Tendenzen der Gegenwart zu unterscheiden oder schlechte Tendenzen herzuleiten: Vor griechischer Grausamkeit in Troja bot Juno keinen Schutz, aber Kirchen vor Barbaren; die Übernahme lockerer griechischer Sitten, die im 2. Jahrhundert gegen Widerstände erfolgt, leitete den Niedergang der römischen Tugenden ein, der sich bis in die Gegenwart fortsetzt. 65 Augustinus übernimmt hier das Griechenbild von Vergil und Livius und stellt die (damaligen) Griechen auf eine Stufe mit den (heutigen) Barbaren. Platon ist die positive Ausnahme, weil er gotteslästernde Dichtung aus seinem Staat verbannt, die von den Römern aufgeführt wird. 66 Dabei stellt Augustinus die griechische avaritia, superbia, lascivia, luxuria und levitas der römischen gravitas und modestia gegenüber. 67 Im Konflikt mit den Donatisten erinnert Augustinus an Paulus’ Rede auf dem Areopag, in der dieser die Griechen konfrontiert habe, das geschwätzigste und gottloseste Volk, das Haarspalter wie die Stoiker hervorgebracht habe. 68 Augusti61 Brown (2000 [1967]), S. 269, S. 341 und S. 498 (Epilog). 62 Die in Marseille gefundenen Briefe kommentiert und übersetzt Eno (1989). Epistulae 4* und 6* an Kyrill von Jerusalem und an Atticus von Konstantinopel; laut Epistulae 29*, 4 (an Hieronymus) hat Augustinus auch den Kontakt zu anderen östlichen Würdenträgern gesucht. Ferner sind in Mainz und Erfurt neue Predigten gefunden worden. 63 Fürst (1999), S. 294f. Zu Augustinus’ dürftigen Kontakten in die westliche Politik vgl. McLynn (1999). 64 Courcelle (1948), S. 137 Anm. 3; Fürst (1999), S. 294. 65 Augustinus, De Civitate Dei 1,4 und 1,31. 66 Augustinus, De Civitate Dei 2,14. 67 Vgl. Wölfflin (1892), S. 142. 68 Augustinus, Contra Cresconium 1,15.

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nus stellt die Donatisten in die Tradition dieser Griechen 69 und sich selbst in die des Paulus, der eine höhere Gesprächskunst praktiziert habe. Aber wie dachte Augustinus über zeitgenössische Griechen? Darüber gibt am besten der Brief an Dioskoros Auskunft (410). 70 Ad Dioscorum Dioskoros studierte in Rom und in Karthago, seine Muttersprache war Griechisch. Vor seiner Abreise in den Osten schreibt er Augustinus und befragt ihn über Ciceros philosophische und rhetorische Schriften. Dioskoros’ Hauptsorge ist, dass er dumm und ignorant erscheinen könnte, wenn er Fragen dazu nicht beantworten könnte. Der Bischof ist genervt, nimmt sich aber doch die Zeit darzulegen, dass dieses Wissen unnütz ist. Augustinus ärgert sich, dass ein junger Mann der Rhetorik zugetan ist, von der er sich selbst abgewandt hat und die er durch die eigene Arbeit überwunden glaubt. Dioskoros’ Streben nach paideia erscheint ihm in den tempora christiana als rückständig. Besser sei es, sich mit Häresien zu beschäftigen. Den Umstand, dass Dioskoros Griechisch als Muttersprache hat und nach Griechenland will, benutzt Augustinus als Gelegenheit, über griechische Philosophie zu reden (es ging ja eher um lateinische Rhetorik bzw. Cicero) – für das lateinische Publikum. Der Brief von der Länge eines Traktats ist für einen weiteren Leserkreis gedacht. Bevor Augustinus zu einem Ritt durch die Philosophiegeschichte ansetzt, der die philosophischen Theorien als defizitär erscheinen lässt, 71 liefert er zwei Wahrscheinlichkeits-Argumente: wo sich schon im Westen nur wenige für Cicero interessierten, werde Dioskoros im Orient wohl kaum nach Rhetorik gefragt werden, (9) wenn schon, dann eher nach Ciceros griechischen Vorlagen (10), [die er sich nicht eben aneignen kann]. Aber auch dieses Wissen sei unnütz, da nur die christliche Lehre zur Erlösung führen könne (11). Augustinus redet also darüber, wie es hier und dort um die Rhetorik und Philosophie bestellt ist, was sein Verhältnis zur paideia erhellt, und wie sich die Griechen gegenüber den Lateinern verhalten, was viel über Augustinus’ Bild des anderen verrät. Der verbreiteten (und von Hieronymus geteilten) christlichen Auffassung, die klassische paideia könne als Propädeutik zur Theologie dienen, steht Augustinus skeptisch gegenüber: 72 Dioskoros soll Cicero „entlernen“, bevor er die christliche

69 Augustinus, Contra Cresconium 3,38: conspiratio haereticorum orientalium cum Afris haereticis. 70 Augustinus, Epistulae 118. Koopmans (1949) geht in seinem Kommentar auf das Verhältnis Römer/Griechen ein. Jüngere Arbeiten widmen sich dem philosophischen Gehalt: Bochet (1998), Djuth (2007), Fleteren (2010). 71 Zur Intention des Briefs vgl. Bochet (1998), S. 51. 72 Tornau (2006), S. 55 Anm. 167, 76ff. und S. 411.

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Wahrheit lehren kann [11]. Selbst würde er das Gelernte am liebsten vergessen [9]. Augustinus zeichnet eine Rhetorik, die vom Aussterben bedroht ist. Das ist ein Wunschbild. Ganz so weit scheint es noch nicht gekommen zu sein: Offensichtlich gibt es in Karthago Rhetorikschulen; dass sich Dioskoros an ihn wendet, interpretiert er als Desinteresse von Dioskoros’ Lehrern und den ,Gelehrten‘, als Zeichen ihres Bedeutungsverlusts. Augustinus übernimmt so, scheinbar widerwillig, die Deutungshoheit. Die Rhetoriklehrer sind seine Gegner, die Dioskoros’ Aufmerksamkeit nicht verdienen. Augustinus’ Rhetoriklehrer verweisen Dioskoros mit seinen Fragen an Griechenland, den Ursprung dieser Fragen, aber dort seien die Gymnasien verweist. Griechisch steht hier und im Anschluss für überholte pagane paideia. 73 Sie erscheint in der lateinischen Welt als fremdes Element, das nun zum Glück verschwindet. Augustinus selbst scheint der Meinung zu sein, dass Dioskoros sich nicht mit lateinischer, sondern allenfalls mit griechischer Philosophie auseinandersetzen müsste – wie die Abhandlung über die griechische Philosophiegeschichte zeigt. Wenn selbst sie als wertlos hingestellt wird, ist das ein argumentum a fortiori. Philosophie und Rhetorik werden (wieder) als Griechisch konzipiert, um sie als fremd ablehnen zu können. Den langen Kampf, den lateinische Denker wie Cicero um ihre Originalität und ihren Platz in der Geistesgeschichte geführt haben, gibt Augustinus geschlagen. Seine Argumentation würde ein gutes Stück weit [in 9] auch funktionieren, wenn Dioskoros ein ,Lateiner‘ wäre, was vielleicht dem westlichen Lesepublikum geschuldet ist. In 10 wird dann klar, dass Dioskoros ein ,Grieche‘ ist: Augustinus’ Ostler würden wahrscheinlich auch einen Lateiner nach griechischer Philosophie fragen, erst Recht aber einen Landsmann. Augustinus imaginiert eine Gesprächssituation zwischen Dioskoros und einem Ostler: Frage (nach griechischer Philosophie), Antwort (Aporie, abwegige Antwort), Resultat (vernichtendes Urteil). Dabei nimmt er die Rolle des Griechen ein und imaginiert ihre Gefühle und Erwartungen: Sie empfinden Dioskoros’ Verhalten als Verrat, sind verletzt, dass er nicht das Original, sondern die Kopie rezipiert hat [was nicht so weit von seinem eigenen Konzept entfernt zu sein scheint, s.o.]; wenn sie ihn nun für dumm halten, ist genau der Eindruck entstanden, den er hatte vermeiden wollen (von diesen oberflächlichen Maßstäben hatte sich Augustinus bereits distanziert 8). Außerdem halten sie ihn für ungebildet, weil er die Fremdsprache über seine Muttersprache stellt. Es folgt eine etwas bessere Antwort bzw. Rechtfertigung (lateinische Literatur als Propädeutik), die aber auch unbefriedigend erscheint, jedenfalls nicht weiter kommentiert wird. Im letzten Absatz ist Dioskoros dann nicht mehr lateinisch sozialisierter Grieche in Griechenland, sondern im Westen; es geht auch nicht mehr um griechische, sondern wieder um lateinische Literatur. Als ,Grieche‘ müsse er nicht nach Wissen streben, das die Muttersprachler vernachlässigen. Dass 73

Vgl. auch Augustinus, Epistulae 118, 11, wo graeculus flatus mit gravitas, auf die sich Dioskoros besinnen soll, kontrastiert; ferner 23.

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Dioskoros, indem er lateinische Literatur rezipiert, eine positive Ausnahme von Augustinus’ Griechenbild ist, hebt er nicht hervor. Augustinus’ Bild der zeitgenössischen Griechen ist kaum sympathischer als das der historischen: sie erscheinen als arrogant und ignorant. Dieses Griechenbild war wohl kaum dazu angetan, Dioskoros auf seine Seite zu ziehen. Augustinus hat hier wohl sein lateinisches Publikum im Auge. Stehen hinter diesen Einschätzungen eigene Erfahrungen des Augustinus, etwa im Bereich der Kirche? Vielleicht hatte Augustinus das Gefühl, dass sein Werk im Osten nicht angemessen rezipiert wurde. Das scheint sich jedenfalls im nicht viel später entbrennenden Konflikt mit den ,Pelagianern‘ abzuzeichnen, den wir gleich eingehender behandeln werden. Im Brief 118 sind Lateinisch/Griechisch schön nach Westen und Osten getrennt; Dioskoros erscheint als Irrläufer. Das Verhalten, durch das die Griechen negativ gezeichnet sind (westliche Kultur ignorieren), legt Augustinus selbst an den Tag, wenn er das Griechische im Westen als fremd betrachtet (s.o.). Er trennt Sphären. Gilt das nur für die alte paideia oder auch für Glaubensdinge? Das wird sich gleich zeigen. AUGUSTINUS, HIERONYMUS UND DIE PELAGIANER Hieronymus und Augustinus haben einander nie persönlich kennengelernt, hatten phasenweise aber engen brieflichen Kontakt. 74 Augustinus bat Hieronymus um die Übersetzung exegetischer Werke griechischer Theologen, besonders des Origenes. 75 Dass aus diesen Kontakten nie eine Freundschaft wurde, liegt an zahlreichen Differenzen. Augustinus kritisierte Hieronymus’ Bibelübersetzung aus dem Hebräischen und hinterfragte dessen theologische Positionen, worauf dieser verschnupft reagierte. Trotzdem kam es im Pelagius-Streit zu einem Zweckbündnis. Akteure Pelagius und sein Schüler Caelestius verließen Rom im Jahr 410 und ließen sich in Karthago nieder, wo ihre Lehren auf Widerstand trafen. Als ein nordafrikanisches Konzil (Karthago 411) Caelestius exkommunizierte, wich dieser nach Ephesos aus, wo er zum Priester geweiht wurde. Pelagius ging nach Jerusalem und wurde vom dortigen Bischof Johannes mit offenen Armen empfangen. Dass beide im Osten Zuflucht und Anklang fanden, lag an theologischen und persönlichen Gegebenheiten: Pelagius’ Lehre war mit der östlichen Theologie eher kompatibel, 76 außerdem sprach er hervorragend Griechisch. 74 Fürst (1999), S. 294–300 und Fürst (2002). 75 Ebd. 28,2. Dazu kam es nur teilweise: Bartelink (1987), S. 16 mit Anm. 32. Augustins Kenntnis kann auch von Übersetzungen anderer Lateiner stammen. 76 Fürst (1999), S. 296 und Fürst (2011), S. 413.

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In Jerusalem flammte der alte Konflikt mit Hieronymus wieder auf, der bereits nicht nur mit Johannes, sondern auch mit Pelagius aneinander geraten war.77 Währenddessen kämpfte Augustinus gegen die Reste des ,Pelagianismus‘ in Nordafrika und nahm schließlich den Osten in den Blick. Durch die Sendung von Briefen, Schriften und Dokumenten versuchte er, die Ost-Bischöfe auf die Gefahren und Fehler der ,pelagianischen‘ Theologie aufmerksam zu machen und über die kirchenpolitischen Entscheidungen des Westens zu informieren (Anm. 62). Dass keine Antworten erhalten sind, lässt sich als Fehlschlag der Kontaktaufnahme interpretieren. 78 Im Jahr 415 erschien in Bethlehem Augustinus’ Schüler Orosius, der Hieronymus ein Bündnis gegen die die ,Pelagianer‘ und ihre Lehren antrug. Hieronymus akzeptierte und bekannte sich von nun an zu Augustinus, obwohl seine theologischen Positionen denen des Pelagius gar nicht so fern standen. 79 Hieronymus eignete sich als Mittelsmann, da er in Bethlehem lebte und hervorragend Griechisch sprach. Dass der Lateiner Hieronymus Augustinus’ wichtigster Verbündeter gegen Pelagius im Osten wurde, ist ein weiteres Anzeichen für Augustinus’ dürftige Kontakte im Osten. Hieronymus’ Einfluss sollte sich als begrenzt erweisen. Bischof Johannes lud Orosius nun dazu ein, den Hintergrund des Streites zwischen Hieronymus und Pelagius zu erläutern (Jerusalem Juli 415). Orosius’ brüske Forderung, die Synode solle Pelagius allein wegen Hieronymus’ und Augustinus’ Missbilligung seiner Lehren verurteilen, 80 hatte den gegenteiligen Effekt: Orosius geriet unter Beschuss und Pelagius wurde frei gesprochen, was sich auf einer größeren Synode im selben Jahr wiederholte (Diospolis Dezember 415). Orosius führte sein Scheitern auf die Sprachbarriere zurück: Er war auf Übersetzer angewiesen gewesen. 81 Pelagius’ Freispruch schockierte Augustinus und die anderen nordafrikanischen Bischöfe. Für sie sah es so aus, als seien die theologischen Positionen, die 411 zur Verurteilung des Caelestius geführt hatten, von einer östlichen Synode zurückgewiesen worden. Augustinus unterstellte Pelagius, dass er seine Lehre verunglimpft habe. Vielleicht gab er Übersetzungen ins Griechische in Auftrag, um dem entgegenzuwirken. 82 Aber vermutlich war die Sprachbarriere für das Scheitern der Verständigung weniger entscheidend als tieferliegende theologische und kulturelle Differenzen. 83 77 78 79 80

Es ging um die Ehe-Theologie. Lössl (2000), S. 272 Anm. 25. Zur Soteriologie vgl. Fürst (2011), S. 342–344 und S. 406–411. Orosius, Liber apologeticus contra Pelagianos 4. Kelly (1975), S. 318. Im Anschluss versuchte Orosius eine neue Linie: Da die Häretiker Lateiner seien und die Häresie vornehmlich im lateinischen Teil grassiere, müssten auch die Richter Lateiner sein, und zwar der Papst (Liber apologeticus contra Pelagianos 6). 81 Fürst (1999), S. 300 mit Anm. 29. 82 Fürst (1999), S. 301ff. 83 Pace Fürst (1999), S. 296 und 299 sowie Bardy (1948).

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Obwohl Augustinus, Hieronymus und andere Lateiner Schriften gegen die ,Pelagianer‘ verfassten, die teilweise auch vom Osten rezipiert wurden, 84 blieben diese dort lange unbehelligt. Den Erfolg ihrer Mühen sollten weder Hieronymus, der im Jahr 419 verstarb, noch Augustinus, erleben. Als Theodosius II. Augustinus eine Einladung zum Konzil von Ephesos schickte (431), war dieser bereits tot und konnte seine erste Reise in den Osten nicht mehr antreten. Die ,Pelagianer‘ wurden bei dieser Gelegenheit zwar verurteilt, aber ohne dass Augustinus genannt wurde. Trotzdem, die Verurteilung war auf die Lobbyarbeit des Augustinus, Hieronymus und anderer Westler zurückzuführen. Dieses Ergebnis ist bemerkenswert, da der ,Pelagianismus‘ den Osten nur peripher tangiert hatte. Der Westen hatte eine Debatte in den Osten getragen und sie auch wieder beendet. Sie sollte im Osten keine Spuren hinterlassen. 85 Argumente Die letzten zehn Jahre seines Lebens wurde Augustinus vom Kampf gegen den ,Pelagianer‘ Julian von Aeclanum in Atem gehalten, der seit 419 im östlichen Exil weilte. 86 In seiner eingangs zitierten Streitschrift gegen Julian zieht Augustinus ähnliche Grenzen wie in Sachen paideia gegenüber Dioskoros: 87 Er sieht die Welt und die Kirche in Orient und Okzident zerfallen, in Lateiner und Griechen, in wir und sie. Julian hätte sich mit dem Weltteil begnügen sollen, in dem Petrus das Martyrium erlitt, und hätte auf den Bischof von Rom hören sollen. Als Kind des Westens und der westlichen Kirche brauche er sich nicht auf östliche Bischöfe berufen, deren Rückhalt Augustinus ihm im Folgenden abspricht. In beiden Weltteilen herrsche ein und derselbe christliche Glaube. Orient und Okzident stimmten in dieser Frage überein. 88 Das Beispiel des Hieronymus, der als intellektueller Grenzgänger gezeichnet wird (Anm. 1), soll das quasi in Personalunion bestätigen. Augustinus’ Darstellung ist tendenziös: Bei Hieronymus lässt er den kirchlichen und geographischen Seitenwechsel nicht nur angehen, sondern lobt ihn sogar (ebd.), Julian bleibt hingegen Westler. Der gemeinsame Glaube, den er absolut setzt, ist der seiner Partei, die im Osten weniger Rückhalt hatte, als er suggeriert. Die beschworene Einheit zwischen Osten und Westen ist oberflächlich. Daran konnten auch die Beschlüsse von Ephesos nichts ändern.

84 85 86 87

Wickham (1989). Wickham (1989), S. 210. Lössl (2001), S. 286–318. Augustinus, Contra Iulianum 1,13–14. Ähnlich argumentiert Orosius gegen Pelagius (Anm. 80). 88 Augustinus, Contra Iulianum 1,20; 1,42; 2,37; 3,32.

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FAZIT Durch seine ausgedehnten Reisen und Studien wurde Hieronymus zu einem physischen und intellektuellen Grenzgänger. Augustinus hält nicht viel vom Grenzgängertum eines Dioskoros oder eines Julian, seine Anerkennung für das des Hieronymus ist die Ausnahme und wohl dem Argument geschuldet. Augustinus’ Zurückgezogenheit an der westlichen Peripherie steht vielleicht im Zeichen der fortschreitenden Regionalisierung. In Syrien rezipierte Hieronymus asketische Praktiken, deren Propagierung in Rom ihm Autorität verleihen sollte. Außerdem berief er sich auf seine Studien bei östlichen Theologen, um im Westen Legitimation zu gewinnen. Der Osten war für ihn eine Ressource. Auch nach seiner Übersiedlung blieb Hieronymus zum Westen orientiert, wie seine Korrespondenz und Schriften, die auf Latein verfasst sind, zeigen. Orosius sprach Hieronymus wohl aus der Seele, wenn er behauptete, dessen Worte habe der ganze Okzident sehnsüchtig erwartet. 89 Die Realität sah freilich anders aus: Hieronymus’ Schriften fehlte oft die Anerkennung. Der Nachruhm kam erst spät. 90 Die verbreitete Meinung, Hieronymus habe auf den Osten wie kaum ein anderer wirken wollen, 91 ist unzutreffend. Hieronymus war wie ein ‚Expat‘, sein Kloster eine Exklave. Hieronymus hatte eine Handvoll griechischsprachiger Freunde, denen er sich in theologischen und kirchenpolitischen Disputen anschloss, aber diese waren im Osten (bzw. in Syrien und Palästina) Außenseiter oder wurden dazu: Paulinus wurde zwar in Rom favorisiert, hatte aber im Osten das Nachsehen. Epiphanius lag mit Johannes von Jerusalem über Kreuz. Der Konflikt mit Johannes ließ Hieronymus zeitweise zum Ausgestoßenen und fast zum Verbannten werden. Der Kampf gegen die ,Pelagianer‘, in dem er auf Augustinus’ Linie einschwenkte, ließ diesen Konflikt wieder aufbrechen. Wenn Hieronymus gehofft hatte, dass ihm der Osten neue Karrieremöglichkeiten bieten würde, die ihm in Rom nach dem Tod des Damasus verwehrt waren, hatte er sich getäuscht. 92 Immer wieder saß er zwischen den Stühlen: Im Osten vertrat er Positionen, die wohl als westlich betrachtet werden konnten, im Westen konnte er graeculus geschimpft werden. Augustinus hatte kaum Kontakt zu Ostlern und hat die griechische Theologie nur rezipiert, wenn er musste. Nur im Falle des Pelagius-Streits ist Augustinus in eine aktuelle Debatte mit der anderen Seite eingetreten. Hieronymus und er agierten brüsk, aber ihre Beharrlichkeit führte zu einem Erfolg, der freilich nicht nachhaltig war. Hieronymus rezipierte die Klassiker der östlichen Theologie im Original und ermöglichte Augustinus und anderen Westlern die Rezeption in Übersetzung. Ob 89 90 91 92

Orosius, Liber apologeticus contra Pelagianos 4. Cain (2010), S. 15ff. Lössl (2000), S. 272. Williams (2006), S. 64.

Hieronymus, Augustinus und der Osten

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er dadurch den Austausch befördert hat, wie gemeinhin angenommen, ist schwierig zu beurteilen. Denn die Lektüre von Übersetzungen enthob der Notwendigkeit, Griechisch zu lernen, was die persönliche Kommunikation erschwerte. Andererseits sieht man an Hieronymus selbst, dass er den Kontakt mit Ostlern trotz des Fehlens der Sprachbarriere nur begrenzt gesucht hat. Die These, am PelagiusStreit sei erstmals exemplarisch zu studieren, inwiefern bloße Sprachschwierigkeiten zur Entfremdung zwischen griechischer Ost- und lateinischer Westkirche beigetragen haben, greift also zu kurz – die Probleme lagen tiefer. Beide lehnten die klassische paideia ab: Augustinus aus Überzeugung, obwohl er der griechischen Philosophie viel verdankte; als fremd, obwohl der Westen von ihr durchdrungen war. Hieronymus halbherzig: paideia bleibt ihm als Distinktionsmerkmal wichtig, obwohl seine Kenntnisse oberflächlich waren. Das Bild, das sich beide von der anderen Seite machten, fußt auf alten Stereotypen: Die historischen Griechen kommen bei Hieronymus besser weg als bei Augustinus: Hier wird ihre Kultur herausgestellt, dort ihre Fehler. Die Stereotypen suggerieren den Fortbestand distinkter Nationen oder Ethnien, wo die Wirklichkeit komplizierter war. Augustinus schreibt die alten Griechen-Vorurteile bis in die Gegenwart fort: Sie erscheinen als arrogant und ignorant. Dieses Bild dürfte sich wohl in Augustinus’ Augen im Pelagius-Streit bestätigt haben. Hieronymus konnte sich die stereotype Selbst- und Fremdsicht der Griechen zu Eigen machen. Griechen werden wieder zum Gegenbild (the other); Der Gegensatz Römer/Griechen wird zu Lateiner/Griechen, was das Mittelalter präfiguriert. Westen und Osten sind für beide getrennte, klar voneinander abgegrenzte Entitäten. Was den Osten und den Westen ausmacht, wurde durch das Christentum neu definiert: jetzt war nicht mehr Athen Zentrum des Orients, sondern Bethlehem. In seinem Brief an Damasus verlagert Hieronymus diesen Ort ideell in den Okzident, mit der Klostergründung, der ersten ihrer Art, gewinnt er die heilige Stätte für die Lateiner. Beide bringen den Okzident als den Ort in Stellung, an dem Petrus das Martyrium erlitt. Eine Ost-West-Grenze wird da gezogen, wo man sich nicht reinreden lassen will; die Gemeinsamkeit dort stark gemacht, wo man Einfluss auf die andere Seite ausüben will. Die Beurteilung des Verhältnisses ist also von Interessen geleitet. Hieronymus versuchte sein Leben lang, dem Westen den Osten näher zu bringen, Augustinus im Pelagius-Streit dem Osten den Westen. In der Rückschau erscheinen ihre Erfolge als Scheinsiege. Die Verurteilung des Pelagius durch ein östliches Konzil wirkte nicht nach. Hieronymus’ Werk wurde im Osten kaum rezipiert. 93 Augustinus’ Name war dort zwar klangvoll, aber seine Schriften wurden bis ins 13. Jahrhundert weitgehend ignoriert. 94 Im Westen wurde Augustinus’ Theologie die Grundlage für das lateinische Mittelalter. Westen und Osten hatten sich weiter voneinander entfernt. 93 Nur seine Fortsetzung der Chronik des Eusebius und De viris illustribus werden – vielleicht in Übersetzung – rezipiert – vgl. Mango/Scott (1997), S. 76; Fürst (2003), S. 62ff. 94 Demacopoulos/Papanikolaou (2008).

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DIE KOMMUNIKATION DER PÄPSTE MIT DEN BISCHÖFEN IM OSTEN DES RÖMISCHEN REICHES IN DER 2. HÄLFTE DES 5. JAHRHUNDERTS Sebastian Scholz ZUSAMMENFASSUNG Anhand des Pontifikats des Papstes Simplicius (468–483) wird der Frage nachgegangen, wie sich die Kommunikation der Päpste mit den Bischöfen in der östlichen Reichshälfte in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts gestaltete und in wieweit hier ein Auseinanderdriften von Westen und Osten des Imperium Romanum zu erkennen ist. Eine wirkliche Kommunikation lässt sich dabei nur mit dem Kaiser und dem Patriarchen von Konstantinopel feststellen. Von ihnen bezog der Papst seine Informationen über die Entwicklung im Osten. Mit den übrigen Patriarchaten und Bischofssitzen in der östlichen Reichshälfte hatte der Papst entweder keinen oder nur sehr sporadischen Kontakt. Die Fixierung auf Konstantinopel als Nachrichtenlieferant schränkte die Möglichkeiten des Papstes jedoch stark ein, in kirchenpolitischen Fragen aktiv zu werden, da er ohne Informationen von dort nicht auf die aktuelle Entwicklung reagieren konnte. In der Forschung stellt sich immer wieder die Frage, wie groß der Einfluss der Päpste im Osten des römischen Reiches war. Myron Wojtowytsch hat in einer grundlegenden Analyse aufgezeigt, dass der römische Primatsanspruch im östlichen Reichsteil nie akzeptiert worden ist. 1 Trotzdem war Rom auch im Osten eine wichtige Größe, denn in strittigen Glaubensfragen oder bei Absetzungsurteilen wandte sich vor allem die unterlegene Partei gerne nach Rom, um dort Hilfe zu finden. In diesen Fällen wurde die Bedeutung der römischen sedis apostolica jeweils besonders betont. Aber auch in anderen Fällen erschien die Unterstützung Roms nützlich. So bemühte sich Cyrill von Alexandria bei seinem Glaubensstreit mit Nestorius schon früh, Rom auf seine Seite zu ziehen und damit seiner Position noch mehr Gewicht zu verleihen. 2 Insgesamt aber wandten sich die Bischöfe des östlichen Reichsteils selten und nur in Ausnahmefällen an Rom. Entsprechend waren römische Versuche, im Osten des römischen Reiches Einfluss zu nehmen,

1 2

Wojtowytsch (1981), S. 283–303 und S. 318–350. Wojtowytsch (1981), S. 283–285.

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selten erfolgreich. Bereits Papst Leo der Große nahm nur in einzelnen Fällen direkten Kontakt mit seinen Amtskollegen in Ägypten und den anderen östlichen Regionen auf. 3 Stattdessen wandte er sich wie etwa im Streit zwischen Rom und Alexandria um den Ostertermin direkt an den Kaiser statt an den eigentlich zuständigen Patriarchen von Alexandria. 4 Wie war es also um die Kommunikation der Päpste mit den Bischöfen in der östlichen Reichshälfte in der 2. Hälfte des 5. Jahrhunderts bestellt? Zeichnet sich hier ein Auseinanderdriften von Westen und Osten des Imperium Romanum ab? Dieser Frage soll hier exemplarisch anhand des Pontifikats des Papstes Simplicius nachgegangen werden, der die Cathedra Petri von 468–483 innehatte. In diese Zeit fällt das Ringen um die Durchsetzung der Beschlüsse von Chalcedon, die im Osten nach wie vor umstritten waren. Der Papst musste also ein gehöriges Interesse daran haben, sich über die Situation im Osten zu informieren und dort Einfluss zu nehmen. Die Situation stellte sich in dieser Zeit folgendermaßen dar: In Alexandria hatten sich der Presbyter Timotheus Aelurus und der Diakon Petrus Mongus an die Spitze der Opposition gegen das Chalcedonense gestellt, weshalb sie von dem neu gewählten Patriarchen Proterius abgesetzt wurden. 5 Da der Widerstand aber überaus heftig war, wandte sich Proterius schließlich an Papst Leo mit der Bitte, die Beschlüsse von Chalcedon milder auslegen zu dürfen. Leo antwortete darauf lediglich, dass sein Tomus ad Flavianum genüge und ihm nichts hinzuzufügen sei. 6 Mit dem Tode Kaiser Marcians im März 457 verschärfte sich der Konflikt in Alexandria. Eine Gruppe von chalcedonfeindlichen Mönchen und Klerikern nutzte die Abwesenheit des Standortkommandanten Dionysius, um dort Timotheus Aelurus zum Bischof zu erheben, der von zwei Bischöfen geweiht wurde. Als Dionysius zurückkehrte und Timotheus verhaften ließ, führte dies zu einem Aufstand, bei dem Bischof Proterius angegriffen und getötet wurde. Timotheus kam frei und veranstaltete eine Synode, auf der Papst Leo, Anatolius von Konstantinopel sowie Basilius von Antiochia exkommuniziert wurden. Zudem setzte er neue Bischöfe ein, die seine Parteigänger waren. In dieser kritischen Situation entschied sich Kaiser Leon I. (457–474) dafür, zunächst die Stimmungslage der östlichen Bischöfe zu ermitteln. Er führte eine Befragung durch, ob am Chalcedonense festzuhalten sei und ob Wahl und Weihe des Timotheus gültig seien. Die Bischöfe äußerten sich zum Teil zwar durchaus kritisch zu den Beschlüssen von Chalcedon, hielten aber im Wesentlichen an ihnen fest. Die Wahl des Timotheus wurde unter den gegebenen Umständen abgelehnt. Der Kaiser ließ Timotheus

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Caspar I (1930), S. 549f. und S. 552. Caspar I (1930), S. 543–546. Maraval (2005), S. 121. Leo I., Ep. 129, ed. Schwartz, S. 84–86 = JK 505.

Die Kommunikation der Päpste mit den Bischöfen

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schließlich 460 nach Cherson auf der Krim verbannen. Neuer Bischof von Alexandria wurde der Mönch Timotheus Salophaciolus. 7 Als Kaiser Leon 474 starb, waren trotz seiner auf die Durchsetzung der Beschlüsse von Chalcedon ausgerichteten Politik die Auseinandersetzungen um das Konzil keineswegs beendet. Unter Leons Nachfolger Zenon zeichnete sich zunächst keine klare kirchenpolitische Linie ab. Er wurde bereits nach einem Jahr 475 von seinem Schwager Basiliscus gestürzt. Vermutlich um seine Macht zu festigen, wandte sich dieser gegen Chalcedon und begünstigte die Monophysiten. Er ließ Timotheus Aelurus aus der Verbannung zurückkehren und empfing ihn in Konstantinopel. Timotheus verfasste ein Rundschreiben, in dem er das Konzil von Nicaea zur wichtigsten Bezugsgröße erhob und die Beschlüsse von Chalcedon verwarf. Das Rundschreiben wurde vom Kaiser veröffentlicht und fand bei vielen Bischöfen des Ostens ein positives Echo. Timotheus kehrte nun nach Alexandria zurück, wo er wieder den Bischofssitz einnahm, während sich Timotheus Salophaciolus in ein Kloster zurückzog. 8 Allerdings gab es auch Widerstand gegen das Rundschreiben des Timotheus. Bischof Acacius von Konstantinopel verweigerte die Unterschrift, wohl auch deshalb, weil mit der völligen Aufhebung der Beschlüsse von Chalcedon der 28. Kanon dieses Konzils wegfiel, welcher die Vorrechte Konstantinopels vor den anderen Patriarchaten mit Ausnahme Roms festschrieb. 9 Für diese Zeit sind wieder Papstschreiben an die Bischöfe der östlichen Reichshälfte überliefert. Aus der Zeit zwischen dem Tode Leos des Großen 461 und dem Brief des Simplicius vom Januar 475 sind keine Papstbriefe an östliche Bischöfe erhalten geblieben. Papst Hilarius hatte zwar laut dem Liber pontificalis einen Brief an die Bischöfe des Ostens gerichtet, in dem er sich hinter die Beschlüsse von Chalcedon stellte und Nestorius und Eutyches verdammte, doch ist keine Reaktion darauf bekannt. 10 Ob das Schweigen der Quellen lediglich dem Überlieferungszufall anzulasten ist oder ob es tatsächlich keinen Austausch zwischen Rom und dem Osten gab, ist schwer zu sagen. Am 9. Januar 476 wandte sich Simplicius an den Bischof von Konstantinopel, Acacius: „Durch den Bericht vieler Presbyter und Mönche, die in den verschiedenen Klöstern dem Herrn dienen, ist ersichtlich, dass der Teufel die Kirchen Gottes wieder in Unruhe versetzt, so dass man berichtet, der Bischof von Alexandria [Timotheus Aelurus] habe, nachdem er als Häretiker ausgeschlossen und von der ganzen Kirche verurteilt worden war, eben den Ort, von dem er vertrieben wurde, in seine Gewalt gebracht; dass er es darüber hinaus von einigen begünstigt gewagt habe, nach Konstantinopel zu eilen, so dass die Stadt der christlichen Kaiser, die durch die Demut gegenüber der Wahrheit des katholischen Glaubens hervorragt, und das christliche Volk bei der aufmerksamen Verteidigung des Glaubens durch die Schlechtig7

Grillmeier (1991), S. 131f., S. 221–238; Maraval (2005), S. 126f. mit Anm. 17f.; Siebigs (2010), S. 274–305, S. 560–565, S. 586–597. 8 Grillmeier (1991), S. 267–277; Maraval (2005), S. 128f. 9 Maraval (2005), S. 130f. 10 Liber pontificalis 1, ed. Duchesne, S. 242.

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Sebastian Scholz keit der Häretiker, die schon betäubt worden war, verwirrt wurde. Aber das Erbarmen Gottes, um dessen Sache es geht, fehlte nicht, so dass es Timotheus, der durch bischöfliche Beschlüsse und kaiserliche Bestimmungen zu Recht von der ganzen Kirche getrennt worden ist, nicht erlaubt wurde, zur Kirche deiner Liebe oder zu den Schwellen der Häuser der Gläubigen zu gehen.… Der Glaube des Kaisers ist angerufen worden, den Ruf nach der Abhaltung einer Synode zurückzuweisen; und es sollte in den christlichen Ohren des Reiches auch keine träge Einflüsterung sein, weil das Heil und die Stärke dieses und seiner Herrschaft Christus ist. Bittet also mit den vorgenannten Presbytern und Mönchen gelegen oder ungelegen seine Frömmigkeit auch in unserem Namen und macht seiner Milde diese Gesandtschaft auch für uns bekannt, damit sich nicht irgendetwas unbemerkt einschleicht. Durch die Bitten aller zugleich soll bewirkt werden, dass der Feind nicht durch eine öffentliche Besetzung der kirchlichen Ruhe irgendeinen Hinterhalt legen kann…Ich ermahne dich also, liebster Bruder, dass man auf jede Weise den Versuchen der Bösen, eine Synode abzuhalten, Widerstand leisten muss, die immer nur angesagt worden ist, wenn in den verkehrten Sinnen etwas Neues oder in der Aussage etwas dogmatisch Zweifelhaftes auftauchte [...]“ 11

Erst durch das Schreiben der Mönche und Presbyter aus Konstantinopel erhielt der Papst demnach Kenntnis von der Entwicklung im Osten. Weder Acacius selbst noch irgendein anderer Bischof hatte es also für nötig befunden, Rom über die neue Lage zu informieren oder gar um Hilfe beim Kampf für das Chalcedonense zu bitten. 12 Wann der Brief aus Konstantinopel in Rom eintraf, ist unklar, denn Simplicius entschuldigte sich in einem Brief dafür, später zurückgeschrieben zu haben, als er vorgehabt habe. 13 Immerhin gab es aber unter den Mönchen und im Klerus von Konstantinopel chalcedonfreundliche Kreise, die sich nicht allein

11 Collectio Avellana 58, ed. Guenther, S. 130f. = JK 572: Quantum presbyterorum et ex diversis monasteriis Domino servientium monachorum relatione patefactum est, ecclesias Domini rursus diabolus inquietat, ita ut excluso Alexandriae sacerdote haereticus atque ab universitate damnatus eundem locum, de quo pulsus fuerat, occupasse dicatur; insuper quibusdam faventibus Constantinopolim ausum fuisse contendere, ut civitas Christianorum principum circa fidei catholicae veritatem devotione praecellens et Christiana plebs in defensione religionis adtonita haereticorum pravitate, quae iam fuerat sopita, turbetur. Sed misericordia dei, cuius est causa, non defuit, ut Timotheus, qui ab unversali ecclesia sacerdotalibus sententiis et imperialibus constitutis iure est segregatus, ad ecclesiam tuae dilectionis vel ad fidelium domorum limina non permitteretur accedere […] Implorata fide clementissimi principis vocem faciendae synodi fac respui nec sit apud aures imperii Christianas pigra suggestio, quia salus eius et regni ipsius Christus est fortitudo. Ergo cum praedicitis presbyteris ac monachis opportune atque importune pietati eius nostro quoque nomine supplica et legationem hanc pro nobis quoque clementiae ipsius, ne quid subripiatur, insinua. Omnium pariter precibus instruatur, ne per occupationes publicas quieti ecclesiasticae aliquas inimicus moliatur insidias […] Hortor ergo, frater carissime, ut modis omnibus faciendae synodi perversorum conatibus resistatur, quae non alias semper indicta est, nisi cum aliquid in pravis sensibus novum aut in assertione dogmatum emersit ambiguum […]; Übersetzung: Sebastian Scholz. 12 Grillmeier (1991), S. 277 mit Anm. 30 geht davon aus, Acacius habe selbst an den Papst geschrieben, doch gibt es dafür keinen Beleg in den zeitgenössischen Quellen. Erst ein Brief des Gelasius (JK 664) erwähnt einen Bericht des Acacius über Basiliscus, den er an den Papst senden ließ (ad apostolicam sedem referre curavit). Damit könnte aber auch der Bericht der Mönche und Presbyter aus Konstantinopel gemeint sein. 13 Collectio Avellana 59, ed. Guenther, S. 133 = JK 574.

Die Kommunikation der Päpste mit den Bischöfen

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auf Acacius verlassen mochten und deshalb den Papst informierten, denn immerhin war Papst Leo maßgeblich an den Beschlüssen von Chalcedon beteiligt gewesen. Simplicius wurde nun aktiv. Er wandte sich mit dem zitierten Brief zunächst an Acacius, und wenig später schrieb er auch an Kaiser Basiliscus sowie an den Klerus und die Vorsteher der Klöster von Konstantinopel. Wieweit Simplicius die Lage dabei richtig einschätzte, lässt sich nur schwer erkennen. Die Aufforderung an Acacius, ihn zu unterstützen und sich beim Kaiser dafür einzusetzen, gegen Timotheus Aelurus vorzugehen, könnte einerseits dafür sprechen, dass der Papst sich der Spannungen zwischen Acacius und dem Kaiser nicht bewusst war. Andererseits hatte der Papst offenbar keinen Kontakt zu anderen Verbündeten, so dass er sich vielleicht auch angesichts der Verstimmung zwischen Basilicus und Acacius von einem gemeinsamen Protest eine positive Wirkung auf den Kaiser erhoffte. Sein am 10. Januar 476 folgender Brief an den Kaiser war zwar höflich, doch in der Sache deutlich. Timotheus wurde mit Vorwürfen überhäuft und nicht nur als Häretiker, sondern auch als Vatermörder und Antichrist bezeichnet. Simplicius berief sich dabei wieder auf die Informationen aus dem Klerus und Mönchtum von Konstantinopel. Tatsächlich dürfte sein Bild von Timotheus maßgeblich durch die Schilderungen aus Konstantinopel beeinflusst worden sein. Diesen dürfte er umso bereitwilliger geglaubt haben, als Timotheus sich trotz der Exkommunikation nicht von seinen Auffassungen distanziert hatte. Weiter hob der Papst seine Übereinstimmung mit Acacius hervor und brachte seine Verwunderung über die Haltung des Kaisers deutlich zum Ausdruck: „Wenn sich auch, ehrwürdiger Kaiser, der Geist entsetzt, dass dies von einem so großen Gladiator versucht worden ist, werde ich, ich bekenne es, von größtem Erstaunen erfüllt, dass dies unter den Blicken eurer Frömmigkeit begangen werden konnte.“ 14 Hinsichtlich der theologischen Diskussion hielt Simplicius fest, die Beschlüsse von Chalcedon seien aus der reinen Quelle der Schriften unverfälscht geschöpft worden und könnten deshalb nicht mit verschwommenen und verdrehten Argumenten angegriffen werden. „Es besteht nämlich“, so fährt der Papst fort, „eben diese Norm der apostolischen Lehre in den Nachfolgern dessen, dem der Herr die Sorge für die ganze Herde aufgetragen hat, und dem er versprochen hat, dass er ihn bis zum Ende der Welt keineswegs verlassen wird, dass ihn die Pforten der Hölle niemals überwältigen werden und dass das, was durch dessen Urteil auf Erden gebunden wird, auch im Himmel nicht mehr gelöst werden kann, wie es bezeugt ist.“ 15 Diese Berufung auf die Amtsgewalt Petri und seiner Nachfolger ist

14 Collectio Avellana 56, ed. Guenther, S. 126–128 = JK 573: Haec, venerabilis imperator, cum horreat animus vel a tanto gladiatore fuisse temptata, maximo tamen, fateor, stupore detineor, sub vestrae pietatis aspectibus potuisse committi […]; Ü.: S. Scholz; vgl. Caspar II (1933), S. 17. 15 Collectio Avellana 56, ed. Guenther, S. 127f.: Perstat enim in successoribus suis haec eadem apostolicae norma doctrinae, cui dominus curam totius ovilis iniunxit, cui se usque in finem

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in doppelter Hinsicht wichtig. In den Briefen an Kaiser Zenon und an Acacius, die er als seine Verbündeten betrachtete, verzichtet der Papst nämlich auf jede direkte Bezugnahme auf den päpstlichen Primat. Gegenüber dem sich gegen Chalcedon stellenden Basiliscus sollte jedoch eindeutig festgehalten werden, dass die Beschlüsse von Chalcedon nicht mehr verhandelbar waren, da sie durch die Autorität Petri und seiner Nachfolger geschützt waren. Man kann dem Papst natürlich wie Christiane Fraisse-Coué vorwerfen, er habe die Spannungen im Osten nicht überblickt, keine Kenntnis von den gegen Chalcedon gerichteten Schriften des Timotheus Aelurus gehabt und deshalb jede neue dogmatische Diskussion abgelehnt. 16 Wenn der Papst auch sicherlich die Schriften des Timotheus Aelurus kaum kannte, so übersieht diese Argumentation doch die Situation des Papstes. Timotheus Aelurus wie auch Petrus Mongus wollten hinter das Chalcedonense zurück, wobei ihre theologischen Argumente keineswegs neu waren. Für den Papst war aber jede Änderung an den von Papst Leo mitgetragenen und beeinflussten Beschlüssen von Chalcedon indiskutabel. Eine Neubewertung von Chalcedon ließ das Selbstverständnis der Päpste als Hüter des richtigen Glaubens, wie es im Brief an Basiliscus zum Ausdruck kommt, nicht zu. Möglicherweise war Rom gerade auch aus diesem Grund kein Ansprechpartner für viele Bischöfe des Ostens, die im Chalcedonense keinen unverrückbaren Schlusspunkt der theologischen Diskussion sahen. Sowohl in dieser Hinsicht als auch für die Frage der Kommunikation ist der am 11. Januar folgende Brief an die Presbyter und Archimandriten Konstantinopels aufschlussreich: „Nachdem Eure Liebe durch unseren lobenswerten Sohn Epiphanius den Brief später, als ihr es wolltet, empfangen hat, sind wir durch großen Schmerz bewegt worden, weil dort die wiederauflebenden Feuer eines Ärgernisses in der Kirche Christi entstehen, wo sie so oft durch die Autorität des apostolischen Stuhls und das Urteil der allgemeinen Synode ausgelöscht worden sind. […] Wir haben eurer Liebe dies kurz zur Beratung, ja, sogar zum Trost geschrieben und wir wollen euch einige Briefe, wie ihr wünscht, aufgrund der Erfordernis der Sache schicken, nicht nur um den Glauben in seiner ganzen Fülle zu verteidigen, der fest begründet ist, sondern damit den Häretikern und Verurteilten, die zurückgewiesen werden müssen, jene Schriften vorgehalten werden, die ihr, wie ihr euch erinnert, auch an Flavian heiligen Angedenkens und an die heilige Synode von Chalcedon sowie an Marcian erhabenen Angedenkens sowie an meinen Vorgänger Leo seligen Angedenkens geschrieben habt und die die Bischöfe des gesamten Ostens in eigenen Schreiben an den Kaiser Leo damals geschickt haben. […] An den allerchristlichsten Kaiser sowie an meinen Bruder und Mitbischof Acacius haben wir zugleich entsprechende Schreiben geschickt, dessen Schweigen wir nicht anklagen zu müssen meinen, weil wir den Glauben des überaus erprobten Bischofs kennen und wir halten es für sicher, dass es nicht seine Sache (nämlich die häretische) ist, weil er schweigt. Damit aber Eure Liebe die Reihe der Briefe, die wir an den aller christlichsten Kaiser geschickt haben,

saeculi minime defuturum, cui portas inferi numquam praevalituras esse promisit, cuius sententia, quae ligarentur in terris, solvi testatus est non posse nec caelo. Ü.: S. Scholz. 16 Fraisse-Coué (2005), S. 177; ähnlich auch schon Grillmeier (1991), S. 278f.

Die Kommunikation der Päpste mit den Bischöfen

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umso vollständiger kennenlernt, schicken wir euch die Exemplare durch den Boten, den ihr geschickt habt, wenn er wieder zurückkehrt.“ 17

Der Bote der Konstantinopolitaner Geistlichen befand sich demnach noch in Rom und Simplicius hatte einen eigenen Vertrauten mit den Briefen an Acacius, den Kaiser sowie die Presbyter und Archimandriten geschickt. Simplicius legte letzteren die beiden anderen Briefe vor, damit sie sehen konnten, dass ihr Vertrauen in den Papst gerechtfertigt war. Er nutzte den Anfang des Briefes zudem dafür, die Bedeutung des päpstlichen Stuhls bei der Bekämpfung der Monophysiten hervorzuheben. Ganz, wie es der Sichtweise Roms entsprach, wurde die Autorität des apostolischen Stuhls an erster Stelle genannt, dann erst folgte das Urteil der Synode. Die weiteren Schreiben, die der Papst den Archimandriten und den Presbytern in Konstantinopel auf deren Wunsch übersandte, sagen nichts über die Kommunikationsstrukturen Roms aus, da es sich um jene Briefe handelt, die den Akten des Konzils von Chalcedon beigefügt waren. Offenbar verfügten die Ansprechpartner des Papstes aber nicht über die Akten. Dass sie sich diese allerdings aus Rom und nicht aus dem Archiv des Patriarchen von Konstantinopel besorgten, spricht nochmals für ein gewisses Misstrauen gegenüber Acacius. Dieses Misstrauen scheint auch Simplicius gespürt zu haben, da er Acacius ausdrücklich vor dem Verdacht in Schutz nahm, er könne sich auf die Seite der Häretiker geschlagen haben und sein Schweigen entschuldigte. Ob ihn dieses Schweigen des Patriarchen selbst zu dieser Zeit befremdet hat, lässt sich seinen Briefen nicht entnehmen. Und Acacius schwieg weiter. Mitte Januar 476 schickte der Papst eine neue Gesandtschaft aus hochrangigen weltlichen Würdenträgern, dem vir illuster und patricius Latinus und dem vir spectabilis Madusius, nach Konstantinopel. Er empfahl diese der Aufmerksamkeit des Acacius und bat ihn nochmals eindringlich,

17 Collectio Avellana 59, ed. Guenther, S. 133–135 = JK 574: Per filium nostrum laudabilem virum Epiphanium litteris vestrae dilectionis serius, quam voluistis, acceptis mango sumus dolore permoti, quod illic intra ecclesiam dei scandalorum recidiva nascuntur incendia, ubi totiens auctoritate apostolicae sedis et sententia synodi universalis extincta sunt. […] Breviter haec ad consultationem immo etiam ad consolationem vestrae scripsimus caritati, volentes aliquos, quemadmodum cupitis, pro causae necessitate dirigere, nisi ad omnem plenitudinem non iam defendendae, quae solide fundata est, fidei sed repellendis haereticis atque damnatis illa sufficerent, quae etiam ad sanctae memoriae Flavianum atque ad sanctam Calcedonensem synodum vel ad augustae recordationis Marcianum ac Leonem beatae memoriae antecessorem meum scripsisse retinetis atque totius Orientis episcopi rescriptis ad principem tunc Leonem propriis intimarunt. […] Ad Christanissimum quoque principem vel ad fratrem et coepiscopum meum Acacium competentia simul scripta direximus, cuius in tanta re accusandum silentium non putamus, quia scientes fidem probatissimi sacerdotis certum tenemus suum non esse, quod tacuit. Ut autem plenius dilectio vestra cognoscat nostrarum, quas ad Christianissimum principem misimus, seriem litterarum, exemplaria internuntio, quem misistis, redeunte direximus. Ü.: S. Scholz.

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beim Kaiser zu intervenieren. 18 Eine unmittelbare Antwort darauf scheint wiederum nicht erfolgt zu sein. Im August 476 konnte Zenon die Macht wieder an sich bringen. Basiliscus wurde gefangen genommen und nach Kappadokien deportiert, und der Kaiser schwenkte in der theologischen Auseinandersetzung auf die in der Hauptstadt vorherrschende chalcedonfreundliche Linie ein. 19 Im Oktober 476 oder aber erst im April 477 20 gratulierte der Papst Zenon zu seinem Erfolg, mahnte ihn, für die Beschlüsse von Chalcedon einzutreten und bat ihn, Timotheus Aelurus, den er nicht beim Namen nennt, vom alexandrinischen Bischofsstuhl zu entfernen. 21 Erst danach reagierte Acacius endlich auf die Briefe des Papstes. Im Oktober 477 schrieb Simplicius an ihn: „In dem Brief deiner Liebe, den Du durch unseren Sohn, den im Glauben bewährten Diakon Epiphanius geschickt hast, hast du das ausführlicher mitgeteilt, was unsere frömmsten Söhne, die Presbyter, Archimandriten und Mönche schon früher geschrieben hatten. Und du hast eine ausführliche, aber notwendige Schriftrolle mit einem Bericht (sermo) gesandt, so dass wir lernen können, was entweder in Konstantinopel oder in anderen Gegenden von den Häretikern getan wird. Und du hast uns einzelne Dinge, die gegen die kirchlichen Regeln und gegen den katholischen Glauben selbst überall begangen worden sind, vor unsere Augen gestellt, damit man sehen kann, mit welchen Heilmitteln man den Kirchen zu Hilfe kommen kann, denen der gefährliche Räuber und erneute Eindringling der Alexandrinische Kirche, der dem Exil entkommen ist, Gewalt anlässlich der tyrannischen Herrschaft und aufgrund der Abwesenheit des aller christlichsten Kaisers zufügte. Deshalb sind wir der Meinung, dass nach dem einzigen Gott, der die Kirche und die res publica mit seinem wunderbaren Trost besucht, die Hilfe des mildesten Kaisers angefleht werden muss, auch wenn du dies keineswegs verlangt hast; nämlich für alles, was Gott seinem Reich zu Teil werden ließ, damit nicht weiter auf der Erde, von der er weiß, dass sie seiner Herrschaft unterworfen ist, die Kirche Gottes durch die Ansteckung und Schlechtigkeit der Häretiker verletzt wird, sondern sich durch den Befehl seiner Frömmigkeit unversehrt von der teuflischen Lehre zeigt.“ 22

18 Collectio Avellana 57, ed. Guenther, S. 129f. = JK 575. 19 Grillmeier (1991), S. 279–282; Maraval (2005), S. 131f. 20 Das Datum des Briefs ist in den Handschriften unterschiedlich überliefert, vgl. Schwartz (1934), S. 162, Nr. 12. 21 Collectio Avellana 60, ed. Guenther, S. 135–138 = JK 576. 22 Simplicius papa, Ep. 7,1–2, ed. Thiel, S. 189f. = JK 577: (1) Litteris tuae dilectionis, quas per filium nostrum Epiphanium diaconum probatae fidei direxisti, ea quae strictim religiosissimi viri filii nostri presbyteri, archimandritae cum monachis vel ante scripserant, latius indicasti, et prolixo quidem volumine, sed sermone necessario retulisti, ut quid vel Constantinopoli, vel in aliis regionibus ab haereticis gestum disceremus: ac singula, quae contra ecclesiasticas regulas et contra ipsam catholicam fidem ubicunque commissa sunt, ante nostros oculos collocasti; quatenus videatur, quo etiam remedio subveniretur ecclesiis, quibus vim sub occasione tyrannicae dominationis, et per absentiam Christianissimi principis perniciosus latro et recidivus invasor Alexandrinae ecclesiae lapsus exsiliis irrogavit. (2) Unde unicum post Deum, qui ecclesiam et rempublicam consolatione mirabili visitavit, etiamsi hoc fieri minime postulasses, clementissimi imperatoris auxilium duximus implorandum: ut pro omnibus, quae regno eius Dominus tribuit, ne ulterius in orbe terrarum, quas subditas suo cognoscit imperio, ec-

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Vielleicht unter dem Eindruck der chalcedonfreundlichen Politik Zenons informierte Acacius den Papst nun ausführlich über die Situation im Osten. Aus der Stellungnahme des Papstes geht eindeutig hervor, dass er keine andere Informationsquelle besaß, abgesehen vom Schreiben der Konstantinopolitaner Kleriker und Mönche. Bezeichnender Weise scheint Acacius den Papst nicht um Hilfe und schon gar nicht um eine Intervention beim Kaiser gebeten zu haben. Doch für den Papst war eine solche Intervention unverzichtbar. Nur mit Hilfe des Kaisers schien es ihm möglich, Timotheus Aelurus in die Schranken zu weisen und damit die wichtige alexandrinische Kirche für das Chalcedonense zurückzugewinnen. Timotheus sollte mit seiner Gefolgschaft für immer ins Exil verbannt werden. Namentlich Petrus, der 471 zum Bischof von Antiochia geweiht worden war, Paulus von Ephesus sowie alle, die von diesen zu Bischöfen geweiht worden waren, sollten exiliert werden. 23 Offenbar schätzte der Papst nach dem Bericht des Acacius die Lage als so dramatisch ein, dass er es nur durch staatliche Zwangsmaßnahmen für möglich hielt, den Kirchenfrieden wiederherzustellen. Allerdings war Timotheus Aelurus am 31. Juli 477 bereits in Alexandria verstorben und mit großer Anteilnahme beerdigt worden, wovon der Papst im Oktober immer noch keine Kenntnis hatte. Auch die Absetzung des Petrus von Antiochia sowie des Paulus von Ephesus durch den Kaiser war dem Papst noch nicht bekannt, so dass ein wesentlicher Teil seiner Forderungen ins Leere lief. 24 Acacius antwortete diesmal wohl relativ bald auf das Schreiben des Papstes, doch ist sein Brief nicht datiert. Er teilte Simplicius den Tod des Timotheus mit und warnte vor den Umtrieben des Petrus Mongus in Alexandria. Dieser habe, noch bevor Timotheus überhaupt beerdigt worden sei, versucht, den Bischofssitz von Alexandria in seine Gewalt zu bringen. Doch habe stattdessen Timotheus Salophaciolus den Bischofssitz wieder einnehmen können. 25 Wenn Acacius in diesem Zusammenhang schreibt: „Auch Petrus, der in ähnlicher Weise den Sturm in Alexandria entfachte, hat er [Gott] entfernt und ihn durch den Hauch des Heiligen Geistes in die ewige Flucht getrieben als einzigen von denen, die schon vorher verurteilt worden waren. So wie man es in unserem Archiv findet und in eurem, wenn ihr nachforschen wollt, könnt ihr erkennen, was in eben jener Zeit folgte und was jeweils vom Bischof von Alexandria nach Rom berichtet wurde,“26

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clesiae Dei ab haereticorum contagione et pravitate violentur, sed doctrinae diabolicae praeceptione pietatis ipsius praestentur immunes. Ü.: S. Scholz. Simplicius papa, Ep. 7,3, ed. Thiel, S. 190f. Fraisse-Coué (2005), S. 177f. Simplicius papa, Ep. 8,2, ed. Thiel, S. 193f.; vgl. Caspar II (1933), S. 19. Simplicius papa, Ep. 8,2, ed. Thiel, S. 193: Timotheum quidem de Cersone spirantem procellas et ecclesiasticam tranquillitatem, sicut apparuit conturbantem, vitae subduxit, humanae, dicens ei: Tace et obmutesce. Petrum quoque, qui ab Alexandria more similiter procellae surrexerat, dissipavit atque in aeternam fugam sancto Spiritu flante convertit, unum et ipsum de his, qui olim fuerant et ante damnati. Sicut et in nostris archivis inventum est, et de vestris scriniis, si dignamini requirere, poteritis agnoscere, quae in tempore de eodem subsecuta ab Alexandrino episcopo ad Romam alterutram sint relata. Ü.: S. Scholz.

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könnte man meinen, dass es eine rege Korrespondenz zwischen Alexandria und Rom gegeben habe. Dies war aber offenbar nicht der Fall, wie man den bisher behandelten Briefen entnehmen kann. Simplicius antwortete im März 478 auf diesen Brief und gab der Hoffnung Ausdruck, Timotheus möge sich künftig als untadeliger Bischof zeigen, denn er habe sich einst zwingen lassen, den Namen des anathematisierten Dioskur am Altar vorzulesen. 27 Diese Detailinformation war dem Papst also zugetragen worden, ohne dass sich erkennen lässt, auf welchem Weg sie zu ihm gelangte. Vermutlich hat der Papst seine Kritik am Verhalten des Timotheus auch in dem Glückwunschschreiben erwähnt, das er nach Alexandria sandte. 28 Timotheus reagierte umgehend und schickte eine Legation nach Rom, die aus dem Bischof Esaias, dem Presbyter Nilus und dem Diakon Martyrius bestand. Sie überbrachten ein Schreiben, in dem Timotheus seinen Fehler eingestand, den Namen Dioskurs verlesen zu haben, diese Handlung verwarf und den Papst um Vergebung für seinen Irrtum bat. Da sich Petrus Mongus immer noch in Alexandria aufhielt und für Unruhe sorgte, musste Timotheus Rückhalt bei den Befürwortern des Chalcedonense suchen. Jede Kritik an seinem Verhalten konnte seine Autorität untergraben, so dass er den Papst von seiner Loyalität überzeugen musste. Es ist bezeichnend, dass die Gesandten den Papst im Namen des Timotheus baten, seine Entschuldigung unverzüglich auch Acacius mitzuteilen, was der Papst gerne tat. 29 Zudem schrieb der Papst an Kaiser Zenon und an Acacius und forderte sie nachdrücklich dazu auf, für die Verbannung des Petrus Mongus aus Alexandria zu sorgen, damit dort Ruhe einkehre. 30 Die alexandrinische Gesandtschaft ist offenbar der besonderen Situation des Timotheus geschuldet, dem deshalb eine Verständigung mit Rom wichtig war. Im Übrigen blieben die Kontakte mit Alexandria sowie mit den übrigen Patriarchaten auf Standardsituationen beschränkt, wie aus der noch zu behandelnden weiteren Korrespondenz des Simplicius mit Acacius hervorgeht. Neben Alexandria rückte nun auch Antiochia stärker ins Blickfeld des Papstes, weil ihn Acacius relativ schnell über die Weihe des Calandion zum Bischof von Antiochia informierte. Der chalcedonensische Patriarch Stephan wurde 479 ermordet, woraufhin der Kaiser aufgrund der schwierigen Situation in Antiochia Acacius befahl, den ebenfalls chalcedonensischen Calandion zum Bischof zu weihen. Normalerweise wurde die Wahl jedoch durch eine Synode östlicher Bischöfe vorgenommen und die Weihe erfolgte durch die Mitbischöfe. 31 In seinen Schreiben an den Kaiser und an Acacius vom 22. Juni 479 akzeptierte der Papst das unkanonische Vorgehen, da die Notlage es erforderte, verlangte aber, daraus keinen Präzedenzfall abzuleiten. Sowohl den Kaiser als auch den Patriarchen tadelte Simplicius jedoch, weil der 27 28 29 30 31

Collectio Avellana 61, ed. Guenther, S. 139 = JK 578. Collectio Avellana 63,1, ed. Guenther, S. 142 = JK 580. Collectio Avellana 63,2–3, ed. Guenther, S. 142f. Collectio Avellana 64 und 65, ed. Guenther, S. 144–146 = JK 581; JK 582. Collectio Avellana 66 und 67, ed. Guenther, S. 148–150 = JK 584, JK 585; Caspar II (1933), S. 20; Wyrwa (1998), S. 165.

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Mord und die Probleme in Antiochia hätten verhindert werden können, wenn alle antichalcedonischen Aufrührer ins Exil geschickt worden wären, wie er es gefordert hatte. 32 Die beiden Briefe zeigen nochmals, wie wenig Möglichkeiten der Papst hatte, sich fern des Geschehens und ohne detaillierte Informationen ein realistisches Bild von der Lage zu machen. Denn die Exilierung aller Chalcedongegner hätte den Kaiser wohl nicht nur überfordert, sondern auch zu weiteren gewalttätigen Protesten geführt. Für die Zeit zwischen 479 und 482 sind keine päpstlichen Schreiben an Acacius oder andere Bischöfe des Ostens überliefert. Möglicherweise hat sich Simplicius tatsächlich nicht mehr an Acacius gewandt, doch sprechen die beiden ersten Briefe vom 15. Juli 482 an Acacius eher dafür, dass der Papst durchaus weitere Briefe an den Patriarchen von Konstantinopel schrieb, diese aber nicht erhalten blieben. Denselben Briefen lässt sich aber auf jeden Fall entnehmen, dass Acacius keine weiteren Briefe an den Papst richtete. Calandion konnte aufgrund der Verhältnisse in Antiochia sein Bischofsamt dort erst 482 antreten und versammelte aus diesem Anlass eine Synode. 33 Diese und er selbst teilten den Amtsantritt dem Papst mit, was das übliche Verfahren im Austausch zwischen den Patriarchaten war. Diese Briefe erhielt Simplicius zusammen mit dem Schreiben einer ägyptischen Synode, die dem Papst den Tod des Timotheus Salophaciolus sowie die Wahl des Johannes Talaia zum neuen Patriarchen mitteilte, einem Schreiben des Kaisers und einem Schreiben des Acacius. Der Briefverkehr lief also auch hier wieder über Konstantinopel. Das Schreiben des Acacius lieferte dem Papst allerdings keine genaueren Informationen über die Situation in Ägypten, was der Papst unwillig (miramur) zur Kenntnis nahm. 34 Doch genau zu dieser Zeit hatte sich Acacius dazu entschlossen, einen Ausgleich mit den Gegnern des Konzils von Chalcedon herbeizuführen. 35 Da vom Papst nicht zu erwarten war, dass er den Chalcedongegnern in irgendeiner Weise entgegenkommen würde, versuchte Acacius Interventionen aus Rom durch gezielte Nichtinformation zu verhindern. Der Papst blieb also auf jene Informationen beschränkt, die er den beiden Synodalbriefen entnehmen konnte, wie aus seinen beiden Antwortschreiben klar hervorgeht: „Obgleich uns keineswegs verborgen bleiben konnte, aus welchem Grund uns der Amtsantritt des Bischofs von Antiochia sehr spät angezeigt worden ist, haben ihn uns doch er selbst und seine Synode angezeigt. Da es nun so geschehen ist, wie wir es nicht gewünscht haben, so haben wir uns doch bereitwillig gegenüber der Entschuldigung gezeigt, welche der Notwendigkeit entsprang: Denn das, was nicht freiwillig geschieht, kann nicht angeklagt werden. Nachdem wir durch unseren Bruder und Mitbischof Anastasius, der aus der vorgenannten Region gesandt worden ist, auch die Briefe Deiner Liebe empfangen haben, antworten wir deshalb der Rede deiner Liebe und ich umarme notwendigerweise das Bischofsamt unseres Bruders und Mitbischofs im Schoß des apostolischen Stuhls und durch die Gnade Christi, un-

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Collectio Avellana Nr. 66 und Nr. 67, ed. Guenther, S. 147 und S. 150. Maraval (2005), S. 132. Collectio Avellana 68, ed. Guenther, S. 151 = JK 586. Wyrwa (1998), S. 165.

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Sebastian Scholz seres Gottes, zählen wir den Vorsteher einer solch bedeutenden Stadt zu unserer Gemeinschaft in der Einheit des Kollegiums. Wir wundern uns aber, dass wir nichts über den Zustand der Kirche von Alexandria durch deine Unterrichtung lernen, über die wir nun erfahren haben, dass es sich so verhält, dass die Unredlichen anlässlich des Todes von Timotheus heiligen Angedenkens versucht haben, diese Kirche gefangen zu nehmen. Deshalb muss von deiner Liebe zusammen mit dem allermildesten Kaiser gehandelt werden, damit nicht unter seiner Herrschaft zunichte gemacht wird, was zu Zeiten des Tyrannen [Basiliscus] bewahrt werden konnte.“ 36

In dem zweiten Brief, den der Papst am selben Tag an Acacius schrieb, ist die Klage über dessen Schweigen noch heftiger: „Wir wundern uns zugleich und empfinden Schmerz darüber, dass im Geist deiner Liebe die vernachlässigte Sorge der Liebe und des Glaubens zergehen, so dass, wenn der aller christlichste Kaiser auf meinen Antrieb hin beschließt, dass die frommen und kundigen Vermittler über die Frömmigkeit und Religion sprechen und über die kirchlichen Angelegenheiten beraten sollen, du selbst das wechselseitige Ansehen und die pastorale Wachsamkeit vergisst und uns weder ansprechen willst, noch glaubst, uns über das, was zum Schutz der katholischen Wahrheit gehört, unterrichten zu müssen.“ 37

Warum der Papst verärgert und besorgt über das Ausbleiben von Informationen war, ergibt sich aus dem folgenden Inhalt des Briefes. Die ägyptische Synode hatte Simplicius in einem Bericht (relatio) über den Tod des Timotheus und die Wahl des Mönches Johannes Talaia informiert. Der Papst wollte daraufhin wie üblich (secundum consuetudinem) dem Gewählten gratulieren und ihn so in die Gemeinschaft mit Rom aufnehmen. Parallel zu dem Schreiben aus Ägypten hatte ihn aber auch ein Schreiben des Kaisers erreicht, in dem Johannes des Meineids beschuldigt wurde. Denn Johannes hatte Ende 481 oder Anfang 482 dem Kaiser schwören müssen, niemals Bischof zu werden, weil dieser ihn für einen Vertrau36 Collectio Avellana 69, ed. Guenther, S. 154f.: Antiocheni exordium sacerdotis qua ratione fuerit serius indicatum, quamvis minime nos latere potuerit, tamen et ipse vel synodus ipsius indicavit. Quod sicut non optavimus fieri, ita faciles excusationi, quam necessitas fecit, extitimus, quia quod voluntarium non est, vocari non potest in reatum. Et ideo per fratrem et coepiscopum nostrum Anastasium, qui ex praedicta regione directus est, litteris quoque tuae dilectionis acceptis alterni vicissitudinem sermonis tuae reddimus caritati necessario fratris et coepiscopi nostri Calendionis sacerdotium gremio apostolicae sedis amplexi in consortium nostrum per gratiam Christi dei nostri tantae urbis antistitem collegii unione numeramus. Miramur autem nihil nos de statu Alexandrinae ecclesiae te instruente didicisse, quem numquam ita ut nunc habetur esse comperimus, ut improbi per occasionem obitus sanctae memoriae Timothei eandem ecclesiam conentur habere captivam. Unde agendum est dilectioni tuae cum clementissimo principe, ne convellatur sub eius imperio, quod tyranni temporibus potuit optineri. Ü.: S. Scholz. 37 Simplicius papa, Ep. 18,1, ed. Thiel, S. 208 = JK 587: Miramur pariter et dolemus, ita in tuae dilectionis animo dissimulatam lacerare curam caritatis et fidei, ut quum Christianissimus imperator pietatis et religionis instinctu affandi me et de causis ecclesiasticis consulendi fideles atque sollertes internuntios destinaret, ipse et alternae gratiae et vigilantiae pastoralis oblitus, nec alloqui nos volueris, nec de his, quae ad catholicae veritatis custodiam pertinebant duxeris instruendos. Ü.: S. Scholz.

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ten des mächtigen und von ihm argwöhnisch beobachteten magister officiorum Illus hielt. 38 Daraufhin widerrief der Papst die Anerkennung des Johannes, „damit man nicht über mich urteilte, ich hätte zu hastig gegen ein so großes und so gewichtiges Zeugnis gehandelt.“ Zugleich war er äußerst irritiert darüber, dass der Kaiser nun den exkommunizierten Petrus Mongus zum neuen Patriarchen befördern wollte. Dagegen verwahrte sich der Papst ausdrücklich. Selbst wenn Petrus verspräche, sich an die Definition des richtigen Glaubens zu halten, müsse er sich erst einer Busse unterziehen, bevor er wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden könne. Eine unmittelbare Erhebung zum Bischof sei völlig unmöglich. 39 Doch auf eine Reaktion von Seiten des Acacius auf seine Einwände wartete der Papst vergebens. In einem Brief vom 6. November 482 beklagte sich der Papst nochmals bitter bei Acacius, dass dieser ihm trotz der langen Zeit und der vielen Gelegenheiten keine Informationen über die Kirche von Alexandria geben habe. 40 Am 10. März 483 starb der Papst, ohne von Acacius eine Antwort erhalten zu haben. Die Analyse der Korrespondenz des Papstes Simplicius zeigt, dass die Kommunikation mit dem Osten im Wesentlichen über Konstantinopel lief. Der Kaiser und der Patriarch, der durch die Nähe zum Kaiser in der Regel gut informiert war, waren die eigentlichen Ansprechpartner Roms. Darüber hinaus verfügte der Papst über kein Informationsnetzwerk oder engere Kontakte zu einzelnen Bischofssitzen. Selbst die Beziehungen zu den beiden wichtigen Patriarchaten Alexandria und Antiochia beschränkte sich in der Regel auf den Austausch von Wahlanzeigen und Gratulationsschreiben. Trotzdem wirken die Klagen des Papstes über mangelhafte Informationen durch den Patriarchen von Konstantinopel seltsam, denn Rom war nach wie vor über den Mittelmeerhandelt mit Ägypten und dem Nahen Osten verbunden. Mit den Schiffen kamen nicht nur Waren, sondern auch Informationen nach Rom. Man mag sich fragen, warum der Papst diese Kanäle nicht intensiver genutzt hat. Die Antwort liefert ein Schreiben Papst Leos I. an Kaiser Theodosius II. aus dem Jahr 449, wo es heißt: „Weil ihr also das Konzil der Bischöfe befohlen habt, das gegen Flavian in Ephesus stattfand, und gebilligt wurde, dass es dem Glauben selbst entgegenstände und alle Kirchen verletzte und dies von uns in Erfahrung gebracht wurde, nicht durch einen zweifelhaften Boten, sondern durch die ehrwürdigsten Bischöfe selbst, die von uns geschickt worden waren, und durch den Bericht unseres überaus treuen Diakons Hilarus über das, was geschehen war…“ 41

38 Schwartz, Publizistische Sammlungen S. 195f. 39 Simplicius papa, Ep. 18, ed. Thiel, S. 208–211: Illico retraxi pedem, et meam revocavi super eius confirmatione sententiam, ne quid contra tantum ac tale testimonium praepropere fecisse iudicarer (S. 209). 40 Simplicius papa, Ep. 20, ed. Thiel, S. 213 = JK 589. 41 Leo der Große, Ep. 43, ed. Schwartz, S. 26 = JK 437: Igitur quia concilium episcoporum quod propter Flavianum in Ephesena civitate fieri praecepistis, et ipsi fidei probatur obesse et omnes ecclesias vulnerare et haec a nobis conperta sunt, non incerto nuntio, sed ab ipsis re-

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Boten, so zeigt der Brief, mussten zuverlässig sein, sonst konnte man die Informationen gegenüber dem Kaiser oder anderen wichtigen Personen kaum einsetzen. Die Päpste mögen also durchaus über inoffizielle Kanäle Nachrichten erhalten haben, aber es war immer fraglich, wieweit sie diesen vertrauen konnten. Als Grundlage für politische Entscheidungen und Stellungnahmen wollten sie diese Nachrichten jedenfalls nicht verwenden. Die Fixierung auf Konstantinopel als Nachrichtenlieferant schränkte die Möglichkeiten des Papstes jedoch stark ein. Ohne Informationen von dort konnte er nicht auf die aktuelle Entwicklung reagieren. Acacius wählte das Mittel der Informationsverweigerung nicht ohne Grund, als er sich dafür entschied, eine Revision der Beschlüsse von Chalcedon herbeizuführen. Durch die einseitige Ausrichtung auf Konstantinopel wurde zudem die Wirksamkeit päpstlicher Rundschreiben, wie Leo der Große sie an die Bischöfe des Ostens verfasste hatte, stark eingeschränkt. Die Briefe waren nicht Teil einer regelmäßigen Korrespondenz, sondern erschienen als Einmischung eines weit entfernten, wenn auch durchaus angesehenen Bischofssitzes, der sonst wenig Interesse an den Problemen der Bischöfe in der östlichen Reichshälfte zeigte. Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, warum die Schreiben Leos und später auch die Schreiben von Felix und Gelasius an die Bischöfe des Ostens ohne nachhaltige Wirkung blieben. Rom blieb damit auf die Rolle der Instanz beschränkt, bei der man Hilfe gegen wirkliches oder scheinbares Unrecht suchte. Die Briefe des Simplicius zeigen zudem sehr deutlich, wie sehr der Papst auf kaiserliche Zwangsmaßnahmen gegenüber jenen vertraute, die in den Augen Roms den richtigen Weg verlassen hatten. Das allzu große Vertrauen auf die Möglichkeiten kaiserlicher Einflussnahme könnte ein Grund dafür sein, warum sich Simplicius, aber auch seine Vorgänger und Nachfolger im 5. Jahrhundert so wenig Mühe gaben, den Kontakt mit dem Osten zu pflegen. Einen Anhaltspunkt für das Auseinanderdriften von Westen und Osten des Imperium Romanum in dieser Zeit bietet die vorgestellte päpstliche Kommunikation trotzdem nur bedingt. Wenn auch der Kontakt der Päpste zu den Bischöfen in Ägypten, Palästina, Syrien und den übrigen östlichen Provinzen im Vergleich zum 4. Jahrhundert stark eingeschränkt war, blieb doch Konstantinopel und damit die Zentrale des Ostens der wichtigste Kommunikationspartner. QUELLENVERZEICHNIS Collectio Avellana = Epistulae imperatorum pontificum aliorum inde ab a. 367 usque ad a. 553 datae, Avellana quae dicitur collectio, ed. Otto Guenther (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 35,1), Prag/Wien/Leipzig 1895. Leo der Große, Epistulae = Leonis Papae I epistularum collectiones, ed. Eduard Schwartz (Acta conciliorum oecumenicorum. Concilium universale Chalcedonense 4,1), Berlin/Leipzig 1932.

verentissimis episcopis qui a nobis missi sunt, et fidelissimo rerum quae gesta sunt, narratore Hilaro diacono nostro, haec autem culpa processit. Ü.: S. Scholz.

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Le Liber pontificalis, ed. Louis Duchesne (Bibliothèque des Écoles françaises d'Athènes et de Rome 1), 2.Aufl., Paris 1955. Simplicius papa, Epistulae, ed. Andreas Thiel (Epistolae Romanorum pontificum 1), Braunsberg 1867, ND Hildesheim/New York 1974.

LITERATURVERZEICHNIS Erich Caspar (1930), Geschichte des Papsttums 1, Tübingen. Erich Caspar (1933), Geschichte des Papsttums 2, Tübingen. Christiane Fraisse-Coué (2005), Die zunehmende Entfremdung zwischen Ost und West (451–518), in: Jean-Marie Mayeur (Hrsg.), Die Geschichte des Christentums, Altertum Bd. 3, Freiburg/Basel/Wien, S. 158–210. Alois Grillmeier (1991), Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 2/1: Das Konzil von Chalcedon (451). Rezeption und Widerspruch (451–518), 2. Aufl, Freiburg/Basel/Wien. Pierre Maraval (2005), Die Rezeption des Chalcedonense im Osten des Reiches, in: Die Geschichte des Christentums, Altertum Bd. 3, Freiburg/Basel/Wien, S. 121–157. Eduard Schwartz (1934), Publizistische Sammlungen zum acacianischen Schisma (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil. hist. Klasse, NF 10), München. Gereon Siebigs (2010), Kaiser Leo I. Das oströmische Reich in den ersten drei Jahren seiner Regierung (457–460 n. Chr.) (Beiträge zur Altertumskunde 276), Berlin/New York. Myron Wojtowytsch (1981), Papsttum und Konzile von den Anfängen bis zu Leo I. (440–461) (Päpste und Papsttum 17), Stuttgart. Dietmar Wyrwa (1998), Drei Etappen der Rezeptionsgeschichte des Konzils von Chalkedon im Westen, in: Johannes van Oort/Johannes Roldanus (Hrsg.), Chalkedon. Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption der Christologischen Formel von Chalkedon, Leuven, S. 147– 189.

DER STREIT UM DEN TITEL DES „ÖKUMENISCHEN PATRIARCHEN“ ALS KOMMUNIKATIONSPROBLEM ZWISCHEN OST UND WEST Carola Föller ZUSAMMENFASSUNG Papst Gregor der Große geriet Ende des 6. Jahrhunderts in einen heftigen Konflikt mit dem Patriarchen von Konstantinopel, weil dieser den Titel des „ökumenischen Patriarchen“ geführt hatte. Bisher wurde davon ausgegangen, dass es sich bei der Ursache des Streits um eine simple Fehlinterpretation Gregors gehandelt habe, der dem Titel dadurch eine hochmütige Bedeutung beigemessen und nicht verstanden habe, wie dieser von den konstantinopolitanischen Patriarchen ‚eigentlich‘ gemeint gewesen sei. Dadurch habe er sich in seinem Primatsanspruch bedroht gefühlt. Eine Untersuchung der Briefe kann hingegen zeigen, dass Gregor die intendierte Bedeutung wohl verstand und ausgesprochen überlegt und dem jeweiligen Adressaten entsprechend argumentierte. Dem Missverständnis lagen also weniger die Ignoranz des Papstes als unterschiedliche kulturelle Konzepte zugrunde: Die Konzeptionen von Demut unterschieden sich offensichtlich ebenso wie die Streitkultur von ‚Ost‘ und ‚West‘. Das Beispiel des Streits veranschaulicht das Potential, das die Untersuchung von Missverständnissen für die mit postmodernen Kulturtheorien operierenden historischen Wissenschaften haben kann. GEGENSTAND UND GLIEDERUNG „Und wenn ich all dies traurig betrachte und die geheimen Richtsprüche Gottes fürchte, so vermehren sich meine Tränen, und Ächzen ergreift mein Herz, weil unser sehr heiliger Herr Johannes, solch ein enthaltsamer und demütiger Mann, von freundlichen Zungen verleitet in solchen Hochmut ausbricht, dass er in seinem Appetit auf diesen verdrehten Titel versucht demjenigen gleich zu sein, der in seinem Hochmut Gott gleich sein will…“ 1

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Gregor der Große, Ep. V, 44, ed. Dag Norberg, Registrum Epistularum I–VII (CCSL 140), Turnhout 1982, S. 332: Quae cuncta ego cum flens conspicio et occulta Dei iudicia pertimesco, augentur lacrimae, gemitus se in meo corde non capiunt, quod ille noster sanctissimus domnus Iohannes, tantae abstinentiae atque humilitatis uir, familiarium seductione linguarum ad tantam superbiam erupit, ut in appetitu peruersi nominis illi esse conetur similis, qui, dum superbe esse Deo similis uoluit [….] – Alle folgenden Zitate stammen aus dieser

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Adressat dieser aufgebrachten Zeilen Papst Gregors des Großen war der angesprochene domnus Johannes selbst, der damalige Patriarch von Konstantinopel. Mit dem „verdrehten Titel“, wörtlich „nomen perversum“, meinte Gregor den Titel des „ökumenischen Patriarchen“, den Johannes der Faster in mehreren Schriftstücken offenbar geführt hatte. An diesem Titel entzündete sich ein erbittert geführter Streit zwischen Gregor und Johannes, der Gegenstand des folgenden Aufsatzes werden soll. Anhand dieses Konfliktes sollen die Kommunikationsprobleme zwischen Ost und West untersucht werden, 2 wobei die Frage im Zentrum stehen soll, ob diese auf tiefer liegende Unterschiede von Ideen und Konzepten zurück zu führen sind, wie weit also das ‚Auseinanderdriften‘ zwischen den Teilen des ehemaligen römischen Imperium um 600 fortgeschritten war und wie es sich konkret gestaltete. Zunächst soll kurz die Quellensituation erläutert werden, dann der Verlauf des Konflikts und der Stand der Forschung zusammengefasst werden, um anschließend die Briefe einer Untersuchung zu unterziehen. In einem weiteren Abschnitt sollen die Reaktionen des Ostens rekonstruiert und dann die Themenfelder umrissen werden, in denen sich unterschiedliche kulturelle Praxen des Ostens und des Westens zeigen. Abschließend sollen die Konsequenzen der Untersuchung skizziert werden. QUELLENSITUATION Die Quellenbasis des Streits ist durch ihre Eindimensionalität gekennzeichnet: Es sind lediglich die Briefe Gregors erhalten, nicht die Antwortschreiben seiner Korrespondenzpartner, 3 darüber hinaus fehlt jeglicher Hinweis auf die die Briefe be-

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Edition. Die Übersetzungen lehnen sich an The letters of Gregory the Great, übers. John R. C. Martyn, 3 Bde. (Medieval Sources in Translation 9), Toronto 2004 und Des heiligen Pabstes und Kirchenlehrers Gregorius des Großen sämmtliche Briefe, übers. Maurus Feyerabend, 6 Bde., Kempten 1807–1809 an. Wie im gesamten Band, sind auch hier ‚Ost‘ und ‚West‘ als kulturell homogene Einheiten zu verstehen, sondern als Arbeitshypothese, vgl. dazu unten S.187. Von Gregor (Ep. V, 41, V, 44, IX, 157) wissen wir noch von der Existenz eines Briefes Pelagius’ II. (579–590) an Johannes den Faster. Er ist uns allerding nicht erhalten (Jaffé *1058). Nichtsdestotrotz nennt Demacopoulos (2009), S. 603 noch einen Brief (zitiert Brief 6 aus dem Register Pelagius’ I. [Migne PL 69, Sp. 399f.], meint aber wohl Brief 6 aus dem Register Pelagius II. [Migne PL 72, Sp. 738–744; vgl. auch ed. Cozza (1719), S. 207–210]). Da Demacopoulos aber in nur einem Satz die ablehnende Haltung Pelagius’ II. skizziert, ist nicht ganz klar, ob er sich der komplexen Überlieferungssituation bewusst ist. Es kursieren nämlich zwei mögliche Kandidaten: Zum einen der Brief an Johannes den Faster, den Gregor I. in mehreren seiner Briefe erwähnt (Ep. V, 41, V, 44, IX, 157), den Jaffé (1885) mit der Nummer *1058 versehen und als nicht erhalten gekennzeichnet hat (auf ihn verweist auch Fischer (1950), S. 99), zum anderen eben jener Brief Nummer 6 (Migne PL 72, Sp. 738–744), den Jaffé (1885) mit der Nummer 1051 versehen hat, und in dessen Adressaten Migne ebenfalls Johannes den Faster sieht, im Text ist er allerdings an die „Dilectissimis fratribus, universis

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gleitenden mündliche Mitteilungen, mithin dies, was Boten über den Briefinhalt hinaus mitteilten und jegliche performative Ausdeutung, 4 auch ist kein narrativer Text über jene Briefe oder ihre Übermittlung erhalten. Das umfangreiche Briefregister Gregors, in dem diese Briefe erhalten sind, kann für das frühe Mittelalter als einziges seiner Art gelten. 5 Die Tatsache, dass lediglich die Briefe Gregors über den Konflikt berichten, hat für dessen Untersuchung eine offensichtliche, aber in ihrer Brisanz nicht zu unterschätzende Folge: Es können lediglich direkt Schlüsse von der einen Seite des Konfliktes, der ‚westlichen‘ gezogen werden; die andere Seite, die ‚östliche‘, ist nicht in eigenen Zeugnissen überliefert, sie ist also nur aus der Perspektive ihres westlichen Kontrahenten erhalten. Während also aus den Aussagen Gregors direkt auf seine Argumente und seine Konzepte rückgeschlossen werden kann, können die Argumente und Konzepte des Patriarchen von Konstantinopel und der anderen am Streit beteiligten nur durch die Briefe Gregors rekonstruiert werden: Die von Gregor in seinen Briefen immer wieder kurz zusammengefasste Reaktion des Ostens wird Teil seiner Argumentation – und damit möglicherweise zugespitzt, verändert und fehlverstanden. Schon allein diese Situation hat sicherlich viele dazu verleitet, das Problem der Fehlkommunikation bei Gregor zu suchen. 6 VERLAUF DES KONFLIKTS UND STAND DER FORSCHUNG Zunächst soll – auf Basis der Quellen und der Forschung – ein grober Verlauf des Konfliktes gegeben werden, denn über diesen herrscht in der bisherigen Forschung weitgehender Konsens. Die Deutungen jenes Prozesses unterscheiden sich

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episcopis, qui illicita vocatione Joannis Constantinopolitani episcopi ad synodum Constantinopolim convenerunt“ gerichtet. Er gilt mittlerweile als Fälschung vgl. Caspar (1933), S. 367 und Gassó (1956), S. 237–240. In der Edition Pseudoisidors von Karl-Georg Schon und Klaus Zechiel-Eckes ist er in den Dekretalen von Pseudoisidor ediert – als Adressat gilt das Konzil von Konstantinopel (http://www.pseudoisidor.mgh.de/html/300.htm, letzter Zugriff am 25. Mai 2015; Mss: Paris B.N., lat. 9629, fol. 195rb–197rb; Vat. Lat. 630, fol. 283rb– 284va.; New Haven, Yale University, Beinecke Library N442, fol. 218rb–220ra.) Die neuere Forschung nimmt ihn demensprechend eigentlich auch nicht mehr in die Argumentation auf, er wird meistenteils nicht einmal erwähnt. Vgl. etwa zu dem etwa zeitgleich entstandenen Corpus der austrasischen Briefe Dumézil (2011). Auch wenn Paul Ewald durch eine Untersuchung der britischen Sammlung (London, Britisches Museum 8873) vermutet, dass bereits seine Vorgänger Gelasius I. 492–496, Pelagius I. 555–560 und Pelagius II. 578–590 Register anlegen ließen, Ewald (1880), S. 279f. Von Johannes VIII. (876–882) ist ein vollständiges Register erhalten, dann erst wieder von Gregor VII. (1073–1085), zu den Papstbriefen des frühen Mittelalters vgl. Jasper (2001). Trotz der kollaborativen Arbeitsweise einer Kanzlei kann offensichtlich zumindest von der Kenntnis bzw. der Autorisation der Briefe durch Gregor ausgegangen werden, eine Untersuchung dazu hat der Editor des Registers Dag Norberg vorgelegt. Vgl. Norberg (1980), S. 6. Vgl. dazu unten S. 178f.

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– je nach zugrunde gelegter Annahme – jedoch im Detail, so dass diese nach der Darstellung des Verlaufs skizziert werden sollen. Fassbar wird der Konflikt bereits vor dem Pontifikat Gregors, nämlich in den späten 580er Jahren: Gregors Vorgänger auf dem Stuhl Petri, Pelagius II., war mit dem Patriarchen Johannes IV. von Konstantinopel wegen des Titels aneinandergeraten, nachdem ihm die Akten des Konzils von Konstantinopel 588 zugegangen waren. 7 Darin bezeichnete Johannes sich offensichtlich selbst als „ökumenischer Patriarch“. Pelagius reagierte prompt und hart: Er ließ jenen Teil der Akten für ungültig erklären, der den Titel „ökumenischer Patriarch“ enthielt, schickte Johannes einen scharfen Brief und untersagte seinem apocrisarius in Konstantinopel, mit diesem das Abendmahl zu feiern. Informiert sind wir über diese erste Etappe durch Gregors spätere Schreiben, in denen er sich ausdrücklich auf seinen Vorgänger bezieht. 8 Die Reaktionen des Ostens auf Pelagius’ Maßnahmen sind nicht bekannt. Der Faden lässt sich erst einige Jahre später im Pontifikat Gregors wieder aufnehmen, als der Streit mit Johannes erneut aufflammte und sich bis über dessen Tod hinaus fortsetzte. Ausgangspunkt war die Verurteilung zweier Priester aus dem Osten, Johannes von Chalcedon und Athanasius von Isaurien, durch Johannes im Jahre 593. Sie waren in Konstantinopel der Häresie angeklagt und für schuldig befunden worden. Daraufhin wandten sie sich an den Papst als die höchste Appellationsinstanz in kirchlichen Rechtsstreitigkeiten, der ihren Fall wieder aufrollte und sie von allen Anklagen freisprach. Dieses Urteil wurde auch in Konstantinopel und von Johannes selbst akzeptiert. 9 Der Streit um den Titel entzündete sich im Verlauf dieses Prozesses von neuem, da Johannes in den unter seiner Ägide entstandenen Gerichtsakten wiederholt als „ökumenischer Patriarch“ firmierte. 10 Gregor reagierte im Sommer 595 mit einer ganzen Serie von Briefen an kirchliche und weltliche Würdenträger: an den Kaiser Maurikios, dessen Frau Constantina, die Patriarchen Eulogius von Alexandria und Anastasius von Antiochia, und nicht zuletzt an Johannes selbst. In diesen Schreiben griff Gregor Johannes scharf an und forderte, dass dieser den Titel in Zukunft nicht mehr führen solle. Auch mit dem Tod des konstantinopolitanischen Patriarchen am 2. September

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Von dieser Synode berichtet auch Evagrius Scholasticus in seiner Kirchengeschichte: The ecclesiastical history of Evagrius with the scholia, ed. J. Bidez und L. Parmentier, Amsterdam 1964, VI, 7, Übers.: Evagrius Scholasticus, Historia ecclesiastica, übers. u. eingel. Adelheid Hübner (Fontes Christiani 57, 1 u. 2), Turnhout 2007, S. 627. Hübner bringt diese Synode auch im Kommentar in Zusammenhang mit dem Titel des „ökumenischen Patriarchen“ und die Hinweise Gregors auf die Synode, verweist allerdings auf die falschen Briefe Gregors, vgl. folgende n. 8 Über diesen Sachverhalt informiert Gregor, Ep. V, 41, V, 44 und IX, 157. Vgl. auch Richards (1983), S. 224, Tuilier (1986), S. 69, Demacopoulos (2009), S. 603; Richards kennt übrigens den frühen Aufsatz von Tuilier nicht (Tuilier [1964]), die Erzählung beider hängt also unabhängig voneinander an Vailhé (1908). 9 Richards (1983), S. 224f., Kessler (2009), S. 91f.; Demacopoulos (2009), S. 604f.; Gregor, Ep. III, 52, VI, 14, VI, 15, VI, 16, VI, 17, VI, 62. 10 Richards (1983), S. 225, Kessler (2009), S. 92; Gregor, Ep. V, 45.

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desselben Jahres endete der Streit nicht, dessen Nachfolger Cyriacus führte den Titel nämlich weiterhin. Auch weitere Schreiben aus den Jahren 596, 597, 598, 599 und 603 blieben letztlich – aus Sicht des Papstes – ergebnislos. 11 Für die Forschung spätestens seit 1908 stellt sich der Fall eindeutig dar: Es handelte sich bei jenem Streit um einen Konflikt über die mit jenem Titel artikulierte Vormachtstellung unter den Patriarchen und die mit dieser verbundene kirchliche Jurisdiktionsgewalt. Der Titel an sich dürfe kaum der Stein des Anstoßes gewesen sein, da es sich um einen schon zuvor bekannten Ehrentitel handele, mit dem Patriarchen von anderen angesprochen wurden; problematisch scheine erst das eigenständige Führen des Titels durch Johannes selbst gewesen zu sein, das man als einen Anspruch darauf werten könne. 12 Dabei sei der Streit eigentlich überflüssig gewesen, denn es habe sich bei allem um ein Missverständnis gehandelt. Richards bringt diese Interpretation wie folgt auf den Punkt: „Die Ironie bei alledem ist, daß die ganze Sache auf einem Mißverständnis beruht. Gregor betrachtete den Titel ‚ökumenischer Patriarch‘ als einen Angriff auf den Primat Roms und gab ihm den Sinn ‚allgemein‘ und ‚höchst‘ […] doch der Titel bedeutete nicht das, was Gregor meinte. Er bedeutete die höchste Stellung innerhalb seines Patriarchats, nicht aber über die anderen Patriarchen.“

Konstantinopel habe dies übrigens verstanden und den Papst nicht über seinen Irrtum aufgeklärt, um ihn weiter zu „ärgern“. 13 Darüber hinaus zeige der Streit aber den unbedingten Machtwillen der römischen Bischöfe: „Neben manchen philologischen Missverständnissen und Mentalitätsunterschieden offenbart die Kontroverse vor allem die beträchtliche Unsicherheit Roms, das um seine Stellung fürchtete, sowie die Zähigkeit, mit der die römischen Päpste ihr Verständnis des Primats verteidigten.“ 14

Die beiden wesentlichen Elemente dieses wissenschaftlichen Narrativs sind gängige Topoi der modernen Papstgeschichte: das Streben nach Macht und einer einzigartigen Position sowie die vermeintliche Ignoranz mittelalterlicher Päpste. Betrachtet man die Quellen ohne diese Prämissen, so zeigt sich, dass beide Elemente sich nicht eindeutig aus den Originalzeugnissen ergeben, sondern dass sie als Vorannahmen die Quelleninterpretation leiteten und somit auch verzerrten. Am Beispiel des von der Forschung unterstellten Suprematieanspruchs Gregors soll dies verdeutlicht werden. Bisher wurde die Aktualisierung des Streits um den Titel in den 590er Jahren einhellig mit der Frage nach der Jurisdiktion über die beiden häretischen Priester

11 Richards (1983), S. 227f., Kessler (2009), S. 95, ausführlich zu den späteren Briefen: Demacopoulos (2009); Gregor, Ep. VII, 5, VII, 28, VII, 30, VII, 31, IX, 157 (irrtümlich bei Richards IX, 156). Der Patriarch von Konstantinopel führt diesen Titel noch heute. 12 So bereits Vailhé (1908), S. 66f., und ausführlich Tuilier (1964), Booth (2014), S. 114 argumentiert zudem mit der Tradition des Titels. 13 Richards (1983), S. 228, Zitate ebd. 14 Kessler (2009), S. 90.

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verknüpft. 15 Dieser Rechtsstreit war zwar, wie bereits ausgeführt, tatsächlich der Anlass für eine erneute Aufnahme des Konflikts. Gregor schrieb 595 wörtlich an seinen apocrisarius Sabinian, dass Johannes sich in den Akten jener Verhandlung „häufig in jeder Zeile“ den Titel anmaße. 16 Jedoch gibt es keinen weiteren inhaltlichen Konnex zwischen dem Fall der beiden Priester und dem Streit um den Titel. Außer der bereits genannten Verbindung werden die beiden Priester nur in einem einzigen weiteren Brief Gregors erwähnt, der sich mit dem Titelstreit befasste, nämlich in dem bereits genannten Schreiben an Johannes selbst. Gregor bedankt sich nach mehreren Seiten heftiger persönlicher Angriffe für den Erhalt eines „sehr liebevollen und angenehmen Briefes Eurer Heiligkeit“ 17 über jene beiden Priester, den er aber zu einem späteren Zeitpunkt beantworten werde. Gregor sagt explizit, dass er aufgrund der Bedrohung durch die Langobarden nicht in der Lage sei, „multa“, also mehrere Dinge, gleichzeitig zu behandeln. Für Gregor stellten der Streit um den Titel und der Prozess um die beiden vermeintlichen Häretiker also zwei voneinander zu scheidende Dinge dar. 18 Tatsächlich hatte Johannes die Position des Papsttums als letzte kirchengerichtliche Appellationsinstanz nie wirklich in Frage gestellt und war Gregors Wünschen während des Prozesses letztlich vollständig nachgekommen. 19 Überspitzt formuliert: Das Verfahren um die beiden Priester stellte einen etwas verworrenen, prinzipiell aber unproblematischen und kirchenpolitisch unbelasteten juristischen Vorgang dar, der zwar den Titelstreit erneut ausgelöst hatte, diesen aber nicht weiter berührte. Gregor musste in diesem Prozess seinen Jurisdiktionsprimat nicht durchsetzen, er wurde von allen Seiten von vornherein als gegeben akzeptiert. Es stellt sich also die Frage, ob dann der Streit um den Titel des „ökumenischen Patriarchen“ überhaupt mit dem päpstlichen Suprematieanspruch Gregors so eindeutig in Zusammenhang zu bringen ist. Dass Gregors herausgehobene gerichtliche Funktion vom Osten gar nicht angegriffen worden war, ist natürlich auch in der bisherigen Forschung herausgestellt worden: Gregors Verhalten wird verhältnismäßig negativ als machtversessen und gleichzeitig von Ahnungslosigkeit geprägt dargestellt. Der Papst habe gar nicht bemerkt, dass er gleichsam gegen Windmühlen gestritten habe. Er habe schlicht nicht verstanden, wie der Titel ‚eigentlich‘ gemeint gewesen sei oder was 15 Richards (1983), S. 225, Tuilier (1986), S. 70, Demacopoulos (2009), S. 606f., Kessler (2009), S. 92. 16 Gregor, Ep. V, 45, S. 337: […] in qua se paene per omnem uersum ycomenicon patriarcham nominaret. 17 Gregor, Ep. V, 44, S. 336: Scripta autem sanctitatis uestrae dulcissima atque suauissima […]. 18 Gregor, Ep. V, 44., S. 336: Scripta autem sanctitatis uestrae dulcissima atque suauissima de causa presbyterorum Iohannis et Athanasii suscepi, de qua uobis in subsequentibus Domino adiuuante respondeo, quia sub tantis tribulationibus circumfusus barbarorum gladiis premor, ut, non dico multa tractare, sed mihi respirare uix liceat. – Hier wird lediglich am Schluss der Erhalt eines freundlichen Briefes erwähnt, den Johannes an Gregor geschrieben hatte. Eine innere oder gar argumentative Verbindung der Thematik gibt es nicht. 19 Vgl. n. 9.

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er ‚eigentlich‘ bedeutet habe. Dass dieses Narrativ sich innerhalb des seit der Antike virulenten Deutungsschemas vom zivilisierten Osten und dem barbarischen Westen bewegt, darf zumindest Zweifel an seiner Richtigkeit wecken. Zwei weitere Überlegungen verstärken diese Zweifel noch: Die erste bezieht sich auf Gregors Lebensweg und seinen intellektuellen Horizont; Gregor selbst war über Jahre hinweg apocrisarius seines Vorgängers Pelagius II. in Konstantinopel gewesen und hatte dort qua Amt in Kontakt zu weiten Teilen der oströmischen Eliten gestanden. Die zweite Überlegung bezieht sich auf die Annahme, dass der Osten ein Missverständnis Gregors zwar bemerkt, aber nicht ausgeräumt haben soll. Als Grund hierfür wird von der Forschung eine gezielte Provokation Gregors postuliert, die sich allerdings durch nichts beweisen lässt – und die nur dann Sinn ergibt, wenn man von einem übersteigerten Suprematieanspruch Gregors ausgeht, gegen den der Osten opponierte. Es stellt sich die Frage, ob hochrangige oströmische Geistliche in offiziellen Schreiben an ihren westlichen Amtskollegen diesen tatsächlich wie Schüler „ärgern“ wollten, wie Richards explizit schreibt. Angesichts der skizzierten Probleme des bislang verfochtenen wissenschaftlichen Narrativs um den Titelstreit scheint es mir angemessen, den Versuch einer Neubewertung zu unternehmen. Hierfür möchte ich mich von den beiden bisher bestimmenden Deutungsmodellen, nämlich Gregors übersteigertem päpstlichen Geltungsbedürfnis und seiner Ignoranz gegenüber dem griechischen Osten, lösen und meiner Interpretation der Quellen eine andere Prämisse zugrunde legen, da eine unverstellte Bewertung zwar als heuristisches Ziel formuliert werden, aber letztlich nie in der Praxis erreicht werden kann. Als zentraler Punkt sowohl in Gregors Briefen zum Titelstreit als auch letztlich seinem gesamten Pontifikat darf seine Idee von der persönlichen Spiritualität kirchlicher Würdenträger gelten. Wählt man sie als Ausgangspunkt für die Quelleninterpretation und löst sich von der Vorstellung ebenso machthungriger wie ignoranter Päpste, ergeben sich neue Perspektiven auf die Befunde zum Titelstreit. 20 GREGORS ARGUMENTE Um Gregors Vorstellungen über den Zusammenhang von persönlicher Spiritualität und dem daraus resultierenden Verhalten mit der Würde kirchlicher Amtsträger zu verstehen, erscheint es sinnvoll, seine einzelnen Argumente nachzuzeichnen. Ich möchte mich dabei auf die wichtigsten Briefe Gregors aus dem Jahr 595 beschränken, in denen zum einen bereits alle wesentlichen Argumente auch der späteren Schreiben enthalten sind und zum anderen diese argumentativ deutlich ausgeführt sind, während Gregor später nur noch einzelne Argumente ohne größeren argumentativen Zusammenhang bringt. Auch gibt das relativ enge Zeitfenster einen überschaubaren Rahmen. Einzig der Brief an den apocrisarius Sabinian 20 Ich habe bei diesem Interpretationsansatz an die Justinianbiographie von Hartmut Leppin (2011) angelehnt.

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wird außen vor gelassen, da Gregor hier zwar konkrete Maßnahmen nennt, die gegen Johannes ergriffen werden sollen, aber keine tiefergehende inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet; Sabinian ist ja bereits auf Gregors Seite. Bisher existiert nur eine Aufzählung der Argumente Gregors, die Johannes Modesto Ende der 1980er anfertigte und Stephan Kessler 2009 etwas modifizierte. Sie bezieht sich auch nur auf einen Brief des Titelstreits, nämlich den an Johannes selbst. 21 Tatsächlich enthält jener Brief die meisten von Gregor vorgebrachten Argumente, nur wenige treten in den anderen Briefen noch hinzu. Da Gregor aber mit Ausnahme des Briefs an die Patriarchen von Alexandria und Antiochia an alle Adressaten individuelle Briefe sandte, versprechen die Unterschiede sowohl beim Inhalt der Argumentation als auch ihrer Struktur weitere Aufschlüsse. Stellte man rein summarisch alle Argumente Gregors zusammen, beraubte man sie ihres Kontextes und damit einer nicht zu unterschätzenden Sinnebene. Daher soll jeder der vier Briefe einzeln analysiert werden. Im Einzelnen handelt es sich um einen Brief an den Kaiser Maurikios (Ep. V, 37), einen an die Kaiserin Constantina (Ep. V, 39), einen an die Patriarchen von Alexandria und Antiochia, Eulogius und Anastasius (Ep. V, 41), und einen an Johannes den Faster selbst (Ep. V, 44). Die Reihenfolge ist diejenige des Registers, in dem die Briefe erhalten sind. An den Kaiser Maurikios Im Brief an den Kaiser bewegen sich Gregors Argumente auf insgesamt drei Ebenen. Zuerst und am offensichtlichsten appelliert er an die Schutzfunktion des Kaisers, die dieser für seine Untertanen und das Reich zu erfüllen hat. Er betont die Verzahnung von weltlicher und religiöser Gewalt und schließt aus der Stärke der barbarischen Feinde auf die Sündhaftigkeit des Imperiums, ein Zustand, den der Kaiser als oberster Schützer des Reiches folglich zu bekämpfen hat. Gregor macht für diesen Zustand den Klerus verantwortlich. „Aber was“, so fragt er, „wenn wir durch unser Vorbild das zerstören, was wir predigen?“ 22 Ohne ihn zu nennen, klagt er damit Johannes den Faster an und fordert den Kaiser auf, diesen zurechtzuweisen, um die „hochmütige und prunkvolle Rede“ 23 und die daraus folgenden Schwierigkeiten aus dem Imperium zu entfernen. Er übersteigert diese Gefahren bis ins Apokalyptische. Durch den von Johannes angemaßten Titel des „universalis episcopus“ werde die Welt von Barbaren überschwemmt, die Städte seien zerstört, ebenso die Festungen, die Provinzen seien entvölkert, niemand bewirtschafte mehr die Felder, Götzenanbeter stifteten Unruhe und so fort – und jeder strebe nach eitlen Dingen und weltlichen Titeln. Mit diesem Weltuntergangszenario evo21 Modesto (1989), S. 163f., Kessler (2009), S. 92f. 22 Gregor, Ep. V, 37, S. 308: Quid autem dicturi sumus […] , qui quod per linguam praedicamus per exempla destruimus[…]. 23 Gregor, Ep. V, 37, S. 309: […] superbi atque pompatici cuiusdam sermonis […].

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ziert er die im Osten damals weit verbreiteten eschatologischen Vorstellungen. 24 Etwas später kommt Gregor nochmals auf den Schutz des Reiches zu sprechen. Er stellt die Titelanmaßung des Johannes in eine Reihe mit den Häresien des Nestor und des Macedonius, die beide ebenfalls Patriarchen von Konstantinopel gewesen waren. „Und wir wissen sicher“, schreibt er, „dass in Konstantinopel viele Priester in den Abgrund neuer Häresien gefallen sind und sie nicht allein Häretiker waren, sondern auch ihre Anführer.“ 25 Dieses Argument greift er übrigens wieder in einem Brief an Anastasius von Antiochia auf, allerdings ohne es auszuführen. 26 Mit dem Schutz der Untertanen vor Häretikern ist zugleich die zweite Ebene der Argumentation erreicht, nämlich die Einheit und Ordnung des Reiches und damit auch der Kirche. Das Versagen einer derart herausgehobenen Person wie eines Patriarchen zeitige schwerste Folgen, so Gregor. Wenn nämlich der „universalis“ genannte und von allen Rechtgläubigen als „universalis“ anerkannte vom rechten Glauben abfalle, so gefährde das die Ordnung der gesamten Kirche. Durch die Verwendung des Titels eines „ökumenischen Patriarchen“ stelle Johannes sich gegen die Gesetze der Kirche und sogar die Worte der Bibel, womit sich gerade letztere Befürchtung erfülle. Um die gottgewollte Ordnung der Kirche darzulegen, verweist Gregor auf den Auftrag Jesu an Petrus, für die Kirche Sorge zu tragen – und auch jener werde nicht „universalis apostolus“ genannt. 27 Diese Referenz auf Petrus wird gerne zitiert, um Gregors Betonung seiner Vormachtstellung herauszustreichen, die diesem Streit zugrunde liege, doch weist Johannes Modesto, der die Haltung Gregors zum Universalprimat untersucht hat, darauf hin, dass Gregor mit dieser Stelle eben nicht den Primat begründe, sondern „ganz im Sinnes seines Demutskonzeptes [argumentiere]“, denn Gregor habe den Titel an dieser Stelle nicht für sich reklamiert und auch seine Rolle als Nachfolger nicht betont, wie er es an anderen Stellen tue. 28 Die dritte Ebene ist mit der zweiten verbunden, zielt aber wesentlich direkter auf das Selbstverständnis des Kaisers. Durch den Bruch des Kirchenrechtes und die Anmaßung des Titels gefährde Johannes nicht nur die Ordnung der Kirche, sondern stelle sich über den Kaiser selbst. Möglicherweise spielt Gregor hier mit der nichtkaiserlichen Herkunft des Maurikios und einer damit einhergehenden besonderen Empfindlichkeit in Statusfragen. Wohl nicht zufällig verwendet Gregor in unmittelbarer Nähe auch das Wort „usurpare“ für Johannes Anmaßung. 29

24 Meier (2008), bes. 54f. hat dies im Hinblick auf die unterschiedlichen Konjunkturen in Ost und West aufgearbeitet. 25 Gregor, Ep. V, 37, S. 310: Et certe multos in Constantinopolitanae haereseos uoragine cecidisse nouimus sacerdotes et non solum haereticos sed etiam haeresiarchas factos. 26 Gregor, Ep. VII, 24. 27 Gregor, Ep. V, 37, S. 309: […] et tamen uniuersalis apostolus non uocatur […]. 28 Modesto (1989), S. 150, Zitat ebd. 29 Gregor, Ep. V, 37, S. 310: […] qui honori quoque uestri imperii se per priuatum uocabulum superponit. – Zu Maurikios vgl. Shlosser (1994).

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An die Kaiserin Constantina Mit seinem Brief an die Kaiserin 30 versucht Gregor, indirekt Einfluss auf den Kaiser zu nehmen. Gegenüber der Kaiserin Constantina, der Tochter der vorherigen Kaisers Tiberios, deren Prestige Maurikios zusätzliche Legitimität verlieh, argumentiert Gregor fast ausschließlich mit der Ehre. Er unternimmt dies wiederum auf unterschiedliche Weise. Er beginnt seinen Brief mit der Verpflichtung des Kaisers, Heuchelei und Heuchler zu verfolgen und bestimmt somit den Rahmen des Briefes: Johannes, so kann der geneigte Leser schnell erkennen, erfüllt die Voraussetzungen der Heuchelei, er gehöre zu denen „die die Kleidung verachten, aber stolz im Herzen sind“ 31. Der Kaiser wiederum sei nun in der Pflicht, dieser Heuchelei ein Ende zu setzen, denn Johannes beleidige damit das Recht und die Kirche. Darüber hinaus beschädige Johannes das Ansehen der Regierungszeit des Kaisers, denn er könne versuchen, den Kaiser zu beeinflussen und – das wesentlich gewichtigere Argument – präfiguriere er mit seinem Verhalten nahezu den Antichrist. Und wer wolle schon als derjenige Kaiser in die Geschichte eingehen, der dem Antichrist Vorschub geleistet hat? Auch Petrus spielt in diesem Brief wieder eine Rolle, diesmal aber eine etwas andere. Gregor benutzt den Verweis auf seinen apostolischen Vorgänger, dessen Ansehen er als sein Nachfolger aber nicht beschmutzen wolle, weshalb er sich in dieser Sache so engagiere, als Hinführung auf die Pflicht des Kaisers, das Andenken seines Vorgängers, immerhin Constantinas Vater, seinerseits in Ehren zu halten. Gregor appelliert also an das Statusbewusstsein der Kaisergattin und Kaisertochter, die in ihrer Zeit in besonderer Weise die Legitimität kaiserlicher Herrschaft verkörperte und garantierte. An die Patriarchen von Alexandria und Antiochia, Eulogius und Anastasius Im dritten der hier untersuchten Briefe, der an die Patriarchen von Alexandria und Antiochia gerichtet war, 32 ist einer der beiden wichtigen Aspekte von Gregors Argumentation die Ordnung der Kirche. Er sieht diese der Priester begründet:33 Die Demut garantiere nicht nur die Unterwerfung unter Gott, sondern auch die Gleichrangigkeit der Priester und damit auch der Bischöfe und Patriarchen untereinander. Selbst die Päpste hätten daher den Titel des „ökumenischen Patriarchen“ in der Vergangenheit stets abgelehnt. Innerhalb dieser ekklesiologischen Argumentation beschwört Gregor die Zusammengehörigkeit der Patriarchen. Interessanterweise ist der Brief nicht an den Patriarchen von Jerusalem gerichtet, und er wendet sich zugleich gegen den Patriarchen von Konstantinopel. Bedenkt man 30 31 32 33

Gregor, Ep. V, 39. Gregor, Ep. V, 39, S. 315: […] qui ueste quidem despecti sunt sed corde tument […]. Gregor, Ep. V, 41. Biblische Autorität verleiht ihm das Zitat von Röm. 11,13 und 1.Thess. 2,7.

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nun, dass die beiden letztgenannten Patriarchate der von Iustinian betonten Pentarchie als verhältnismäßig jung anzusprechen sind und nicht auf eine apostolische Gründung verweisen konnten, wird die Anmaßung des Johannes im Subtext noch ungeheuerlicher, erniedrigt er doch die ihm an und für sich überlegenen, da älteren und apostolischen Patriarchate. Er evoziert eine Zusammengehörigkeit der drei altkirchlichen Patriarchate Rom, Alexandria und Antiochia, indem er zum gemeinsamen Handeln aufruft. Die zweite Argumentationslinie operiert mit den Begriffen Verführung, Sünde und Standhaftigkeit. Johannes wird in die Nähe des Teufels gerückt: Der Stolz sei der Beginn aller Sünden und werde deshalb vom Teufel als Ansatzpunkt gewählt, um auch Rechtgläubige zu verführen. In einer wilden Tirade bezeichnet Gregor Johannes sogar als Priester des Teufels, der von der Demut abgefallen sei und sich die Kirche unterordnen wolle. Da dies aber allein Christus zukomme, erscheint Johannes damit implizit als Antichrist. Diese eschatologischen Konnotationen werden noch durch die Auswahl der zitierten Bibelstellen verstärkt, unter denen der Traum des Nebukadnezar aus dem Buch Daniel die deutlichste sein dürfte. Die endzeitliche Komponente scheint auch in Gregors Aufforderung an seine beiden Amtskollegen durch, sich mit allen Mitteln der Anerkennung jenes falschen Titels eines verführten Würdenträgers zu widersetzen. An den Patriarchen Johannes von Konstantinopel Der zentrale Brief an Johannes 34 stellt zwar einerseits den wütenden Höhepunkt der erhaltenen Korrespondenz dar, zugleich handelt es sich aber auch um den argumentativ einfachsten Text. Gregors im Prinzip einziges Argument ist der Appell an die Demut des konstantinopolitanischen Patriarchen. Im Mittelpunkt steht die unablässig wiederholte Sorge Gregors um Johannes’ Seelenheil: Es soll die Anmaßung des stolzen Titels beenden, zurück zur Demut kehren und somit nicht mehr wider Gott handeln und sich dadurch nicht mehr in Gefahr befinden, zur Armee des Antichrist zu gehören und von Gott bestraft zu werden. Die Bedrohung der Einheit der Kirche, die Demütigung der anderen Patriarchen, die mangelnde Dankbarkeit gegenüber Gott, die Anmaßung eines Titels, der nur Christus zustehe, die schlechte Vorbildfunktion eines Patriarchen, das gute Beispiel des Paulus und der Bischöfe von Rom sind nun in Form von Vorwürfen formuliert. Gegenstand sind also weniger die Folgen, die Johannes Verhalten für die Christenheit und die Ordnung der Welt hat, sondern die Tragweite der Verfehlung für Johannes selbst beziehungsweise sein Seelenheil. Wenn Johannes nicht zur Demut zurückkehre, werde er vom Teufel verführt und durch Gott, der selbst demütiger Mensch geworden ist, spätestens beim jüngsten Gericht, bestraft. Gregor greift in besonderer Weise Verhaltensformen und Einstellungen auf, die dem Mönchtum

34 Gregor, Ep. V, 44.

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zugordnet werden können. 35 Damit rekurriert er unmittelbar auf den von Johannes praktizierten asketischen Lebensstil, der ihm unter anderem seinen Beinamen „der Faster“ einbrachte und ihn zu einem orthodoxen Heiligen machen sollte. 36 Zwischenfazit: Gregors Argumente Das bisher Gesagte lässt sich folgendermaßen kurz zusammen: 1. Gregor hat sich offensichtlich an jeden seiner Adressaten mit einem ähnlichen, aber keineswegs gleichen Set an Argumenten gewandt. Er passte sowohl die Auswahl als auch die Struktur seiner Argumentation dem jeweiligen Adressaten an. Den Kaiser erinnerte er an dessen schützende Funktion gegenüber seinen Untertanen und machte zugleich deutlich, dass Johannes mit einem ‚usurpierten‘ Titel sowohl für das Reich als auch den Kaiser selbst eine Bedrohung darstelle. Bei der hochgeborenen Kaisergattin bezog er sich auf ihre kaiserliche Abstammung und ein damit verbundenes Statusbewusstsein. Die Patriarchen von Alexandria und Antiochia sprach er als Gleichgestellte an und implizierte ein Bündnis der drei ursprünglichen Patriarchate gegen den anmaßenden patriarchalen ‚Juniorpartner‘. Johannes selbst sprach er über dessen asketische Neigungen an. 2. Gregors Hauptargument ist der Mangel an Demut und die aus dem Stolz resultierenden Gefahren. Verschiedentlich äußert er auch Sorge um das Seelenheil des Konstantinopolitaners. Es scheint also, dass Gregor durch Johannes’ Anspruch auf den Titel des „ökumenischen Patriarchen“ weniger den römischen Primat bedroht sah als vielmehr die Grundprinzipien vorbildhafter christlicher Lebensführung. 3. Die wichtigste über das individuelle Seelenheil hinausreichende Folge des „stolzen Titels“ war für Gregor die drohende Umstellung und damit verbundene Zerstörung der kirchlichen Ordnung, die er um jeden Preis verhindern wollte. Es zeigt sich hier ein stark ekklesiologischer Zug. DIE REAKTIONEN DES OSTENS Gerade angesichts der intensiven Bemühungen, mit denen Gregor versuchte, auf seine jeweiligen östlichen Adressaten einzugehen und ihnen seine Argumente zugänglich zu machen, scheint ein krasses Missverständnis oder gar Ignoranz Gregors gegenüber seinen Gesprächspartnern ausgesprochen unwahrscheinlich. Gregor wusste offenbar verhältnismäßig gut über persönliche Eigenschaften und den Hintergrund seiner Adressaten Bescheid. Bedenkt man diesen argumentativen Aufwand und die genannten Anpassungsversuche, so drängt sich die Frage auf, weshalb Gregors Vorgehen weitgehend erfolglos blieb und worin dieses Scheitern begründet liegt. Da die Positionen der östlichen Briefpartner lediglich in winzigen 35 Zu Gregors Verhältnis zum Mönchtum vgl. Müller (2013) sowie jüngst Jenal (2014). 36 Vgl. Müller (2006), S. 84–87.

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Fragmenten aus Gregors eigenen Briefen erschließbar sind, wird jede Antwort auf diese Frage letztlich immer hypothetisch bleiben müssen. Nichtsdestotrotz lassen sich erste Tendenzen erkennen. Zwei Kategorien von Reaktionen zeichnen sich ab. Die erste zeigt sich in jenen Briefen, die Gregor 597 und 598 an den Kaiser sowie an den Patriarchen von Antiochia, Anastasius, verschickte. 37 Beide versuchten offenbar, den Papst zu beschwichtigen und irgendwie zum Einlenken zu bewegen, da sich der Konflikt nach dem Tod Johannes’ IV. wohl nochmals verschärft hatte und der Abbruch der Kommunikation zwischen dem römischen Stuhl und dem Patriarchen von Konstantinopel gedroht hatte. Gregor lenkte auf der diplomatischen Ebene ein und empfing die Gesandten des neuen Patriarchen Cyriacus, gab in der Sache aber nicht im Geringsten nach. Aus den Briefen geht hervor, dass sich anscheinend weder der Kaiser noch Anastasius mit Gregors Argumenten inhaltlich auseinander setzten. Vielmehr versuchten sie, ihn mit ihrer jeweiligen Autorität zum Nachgeben zu zwingen. Der Kaiser habe, so Gregor, „ex potestate“ an ihn geschrieben und ihm Befehle, „iussiones“, erteilt. 38 Der Patriarch von Antiochia hingegen habe zu ihm „ex amore“ gesprochen, also aus brüderlicher Liebe, allerdings, wie Gregor mit spitzer Feder bemerkt, mit „imperialia verba“, kaiserlichen Worten. 39 Geradezu fassungslos scheint Gregor vor der Reaktion des Patriarchen von Alexandria gestanden zu haben. 40 Dieser hatte Gregors Argumente scheinbar akzeptiert und offenbar als Befehl aufgefasst. Er bestätigte nämlich, dass er den Patriarchen von Konstantinopel von nun an nicht mehr mit dem Titel „ökumenischer Patriarch“ anreden werde. Für Eulogius war es in dieser Situation aber folgerichtig, den Papst stattdessen als „universalis papa“ zu bezeichnen. Er hatte Gregors Argumente offensichtlich so gedeutet, dass dieser den Titel allein für sich beanspruche. Gregor wies das natürlich weit von sich; da sie im Rang gleich seien, könne er Eulogius gar nichts befehlen und den Titel wolle er auch nicht tragen. Eulogius solle ihn bitte nie wieder so anschreiben. UNTERSCHIEDE ZWISCHEN OST UND WEST Diese Reaktionen zeigen zweierlei: 1. Beide Seiten verstanden einander offensichtlich nicht. Die Oströmer sahen die inhaltliche Auseinandersetzung mit Gregors Argumenten offenbar nicht als obligatorischen Teil der Konfliktlösung. Vielmehr scheinen sie sie innerhalb von Rang und Hierarchie zu handeln: Der Kaiser befahl kraft der ihm gegebenen Gewalt, Anastasius von Antiochia riet und überredete als gleichrangiger Freund und Amtsbruder, Eulogius von Alexandria 37 38 39 40

Gregor, Ep. VII, 30 und VII, 24. Gregor, Ep. VII, 30, S. 491. Gregor, Ep. VII, 24, S. 479. Gregor, Ep. VIII, 29.

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ordnete sich der Vorrangstellung des Apostelfürsten unter. Gregor hingegen konnte eine Lösung ohne inhaltlichen Konsens nicht akzeptieren und riskierte damit weitreichende politische Verwicklungen. Die Verfahrensweisen zur Austragung eines solchen Konfliktes waren offenbar so verschieden, dass eine wirkliche Lösung nicht mehr möglich war. 2. In diesem Konflikt scheinen grundlegende Unterschiede beim Verständnis zentraler kirchlicher und theologischer Konzepte auf; wie stark sich diese verallgemeinern lassen, müssten weitere Forschungen ergeben. Die im hier besprochenen Kontext deutlichsten Beispiele sind zum einen die Ordnung und Einigkeit der Kirche und zum anderen die Demut eines kirchlichen Amtsträgers. Gregor formuliert explizit, dass der innerkirchliche Friede nicht um jeden Preis gewahrt werden dürfe, denn um die Ordnung zu erhalten, müsse der Stolz des anmaßenden Patriarchen von Konstantinopel gebrochen werden. Für den Kaiser und die östlichen Patriarchen hingegen schien ein derartiger offener Konflikt die Ordnung der Kirche zu bedrohen. Im Vordergrund ihrer Bemühungen stand vielmehr die Wahrung des Friedens. Möglicherweise zeigen sich in dem Konflikt um jenen Titel des „ökumenischen Patriarchen“ aber auch verschiedene Vorstellungen davon, auf welche Weise ein hoher Kleriker das Gebot der Demut auszufüllen habe. Interessanterweise trafen in dem Streit zwischen Gregor und Johannes zwei Männer aufeinander, die jeweils in ihrem eigenen kulturellen Umfeld nach dem gültigen monastischen bzw. asketischen Ideal lebten. Unterschieden sich also die Vereinbarkeit von hohem Kirchenamt und monastischasketischem Lebensstil oder die jeweiligen Demutskonzepte voneinander? So offen viele Fragen im Augenblick auch noch sein mögen, es zeichnen sich die Konturen einer zwar nicht umstürzenden, aber doch deutlich divergierenden Neubewertung des Streits um den Titel des „ökumenischen Patriarchen“ ab. Nicht überzogener Geltungsdrang, Ignoranz und kalkulierte Provokationen vertieften die Kluft zwischen Ost und West. Vielmehr gab es offenbar geradezu verzweifelte Kommunikationsversuche, die allerdings angesichts verschiedenartiger Konfliktlösungsstrategien und dem Auseinanderdriften grundlegender Konzepte scheiterten. Zu begreifen, dass es diese grundlegenden Divergenzen zwischen Ost und West gab, war für die Zeitgenossen nahezu unmöglich – Gregor, die Patriarchen und der Kaiserhof sahen sich vielmehr als kulturell einander zugehörig und hätten sich und die jeweils andere Seite wohl sowohl als Römer als auch als grundsätzlich orthodox beschrieben. Ebenso waren die Bezugsrahmen weitgehend identisch: die Bibel als heiliger Text, das kanonische Recht und die kaiserliche Gesetzgebung als Rahmenordnung sowie die zentralen philosophisch-theologischen Begriffe. Man sprach also vom selben und meinte etwas jeweils anderes.

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WISSENSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN EINES MISSVERSTÄNDNISSES Diese Diskrepanz zwischen der Selbstzuschreibung der Zeitgenossen und den konfliktauslösenden kulturellen Differenzen verweist auf das Potential der Untersuchung von Missverständnissen. 41 Ihre Analyse ermöglicht es nämlich, sich bei der Beschreibung kultureller Eigenheiten nicht auf die Selbst- und Fremdzuschreibung allein stützen zu müssen, sondern auch Prozesse untersuchen zu können, die sich jenseits der Wahrnehmung, sicher aber jenseits der Beschreibung durch die Zeitgenossen abspielten. Es lassen sich so Transformationen fassen, die bereits begonnen haben, von den Zeitgenossen aber noch nicht als solche wahrgenommen wurden, vielleicht, weil ein starkes Muster der Selbstbeschreibung (im hier vorgestellten Fall die Identität als Römer und orthodoxe Christen) Wahrnehmung wie Reflexion dominierte. Kommunikationswissenschaftlich gesprochen handelt es sich bei Missverständnissen grundsätzlich um fehlgeschlagene Kommunikationsakte, die auf unterschiedlichen Bedeutungszuschreibungen des Kommunizierten beruhen. Dies umfasst sowohl einzelne Begriffe als auch größere inhaltliche Zusammenhänge und (natürlich auch nonverbale) kulturelle Praxen. Die Kommunikationswissenschaft unterscheidet zwischen inter- und intrakulturellen Missverständnissen: Die Differenz liegt in den Ursachen dieser unterschiedlichen Bedeutungszuschreibung der Kommunizierenden. Bei interkulturellen Missverständnissen wird davon ausgegangen, dass tieferliegende Unterschiede in Kommunikationsformen, Wertesystem und Konzepten die Ursache für das Missverständnis sind. 42 Intrakulturelle Missverständnisse hingegen werden auf ein Fehlverstehen der intendierten Bedeutung bei einem eigentlich den Kommunikanten gemeinsamen Set an Haupt- und Nebenbedeutungen zurückgeführt. 43 Die Anwendung dieser kommunikationswissenschaftlichen Definition kann – trotz oder auch gerade wegen der klaren Dichotomie der Klassifizierung – gewinnbringend sein. Beim Streit um den Titel des „ökumenischen Patriarchen“ handelt es sich diesen Annahmen folgend um ein interkulturelles Missverständnis. Schon die Dauer des Streits und die Ausführlichkeit der Erklärungen – geht man nicht von einem absichtsvollen Nichtverstehen aus – verweisen auf die Schwierigkeiten der Verständigung. Die Ursache allein im sprachlichen Unvermögen zu suchen, scheint deshalb zu kurz gegriffen. Das Missverständnis hängt, wie oben ausgeführt, auch weniger am Begriff selbst (obwohl dies von Gregor natürlich so betrachtet wurde) als an den grundlegenden Differenzen in den semantischen Zuschreibungen der Konfliktparteien. Deutlich zeigt sich dies in der Bedeutungszu41 Zum Potential von Missverständnissen zuerst und maßgeblich Meier (2008). Das dort vorgeschlagene Vorgehen, zuerst Felder der Differenz zu beschreiben und anschließend misslingende Kommunikation zu analysieren, würde ich aber wie hier beschrieben, modifizieren. 42 Vgl. das Heft der Zeitschrift „Language and Communication“ zum Thema „Intertextuality and Misunderstanding“ Nevins (2010) sowie Ulf (2009) und Broszinsky-Schwabe (2011). 43 Grundlegend: Barthes (1970), Hall (1973), Hall (1999).

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schreibung von „ökumenisch/universal“: Während der Osten darin offensichtlich eine ehrfördernde Bezeichnung sah (auch in der Selbstbenennung), wertet Gregor diesen Begriff als hochmütig ab (besonders in der Selbstbenennung). Dies geht über die bisher vermutete Konnotationsverschiebung („allgemeiner“ gegenüber „höchster“) hinaus und verweist auf die oben angeführten unterschiedlichen Demutskonzepte. Wie grundlegend die Unterschiede offenbar waren, verdeutlichen die Divergenzen bei Argumentationsstrategien und Modalitäten der Konfliktlösung. Es würde natürlich zu weit führen, durch das dualistisch angelegte kommunikationswissenschaftliche Modell eine umfassende kulturelle Differenz oder gar unterschiedliche ‚Kulturen‘ zu definieren, was ja auch gar nicht mehr im Fokus aktueller Forschung steht. Doch lassen sich mit einer Vielzahl solcher Beispiele kulturelle Vorstellungen und Eigenheiten kartieren. Im Zentrum stehen dabei einzelne, aus den Missverständnissen analysierte Praxen oder Konzepte, die jeweils nur einen geographisch und/oder sozial eng umgrenzten Raum betreffen – erst in der Zusammenschau mehrerer Beispiele erlauben sie weiterführende Thesenbildungen. Das Vorgehen unterscheidet sich damit sowohl von der Untersuchung der Fremd- und Eigenwahrnehmung als auch von kulturvergleichenden Ansätzen. Während die Untersuchung der Wahrnehmung zwangsläufig den Identitäts- und Alteritätskonstruktionen der Zeitgenossen folgen muss, bilden kulturvergleichende Studien ihre kulturellen Räume nach modernen analytischen Kategorien. 44 Da in den letzten Jahrzehnten Vorstellungen von Kulturen als homogene Einheiten zunehmend in die Kritik geraten sind und durch Modelle von transkultureller Verflechtung, kultureller Hybridität, „entangled histories“ und – auf Ebene der Akteure – von sogenannten „cultural brokers“ ersetzt wurden, bietet die Untersuchung von Missverständnissen eine Möglichkeit, solche sich stets wandelnden Hybriden zu beschreiben. 45 Darüber hinaus bietet das Vorgehen auch die Möglichkeit, nicht nur die integrativen Prozesse von Vermengung oder Überschreibung kultureller Praxen zu fassen, sondern auch deren seltener in den Blick genommenes Gegenteil: die kulturelle Ausdifferenzierung. Die Segregation der römischen Welt in den Jahrhunderten von Spätantike und Frühmittelalter ist hierfür nur ein (wenn auch prominentes) Beispiel. QUELLENVERZEICHNIS The ecclesiastical history of Evagrius with the scholia, ed. J. Bidez und L. Parmentier, Amsterdam 1964. Evagrius Scholasticus, Historia ecclesiastica, übers. Adelheid Hübner (Fontes Christiani 57, 1 u. 2), Turnhout 2007.

44 Vgl. zur Kritik am Kulturvergleich vgl. Borgolte (2009), S. 264f. 45 Vgl. z. B. Haupt (1996), Randeria (1999), Werner (2002), Keblusek (2011), für das Mittelalter vor allem Borgolte (2006) und Borgolte (2009).

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IV. KRIEG UND KONFLIKT. OST UND WEST IM VERGLEICH

GEWALTSAME KONFLIKTE UND EINTRÄGLICHE KOOPERATIONEN Die Krieger Theoderichs im Osten und Westen des spätrömischen Reichs* Guido M. Berndt ZUSAMMENFASSUNG Die Geschichte des Personenverbandes, der in diesem Beitrag als Kriegergruppe Theoderichs des Großen angesprochen und in bestimmten Phasen seiner Existenz als „Gewaltgemeinschaft“ beschrieben werden kann, lässt sich über gut ein halbes Jahrhundert verfolgen. In diesem Zeitraum war er zahlreichen strukturellen Veränderungen unterworfen. In den 470er Jahren agierte ihr Anführer regelmäßig als Warlord und brachte den Kaiser im Osten wiederholt in Bedrängnis, nötigte ihm zumeist unter Androhung von Gewalt gegen die römische Zivilbevölkerung oder durch gezielte Militäraktionen materielle wie auch seinen Rang erhöhende Zugeständnisse ab. Vereinzelt konnten aber auch Verträge geschlossen und Kooperationen mit dem Kaiser vereinbart werden, durch welche die gotische Gewalt zumindest zeitweise eingehegt wurde. Erst nach ihrem Zug nach Italien konnte Theoderich die Voraussetzungen schaffen, das Auskommen seiner Goten auf eine neue und wesentlich stabilere Basis zu stellen. Hier ersetzten im Wesentlichen Einkünfte aus Steuern und Abgaben die in Zeiten ihres Aufenthaltes im oströmischen Reich entscheidenden Einnahmequellen wie Beute, Schutz- Jahr- und Lösegelder. Im Jahr 473 standen die beiden amalischen Brüder Thiudimir und Vidimir vor einer schicksalhaften Entscheidung. 1 Wohin sollten sie mit ihren Goten ziehen? Ausgangspunkt war die unzureichende Versorgungslage in Pannonien, wo sie sich

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Dieser Beitrag entstand während der zweiten Förderphase (2012–2015) des DFG-Projekts „Gotische Kriegergruppen im spätrömischen Reich“ der Forschergruppe 1101 „Gewaltgemeinschaften“. Steffen Patzold, Mischa Meier und Irmgard Männlein-Robert danke ich für die Einladung zur Tagung; für Diskussion, Anregungen und Kritik danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Tübinger Treffens sowie Agnes Luk, Sabine Held und HansUlrich Wiemer für die Durchsicht des Textes in unterschiedlichen Entstehungsphasen. Zu den Brüdern siehe die Einträge in der PLRE II: s.v. Theodemer 2, S. 1069–1070; s.v. Videmer 1, S. 1164.

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nach ihrem Ausscheiden aus dem hunnischen Großverband seit einigen Jahren aufhielten, und die damit einhergehende Unzufriedenheit der Krieger und ihrer Familien. 2 Der Geschichtsschreiber Jordanes, 3 dem wir den Bericht über diese Vorgänge verdanken, lässt keinen Zweifel daran, dass Theoderichs Vater Thiudimir (ca. 465–474) zu diesem Zeitpunkt bei allen beteiligten Goten das Sagen hatte. Und dennoch spricht Jordanes davon, dass nicht etwa ein autoritativer Befehl eines Anführers, sondern ein Losentscheid über das weitere Vorgehen bestimmen sollte. Jordanes zufolge sollte Vidimir (ca. 451–473) mit seinen Leuten in den Westen nach Italien ziehen, wohingegen Thiudimir mit den Seinen im oströmischen Reich verbleiben wollte, denn er sei der Stärkere von beiden und könne es daher auch mit einem stärkeren Gegner aufnehmen. 4 Jordanes schreibt den gotischen Anführern in dieser Episode fundierte Kenntnisse über die politischen Kräfteverhältnisse in beiden Teilen des Imperium Romanum zu. Ziel dieses Beitrages ist es, das Agieren gotischer Kriegergruppen im 5. Jahrhundert zwischen der östlichen und der westlichen Reichshälfte darzustellen. ‚Osten‘ und ‚Westen‘ sollen in diesem Beitrag vornehmlich als historischgeographische Kategorien verstanden werden. Zugrunde gelegt wird dabei die Vorstellung von einem spätantiken Imperium mit Rom als einer Art ‚ideellem‘ Zentrum, von dem aus betrachtet es einen östlichen und einen westlichen Herrschaftsbereich gab: die pars occidentis und die pars orientis. Vom Ende des 4. Jahrhunderts bis 476/80 regierten in beiden Teilen Kaiser. In der Zeit, als die amalisch-gotischen Kriegergruppen in der Osthälfte aktiv waren, erodierte die kaiserliche Autorität im Westen zusehends, und barbarische Heermeister (magistri militum) rissen immer mehr Macht an sich. 5 Gleichzeitig gingen dem Westen große Territorien an Barbaren 6 verloren, was zur Folge hatte, dass aus diesen Gebieten keine Steuern und Abgaben von der Reichszentrale mehr 2

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Die Vielzahl der Beiträge zur Gotenforschung lässt sich mittlerweile wohl von niemandem mehr überschauen. Eine Bibliographie findet sich auf der Seite www.gotischekriegergruppen.phil.fau.de. Grundlegende Standardwerke der Gotengeschichte sind: Wolfram (2009) und Heather (1996). Einige Aspekte zur Mobilität gotischer Kriegergruppen finden sich in Berndt (2013). Goffart (1988); Weißensteiner (1994); Amici (2002); Liebeschuetz (2011). Jordanes, Getica LVI, 283, ed. Mommsen, S. 131: Minuentibus deinde hinc inde vicinarum gentium spoliis coepit et Gothis victus vestitusque deesse et hominibus, quibus dudum bella alimonia prestitissent, pax coepit esse contraria, omnesque cum magno clamore ad regem Thiudimer accedentes Gothi orant, quacumque parte vellit. Tantum ductaret exercitum. Qui accito germano missa que sorte hortatus est, ut ille in parte Italiae, ubi tunc Glycerius regnabat imperator, ipse vero sicut fortior ad fortiorem regnum accederet Orientalem: quod et factum est. Gute Übersichten zu diesen Vorgängen: Henning (1999); Pohl (2005); Börm (2013). Der Barbarenbegriff ist seitens der Forschung immer wieder auf den Prüfstand gebracht worden. Zu seiner Verwendung im Untersuchungszeitraum dieser Studie siehe beispielsweise Ohnacker (2003). „Barbaren“ soll hier schlicht als wertfreier Begriff für „Nicht-Römer“ verstanden werden. Eine gute Überblicksdarstellung zu den Reichsgründungen barbarischer gentes im Westen bietet Wolfram (1990); siehe außerdem Halsall (2006).

Gewaltsame Konflikte und einträgliche Kooperationen

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erwartet werden konnten. Darunter litt auch der Militärapparat, zu dessen Aufgaben ja unter anderem der Schutz der Provinzen gehörte. Ganz anders lagen die Dinge im politisch überwiegend stabilen Osten. Das Agieren der Goten betraf wiederholt die Grenzräume zwischen west- und oströmischem Territorium. Es lohnt sich daher, darüber nachzudenken, ob die Goten diese staatlich-strukturelle Unschärfe für das Fortkommen ihrer Kriegergesellschaft in irgendeiner Form auszunutzen verstanden. Die amalisch-ostgotische Kriegergruppe Theoderichs des Großen, 7 die dieser am Ende des 5. Jahrhunderts aus dem Osten des Römerreiches in den Westen führte, wo er dann als König in Italien über mehrere Jahrzehnte herrschen konnte, bietet sich aufgrund der vergleichsweise günstigen Quellenlage als Studienobjekt, ja geradezu als ein Modellfall einer vormodernen „Gewaltgemeinschaft“ an. 8 Unter Gewaltgemeinschaften werden Gruppen verstanden, die sich innerhalb ihrer gesellschaftlichen und politischen Umwelt durch Gewalt formieren und stabilisieren sowie ihre Lebensgrundlage im Wesentlichen durch Gewalt sichern. 9 Fokussiert wird dabei nicht ein Gewalthandeln, das von Instanzen ausgeht, die als obrigkeitlich-herrschaftlich oder gar ‚staatlich‘ zu klassifizieren wären, sondern vielmehr Gewalt, die für das Selbstverständnis und die Gruppenidentität(en) prägend ist und darüber hinaus für die Reproduktion dieser sozialen Verbände konstitutiv wirkt. Unter Gewalt wird dabei vor allem physische Gewalt verstanden, und zwar sowohl tatsächlich verübte als auch lediglich angedrohte Gewalt. Der Kern der Anhängerschaft Theoderichs bestand aus waffenfähigen und kampferprobten Männern. Ihr Zusammenhalt und zeitweise sicherlich auch ihr Überleben wurden in der voritalischen Phase ihres Bestehens ganz überwiegend durch gewaltsam an sich gerissene Beute, erpresste Schutz- und Lösegelder sowie Subsidien- und Jahrgeldzahlungen gesichert. 10 Diese Kriegergemeinschaft lässt sich über mehrere Jahrzehnte verfolgen. In diesem Beitrag werden einige Stationen ihres Werdeganges nachgezeichnet, wobei besonders das Wechselspiel zwischen gewaltsam ausgetragenen Konflikten und dem Eingehen einträglicher Kooperationen sowie der Einsatz von angedrohter und ausgeübter Gewalt in den Blick genommen und dabei die jeweiligen Voraussetzungen und Wirkungen des Gewalthandelns berücksichtigt werden sollen. 11 Gewalt einzusetzen war stets eine der Optionen, die den Goten Theoderichs aufgrund ihrer spezifischen Lebensweise zur Verfügung stand. Sie wurde immer dann angewandt, wenn auf anderen, eher friedlich-kooperativen Wegen das Gewünschte nicht erreicht werden konnte.

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Enßlin (1959); Heather (1995); Wiemer (2007); Goltz (2009). Wiemer (2013). Speitkamp (2013). Berndt (2011). Halsall (1998). Zu unterschiedlichen Aspekten der Gewalt in der Spätantike siehe Drake (2006).

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THEODERICHS RÜCKKEHR AUS KONSTANTINOPEL, EIN ERSTES GEWALTKOMMANDO UND DIE FORMIERUNG SEINER KRIEGERGRUPPE Theoderich wurde zu einem nicht ganz genau bestimmbaren Zeitpunkt in den 450er Jahren als Sohn des Amalers Thiudimir und einer Frau namens Erelieva geboren. 12 Bezeichnenderweise verbindet Jordanes die Geburt Theoderichs mit dem erfolgreichen Befreiungskampf der Goten gegen die Hunnen. In jenen Jahren war deren ephemeres Reich, nicht zuletzt aufgrund militärischer Misserfolge zerfallen. 13 Noch Anfang der 450er Jahre waren ostgotische Krieger Attila weit in den Westen gefolgt und hatten u. a. in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern auf hunnischer Seite gekämpft. 14 Andere ostgotische Krieger hatten sich schon früher der hunnischen Oberherrschaft entzogen, indem sie sich den Visigoten anschlossen. 15 So war etwa Beremud 16 (der Großvater Eutharichs) „aus Verachtung der Ostrogothen wegen ihrer Abhängigkeit von den Hunnen“ bereits 418 in den Westen gezogen. 17 Nach dem Abschütteln der hunnischen Vorherrschaft nutzten die Ostgoten die sich nun eröffnende Gelegenheit, sich in der Phase der Neuordnung als eigenständiger Verband, oder vielmehr als mehrere eigenständige Verbände, zu etablieren. 18 Sich zu etablieren bedeutete im Wesentlichen, in ein vorteilhaftes Verhältnis zum römischen Kaiser zu treten, im Idealfall einen Föderatenstatus zu erhalten, auf dessen Grundlage dann das ökonomische Auskommen der Gruppe gesichert worden wäre. 19 Einen Kriegerverband zu versorgen, der leicht mehrere Tausend kampffähige Männer mit entsprechendem Anhang umfassen konnte, war ein

12 Jordanes, Getica LII, 269, ed. Mommsen, S. 127–128: Eo namque tempore ad fratris Thiudimeri gaudii nuntium direxit, sed eo mox die nuntius veniens feliciorem in domo Thiudimer repperit gaudium. Ipso si quidem die Theodoricus eius filius, quamvis de Erelieva concubina, bonae tamen spei puerolus natus erat. 13 Stickler (2007), S. 99–106. 14 Heather (1991), S. 59–60. 15 Wolfram (2009), S. 257. 16 PLRE II, S. 224–225. 17 Jordanes, Getica XLVIII, 251, ed. Mommsen, S. 122: quia filius eius, ut superius diximus, Beremud iam contempta Ostrogotharum gente propter Hunnorum dominio ad partes Hesperias Vesegotharum [...]. 18 Heather (1996), S. 111–112 zählt immerhin sieben verschiedene gotische Einzelverbände auf. 19 Die einzelnen Elemente des Föderatenstatus fasst Cesa (1984), S. 312 folgendermaßen zusammen: „Erstens erhielten sie Wohnsitze; zweitens leisteten sie den Römern Militärdienst und erhielten jährlich dafür Geld; drittens galten sie als ‚reichsangehörig‘, unterschieden sich daher von den unterworfenen und ‚bedingungslos‘ angesiedelten Barbaren. [...] Kennzeichen dieses Status ist etwa die Tatsache, daß die Föderaten unter eigenen Fürsten lebten und zumeist auch, obgleich nicht immer, unter ihren Anführern im römischen Heer dienten.“ Heather (1997), S. 74 hat auf einen „propagandistischen Aspekt“ in der römischen foederatiTerminologie hingewiesen. Chrysos (1997) bietet eine hilfreiche Nachzeichnung der Forschungsgeschichte.

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enormer Aufwand, der vor allem in der Verantwortung des jeweiligen Anführers lag. Da die in der Regel mobilen Gruppen nicht im erforderlichen Umfang auf selbstproduzierte Versorgungsgüter, etwa im Sinne von jahreszeitlich einzufahrenden Ernten, zurückgreifen konnten, mussten andere Wege der Versorgung und der ökonomischen Existenzsicherung gefunden werden, und diese gestalteten sich häufig in raubwirtschaftlichen Formen. 20 Um die Versorgung einer Kriegergemeinschaft und der dazugehörigen Familien zu gewährleisten, war eine ständige Beschaffung von Ressourcen notwendig: Lebensmittel, Trinkwasser, Futter für Reit- und Zugtiere sowie für das mitzuführende Vieh, 21 dann aber auch Waffen, Werkzeuge, Kleidung, Schmuck sowie sonstige Luxusgüter. Insbesondere Gold in jeglicher Form, ob nun gemünzt, in Barren gegossen, als Tafelgeschirr oder Schmuckstück gearbeitet, war von besonderer Bedeutung. 22 Den Zustrom an Gütern aller Art nicht versiegen zu lassen lag in der Verantwortung des Anführers, der die Güterdistribution zum Herrschaftsmittel machte. Zudem musste er gewährleisten, dass genügend Märkte in Reichweite waren, um seinen Leuten den Tausch, Kauf oder Verkauf der Waren und Produkte zu ermöglichen. 23 Dies hatte zur Folge, dass das an die Barbaren gezahlte Geld, im Falle des Einkaufes römischer Waren, auf diesen Wegen wieder ins Imperium zurückfließen konnte. Grundsätzlich bestanden also zwei Möglichkeiten: auf der einen Seite Einbindung in das römische System, indem die Krieger zu ‚reichsangehörigen‘ Soldaten wurden 24 und mit entsprechenden Subsidien – sei es nun durch Geldzahlung oder andere materielle Zuwendungen – rechnen konnten, auf der anderen Seite die Beschaffung von materiellen Gütern durch den Einsatz von Gewalt und Zwang zumeist auf Kosten der häufig ungeschützten Zivilbevölkerung. Beide Wege waren bereits von Attila aber auch von anderen Warlords beschritten worden. Bei den Beutezügen und Plünderungsaktionen waren Mobilität und Schnelligkeit die entscheidenden Faktoren des Erfolgs. Es galt, eine offene militärische Konfrontation mit den kaiserlichen Truppen möglichst zu vermeiden. Die Ostgoten hielten sich zunächst im Bereich des heutigen Ungarn, wohl vornehmlich südlich des Plattensees, auf. 25 Die beiden Pannoniae waren Provinzen des Illyrikums, eingegliedert in die italische Präfektur. Hier verliefen also die 20 Berndt (2015). 21 Fälle von Viehdiebstahl sind wiederholt belegt, so etwa Jordanes, Getica LIII, 273, ed. Mommsen, S. 129: [...] Hunumundus Suavorum dux dum ad depraedandas Dalmatias transit, armenta Gothorum in campis errantia depraedavit, quia Dalmatia Suaviae vicina erat nec a Pannonios fines multum distabat, praesertim ubi tunc Gothi residebant. 22 Iluk (1985), S. 85. Siehe auch den Ausstellungskatalog Wieczorek/Périn (2001). Die Bedeutung von Gold und Schätzen in jeglicher Form für die Anführer barbarischer Verbände hat Hardt (2004) herausgearbeitet. 23 Im sogenannten Vertrag von Margus aus dem Jahr 434, in dem die Jahrgelder für die Hunnen von 350 auf 700 Goldpfund verdoppelt wurden, verlangten ihre Verhandlungsführer auch den freien Zugang zu Märkten, Priskos, fr. 2, ed. Blockley, S. 224–227 (= Müller 1). 24 Wolfram (2005). 25 Heather (1991), S. 242–244.

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Grenzen zwischen westlicher und östlicher Reichshälfte, was immer wieder Gebietsstreitigkeiten zur Folge hatte. Für die gotischen Krieger scheinen diese Fragen zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum eine Rolle gespielt zu haben, sie machten Pannonien zu einer Art Operationsbasis. Nach wiederholten Gewaltaktionen handelten Valamir, Thiudimir und der oströmische Kaiser Leo I. (457–474) im Jahre 461 ein Abkommen aus. 26 Auch wenn wir die Details nicht kennen, können zumindest zwei inhaltliche Aspekte erschlossen werden: Die Goten verpflichteten sich, jegliche Gewalt gegen die Römer einzustellen und die Bedrohung der Bevölkerung zu beenden sowie dem römischen Kaiser auf Anfrage militärische Hilfe zu leisten. Im Gegenzug sicherte der Kaiser das Auskommen durch Jahrgelder und Subsidien. Abgesichert wurde der Vertrag durch die Vergeiselung des jungen Königssohnes Theoderich – ein gängiges Verfahren römischer Barbarenpolitik. Freilich war es nun nicht so, dass Theoderich seinen Aufenthalt am Bosporus bei ‚Wasser und Brot‘ fristen musste. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er als hochrangige Geisel am Kaiserhof oder zumindest in dessen direktem Umfeld aufwuchs. 27 Zehn Jahre später kehrte er zu seinem Vater und den gotischen Kriegern zurück und konnte sogleich eine Vorrangstellung einnehmen, die ihn in die Lage versetzte, ein eigenes militärisches Kommando zu führen, an dem sich, den „Getica“ des Jordanes zufolge, immerhin 6.000 Krieger beteiligten. 28 Nur indirekt, da keinerlei schriftliche Zeugnisse über Theoderichs Zeit in Konstantinopel Auskunft geben, kann also geschlossen werden, dass der Gote ebendort eine Ausbildung erhalten hatte, die sowohl militärische als auch organisatorische Fähigkeiten beinhaltete. Der Zug gegen den Sarmatenkönig Babai 29 im Jahre 471 ist jedenfalls als ein Erfolg zu bewerten, der die Akzeptanz Theoderichs in der gotischen Kriegergesellschaft wesentlich gestärkt haben dürfte. Auch das eigenhändige Ausschalten des gegnerischen Anführers dürfte den gotischen Kriegern Theoderichs unbedingten Willen und Anspruch auf Führung deutlich aufgezeigt haben. Und schließlich blieb das von den Goten heimgesuchte Gebiet um Singidunum (Belgrad) – eine wichtige Grenzstadt des oströmischen Reiches an der Donau – unter ihrer Kontrolle, denn Theoderich, das betont Jordanes ausdrücklich, „gab die Stadt den Römern nicht zurück, sondern unterstellte sie seinem Befehl.“ 30 Wenige Jahre später führte Theoderichs Vater die Goten von Pannonien nach Griechenland, wo sie Makedonien plünderten. Auch bei diesen Unternehmungen soll sich Theoderich wiederholt als mutiger und fähiger Anführer ausgezeichnet

26 Vielleicht auch ein Jahr früher zu datieren. Vgl. Wolfram (2009), S. 263. 27 Shepard (2006), S. 138–141. 28 Jordanes, Getica LV, 282, ed. Mommsen, S. 131 [...] ascitis certis ex satellitibus patris et ex populo amatores sibi dientesque consocians, paene sex milia viros, cum quibus inconscio patre emenso Danubio super Babai Sarmatarum rege discurrit [...]. 29 PLRE II, S. 207. 30 Jordanes, Getica LV, 282, ed. Mommsen, S. 131: Singidunum dehinc civitatem, quam ipsi Sarmatae occupassent, invadens, non Romanis reddidit, sed suae subdedit dicioni.

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haben, auch wenn er bei dem Angriff auf die Stadt Stobi, Hauptstadt der Provinz Macedonia Salutaris, noch durch die Heerführer Astat und Invilia unterstützt wurde. 31 Nach weiteren gotischen Erfolgen trat ein gewisser Hilarianus für die Römer mit den Goten in Verhandlung und konnte immerhin erreichen, dass die gotischen Krieger sich der Metropole Konstantinopel nicht weiter näherten – ein deutliches Zeichen, dass man die Goten spätestens jetzt als ernstzunehmende Bedrohung einschätzte. Von Subsidienlieferungen, geschweige denn der Vergabe von Ehrenstellungen an die gotischen Anführer, hört man in diesem Kontext nichts. 32 Als Thiudimir im Jahre 474 starb, konnte Theoderich offenbar ohne jeden innergotischen Konflikt die Führungsrolle über die Gruppe erben. Es gibt nicht den leisesten Hinweis auf einen Konkurrenzkampf um die Anführerschaft und das, obwohl Theoderich nachweislich einen Bruder namens Thiudimund 33 hatte, der ebenfalls hätte Ansprüche geltend machen können. 34 Ein Teilen der Befehlsgewalt, wie es noch in seiner Vatergeneration praktiziert worden war, kam für Theoderich offenkundig nicht in Frage. Thiudimund taucht dann zwar 479 als (letztlich erfolgloser) Anführer einer gotischen Abteilung auf, 35 doch scheint er zu keinem Zeitpunkt einen seinem Bruder gleichwertigen Rang in der ostgotischen Gesellschaft erreicht zu haben. Sicher ist jedenfalls, dass Theoderich bei seiner Rückkehr zu den Ostgoten bereits waffenfähig war und seine Herkunft aus der amalischen Familie, seine außergewöhnlichen strategischen und militärischen Fähigkeiten sowie nicht zuletzt seine Bereitschaft, jederzeit Gewalt anzuwenden, ihm einen nicht unerheblichen Vorteil, ja vielleicht auch eine gewisse ‚Aura‘, zumindest aber doch ein gehöriges Maß an Prestige verliehen.

31 Jordanes, Getica LVI, 285, ed. Mommsen, S. 131: Thiudimer autem, frater senior, cum suis transit Saum amnem Sarmatis militibusque interminans bellum, si aliqui ei obstaret. Quod illi verentes quiescunt, immo nec praevalent ad tantam multitudinem. Videns Thiudimer undique sibi prospera pro venire, Naissum primam urbem invadit Illyrici filioque suo Theodorico sociatis Astat et Invilia comitibus per Castro Herculis transmisit Vlpiana. 32 Jordanes, Getica LVI, 288, ed. Mommsen, S. 132: qui [Helarianus] dum videret vallo muniri Thessalonicam nec se eorum conatibus posse resistere, missa legatione ad Thiudimer regem muneribusque oblatis ab excidione eum urbis retorquet initoque foedere Romanus ductor cum Gothis loca eis iam sponte, quae incolerent, tradidit, id est Cerru, Pellas, Europa, Mediana, Petina, Bereu et alia quae Sium vocatur. ubi Gothi cum rege suo armis depositis composita pace quiescunt. 33 PLRE II, s.v. Theodimundus, S. 1084. 34 Claude (1978); König (1994). 35 Malchos von Philadelpheia, fr. 20, ed. Blockley, S. 446/448 (= Cresci 18): [...] λέγει δέ τις τῷ Σαβινιανῷ, ὡς οἱ βάρβαροι καταφρονήσαντες σχολαίτερον κατίασιν ἀπὸ τῆς Κανδαβείας, οἵ τε σκευοφόροι αὐτῶν καὶ τῶν ἁμαξῶν αἱ πλείους καὶ οἱ ἐπὶ τῆς οὐραγίας, ἐν οἷς καὶ Θευδιμοῦνδος ἦν ὁ τοῦ Θευδερίχου ἀδελφὸς καὶ ἡ μήτηρ ἡ τούτων, καὶ ὅτι ἔστιν ἐλπὶς τῶν πλειόνων κρατήσειν. Die Zählung der Fragmente von Cresci ist identisch mit der von Karl Müller (Fragmenta Historicorum Graecorum, Bd. 4, Paris 1868, S. 111–133) und Ludwig Dindorf (Historici Graeci Minores, Bd. 1, Leipzig 1870, S. 383–424).

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Theoderich war es also nach dem Tod seines Vaters gelungen, sowohl dessen Männer als auch die ehemaligen Kämpfer seines Onkels unter seinen Befehl zu stellen. Offensichtlich war das Angebot, das der junge Theoderich ihnen machen konnte, für viele verlockend genug, um sich ihm anzuschließen bzw. bei ihm zu bleiben. Es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, dass die exakte Größe der sich nun formierenden Kriegergruppe nicht bestimmt werden kann. Einige pauschale Aussagen sind dennoch möglich: Erstens dürfte der Verband zu diesem Zeitpunkt, also Mitte der 470er Jahre, deutlich kleiner gewesen sein als die Gruppe, die Theoderich 488/9 nach Italien begleitete. Zweitens muss die Kriegergruppe aber doch so groß gewesen sein, dass sie sowohl seitens des römischen Kaisers als auch seitens des thrakischen Goten Theoderich Strabon als ernstzunehmender Faktor im Kräftespiel um die Macht anerkannt wurde. Basis jeder Handlungsfähigkeit und jeder Gestaltungsmöglichkeit war für Theoderich seine Kriegergefolgschaft. 36 Diese bildete, nach ethnischen Kriterien zu urteilen, keinen homogenen Verband, sondern dürfte eher eine flexible Struktur, sowohl hinsichtlich der Größe als auch der sozialen Zusammensetzung und Herkunft seiner Mitglieder, aufgewiesen haben. Das soll freilich nicht heißen, dass es nicht starke gruppendynamische und -bindende Kräfte gegeben hätte. Die Gefolgsleute stellten ihre Zugehörigkeit durch Teilnahme an den gemeinsamen, häufig gewaltsamen Aktionen immer aufs Neue unter Beweis. 37 Voraussetzungen dafür waren spezifische körperliche Fähigkeiten sowie die Bereitschaft, sich der Sache des Anführers anzuschließen. Die personale Bindung bestand letztlich auf Grundlage eines Systems des Geben und Nehmen. Der Gefolgsmann erhielt Beuteanteile oder andere materielle Belohnungen und Zuwendungen für sich und seine Angehörigen. Der Gefolgschaftsführer konnte im Gegenzug auf loyale Unterstützung durch seine Krieger vertrauen und ihr Gewaltpotential sowie ihre militärischen Fähigkeiten in seinem Sinne einsetzen. Dass zur gegenseitigen Absicherung und moralischen Unterstützung ein öffentlicher Treueid geleistet wurde, wie es die ältere ‚Germanenforschung‘ angenommen hat, lässt sich zwar vermuten, durch die Quellen aber keineswegs beweisen. 38

36 In Kenntnis der Debatten um den Begriff ‚Gefolgschaft‘ und in Verkürzung der reichhaltigen Forschungsgeschichte wird hier dennoch nicht auf ihn verzichtet; er soll vielmehr eine pragmatische Verwendung finden. 37 Berndt (2013). 38 Schlesinger (1953), S. 235 hatte ‚Gefolgschaft‘ folgendermaßen charakterisiert: „Unter Gefolgschaft wird [...] ein Verhältnis zwischen Herrn und Mann verstanden, das freiwillig eingegangen wird, auf Treue gegründet ist und den Mann zu Rat und (kriegerischer) Hilfe, den Herrn zu Schutz und ‚Milde‘ verpflichtet.“ Er sah diese Form eines Treueverhältnisses bereits für eine ‚altgermanische Zeit‘ belegt, wobei er sich auf Tacitus’ Germania stützte (cap. 14). Kritisiert wurde Schlesinger von Graus (1959), insbesondere für seine Vorstellung von einem spezifisch ‚germanischen‘ Element im Treueid und dessen ‚sakralem‘ Charakter. Wenskus (1992) hat, diese Kontroverse aufgreifend, herausgestellt, dass ‚Gefolgschaft‘ ein überfrachteter Wissenschaftsterminus, kein Quellenbegriff, ist und dementsprechend stets die spezifischen Traditionszusammenhänge, in denen Historiker den Begriff verwenden, zu bedenken

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Der Kriegerverband Theoderichs war keine egalitäre Gemeinschaft. Das lässt sich schon an der Art ihrer Ausrüstung, Bewaffnung und Kampfesweise ablesen. Denn längst nicht alle gotischen Krieger verfügten über die Mittel, um als schwer gepanzerte Reiter in den Kampf zu ziehen. Viele kämpften lediglich mit dem Schwert, einer Lanze oder dem Pfeilbogen als Infanteristen. Natürlich gab es hierarchische Strukturen, wohl auch so etwas wie einen ‚Adel‘, der sich aus angesehenen Männern zusammensetzte, die selbst Gefolgsleute hinter sich scharen konnten und sich keineswegs als einfache Befehlsempfänger Theoderichs betrachteten. KONKURRENZKAMPF UM DIE GUNST DES OSTRÖMISCHEN KAISERS UND DAS ENDE DER KRIEGERGRUPPE THEODERICH STRABONS Theoderich hat seine Krieger noch im Jahre 474 nach Niedermösien in die Gegend um Novae (Svishtov, Bulgarien) geführt. 39 Hier wurden die Goten in den Konflikt um die Usurpation des Basiliskos 40 hineingezogen, denn der aus der Hauptstadt vertriebene Kaiser Zenon forderte sofort Theoderichs Hilfe im Kampf gegen Basiliskos und den mit ihm verbündeten thrakischen Goten Theoderich Strabon an. 41 Dieser war von Zenons Vorgänger Leo I. 42 zum Heermeister ernannt worden. Im Gegenzug hatte Strabon seine Gefolgschaft fortan durch üppige Jahrgelder versorgen können. Genau diese Vorzüge strebte auch der Amaler für sich und seine Leute an. Und tatsächlich büßte Strabon seine Vorrangstellung nur kurze Zeit später ein. Nutznießer der zugunsten Zenons geänderten politischen Konstellation war eben Theoderich-Thiudimirsohn. Seine Kooperationsbereitschaft mit Zenon brachte ihm neben ausreichenden Jahrgeldern und Subsidien auch das Amt des Heermeisters und darüber hinaus die Adoption als Waffensohn ein. 43 Zenon erklärte seinen Konkurrenten Strabon zum hostis publicus, womit ein starker Ansehensverlust sowohl in der Hauptstadt als auch bei seinem Gefolge einherging. Außerdem ließ der Kaiser Theoderich Strabon und dessen Vertrauensleute aus Konstantinopel vertreiben. Doch durch militärische Stärke und Verhandlungsge-

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sind. Dick (2008), insb. S. 201–203 hat diese insbesondere für die deutsche Verfassungsgeschichte wichtigen Debatten noch einmal nachgezeichnet und der Idee von einem ‚germanischen‘ Element eine deutliche Absage erteilt. Wolfram (2009), S. 270. Malchos, fr. 15, ed. Blockley, S. 422 (= Cresci 11). PLRE II, s.v. Theodericus 5, S. 1073–1076; Errington (1983). Wirbelauer (1997); Siebigs (2010). Jordanes, Getica LVII, 289, ed. Mommsen, S. 132: […] et post aliquod tempus ad ampliandum honorem eius in arma sibi eum filium adoptavit de suisque stipendiis triumphum in urbe donavit. Siehe dazu Claude (1989), bes. S. 28–29; Wolfram (2009), S. 271; zuletzt zur Waffensohnschaft Wolfram (2006). Kaiser Justin hat den Ostgotenkönig Eutharich im Jahr 519 nicht nur zum Waffensohn adoptiert, sondern auch mit dem Namen Flavius Eutharicus Cilliga zum Konsul erhoben. Cassiodor, Variae VIII,1,3, ed. Mommsen: […] factus est per arma filius. Zu Eutharich siehe PLRE II, s.v. Eutharicus Cilliga, S. 438.

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schick gewann Strabon rasch wieder an Einfluss. Bereits im Herbst 478 hatte er sein Heermeisteramt zurück gewonnen, bekam Sold für seine 13.000 Männer, den Oberbefehl über zwei Palasteinheiten und konnte schließlich auch die seit 476 ausstehenden Jahrgelder für seine Leute eintreiben. 44 Aber trotzdem: Seine Stellung war damit keineswegs dauerhaft gesichert. Dies verdeutlichen die Folgen einer direkten Konfrontation der beiden Theoderiche im Jahr 478 am Fuße des (nicht genau lokalisierbaren) Berges Sondis in der Grenzregion zwischen Moesia und Thracia. Hier trafen Theoderichs Krieger, die gemeinsam mit dem römischen Militär gegen Strabon ziehen sollten, unerwartet auf die Krieger Strabons. Die Römer waren aber nicht eingetroffen, Theoderich fühlte sich vom Kaiser verraten. Vielleicht durch anhaltende Versorgungsschwierigkeiten und vorangegangene Verluste entmutigt, scheinen viele Männer Theoderichs mit dem Gedanken gespielt zu haben, zum Gegner überzulaufen. Für Theoderich bedeutete dies eine unmittelbare Bedrohung seiner Vorrangstellung. Erst durch langwierige Verhandlungen, zu denen sich Theoderich nicht zuletzt durch seine Anhänger genötigt sah, konnten die beiden Goten einen offenen Kampf vermeiden. 45 Gegenüber dem Kaiser blieben beide bei ihren Forderungen, die sie mithilfe des Gewaltpotentials ihrer Kriegergruppen immer wieder unterstrichen. Wiederholt unternahmen die amalischen Goten in diesen Jahren verheerende Plünderungszüge, unter denen die Betroffenen schwer zu leiden hatten. 46 Daraus ergab sich in den folgenden Jahren eine Handlungssequenz, die eine ganz eigene, vom Gewalthandeln der Goten in Gang gehaltene Dynamik hatte. Die ständige Bedrohung, welche die Goten durch Plündern, Brandschatzen und Morden aufrecht hielten, muss für den Kaiser in Konstantinopel eine unerträgliche Situation gewesen sein. Eine gewisse Abscheu findet noch im Bericht des Malchos Nachhall – selbst wenn er gelegentlich Verständnis für die Vorwürfe der Goten an den Kaiser aufzubringen scheint. Dieser schien gehofft zu haben, dass sich die verschiedenen Kriegergruppen gegenseitig neutralisieren würden. 47 Das Ringen zog sich aber noch mehrere Jahre hin, ohne dass die Konfliktparteien jemals einer dauerhaften Lösung wirklich nahegekommen wären. Erst der Unfalltod Strabons 481 bzw. die Ermordung seines Sohnes und Nachfolgers Rekitach durch den Amaler 484 hat diesen Konflikt gelöst. Die einst so mächtige Kriegerkoalition zerbrach. 48 Viele Männer schlossen sich dem einsti44 Johannes Antiochenus, fr. 302, ed. Roberto, S. 510. 45 Malchos, fr. 18,2, ed. Blockley, S. 426–430 (= Cresci 15). 46 Malchos, fr. 18,3 ed. Blockley, S. 430 (= Cresci 16): μέσον δὲ ποιησάμενοι τὸν ποταμὸν διελέγοντο, καὶ ποιοῦνται συνθήκας μὴ πολεμεῖν ἀλλήλοις, ὅσα ἡγοῖντο συμφέροντα. καὶ ταῦτα ὁμόσαντες πέμπουσιν ἄμφω πρέσβεις ἐπὶ τὸ Βυζάντιον. 47 Malchos, fr. 18,3 ed. Blockley, S. 430 (= Cresci 16): Ὅτι συνθήκας πρὸς ἀλλήλους ποιησάμενοι Θευδέριχος καὶ ὁ Τριαρίου οἱ Γότθοι μὴ πολεμεῖν ἀλλήλοις πέμπουσιν ἄμφω πρέσβεις ἐπὶ τὸ Βυζάντιον, ὁ μὲν τοῦ Βαλαμείρου τῷ βασιλεῖ ἐγκαλῶν ὅτι προδεδομένος ὑπ᾽ ἐκείνου τυγχάνει, καὶ ὡς τῶν συντεθέντων οὐδὲν εὑρὼν ἀληθὲς Θευδερίχῳ συμβαίη, […]; dazu Wiemer (2009), S. 55–56. 48 Wolfram (2009), S. 276 und Berndt (2013).

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gen Feind Theoderich-Thiudimirsohn an, der mit seinen Leuten in die Gegend um Dyrrhachium im heutigen Albanien weitergezogen war und den ehemaligen Kämpfern Strabons offenbar als ebenso attraktiver ‚Arbeitgeber‘ erschien. Immerhin, der gotische Konkurrenzkampf im Schatten Konstantinopels war damit zu Ende und mit der Beauftragung Theoderichs durch Kaiser Zenon im Jahre 488, Italien von der Herrschaft Odoakers zu befreien, konnte Ostrom die amalische Kriegergruppe doch noch loswerden. 49 Schon im Jahre 480 soll Theoderich übrigens dem Kaiser, bzw. dessen Gesandtem Adamantius, das Angebot unterbreitet haben, mit seinen Leuten nach Dalmatien zu ziehen und dort den vor Odoaker geflohenen Nepos zu unterstützen. 50 Zu diesem Zeitpunkt glaubte der Kaiser offenbar noch daran, die Goten in seinem Herrschaftsbereich selbst militärisch bezwingen zu können – dies erwies sich als eine Fehleinschätzung. UNWIDERRUFLICHER ABZUG AUS DEM OSTEN, ZUG NACH WESTEN, KRIEG IN ITALIEN Theoderichs Entschluss, mit seinen Goten nach Italien zu ziehen, dürfte jeden einzelnen Krieger vor die grundsätzliche Entscheidung gestellt haben, ob er sich (gemeinsam mit seinen Angehörigen) an diesem Abenteuer beteiligen wollte. Der Amaler wird den Männern reiche Beute und vielleicht auch Landzuteilungen in Aussicht gestellt haben, da die Gruppe schließlich gut und gern 15.000 bis 20.000 Krieger ausmachte. 51 Allen Beteiligten dürfte klar gewesen sein, dass der Zug aus der östlichen Reichshälfte Richtung Italien alles andere als einfach werden und dass der Herrscher in Italien erbitterten Widerstand leisten würde. Was Theoderich und seine Männer aber auch wussten, war, dass Italien seit den 450er Jahren politisch geschwächt war, dass es dort kein der östlichen Armee vergleichbares Militär mehr gab und auch keine Konkurrenz vom Kaliber eines Theoderich Strabon. Gleichwohl war Italien immer noch bedeutend wohlhabender als jede andere Region im Westen, 52 vielleicht einmal abgesehen von Africa, wo sich die Vandalen bereits festgesetzt hatten. Kurz nach dem Aufbruch im Winter 488/9 stellten sich am Fluss Vuka (östliches Kroatien) gepidische Verbände unter Führung ihres Königs Thraustila 53 den Goten entgegen, doch Theoderich konnte sie überwinden. 54 Diese Kämpfe fanden 49 Diese Vorgänge sind in mehreren Quellen überliefert. Die ausführlichsten sind: Jordanes, Getica LVII, 290–291, ed. Mommsen, S. 132–133 und Malchos, fr. 22, ed. Blockley, S. 450 (= Cresci 19). Zur fabelhaften Ausgestaltung dieses Abkommens durch Fredegar siehe den Beitrag von Hans-Werner Goetz in diesem Band, S. 88. 50 Malchos, fr. 20, ed. Blockley (= Cresci 18), S. 446: ἕτοιμος δέ, εἰ προστάξειε ὁ βασιλεύς, καὶ εἰς Δαλματίαν ἀπελθεῖν ὡς Νέπωτα κατάξων. 51 Burns (1978) hat die wenigen Belege mit konkreten Zahlenangaben zusammengetragen. 52 Giardina (2010). 53 PLRE II, s.v. Trapstila, S. 1124–1125. 54 Pohl (1980), S. 291–292.

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an der Grenze zwischen ost- und weströmischem Territorium statt. Ob die Gepiden im Auftrag Odoakers handelten, etwa im Sinne von Grenzschutztruppen, oder ob sie andere Motive hatten, Theoderichs Zug zu attackieren, muss offen bleiben. Dieser soll bei der Erstürmung der gepidischen Abwehrbollwerke persönlich großen Einsatz gezeigt und so zum Erfolg der Goten entscheidend beigetragen haben. Die Struktur des Kriegerverbandes war auch in dieser Phase offen; zumindest dürften sich einige der geschlagenen und nach dem Tod Thraustilas anführerlos gewordenen Gepiden Theoderich angeschlossen haben. 55 Theoderichs Cousine Giso war mit dem Rugierkönig Feletheus 56 verheiratet. Nachdem Odoaker 487 die Rugier besiegt hatte, konnte er das Paar gefangen nehmen. Sie wurden nach Italien gebracht und dort getötet. Möglicherweise stieß in diesem Winter der rugische Verband unter Führung eines gewissen Friedrich 57 zu den Goten. Nach dem Motto ‚der Feind meines Feindes ist mein Freund‘ schloss er sich Theoderich an. Dieser wiederum hatte nun einen Anlass, seinen Italienzug auch als Rache für die ermordete Cousine zu rechtfertigen. 58 Und noch eine weitere Bewährungsprobe mussten Theoderichs Leute überstehen, als kurz nach den Kämpfen an der Vuka sarmatische Krieger den Tross attackierten. Doch auch jetzt behielten die Goten die Oberhand und sie konnten italischen Boden betreten. 59 Im August 489 stießen die Goten am Isonzo auf die Abwehrtruppen Odoakers. 60 In den folgenden Kämpfen soll sich Theoderich erneut persönlich ausgezeichnet haben, nicht nur als tapferer Krieger, sondern auch als hervorragender Taktiker und Stratege. Auch hier dürften sich die jahrelange Ausbildung in Konstantinopel und seine Erfahrung als oströmischer Heermeister ausgezahlt haben. Der wagemutige Einsatz wird zudem seine Krieger umso mehr in ihrem Vertrauen auf ihn gestärkt haben. Noch Jahre später ließ sich der Gotenkönig übrigens für seine Heldentaten vom Panegyriker Ennodius loben. 61 Doch dauerte der Krieg in Italien trotz anfänglicher Erfolge beinahe vier Jahre. Veränderungen in der Struktur der gotischen Kriegergruppe ergaben sich nun durch Überläufer, wie beispielsweise den Heermeister Tufa, 62 der sich zunächst mit er-

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Wolfram (2009), S. 280. PLRE II, S. 457. PLRE II, s.v. Fredericus 2, S. 484–485. Ennodius, Panegyricus, 6,25, ed. Rohr, S. 212/214: Nata es felicis inter vos causa discordiae, dum erduelles animos in propinquorum tuorum necem Romana prosperitas invitavit. Generata est ab invalidis causa certandi [...]. Wolfram (2009), S. 281. Moorhead (1992), S. 17–27. Ennodius, Panegyricus, 8,42 und 8,45, ed. Rohr, S. 226/228: Qui dum munimentis chalybis pectus includeres, dum ocreis armarere, dum lateri tuo vindex libertatis gladius aptaretur, sanctam matrem et venerabilem sororem [...] his dictis excepit te tergo sonipes, lituorum desideriis inquietus. Sed dum indulsisti adfatibus, inimica legiones tuae premebantur instantia. Dedisti inertibus fiduciam [...]. PLRE II, S. 1131.

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heblichen Truppenkontingenten auf die Seite Theoderichs schlug, dann aber doch zu Odoaker zurückkehrte. Als Theoderich nach langer Belagerung Ravennas und einem eklatanten Friedensvertragsbruch seinen Widersacher im März 493 eigenhändig bei einem Gastmahl getötet hatte – eine drastische Darstellung bietet der zwischen dem 6. und 7. Jahrhunderts schreibende Chronist Johannes von Antiochia 63 – dürfte die personelle Zusammensetzung seiner Gefolgschaft sich bereits erheblich von der Ausgangssituation 488/9 unterschieden haben. Viele gotische Krieger waren umgekommen, viele neue Männer unterschiedlicher ethnischer Herkunft hinzugekommen. Diese Umwandlungen setzten sich fort, da nicht wenige Kämpfer Odoakers sich nach dem Tod ihres Königs in Theoderichs Dienste stellten. 64 DIE ERSTEN JAHRE IN ITALIEN Die erste Zeit nach dem erfolgreichen Kampf in Italien stellt einen entscheidenden Einschnitt in der gotischen Geschichte dar, weil die bis dahin überaus mobile Kriegergruppe fortan an festen Plätzen – in Städten, Festungen und Garnisonen – stationiert wurde und sich im Zuge der Umgestaltung des Verbandes in ein stehendes Heer die Basis für ihr Auskommen grundlegend veränderte. 65 Die Stationierung führte zudem dazu, dass sich die Goten nun auf ganz unterschiedliche Regionen Italiens verteilten. Siedlungsschwerpunkt war der Norden mit den königlichen Residenzen in Ravenna, Pavia und Verona. 66 Garnisonen lagen aber auch in anderen Teilen Italiens, zudem auf Sizilien, in der Provence sowie in Dalmatien. Wenn Theoderich seine waffenfähigen Männer fortan versammeln wollte, waren also Einberufungen und Aufmarschbefehle notwendig, die in alle Reichsteile kommuniziert werden mussten. Die Quellen legen nahe, dass es wenigstens einmal pro Jahr zu einer Art Musterung der Truppen kam, zu deren An-

63 Johannes Antiochenus, fr. 307, ed. Roberto, S. 526: Ὅτι Θεοδώριχος καὶ Ὀδόακρος συνθήκας καὶ ξυμβάσεις ἐποιήσαντο πρὸς ἀλλήλους ἄμφω ἡγεῖσθαι τῆς Ῥωμαίων ἀρχῆς, καὶ λοιπὸν ἧσαν αὐτοῖς ἐντεύξεις παρ’ ἀλλήλους φοιτῶσι συχναί. Οὔπω δὲ ἠνύετο ἡμέρα δεκάτη, καὶ, τοῦ Ὀδοάκρου, γενομένου παρὰ τὸν Θεοδώριχον, προσελθόνες τῶν αὺτοῦ ἄνδρες δύο τὰς τοῦ Ὀδοάκρο, ἅτε ἱκέται γενόμενοι, κατέχουσι χεῖρας. Μεθ’ ὅ τῶν προλοχισθέντων ἐν τοῖς παρ’ ἑκἀτερα οἰκίσκοις ἐπελθόντων ἅμα τοῖς ξίφεσιν, ἐκ δὲ τῆς θέας καταπλαγέντων καὶ οὐκ ἐπιτιθεμένων τῷ Ὀδοάκρῳ, Θεοδώριχος προσδραμὼν παίει τῷ ξίφει αὐτὸν κατὰ τὴν κλεῖδα, εἰπόντα δέ⋅ ‚ποῦ ὁ Θεός;‘ ἀμείβεται⋅ ‚τοῦτὸ ἐστιν ὅ καὶ σὺ τοὺς ἐμοὺς ἔδρασας.‘ Τῆς δὲ πληγῆς καιρίας καὶ μέχρι τῆς ὀσφύος διελθούσης τὸ Ὀδοάκρου σῶμα, εἰπεῖν φασι Θεοδώριχον ὡς⋅ ‚τάχα οὐδὲ ὀστοῦν ᾐν τῷ κακῷ τούτῳ.‘ 64 Berndt (2013). 65 Wiemer (2013), S. 609–610. Grundlegend jetzt Wiemer (2014) mit einer Analyse von Theoderichs Herrschaftskonzept in Italien. 66 Brogiolo (2007).

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lass die Soldaten mit Donativen (drei bis fünf solidi) und fallweise auch mit Auszeichnungen und der Verleihung hochrangiger Ämter rechnen konnten. 67 Die gotischen Familien, die seit vielen Jahren mit Theoderich gezogen waren, dürften – ausgestattet mit Land und regelmäßigem Sold – erstmals an festen Plätzen eine dauerhafte Bleibe gefunden haben. 68 In diesem Zusammenhang ist unweigerlich auf eine – mitunter cum ira et studio ausgetragene – Forschungskontroverse hinzuweisen, nämlich auf die Frage nach den spezifischen Ansiedlungsmodalitäten. Über drei Jahrzehnte Diskussion haben zu einer kaum mehr überschaubaren Fülle an Ergebnissen und Argumenten geführt, dabei auch zu Missdeutungen und Verzerrungen. Gegenüber stehen sich, grob vereinfachend gesagt, zwei Erklärungsmodelle für die Ansiedlung bzw. Versorgung der nach Italien gekommenen Verbände: Erhalt von Land 69 oder Zuweisung von Steueranteilen 70. Ohne im hier gebotenen Rahmen ins Detail gehen zu können, kann doch festgehalten werden, dass sich 493 und danach die Versorgung der bis zu diesem Zeitpunkt in hohem Maße mobilen gotischen Krieger grundlegend änderte. Es ist davon auszugehen, dass – wenn auch nicht alle und schon gar nicht alle mit gleich viel – gotischen Begleiter Theoderichs mit Land, nicht mit Steueranteilen, ausgestattet wurden 71. In diesem Sinne ist das an den Senat gerichtete Schreiben Theoderichs zu verstehen, in dem er den Senator und Prätoriumspräfekt Liberius für die Durchführung der Verteilung ausdrücklich lobt. 72 Ihre Ansiedlung brachte mit 67 Cassiodor, Variae 5,36, ed. Mommsen, S. 163. 68 Wiemer (2013), S. 610. 69 1844 hatte Ernst Theodor Gaupp die Ansiedlung der Ostgoten in Italien durch eine Ein Drittel/zwei Drittel-Landteilung nach dem ‚System‘ der spätrömischen hospitalitas erklärt. Siehe: Gaupp (1844), insb. S. 455–496. Diesem Modell folgte Mommsen in seinen Ostgothischen Studien (1889/1890). 1980 hat Walter Goffart ein anderes Erklärungsmodell vorgestellt, in dem er von einer Zuweisung von einem Drittel der Steuern, nicht einem Drittel Land, ausging (Goffart 1980, insb. S. 58–102), doch ist ihm die Forschung nur zum Teil gefolgt. Zustimmend etwa Durliat (1988); ablehnend z.B. Barnish (1986) und Liebeschuetz (1997). 70 Die Diskussion um die Ansiedlungsmodalitäten germanischsprachiger Verbände auf römischen Boden ist längst nicht beendet, Goffart (2010). Der jüngste Beitrag: Porena (2012) mit Nachzeichnung der Diskussionsgeschichte, S. 9–16. 71 Schon Odoaker war in der Lage, verdiente Anhänger mit Land zu belohnen, wie die Schenkungsurkunde an Pierius aus dem Jahre 489 nahelegt (P.Ital. 10 und 11, ed. Tjäder, S. 279– 293). Dazu Santifaller (1952). Land stand Theoderich schon allein deshalb zur Verfügung, da in dem vierjährigen Krieg sowohl italische Landbesitzer als auch eine erhebliche Anzahl der Gefolgsleute des Odoaker ums Leben gekommen waren. Wenn ein Großteil des zu verteilenden Landes aus solchen ‚Quellen‘ stammte, erklärt sich auch der geringe Protest, der den Maßnahmen des Liberius entgegengebracht worden zu sein scheint. 72 Cassiodor, Variae 2,16,5, ed. Mommsen, S. 55–56: Iuvat nos referre quemadmodum in tertiarum deputatione Gothorum Romanorumque et possessiones iunxit et animos [sc. Liberius]. nam cum se homines soleant de vicinitate collidere, istis praediorum communio causam videtur praestitisse concordiae: sic enim contigit, ut utraque natio, dum communiter vivit, ad unum velle convenerit. en factum novum et omnino laudabile: gratia dominorum de cespitis divisione coniuncta est; amicitiae populis per damna creverunt et parte agri defensor adquisitus est, ut substantiae securitas integra servaretur. Siehe auch Variae 1,18,2 (S. 24) und 3,35,2

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sich, dass nun die Möglichkeit bestand, von dem Zugeteilten ausgehend weiteren Besitz zu akkumulieren. Dass von diesen Möglichkeiten auch Gebrauch gemacht wurde, belegt der Fall des Amalers Theodahat. Dieser hatte umfangreichen Grundbesitz in Tuszien arrondiert, offenbar zum Teil unrechtmäßig. 73 Die Goten hatten also erhalten, was der König Jahre zuvor in Aussicht gestellt hatte. Die Männer waren fortan keine Krieger mehr, sondern Soldaten, die für die Sicherheit der Zivilbevölkerung Italiens und für Frieden zu sorgen hatten. Aus der Gewaltgemeinschaft war ein stehendes Heer geworden, auf das neue militärische Aufgaben zukamen. Ihr Anführer Theoderich war gewissermaßen vom Warlord zum Staatsmann geworden. Kriege hat Theoderich aber auch nach seinem Herrschaftsantritt in Italien regelmäßig geführt, so etwa 507/8 gegen die Franken, 509/11 in Spanien oder 524 gegen die Burgunder. Dabei gelang es dem König, das gotische Territorium ganz erheblich zu vergrößern. In den hinzugewonnenen Gebieten erhob er Steuern und Abgaben, so dass sich die Mittel, aus denen seine Soldaten versorgt wurden, nachhaltig vermehrten. Persönlich dürfte er zu einem der reichsten Männer im gesamten Westen geworden sein. Trotz diverser Abkommen geriet Theoderich auch mit dem Kaiser in militärische Konflikte, insbesondere in den Grenzregionen zwischen dem gotischen und dem oströmischen Reich: So sandte er beispielsweise im Jahre 504/5 seinen comes Pitzias 74 mit nicht weniger als 2.500 Männern ins heutige Serbien, um Sirmium zu erobern, einst eine Residenz der Westkaiser. In der Gegend des römischen Außenpostens Horreum Margi (Ćuprija, Serbien) kämpfte zeitgleich ein gewisser Mundo gegen oströmische Truppen. 75 Mundo hatte seine schlagkräftige Truppe aus „Strauchdieben, Räubern und Mördern“ rekrutiert, die „von der Beraubung der Umgebung“ lebten. 76 Genau dies sollten die römischen Soldaten unter Füh-

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(S. 97): Quidquid ex nostra ordinatione patricium Liberium tibi matrique per pittacium constiterit deputasse, in suo robore debeat permanere. Ins gleiche Horn stößt auch Ennodius in einem Schreiben an Liberius: Ennodius, Epistula 9,23,5, ed. Vogel, S. 307: tibi [sc. Liberio] post deum debetur quod apud potentissimum dominum et ubique victorem [sc. Theodericum] securi divitias confitemur. tuta enim tunc est subiectorum opulentia quando non indiget imperator. quid quod illas innumeras Gothorum catervas vix scientibus Romanis larga praediorum conlatione ditasti. nihil enim amplius victores cupiunt et nulla senserunt damna superati. Prokop, BG 1,3,2–3 und 1,4,1–3, ed. Veh, S. 22/23 und S. 28/29; vgl. Cassiodor, Variae 4,39, 5,12 und 10,4,4, ed. Mommsen, S. 131, S. 149–150 und S. 300. Aus der Perspektive des Gregor von Tours, Historia Francorum 3,31 war Theodahat sogar König von Tuszien (rex Tusciae), ed. Krusch/Levison, S. 127; siehe dazu Castritius (1982), S. 220. PLRE II, S. 886–887. Croke (1982); PLRE II, S. 767–768. Pohl (1980) hat die Rolle Mundos ausführlich behandelt und dabei (S. 292–293) von einem „Musterbeispiel für eine gentile Karriere im Barbaricum und Imperium“ gesprochen. Jordanes, Getica LVIII, 301, ed. Mommsen, S. 135: Nam hic Mundo de Attilanis quondam origine descendens Gepidarum gentem fugiens ultra Danubium in incultis locis sine ullis terrae cultoribus divagatus et plerisque abactoribus scamarisque et latronibus undecumque collectis turrem quae Herta dicitur super Danubii ripam positam occupans ibique agresti ritu praedasque innectens vicinis regem se suis grassatoribus fecerat. hunc ergo pene desperatum et

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rung des magister militum per Illyricum Savinianus 77 unterbinden und tatsächlich standen sie offenbar kurz vor einem erfolgreichen Abschluss der Militäroperation. Doch mithilfe des gotischen Verbandes ließ sich das Blatt noch wenden. Theoderich unterstützte also einen Feind Ostroms gegen die regulären kaiserlichen Verbände, verletzte dabei oströmisches Territorium und provozierte auf diese Weise eine Auseinandersetzung mit Kaiser Anastasios I. (491–518). 78 Obwohl also im Kriegszustand mit den Goten, verzichtete der Kaiser auf einen offenen Schlagabtausch und nahm die territorialen Verluste zugunsten des gotischen Einflussbereiches hin. Im Gegenzug setzte er aber in den kommenden Jahren alles daran, die gentile Bündnispolitik des Amalers zu torpedieren. FAZIT Der Personenverband, den man als Kriegergruppe Theoderichs ansprechen kann, existierte etwa ein halbes Jahrhundert lang. In dieser Zeit war er zahlreichen strukturellen Veränderungen unterworfen. Als sich die Kriegergruppe zu Beginn der 470er Jahre formierte, zeigte sie alle Charakteristika einer Gewaltgemeinschaft, wenn man den oben dargelegten Kriterien folgen möchte. Ihre Rolle als gefürchtete Gewaltakteure behielten die Goten während der gesamten Dauer ihres Aufenthaltes im oströmischen Einzugsbereich bei, unterbrochen nur durch einige wenige Phasen, in denen Verträge und Kooperationen mit dem Kaiser, aber auch mit parallel agierenden Warlords geschlossen werden konnten. Doch solange sich die Goten im Osten aufhielten, gelang es Theoderich nicht, eine dauerhafte Versorgung zu gewährleisten, geschweige denn eine feste Bleibe für seinen Verband zu finden. Diese Erkenntnis dürfte schließlich dazu geführt haben, den Auftrag Zenons anzunehmen und sich mit seiner Gefolgschaft in den Westen aufzumachen. Erst nach diesem Zug nach Italien, wo es seit 476 keinen Kaiser mehr gab, und mit dem erfolgreichen Krieg gegen den ‚Tyrannen‘ Odoaker waren die Voraussetzungen geschaffen, eine neue und stabilere Basis für das Auskommen der Goten zu schaffen als je zuvor. Die Zeit des beinahe permanent mobilen Lebens war damit beendet – dies dürfte insbesondere für die vielen, in den Quellen in der

iam de traditione sua deliberantem Petza subveniens e manibus Saviniani eripuit, suoque regi Theodorico cum gratiarum actione fecit subiectum. Auch Marcellinus Comes, Chron. 505, ed. Mommsen, hat einen Eintrag zu diesen Kämpfen (S. 96): Idem Sabinianus Sabiniani Magni filius ductorque militiae delegatus contra Mundonem Getam arma construxit. Decem milia armatorum sibimet adscitorum plaustraque armis atque conmeatibus secum trahens pugnaturus accessit. C ommissoque ad Horreo Margo proelio multis suorum militibus in hoc conflictu perditis et in Margo flumine enecatis, amissis praeterea plaustris in castellum, quod Nato dicitur, cum paucis fugit. Tanta in hoc lamentabili bello spes militum cecidit, ut quantum apud mortales nequaquam potuerit reparari. Dazu Berndt (2011), S. 131–134. 77 PLRE II, S. 967–968. 78 Zu ihm siehe Haarer (2006) und zuletzt ausführlich Meier (2009).

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Regel unerwähnten Familien und Angehörigen der Krieger ein großer Vorteil gewesen sein. Um das Auskommen seiner Gefolgsleute zu sichern, hatte Theoderich (unter tatkräftiger Mithilfe römischer Amtsträger) überwiegend gut austarierte Kompromisse und letztlich für alle Beteiligten einträgliche Kooperationen ausgehandelt. In Italien ersetzten im Wesentlichen Steuern und Abgaben Beute, Schutz- und Lösegelder sowie Jahrgelder als Einnahmequelle. Dass die italischen Eliten zu Kooperationen mit dem König und seinen Männern bereit sein könnten, hatte sich schon früh angedeutet, als geistliche und weltliche Würdenträger den Goten 489/90 in Mailand und vielleicht auch in Verona empfangen hatten. 79 Außerdem hatten sich einige der führenden Senatoren auf die Seite Theoderichs geschlagen, noch bevor der Ausgang des Krieges überhaupt absehbar war. Sie hatten kurz nach der Schlacht an der Addua im Jahr 490 eine Gesandtschaft nach Konstantinopel zum Kaiser geschickt, und zwar unter der Leitung des caput senatus Festus, die im Namen Theoderichs agierten sollte. 80 Nach 493 war die Suche nach Wegen, mit den „Großen“ in Italien zu einem für beide Seiten akzeptablen Miteinander zu kommen, eine der Hauptaufgaben Theoderichs geworden. Diese Herausforderung war eng verzahnt mit der Pflicht, seine Gefolgschaftsleute angemessen zu entlohnen, ihnen neue Aufgaben zuzuweisen und ihnen das in Aussicht gestellte Siedlungsland zu geben. Darin lag erhebliches Konfliktpotential, da die Versorgung der gotischen Familien auf Kosten der grundbesitzenden senatorischen Eliten zu geschehen hatte, auch wenn dem Goten der sicher beachtliche Besitz Odoakers und der seines unmittelbaren Gefolges in die Hände gefallen war. Der König war klug genug, einen sehr angesehenen Römer mit dieser Aufgabe zu betrauen und, soweit wir wissen, Gewaltmaßnahmen im Ansiedlungsprozess zu vermeiden. Dies war eine wichtige Voraussetzung dafür, dass zukünftig ein Zusammenleben im Reich Theoderichs möglich war. 81 Gleichwohl sollte aus der Perspektive der königlichen Kanzlei die Bevölkerung Italiens ethnisch, rechtlich und funktional zweigeteilt bleiben. Und tatsächlich bestanden ja – ganz abgesehen davon, dass die Goten gegenüber den Römern allein zahlenmäßig nur eine kleine Minderheit darstellten – zwischen beiden Gruppen einige separierende Grenzen, die über die gesamte Herrschaftszeit Theoderichs fortbestanden, ja mitunter bewusst aufrecht gehalten wurden. Erstens oblag allein den Goten der gesamte militärisch-kriegerische Bereich, wohingegen die Römer Zivilisten waren. Zweitens der Konfessionsunterschied: Der überwiegende Teil der Goten bekannte sich zur ‚arianischen‘, besser homöischen, Kirche. Die Römer hingegen waren katholischnizänische Christen. 82 Und drittens behielt die gotische Sprache nicht nur im li79 Auctarium Havniensis s.a. 490, ed. Mommsen, S. 317; Anonymus Valesianus II, 50, ed. Mommsen, S. 316; Ennodius, Vita Epiphanii 109–110, ed. Cesa, S. 62. 80 Anonymus Valesianus II, 53, ed. Mommsen, S. 316: […] et mittens legationem Theodericus Festum caput senati ad Zenonem imperatorem et ab eodem sperans vestem se induere regiam. 81 Wiemer (2007). 82 Amory (1997), S. 256–263; Berndt/Steinacher (2014).

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turgischen Bereich eine gewisse Bedeutung. 83 Als Gewaltgemeinschaft hatten die gotischen Krieger aber – vorerst – ausgedient. QUELLENVERZEICHNIS Anonymus Valesianus, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 9 = Chronica Minora 1), Berlin 1892 (ND München 1981), S. 306–328. Auctarium Prosperi Havniensis, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 9 = Chronica Minora 1), Berlin 1892 (ND München 1981), S. 305–339. Cassiodor, Variae, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 12), Berlin 1894. Ennodius, Epistula, ed. Friedrich Vogel (MGH AA 7), Berlin 1885 (ND München 1995). Ennodius, Panegyricus, ed. Christian Rohr (MGH Studien und Texte 12), Hannover 1995. Ennodius, Vita Epiphanii, ed. Maria Cesa (Biblioteca di Athenaeum 6), Como 1988. Gregor von Tours, Historia Francorum, ed. Bruno Krusch – Wilhelm Levison (MGH SS rer. Merov. 1/1), Hannover 1951 (ND 1965). Johannes von Antiochia, fr. (Fragmente), ed. Umberto Roberto, Berlin/New York 2005. Jordanes, Getica (= De origine actibusque Getarum), ed. Theodor Mommsen (MGH AA 5/1), München 1882 (ND Berlin 1982), S. 53–138. Malchos von Philadelpheia, fr. (= Fragmente), ed. Roger C. Blockley (The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire 2), Liverpool 1983, S. 402–473; ed. Lia Raffaella Cresci (Byzantina et Neo-Hellenica Neapolitana 9), Neapel 1982. Marcellinus Comes, Chronicon, ed. Theodor Mommsen (MGH AA 11 = Chronica Minora 2), Berlin 1894. P.Ital. (= Die nichtliterarischen lateinischen Papyri Italiens aus der Zeit 445–700), ed. Jan-Olof Tjäder, 3 Bde., Lund/Stockholm 1954–1982. Priskos, fr. (= Fragmente), ed. Roger C. Blockley (The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire 2), Liverpool 1983, S. 223–400; ed. Karl Müller (Fragmenta Historicorum Graecorum IV), Paris 1851, S. 69–110. Prokop, BG (= Gotenkriege), ed. Otto Veh (Werke II, Sammlung Tusculum), München 1978.

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DIE ‚NEUE DEUTSCHE VERFASSUNGSGESCHICHTE‘ IM SPIEGEL EINES QUALITATIVEN FORSCHUNGSANSATZES Einige Fragen nach der Verwendbarkeit des Deutungswerkzeuges ‚Kriegermodus‘ anhand östlicher und westlicher Quellen David Jäger ZUSAMMENFASSUNG Im vorliegenden Beitrag wird auf der Grundlage methodologischer Überlegungen ein qualitativer Ansatz und ein daraus resultierendes Deutungswerkzeug (‚Kriegermodus‘) vorgestellt, dessen Verwendbarkeit anhand von zwei empirischen Abschnitten dargelegt wird. Der erste empirische Abschnitt umfasst Quellenaussagen zu dem ‚hunnischen‘ Sozialgefüge zu der Zeit Attilas und der zweite Quellenaussagen zu den militärischen Operationen König Eurichs in der civitas Clermont. Der Text endet mit einer Reflektion der Ergebnisse, um den Ansatz und die Verwendbarkeit des Deutungswerkzeugs abschließend kommentieren zu können. EINLEITUNG Vor gut 30 Jahren hielt Peter Moraw in dem von ihm verfassten Abschnitt des Artikels ‚Herrschaft‘ im dritten Band des Lexikons „Geschichtliche Grundbegriffe“ fest, dass das Lehrgebäude – gemeint ist das Paradigma der ‚germanischen Kontinuität‘ 1 – der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ eindrucksvoll geschlossen und vor allem ein Werk Walter Schlesingers sei. 2 Freunde des Kritischen Rationalismus mögen die Zeilen als Aufforderung verstehen: Auf zur Falsifikation! Allerdings ist dieses Verfahren der Widerlegung deduktiver Modelle untypisch für die Mediävistik. Konzeptspezifikation und Operationalisierung sind in der geschichtswissenschaftlichen Forschung an sich eher unüblich, oder? Mehr interessieren die argumentativ-quellenkritischen Ansätze, die dazu dienen, Annahmen zu explizieren und empirisch zu sättigen. Tatsächlich ist eine Falsifikation auch gar nicht nötig: Die Worte Moraws stimmten schon im Jahr 1982 nicht.

1 2

Zur Formierung des Paradigmas der ‚germanischen Kontinuität‘ Graus (1986), S. 559–573. Vgl. Moraw (1982), S. 7.

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Der ausdrücklich erwähnte Walter Schlesinger 3 – die Namen Otto Brunner 4 und Otto Höfler 5 nennt Moraw gar nicht – hatte schon in den 1950er Jahren mit Hans Kuhn 6 und František Graus 7 eine intensive Debatte über das Konzept der ‚Gefolgschaft‘ sowie das konstitutive Theorem der ‚germanischen Treue‘ geführt und Zugeständnisse machen müssen. 8 Auch der Zentralbegriff ‚Herrschaft‘ wurde dabei tangiert. 9 Die Debatte setzte sich in den 1960er Jahren fort 10 und am Ende des Jahrzehnts stellte Karl Kroeschell fest, dass die Kategorien der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ genauso historisch bedingt sind wie die Systematik der klassischen Rechts- und Verfassungsgeschichte. 11 Die Kritik an dem Paradigma der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ lässt sich abseits der zutreffenden Kritik an seiner Zeitgebundenheit 12 unter zwei methodischen Aspekten zusammenfassen. Das ist zum einen der empirische Gehalt einiger Konzepte 13 und zum anderen sind dies die daraus resultierenden Hy3 4

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Zur Person und zum Werdegang Schlesingers vgl. Petersohn (2001), S. 349–360 und Nagel (2005), S. 92–144. Die weitreichende Bedeutung der Arbeiten Brunners für die Formation des Paradigmas der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ ist nicht zu bestreiten. Auf ihn bezieht sich Schlesinger bei seiner Verteidigung gegen Kuhn ausdrücklich. Vgl. Schlesinger (1963), S. 36f. Zur Bedeutung Brunners Oexle (1984), S. 305ff. und Blänkner (2003), S. 326ff. sowie Oexle (2005), S. 71. Zur Person und zum Werdegang Brunners insgesamt Jütte (1984) und Oexle (2000), S. 23 sowie Oexle (2005), S. 91. Zur Person und zum Werdegang Höflers insgesamt Zernack (2005). Dazu insgesamt Kuhn (1956). Dazu insgesamt Graus (1959). Vgl. Schlesinger (1963), S. 41–59. Zur Zusammenfassung der einzelnen Standpunkte in der Debatte um den Begriff ‚Herrschaft‘ Pohl (1999), S. 447–452 und Patzold (2006), S. 133–139 sowie Patzold (2008), S. 30–36. Vgl. Graus (1965), S. 313–334. Zusätzlich insgesamt Graus (1966). Für einen Überblick zur gesamten Debatte Schneidmüller (2005), S. 493–499. Vgl. Kroeschell (1968), S. 52f. Für Beispiele hierzu von See (1983), S. 29–38; Oexle (1984), S. 316–321; Graus (1986), S. 559–573; Ehlers (2000), S. 49f.; insgesamt Oexle (2000); Schneidmüller (2005), S. 488–491; Nagel (2005), S. 24ff. und Pohl (2006), S. 11f. Beispielsweise ist das Konzept des ‚sakralen Königtums‘ bei den ‚Germanen‘ auf der Grundlage der Quellen nicht haltbar. Zum Konzept mit Bezug auf seine älteren Arbeiten insgesamt Höfler (1956). Versuche der Rettung des Konzepts schlugen wegen der kaum vorhandenen Quellenlage fehl. Die Kritik zusammenfassend Erkens (2006), S. 80–87. Ein weiteres Beispiel ist das Konzept ‚Gefolgschaft‘. Gefolgschaft wurde von Schlesinger als historisches Phänomen aufgefasst, dessen Prinzip die ‚germanische‘ Treue schlechthin sei. Vgl. Schlesinger (1964), S. 147–150. Der Text wurde erstmals 1953 in der Historischen Zeitschrift abgedruckt. Für dieses Verständnis erneut Schlesinger (1964), S. 21–41, bes. S. 36f. Dieses Verständnis ist problematisch, denn Treue ist nicht spezifisch ‚germanisch‘. Vgl. Graus (1959), S. 120 und Graus (1966), S. 9. Zusammenfassend zu dieser Kritik Pohl (2004b), S. 70–72. Auch war Treue für ein historisches Phänomen Gefolgschaft nicht begründend. Beispielsweise umfasst die von Schlesinger zitierte Stelle in der Germania des Tacitus zum comitatus keine Aussagen zur Treue. Vgl. Schlesinger (1964), S. 147, Anm. 26. Dazu Tacitus, germ., ed. Fuhrmann, S. 23f. Treue war kein rein normativer Begriff der ‚Germanen‘. Vgl. von See (1964), S. 204–221. Vielmehr wurde unter dem Namen ‚germanische Treue‘ ein Theorem konstitutiv für das Konzept ‚Gefolgschaft‘ verwendet. Erkannt wurde dies zuerst von Graus

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pothesen. 14 Den Kritikpunkten ist weitgehend zuzustimmen. 15 Mittlerweile ist die Debatte zu Gunsten der Antagonisten Schlesingers entschieden, wie beispielsweise Walter Pohl unlängst in mehreren seiner Arbeiten verdeutlicht hat, 16 wobei er in einem Aufsatz zum aktuellen Forschungsstand bedauert, dass die Debatte hinsichtlich der Methodik nie zu Ende geführt wurde. 17 Daran gilt es anzusetzen, will man nicht nur eine Problematik zur Kenntnis nehmen, sondern diese als eine Chance ergreifen. Mit dem vorliegenden Beitrag wird dies getan. Dabei geht es nicht darum, ein stärkeres Programm zu etablieren, sondern darum, ein anders gelagertes Verfahren anzubieten. Anfänglich sind vergleichend zur Verfahrensweise der Modellierung des Paradigmas der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ einige methodologische Überlegungen dargelegt. Dabei wird ein qualitativer Ansatz erörtert und auf dessen Basis ein Deutungswerkzeug – der ‚Kriegermodus‘ – expliziert. Im Anschluss daran werden die heuristischen Effekte des Werkzeugs exemplarisch in zwei empirischen Abschnitten verdeutlicht. Diese umfassen Aussagen zum ‚hunnischen‘ Sozialgefüge zur Zeit Attilas und zu den militärischen Operationen Eurichs in der civitas Clermont. Im Schlussteil werden die Ergebnisse reflektiert und in Bezug auf den Ansatz und die Verwendbarkeit des Deutungswerkzeugs kommentiert.

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(1959), S. 74. Später ging er dann dezidiert auf die Bedeutung der Treue als Theorem für das Paradigma ein. Graus (1966), S. 13–25. Dass die Freien in eine statische Gefolgschaftsordnung eingebunden gewesen sein sollen, kritisierte bereits Kuhn. Vgl. Kuhn (1956), S. 3. Dies endete mit dem Integrationsversuch der dabei verwendeten Terminologie. Vgl. Wenskus (1961), S. 347f. Kritisch zur Terminologie Schlesinger (1963), S. 25ff. In diesem Kontext wurde das Wort Gefolgschaft zu einer modernen Ordnungskategorie erklärt. Vgl. Wenskus (1961), S. 348. Dazu erneut Wenskus (1992), S. 311. Ebenso ist die Annahme, die ‚Haus-Herrschaft‘ sei eine Grundform von ‚Herrschaft‘, hypothetisch. Somit war auch die ‚Gefolgs-Herrschaft‘ als eine aus der ‚Haus-Herrschaft‘ resultierende weitere Grundform von ‚Herrschaft‘ als Hypothese erfasst. Vgl. Kroeschell (1968), S. 28–45. Insofern wurde erst mit der Debatte um das Paradigma der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ deutlich, dass es sich um eine Theorie handelt. Zu der Kritik am empirischen Gehalt weiterführend Graus (1959), S. 120f.; von See (1964), S. 220f.; Graus (1965), S. 313ff.; Graus (1966), S. 7ff. und S. 42ff.; von See (1972), S. 10ff.; Ehlers (2000), S. 72f.; Schneidmüller (2005), S. 488 und Pohl (2006), S. 12. Zu der Kritik an den hypothetischen Zusammenhängen weiterführend Kuhn (1956), S. 3ff.; Graus (1966), S. 21ff.; Kroeschell (1968), S. 48ff.; von See (1972), S. 3–10; Vollrath (1982), S. 36f.; Graus (1986); S. 569ff.; Pohl, (2004b), S. 70ff. und Patzold (2008), S. 30ff. Überblickend zur weiteren Kritik an differenten Konzepten und Hypothesen Graus (1986), S. 569ff. und Pohl (2006), S. 10–13. Beispiele hierzu sind Pohl (1999), S. 452–455; Pohl (2004b), S. 65–72 und Pohl (2006), S. 11–13. Indirekt mit dem Fokus auf den Germanenbegriff Pohl (2004a), S. 176–178. Vgl. Pohl (2006), S. 12.

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PROBLEME DER METHODIK ALS CHANCE: ÜBERLEGUNGEN ZU EINEM QUALITATIVEN FORSCHUNGSANSATZ Die Kritik an dem Paradigma der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ hat dazu geführt, dass es in seiner geschlossenen Form nicht mehr zu halten war und zumindest einige Konzepte kaum noch verwendet werden. Wie aber kam es dazu, dass Hypothesen und Konzepte geglaubt 18 und nicht empirisch überprüft wurden? Was war – und dies interessiert aus der Perspektive des vorliegenden Beitrags aus methodologischer Sicht 19 – passiert und was lässt sich daraus lernen? Seinen Anfang nahm das Paradigma mit der Forderung Otto Brunners 20 nach einer Revision der Grundbegriffe. 21 Danach – das mag bei den Versuchen der Abgrenzung zur modernen Terminologie und der Bemühung um Quellennähe22 überraschen – bediente man sich eines Vorgehens, das aus heutiger Sicht als fast lehrbuchmäßig zu bezeichnen ist. Jedoch findet sich dieses nicht in einem geschichtswissenschaftlichen Lehrbuch, sondern in einem Lehrbuch der quantitativen Sozialforschung. Das Vorgehen betrifft vor allem den zentralen Begriff ‚Herrschaft‘. 23 Während Otto Brunner Herrschaft definierte, legte Walter Schlesinger genauer die unterschiedlichen Bereiche fest, in denen Herrschaft im Mittelalter gegeben ist. Mit diesen wenigen Schritten waren dann einige Probleme entstanden: Erstens war nicht mehr Herrschaft als unspezifisches Konzept, sondern als ein sehr spezifischer Begriff gegeben. 24 Jedoch wurde mit der Definition (Konzeptspezifikation) 25 das Wort den quellenimmanenten Zusammenhängen entzogen. 26 Zweitens 18 Vgl. Schneidmüller (2005), S. 487. 19 Neben den methodischen Änderungen wurden Bezüge zur älteren deutschsprachigen Geschichtsforschung hergestellt. So ist zum Beispiel auch der Versuch zur Rückkehr zum weiten Verfassungsbegriff von Georg Waitz nachzuvollziehen. Zu diesem weiten Verfassungsbegriff Grothe (2005), S. 32. Zu der Bedeutung Waitzens für die Grundannahme einer ‚germanischen Kontinuität‘ Ehlers (2000), S. 50. 20 Dies zuerst bei einem Vortrag auf dem 19. Historikertag vom 5–7 Juli 1937 in Erfurt. Zu diesem Historikertag Schumann (1974), S. 406–434. Für den Vortrag mit der Forderung Brunners insgesamt Brunner (1937). 21 Dies geschah nach der allmählichen Verengung der deutschsprachigen Geschichtsforschung zum Mittelalter auf einen primär rechtstheoretischen Begriffsapparat. Vgl. Graus (1986), S. 558–568. 22 So schon 1937 Brunner (1937), S. 406ff. 23 Die Debatte zum Begriff überblickend Pohl (2006), S. 16–38. Aktuelle Beiträge zur neueren Diskussion zum Konsens zusammenfassend Patzold (2008), S. 33, Anm. 92. Mit einem Verweis auf den Aspekt der Konkurrenz in Anbetracht der Überlegungen zum Konsens für ‚Herrschaft‘ Patzold (2007), S. 102f. 24 Dies ist beispielsweise auch durch Max Weber getan worden und als solches nicht problematisch. Vgl. Weber (2005), S. 157. 25 Zwar schreibt Brunner, dass zu erfragen ist, was das ‚Wesen‘ des gemeinsamen Elements Herrschaft sei. Brunner (1939), S. 276. Er hält dann aber fest, dass Treue und Huld, Schutz und Schirm, Rat und Hilfe das ‚Wesen‘ der Herrschaft ausmachen. Brunner (1939), S. 505. Insofern ist Herrschaft sehr wohl inhaltlich bestimmt worden, auch wenn der Terminus ‚Wesen‘ und die übrigen Termini als unspezifisch erkannt wurden. Vgl. Algazi (1999), S. 183ff.

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hat es unter dem Postulat der Grundsätzlichkeit Dimensionen zugewiesen bekommen, auf die der spezifische Begriff ‚Herrschaft‘ zutreffen soll (Operationalisierung). 27 Nach Schlesinger sind dies eigentlich fast alle Bereiche sozialer Interaktion. 28 Aus dem Wunsch nach Quellennähe resultierte die Genese von theoretischen Kategorien. Die damit verbundene Problematik erkannte nach dem zweiten Weltkrieg selbst Otto Brunner: 29 Die Kategorien verstellten den Blick auf die Quellentexte mehr als ihn zu öffnen, wie dann auch in der Debatte in den 1950er und 1960er Jahren herausgestellt wurde. Daraus zu lernen heißt, eine prinzipielle Drei-Ebenen-Gliederung vorzunehmen. Die Quellen und die geschichtswissenschaftliche Deutung der Quellen sind nun mal einfach nicht dasselbe. Diese weitverbreitet diskutierte Problematik erkannte vom Prinzip her beispielsweise auch René Magritte. Eines der Bilder Magrittes ist daher von Michel Foucault zum Thema eines Vortrages gemacht worden. 30 Das Verhältnis der Ebenen lässt sich mittels der begrifflichen Einteilung einer Säule beschreiben: Während die Quellenebene die Basis darstellt, ist die Deutungsebene das Kapitell. Verbunden sind beide Ebene durch die Methodenebene – den Schaft. Es lässt sich aber noch Weiteres lernen. Fatal für das Paradigma der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ war besonders, dass die erwähnten Schritte unter der Leitidee einer ‚germanischen Kontinuität‘ getätigt wurden. Dabei sind unter dem Label ‚Germanisch‘ Quellen

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Zur Kritik an Wesens- oder Realdefinitionen Esser/Hill/Schnell (2008), S. 51f. Brunner gab im Prinzip aber gar keine Wesensdefinition, auch wenn er das Wort ‚Wesen‘ gebraucht. Das Definiendum ‚Herrschaft‘ wurde mit dem Definiens ‚Treue und Huld, Schutz und Schirm, Rat und Hilfe‘ gefüllt, was selbstredend aus heutiger Sicht äußerst inkonsistent erscheint. Brunners Vorgehen wird in der quantitativen Sozialforschung als Konzeptspezifikation gefasst. Vgl. Esser/Hill/Schnell (2008), S. 128. Nach Karl Kroeschell wurde dies auch von Algazi kritisiert. Vgl. Kroeschell (1968), S. 48–53 und umfassend dazu insgesamt Algazi (1999). Schlesinger (1964), S. 135 und 142ff. In der empirischen Sozialforschung folgt auf die Konzeptspezifikation die Operationalisierung des definierten Begriffs. Es werden beobachtbare Sachverhalte den Merkmalen, die der theoretische Begriff umfasst, zugeordnet. Vgl. Esser/Hill/Schnell (2008), S. 129f. Durch das Vorgehen Schlesingers wurde ‚Herrschaft‘ jedoch mehr zu einer Konstante und nicht zu einer Variablen. Die Grundsätzlichkeit von ‚Herrschaft‘ hatte Brunner davor schon betont. Beispielsweise Brunner (1939), S. 276 und S. 505. So galt die ‚Gefolgsherrschaft‘ als Grundform der ‚Herrschaft‘ über Freie, die auf einer wechselseitigen ‚Treue‘ basiert und sich in Schutz und Schirm sowie Rat und Hilfe ausdrückt. Schlesinger (1964), S. 147. Nach Schlesinger war versucht worden, ‚Treue‘ – mittlerweile ganz eindeutig ein konstitutives Theorem – ebenfalls einer Konzeptsspezifikation zu unterziehen. Vgl. Fritze (1954), S. 85f. Sie wurde später von Schlesinger in der Debatte mit Graus positiv aufgenommen. Vgl. Schlesinger (1963), S. 38f. Er ergänzte sie noch. Vgl. Schlesinger (1963), S. 55f. Daher ist nicht überraschend nachzuvollziehen, dass die methodische Kritik an dem Konzept ‚Gefolgschaft‘ ansetzte, dann das Theorem ‚Treue‘ erfasste und letztlich auch der Zentralbegriff ‚Herrschaft‘ in Frage gestellt wurde. Vgl. Pohl, (1999), S. 447. Schlesinger nennt auch Bereiche genossenschaftlicher Interaktion. Vgl. Schlesinger (1964), S. 135f. Vgl. Brunner (1956), S. 8ff. Dazu insgesamt Foucault (1997).

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aus differenten Räumen und Zeiten zusammengetragen worden. 31 Mit diesem Vorgehen war die Idee eines ‚einheitlichen Germanentums‘ plausibilisiert. 32 Allerdings war damit auch Indifferenz geschaffen, die dazu führte, dass die Konzepte hypothetisch in Bezug auf einzelne Quellen wurden. Es war nicht klar, was quellenimmanent und was hypothetisch war. Die Quellenaussagen wurden also für die Sättigung der Terminologie funktionalisiert, ohne dass die Termini im Fokus kritischer Betrachtungen standen, obwohl Quellenkritik doch für die geschichtswissenschaftliche Forschung unumgänglich ist. Aber in diesem Sinne funktioniert die Terminologie der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ nicht. Es entstand ein (wenn auch nicht stets geschlossenes) deduktives Modell;33 nur dessen Falsifikation wurde nicht angestrebt. Sie musste schrittweise erstritten werden und die methodologischen und auch gedanklichen Implikationen stellen heute noch – besonders mit dem speziellen Begriff ‚Herrschaft‘ – Herausforderungen dar. War aber Herrschaft immer gleich oder eher eine von unterschiedlichen Bedingungen abhängige Variable, die historisch differente Ausprägungen annehmen konnte? Stimmt man der zweiten Möglichkeit zu, dann ist Herrschaft an den Quellen empirisch zu erfragen und eben kein theoretischer Faktor. Ein solcher Ansatz ist als eine Form quellenkritisch-argumentativer Quellenforschung über die Formulierung von Fragestellungen und Annahmen auf der Deutungsebene realisierbar. Solche Annahmen sind hinsichtlich ihrer Entstehung intersubjektiv nachvollziehbar, wodurch sie überprüfbar bleiben. Auch sind Annahmen, die nicht durch diesen Ansatz expliziert wurden, mit diesem Verfahren zu überprüfen. Wie ist dies aber insgesamt zu gewährleisten? Ein Mittel dazu ist eine deutungstechnische Terminologie. Dieser Ansatz soll nun an einem konkreten Beispiel erörtert werden. Dazu anfänglich Grundlegendes: Es kann nicht darum gehen, Quellen und Deutung über die Drei-Ebenen-Gliederung scharf zu trennen, denn die Quellentexte sind bereits vor der eigentlichen Untersuchung Gegenstand der Überlegungen zu der Umsetzung eines Untersuchungsvorhabens. Stellt man beispielsweise die Frage, wie Konflikt und Krieg die Lebensweisen von Akteuren in Spätantike und im Frühmittelalter als Bedingungen dieser beeinflusst haben, ist dies bereits Ergebnis der Beobachtung, dass viele Aussagen dazu in den Quellentexten gegeben sind. Diese Akteure konnten selbst Krieger sein. Es empfiehlt sich aufgrund der interessierenden Frage, das ‚Kriegersein‘ als analytischen Terminus mit einem die Frage tangierenden Aspekt zu präzisieren. Dem analytischen Terminus ‚Kriegersein‘ kommt dabei eine deskriptive Funktion zu, denn die Aussage, dass Menschen im 5. und im 6. Jahrhundert in Europa Krieger sein konnten, ist in Bezug auf die Quellenaussagen auf der geschichtswissenschaftlichen Deutungsebene als beschreibend aufzufassen. Unter Berücksichtigung der Frage ist die Präzision auf 31 Dies erkannte bereits Graus (1966), S. 19ff. 32 Vgl. Graus (1986), S. 572. 33 Vgl. Graus (1986), S. 568. Bemerkenswert ist auch, dass die Ausführungen von Höfler bereits im Jahr 1943 von Hermann Aubin angegriffen wurden, obwohl dieser mit den zeitgenössischen Deutungen und Ideen sonst weitgehend übereinstimmte. Aubin (1943), S. 258–261.

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der Deutungsebene mit dem Plündern konstituiert. Das Plündern ist als Erwerbspraktik von materiellen Gütern und Ressourcen definiert. 34 Insofern ist das ‚Kriegersein‘ als Erwerbsweise – als ein Modus 35 – auf der Deutungsebene erfasst. Die Präzision des ‚Kriegerseins‘ als ein durch eine ökonomische Praktik konstituierter Modus sozialer Interaktion ist demnach kein reiner Befund, sondern eine auf selektive Beobachtungen fußende Konzeption der Deutung. Es geht ausdrücklich nicht um eine Typologisierung mit einer intendierten Entsprechung bezüglich einer Entität. Es geht um einen Aspekt – den Erwerb von materiellen Gütern und Ressourcen durch das Plündern – zu dem Aussagen in den Quellen vorhanden sind. Welche Effekte dieses Deutungswerkzeug hat, wird nun im Folgenden gezeigt.

34 Das Plündern als eine Erwerbpraktik im Frühmittelalter umfassend fokussierend Bodmer (1957), S. 68–78. Dies ebenfalls – jedoch aus einer anderen Perspektive – akzentuierend Scheibelreiter (1999), S. 285–340. Ähnlich wie Bodmer, jedoch mit dem Fokus auf Gold als zu plünderndes Gut bzw. Ressource Hardt (2004), S. 161–186. Das Plündern als Erwerbspraktik in Bezug auf die ‚Germanen‘ vor der Völkerwanderung beachtend Dick (2008), S. 180–202. Das Plündern als Erwerbspraktik in hagiographischen Texten untersuchend insgesamt Castritius (2009). Für das Plündern als Erwerbspraktik im europäischen Frühmittelalter bereits 1985 insgesamt die englischsprachige Arbeit Reuter (1985). Siehe auch die Beiträge in Carl/Bömelburg (2011). Jedoch sind die Beiträge zumeist zeitlich nicht auf das Frühmittelalter bezogen. 35 Der Kriegermodus deckt also nicht das gesamte ‚Kriegersein‘ in der Spätantike und dem Frühmittelalter in Europa ab. Er fokussiert neben anderen Modi wie dem Bauern-, dem Handwerker-, dem Händler- und dem Räubermodus eine sozioökonomische Praktik, wobei diese eben nicht nur durch Erwerbs-, sondern auch durch Produktionspraktiken konstituiert sind. Daher ist festzuhalten, dass der Kriegermodus eines von mehreren Deutungswerkzeugen ist, die unter der Überschrift Konzepte der Lebensweisen summiert werden können. Diesen Konzepten ist gemein, dass sie eben mit einer Quellenuntersuchung über die deskriptive Funktion analytischer Termini an empirischer Konsistenz gewinnen können, wobei sie weiterhin für das spezifische Quellenmaterial hinsichtlich der Deutung deskriptiv bleiben. Es geht also nicht um eine Art der Beiordnung quellenimmanenter Aussagen zur Fundierung von theoretischen Konzepten wie dies bei der Modellierung des Paradigmas der ‚Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte‘ der Fall ist. Tatsächlich sind aber der Ackerbau und die Viehzucht als Produktionspraktiken im Frühmittelalter weit besser erforscht als das Plündern. Repräsentativ dazu insgesamt Wickham (2005) und Henning (2004). Diese Praktiken konstituieren den Bauernmodus. Auch der Handel (keine reine Erwerbs- und keine reine Produktionsweise; Kauf und Tausch konstituieren den Händlermodus) ist für das Frühmittealter wie für die Spätantike weit besser erforscht. Repräsentativ dazu McCormmick (2001), S. 12ff.; S. 237ff.; S. 571ff. und 639ff. Auch Hardt (2004), S. 208ff. und insgesamt Durliat (1998) und Lebecq (1998) sowie Middleton (2005). Ähnliches gilt für das Handwerk (Umwandlung von Ressourcen und/oder Gütern in Güter; Handwerkermodus). Repräsentativ dazu McCormmick (2001), S. 42ff. Speziell für die Merowingerzeit Claude (1981).

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ÖSTLICHE QUELLEN: AUSSAGEN ZUM ‚HUNNISCHEN‘ SOZIALGEFÜGE ZUR ZEIT ATTILAS In diesem Abschnitt geht es darum, die heuristischen Effekte des ‚Kriegermodus‘ als Deutungswerkzeug zu veranschaulichen. Im Vordergrund steht weniger die Explikation von Annahmen als vielmehr die Beachtung quellenimmanenter Zusammenhänge für die Genese von Fragestellungen. Letztlich wird unter Berücksichtigung dieser Fragen kurz auf den sozialen Status der Akteure innerhalb des ‚hunnischen‘ Sozialgefüges zur Zeit Attilas eingegangen. Wenn Quellentexte zu ‚Hunnen‘ untersucht werden, sollte man nicht übersehen, dass der Name ‚Hunnen‘ keine ethnische Bezeichnung ist, 36 sondern eine Art Prestigename, der schon lang vor dem Erscheinen der ersten, als ‚hunnisch‘ bezeichneten Gruppen an der oströmischen Peripherie am Ende des 4. Jahrhunderts in asiatischen Texten auftritt. 37 Der Name wurde hauptsächlich für Gemeinschaften gebraucht, deren Lebensweise primär nomadisch war. Deren Charakteristika weisen auch die in Europa auftretenden ‚Hunnen‘ noch zur Zeit Attilas auf. 38 Das ‚hunnische‘ Sozialgefüge 39 zur Zeit Attilas bestand auf der Basis einer Plünderungs- und Tributwirtschaft 40 mit der oströmischen Ordnung in einer Art Symbiose und erlangte auf diese Weise Kontinuität. 41 Zusätzlich ist aber auch auf Aussagen über Plünderungen zu verweisen, in deren Zusammenhang Attila nicht als Anführer genannt ist. 42 Offensichtlich war der Übergang zu Plünderungen auch ohne ihn möglich, da er nicht zentral die dafür notwendigen Mittel wie Pferde und Waffen verteilte oder allein über sie verfügte. 43 Die Plünderungs- und Tributwirtschaft, durch die seine Position erst gefestigt worden war, 44 kanalisierte die sozioökonomische Praktik des Plünderns also nicht vollkommen. Sie war auch abseits der Kommunikation zwischen Attila und den oströmischen Repräsentanten eine Option, denn sie war eben nicht immer durch Attila als Anführer bedingt. Vielmehr bedingte die Prosperität der Gebiete der oströmischen Ordnung das Plündern 36 Den älteren Ausführungen zur ethnischen Einheit der ‚Hunnen‘ ist nicht zu folgen. Beispielsweise Meanchen-Helfen (1997), S. 241ff. Zum Problem der Annahme einer ethnischen Einheit der ‚Hunnen‘ Wolfram (1990), S. 184. 37 Überblickend zu den chinesischen und persischen Quellen Stickler (2007), S. 24–28. 38 Zu den Charakteristika allgemein Stickler (2007), S. 10–20. Zum ‚hunnischen‘ Sozialgefüge zur Zeit Attilas Wolfram (1990), S. 188f.; Heather (1995), S. 5f.; Bóna (1996), S. 36–45; Thompson (1996), S. 47–69; Meanchen-Helfen (1997), S. 129ff.; Wirth (1999), S. 13f.; Kelly (2008), S. 17ff. und Heather (2011), S. 195ff. 39 Neben ‚hunnischen‘ Akteuren lebten auch andere Akteure in dem Sozialgefüge. Es war multiethnisch. Vgl. Wolfram (1990), S. 184 und Heather (2011), S. 212ff. 40 Überblickend dazu insgesamt Pohl (1992). 41 Beispielsweise Wolfram (1990), S. 184f.; Pohl (1992), S. 166f. und Stickler (2002), S. 93f. 42 Priskos, ed. Blockley, S. 229 und S. 231. 43 Die Annahme einer derartigen Handlungsfähigkeit Attilas in seiner Position wird nicht einmal unter der Annahme einer von Attila beförderten Feudalisierung und Bürokratisierung attestiert. Dazu insgesamt Wirth (1967) und Wirth (1999), S. 137ff. 44 Dazu ausführlich bereits Wolfram (1990), S. 190ff. Später Pohl (1992), S. 184f. und Stickler (2007), S. 77f.

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als Erwerbspraktik. Dies lässt sich noch weiter plausibilisieren: Attila hatte 447 die Einrichtung einer Art Pufferzone 45 erzwungen. 46 449 wurde von Attila laut Priskos 47 trotz eines versuchten Anschlags die Aufhebung der Zone vorgeschlagen. 48 Die Passagen wurden deutungstechnisch mit dem Fehlen von Plünderungschancen verbunden. 49 Das Fehlen von Aussagen dazu nach 447 wurde als Phase der intensiven Kommunikation zwischen Attila und den oströmischen Repräsentanten gedeutet. 50 Es ist aber vertiefend zu fragen, wie weiter gewirtschaftet werden konnte, wenn dieser zuvor häufig frequentierte Raum menschenleer war und somit dort kaum noch Güter und Ressourcen für Plünderungen vorhanden waren. Es darf in Anbetracht der Frage nicht außer Acht gelassen werden, dass Quellentexte 51 und archäologische Funde 52 auch auf Lebensweisen im ‚hunnischen‘ Sozialgefüge hinweisen, die primär auf Sesshaftigkeit basieren. Ackerbau und Viehzucht sind genauso feststellbar wie das Leben in Ansiedlungen. 53 In einer von diesen lebte eine der Gattinnen Bledas. 54 Der Gebrauch von Pferden bei militärischen Operationen 55 ist ein weiterer Indikator für Sesshaftigkeit, denn diese mussten nicht nur gezüchtet, sondern auch für den Kampf trainiert werden und das ist bei einer rein auf Mobilität basierenden Lebensart kaum möglich. 56 Daher 45 Nach 447 wurde auf das Verlangen Attilas eine Pufferzone von fünf Tagesreisen an der unteren Donau eingerichtet, was dazu führte, dass das Gebiet fast menschenleer war. Priskos, ed. Blockley, S. 247–249. Zwar wurde diese Zone nach 449 aufgehoben, jedoch ist es sehr wahrscheinlich, dass das Gebiet danach nicht rasch an Lukrativität für Plünderungen gewann. Zum Begriff Pufferzone Stickler (2002), S. 123f. und zur Problematik der Lukrativität Pohl, (1992), S. 183f. 46 Priskos, ed. Blockley, S. 243 47 Zur Überlieferungslage der Fragmente Blockley (2003), S. 299f. und zur Quellenlage zu dem Werdegang des Autors insgesamt Baldwin (1980). 48 Priskos, ed. Blockley, S. 243. 49 Zur Dynamik der Kommunikation einer Plünderungs- und Tributwirtschaft allgemein insgesamt Pohl (1991). Speziell zu Attila Pohl (1992), S. 182–185. Ähnlich Stickler (2002), S. 93ff. 50 Vgl. Pohl (1992), S. 184f. Dies ist mit Sicherheit nicht falsch. Jedoch bedeutete die Einrichtung der Zone auch eine Absenkung des Drohpotentials. Zum Drohpotential Pohl (1992), S. 186ff. 51 Überblickend zu den Quellen Thompson (1996), S. 9ff. und Meanchen-Helfen (1997), S. 7ff. Zum Problem der Darstellungsweise von ‚Hunnen‘ in den Quellen Stickler (2007), S. 17–20. 52 Zu den umfangreichen archäologischen Funden zur Nutzviehhaltung Bóna (1996), S. 37f. Dazu auch Priskos, ed. Blockley, S. 249. 53 Zu den Ansiedlungen und dem Anbau von Wein sowie Getreide Priskos, ed. Blockley, S. 261f. und S. 265. Zu weiteren Ansiedlungen und Nahrungsmittelbeständen Priskos, ed. Blockley, S. 285f. und S. 291. 54 Priskos, ed. Blockley, S. 261. 55 So schon im Hunnenexkurs des Ammianus Marcellinus. Ammianus Marcellinus, ed. Seyfarth, S. 243–247. Kritisch zu diesem Exkurs hinsichtlich der ethnographischen Topoi Stickler (2007), S. 20. Die Verwendung von Pferden wird aber nicht bestritten. Zur archäologischen Evidenz der Nutzung von Pferden Bóna (1996), S. 177ff. 56 Reiternomaden kannten Phasen der Sesshaftigkeit, in denen sogar Ackerbau betrieben wurde. Vgl. Stickler (2007), S. 13f. Zum Umgang mit Pferden bei Reiternomaden insgesamt Pucher (1996). Zur Annahme, dass das Pferd verbreitet als Ware gehandelt werden konnte Bóna

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aber eine Feudalisierung des Sozialgefüges zur Zeit Attilas anzunehmen, 57 geht eher fehl. Vielmehr bedingten sich auf Mobilität und auf Sesshaftigkeit basierende sozioökonomische Praktiken gegenseitig: 58 Die ökonomische Prosperität der oströmischen Gebiete war für die auf Mobilität basierende Plünderungs- und Tributwirtschaft lukrativ und beförderte somit die auf Sesshaftigkeit basierenden sozioökonomischen Praktiken, die auch der Vorbereitung der militärischen Operationen dienten. 59 Festzuhalten ist an dieser Stelle also, dass unterschiedliche sozioökonomische Praktiken im geographischen Raum an der unteren Donau zur Zeit Attilas auszumachen sind, die von Akteuren aus dem ‚hunnischen‘ Sozialgefüge praktiziert wurden. Wurden aber die verschiedenen Praktiken stets von denselben Akteuren gebraucht? Ein längeres Exzerpt aus dem fragmentarisch erhaltenen Werk des oströmischen Historiographen Priskos ist für die Beantwortung dieser Frage aufschlussreich. In der Passage bringt sich Priskos als eine seiner Figuren ein. Die Priskosfigur debattiert darin während einer Gesandtschaft zu Attila mit der Figur eines griechischsprachigen Mannes. Erzählt wird, dass dieser erst vermögend unter der oströmischen Ordnung lebte, bis er von ‚Hunnen‘ geraubt und Onegesius, einem im ‚hunnischen‘ Sozialgefüge herausragenden Akteur, zugeschlagen wurde. Nachdem der griechischsprachige Mann bei weiteren Operationen plündernd tätig wurde und die erlangten Güter an Onegesius abgab, wurde er von ihm freigelassen. Der Mann konnte nun selbstständig im Sozialgefüge leben und an militärischen Operationen teilnehmen. 60 Die folgende Debatte wird über unterschiedliche Lebensweisen geführt. Während der Mann sich gegen die oströmische Ordnung wegen der Abgaben ausspricht und sein neues Leben lobt, widerspricht Priskos und betont die Vorteile der oströmischen Ordnung, wobei er den Kaiser und dessen Umgebung sehr positiv darstellt. 61 Festgehalten werden muss dazu, dass eine Verallgemeinerung der Aussagen für Annahmen der konkreten Verteilungspraxis innerhalb des Sozialgefüges nur schwer möglich ist 62 und dies nicht nur wegen der Alleinstellung der Aussagen, sondern auch, weil Priskos sich hier als eine seiner Figuren eindeutig für den Kaiser und dessen Umgebung ausspricht. Auch ist gerade wegen dieser Erzählfunktion nicht sicher, dass dieses Gespräch tatsächlich stattgefunden hat. Dies muss aber nicht heißen, dass eine Debatte um die unterschiedlichen Lebensweisen nicht

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(1996), S. 38. Hierin besteht also eine mögliche weitere ökonomische Dimension der Pferdezucht. So zum Beispiel insgesamt Wirth (1967) und erneut Wirth (1999), S. 137ff. Vgl. Bóna (1996), S. 36ff.; Stickler (2007), S. 12–17 und Heather (2011), S. 217–222. Zu derartig interdependenten Verhältnissen zwischen nomadischen und sesshaften Gemeinschaften Stickler (2007), S. 12ff. Priskos, ed. Blockley, S. 269. Priskos, ed. Blockley, S. 271–273. Zur Problematik der Verallgemeinerung von Quellenaussagen bezüglich der inneren Verhältnisse des Sozialgefüges Wirth (1999), S. 9ff. und Stickler (2002), S. 92.

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weitläufiger verbreitet war. 63 In diesem Fall spricht die Erzählfunktion sogar eher dafür, denn Priskos positioniert sich hier persönlich in einer pro-kaiserlichen Haltung. Mit einem Rekurs auf eine solche Debatte würde Priskos nicht nur als Figur, sondern als Person in dieser verortet und somit auch für den Kaiser und seine Umgebung zumindest potentiell als ein energischer Fürsprecher wahrnehmbar. 64 Die dichotome Konstruktion differenter Lebensweisen ist im Übrigen im Gegensatz zu der Verteilungspraxis in einem weiteren Fragment deutlich nachzuvollziehen. In diesem werden die ‚Hunnen‘ mit den Goten in Relation gesetzt, wobei die zweitgenannten als rein sesshafte, bäuerliche Menschen dargestellt werden. 65 Es handelt sich hierbei ganz offensichtlich um eine primär literarische Konstruktion, denn auch Mitglieder gotischer Gemeinschaften plünderten Gebiete der römischen Ordnungen mehrfach. 66 Jedoch hilft diese Passage wie auch die zuerst angeführte dabei, die Annahme einer ‚hunnischen Alternative‘ 67 nicht nur zu bestätigen, sondern auch zu präzisieren: Offenbar wurde das ‚hunnische‘ Sozialgefüge als eine Art Alternative wahrgenommen, die hinsichtlich der tendenziell unterschiedlichen Lebensweisen festgemacht werden kann, denn Aussagen zu Plünderungen durch Mitglieder des Gefüges sind extrem ungleich häufiger vertreten, als Aussagen dazu, dass diese geplündert worden sind. 68 Es gab also verschiedene sozioökonomische Optionen innerhalb und außerhalb des ‚hunnischen‘ Sozialgefüges zur Zeit Attilas für die Menschen im geographischen Raum Südosteuropas und auch deren Wechsel. 69 Doch gab es den Wechsel dieser Optionen innerhalb des ‚hunnischen‘ Sozialgefüges auch? Für die Frage nach dem den Wechsel innerhalb des ‚hunnischen‘ Sozialgefüges sind die Aussagen zu der Einrichtung von Märkten oder auch die Aussagen zu

63 Durch die Plünderungen wurde das sesshaft-sozioökonomische Leben im Gebiet an der unteren Donau sehr erschwert. Priskos, ed. Blockley, S. 243 und S. 249. Auf Sesshaftigkeit basierende Lebensweisen waren zumindest für die oströmische Bevölkerung in diesem geographischen Raum – auch nach dem Tod Attilas im Jahr 451 – ganz praktisch in Frage gestellt. Vgl. Pohl. (1992), S. 184, Anm. 81. 64 Priskos war nach dem Tod Attilas im Jahr 451 möglicherweise ein sozialer Aufstieg gelungen. Vgl. Baldwin (1980), S. 25. Zwar hat das ‚hunnische‘ Sozialgefüge in der Form vor 451 nicht mehr bestanden, dies ändert aber nichts daran, dass sich Priskos hier in einer Debatte um unterschiedliche Lebensweisen positioniert haben kann, denn diese gab es auch nach 451 noch an der unteren Donau. Vgl. Wolfram (1990), S. 204 und siehe insgesamt Pohl (1980). 65 Priskos, ed. Blockley, S. 357. 66 Beispielsweise Wolfram (2001), S. 53ff. und S. 139ff. sowie Wolfram (2005), S. 83. Dazu insgesamt Berndt (2011). 67 Zur Formulierung und ihren Implikationen Wolfram (1990), S. 184f. und Wolfram (2009), S. 7. 68 Zusammenfassend dazu Stickler (2007), S. 45–75. 69 Priskos, ed. Blockley, S. 227; S. 235; S. 237; S. 249 und S. 299. Zur Relevanz der Flüchtlinge für die Kommunikation zwischen Attila und den Repräsentanten der oströmischen Ordnung Pohl (1992), S. 182f. Zum Wechsel der Zugehörigkeit unter dem Fokus auf die Identität der Wechselnden, ohne dass sozioökonomische Praktiken grundsätzlich miteinbezogen werden Heather (2011), S. 212–246. Dazu auch Wolfram (1990), S. 184f.

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dem Verlangen der Einrichtung solcher anzuführen. 70 Was aber wurde auf den Märkten gehandelt – etwa das vorher Geplünderte? Wurden dann diejenigen Akteure, die zuvor auf den Märkten Handel trieben, später plündernd tätig, oder war das umgekehrt? Ganz ähnliche Fragen ergeben sich bezüglich der Aussagen zu den landwirtschaftlichen Aktivitäten. Es sind agrarische Bestände erwähnt, aber wer hat sie produziert? Waren es Menschen, die auch plünderten und waren die Pferde, welche für die Plünderungen sicherlich nicht unwichtig waren, von denjenigen persönlich gezüchtet, die sie später nutzten? Wer züchtete das andere Nutzvieh? 71 Die bisher unter der Verwendung des ‚Kriegermodus‘ formulierten Fragen sind auf der Deutungsebene als Gewinn zu verzeichnen: Der Quellenbezug des ‚Kriegermodus‘ führt zur Aufdeckung von Uneindeutigkeiten, die auf der Deutungsebene zu Fragen werden, denn die Identität der Akteure, welche die unterschiedlichen Praktiken innerhalb des ‚hunnischen‘ Sozialgefüges nutzten, ist unklar. Für die Plausibilisierung der Annahme eines derartigen Wechsels im ‚hunnischen‘ Sozialgefüge kann auf die Problematik der Bedingtheit des Plünderns hingewiesen werden, die mit den Aussagen aus den Quellen und archäologischen Funden zu den anderen Praktiken in einen Kontext gesetzt werden kann. Ein Argument gegen den Wechsel ergibt sich aus der Annahme, das ‚Kriegersein‘ der ‚Hunnen‘ sei mit Prestige verbunden. Für das Prestige werden aber auch durch Plünderungen erworbene materielle Güter sowie die mit ihnen verbundene symbolische Kommunikation als relevant angesehen. 72 Jedoch sagt auch dies nichts über den Grad der funktionalen Differenzierung im Sinne normativ geregelter Arbeitsteilung aus 73 und zudem ist allein durch Prestige noch keine Nahrung gewonnen. Hinzu kommt das Viehzucht und Tausch oder Kauf auf Märkten als Optionen der Akteure aus nomadischen Gruppen gelten, 74 wobei hingegen sicher ist, dass nicht alle Akteure des ‚hunnischen‘ Sozialgefüges zur Zeit Attilas diese ökonomischen Praktiken im Kontext von nomadischen Gemeinschaften kennengelernt haben. 75 Die Annahme eines Wechsels der sozioökonomischen Optionen durch zumindest einige Akteure innerhalb des ‚hunnischen‘ Sozialgefüges wird somit wahrscheinlicher. 70 Priskos, ed. Blockley, S. 227; S. 231 und S. 243. Der Versuch der nomadischen Gemeinschaften, zusammen mit primär sesshaft lebenden Gemeinschaften Märkte einzurichten, kann als typisch für ihre Kommunikation aufgefasst werden. Vgl. Stickler (2007), S. 14. Dazu schon Wirth (1967), S. 67. Auch Kelly (2008), S. 111f. 71 Zu den umfangreichen archäologischen Funden zur Nutzviehhaltung erneut Bóna (1996), S. 37f. 72 Allgemein zur symbolische Kommunikation von Prestige durch geplünderte Güter Pohl (1991), S. 598. Im Speziellen zu den ‚Hunnen‘ Pohl (1992); S. 174; Stickler (2002), S. 95; und Stickler (2007), S. 84f. 73 Dazu die theoretische Aufarbeitung der Arbeitsteilung bei Durckheim (1992), S. 162–184. 74 Vgl. Stickler (2007), S. 13f. 75 In dem ‚hunnischen‘ Sozialgefüge zur Zeit Attilas sind auch Akteure aus Gemeinschaften aufgegangen, die zuvor primär sesshaft lebten. Hinzu kommen die geraubten Menschen. Vgl. Stickler (2007), S. 75–83.

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WESTLICHE QUELLEN: MILITÄRISCHE OPERATIONEN ZUR ZEIT KÖNIG EURICHS In diesem Abschnitt geht es nun darum, die heuristischen Effekte des ‚Kriegermodus‘ für die Betrachtung einer Annahme nutzbar zu machen. Es wird dabei hauptsächlich darum gehen, integrativ vorzugehen und die Wechselwirkung des Plünderns und der auf Sesshaftigkeit basierenden Praktiken zu beschreiben. Dabei sind soziale Beziehungen akzentuiert. Die Hauptquellen zu den militärischen Operationen König Eurichs wurden von Sidonius Apollinaris verfasst. 76 Er liefert dabei auch Aussagen zu Lebensweisen, wobei auch bei ihm eine Dichotomie nachzuvollziehen ist. Diese ist in dem Kontrast zwischen den Römern und den Barbaren fassbar. So heißt es im achten Brief des dritten Buches, dass eine natio foederatorum – gemeint ist wohl die westgotische Gemeinschaft, die in der civitas Toulouse siedelte 77 – die Mittel der Römer zerstören würde. 78 Dieser Brief ist jedoch nicht sicher datierbar. 79 Sicher ist hingegen, dass diese Aussage eher für ein auf Erwerb ausgerichtetes Wirtschaften der Akteure spricht, die nicht nachhaltig mit den Produktionsmitteln umgingen. In Anbetracht der Debatte um die Annahmen von Walter Goffart 80 ist daher festzuhalten, dass sozioökonomische Praktiken von angesiedelten Akteuren nicht außer Acht gelassen werden dürfen, denn dass diese Akteure konkret in geographischen Räumen siedelten, bestreitet niemand ernsthaft. 81 Gleich welcher der 76 77 78 79

Zur Person und zum Werdegang des Autors überblickend Kaufmann (1995), S. 41–64. Vgl. Wolfram (2001), S. 225ff. Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 45. Die Publikation der Briefsammlungen in Büchern ist nicht sicher zu datieren. Eine Datierung der ersten sieben Bücher in die Mitte der 70er Jahre des 4. Jahrhunderts erscheint plausibel. Harries (1994), S. 8ff. Jedoch sagt dies nichts über die Datierung einzelner Briefe aus. Mögliche Datierungen werden im Einzelfall angegeben. Für den vorliegenden Brief wird eine Datierung in die Zeit zwischen 471 und 474 diskutiert. Vgl. Kaufmann (1995), S. 300f. Wahrscheinlich ist aber, dass der Brief vor die Zeit der militärischen Operationen zu datieren ist, da die Westgoten sonst nicht als natio foederatorum bezeichnet worden wären. 80 Dazu insgesamt Goffart (1980) und vgl. Goffart (2006), S. 119–186. Auch insgesamt Goffart (2010). Kritisch überblickend zu den Thesen von Walter Goffart mit der Herstellung eines Bezugs zu den Annahmen von Jean Durliat siehe insgesamt Liebeschütz (1997). Zur Kritik an den Annahmen überblickend Wolfram (2005), S. 174ff. Goffart selbst sieht seine Theorie in einem Unterschied zu der von Durliat. Vgl. Goffart (2010), S. 96. Die beiden Theorien beziehen sich – bei deutlich gegeben Unterschiedlichkeiten – auf Annahmen einer Kontinuität des Gebrauchs von Praktiken bzw. einer Praktik der Abgabenverteilung oder perspektivisch auch des Erwerbs. Vgl. Liebeschütz (1997), S. 147f. 81 An dieser Stelle soll ausdrücklich betont sein, dass es hier nicht um das äußerst kontrovers diskutierte Wie der Ansiedlungen geht, sondern nur um das Dass. Dass Akteure konkret im geographischen Räumen siedelten, wird von keiner der Parteien in der Diskussion bestritten. Vgl. Goffart (1980); S. 3–39 und Goffart (2006), S. 117. Siehe auch die Überschrift des Beitrags Goffart (2010). Repräsentativ für die Gegenseite insgesamt Barnish (1986) und Liebeschütz (1997), S. 138ff. Überblickend zu seinen Kontrahenten Goffart (2010), S. 66ff. Speziell zu den Westgoten in Südwestgallien Wolfram (2001), S. 178ff. und Wolfram (2005), S. 177.

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beiden Richtungen – der Verteilung von Land oder der von Abgaben 82 – zugestimmt wird: Sozioökonomische Praktiken des Erwerbs blieben offenbar weiter eine Option, 83 wie auch die Aussagen zu den militärischen Operationen zur Zeit des Königs Eurich verdeutlichen. 84 Außer Acht gelassen werden darf aber zusätzlich nicht, dass Sidonius auch den Wechsel von Praktiken in seinen Briefen anspricht. 85 Die dichotome Zuordnung wird also nicht stringent durchgehalten. Die Chronologie der Abläufe der militärischen Operationen Eurichs in Südwestgallien ist nicht mit Sicherheit festzulegen. 86 Klar ist aber nicht nur, dass dabei Plünderungen stattfanden, sondern auch, dass sich die Menschen im ‚Kriegermodus‘ im Winter in ihre Siedlungsgemeinschaften zurückzogen. 87 Auch ist sicher, dass einige Akteure aus der civitas Clermont wegen der schlechten Versorgungslage flohen 88 oder sogar zu Eurich übertraten. 89 Der Bischof Patiens von Lyon schickte wegen der Versorgungslage Mais 90 nach Clermont. 91 82 Mit Überlegungen zur Integration beider Ansätze Giese (2004), S. 41. Es bleibt zu erfragen, inwieweit die normative Form der Ansiedlung die soziale Interaktion der angesiedelten Akteure determinieren konnte und ob dies überhaupt der Fall war. 83 Paulinus von Pella, Euch. eph., ed. Vogt, S. 551–559. Zu dem Text des Paulinus als Indikator für die Problematik der sozioökonomischen Erwerbspraktiken der westgotischen Akteure Mathisen (1984), S. 162. Zu den Plünderungen in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts in Südwestgallien Wolfram (2001), S. 178–186. 84 Überblickend dazu insgesamt Stroheker (1937). Es gibt keine aktuellere Biographie mit derartigem Umfang zu dem König. Panzram bezieht sich hauptsächlich auf die Aktivitäten Eurichs und seiner Nachfolger auf der Iberischen Halbinsel. Insgesamt Panzram (2007). Zum Antritt Eurichs als König insgesamt Gillet (1999). Zu den militärischen Operationen Eurichs auch Wolfram (2001), S. 186–195. 85 Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 13. Zur Diskussion der Datierung des Briefes auf das Ende des Jahres 467 oder das Jahr 468 Kaufmann (1995), S. 289. 86 Dazu der Versuch einer Chronologisierung der Briefe bei Kaufmann (1995), S. 170–214. 87 Zu den Angriffssequenzen zwischen 471 und 474 Harries (1994), S. 226f. 88 Ausdrücklich Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 100. Zur Diskussion über die Datierung zwischen 470 und 476 Kaufmann (1995), S. 290. Zu den Fluchten überblickend Mathisen (1984), S. 166ff. In diesem Kontext auch Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 81 und S. 107. Zur allgemein anerkannten Datierung des ersten Briefes auf 474 Kaufmann (1995), S. 351 und zu der Diskussion der Datierung des zweiten Briefes zwischen 469 und 474, mit der Tendenz zu 474 Kaufmann (1995), S. 310. 89 Calminius, der Sohn des Eucherius, war nicht nur auf die Seite Eurichs übergetreten, sondern hatte auch an der Belagerung des ummauerten Zentrums von Clermont teilgenommen. Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 86. Zur allgemein anerkannten Datierung auf das Jahr 474 Kaufmann (1995), S. 288. Es ist nicht klar, wie viele Menschen zu dieser Zeit auf die Seite Eurichs übertraten, aber die Intensität der Zerstörungen und Plünderungen legt nahe, dass Calminius nicht der Einzige war. Dies wird angedeutet bei Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 40. Der Brief wird allgemein auf den Winter 473/4 datiert. Vgl. Kaufmann (1995), S. 294. Zur Deutung, dass dieser Brief weitere Übertritte einbezieht Mathisen (1993), S. 78. 90 Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 101f. Zur Diskussion um die Datierung zwischen 471 und 474 Kaufmann (1995), S. 330. Eine Datierung auf das Jahr 474 erscheint wahrscheinlicher, da die Schäden in Clermont die Nahrungsmittelzusendung notwendiger werden ließen.

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Mit Verwendung des ‚Kriegermodus‘ wird erneut deutlich, dass über den engeren Kontext hinaus weitere Aspekte zu erschließen sind. Das Plündern als eine Erwerbspraktik von materiellen Gütern und Ressourcen erschwerte ganz offenbar sozioökonomische Produktionspraktiken in der angegriffenen civitas. 92 Die Angreifer konnten sich über den Winter zurückziehen und von den nicht unwahrscheinlichen Beständen der Siedlungsgemeinschaften ihrer Herkunft leben. 93 Aber das sesshaft-sozioökonomische Leben der Bevölkerung in der angegriffenen civitas wurde dynamisiert, was in den Aussagen zu Fluchten und Überläufen Ausdruck findet. Dies erscheint aber insgesamt nicht als neuer Effekt. Salvianus von Marseille machte ihn im Zusammenhang differenter Lebensweisen bereits für die Mitte des 5. Jahrhunderts deutlich, 94 wobei seine Aussagen mehr auf Armut bezogen sind. 95 Neben den Maiszusendungen wurden aber auch andere Maßnahmen ergriffen, um der Dynamisierung entgegen zu steuern. Hier ist der Name Ecdicius zu nennen. 96 Der Schwager des Sidonius hat nach dessen Angaben private Bestände verwendet, um gegen die Angreifer vorzugehen. 97 Mit den ihm Folge leistenden Akteuren konnte er dann die Angreifenden schlagen und so zu der Erholung der Bevölkerung beitragen. 98 Hier ist der ‚Kriegermodus‘ nicht deskriptiv verwendbar. Die primäre Erwerbsweise derjenigen, die Ecdicius Folge leisteten, war sehr 91 Die civitas Lyon war Knotenpunkt des gallischen Straßensystems. Vgl. Klee (2008), S. 123 und S. 127. Das gallische Straßensystem wurde in der Spätantike mehrfach saniert. Die Verbindungen waren relativ gut instand. Das zeigt auch die Verteilung von handwerklichen Produkten aus verschiedenen Werkstätten innerhalb Galliens. Auch der Transport über Flüsse war weiterhin möglich. Vgl. Ferdiére (2011), S. 146 und S. 148f. 92 So die Aussagen zu der Lage in Clermont kurz vor der Übergabe der civitas an Eurich. Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 111. Zu den Erschwernissen in Clermont während der militärischen Operationen bis 475 Harries (1994), S. 226ff. und Kaufmann (1995), S. 182–198. Dazu allgemeiner, jedoch auf Südwestgallien bezogen Castritius (2009), S. 285f. Der Brief ist sicher auf das Jahr 475 zu datieren. Zum Übergabevertrag von 475 Henning (1999), S. 306ff. 93 Erneut ist zu betonen, dass auch diese Annahme nicht zwangsläufig denen von Goffart widerspricht. Kauf und Tausch durch erlangte Abgaben sind als Mittel des Erwerbs von Land genauso anzuführen wie ein gewaltsames Vorgehen. Bestände können auch nach Plünderungen angelegt worden sein. 94 Salvianus von Marseille, de gub. lib. VIII, ed v. Halm, S. 59–63. 95 Salvianus geht besonders auf den Wechsel der Lebensweisen durch den ökonomischen Druck auf ärmere Bevölkerungsgruppen durch umfangreich Besitzende ein. Römer gingen deswegen zu den Barbaren und den Bagaudes über. Der Wechsel von Sesshaftigkeit zu einem relativ mobileren Leben wird dabei fassbar. Vgl. Badewien (1980), S. 116–138. Explizit zu den relativ mobilen Bagaudes vgl. Drinkwater (1992), S. 208ff. 96 Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 88. Der Titel patricius ist zeitnah in dem Brief belegt. Der Titel magister militum hingegen nicht. Vgl. Henning (1999), S. 101f. 97 Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 42. 98 Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 42f. Vgl. Mathisen (1993), S. 57. Zum Abruf des Ecdicius nach Italien als Problematik der Bevölkerung in Clermont während der militärischen Operationen Eurichs Mathisen (1984), S. 166f. Zur Diskussion der Datierung zwischen 472 und 474 Kaufmann (1995), S. 298.

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wahrscheinlich nicht das Plündern sondern eine Art (Re-)Distribution 99 durch den Anführer, 100 auch wenn Sidonius von Beutezusendungen nach Italien schreibt.101 In Anbetracht der Erosion der strukturellen Einheit der weströmischen Ordnung102 ist dies als eine literarische Gestaltung des Herausragens der Figur des Ecdicius zu beschreiben. 103 Hier aber von einem Söldner- oder Soldatensein zu sprechen, geht eher fehl, denn ob es sich um kontinuierliche Zahlungen gehandelt hat, 104 ist nicht mehr zu eruieren. Vielmehr handelt es sich um ein situationsbezogenes Reagieren, bei dem nicht unberücksichtigt bleiben darf, dass für die dem Ecdicius Folgeleistenden nun auch keine ökonomischen Notwendigkeiten mehr bestanden, die sie zu einem Überlauf veranlassen konnten. Es lässt sich daher eher festhalten, dass hier die Form einer sozialen Beziehung für eine kurze Zeit etabliert wurde, welche durch die Plünderungen von Clermont bedingt einen dort lebenden, ökonomisch herausragenden Akteur dazu veranlassten, diese soziale Beziehung mittels seiner eigenen ökonomischen Bestände zu generieren. Der ‚Kriegermodus‘ kann also unter der Berücksichtigung der Debatte um die Annahmen zum Ansiedlungsverfahren verwendet werden, um diese integrativ zu nutzen: Gleich welche Modalitäten Ansiedlungen ausmachten und gleich ob sie immer gleichförmig abliefen – räumliche Niederlassung von Akteuren war nicht zwangsläufig das Ende sozioökonomischer Optionalität für all diese Akteure und dies konnte zu Änderungen führen. Die Dynamisierung des sesshaftsozioökonomischen Lebens, die neue soziale Beziehungen befördern konnte, ist hier zu nennen. Sie zu beschreiben hilft der ‚Kriegermodus‘ allerdings nur wenig. Das hindert den argumentativ-quellenkritischen Umgang mit den Quellenaussa99 Zur (Re-)Distribution als Form sozialer Verteilung ökonomischer Güter und Ressourcen Polanyi (1995), S. 71ff. 100 Zum Verständnis der Quellenaussagen kann die Differenzierung zwischen Landlord und Warlord von Whittaker beitragen, deren Typen er eng aufeinander bezogen angelegt hat. Whittaker (1993), S. 298f. Der Terminus Warlord wurde für die Untersuchung der Quellen bereits verwendet. Dazu insgesamt MacGeorge (2003). Auch Ecdicius wurde als Warlord bezeichnet. Vgl. Harries (1994), S. 223–225. 101 Sidonius Apollinaris, ep. et carm., ed. Lütjohann/Mommsen, S. 88f. 102 Mit dieser Formulierung wird an den Ansatz einer Transformation of the Roman World angeschlossen. Zum Ansatz und der dazugehörigen Publikationsreihe insgesamt Wood (2006). Auch insgesamt Steinacher (2009). Die Transformation wird mit der Formulierung einer Erosion der strukturellen Einheit der weströmischen Ordnung in der Art gefasst, dass die strukturelle Einheit sich zwar auflöste, ihre Elemente aber verblieben und deswegen in neue Zusammenhänge strukturiert werden konnten. 103 Zum Topos ökonomischer Prosperität nach militärischen Siegen als sprachliches Mittel der Heraushebung der Leistungen eines Akteurs Mause (1994), S. 202. Zur Beute als Topos Bodmer (1957), S. 78f. 104 Tatsächlich müssen Aussagen zur (Re-)Distribution materieller Güter und Ressourcen nicht zwangsläufig als Indikatoren für einen ‚Sold‘ in der Form einer kontinuierlichen Zahlung aufgefasst werden. Bernard Bachrach hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Form der Zahlung zumeist normativen Regelungen unterlag, die aber bereits in der Spätantike variieren konnten. Tatsächlich bezieht er auch die Termini bezüglich der Vergabe von Land mit ein. Vgl. Bachrach (2008), S. 177ff. Letztlich zweifelt er, dass Söldner aufgrund der komplexen Quellenlage ein wirklich adäquater Terminus ist. Vgl. Bachrach (2008), S. 183f.

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gen aber nicht. Im Gegenteil: Ein differenzierter Umgang mit den Quellen ist auf der Deutungsebene begünstigt, wie die Bezüge zu den Aussagen über die sozialen Beziehungen verdeutlichen. FAZIT: DER QUALITATIVE ANSATZ UND DIE VERWENDBARKEIT DES ‚KRIEGERMODUS‘ ALS DEUTUNGSWERKZEUG Wie anhand der Quellenaussagen gezeigt wurde, ist über einen qualitativen Ansatz ein Deutungswerkzeug konzipierbar, dessen Verwendung heuristische Effekte hat. Die Quellen regulieren bei der Verwendung die Deutung. Jedoch ist die Verwendbarkeit des ‚Kriegermodus‘ nur begrenzt möglich. Das ist eine Stärke des Deutungswerkzeugs, denn mit der Fokussierung des Plünderns durch den ‚Kriegermodus‘ wurden quellenimmanente Zusammenhänge nicht überdeckt, sondern tangiert, was eine enge Kontextualisierung der Argumentation auf der Deutungsebene erleichtert hat. Die quellenkritische Funktion der Drei-Ebenen-Gliederung ist auch deswegen nicht zu unterschätzen. Unter Punkt drei wurde mit der Fokussierung des Plünderns das Prestige als ein weiterer Aspekt des ‚Kriegerseins‘ nicht ausgeschlossen. Die Annahme eines Wechsels der Modi im ‚hunnischen‘ Sozialgefüge zur Zeit Attilas konnte plausibilisiert werden. Ausdrücklich geht es dabei nicht um die Annahme eines stetigen Wechsels, oder auch einer Option des Wechsels aller Akteure. Dass allein die mit dem Plündern erworbenen Güter und Ressourcen, die Prestige symbolisch kommunizierten, eine ‚Elite‘ in dem Sozialgefüge ausmachten, wurde dabei in Frage gestellt. Unter Punkt vier wurden heuristische Effekte des ‚Kriegermodus‘ für die Betrachtung einer Annahme nutzbar gemacht. Gezeigt wurde neben dem integrativen Umgang mit der Ansiedlungsannahme, dass die räumliche Niederlassung von Akteuren nicht zwangsläufig zum Ende der sozioökonomischen Optionalität für all diese Akteure führte. Dies förderte Änderungen: Beispielsweise entstanden mit der Dynamisierung des sesshaft-sozioökonomischen Lebens neue soziale Beziehungen. Sie zu beschreiben hilft der ‚Kriegermodus‘ allerdings wegen seiner begrenzten Reichweite kaum. Der ‚Kriegermodus‘ ermöglicht aber gerade wegen seiner begrenzten Reichweite, die mit der Fokussierung eines einzigen Aspekts des ‚Kriegerseins‘ entsteht, quellenimmanente Zusammenhänge für die Formulierung von Fragen und Annahmen sowie für die Kritik an Annahmen zu beachten. Der ‚Kriegermodus‘ wurde auch deskriptiv verwendet. Dabei konnten weitere Aspekte des ‚Kriegerseins‘ tangiert und für die Argumentation auf der Deutungsebene integriert werden. Somit wurde zusätzlich gezeigt, dass, auch ohne den theoretischen Terminus ‚Herrschaft‘ benutzen zu müssen, Annahmen zu Königen und anderen Anführern formulierbar sind. Sicher ist, dass das Deutungswerkzeug ‚Kriegermodus‘ allein nicht zu der Explikation eines neuen Paradigmas führen kann. Es kann aber nicht um die Genese einer großen Theorie mittels der reinen Beiordnung von Quellenaussagen zu Konzepten gehen, da auf diese Weise die klassische Quellenkritik erschwert wird.

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Fragen und Annahmen intersubjektiv nachvollziehbar zu formulieren sowie diese auf der Deutungsebene zu diskutieren, kann aber ein Beitrag zur Genese einer solchen Theorie sein. Das ist unter dem Gebrauch des ‚Kriegermodus‘ möglich, wobei ebenfalls sicher ist, dass die Genese einer großen Theorie auch auf diesem Wege nicht zwangsläufig wird, denn Annahmen sind deutungstechnische Produkte und keine „Wahrheiten“ der Quellen. Annahmen sind und bleiben überprüfbar und hierfür sind qualitative Ansätze wie der hier thematisierte zweifelsfrei nützlich: Sie bieten Möglichkeiten für die argumentativ-quellenkritische Forschung. Das bisher Zusammengefasste beachtend soll nun zum Abschluss gefragt werden, ob das Deutungswerkzeug ‚Kriegermodus‘ auf Quellen aus anderen Zeiträumen übertragbar ist. Die Antwort ist simpel: Dies muss von Fall zu Fall erfragt und erschlossen werden, denn der ‚Kriegermodus‘ ist eben nicht als eine Konstante der Lebenswirklichkeit der Menschen des europäischen Mittelalters zu verstehen. Die Präzision des ‚Kriegerseins‘ als einen durch ökonomische Praktiken konstituierten Modus sozialer Interaktion ist ausdrücklich kein reiner Befund, sondern – wie bereits ausgeführt – ein auf selektiver Beobachtungen fußendes Mittel der Deutung. Er ist ein geschichtswissenschaftliches Deutungswerkzeug. Der Ausgangspunkt dieser Präzision, nämlich das ‚Kriegersein‘ als ein analytischer Terminus mit einer deskriptiven Funktion, kann aber für eine sachbezogene Art der Debatte eine Referenzgröße über das 5. und 6. Jahrhundert in Gallien hinaus sein, denn dass Menschen im Mittelalter Krieger sein konnten oder auch waren, ist nur schwer zu bestreiten. QUELLENVERZEICHNIS Ammianus Marcellinus, ed. Wolfgang Seyfarth (Schriften und Quellen der alten Welt 21), Bd. 4, München/Zürich 1974. Paulinus von Pella, Eucharisticos Deo sub ephemeridis meae textu, ed. Joseph Vogt, Köln/Wien 1980. Priskos, ed. Roger C. Blockley, Bd. 2, Liverpool 1983. Gai Sollii Apollinaris Sidonii epistulae et carmina, ed. Christian Lütjohann und Theodor Mommsen (MGH AA 8), Berlin 1887. Salviani de gubernatione de Libri VIII, ed. Carl Felix Halm (MGH AA 1.1), Berlin 1877. Tacitus, Germania, ed. Manfred Fuhrmann (Universal-Bibliothek 9391), Neudruck Stuttgart 2002.

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DAS RÖMISCHE HEERMEISTERAMT IM 5. JAHRHUNDERT1 Überlegungen zum Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister in Ost und West Anne Poguntke ZUSAMMENFASSUNG Der Einfluss der magistri militum auf die Politik im westlichen Imperium Romanum nahm seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert zu, wohingegen sich eine ähnliche Entwicklung im östlichen Teil erst ab Mitte des 5. Jahrhunderts vollzog. Die Grundlagen dieser differenten Entwicklung wurden bereits um 400 geschaffen. Kommunikation als Teil von Interaktion diente dabei zur Aushandlung der Handlungsspielräume hoher ziviler und militärischer Beamter. Eine besondere Bedeutung kam der Kommunikation mit dem Kaiser zu, die sich zu Beginn des 5. Jahrhunderts aufgrund verschiedener Faktoren grundlegend änderte und in den beiden Teilen des Reiches eine jeweils andere Ausprägung erfuhr. Anhand der beiden magistri militum praesentales Stilicho und Gainas werden die differenten Kommunikationsweisen so, wie sie anhand der Quellenlage deutlich werden, dargestellt. Daraus werden anschließend Rückschlüsse auf die Handlungsspielräume der Heermeister und ihr jeweiliges Verhältnis zum Kaiser gezogen. VORBETRACHTUNGEN Es bestand seit jeher eine enge Verbindung zwischen Kaisertum und Magistratur, zwischen dem Kaiser und den Amtsträgern. Im Rahmen von Interaktion wurden Handlungsspielräume definiert, ausgehandelt und erweitert. Dem magisterium militiae kann dabei ein bedeutender Einfluss zugeschrieben werden. In diesem Aufsatz soll die Interaktion zwischen Kaiser und Heermeister beispielhaft aufgezeigt werden, wobei der Fokus auf den Aspekt der Kommunikation gelegt wird. 2

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Soweit nicht anders angegeben beziehen sich die Jahreszahlen auf die Zeit nach Christi Geburt. Dem Kommunikationsverständnis zugrundeliegend ist die Kommunikationstheorie von Paul Watzlawick, die in jeglicher Interaktion auch Kommunikation sieht. Da wir uns zur Analyse der kommunikativen Situationen nur auf die Überlieferung beziehen können, soll die KaiserHeermeister-Interaktion anhand ausgewählter Beispiele erläutert werden. Dies hat zur Folge,

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Von Interesse sind die Fragen nach dem Funktionieren der Kommunikation, möglichen Verständnisschwierigkeiten und inwiefern sich hier Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zwischen den beiden Reichsteilen aufzeigen lassen. Um den Rahmen dieses Tagungsbandes nicht zu sprengen, wurde beispielhaft jeweils ein Heermeister des 5. Jahrhunderts ausgewählt: Stilicho für den Westen und Gainas für den Osten. KAISER UND HEERMEISTER IM 5. JAHRHUNDERT Das Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister war spätestens seit Beginn des 5. Jahrhunderts von Spannungen gekennzeichnet. Theodosius I. war für einige Zeit der letzte Kaiser, der selbst an der Spitze eines Heeres in den Krieg zog. Für seine Nachfolger änderte sich das Verhältnis zu den Heerführern beträchtlich. Als mit Theodosius’ Tod 395 seine noch minderjährigen Söhne Arcadius und Honorius die Herrschaft übernahmen, war es zum einen nötig, ihre Herrschaft zu stabilisieren. 3 Theodosius hatte erst Ende 394 mit Eugenius 4 den letzten Usurpator beseitigt und die wenigen Monate bis zu seinem Tod Anfang 395 hatten sicher nicht ausgereicht, die Herrschaft seiner Dynastie ausreichend zu festigen. Zum anderen konnte man zumindest bei dem erst zehnjährigen Honorius nicht davon ausgehen, dass er den kriegerischen Bedrohungen an der Spitze eines Heeres entgegentreten würde. Inwiefern dies und weitere Faktoren das Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister beeinflussten und wie sich die jeweilige Interaktion gestaltete, soll im Folgenden näher betrachtet werden. STILICHO 5 Stilichos Aufstieg im römischen Heer vollzog sich unter Theodosius I., der ihn schließlich 394 wohl nach dem Sieg über den Usurpator Eugenius zum magister militum praesentalis ernannte. Aus den Quellen wird ersichtlich, dass es vor allem seine Verdienste waren, die seinen Aufstieg begünstigten. 6 Seit 394 bekleidete Stilicho das oberste militärische Amt 14 Jahre lang bis zu seinem Tod 408. In den Jahren 400 und 405 erhielt er zweimal das Konsulat. Warum er schließlich 408 verurteilt und hingerichtet wurde, wirft einige Fragen auf.

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dass nicht das gesamte Spektrum kommunikativer Tätigkeit beachtet werden kann. Vgl. zum Kommunikationsmodell Watzlawick (1996); Watzlawick (1980), S. 95–110. Zu Theodosius I., Arcadius und Honorius siehe Prosopography of the Later Roman Empire (im Folgenden abgekürzt als PLRE) I S. 904–905; 99–100; 442. Zu Eugenius siehe PLRE I S. 293. Zur Karriere Stilichos vgl. PLRE I S. 853–858. Vgl. Zosimus Historia Nova IV 57,2; IV 59,1; Claudius Claudianus Carmina; ferner auch Olympiodorus fr. 3 (= Bibl. Cod. loc. cit.) [Blockley]; Johannes Antiochenus fr. 212,1 [Mariev]; Symmachus Epistulae IV 1–14 (ad Stilichonem).

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Die Quellen, die auf das Verhältnis zwischen Kaiser und magister militum eingehen, zeigen ein differentes Bild. Zunächst lassen sich stilichofreundliche, -feindliche und neutrale Quellen finden. 7 Des Weiteren ist bemerkenswert, dass sich die Nachrichten auf zwei Zeitblöcke konzentrieren: Zum einen handelt es sich um die ersten Jahre der Regierungszeit des Honorius zwischen 395 und 400. Zum anderen sind es die Jahre 407/408, die durch zahlreiche Krisen gekennzeichnet waren. 8 Daraus ließe sich nun schließen, dass sich die Herrschaftssicherung zunächst positiv auf das Verhältnis zwischen Honorius und Stilicho auswirkte, der eine dominante Position im Machtgefüge des westlichen Imperium einnahm. In den Folgejahren nach der Konsolidierung wirkte der Heermeister wohl weitgehend unabhängig. Schließlich emanzipierte sich Honorius mit zunehmendem Alter und die Interaktion intensivierte sich. Es ist auffällig, dass Honorius in den Quellen kaum als Agitator auftritt, auch selten als direkter Kommunikationspartner seines Heermeisters, sondern gänzlich in dessen Schatten zu stehen scheint. Im Folgenden sollen die (potentiellen) Kommunikationssituationen näher betrachtet werden. Es handelt sich dabei um a) die Herrschaftssicherung im Jahre 395, b) die Griechenland-Expedition 397 sowie c) das Krisenjahr 407/408. a) Herrschaftssicherung Das Jahr 395 konfrontierte Stilicho durch den Tod des Theodosius mit einer ganz neuen Situation: Zwei minderjährige Augusti standen an der Spitze eines soeben konsolidierten Imperium, gotische Verbände unter Alarich bedrohten die Grenzen des Reiches und die Nachfolge der Theodosiussöhne war keineswegs problemlos gesichert. 9 Da davon auszugehen ist, dass Stilicho das Imperium Romanum und das römische Kaisertum als Bezugsrahmen seines eigenen Wirkens und Handelns, seiner Stellung und seines Status sowie Einflusses anerkannte, musste ihm daran gelegen sein, dies zu erhalten. So war es nötig, die Herrschaft des minderjährigen

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Zu den positiven Quellen zählen die Carmina des Claudius Claudianus, Prudentius Contra Symmachum II sowie die Fragmente des Olympiodorus. Der Bericht des Zosimus sowie die Fragmente des Johannes Antiochenus bieten sowohl positive als auch negative Charakterisierungen, was wohl auf einem Wechsel der ihnen zugrundeliegenden Quellen beruht. Zu den negativen Quellen gehören die Fragmente des Eunapius sowie die Werke zahlreicher Kirchenschriftsteller wie Philostorgius, Orosius und Sozomenus. Auch die späten Quellen Marcellinus Comes und Jordanes weisen eher negative Bewertungen Stilichos auf. Neutral sind vor allem kürzere Notizen, denen keine Tendenz entnommen werden kann, so bei Prosper Tiro, Augustinus und Paulinus von Mailand. Ausnahmen sind der Einfall Alarichs in Italien 401 sowie der Einfall des Radagaisus 405/406. Diese militärischen Ereignisse werden in den Quellen referiert, jedoch ohne Bezugnahme auf eventuelle Kommunikation zwischen Honorius und Stilicho, lediglich als Darstellung der militärischen Ereignisse. Daher werden sie an dieser Stelle außer Acht gelassen. Zum Überblick über die Ereignisse vgl. Börm (2013), S. 33–38; Janßen (2004), S. 4–103. Zu Stilicho vgl. auch Kuhoff (2012), S. 60ff.

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Honorius zu sichern und dies möglichst im Einklang mit den verschiedenen Interessensgruppen – dem römischen Senats- und Provinzadel, dem Militär, der Bevölkerung sowie Ostrom. 10 Dies wiederum gestaltete sich problematisch: Da Stilicho erst 394 im Zuge des Feldzuges gegen Eugenius in den Westen gelangt war, konnte er keine nennenswerten Verbindungen zur römischen Oberschicht aufweisen. 11 Und obwohl er bei Theodosius’ Tod de facto Kommandant der westlichen und großer Teile der östlichen Streitkräfte war, hatte er in der kurzen Zeit seines Aufenthaltes im Westen auch kaum Verbindungen zu den westlichen Teilen des Heeres knüpfen können. Seine Verdienste hatte er allesamt im Osten erworben. 12 Dass es ihm trotzdem gelang, Honorius’ Herrschaft zu sichern und wohl einen Ausgleich zu schaffen, mag einerseits an seinem magisterium gelegen haben. Es darf andererseits nicht unterschätzt werden, dass er wohl gerade wegen seiner geringen Verbindungen von den existenten Einflussgruppen nicht als Gefahr bzw. Konkurrent wahrgenommen wurde. 13 Fraglich ist, inwiefern Theodosius seinen Heermeister zum Vormund seines Sohnes Honorius oder gar beider Söhne bestellt hatte. 14 Eine Stelle bei Ambrosius von Mailand ließe sich zumindest dahingehend deuten, dass er die Fürsorge über beide Söhne Stilicho angetragen habe. 15 Dies klingt wenig formal, doch ist denkbar, dass Theodosius seinem loyalen Heermeister ans Herz legte, ein Auge auf seinen Sohn zu haben. Auch bei Claudian tritt die Vormundschaft über beide Theodosiussöhne auf, dies allerdings erst ab 396 in den Invektiven gegen Rufinus. 16 Die Übertragung der tutela über Arcadius ist allerdings unwahrscheinlich, da dieser zum einen bereits einige Erfahrung hatte sammeln können und zum anderen schon in den letzten Jahren des Krieges gegen Eugenius quasi allein im Osten geherrscht hatte. Nicht zu unterschätzen ist dabei auch der Einfluss ziviler Beamter auf die Politik am Hofe des Arcadius. 17 Im Zuge der Herrschaftssicherung ist auch die Heiratsverbindung zu sehen, die Stilicho über seine Tochter Maria mit Honorius einging. Beide Seiten profitierten von die10 Vgl. dazu auch Bleckmann (1997), S. 564–566. Zum Akzeptanzsystem und dessen Anwendbarkeit auf spätantike Verhältnisse vgl. Pfeilschiffer (2014), S. 114–117. 11 Sehr plausibel dazu Janßen (2004), S. 4–12, 20–30. 12 Ders. S. 25. 13 Ebenso Janßen (2004), S. 7. 14 Zur Forschungsdiskussion bzgl. der Vormundschaftsübertragung vgl. Janßen (2004), S. 27– 33, Girardet (2008), Börm (2013), S. 42–43, Cameron/Long (1993), S. 3–4. 15 Ambrosius, De obitu Theodosii oratio 5. […] nisi ut eos praesenti commendaret parenti: […]. Dagegen Börm (2013) S. 42. 16 Claudian, In Rufinum II (V), 4–6. […] iamque tuis, Stilicho, Romana potentia curis / et rerum commissus apex, tibi credita fratrum / utraque maiestas geminaeque exercitus aulae. Aufgrund der Quellengattung sind die Aussagen Claudians als sehr tendenziös einzuschätzen und müssen daher äußerst kritisch betrachtet werden. 17 So wird in den Quellen häufig angegeben, Rufinus sei als Vormund des Arcadius in Konstantinopel eingesetzt worden. Vgl. Eunapius, Fragmenta historica 62,1 (= Exc. de Sent. 59), 62,2 (= Suda P240) [Blockley]; Philostorgius, Historia ecclesiastica XI 3; Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos VII 37,1–16; Zosimus, Historia Nova V 1,1–4; V4–5,1; Johannes Antiochenus, fr. 213, fr. 215 [Mariev].

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ser Verbindung: Stilicho erreichte eine noch festere Anbindung an das herrschende Kaiserhaus und konnte als Schwiegervater des Honorius auch seinen Anspruch der Vormundschaft festigen. 18 Für Honorius bedeutete diese Verbindung die Einbindung des Heeres, das nach Theodosius’ Tod wohl am ehesten seinem obersten Heerführer zu folgen gedachte. Waren immer schon Usurpatoren gerade aus den Reihen der Generäle aufgestiegen, so musste diese Kraft dem jungen, militärisch unerfahrenen Kaiser verbunden werden. 19 Es ist daher bereits allein aus der Konstellation im Jahre 395 ersichtlich, dass Interaktion und Kommunikation zwischen den verschiedenen Einflussgruppen stattgefunden haben mussten. Auch wenn wir in den Quellen kaum direkte Aussagen zur Aushandlung der Machtverhältnisse finden, wird doch aus dem Fortgang der Geschichte deutlich, dass Stilicho eine dominierende Rolle innerhalb dieses Machtgefüges einnahm, während der Kaiser selbst wohl kaum direkt beteiligt war. b) Die Griechenland-Expedition 397 Das Konfliktpotenzial zwischen Ost und West entzündete sich nach dem Angriff Alarichs auf Konstantinopel und seinem Einfall in Griechenland. 20 Warf man seitens des Ostens Stilicho vor, er habe Alarich gegen Ostrom aufgestachelt, 21 so wird in anderen Quellen auf die aktive Teilhabe des praefectus praetorio Orientis Rufinus eingegangen. 22 Die Darstellung bei Orosius und anderen macht deutlich, dass wohl beiden ein Anteil an der katastrophalen Situation in Griechenland zuge18 Seit seiner Heirat mit Serena, der Nichte des Theodosius, ca. 384/385, war Stilicho bereits eng mit dem Kaiserhaus verbunden. Seine Stellung als Schwiegervater des Augustus Honorius musste seinen Einfluss dabei weiter steigern und diese Verbindung festigen. Vgl. Janßen (2004), S. 20–23; Demandt (1980), S. 617–620. Claudius Claudianus, Epithalamium dictum Honorio; Zosimus, Historia Nova V 4–5,1; Prudentius, Contra Symmachum II 711ff; Marcellinus Comes s.a. 408; Jordanes, de origine actibusque Getarum 154; de summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum 322; Johannes Antiochenus, fr. 212,1 [Mariev]. Zur Hochzeit mit Stilichos zweiter Tochter Thermantia vgl. außerdem Olympiodorus fr. 3 (= Bibl. Cod. loc. cit.; Zos. V 27,2–28,3) [Blockley]. 19 Man denke nur an die Wirren nach Neros Tod im Jahr 68/69 oder die Zeit der Soldatenkaiser sowie die zahlreichen Usurpationen zu Theodosius’ Lebzeiten. Vgl. auch Janßen (2004) S. 7. 20 Alarich war mit einer gotischen Gruppe 397 gegen Ostrom vorgerückt, nachdem seine Entschädigungsforderungen, die er aufgrund seiner Unterstützung des Theodosius im Krieg gegen Eugenius gestellt hatte, nicht erfüllt worden waren. Da eine Belagerung Konstantinopels aussichtslos war, zog er schließlich weiter nach Griechenland, wo er plünderte und zahlreiche Städte eroberte. Philostorgius, Historia ecclesiastica XII 2; Zosimus, Historia Nova V 5–7; Socrates, Scholasticus Historia ecclesiastica VII 10; Claudius Claudianus, In Rufinum II 36ff., de bello Gildonico 453, bellum Geticum 164–5, 177–93, panegyricus dictus Honorio cos. VI 483. Zu Alarich vgl. PLRE II S. 43–48; Faber (2010), S. 163–165; 167. Vgl. Zur Griechenland-Expedition auch Burrell (2004). 21 Philostorgius, Historia ecclesiastica XII 2; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 25. 22 Claudius Claudianus, In Rufinum I 308ff.; II 7ff.; 131ff.; Johannes Antiochenus, fr. 215 [Mariev].

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schrieben wurde und ihr Machtstreben zum Verrat des Reiches an die Barbaren geführt habe. 23 Zumindest halten einige Quellen Stilicho seine Hilfeleistung für Griechenland zugute: So zog er gegen die marodierenden Banden, laut Johannes Antiochenus aus Mitleid mit den Einwohnern Griechenlands. 24 Ein gewichtiger Streitpunkt in den Auseinandersetzungen zwischen Ost und West war dabei wohl das Illyricum. 25 Dies zeigte sich recht deutlich, als der oströmische Hof Stilichos Einsatz in Griechenland schließlich mit einer hostis-Erklärung quittierte, Alarich in diesem Zusammenhang zum magister militum per Illyricum ernannte und gegen den weströmischen Feldherrn schickte. 26 Auch in dieser verwirrenden Situation scheint die Initiative unseren Quellenberichten folgend von Stilicho ausgegangen zu sein, der Illyrien dem Reichsteil des Honorius unterstellen wollte. 27 Überhaupt scheinen die Streitigkeiten der Kaiserhöfe mehr von den faktischen Machthabern – Heermeister und Prätorianerpräfekt – ausgegangen zu sein. Unsere Quellen bieten uns das Bild gänzlich schwacher Kaiser. 28 Honorius tritt in den frühen Jahren seiner Herrschaft in den Quellen lediglich ein Mal als direkter Kommunikationspartner Stilichos auf. Hinsichtlich der Rückführung der oströmischen Truppen an den Hof des Arcadius erfahren wir, – und auch dies nur durch Zosimus – dass Stilicho wohl in Kontakt zu Honorius trat.29 So habe er diesem vorgeschlagen, seinem Bruder einige Militäreinheiten zuzusen23 Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos VII 37,1–16; 38; Zosimus, Historia Nova V 5,1; 7. 24 Johannes Antiochenus, fr. 215,2 [Mariev]. Οὐ μὴν καὶ ὁ Στελίχων ἐνταῦθα ὅμοιος ἦν, ἀλλὰ διέπλευσε μὲν αὐτὸς ἐς τὴν Ἑλλάδα, καίτοι μηδὲν προσήκουσαν τοῖς τῆς ἑσπερίας τέρμασι, τὰς τῶν ἐνοικούντων οἰκτείρας συμφοράς· Dazu außerdem: Claudius Claudianus, In Rufinum II; Zosimus, Historia Nova V 7,2. 25 Zum Illyricum im 4. Jahrhundert vgl. Cedilnik (2006); Lotter (2003), S. 7–30. 26 Zosiumus, Historia Nova V 5,1; V 7; V 11–12. Alarich wurde wohl um 399 zum magister militum per Illyricum ernannt. So Claudius Claudianus, In Eutropium II 214–18; bellum Geticum 496–7; 535–9. Vgl. dazu auch Faber (2010), S. 163–165; 167; Janßen (2004), S. 55–59; 67–70; Lotter (2003), S. 12. 27 Olympiodorus, fr. 6 (= Bibl. Cod. 80 pp 167f.) [Blockley]; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 25; Zosimus, Historia Nova V 26–27, 29. Vgl. dazu auch Heather (2009), S. 27–29, der Stilicho ein Interesse am Illyricum erst um 404 zuschreibt. Vgl. dazu auch Janßen (2004), S. 173–186. 28 Honorius und Arcadius als Marionetten in den Händen ihrer Vormünder: Eunapius, Fragmenta historica 62,1 (= Exc. de Sent. 59) [Blockley]; Zosimus, Historia Nova V 1,1–4; V 8. Besonders deutlich ist die Charakterisierung des Arcadius bei Philostorgius, Historia ecclesiastica XI 3 als klein, zierlich, schwach, geistesarm und mit schläfrigen Augen. Vgl. dazu auch Kuhoff (2012), S. 62. 29 Zosimus, Historia Nova V 7. Da Zosimus’ Werk erst ca. 100 Jahre nach den Ereignissen entstand und zudem zahlreiche Fehler hinsichtlich Chronologie und Inhalt enthalten sind, wird seine Glaubwürdigkeit in der modernen Forschung angezweifelt. Trotzdem kann er uns gerade aufgrund fehlender bzw. lückenhafter Überlieferung als sinnvolle Ergänzung dienen und wichtige Einblicke in die Ereignisse der Zeit ermöglichen. Man sollte jedoch derartige Einzelnachrichten kritisch betrachten und nicht überbewerten. Zur Forschung bzgl. Zosimus vgl. Liebeschütz (2003), S. 206–215; Goffart (1971), S. 412–441.

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den, damit dieser den (durch Alarich) bedrängten Provinzen Hilfe leisten könne. Honorius hätte ihn daraufhin mit der Durchführung betraut. Dies alles sei zudem nur aus dem einen Grunde geschehen, dass Stilicho dem Rufinus den „Untergang bereiten“ 30 wollte und gedachte, seine Verschwörung mittels der Armee bzw. dem ihm loyalen Heerführer Gainas durchzuführen. 31 Honorius taucht hier eher am Rande auf: Stilicho plante ein Komplott zur Beseitigung des östlichen praefectus praetorio und holte sich, um dies zu verschleiern, die Legitimation zur Truppenverschiebung vom Kaiser. Diese Passage ist jedoch nur bedingt glaubwürdig, bedenkt man, dass im vorangehenden Abschnitt bzgl. Stilichos Eingriff in Griechenland nichts von einer Interaktion mit Honorius zu lesen ist. Ein solcher, eigenmächtiger Eingriff in die Belange des Ostreiches hätte aber weit mehr einer Absicherung bedurft, als die Rückführung der oströmischen Truppen. 32 Für die Griechenland-Expedition lässt sich somit festhalten, dass wir durch die Quellen von direkter Kommunikation erfahren, die zwischen den verschiedenen Einflussgruppen stattfand. Hierbei handelte es sich um die Kaiserhöfe in Rom/Mailand und Konstantinopel, wobei erneut die Kaiser in den Hintergrund traten, während die Aktivitäten von anderen Potentaten ausgingen: Im Westen bestimmte weiterhin der magister militum praesentalis die Tagespolitik, im Osten war es der praefectus praetorio Orientis. c) Das Krisenjahr 407/408 Während wir über die Zeit zwischen 400 und 407/408 kaum etwas erfahren, 33 häufen sich die Quellenberichte zu Stilichos letzten Jahren. Neben dem Einmarsch Alarichs in Noricum kam es 407/408 zur Usurpation des Constantinus in Gallien und zum Tod des Ostkaisers Arcadius. 34 Auch die mutmaßliche Verschwörung des magister officiorum Olympius habe maßgeblich zum Fall Stilichos beigetragen. 35 Bemerkenswert ist, dass jetzt auch Honorius als direkter Kommunikationspartner Stilichos auftritt. Da die genannten Ereignisse eng miteinander verbunden waren, sollen sie im Folgenden zunächst kurz erläutert und anschließend die Interaktion der Beteiligten genauer betrachtet werden. Streitpunkt zwischen ost- und weströmischem Kaiserhof war laut Sozomenus erneut das Illyricum, welches Stilicho „dem Reichsteil des Honorius unterstellen 30 Zosimus, Historia Nova V 7,3: ἐπεὶ δὲ παρεγένετο, παραχρῆμα θάνατον ἔγνω Ῥουφίνῳ κατασκευάσαι τρόπῳ τοιῷδε. 31 Zur Rufinus-Affäre vgl. außerdem S. 253–254. Zu Rufinus siehe PLRE I S. 778–781. 32 Burrell (2014) sieht die Initiative bei Stilicho. 33 Eine Ausnahme ist hier der Aufstand des Radagaisus, von dem aber lediglich kurze Notizen überliefert sind und der daher an dieser Stelle außer Acht gelassen wird. Zu Radagaisus vgl. PLRE II S. 934. 34 Zu Constantinus vgl. PLRE II S. 316–317. Die Quellen zu den einzelnen Ereignissen werden an der entsprechenden Stelle erwähnt. 35 Zu Olympius vgl. PLRE II S. 801–802.

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wollte“. 36 Er habe darum dem „Gotenführer“ 37 Alarich den Titel eines römischen Generals verschafft. 38 Alarich zog aufgrund dieses geheimen Abkommens wohl um 405/406 erneut nach Epirus, um dort seinen Einsatz abzuwarten. 39 Den Umständen geschuldet – ein gewisser Radagaisus fiel mit barbarischen Truppen in Italien ein – musste das Unternehmen jedoch zunächst aufgeschoben werden, Alarich weiterhin warten, während Stilicho die Armee gegen die Eindringlinge führte. 40 Alarich scheint zumindest bis 407 gewartet zu haben, die Chronologie der anschließenden Ereignisse ist schwer zu rekonstruieren. Berichtet wird von Briefen des Honorius, die Stilicho zurückhielten: Laut Olympiodor und Sozomenus sei Arcadius gestorben und Honorius plane eine Reise nach Konstantinopel. 41 Laut Zosimus hätte sich ein gewisser Constantinus in Britannien zum Usurpator erhoben. 42 Beides sind historische Ereignisse, fraglich ist, welches Stilicho wirklich zurückhielt. Die Usurpation des Constantinus bedrohte Honorius Herrschaft, spätestens nachdem jener von Britannien aus aufs Festland übergesetzt hatte. 43 Sie spricht aber auch dafür, wie prekär die Lage an der Peripherie des weströmischen Reiches war. 44 Dass Honorius sich in einer solchen Situation an seinen Heerführer wandte, ist logische Konsequenz, gehörten militärische Aufgaben doch zur Kernkompetenz des magister militum. Aber auch der Tod des Arcadius wäre plausibel. Letztlich war Alarich des Wartens müde und zog um 408 in Richtung Noricum. Von dort aus schickte er eine Gesandtschaft, laut Zosimus zu Stilicho, und verlangte für seinen dem Abkommen entsprechenden Aufenthalt in Epirus Tributzahlungen. Stilicho habe die Gesandtschaft zunächst empfangen, anschließend sei er aber nach Rom gereist, um mit Kaiser und Senat das weitere Vorgehen zu erör36 Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 25,3: […] ὥστε καὶ τοὺς τῇδε ὑπηκόους δῆθεν ῦπὸ τὴν Ὀνωρίου ἡγεμονίαν ποιῆσαι. 37 Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 25,3: […] Ἀλαρίχῳ τῷ ἡγουμένῳ τῶν Γόθων […]. 38 Was für sich schon ein interessanter Aspekt ist, bedenkt man, dass Alarich bereits um 399 durch den oströmischen Hof zum magister militum per Illyricum ernannt worden war, um eben gegen jenen Stilicho zu kämpfen. Eventuell hatte Stilicho in den Streitigkeiten zwischen Ost- und Westhof um 403 dem Gotenführer lediglich versprochen, dass er seine Stellung behalten dürfe, sollte er sich in die Dienste des weströmischen Kaiserhofes stellen. Zum Titel vgl. Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 25,3; IX 4,2 […] στρατηγοῦ Ῥωμαίων ἀξίωμα […] bzw. […] στρατηγοῦ Ῥωμαίων ἀξίαν […]. 39 Zumindest erwähnt Zosimus das Geschehen im Vorfeld des Radagais-Aufstandes, der zum Scheitern des Vorhabens beigetragen habe. Vgl. Zosimus, Historia Nova V 26. 40 Zum Einfall des Radagais vgl. FN 31, PLRE II S.934; Zosimus, Historia Nova V 26,3; Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos VII 37,4; Prosper Tiro s.a. 400; Marcellinus Comes s.a. 406; Jordanes, de summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum 321. 41 Olympiodorus, fr. 5,2 [Blockley]; Sozomenus, Historia ecclesiastica IX 4,4–8. 42 Zosimus, Historia Nova V 27. Zudem nennt Zosimus das Gerücht, Alarich sei gestorben, als Hinderungsgrund für Stilicho. 43 Zur Usurpation des Constantinus vgl. Olympiodorus fr. 13 [Blockley]; Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos VII 40,4; Zosimus, Historia Nova V 27,3; VI 2,2; VI 3,1; Prosper Tiro s.a. 407; Sozomenus, Historia ecclesiastica IX 11,2. 44 Vgl. zur Lage in Britannien und an der Peripherie des Reiches Bleckmann (1997), S. 566– 575.

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tern. Die Senatoren hätten mehrheitlich für den Krieg gegen Alarich gestimmt, wäre es doch eine Schande, einen Frieden von einem Barbaren mit Geld zu erkaufen. Stilicho aber argumentierte schlau: Alarich habe sich zum Vorteil des Kaisers so lange in Epirus aufgehalten, man wolle gemeinsam den Kaiser des Ostens bekämpfen, Illyrien von dessen Herrschaft abtrennen und dem Reichsteil des Honorius hinzufügen. Ja, und wäre nicht das Schreiben des Kaisers eingetroffen, hätte man dieses Unternehmen auch schon längst ausgeführt. Hinzu kommt der etwas seltsame Hinweis, dass die Schuld bei Serena, der Frau Stilichos, läge, der daran gelegen sei, die Eintracht unter den Kaisern zu wahren. 45 Schließlich schienen Stilichos Ausführungen allen Senatoren als begründet und man beschloss Alarich eine Summe von 4.000 Pfund Gold zu zahlen. Nach der Darstellung dieser scheinbar rational getroffenen Entscheidung erwähnt Zosimus allerdings, dass die Mehrzahl der Senatoren nicht aus eigenem Ermessen, sondern aus Angst vor Stilicho so abgestimmt habe. 46 Nur Lampadius habe sich getraut, die Wahrheit zu sagen: Non est ista pax, sed pactio servitutis. 47 Obwohl nun alles geregelt schien, wurde Stilicho, der auf eine schnelle Abreise drängte (und dies wohl nicht ohne guten Grund), erneut durch den Kaiser aufgehalten: Honorius wünschte zuerst die Truppen in Ravenna zu besichtigen. Auch hier soll Serena wieder eine gewichtige Rolle gespielt haben, da ihr laut Zosimus sehr an der Sicherheit des Kaisers gelegen sei – hinge ihr eigenes Schicksal doch auch davon ab. Jedenfalls soll sie den Kaiser zur Reise nach Ravenna angestiftet haben, woraufhin Stilicho mehrfach und auf vielerlei Art versucht habe, ihn davon abzuhalten. Honorius aber habe ihm kein Gehör geschenkt. 48 Das Krisenjahr 408 nahm seinen Lauf, als nun doch die Nachricht vom Tode des Ostkaisers Arcadius in Ravenna eintraf. Während Stilicho beabsichtigte, in den Osten zu gehen, um die Angelegenheiten zu regeln, wollte Honorius dies selbst übernehmen. 49 Konkret ging es vor allem um die Sicherung der Nachfolge des Arcadius durch seinen noch minderjährigen Sohn Theodosius II. 50 Erneut gelang es Stilicho, den Kaiser von der Reise abzuhalten: Zu hohe Reiseaufwendungen, die Bedrohung durch die Usurpation des Constantinus und die Nähe Alarichs und seines Heeres zum west-

45 Man fragt sich nun, welcher Vorteil sich gerade für Serena aus der Eintracht der Kaiser ergäbe und der Verdacht liegt nahe, dass sie hier lediglich als ‚Sündenbock‘ herhalten musste. 46 Zu den dargelegten Ereignissen vgl. Zosimus, Historia Nova V 29. Weitere, jedoch nicht so ausführliche Berichte finden sich bei Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 25; IX 4 und Olympiodorus, fr. 7,1 (= Bibl. Cod. loc. cit.) [Blockley]. 47 Zosimus, Historia Nova V 29,9. „Dies ist kein Frieden, sondern eine Übereinkunft der Sklaverei.“ Übers. d. Verf. Zur Bewertung der Tributzahlungen durch Zeitgenossen vgl. auch Hieronymus, Epistula 123,16. 48 Zosimus, Historia Nova V 30. 49 Zosimus, Historia Nova V 31; Olympiodorus, fr. 5,2 [Blockley]; Sozomenus, Historia ecclesiastica IX 4. 50 Ebd. Honorius hätte mit seiner Anwesenheit im Osten den Primat des Westens unterstreichen können, um den sich in den Vorjahren immer wieder die Streitigkeiten der Höfe gedreht hatten.

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lichen Reichsteil waren schwerwiegende Gründe, einen Verbleib des Kaisers zu untermauern. Doch es kommt zu einem erneuten Intermezzo: Der mutmaßlichen Verschwörung des magister officiorum Olympius. 51 Dieser habe die Nähe zum Kaiser genutzt, um ihn gegen Stilicho aufzubringen, und auch unter den Soldaten Gerüchte gestreut, der magister militum plane seinen eigenen Sohn Eucherius im Osten zum Kaiser zu erheben. 52 Schließlich rebellierten die Soldaten in Ticinum, zahlreiche hochrangige Militärs und zivile Beamte wurden ermordet, sogar von einer Demutsgeste des Kaisers weiß Zosimus zu berichten. 53 Auch Stilicho sei von dieser Entwicklung stark erschüttert gewesen, habe jedoch nicht eingegriffen, da er über die Haltung des Kaisers ihm gegenüber im Unklaren gewesen sei. Schließlich habe der Kaiser auf Veranlassung des Olympius hin ein Schreiben verfasst, das die Inhaftierung des Heermeisters befahl. Anschließend habe der magister officiorum den ins Kirchenasyl geflüchteten Stilicho durch listiges Vorgehen zum Verlassen desselben animiert und in einem zweiten Schreiben seine Hinrichtung befohlen. 54 Die übrigen Quellen berichten über das Ende des Heermeisters ähnliches, gehen jedoch verstärkt darauf ein, dass er den östlichen Kaiserthron für seinen Sohn beansprucht und dies zu seinem Niedergang geführt habe. 55 Die Fragmente, die uns von Philostorgius geblieben sind, zeigen dabei das widersprüchliche Bild der Überlieferung. So soll laut Historia ecclesiastica XII 1 Olympius den Kaiser vor einem Attentat bewahrt und geholfen haben, Stilicho zu beseitigen. Etwas weiter unter erfahren wir aber, dass „andere sagen“ 56, er hätte den Kaiser nicht verteidigt, sondern dessen „Wohltäter“ 57 Stilicho fälschlicherweise der Usurpation angeklagt. Kommen wir nun zur Deutung der dargestellten Kommunikationssituationen. Als erstes erfahren wir von einer direkten Kommunikation zwischen Kaiser und Heermeister durch Briefe des Honorius. 58 Die Kommunikation geht an dieser Stelle vom Kaiser aus, der seinen Heermeister über wichtige Vorgänge im Reich informiert und so dessen Handeln beeinflusst. Wahrscheinlich beinhalteten die Briefe eher die Usurpation des Constantinus als den Tod des Ostkaisers. Eventuell

51 Zu Olympius vgl. PLRE II S. 801–802. Zur Verschwörung des Olympius vgl. Philostorgius, Historia ecclesiastica XII 1; Zosimus, Historia Nova V 32–34; Olympiodorus, fr. 5,3 [Blockley]. 52 Ebd. 53 Honorius soll laut Zosimus, Historia Nova V 32 seinen Purpurmantel und das Diadem abgelegt haben und bloß in eine Tunika gehüllt durch die Stadt gelaufen sein. 54 Zu den Quellen vgl. Fußnote 48. 55 So Philostorgius, Historia ecclesiastica XI 3; XII 1–2; Olympiodorus, fr. 5,2 [Blockley]; Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos VII 38; Sozomenus, Historia ecclesiastica IX 4; Marcellinus Comes s.a. 408; Jordanes, de summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum 322. 56 Philostorgius, Historia ecclesiastica XII 1: Ἄλλοι δὲ οὐκ Ὀλύμπιον, ἀλλ’ Ὀλυμπιόδωρόν φασιν. 57 Ebd.: τῷ εὐεργέτῃ. 58 Siehe Seite 246.

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gab es zu einem späteren Zeitpunkt einen erneuten Briefwechsel, der den Tod des Arcadius thematisierte, und auf den sich Olympiodor und Sozomenus bezogen. Auch wenn die Glaubwürdigkeit des Zosimus in der Forschung häufig angezweifelt wird, kann es durchaus bereits Ende 407/Anfang 408 zu einem Briefwechsel zwischen Kaiser und Heermeister bzgl. des Übertrittes des Constantinus und seiner Armee auf das Festland gekommen sein. 59 Vermutlich dienten die Briefe dazu, den magister militum über die Vorgänge an der Peripherie des Reiches zu informieren und seine Anwesenheit in Italien zu sichern. Im Falle eines drohenden Krieges gegen den Usurpator war der Kaiser auf die Streitkräfte und seinen Präsentalheermeister angewiesen. Honorius tritt damit aktiv in die Kommunikation zu seinem Heermeister ein, ergreift die Initiative, um seine Herrschaft zu sichern. Als zweites erfahren wir von einer Gesandtschaft Alarichs und einer Senatssitzung. 60 Dass Alarich sich mit seinen Forderungen nach Tributzahlungen an den Heermeister richtete, scheint plausibel, hatte er doch scheinbar auch mit ihm das Abkommen zum Aufenthalt in Epirus getroffen. Interessant ist aber, dass Stilicho sich anschließend an den Senat wandte. So wahrte er den hergebrachten Weg, den Senat an wichtigen Entscheidungen teilhaben zu lassen. Jedoch legen Zosimus’ Ausführungen nahe, dass es sich nur dem Anschein nach um eine offene Beratung handelte. 61 Die Entscheidung hatte der magister militum praesentalis schon längst getroffen, nun ging es nur darum, sich durch den Senat und den Kaiser abzusichern. Daraus wird ersichtlich, welch massive Handlungsspielräume Stilicho zur Verfügung standen. Es zeigt sich aber auch, dass er mittlerweile gezwungen war, sich an gewisse Konventionen zu halten. Es war nicht mehr möglich, Kaiser und Senat völlig außen vor zu lassen. Ihr Einverständnis war zumindest rein formal nötig, um das weitere Vorgehen abzusichern. Bemerkenswert ist außerdem, dass Zosimus zwar erwähnt, Stilicho wolle „mit dem Kaiser und dem Senat das weitere Vorgehen […] erörtern“, 62 in der Beratung selbst aber nur die Senatoren und der Heermeister aktiv werden. Honorius scheint keinen aktiven Beitrag geleistet zu haben, ja es ist sogar fraglich, ob er überhaupt in Rom anwesend war, war doch der Kaiserhof bereits 402 nach Ravenna verlegt worden. In diesem Zusammenhang ist auch die dritte Situation interessant, in der Honorius den Wunsch äußert, die in Ravenna stationierten Truppen zu besichtigen. 63 Wenn sich der Kaiserhof bereits seit knapp fünf Jahren dort befand, sollte dies keine Schwierigkeiten verursachen und weder den Heermeister noch den Kaiser in seinen Handlungen einschränken. Es zeigt aber ein gewisses Emanzipationsbestreben des Kaisers und eine zunehmende Einschränkung des Einflusses Stilichos,

59 Zur Glaubwürdigkeit des Zosimus vgl. Fußnote 29. 60 Siehe S. 246–247. 61 Vgl. Zosimus, Historia Nova V 29,9: […] τῶν πλειόνων οὐ κατὰ προαίρεσιν ἀλλὰ τῷ Στελίχωνος φόβῳ τοῦτο ψηφισαμένων […]. 62 Zosimus, Historia Nova V 29,5: […] κοινώσασθαι τῷ βασιλεῖ καὶ τῇ γερουσίᾳ περὶ τοῦ πρακτέου βουλόμενος. 63 Siehe Seite 247.

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dem es eben nicht mehr gelang, seine Vorstellungen entgegen den Wünschen des Kaisers durchzusetzen, der offenbar nicht mehr bereit war, in allen Angelegenheiten ausschließlich auf seinen Heermeister zu vertrauen. 64 Andererseits wird Serena, die Frau Stilichos, ins Spiel gebracht. Sieht man einmal von dem Anachronismus ab, sie habe einen Marsch Alarichs auf Rom befürchtet, so scheint auch ihr übriges Handeln wenig plausibel. Warum sollte sie gegen ihren eigenen Mann arbeiten? Warum sollte er nicht ebenso wie sie um die Stellung im Reich gefürchtet haben? Indem Zosimus sie als die Verursacherin darstellt, spricht er Honorius jegliche Eigeninitiative ab und verzerrt den ersten Eindruck der zunehmenden Emanzipation des Honorius. 65 Die vierte Situation stellt einen wichtigen Einschnitt dar: Mit dem Tode des Ostkaisers Arcadius und der Frage nach der Sicherung der dynastischen Nachfolge öffnete sich ein wichtiges Feld kaiserlicher Politik.66 Es verwundert also nicht, dass es zu einer aktiven Kommunikation zwischen Kaiser und Heermeister kam. Auch in dieser Situation wird ein gewisses Emanzipationsbestreben des Honorius deutlich, der die Regelungen im Osten selbst vornehmen wollte. Doch Stilicho konnte gute Gründe für den Verbleib des Kaisers einbringen: Die Bedrohungen durch die Usurpation des Constantinus und durch die Nähe Alarichs und seiner Truppen. Die zu hohen Reisekosten können dagegen als Scheingrund entlarvt werden und in einer so wichtigen Frage nicht von entscheidender Bedeutung gewesen sein. Auch Stilichos Plan, Alarich gegen Constantinus ziehen zu lassen, scheint äußerst sinnvoll. 67 Einerseits könnte man so den Usurpator beseitigen, ohne römische Truppen im Westen zu binden. Andererseits wäre der barbarische Truppenführer, der schon so lange auf seinen Einsatz im Osten wartete, beschäftigt und würde nicht erneut auf die Idee kommen, gegen Westrom zu ziehen. So ließ sich schließlich auch Honorius überzeugen, im Westen zu bleiben, um die eigene Herrschaft zu sichern. Der Kaiser konnte zwar nicht mehr übergangen werden, sondern musste durch aktive Kommunikation in den Prozess der Entscheidungsfindung eingebunden werden. Dabei war es für Stilicho offensichtlich dennoch ein leichtes, den Kaiser in seinem Sinne zu beeinflussen und so Entscheidungen herbeizuführen, die seinen Vorstellungen entsprachen. Als letztes folgt die Verschwörung des Olympius, bei der der Kaiser wieder völlig in den Hintergrund tritt und sich keine direkte Kommunikation zwischen Kaiser und Heermeister erkennen lässt. 68 Zunächst entzieht Stilicho sich der

64 Vgl. Janßen (2004), S. 163. 65 Serenas Einfluss am Kaiserhof war sicher nicht zu unterschätzen, trotzdem spielt sie nur bei Zosimus eine Rolle. Vgl. Zosimus Historia Nova V 29,8; V 30,2; Janßen (2004), S. 60–61; 157–165. 66 Siehe Seite 247. 67 Zu den Verhandlungen zwischen Kaiser und Heermeister vgl. Zosimus, Historia Nova V 31,3–6. 68 Siehe Seiten 247–248.

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Kommunikation, indem er nicht in die Soldatenrevolte bei Ticinum eingreift. 69 Es wird deutlich, dass er sich über sein Verhältnis zum Kaiser nicht mehr sicher war, dass seine Handlungsspielräume sich zunehmend verringerten und er immer mehr an Einfluss verlor. Der Kaiser hingegen scheint völlig unter dem Einfluss des magister officiorum gestanden zu haben. 70 Er kommunizierte nicht mit seinem Präsentalheermeister über die Vorwürfe und Gerüchte, sondern reagierte lediglich auf die Entwicklung: Die Soldaten versuchte er mittels einer Demutsgeste, dem Ablegen von Purpurmantel und Diadem, zu besänftigen. Seinen Heermeister ließ er inhaftieren und hinrichten. Letzteres nicht auf eigene Initiative hin, sondern als Marionette seines magister officiorum. 71 Abschließend kann festgehalten werden, dass sich Stilichos Verhältnis zu Honorius wandelte. War er zunächst in einer einflussreichen Position und konnte weitgehend selbständig und unabhängig wirken, so schränkten sich seine Handlungsspielräume zunehmend ein. 72 Dies zeigt sich unter anderem an der zunehmend aktiven Rolle, die der Kaiser innerhalb der Interaktion einnahm. Der Heermeister war verstärkt gezwungen, Entscheidungen absegnen zu lassen oder direkt auszuhandeln. Schließlich wurde Stilichos Einfluss auf den Kaiser soweit zurückgedrängt, dass ein anderer an seine Stelle trat: Der magister officiorum Olympius. Honorius wirkt weitgehend unselbständig, obwohl auch er zwischenzeitlich die Initiative ergriff, in die direkte Kommunikation zu seinem Heermeister trat und damit die Politik mitzubestimmen suchte. Stilichos ‚Fall‘ hatte dabei sicherlich mehrere Ursachen: Seine Reputation als oberster Heerführer litt unter dem Einmarsch Alarichs in Noricum und der Zahlung von Tributen an dessen Truppen. Es musste das militärische Geschick des magister militum in Frage stellen und ihn der Kooperation mit den Barbaren verdächtig machen, dass er so vehement auf die Auszahlung der Geldforderungen bestand. Dies entfernte ihn von der römischen Senatsaristokratie. Zudem weckte die Usurpation des Constantinus in Gallien Zweifel an der Herrschaft des Honorius. Der legitime Kaiser war scheinbar nicht in der Lage, alle Gebiete seines Reiches entsprechend zu sichern und zu schützen, sodass sich zunächst die Legionen in Britannien dazu genötigt sahen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Constantinus’ rascher Vormarsch nach Gallien deutet darauf hin, dass auch hier die Bevölkerung einen tatkräftigen ‚Kaiser‘ begrüßte. Der Tod des Kaisers Arcadius zeigte schließlich die latenten Spannungen zwischen Heermeister und Kaiser auf. Stilichos Handlungsspielräume waren zu diesem Zeitpunkt zumindest soweit eingeschränkt, dass ein Handeln ohne Abstimmung mit dem Kaiser bzw. ohne dessen Einverständnis nicht mehr möglich

69 Interessant ist Zosimus’ Aussage, dass Stilicho dem Kaiser trotz der ungewissen Lage treu blieb, zunächst aber auf ein positives Zeichen seitens Honorius wartete. Vgl. Zosimus, Historia Nova V 33. 70 Diesen Eindruck vermitteln zumindest die Darstellungen in den Quellen. 71 Zosimus, Historia Nova V 34. Zu dem veränderten Verhältnis zwischen Heermeister und Kaiser vgl. Kuhoff (2012), S. 62. 72 Vgl. dazu auch Janßen (2004), S. 260–263.

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war. Die Verschwörung des Olympius weist auf eine Diskrepanz zwischen zivilen und militärischen Beamten hin, wobei erstere ihre Handlungsspielräume auf Kosten der letzteren auszuweiten suchten. 73 GAINAS 74 Wie Stilicho diente auch der Gote Gainas, dem laut verschiedener Quellenberichte ein schneller Aufstieg innerhalb der römischen Armee gelang, bereits unter Theodosius I. 75 Im Krieg gegen den Usurpator Eugenius im Jahr 394 soll er gemeinsam mit Saul und Bacurius die barbarischen Foederatenheere geführt haben. 76 395 wurde er dann als Kommandant der östlichen Streitkräfte wieder an den Kaiserhof in Konstantinopel zurückgeschickt, um Arcadius den ihm zustehenden Teil der verbliebenen Truppen zuzuführen. 77 Magister militum praesentalis unter Arcadius war er vermutlich zwischen 399 und 400. Eine frühere Ernennung z.B. anlässlich der Truppenrückführung wird nicht nur in keiner Quelle erwähnt, sondern scheint auch unwahrscheinlich. Immerhin war Arcadius der senior Augustus und das Verhältnis zwischen den Brüdern bzw. ihren Höfen angespannt. Eine Ernennung durch Honorius kann demnach ausgeschlossen werden und es gibt keinen ersichtlichen Grund für Arcadius, eine solche zu diesem frühen Zeitpunkt vorzunehmen. Sinnvoll wird sie erst im Zusammenhang des Tribigild-Aufstandes 399, als Gainas und ein gewisser Leo gegen die Aufständischen ins Feld geschickt wurden. 78 Die Darstellungen des Tribigild-Aufstandes erscheinen in den Quellen sehr konfus und von zahlreichen Intrigen durchwoben, so dass es kaum nachvollziehbar ist, wer wirklich welche Rolle spielte und was uns die verschiedenen Autoren glaubhaft machen wollen. 79 Dass die Situation schließlich im Jahr 400 eskalierte und in einem Massaker an den in Konstantinopel verbliebenen Goten endete, mag auf den ersten Blick anlässlich der Quellenlage als logische Konsequenz erschei73 Vgl. dazu Mazzarino (1942), S. 231–246; 280–300; 321–322. Dagegen sieht Janßen auch die oberen Militärsbefehlshaber an der Soldatenrevolte beteiligt. Vgl. Janßen (2004), S. 240–250. 74 Vgl. PLRE I S. 379–380. 75 Zum militärischen Aufstieg des Gainas vgl. Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4,1; Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6,1; Johannes Antiochenus, fr. 216 [Mariev]. 76 Vgl. Zosimus, Historia Nova IV 57,2; 58,2; Johannes Antiochenus, fr. 212,2 [Mariev]. 77 Vgl. Zosimus, Historia Nova V 7,4–6; Philostorgius, Historia ecclesiastica XI 8; Johannes Antiochenus, fr. 215,2 [Mariev]; Marcellinus Comes s.a. 395; Jordanes, de summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum 319. 78 Zum magisterium militiae vgl. Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4,5–6 […]πεζῶν καὶ ἱππέων τὴν ἡγεμονίαν ἐκ βασιλέως ἔχων.; Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6,2: […]στρατηλάτης Ῥωμαίων ἱππικῆς τε καὶ πεζικῆς ἀναδείκνυται.; Theodoretus, Historia ecclesiastica V 32: […] ἄγων […] τῶν Ῥωμαίων ἱππικῆς τε καὶ πεζικῆς ἀναδείκνυται. 79 Zum Tribigild-Aufstand vgl. Zosimus, Historia Nova V 13; 14,5; 25,2; Claudius Claudianus, In Eutropium II 236–7 ; 274ff. ; 462ff.; Philostorgius, Historia ecclesiastica XI 8; Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4; Johannes Antiochenus, fr. 216 [Mariev]; Eunapius, Fragmenta historica fr. 67,10–11 [Blockley].

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nen. Betrachtet man aber die genauen Umstände und zieht mögliche Beweggründe der Protagonisten in Betracht, scheinen die wahren Ursachen der Ausschreitungen im Dunkeln zu liegen. 80 Nachdem Gainas die Flucht aus Konstantinopel noch gelang, wurde er schließlich jenseits der Donau in einem Gefecht mit hunnischen Verbänden ermordet. 81 Im Folgenden sollen wiederum die (potentiellen) Kommunikationssituationen näher betrachtet werden. Es handelt sich hierbei um a) das Rufinus-Attentat 395, b) den Tribigild-Aufstand 399 und c) das Gotenmassaker in Konstantinopel im Jahr 400. a) Das Rufinus-Attentat 395 Schon bei seiner Rückkehr in den Osten im Jahr 395 sorgte Gainas für Aufsehen: Als der Kaiser in Begleitung des praefectus praetorio Orientis (PPO) Rufinus vor die Stadt kam, um die Truppen der Sitte nach zu begrüßen, jubelten die Soldaten dem Kaiser zu und akklamierten ihm als Augustus. Kurz darauf aber zogen sie ihre Schwerter und erschlugen Rufinus. 82 Die Quellenlage zu diesem Ereignis ist vielfältig. Zeitnahe Quellen wie Socrates und Sozomenus berichten lediglich ganz allgemein von der Rückkehr der Truppen aus dem Eugenius-Feldzug und der Ermordung des Rufinus durch die Soldaten vor den Toren der Stadt. Dies sei geschehen, da er verdächtigt wurde, die Usurpation anzustreben und die Barbaren, vornehmlich Hunnen, in das Reich geladen zu haben. 83 Die mit Zosimus beginnende spätere Überlieferung berichtet dagegen von der direkten Beteiligung des Gainas am Rufinus-Attentat. 84 Einige Quellen geben sogar an, er habe im Auftrag des westlichen magister militum praesentalis Stilicho gehandelt, der aufgrund seiner vielfach bezeugten Feindschaft zu Rufinus dessen Ermordung geplant habe. 85 Es ist allerdings fraglich, inwieweit Stilicho und Gainas kooperierten oder überhaupt nach der Rückkehr des letzteren in den östlichen Teil des Imperium in Kontakt standen. 86 Es ist aufgrund der oben genannten Quellenlage allerdings 80 So auch Cameron/Long (1993), S. 199–233. 81 Der Hunnenführer Uldin schickte dabei bemerkenswerterweise den Kopf des Gainas an Arcadius, wohl als Zeichen seiner Loyalität gegenüber dem Ostkaiser. Vgl. Zosimus, Historia Nova V 21,9–22,2; Marcellinus Comes s.a. 400, s.a. 401. 82 Zu Rufinus siehe PLRE I S. 778–781. Über das Attentat berichten: Zosimus, Historia Nova V 7,4–6; Marcellinus Comes s.a. 395; Jordanes, de summa temporum vel origine actibusque gentis Romanorum 319; Johannes Antiochenus, fr. 215,2 [Mariev]; Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 1,4–7; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 1,2–4; Eunapius, Fragmenta historica fr. 64,1 [Blockley]. 83 Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 1,4–7; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 1,2–4. 84 Zosimus schrieb ca. 100 Jahre nach den Ereignissen, weitere Quellen sind Marcellinus Comes, Jordanes und Johannes Antiochenus. Siehe Fußnote 78. 85 Eunapius, Fragmenta historica fr. 64,1 [Blockley]; Zosimus, Historia Nova V 7,4–6; Johannes Antiochenus, fr. 215,2 [Mariev]. 86 Vgl. Cameron (1970), S. 148.

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denkbar, dass die Beteiligung Stilichos und Gainas’ erst im Zuge der weiteren Entwicklung auch auf dieses Ereignis bezogen wurde. Obwohl man eine Reaktion des (anwesenden!) Kaisers auf einen derartigen Ausbruch der Soldaten erwartet, erhalten wir keine Nachricht darüber. Arcadius taucht lediglich als der legitime Kaiser auf, der sich durch seine Begrüßungsgeste der Loyalität der soeben zurückgekehrten Truppen versicherte und versuchte, diese mittels Interaktion an sich zu binden. Auf den strenggenommen heimtückischen Mordanschlag auf Rufinus, der hätte bestraft werden müssen, geht der Kaiser in keiner Weise ein. Es lässt sich annehmen, dass Arcadius die Richtung, die die Entwicklung der Ereignisse einschlug, gar nicht so ungelegen kam. Schließlich hatte er neben seinem PPO wenig eigene Entscheidungsgewalt ausüben können. 87 b) Der Tribigild-Aufstand 399 In den Jahren zwischen 395 und 399 schweigen die Quellen zu Gainas. Erst im Rahmen des Tribigild-Aufstandes taucht er wieder auf und wurde wohl 399 in das Amt eines magister militum praesentalis erhoben. 88 Dies mag der heiklen Situation geschuldet gewesen sein, andere potentielle Kandidaten für diesen Posten sind uns zumindest nicht bekannt. Die einflussreiche Stellung und machtpolitische Rolle, die der Eunuch Eutropius 395/396 am Hof des Arcadius spielte, mag ein Übriges dazu beigetragen haben. 89 Da er zudem im Feldzug gegen die Hunnen 87 Außerdem war es sicher nicht ratsam, sich in der ohnehin aufgeheizten Situation gegen die Soldaten zu wenden, deren Loyalität der Kaiser bedurfte, nicht zuletzt um der Bedrohungen an den Grenzen seines Reiches Herr zu werden. Zum Verhältnis zwischen Arcadius und Rufinus vgl. Zosimus, Historia Nova IV 57,4; Johannes Antiochenus, fr. 213 [Mariev]; Eunapius, Fragmenta historica fr. 62,1–2 [Blockley]; Paulus Orosius, Historiarum adversum paganos VII 37,1. 88 Die einzige Quelle, die einen Zeitpunkt der Ernennung des Gainas zum Heermeister angibt, ist Szomenus, Historia ecclesiastica VIII 4,5: πεζῶν καὶ ἱππέων τὴν ἡγεμονιαν ἐκ βασιλέως ἔχων. Bei ihm erhält Gainas das Oberkommando im Zuge der Verhandlungen in Chalcedon während des Tribigild-Aufstandes. Meines Erachtens ist eine frühere Ernennung plausibler, da Gainas ohnehin ein Kommando übertragen wurde, als der Kaiser ihn gegen Tribigild aussandte. Die übrigen Quellen referieren nur allgemein, dass Gainas es bis zu diesem Amt brachte. Vgl. dazu Fußnote 74. 89 Es ist in der Überlieferung kein anderer magister militum praesentalis für diesen Zeitraum zu finden. Stilicho blieb nach Beendigung des Eugenius-Feldzuges und dem Tode Theodosius’ bei Honorius, Timasius als zweiter Präsentalheermeister ist bis 396 bezeugt, als er wohl im Zuge einer Verschwörung des comes sacri cubiculi Eutropius des Hochverrats angeklagt und in die Verbannung geschickt wurde. Lediglich die magistri militum per Orientem und per Illyricum lassen sich einigermaßen lückenlos rekonstruieren. Für den Orient treffen wir auf Addaeus zwischen 393 und 395/96, gefolgt von Simplicius wohl um 396 und Fravitta, der das Amt bis 400 innehatte. Im Illyricum folgte auf Abundantius, der 396 wohl auch durch Eutropius beseitigt wurde, der Gotenführer Alarich, zunächst zwischen 397 und 401 von Arcadius, anschließend zwischen 403 und 405 durch den Westen eingesetzt. Zu Eutropius vgl. PLRE II S. 440–444.

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398 das Oberkommando über die Streitkräfte selbst geführt hatte, duldete er sicher keinen gleichwertigen Feldherren neben sich. 90 Schon frühe Quellen sehen eine enge Verbindung zwischen dem Aufständischen und dem Präsentalheermeister: So führt Socrates aus, dass Tribigild ein Gefolgsmann des Gainas gewesen und (von diesem?) als Kommandant der Streitkräfte in Phrygien eingesetzt worden sei. Er habe zudem auf Bestreben des Gainas hin mit einer Revolte begonnen, die dieser wiederum dazu nutzte, sich das Oberkommando über die römischen Truppen zu verschaffen. Schließlich sei eigentliches Ziel des Gainas gewesen, die Herrschaft an sich zu reißen. 91 Ähnliche Berichte lassen sich aus den Fragmenten des Eunapius und bei Sozomenus rekonstruieren. 92 Die nachfolgende Geschichtsschreibung folgt diesem Bild recht einheitlich und auch die moderne Forschung schloss sich dem Urteil der antiken Schriftsteller an. 93 Neuere Untersuchungen revidieren das Bild des ‚barbarischen‘ Goten jedoch und fordern zum Umdenken. 94 Der Hergang der Ereignisse soll an dieser Stelle nicht rekonstruiert, sondern der Fokus auf die Kommunikationssituationen gelegt werden, die Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Kaiser und magister militum zulassen. Nachdem Gainas gegen den Aufständischen Tribigild entsandt worden war, soll er diesen insgeheim unterstützt haben. Aufgrund der Verwüstungen und Plünderungen der laut Socrates „fruchtbarsten und wohlhabendsten Regionen des Ostens“ 95 schickte der Kaiser schließlich eine Gesandtschaft, wohl gemerkt zu Gainas – nicht zum Aufständischen Tribigild. Diese Gesandtschaft sollte Gainas (wiederum: nicht Tribigild!) „mit allen möglichen Zugeständnissen“ 96 besänftigen, woraufhin der Heermeister die Auslieferung hoher römischer Beamter forderte: Den ex magister militum per Thracias Saturninus und den praefectus praetorio Orientis Aurelianus, beides Konsulare. 97 Allerdings gab er sich mit ihrer Verbannung zufrieden und verzichtete auf eine Hinrichtung. 98 Es spricht zumindest für die weitreichenden Handlungsspielräume des Heermeisters, dass es ihm gelang, die Exilierung führender Senatoren zu erreichen. Es ist auch interessant, 90 Umso erstaunlicher wirkt die Angabe bei Zosimus, Historia Nova V 14,1, dass Eutropius Gainas und Leo zu Feldherren bestimmte. Aufgrund der eingeschränkten Glaubwürdigkeit des Zosimus sollte diese singuläre Detailinformation nicht überbewertet werden. 91 Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6,5. 92 Eunapius, Fragmenta historica fr. 67,10–11 [Blockley]; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4. 93 Vgl. zur Forschungsdiskussion Kiel-Freytag (2012), S. 112ff.; FN 470. 94 Kiel-Freytag (2012), S. 112; Cameron/Long (1993), S. 199ff. 95 Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6,7–8: […] ἀλλ’ ὅτι καὶ τὰ τῆς ἑῴας ἐπίκαιρα μέρη κινδυνεύειν ἔμελλεν. 96 Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6,8–9: διαπεμψάμενος γοῦν πρὸς αὐτὸν πᾶσι λόγοις καὶ ἔργοις θεραπεύειν ἕτοιμος ἦν. 97 Warum gerade diese beiden als Geiseln gefordert wurden, wird aus den Quellen nicht ganz klar. Gainas verdächtige sie, sein Unternehmen stören zu wollen, schreibt Socrates. Vgl. zur Darstellung der Ereignisse Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6. 98 Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4; Zosimus, Historia Nova V 18.

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dass die kaiserliche Gesandtschaft sich an Gainas richtete, nicht an den aufständischen Tribigild. Hatte sich der magister militum zu diesem Zeitpunkt schon den Aufständischen angeschlossen, die er bekämpfen sollte oder handelt es sich hier um eine nachträglich hinzugefügte Angabe, die den Eindruck der seit langem geplanten Usurpation des Gainas verstärken sollte? Wir werden in dieser Frage wohl keine Sicherheit erlangen, zu tendenziös sind die Quellen, die den Heermeister als typischen Barbaren stilisieren. 99 Es ist aber davon auszugehen, dass Gainas in seiner Funktion als magister militum wohl der direkte Kommunikationspartner der Aufständischen, also Tribigilds, gewesen war. War der Kaiser nun bereit, den rebellierenden Truppen (denn auch Tribigild stand ja im Grunde in römischen Diensten!) 100 Zugeständnisse zu machen, um sie zu besänftigen, so wandte er sich wohl zuerst an den zuständigen Kommandanten, der vor Ort besser in der Lage war, einen günstigen Ausgang zu erreichen. Es macht also durchaus Sinn, die Gesandtschaft zunächst zu Gainas zu schicken und von dort aus das weitere Vorgehen zu planen. Es reichte dies jedoch nicht aus, um die Situation zu beruhigen, so dass es zu einem Treffen zwischen Arcadius und Gainas kam. 101 Dies ist bemerkenswert, erhalten wir hier doch einen Einblick in die direkte Kommunikation zwischen Kaiser und Heermeister. Die Quellen berichten einheitlich, dass sich die beiden am Grab der Märtyrerin Euphemia nahe Chalcedon trafen, gegenseitige Eide austauschten, damit keiner sich gegen den anderen verschwöre, und dass sie schließlich wohl wieder nach Konstantinopel zurückkehrten. Der religiöse und pietätvolle Kaiser habe seine Versprechen gehalten, wohingegen der eigensüchtige, gierige, größenwahnsinnige – kurzum barbarische – magister militum wieder zu seinem ursprünglichen Plan, der Usurpation, zurückkehrte. 102 Es ist bemerkenswert, dass der Kaiser persönlich seinem (abtrünnigen?) Heermeister entgegenging und spricht für die Brisanz der Lage. Immerhin wird Gainas recht einheitlich in der Überlieferung als Kommandant der barbarischen und des größten Teils der römischen Streitkräfte genannt. 103 Das Militär war seinem Heerführer loyal

99 So wird Gainas immer wieder mit typisch „barbarischen“ Eigenschaften bedacht und auf seine barbarische Abstammung eingegangen. Er hätte sich nicht beherrschen können, strebe die Herrschaft an und sei Arianer. Vgl. Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6; Theodoretus, Historia ecclesiastica V 32; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4; Zosimus, Historia Nova V 14,4; 19,1; 21,2. 100 Siehe Fußnote 87. Zur Stellung Tribigilds vgl. Philostorgius, Historia ecclesiastica XI 8; Johannes Antiochenus, fr. 216 [Mariev]; Zosimus, Historia Nova V 13,2; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4,2. 101 Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6,1; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4,5; Zosimus, Historia Nova V 18; Theodoros Anagnostes, Epitome 284; Johannes Antiochenus, fr. 216 [Mariev]. 102 Ebd. 103 Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6; Theodoretus, Historia ecclesiastica V 32.

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ergeben – nicht nur die barbarischen Truppen. 104 Dies verschaffte dem Heermeister einen großen Einfluss auf die Politik am oströmischen Kaiserhof. Wir haben es hier mit einer zweistufigen Kommunikation zu tun: Zuerst schickte der Kaiser lediglich eine Gesandtschaft, kommunizierte also indirekt mit seinem magister militum. Die von jenem gestellten Forderungen wurden zwar erfüllt, doch ließ sich dadurch scheinbar kein Vertrauensverhältnis zwischen Kaiser und Heermeister herstellen. 105 Erst das persönliche Treffen außerhalb des Palastes, außerhalb der Mauern Konstantinopels machte dies möglich. Arcadius begab sich damit auf eine Ebene mit Gainas, was das Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister völlig neu arrangierte. Während sich die Handlungsspielräume des einen verringerten, weiteten sich die des anderen aus. Gainas’ Position und die von ihm bzw. dem Aufstand des Tribigild ausgehende Gefahr müssen so stark gewesen sein, dass Arcadius sich zum Handeln gezwungen sah. Selbst zu einer Unterredung zu gehen war das einzige Mittel, das 399 noch blieb, nachdem die zuvor gestellten Forderungen bereits erfüllt, hohe Senatoren exiliert und der praepositus sacri cubiculi Eutropius gestürzt worden war. Die Kommunikation scheint in diesem Fall erfolgreich gewesen zu sein. Gainas kehrte wohl anschließend nach Konstantinopel zurück und für kurze Zeit scheint Eintracht geherrscht zu haben. Die Exilierung führender Senatoren, die Vernichtung des Eutropius und schließlich die direkte Kommunikation mit dem Kaiser zeigen dabei wohl eher die Diskrepanz zwischen militärischem und zivilem Beamtenapparat, den Kampf um Einfluss und Handlungsspielräume am oströmischen Kaiserhof, als das Streben barbarischer Generäle nach der Kaiserkrone selbst. 106 Dass dem Barbaren Gainas ein seit langem gehegter Plan der Usurpation vorschwebte, dass ihm schließlich auch der Tribigild-Aufstand zu Lasten gelegt wurde, mag rückblickend geschehen sein, in dem Wissen, dass eben jener Heermeister zum Staatsfeind erklärt und ‚besiegt‘ wurde, und der Rechtfertigung dieses Vorgehens gedient haben. c) Das Gotenmassaker in Konstantinopel im Jahr 400 Nach dem Übereinkommen von Kaiser und magister militum und ihrer Rückkehr nach Konstantinopel hielt der Frieden nur kurz. So heißt es, die Stadt sei „von

104 Es ist weder vom Abfall der regulär ‚römischen‘ Truppen noch von dem barbarischer Föderatenkontingente die Rede. Es ist aber davon auszugehen, dass eine solche Begebenheit Niederschlag in den Quellen gefunden hätte, diente sie doch dazu das Ansehen des Heerführers weiter zu schmälern. 105 Zosimus, Historia Nova V 18 beschreibt, dass Gainas ein persönliches Treffen mit dem Kaiser gefordert habe. Möglicherweise wollte er damit verhindern, dass andere Beamte am Hof die Entscheidung des Kaisers beeinflussten. 106 Ähnlich auch Cameron/Long (1993), S. 199–233; Kiel-Freytag (2012), S. 116–120.

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Barbaren überflutet“ 107 und Gainas plane, die ansässigen Silberhändler heimtückisch zu überfallen und auszurauben. Außerdem wollte er den Palast niederbrennen, was jedoch durch Gottes Schutz verhindert worden sei. Schließlich traten die Barbaren eingeschüchtert die Flucht an, wobei sie von den Torwachen ertappt wurden, als sie versuchten Waffen aus der Stadt zu tragen. 108 Diese Geschichte, die schließlich zu der hostis-Erklärung gegenüber Gainas und dem Massaker an den in Konstantinopel verbliebenen Goten führte, wirft einige Fragen auf: Warum sollte Gainas so plötzlich nach der Übereinkunft mit Arcadius zur Revolte schreiten? Warum sollte er Konstantinopel anzünden, in dem doch auch sein Haus stand und viele weitere Goten lebten? Was sollte ihn dazu bringen, die Silberläden auszurauben? Er war immer noch magister militum praesentalis, ihm unterstanden die römischen Truppen, die ihren Sold vom Kaiser bezogen und nicht aus Plünderungszügen. 109 Die Kontrahenten der zivilen Beamtenschaft waren beseitigt, das Heer war ihm loyal untergeben, von einem anderen großen Heerführer erfahren wir nichts und der Kaiser hatte durch seine Bereitschaft für ein Treffen, die Machtverhältnisse deutlich gemacht. Kurz: Was also sollte Gainas dazu getrieben haben, erneut den Umsturz zu wagen? Vielleicht hilft uns ein anderer Erzählstrang, der erst mit der Kirchengeschichte des Theodoret einsetzt, Licht in das Dunkel des Geschehens zu bringen. Es ist die mutmaßliche Forderung des Gainas nach einer arianischen Kirche für sich und seine Glaubensgenossen. 110 Theodoret berichtet von dieser Begebenheit im Zusammenhang mit der Figur des Johannes Chrysostomos, des damaligen Patriarchen von Konstantinopel, und stilisiert diesen zum Helden, zum Kämpfer des wahren Glaubens, zu einer Lichtgestalt, der gegenüber der niederträchtige und von der „Krankheit des Arius“ 111 angesteckte Barbar Gainas steht. 112 Ähnliches berichtet Sozomenus mit leicht geänderten Nuancen: 113 Ruft bei Theodoret der Kaiser den heiligen Johannes zu sich, um sich über die Forderung nach einer aria107 Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6,14: Βεβαρβάρωτο γοῦν ἡ πόλις ὑπὸ τῶν πολλῶν μυριάδων καὶ οἱ αὐτῆς οἰκήτορες ἐν αἰχμαλώτων μοίρᾳ ἐγένοντο. Ähnlich Johannes Antiochenus, fr. 216 [Mariev]. 108 Die Ereignisse in Konstantinopel werden sehr ausführlich dargestellt, u.a. bei Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VI 6; Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4; Zosimus, Historia Nova V 18–22; Johannes Antiochenus, fr. 216 [Mariev]. Kürzere Nachrichten finden sich in den Fragmenten des Eunapius, bei Marcellinus Comes und Jordanes. Immer wieder wird besonders bei den Kirchenhistorikern auf den göttlichen Schutz eingegangen, dem Konstantinopel unterlag. Eine weitere interessante Quelle ist in diesem Zusammenhang die Schrift De providentia des Synesios, die die Vorgänge in Konstantinopel im Jahr 400 auf literarische Weise verarbeitet. Vgl. dazu ausführlich Cameron/Long (1993). 109 Dazu ausführlich Cameron; Long (1993), v.a. S. 199–233, 301–333; Kiel-Freytag (2012), S. 111–124. 110 Die Forderung ist bei Theodoretus, Historia ecclesiastica V 32–33 und Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4 überliefert, die nahezu zeitgleich lebten. 111 Theodoretus, Historia ecclesiastica V 32,2: οὗτος καὶ τῆς Ἀρείου λώβης μεταλαχών, […]. 112 Theodoretus, Historia ecclesiastica V 32–33. 113 Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4.

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nischen Kirche auszutauschen, so ist es bei Sozomenus die Initiative des Patriarchen, der zufällig von den Geschehnissen erfährt und von sich aus vor Arcadius tritt. In beiden Berichten wird deutlich, dass die Verdienste des Johannes Chrysostomos hervorgehoben werden sollen, der die katholische Kirche vor Schaden bewahrt und den Kaiser weise beraten habe. Während Theodoret im Vorfeld der Aufstände in Thrakien von den kirchlichen Ereignissen in Konstantinopel berichtet, schiebt Sozomenus die Episode zwischen die Übereinkunft in Chalcedon und die Ereignisse in Konstantinopel. 114 Und genau dies könnte helfen, die Umstände des Gotenmassakers von 400 etwas zu erhellen. Macht es nämlich wie oben bereits erwähnt keinen Sinn, dass Gainas in Konstantinopel erneut den Aufstand wagte, nachdem alle seine Forderungen erfüllt wurden, so ließe sich ein Grund für die Unruhen sehr wohl in dem Wunsch nach einer ‚arianischen‘ Kirche finden. Zahlreiche Aufstände und Unruhen in Konstantinopel waren durch religiöse Streitigkeiten motiviert. 115 Immer wieder trafen Anhänger unterschiedlicher Glaubensrichtungen aufeinander, was nicht selten in gewalttätigen Ausschreitungen endete. So kann auch für das Jahr 400 und die Auseinandersetzungen zwischen den in Konstantinopel ansässigen Goten und der übrigen Stadtbevölkerung ein religiöses Motiv glaubhaft gemacht werden. 116 Dies würde die Person des Heermeisters Gainas in einem anderen Licht erscheinen lassen: Er wäre nicht mehr der machtbesessene Militärführer, der sich das oströmische Reich Untertan machen und den rechtmäßigen Kaiser Arcadius stürzen wollte. Man könnte ihm lediglich vorwerfen, hinsichtlich seiner Forderungen unvorsichtig gewesen und zu weit gegangen zu sein. Es handelte sich hierbei folglich um fehlgeschlagene Kommunikation: Gainas erwartete die Erfüllung seiner Forderungen gemäß seiner Erfahrungen aus dem Vorjahr. Der Kaiser war dieses Mal aber nicht bereit, Zugeständnisse zu machen. Außerdem traten weitere Kommunikationspartner hinzu: Der erst 398 zum Patriarchen von Konstantinopel gewählte Johannes Chrysostomos und die Bevölkerung Konstantinopels. 117 Aufgrund dieser Faktoren, des religiösen Aspektes der Auseinandersetzung und der angespannten Lage in Konstantinopel ließ sich keine Übereinkunft erreichen und die Situation eskalierte. Gainas entzog sich in der Folge durch Flucht weiterer Kommunikationsversuche, Arcadius setzte mit der hostis-Erklärung ein eindeutiges Zeichen, so dass es keinen Weg zurück gab.

114 Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4. 115 Kürzlich dazu erschienen Kiel-Freytag (2012). 116 Da mit Fravitta ein Mann ebenfalls barbarischer, vermutlich sogar gotischer Abstammung gegen den zum hostis erklärten Gainas und sein Gefolge in den Krieg zog, kann eine allein gegen Goten bzw. Barbaren gerichtete Aggression ausgeschlossen werden. Gegen eine antibarbarische Aktion, wie sie die ältere Forschung zu erkennen glaubte, sprechen auch Cameron/Long (1993), S. 9f.; 323ff.; Kiel-Freytag (2012), S. 113ff. Zur älteren Forschung vgl. Gluschanin (1989), S. 224–227. 117 Zu Johannes Chrysostomos vgl. PLRE I.

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FAZIT UND AUSBLICK Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister um 400 haben sich anhand der gewählten Beispiele verschiedene Ergebnisse für Ost- und Westreich ergeben. Zwar handelte es sich jeweils um einen einflussreichen magister militum, der seine Handlungsspielräume erhalten und ausbauen sowie Einfluss auf die Politik des jeweiligen Kaiserhofes nehmen wollte. Es waren wohl auch beide weitgehend romanisierte Personen (semi-)barbarischer Herkunft, die sich ihre Position durch den Dienst im römischen Heer erarbeitet hatten und schließlich gestürzt wurden. Die Interaktion zwischen Kaiser und Heermeister gestaltete sich aber unterschiedlich: Während Stilicho als der ‚starke Mann‘ bei Hofe erscheint und Honorius völlig in den Schatten drängt, kaum direkte Kommunikation zwischen den beiden ersichtlich und erst im Krisenjahr 407/408 eine stärkere Position des Kaisers deutlich wird, tritt Gainas schon recht früh in die direkte Kommunikation mit Arcadius. Hören wir zunächst nur von Gesandtschaften und gestellten Forderungen, kommt es schließlich zu einem Treffen außerhalb Konstantinopels, wobei – und das ist der entscheidende Punkt – der Kaiser sich zu seinem magister militum begibt. Diese Geste des Kaisers hinterließ einen gewaltigen Eindruck: Gainas muss sich sicher gefühlt haben, weitere Forderungen zu stellen und auch deren Erfüllung mit Leichtigkeit zu erreichen. Dass er sich dabei mit dem Wunsch nach einer ‚arianischen‘ Kirche in den Bereich der Theologie und die Handlungssphäre des Konstantinopolitaner Patriarchen vorwagte, verschob den Kommunikationsradius: Johannes Chrysostomos und die Konstantinopolitaner Bevölkerung traten als dritter Verhandlungspartner hinzu. Für Gainas bedeutete dies, dass er seine Ziele nicht mehr allein durch seine machtpolitische Position am Kaiserhofe erreichen konnte, sondern dass andere Einflussfaktoren einbezogen werden mussten. Eine Situation, die Stilicho nur zu gut kannte, war er doch im Westen auf die Kooperation mit Senats- und gallorömischer Aristokratie, Heer und Stadtbevölkerung angewiesen. Für Gainas hingegen scheint diese Entwicklung völlig unvorhersehbar gewesen zu sein. Darauf deutet zumindest der Fluchtversuch der Goten aus Konstantinopel in einer Nacht- und Nebelaktion hin. Gainas entzog sich damit der Kommunikation. Vielleicht versuchte er, wieder in jene Situation zurückzugelangen, in der er 399 die Erfüllung seiner Forderungen erreicht hatte. Möglicherweise ließe sich anderenorts in eine bessere Verhandlungssituation kommen, möglicherweise das direkte Einwirken des Patriarchen und der Bevölkerung vermeiden. Dass dies nicht gelang, lag sicher an der bereits aufgeheizten Stimmung in Konstantinopel und zu einem gewissen Teil an der daraus folgenden Eigendynamik der Ereignisse. Arcadius wusste die Situation für sich zu nutzen: „Ein guter Einfall“ 118 war es laut Sozomenus, der ihn dazu brachte, Gainas zum Staatsfeind zu erklären. Der Kaiser sah in diesem Moment die Chance gekommen, sich des einflussreichen Heermeisters zu entledigen und die Regierung fortan selbständig

118 Sozomenus, Historia ecclesiastica VIII 4,16: ἀγαθὴ δὲ γνώμη.

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durchzuführen, wäre mit Gainas erst einmal der letzte mächtige Mann am Hofe beseitigt. An die erneute Aufnahme diplomatischer Verhandlungen, an Kommunikation als Weg zur Versöhnung war nicht mehr zu denken. Stilicho hingegen scheiterte an vielerlei Dingen: Es waren die äußeren Krisen, die immer wiederkehrenden Barbareneinfälle, die er nicht mehr zu stoppen wusste. Es waren der Tod des Kaisers Arcadius und die unsichere Nachfolge im Ostreich, über die er sich mit Honorius zerstritt. Es war sicher zu einem gewissen Teil auch das Emanzipationsbestreben des nun 23jährigen Kaisers, der nicht mehr nur Figur auf dem Thron sein wollte. Es waren aber auch Intrigen wie die des Olympius, Feindschaft innerhalb der Beamtenschaft, die zum Sturze Stilichos 408 beitrugen. Bedeutend für die weitere Entwicklung des Imperium Romanum waren beide Heermeister, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise. Während die Stilicho nachfolgenden magistri militum des Westreiches eine starke Position in dessen Machtgefüge einnahmen, über große Handlungsspielräume verfügten und diese oft geschickt auszubauen wussten, traten die oft minderjährigen Kaiser zunehmend in den Hintergrund. Auch nach dem Verlöschen der theodosianischen Dynastie gelang es nicht, dauerhaft einen starken Kaiser am westlichen Hof zu installieren. Im Ostreich hingegen konnte unter anderem durch das Massaker an den Goten im Jahr 400 der Einfluss der militärischen Beamten zunächst zurückgedrängt werden. So sind uns zwar auch für den Osten zahlreiche Heermeister bekannt, die teilweise über lange Amtszeiten verfügen, doch scheinen sie nicht grundlegend in die Regierungsgeschäfte eingegriffen zu haben. Erst in den 430er Jahren tauchte mit Flavius Ardabur Aspar wieder ein magister militum praesentalis auf, der wohl über weitreichende Handlungsspielräume verfügte. Zudem gelang es im Osten auch nach dem Verlöschen der theodosianischen Dynastie, eine im Vergleich zum Westreich relativ stabile Nachfolge zu etablieren. So entstand bereits nach dem Tod des Theodosius I. um 400 eine differente Ausgangslage in den verschiedenen Gebieten des Imperium Romanum, die die anschließende Entwicklung maßgeblich beeinflusste. LITERATURVERZEICHNIS Bruno Bleckmann (1997), Honorius und das Ende der römischen Herrschaft in Westeuropa, in: HZ 265, S. 561–595. Henning Börm (2013), Westrom. Von Honorius bis Justinian, Stuttgart. Emma Burrell (2014), A Re-Examination of Why Stilicho abandoned his Pursuit of Alarich in 397, in: Historia 53/2, S. 251–256. Alan Cameron/Jacqueline Long (1993), Barbarians and the Politics at the Court of Arcadius, Oxford. Alan Cameron (1970), Claudian. Poetry and Propaganda at the Court of Honorius, Oxford. Alenka Cedilnik (2006), Das Illyricum im 4. Jh. Zusammenfassung, in: Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 9, S. 37–72. Alexander Demandt (1980), Der spätrömische Militäradel, in: Chiron 10, S. 609–636. Eike Faber (2010), Athanarich, Alarich, Athaulf. Zum Wandel westgotischer Herrschaftskonzeptionen, in: KLIO 92, S. 157–169.

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ENDZEITERWARTUNGEN UND DIE RELIGIONSPOLITISCHEN KONFLIKTE IM OSTRÖMISCHEN REICH DES 5. JAHRHUNDERTS Katharina Enderle ZUSAMMENFASSUNG 475 usurpierte der Heermeister Basiliskos gegen Kaiser Zenon und vertrieb ihn für etwa anderthalb Jahre aus Konstantinopel. Er nutzte seine Herrschaft, um religionspolitische Maßnahmen zu ergreifen, die von den Beschlüssen des Konzils von Chalkedon abwichen. Während der Usurpation hielt sich auch der abgesetzte Patriarch von Alexandreia, Timotheos Ailouros, in Konstantinopel auf, der auf Basiliskos’ Religionspolitik wohl entscheidenden Einfluss nahm. Der Patriarch Akakios und die Bewohner der Stadt reagierten darauf mit einem Aufstand. Der Aufsatz soll zeigen, dass die verschiedenen Akteure von Endzeiterwartungen geleitet waren. Dazu werden auch bislang weniger beachtete Quellen hinzugezogen, die Vita Danielis Stylitae, die Fragmente des Timotheos Ailouros und die apokalyptische ,Siebte Vision Daniels‘. EINLEITENDE BEMERKUNGEN Das 500. Jahr nach Christi Geburt hatte im oströmischen Reich eine immense eschatologische Bedeutung. 1 Sie folgte aus der Annahme, die Welt würde von der Schöpfung bis zur Endzeit 6000 Jahre bestehen und der Berechnung, Jesus sei im Weltjahr 5500 geboren. 2 Trotz der grundsätzlich problematischen Quellenlage im 1

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Gegenstand meiner Dissertation ist die Beobachtung, dass apokalyptische Stimmungen das Ost- und Westreich in ganz unterschiedlicher Weise beeinflussten, was im 5. Jahrhundert zu einem wichtigen und bislang unterschätzten Unterscheidungsmerkmal der beiden Großräume wurde; vgl. Meier (2008). Auch in den westlichen Regionen des Imperium Romanum gibt es verschiedene Quellen, die in den Ereignissen des 5. Jahrhunderts Anzeichen des Weltendes sahen. Doch sie erreichten vermutlich nicht die gleiche Intensität wie im Osten. Kriterien für diese Annahme sind etwa, dass sie sich dort nicht so ausschließlich auf ein Datum konzentrierten und die Quellen regional und zeitlich weiter auseinander liegen. Vgl. Landes (1988); Kitchen (2013); Wieser (2013). Die Zeitspanne von 6000 Jahren ergibt sich aus einer Kombination der sechs Schöpfungstage nach Genesis 1,1–2,3 und der Aussage in Psalm 90,4, 1000 Jahre seien bei Gott wie ein Tag. Diese Auslegung ist erstmals im apokryphen Barnabasbrief belegt (Barnabas 15,4). Die Berechnung der Inkarnation im Weltjahr 5500 stammt aus dem 3. Jahrhundert und geht auf den

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5. Jahrhundert belegen zahlreiche Zeugnisse das Ausmaß dieser Endzeiterwartungen. 3 So tritt Kaiser Anastasios (491–518) in einer kurz nach 500 datierten apokalyptischen Schrift mit Zügen des Antichrist auf und der Verfasser sagt den Untergang Konstantinopels innerhalb der kommenden Jahre voraus. 4 Fast gleichzeitig dokumentiert die in Edessa verfasste Chronik des Josua Stylites, dass in dieser Region der Zusammenfall mehrerer vermeintlicher Zeichen wie Dürren, Seuchen, Himmelszeichen und dem Perserkrieg ebenfalls akute Naherwartungen auslöste. 5 Die chronistischen Berechnungen auf der einen und die als Zeichen wahrgenommenen Ereignisse auf der anderen Seite erzeugten eine apokalyptische Stimmung, die im gesamten oströmischen Reich nachweisbar ist und die auch nach dem Verstreichen des Weltjahres 6000 noch großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Ostreichs ausübte. 6 Im Folgenden soll ein Beispiel aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts zeigen, wie auch schon einige Jahre vor dem Ablauf der 6000 Jahre in Konstantinopel politische Ereignisse von endzeitlichen Vorstellungen begleitet und möglicherweise auch beeinflusst waren. Den Ausgangspunkt für die folgende Untersuchung bildet die Vita eines sehr einflussreichen Asketen, des Styliten Daniel, der in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts mehrere Jahrzehnte auf einer Säule bei Konstantinopel lebte. Daniel stammte ursprünglich aus Mesopotamien und war dort schon sehr jung in ein Kloster eingetreten. Sein vorbildlicher asketischer Lebenswandel ermöglichte ihm den raschen Aufstieg zum Vorsteher des Klosters. Doch er legte sein Amt nieder, eigentlich um nach Palästina zu pilgern. Auf dem Weg begegnete er jedoch einem mysteriösen alten Mann, der ihn unbedingt umstimmen wollte. Er beschwor ihn eindringlich, stattdessen nach Konstantinopel zu reisen. Daniel folgte seinem Rat und wanderte nach Konstantinopel. Nachdem er die ersten Jahre als Asket und Wunderheiler in einem alten Heiligtum verbracht hatte, stieg er im Jahr 460 auf eine Säule bei Konstantinopel.7

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römischen Presbyter Hippolytos zurück (Commentarium in Danielem 4,23,3). Etwa zeitgleich erstellte der Chronograph Julius Africanus ein ähnliches Modell, das von den meisten späteren byzantinischen Chronisten übernommen wurde. Vgl. dazu ausführlicher Landes (1988); Brandes (1997a); Meier (2008). Die alternative Berechnung von Eusebios, der die Geburt Christi ins Weltjahr 5200 datierte und nicht zwingend von einem Endpunkt im Weltjahr 6000 ausging, wurde in Ostrom nicht etabliert. Vgl dazu Hermann/Schmidtke/Koep (1957), Sp. 52–58. Das damals berechnete Weltjahr 6000 fällt nicht genau mit dem heutigen Jahr 500 zusammen, es gab verschiedene Berechnungen, die in diesen Zeitraum fielen. Nach der protobyzantinischen Ära fiel es ins Jahr 491, nach der alexandrinischen Ära ins Jahr 508; vgl. Croke (1990), S. 35. Zur Wahrnehmung des Weltjahres 6000 in Ostrom vgl. folgende grundlegende Literatur: Alexander (1967); Mango (1980), v.a. 201ff; Magdalino (1993); Brandes (1997a); Meier (2003), v.a. S. 11–95; Möhring (2000), S. 24; Külzer (2000), v. a. S. 59; Meier (2008). Das sogenannte Orakel von Baalbek ist ediert, übersetzt und kommentiert von Alexander (1967); vgl. dazu Brandes (1997a), S. 53ff; Meier (2003), bes. S. 67–72; Meier (2009), S. 59; S. 287; Mango (1980), S. 203. Kommentierte deutsche bzw. englische Übersetzungen des syrischen Textes bei Luther (1997); Trombley/Watt (2000). Vgl. Meier (2003). Als Vorbild diente hier Symeon Stylites, der berühmte syrische Stylit, den Daniel auch persönlich kannte und der ihn im Traum zur Nachfolge aufforderte.

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In den folgenden Jahrzehnten wuchs der Ruf des Asketen ständig, das einfache Volk, aber auch die Oberschicht verehrte ihn und es bildete sich eine Gemeinschaft von Anhängern im Umkreis der Säule. Schließlich gewann er das Vertrauen des Kaisers Leon I., mit dem er sehr engen Kontakt hielt und angeblich sogar wichtige politische Entscheidungen maßgeblich beeinflusste. Dieses Verhältnis setzte er mit Leons Nachfolger Zenon fort. Zwei Jahre nach der Krönung von dessen Nachfolger Anastasios I. starb der Stylit im Jahr 493. Dies ist zumindest die – sehr kurz zusammengefasste – Version der Hauptquelle zum Styliten, der Vita Danielis. Ihr anonymer Verfasser war wohl ein jüngeres Mitglied von Daniels Anhängerschaft. Der Text entstand vermutlich nicht allzu lange nach Daniels Tod. 8 In der Vita sind mehrfach endzeitliche Motive verarbeitet: Der Stylit wird immer wieder bewusst in Analogie zum alttestamentarischen Propheten Daniel gesetzt. 9 Das Buch Daniel war einer der einflussreichsten apokalyptischen Texte dieser Zeit. 10 Ein weiterer Hinweis findet sich in der kurzen Rede, mit der der alte Mann Daniel von der Reise ins Heilige Land abbringen will: Er verspricht ihm, er würde in Konstantinopel ein „zweites Jerusalem“ erblicken. 11 Mit dieser Anspielung auf die Schlusspassage der Johannesapokalypse 12 verleiht er Konstantinopel eine eschatologische Qualität. 13 Die detaillierteste Passage der Vita, die mehrere Kapitel umfasst, ist der Bericht von der Usurpation des Basiliskos und Daniels Eingreifen. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass neben der Vita Danielis auch andere zeitgenössische Quellen eine endzeitliche Wahrnehmung dieser Ereignisse belegen, sowohl seitens der politischen Akteure als auch der Bevölkerung Konstantinopels. DIE USURPATION DES BASILISKOS Im Januar 475 verschwor sich Basiliskos, ein Patricius, ehemaliger Konsul, Heermeister und der erste Mann im Senat, gegen Zenon, der seit kurzem Kaiser war. 14 Basiliskos war zudem der Schwager des vorigen Kaisers Leon (457–474) gewesen und folglich mit Zenon über Heirat verwandt, da Zenon mit Ariadne, der Tochter von Basiliskos’ Schwester Verina und Leon, verheiratet war. Die Mitver8 9 10 11 12 13 14

Vgl. zur Datierung Brandes (1997a), S. 38, Anm. 97. Er datiert den Text auf den Beginn des 6. Jahrhunderts; Magdalino (1993), S. 11f. datiert ihn auf ca. 500. Vgl. Enderle (2013), v. a. S. 557–562. Vgl. Podskalsky (1972). Vita Danielis Stylitae 10: [...] ἄπελθε εἰς τὸ Βυζάντιον καὶ βλέπεις δευτέραν Ἱερουσαλήμ, τὴν Κωνσταντινούπολιν. („Geh nach Byzanz und du wirst ein zweites Jerusalem erblicken, die Stadt Konstantinopel.“). Offenbarung 21,9–22,5. Vgl. Magdalino (1993), S. 11f; Brandes (1997a), S. 38 mit Anm. 96; Enderle (2013), S. 554– 557. Vgl. zur hier folgenden kurzen Darstellung der Herrschaft des Basiliskos Redies (1997) und besonders Kośinksi (2010), S. 79–97. Zenons Vorgänger war sein Sohn Leon II., dieser war Leon im Januar 474 auf den Thron gefolgt. Zenon regierte mit seinem Sohn, der jedoch schon Ende 474 starb, die Herrschaft ging dann allein auf Zenon über.

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schwörer waren Senatoren, unter ihnen namentlich zu nennen sind Illos und sein Bruder Trokundos, weil diese beiden eigentlich Vertraute von Zenon gewesen waren, der Gote Theoderich Strabo, sowie Markianos, der Sohn des ehemaligen Westkaisers Anthemios (467–472). Auch Leons Witwe Verina, die Schwiegermutter Zenons, war maßgeblich daran beteiligt. 15 Zenon hatte jedoch schon von der geplanten Revolte erfahren und floh mit seiner Frau Ariadne in seine Heimatregion Isaurien, eine Gebirgslandschaft in Kleinasien. Basiliskos wurde zum Kaiser erhoben und machte seinen Sohn zum Caesar sowie seine Frau zur Augusta. Er regierte jedoch nur gut anderthalb Jahre in Konstantinopel. Was seine Regierung besonders interessant macht, sind die religionspolitischen Maßnahmen, die er durchsetzte und die wohl auch mit ein Grund dafür waren, dass er am Ende scheiterte. Den Hintergrund bildete der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt um die Natur Christi, den auch das Konzil von Chalkedon 451 nicht klären konnte.16 Auf dem Konzil hatten sich die Teilnehmer darauf geeinigt, dass Jesus aus zwei Naturen bestand, aber eine Formulierung gesucht, die Extrempositionen vermeiden sollte. 17 Dennoch fand das Ergebnis in vielen Teilen des Ostreichs keine Akzeptanz. In Alexandreia kam es 457 sogar zum Aufstand: Kaiser Markian (451– 457) hatte den Patriarchen Dioskoros 451 abgesetzt und durch Proterios, einen Anhänger von Chalkedon, ersetzt. Nach Markians Tod im Jahr 457 wurde nun wiederum Proterios abgesetzt und ermordet, stattdessen wurde Timotheos Ailouros zum Patriarchen geweiht, der ein Gegner Chalkedons war. Der Konflikt um Timotheos Ailouros wurde über mehrere Jahre hinweg zwischen dem Papst Leo in Rom, Markians Nachfolger Leon und den Patriarchen in Konstantinopel Anatolios (449–458) und Gennadios (458–471) diskutiert, schließlich wurde Timotheos abgesetzt und ins Exil verbannt. Er blieb jedoch auch während des Exils präsent, er schrieb zahlreiche Briefe, in denen er weiterhin pastorale und beratende Funktionen ausübte und wurde zu einer wichtigen Identifikationsfigur der Chalkedongegner. 18 Obgleich die Anhänger und Gegner von Chalkedon regionale Zentren hatten, führte die Spaltung auch durch einzelne Regionen, in Konstantinopel gab es sowohl Vertreter der einen wie der anderen Position. So war die bereits erwähnte intrigante Führungsschicht hinsichtlich ihrer Sympathien uneins: Während Verina 15 Vgl. Kośinksi (2010), S. 80. 16 Vgl. zum Folgenden Brennecke (1998). 17 Zur christologischen Aussage von Chalkedon s. Grillmeier (1990) 3, Bd. 1, S. 753–775. Die Definition von Chalkedon ist in ACO II 1,2, S. 129f. überliefert. Sehr einflussreich war der sogenannte Tomus Leonis gewesen, ein Brief von Papst Leo an den Patriarchen Flavianos von Konstantinopel, vgl. dazu Grillmeier (1990) 3, Bd. 1, S. 737–750. 18 In der Kirchengeschichte des Zacharias wird Timotheus mit hagiographischen Zügen beschrieben, vgl. Pseudo-Zacharias, Historia ecclesiastica IV 9; V,1. Zacharias war ein gemäßigter Chalkedongegner. Seine Kirchengeschichte ist in einer gekürzten syrischen Fassung aus dem 6. Jahrhundert erhalten, im Folgenden zitiert nach Greatrex (2011). Ähnlich tritt Timotheus auch mehrfach in den Plerophorien von Johannes Rufus auf, einer mündlich tradierten Anekdotensammlung, die Anfang des 6. Jh. verschriftlicht wurde. Das nur auf syrisch erhaltene Werk wurde von Nau (1919) ediert und ins Französische übersetzt.

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eher als Anhängerin von Chalkedon beschrieben wurde, standen Basiliskos und seine Frau Zenonis auf der anderen Seite. Aus diesem Grund rief Basiliskos nun fast unmittelbar nach seinem Herrschaftsantritt Timotheos aus dem Exil zurück.19 Ab März hielt dieser sich dann in Konstantinopel auf. 20 Zu Ostern 475 versandte Basiliskos ein Schreiben an die Bischöfe, in dem er die Beschlüsse von Chalkedon ablehnte und zur Natur Christi nur noch die Aussagen des Konzils von Nikaia 325 für verbindlich erklärte. 21 Als treibende Kraft hinter ihm sah man Timotheos. 22 Diese enge Verbindung zwischen Timotheos und Basiliskos ist nun insofern relevant, als Timotheos in den erhaltenen Schriften mehrfach zum Ausdruck bringt, dass er innerhalb recht kurzer Zeit das Weltende erwartet. Da das mit von ihm initiierte Rundschreiben für die Herrschaft des Basiliskos so wichtig war, möchte ich einen kurzen Überblick über die Endzeitvorstellungen bei Timotheos geben, und dann überlegen, inwieweit diese auf Basiliskos und dessen Religionspolitik Einfluss genommen haben könnten. ENDZEITERWARTUNGEN IN DEN FRAGMENTEN DES TIMOTHEOS AILOUROS Eine genauere Analyse der Schriften von Timotheos wird durch ihre schlechte Überlieferung erschwert. Er schrieb zwar ursprünglich auf Griechisch, die erhaltenen Reste seines Werkes liegen aber nur noch in syrischer, teilweise in armenischer Übersetzung vor. Erhalten sind einige Briefe, Fragmente von dogmatischen Schriften sowie Fragmente eines weiteren Werkes, wohl einer Kirchengeschichte. 23 Belege für seine Überzeugung von einem baldigen Weltende finden sich in allen Gattungen. Ein direkter Hinweis auf den Ablauf der 6000 Weltjahre ist nicht erhalten, doch bildete dieser zeitliche Rahmen wohl den Hintergrund seiner Vorstellungen. Timotheos sieht besonders in der Spaltung der Christen nach Chalkedon ein Anzeichen des kommenden Endes. Das Konzil von Chalkedon und der Tomus Leonis sind für ihn Manifestationen des Bösen und des Antichrist, haben also endzeitliche Relevanz. In seinen Briefen, die meist an befreundete Geistliche gerichtet sind und diese im Umgang mit alltäglichen Problemen, die sich häufig aus der Auseinandersetzung mit ,Häretikern‘ ergeben, beraten, stellt er diesen Zusammenhang mehrfach her. So schreibt er etwa in einem Brief aus den 460er Jah19 Vgl. Kośinksi (2010), S. 83. 20 Kośinski (2010), S. 84: „The arrival of Timothy Ailouros at Constantinople was an event that had played a crucial role in the complete re-orientation of the Empire's religious policy.“ 21 Das sogenannte Enkyklion ist in verschiedenen Versionen überliefert: Evagrius, Historia ecclesiastica III 4; Pseudo-Zacharias, Historia ecclesiastica V 2 (gekürzt); Schwartz (1927), S. 49–51; vgl. zu den verschiedenen Versionen Allen (1981), S. 122–124. Kośinski (2010), S. 85f weist darauf hin, dass der Akt an sich schon sehr ungewöhnlich war: Basiliskos hatte ohne eine Synode abzuhalten einfach kraft seines kaiserlichen Amtes eine dogmatische Richtlinie vorgegeben und Gegenpositionen mit Sanktionen belegt. 22 So Pseudo-Zacharias, Historia ecclesiastica V 1f; Evagrius, Historia ecclesiastica III 4. 23 Übersicht bei Siebigs (2010), Bd. 2, S. 883–910.

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ren, in dem er die Gemeinde in Alexandreia informiert, dass er zwei Priester exkommuniziert habe: „Being deeply distressed over these things, it seemed to me necessary, for the sake of those simple folk who are falling victim to them, to inform everyone, naming the above mentioned Isaiah and Theophilus as persons who, by asserting that our Lord and God Jesus Christ is of an alien nature from us and that he was not consubstantial in flesh with men and that he was not really human, have alienated themselves from our communion with the holy fathers and with me, and give warning that no man henceforth should hold communion with them. For the Evangelist John commands us, saying: ‚Beloved, believe not every spirit, but test the spirits to see whether they are of God; for many false prophets have gone out into the world. Hereby you know the spirit of God. Every spirit which confesses that Jesus Christ is come in the flesh is of God and every spirit which does not confess Jesus is not of God; and this is the spirit of antichrist.‘ [1 Joh 4,1–3] And again, ‚For many deceivers have gone forth into the world, who do not confess that Jesus Christ is come in the flesh. This is a deceiver and an antichrist.‘“ 24

Timotheos berichtet also zuerst, dass er die falschgläubigen Priester exkommuniziert hat, auch um dadurch die Verbreitung ihrer Häresie unter dem einfachen Volk zu verhindern. Die Position der Zweinaturenlehre fasst er so auf, dass ihre Vertreter leugnen würden, dass Jesus „nicht im Fleisch“ gekommen wäre und verbindet sie dadurch mit der Bibelstelle aus dem Johannesbrief über den Antichrist, die er hier dann auch zitiert. Die Vertreter von Chalkedon sind also die prophezeiten Antichristen. Obgleich der Begriff Antichrist nicht immer eine eindeutig endzeitliche Konnotation hat und manchmal auch als Synonym für Häretiker verwendet wurde, 25 ist er im Kontext der vielen Belege für endzeitliches Denken bei Timotheos hier sicher eschatologisch zu verstehen, auch im Johannesbrief (1 Johannes 2,18) wird das Auftreten des Antichrist als Hinweis auf die letzte Stunde genannt. In einem anderen Brief an Faustinus, einen Abt in Palästina, in dem es um die Spaltungen der Gegner Chalkedons untereinander geht, bezeichnet er Palästina als „full of schisms arising out of the teaching of many roving antichrists“. 26 Er schließt diesen Brief mit den Worten „Just as we wait, you too will wait unshaken with us till the end. For yet a little while, he who is coming will come and will not tarry. But the just, he says, shall live by his faith“. 27 Er erwartet also in naher Zukunft die zweite Ankunft Christi und geht davon aus, dass der Adressat seines Briefes das auch tut. Vergleichbare Stellen finden sich auch in den anderen Briefen. Besonders prägnant ist jedoch die Endzeiterwartung in den Fragmenten seines Geschichtswerks greifbar. Die Schrift hat Timotheos auf jeden Fall im Exil verfasst, also in den 460er Jahren oder noch etwas später. Inhalt war wohl eine Dar24 Ebied/Wickham (1970), S. 359. Der Brief des Timotheos war bekannt; er wurde auch in der Kirchengeschichte des Zacharias wiedergegeben, vgl. Pseudo-Zacharias, Historia ecclestiastica IV 12. 25 Vgl. Brandes (1997b), S. 64. 26 Ebied/Wickham (1970), S. 365. 27 Ebied/Wickham (1970), S. 366.

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stellung des christologischen Streits vom Ausbruch bis zu seiner Absetzung als Patriarch. 28 Auch hier wird das Konzil von Chalkedon zum Endzeitereignis: Die Teilnehmer von Chalkedon sind verdammt, denn „le Seigneur ne leur pardonnera pas, ni dans ce monde ni dans le monde à venir“. 29 Es handelt sich dabei um die Abfallbewegung, die in der Bibel als eine Vorphase des Reiches Gottes vorausgesagt ist. Das Konzil von Chalkedon ist also ein deutlich wahrnehmbares Zeichen dafür, dass die letzten Tage gekommen seien. Timotheos wendet auf die Unterzeichner von Chalkedon ein Zitat aus dem ersten Timotheosbrief an, in dem es um Endzeitereignisse geht: „C'est d'eux que le bienheureux Paul écrivait: Dans les derniers temps, certains s'écarteront de la foi; et: Aux derniers jours, il viendra des circonstances difficiles [...]“30 und kommentiert dies folgendermaßen: „Nous […] avons vu de nos yeux que les choses dont il parlait se sont accomplies sur eux“. 31 Außerdem sind die Anhänger von Chalkedon Vertreter falscher Lehren, also falsche Propheten, die in der Bibel ebenfalls als Endzeitfiguren auftreten. 32 Etwas später bringt er das Konzil noch mit weiteren Ereignissen in Verbindung: Die Teilnehmer des Konzils hätten auch Teilung und Spaltungen zwischen den Herrschern verursacht, denn nicht lange nach dem Konzil sei Rom zerstört worden: „Ils ont amené aussi la division parmi les rois et les scissions, car ce n'est pas très longtemps après le concile des prévaricateurs qu'eut lieu la dévastation de Rome et, jusqu'aujourd'hui, l'opposition, la scission et les divisions se trouvent aussi bien dans les confins ecclésiastiques que parmi les rois, car les Occidentaux ne vivent pas en paix jusqu’à maintenant avec les Orientaux“. 33

Das Imperium Romanum galt in Osten und Westen als das letzte Reich nach der Prophezeiung der vier Reiche aus dem Buch Daniel, dessen Existenz das Ende noch aufhalten würde. 34 Mit der Anspielung auf das Ende des Römischen Reiches stellt Timotheos einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Konzil, der Eroberung Roms und der Endzeit her. Aufgrund der Bedeutung eschatologischer Themen bei Timotheos dürfte klarer geworden sein, weshalb seine Anwesenheit in Konstantinopel für die Frage nach dem endzeitlichen Charakter der Religionspolitik des Basiliskos so interessant ist. Ein Hinweis darauf, dass er seine Reise nach Konstantinopel und die damit verbundene Hoffnung auf einen Vorstoß für seine Glaubensanschauungen in einem heilsgeschichtlichen Licht wahrnahm, findet sich in der Epitome der in den 520er Jahren verfassten Kirchengeschichte des Chalkedonanhängers Theodorus Anagnostes. Er berichtet, Timotheos sei auf einem Esel 28 29 30 31 32 33

Im Folgenden zitiert nach Nau (1919). Zum Werk s. Siebigs (2010), Bd. 2, S. 891–893. Nau (1919), S. 215; Kursivsetzungen vom Übersetzer. Nau (1919), S. 212. Nau (1919), S. 213. Nau (1919), S. 213. Nau (1919), S. 216; vgl. Siebigs (2010), Bd. 2, S. 901; Blaudeau (2006), S. 287; Watts (2011), S. 97–106. Timotheus bezieht sich auf die Eroberung Roms durch die Vandalen im Jahr 455. 34 Vgl. Podskalsky (1972); Magdalino (1993), S. 4; Brandes (1997a), S. 24 mit Anm. 3.

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an der Spitze einer Prozession durch die Stadt gezogen. 35 Diese Geste der Imitatio Christi könnte, auch im Zusammenhang mit der heilsgeschichtlichen und eschatologischen Überhöhung Konstantinopels als Zweitem Jerusalem, eschatologisch motiviert gewesen sein. Der wichtigste Beleg dafür, dass auch Basiliskos selbst seine Herrschaft und seine Religionspolitik in einem endzeitlichen Kontext sah, ist das Dokument, mit dem er seine dogmatischen Änderungen im Sommer 476 widerrief. Die Machtverhältnisse in Konstantinopel hatten sich inzwischen stark verschoben: Basiliskos konnte sich nicht mit dem Patriarchen Akakios (471–489) einigen, der seine Haltung zu Chalkedon ablehnte. Es kam sogar in der Bevölkerung zum Aufstand gegen das Enkyklion. Nachdem auch die Unterstützung der früheren Mitverschwörer wegbrach, etwa die des Illos, der eigentlich gegen Zenon ins Feld ziehen sollte, sich dann aber wieder auf dessen Seite stellte, war Basiliskos dazu gezwungen, seine Maßnahmen zu widerrufen. Das so genannte AntiEnkyklion ist bei Euagrios und auf dem Codex Vaticanus gr. 1431 überliefert. 36 Hier ist es etwas länger und enthält noch einen letzten Absatz, der bei Euagrios fehlt. Wolfram Brandes hat auf diese Version bereits aufmerksam gemacht. 37 Basiliskos erklärt zunächst alle seiner Änderungen für ungültig. Er schließt mit den Worten: „Unser göttliches Edikt, das die Kraft einer göttlicher Anordnung hat, gilt und ist für niemanden zweifelhaft. [...] Unser heilbringendes Glaubensbekenntnis der 318 heiligen Väter überlassen wir den Lesern zur Prüfung, damit das Zurückhaltende nicht aus der Mitte entfernt wird, wie der göttliche Apostel [sagt].“ 38

Basiliskos nimmt damit Bezug auf die allgemein bekannte Stelle im 2. Brief an die Thessalonicher, an der der Verfasser des Briefes verkündet, dass das Weltende erst dann kommt, wenn eine nicht näher erklärte aufhaltende Kraft (τὸ κατέχον) beseitigt ist. 39 Brandes hat die Stelle folgendermaßen interpretiert: Mit diesem Zitat soll Zenon als Antichrist dargestellt werden. Mit dem Katechon, also dem, was den Antichrist noch aufhält, ist hier das Imperium Romanum gemeint. Die Gleichsetzung des Katechon mit dem Römischen Reich war seit Langem allgemein verbreitet. Mit Zenons Rückkehr drohte das Römische Reich im Bürgerkrieg

35 Theodorus Anagnostes, Historia ecclesiastica (excerpta et fragmenta), 404; vgl. dazu Blaudeau (2006), S. 175 mit Anm. 410. 36 Vgl. dazu auch Allen (1981), S. 126f. Schwartz (1927), S. 135, bezeichnet den Schlusssatz als „merkwürdige Bereicherung“: „Er erscheint zunächst so grotesk, daß man geneigt ist ihn mit Euagrius zu streichen, aber er ist ohne Zweifel echt.“ 37 Vgl. Brandes (1997a), S. 63. 38 Schwartz (1927), S. 52: τοῦτο δὲ ἡμῶν τὸ θεῖον διάταγμα δύναμιν ἔχον θείας διατάξεως οὐδενὶ ἀμφίβολον καθέστηκεν, […] τό σωτηριῶδες ἡμῶν σύμβολον τῶν τιη ἁγίων πατέρων, τοῖς ἀναγινώσκουσι δοκιμάζειν καταλιμπάνομεν, μή πως ἄρα τὸ κατέχον ἐκ μέσου γένηται κατὰ τὸν θεῖον ἀπόστολον. 39 2 Thessalonicher 6–9. Zur Rezeption dieser Stelle in Ostrom vgl. Brandes (1997a), S. 25, Anm. 7 (mit weiterer Literatur) und S. 63; Podskalsky (1972), S. 55, Anm. 332 mit Quellenbelegen.

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unterzugehen, der Antichrist würde dann zu erkennen sein, also Zenon. 40 Basiliskos sieht sich also offenbar wirklich mit den letzten Ereignissen konfrontiert und bringt das sogar in einem offiziellen Dokument zum Ausdruck. Ein weiterer Aspekt ist daran bemerkenswert: Ein möglicher Bürgerkrieg mit Zenon wird von ihm hier als existenzielle Bedrohung des Imperium Romanum dargestellt, mit dessen Untergang er die Endzeit erwartet. Es ist wohl schwierig zu beurteilen, ob hier die tatsächliche politische Situation ausschlaggebend für diese Bewertung war oder ob die Endzeiterwartungen ihn zu einer solchen Haltung bewegt hatten. Es scheint aber, dass die Deutung der Ereignisse als Endzeitszenario zu einer realen Radikalisierung geführt hatten. Für Basiliskos hat seine Religionspolitik also ebenfalls endzeitliche Dimension. Ob dies auf den Einfluss von Timotheos zurückzuführen ist, ist natürlich nicht klar, aber von einer Kommunikation kann man wohl ausgehen. 41 DIE SCHILDERUNG DER EREIGNISSE IN DER VITA DANIELIS UND DER SIEBTEN VISION DANIELS Dass eine eschatologisch aufgeladene Stimmung auch die Bevölkerung von Konstantinopel ergriffen hatte, belegt die Vita Danielis. Der Kurswechsel in der Religionspolitik hatte das Verhältnis von Basiliskos zum Patriarchen Akakios belastet, der sich der Neuerung widersetzte. In der Folge breitete sich der Widerstand auch unter der Bevölkerung aus. Die Vita liefert die ausführlichste Beschreibung dieser Vorgänge. Denn Daniel rückte ins Zentrum der Bewegung. Auf das Drängen des Akakios verließ er, das einzige Mal zwischen 460 und seinem Tod, seine Säule und ging nach Konstantinopel. 42 Der Anonymus beschreibt recht detailliert den Ablauf. Zunächst kommuniziert Daniel nur schriftlich mit Akakios und Basiliskos. Akakios sendet Daniel einen Bericht über Basiliskos' Maßnahmen. Dieser schickt dann auch selbst einen Boten zu Daniel, um sich über die Ablehnung von Akakios zu beschweren und hofft offensichtlich, den Styliten auf seine Seite zu ziehen, doch Daniel kommt ihm nicht entgegen und schickt den Boten wieder weg. Akakios und die Menge in Konstantinopel erfahren von diesem Verlauf und sind begeistert: „These things [= die Ablehnung des Basiliskos] were not hidden from the Archbishop Acacius and his most faithful people; therefore on the following day almost the whole city was 40 Brandes (1997a), S. 63: „Zenon wird in der Propaganda des Basiliskos also mit dem Antichrist gleichgesetzt, ein Vorgang, der zeigt, wie weit verbreitet das Wissen über den Antichrist war.“ 41 Vgl. Pseudo-Zacharias, Historia ecclestiastica V 1: „When Timothy and those who were present there with him and on his behalf became on familiar terms with Basiliscus and his wife, he urged on the emperor and he agreed to write the Encyclion, in which he condemned the Tome and the addition that took place at [the Council of] Chalcedon […]“. 42 Diese in der Vita so ausführlich beschriebene Aktion ist ansonsten nicht oft belegt, v. a. bei Pseudo-Zacharias, Historia ecclesiastica V 5 und Theodorus Anagnostes, Historia ecclesiastica (excerpta et fragmenta) 407f.

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Das Volk versammelt sich in der Kirche. In Sprechchören bezeichnen sie Daniel explizit als „neuen Daniel“, nehmen also Bezug auf den Daniel aus dem Alten Testament. Zudem setzen sie ihn mit Elias gleich, einem alttestamentarischen Propheten, der ebenfalls eine wichtige endzeitliche Funktion hatte. 44 Das Bild der Kirche als Braut Christi an dieser Stelle ist möglicherweise auch eschatologisch zu deuten. In der Bibel, und besonders in der Offenbarung des Johannes, wird das Bild der Braut auf das himmlische Jerusalem angewandt, 45 in anderen Kontexten wird es, wie hier, auf die Kirche bezogen. Im folgenden Kapitel, als der Stylit sich dann überreden lässt, nach Konstantinopel zu kommen, wiederholt Akakios in seiner Bitte dieses Bild: „On the morrow the Archbishop Acacius sent to Daniel some of the archimandrites who were best beloved of God; [...] Having chosen these he sent them saying, ‚For my sake and the faith’s go to the holy man Daniel, throw yourselves before his column and importune him with entreaties saying, „Do you imitate your teacher Christ Who ‚bowed the heavens and came down‘ […] and was incarnate of a holy virgin and consorted with sinners and shed His own blood to purchase His bride, the Church. Now that she is insulted by the impious, and her people are scattered by fierce wolves and the shepherd tempest-tost, do not ignore my grey hairs but incline your ear and come and purchase your mother, the Church‘.“ 46

Für Konstantinopel gilt, dass schon in früheren Texten Kirche, Stadt und Bevölkerung als identisch empfunden wurden. 47 Dass der Autor hier ein solches stilisiertes Bild der Bevölkerung vor Augen hat, betont er durch die Formulierung, die „ganze Stadt“ (πᾶσα ἡ πόλις) sei da gewesen. Nach der Schilderung des Hagiographen wenden die Bewohner hier also bewusst ein Bild an, dass der Stadt wiederum eine eschatologische Bedeutung verleiht und ihre Rolle als himmlisches 43 Vita Danielis Stylitae 71: Ταῦτα δὲ οὐκ ἔλαθεν τὸν ἀρχιεπίσκοπον Ἀκάκιον καὶ τὸν πιστότατον λαόν. Καὶ ἐγένετο, τῇ ἑξῆς ἡμέρᾳ συνήχθη σχεδὸν πᾶσα ἡ πόλις ἐν τῇ μεγάλῃ ἐκκλησίᾳ·καὶ ἐβόωεν Τὸν ὅσιον τῇ ἐκκλησίᾳ, ὁ νέος Δανιὴλ τὴν Σωσάνναν κινδυνεύουσαν σῶσον· ἄλλος Ἡλίας τὴν Ἰεζάβελ καὶ τὸν Ἀχαὰβ καταισχυνεῖ· τὸν ἱερέα τῆς ὀρθοδοξίας παρὰ σοὶ ἔχομεν· ὁ διὰ Χριστὸν ἱστάμενος τὴν νύμφην αὐτοῦ, τὴν ἐκκλησίαν, διαφυλάξει. Καὶ ἄλλας τινὰς φωνὰς ἀνέπεμπον μετὰ δακρύων. Englische Übersetzung im Folgenden nach Dawes/Baynes (1948). 44 Er tritt in apokalyptischer Literatur als Endzeitfigur auf, Alexander (1967), S. 115 bezeichnet ihn als „a normal component of the Antichrist legend.“ 45 Vgl. Offenbarung 21,1–4. 46 Vita Danielis Stylitae 72: Τῇ δὲ ἑξῆς ἡμέρᾳ ἀπέστειλεν ὁ ἀρχιεπίσκοπος Ἀκάκιός τινας τῶν θεοφιλεστάτων ἀρχιμανδριτῶν […]. Τούτους ἀξιώσας ἀπέστειλεν εἰπών· Ὑπὲρ τῆς πίστεως καὶ ὑπὲρ ἐμοῦ πορευθέντες πρὸς τὸν ὅσιον ἄνδρα Δανιὴλ ῥίψατε ἑαυτοὺς ἔμπροσθεν τοῦ κίονος αὐτοῦ, παρακαλοῦντες δυσωπήσατε αὐτῷ λέγοντες·Μίμησαί σου τὸν καθηγητὴν Χριστόν, ὃς ἔκλινεν οὐρανοὺς καὶ κατέβη, καὶ διὰ παρθένου ἁγίας σαρκωθεὶς ἁμαρτωλοῖς συνανεστράφη, καὶ τὸ οἰκεῖον αἷμα ἐξέχεεν, ἵνα τὴν ἑαυτοῦ νύμφην περιποιήσηται, τὴν ἐκκλησίαν. 47 Vgl. Diefenbach (1996), S. 50 mit Verweis auf Socrates Scholasticus, Historia ecclesiastica VII 22–23.

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Jerusalem wiederholt, außerdem gewinnt dadurch auch das Handeln des Styliten endzeitlichen Charakter. Eine weitere Quelle beschreibt die Herrschaft des Basiliskos als Übergang zur Endzeit: Es handelt sich hier um einen apokalyptischen Text, der unter dem Titel ,Siebte Vision Daniels‘ ediert wurde. Seine erste Fassung muss wohl noch unter Zenon entstanden sein, aber nach der Herrschaft von Basiliskos. Erhalten ist nur eine armenische Übersetzung, das älteste Manuskript stammt aus dem 12./13. Jahrhundert. Sergio La Porta, der die neueste englische Übersetzung publiziert hat, setzt jedoch als Datum für die Übersetzung aus dem Griechischen schon das 6. Jahrhundert an. 48 Er geht davon aus, dass armenische Christen in Byzanz die Übersetzung angefertigt haben. Allerdings wurde später in den Text weiter eingegriffen, was die Interpretation erschwert. Das Grundgerüst ist m.E. aber sicher aus dem späten 5. Jahrhundert, da er gerade von den Ereignissen unter Leon und Zenon sehr gute Kenntnis besitzt und eine Schilderung dieser Episode als Übergang zur Endzeit zu einem späteren Zeitpunkt keinen Sinn mehr ergeben würde. Der Text ist konzipiert als eine weitere Vision, die der Prophet Daniel vom Engel Gabriel erhält, also quasi eine Fortsetzung zum Buch Daniel, in dem nun auch die Ereignisse bis zur Herrschaft Zenons als vaticinia ex eventu vorhergesagt werden. Im Zentrum steht Konstantinopel. Nach einer Reihe von Untergangsprophezeiungen an mehrere Städte, die mehrheitlich im kleinasiatischen Raum liegen, geht die Quelle ausführlicher auf die Geschichte Konstantinopels ein. Sie beginnt mit der mythischen Gründung durch Byzas und springt dann direkt zu Konstantin. In kurzem Abriss werden dann die Kaiser dargestellt. Die zentrale Rolle der Stadt innerhalb der apokalyptischen Schrift verleiht ihr auch hier eine eschatologische Funktion: Nach ihrer mehrfach angedrohten Zerstörung ist der Ort, an dem sie stand, wohl dann als der Ort des Jüngsten Gerichts zu verstehen. 49 Die Vorzeichen der Endzeit nehmen ab Theodosius II. zu. Initiiert werden sie mit dem Beginn der christologischen Auseinandersetzungen um 430. 50 Also wird auch hier eine direkte Verbindung zwischen dem Streit um die Natur Christi und der Endzeit hergestellt. Der Verfasser ist als Anhänger von Chalkedon zu verstehen. Die Passage über die Herrschaft des Basiliskos ist schon durch die Position im Text hervorgehoben, denn es ist eines der allerletzten historischen Ereignisse, auf das fast unmittelbar die Endzeit folgt. Bei der genaueren Analyse der Passage fällt zunächst einmal auf, dass der Autor trotz seiner bewusst verhüllenden Sprache viele Details

48 La Porta (2013), S. 410 datiert die Abfassung des ursprünglichen Textes auf 484/8–491und vermutet, dass er in Bithynien (eventuell in Nikomedeia) entstanden ist. 49 Vgl. Mango (1980), S. 203: „In […] the Seventh Vision of Daniel, […] Constantinople plays a more crucial, yet distinctly maleficient, role.“ 50 La Porta (2013), S. 420: „There will greatly be fear and trembling in your scepter, and this is the beginning of the groanings in your kingdom.“ Das Konzil selbst, das unter Marcian abgehalten wurde, beschreibt er: „And there will be great schisms in his kingdom: priests will fall from their thrones, there will be a fall of many priests, and there will be many vicissitudes for men […]“, La Porta (2013), S. 421.

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bietet, die auch durch andere Quellen belegt sind. 51 Es ist keineswegs die vage Schilderung eines Außenstehenden, sondern auf jeden Fall von jemandem verfasst, der genaue Kenntnis der Abläufe hatte, auch wenn er keinen der Protagonisten beim Namen nennt, sondern sie mit Tiernamen oder Eigenschaften umschreibt. Der Verfasser erwähnt auch die Religionspolitik von Basiliskos und möglicherweise auch den Einsatz des Styliten: „And he [= Basiliskos] will persecute the place of holiness, and with his tongue on holy men and holy relics. And he will obstruct the leadership of the patriarchs, and he will hold captive the churches of holiness. And they who may be dwelling in the caverns and caves and hollows of the earth, they will become wanderers in the desert (and) will come to you, O seven-hilled (city), forced by the dragon. And after all this, they will shake off the dust of their feet in you, and be martyred in you.“ 52

Basiliskos wird als Verfolger der Kirche beschrieben, dann folgt die Auseinandersetzung mit den Asketen. Auffallend ist, dass die Schilderung des Konflikts in der Siebten Vision Daniels an die entsprechende Episode in der Vita Danielis erinnert. In der eben zitierten Passage wird beschrieben, wie die Asketen in die Stadt kommen und sich den Staub von den Füßen schütteln. Damit wird auf mehrere Bibelstellen angespielt: Einmal im Matthäusevangelium, als Jesus die Apostel aussendet: „Wenn man euch aber in einem Haus oder in einer Stadt nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht weg und schüttelt den Staub von euren Füßen“, sowie auf die entsprechenden Stellen bei den Synoptikern. 53 In diesen Bibelstellen geht es um die Aussendung der Jünger, die auch im weitesten Sinne eine endzeitliche Ebene hat, da sie mit dem Kommen des Reiches Gottes verbunden wird und die ausgesandten Jünger dies überall verkünden sollen. Auch der Verfasser der Vita Danielis schildert, dass Daniel und die Menge, die ihn begleitet, diese Bibelstelle nachahmen. Daniel befindet sich auf dem Weg zu Basiliskos. Dabei wendet er sich an seine Anhänger: „For He [= Jesus] said to His holy disciples and apostles, ‚„Into whatsoever city or village ye shall enter and they do not receive you, shake off the dust of your feet against them as a testimony to them“; (Matt 10:11) let us therefore do that‘. And he first of all shook out his leather tunic and incited the whole crowd to do likewise; and a noise as of thunder arose from the shaking of garments.“ 54

51 Beispiele: Zenon nimmt viele Wertgegenstände und Geld mit auf die Flucht, s. La Porta (2013), S. 423f., ebenfalls bei Theodorus Anagnostes, Historia ecclesiastica (excerpta et fragmenta), 402 und im Anonymus Valesianus, 41; Brand der von Julian gebauten Bibliothek mit wertvollen antiken Kunstwerken und Literatur wohl in La Porta (2013), S. 424, vgl. Malchus, Fragmenta, 11. 52 La Porta (2013), S. 424. 53 Matthäus 10,1–16; entsprechend Lukas 10,1–12 und Markus 6,7–13. 54 Vita Danielis Stylitae 75: εἶπεν γὰρ τοῖς ἁγίοις αὐτοῦ μαθηταῖς καὶ ἀποστόλοις· Εἰς οἵαν δ’ ἂν πόλιν ἢ κώμην εἰσέρχεσθε καὶ μὴ δέχονται ὑμᾶς ἐκτινάξατε τὸν κονιορτὸν τῶν ποδῶν ὑμῶν ἐπ’ αὐτοὺς εἰς μαρτύριον αὐτοῖς· τοῦτο οὖν ποιήσωμεν. Καὶ πρῶτος ἐκτιναξάμενος τὸ δερμοκούκουλλον αὐτοῦ, παρεσκεύασεν ἅπαν τὸ πλῆθος τοῦτο ποιῆσαι· γέγονεν δὲ ἦχος ὡσεὶ βροντῆς ἐκ τοῦ ἀποτινάγματος τῶν ἱματίων.

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Es gibt noch weitere Stellen, an denen sich die Beschreibungen der beiden Quellen ähneln. So wird etwa auch hier von Konstantinopel gesagt, es sei wie eine Braut geschmückt. 55 Was dies für ihre Entstehung oder das Verhältnis der Verfasser zueinander bedeutet, dem muss unbedingt noch weiter nachgegangen werden. Auf jeden Fall ist es ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Siebte Vision Daniels wie die Vita Danielis sehr nahe am Geschehen entstanden sein muss und dass ihre radikale Deutung der Ereignisse als allerletzte Momente vor der Endzeit weit verbreitet war. FAZIT Die Episode unter Basiliskos demonstriert durch die vergleichsweise gute Quellenlage anschaulich, dass verschiedene Akteure von Endzeitstimmungen geleitet waren. Die enge Verbindung zwischen dem Beginn der Endzeit und dem Konzil von Chalkedon, sowohl von expliziten Gegnern des Konzils, wie hier Timotheos, aber auch von Autoren, die eher der anderen Seite zuzurechnen sind, wie dem Verfasser der Siebten Vision Daniels, lässt sich auch in einigen anderen Quellen belegen. Besonders deutlich wird die endzeitliche Funktion des Konzils in der Anekdotensammlung Plerophorien des Chalkedongegners Johannes Rufus, die er in den 510er Jahren zusammenstellte 56 und die wohl teilweise auf mündlich überlieferten Geschichten beruhen. Timotheos ist hier ebenfalls eine wichtige Figur. Johannes Rufus zitiert auch aus dessen Geschichtswerk. Wie Timotheus sieht er einen Zusammenhang zwischen dem Ende des Westreichs und der Endzeit. Falschgläubigkeit hatte oft einen endzeitlichen Charakter, eine Identifikationsfigur der Gegenseite konnte zum Antichrist stilisiert werden, dies geschah etwa auch bei Timotheos Ailouros, der von Papst Leo und seinem Nachfolger Simplicius als Antichrist bezeichnet wurde. 57 Der Kaiser war aufgrund seiner heilsgeschichtlichen Funktion als gottgewollter Verwalter des Imperiums ebenfalls prädestiniert, als Antichrist beschrieben zu werden. 58 Die hysterische Stimmung in Konstantinopel spricht für eine grundsätzlich existente Endzeitstimmung unter der Bevölkerung. 59 Für sie ist ein orthodoxer Kaiser unbedingt notwendig, dies zeigt neben der erwähnten Stelle aus der Danielsvita auch das Krönungsprotokoll des Anastasios nach Zenons Tod. 60 Zu bedenken ist auf jeden Fall, dass hier auch die Angst vor einem häretischen Kaiser 55 La Porta (2013), S. 420: „adorned like a bride“. 56 Unter dem Pariarchat von Severus von Antiocheia (512–518). 57 S. Pseudo-Zacharias, Historia ecclestiastica IV 7; Leo: Epistula 156 (ACO II,4, S. 102); Simplicius: Epistula 56 (Collectio Avellana S. 125f.). 58 Belege existieren für Zenon, Anastasios und später auch Justinian, s. zu Zenon: Brandes (1997a), S. 62f; zu Anastasios: Brandes (1997a), v. a. S. 57–61; Meier (2009), v. a. S. 53–59 und 319–324.; zu Justinian: Brandes (1997a), S. 43 mit Anm. 131 (mit älterer Literatur); Meier (2003), v. a. S. 86–89; Scott (2012). 59 Vgl. Meier (2009), S. 286f. 60 Constantinus VII Porphyrogenitus, De cerimoniis aulae Byzantinae I 92.

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mitschwingt, den man als Zeichen der Endzeit verstanden hätte – wie es für Zenon und Anastasios ja auch belegt ist. Die Frage ist darüber hinaus, inwieweit die weit verbreitete Gewissheit, dass das Ende um 500 zu erwarten sei, auch das Chaos in der politischen Führung vermehrt hat, da sie gar nicht mehr davon ausging, dass sie die aktuellen Probleme mithilfe von politischen Maßnahmen in den Griff bekommen könnte. LITERATURVERZEICHNIS Paul Alexander (1967), The Oracle of Baalbek. The Tiburtine Sibyl in Greek Dress (Dumberton Oaks Studies 10), Washington D.C. Pauline Allen (1981), Evagrius Scholasticus the Church Historian (Spicilegium Sacrum Lovaniense. Études et Documents 41), Leuven. Philippe Blaudeau (2006), Alexandrie et Constantinople (451–491). De l’Histoire à la GéoEcclésiologie (Bibliothèque des Écoles Françaises d'Athènes et de Rome 327), Rom. Philippe Blaudeau (1996), Timothée Aelure et la direction ecclésiale de l’Empire postChalcedonien, in: REByz 54, S. 107–133. Wolfram Brandes (1997), Anastasios ὁ δίκορος. Endzeiterwartungen und Kaiserkritik in Byzanz um 500 n. Chr., in: ByzZ 90, S. 24–63. Wolfram Brandes (1997), „Tempora periculosa sunt.“ Eschatologisches im Vorfeld der Kaiserkrönung Karls des Grossen, in: Rainer Berndt (Hrsg.), Das Frankfurter Konzil von 794. Teil I: Politik und Kirche, Mainz, S. 51–79. Hanns Christof Brennecke (1998), Chalcedonense und Henotikon. Bemerkungen zum Prozess der östlichen Rezeption der christologischen Formel von Chalkedon, in: Johannes van Oort/Johannes Roldanus, Chalkedon. Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption der christologischen Formel von Chalkedon (Studien der Patristischen Arbeitsgemeinschaft 4), Leuven, S. 24–53. Brian Croke (1990), Byzantine Chronicle Writing 1. The early development of Byzantine chronicles, in: Elizabeth Jeffreys/Brian Croke/Roger Scott (1990), Studies in John Malalas (Byzantina Australiensia 6), Sydney, S. 27–38. Elizabeth Dawes/Norman Baynes (1948), Three Byzantine Saints. Contemporary Biographies of St. Daniel the Stylite, St. Theodore of Sykeon, and St. John the Almsgiver, Oxford. Steffen Diefenbach (1996), Frömmigkeit und Kaiserakzeptanz im frühen Byzanz, in: Saeculum 47, S. 35–66. Rifaat Ebied/Lionel Wickham (1970), A Collection of Unpublished Syriac Letters of Timothy Aelurus, JThS 21, S. 321–369. Katharina Enderle (2013), Die Vita des Daniel Stylites im Kontext der Endzeiterwartungen um 500 n. Chr., in: Veronika Wieser/Christian Zolles/Catherine Feik/Martin Zolles/Leopold Schlöndorff (Hrsg.), Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Geneaologie der Endzeit (Kulturgeschichte der Apokalypse 1), Berlin, S. 549–562. Geoffrey Greatrex /Robert Phenix/Cornelia Horn (Hrsg.), The Chronicle of Pseudo-Zachariah Rhetor. Church and War in Late Antiquity (Translated Texts for Historians 55), Liverpool. Alois Grillmeier (1991/2004), Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Bd. 2,1. Das Konzil von Chalkedon – Rezeption und Widerspruch (451–518), Freiburg im Breisgau. Alfred Hermann/Friedrich Schmidtke/Leo Koep (1957), Chronologie, in: Reallexikon für Antike und Christentum Bd. 3, Sp. 30–60. Gregoris Kalemkiar (1892), Die siebente Vision Daniels, in: WKZM 6, S. 109–136 und S. 227– 240. Thomas E. Kitchen (2013), Apocalyptic Perceptions of the Roman Empire in the Fifth Century A.D. in: Veronika Wieser/Christian Zolles/Catherine Feik/Martin Zolles/Leopold Schlöndorff

Endzeiterwartungen

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V. METHODISCHE PERSPEKTIVEN

KOMMUNIKATION UND VERSTEHEN Über Bedingungen und Dimensionen des Sprachverstehens * Tobias Schöttler ZUSAMMENFASSUNG Das Sprachverstehen gilt in zwei Hinsichten als problematisch. Zum einen wird immer wieder eine Skepsis gegenüber der Möglichkeit des Verstehens vertreten. Gegen eine solche Skepsis werden die Möglichkeitsbedingungen des Verstehens herausgearbeitet. Zum anderen wird vielfach die Vieldeutigkeit und Vagheit des Verstehensbegriffs kritisiert. Daher werden Dimensionen des Verstehens unterschieden und ihre spezifischen Bedingungen aufgezeigt. Das Resultat der Analyse ist ein dynamisches Modell des Verstehens. 1. EINLEITUNG Man kann sprachliche Äußerungen freilich auch einfach wegen ihres Wohlklangs oder anderer ästhetischer Qualitäten genießen; darüber hinaus sind wir aber meist an dem Verstehen der jeweiligen Äußerung interessiert. Dass das Verstehen gelingt, ist jedoch keine Selbstverständlichkeit, wie Schleiermacher hervorhebt: „Die laxere Praxis in der Kunst geht davon aus, daß sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden. […] Die strengere Praxis geht davon aus, daß sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.“ 1

Während Schleiermacher das Verstehen für grundsätzlich möglich erachtet, wird von neueren Ansätzen häufig die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens hervorgehoben. 2 Dieses Problem des Verstehens ergibt sich jedoch aus spezifischen Kommunikationsmodellen (siehe Kap. 2); denn erstens implizieren diese Modelle Bedingungen für Verstehen, die kaum erfüllbar sind, und zweitens können ihre Kriterien, mittels derer wir (aus der Beobachterperspektive) zwischen gelungenem und misslungenem Verstehen unterscheiden, nicht angewendet werden. Daher folgt aus diesen Modellen gerade die Skepsis von der Unwahrscheinlichkeit des *

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Ich möchte Andrea Kruse für wertvolle Anmerkungen zu einer früheren Version des Aufsatzes danken. Schleiermacher (1838), S. 92. Vgl. etwa Luhmann (1981), bes. S. 56.

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Verstehens. Gegen eine solche Skepsis werde ich die Möglichkeitsbedingungen des Verstehens herausstellen (siehe Kap. 3). Selbst wenn die Möglichkeit des Verstehens gegeben ist, bleibt noch die Vagheit bzw. Vieldeutigkeit des Verstehensbegriffs als Problem. Diesem Problem werde ich durch eine Differenzierung von Dimensionen des Verstehens entgegenwirken (siehe Kap. 4). Abschließend fasse ich die Charakteristika des kommunikativen Verstehens zusammen (siehe Kap. 5). 2. DAS PROBLEM DES VERSTEHENS Der Ausdruck ‚Verstehen‘ wird in verschiedenen Kontexten verwendet und gewinnt in diesen Verwendungen Kontur durch seine Gegen- wie auch seine Korrelativbegriffe. 3 Zu den Gegenbegriffen des Verstehensbegriffs gehören das Missund das Nichtverstehen. Die Gruppe der Korrelativbegriffe des Verstehens umfasst Ausdrücke wie ‚begreifen‘, ‚erfassen‘, ‚auslegen‘, ‚interpretieren‘ und ihre entsprechenden Derivate, aber auch Begriffe wie ‚Sinn‘ und ‚Bedeutung‘. Gerade der Interpretation als Korrelativbegriff zum Verstehen wird in den letzten Jahren zunehmend mit Skepsis begegnet. 4 In seiner überaus einflussreichen Studie über die Einflussangst behauptet Harold Bloom gar, dass jede Interpretation eine Fehlinterpretation sei: „There are no interpretations, but only misinterpretations […].“ 5 Offensichtlich ist jene These in dieser Allgemeinheit nicht haltbar, da der Begriff der Fehlinterpretation von dem der Interpretation abhängt. Wenn wir jedoch (der Position Blooms zufolge) über keine Interpretationen verfügen, fehlt uns auch das Kriterium, um feststellen zu können, dass etwas eine Fehlinterpretation ist. Damit stellt sich aber die Frage, nach welchen Kriterien wir überhaupt zwischen Verstehen und Miss- bzw. Nichtverstehen unterscheiden. Diese Frage erweist sich für viele Kommunikationstheorien als prekär. Im Hinblick auf das Verstehen lassen sich Kommunikationstheorien danach einteilen, ob sie vom Sprecher bzw. Autor ausgehen oder vom sprachlichen Code oder vom Interpreten. Im Hintergrund dieser Einteilung steht das Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation, wonach der Sender eine Botschaft in ein Signal enkodiert und der Empfänger das Signal wieder dekodiert. 6 Die verschiedenen Ausgangspunkte implizieren unterschiedliche Kriterien für gelungenes Verstehen. Obwohl es sich beim Verstehen um eine Leistung des Empfängers handelt, orientieren sich die gängigen Verstehenskonzeptionen meist am Sender oder am (sprachlichen) Code. Dem senderorientierten Ansatz zufolge besteht sprachliche Kommunikation in der 3 4 5 6

Vgl. hierzu und zum Folgenden Scholz (2001), S. 3f. Einen Überblick liefert die Studie „Kritik der Interpretation“ von Axel Spree (1995). Bloom (1997), S. 95. Eine wohlwollendere Kritik als meine liefert Spree (1995), S. 170f. Das Modell geht auf Shannon/Weaver [(1949), S. 7ff. und 31ff.] zurück. Obwohl das Modell ursprünglich für die informationstechnische Beschreibung von Nachrichtentechniken entwickelt wurde, wurde es auf die Beschreibung sprachlicher Kommunikation angewendet. Einen Überblick über verschiedene Kommunikationsmodelle liefern Schmidt/Zurstiege (2000), Kap. 3.

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Übertragung mentaler Gehalte und ein erfolgreiches Verstehen demnach in dem Erfassen dessen, was der Sender mitteilen möchte. Folgt man dagegen dem codeorientierten Ansatz, dann setzt erfolgreiche Kommunikation und damit auch das Verstehen voraus, dass Sender und Empfänger über denselben Code verfügen und der Empfänger demnach die Nachricht mit dem richtigen Werkzeug entschlüsselt. Wenngleich diese beiden Beschreibungen von Kommunikation zunächst intuitiv einleuchtend erscheinen, erweisen sich die von ihnen implizierten Bedingungen für erfolgreiches Verstehen als kaum erfüllbar; und selbst wenn sie erfüllt wären, könnten wir das nicht feststellen – wie ich in den folgenden beiden Unterkapiteln ausführen möchte. 2.1 Senderorientiertes Modell: Kommunikation als Austausch mentaler Gehalte Mentalistische Kommunikationstheorien begreifen Kommunikation als die Externalisierung mentaler Zustände (Bewusstseinsinhalte) und erfolgreiche Kommunikation als das Erfassen der mentalen Gehalte oder der kommunikativen Absichten des Senders. Das Verstehen wäre demnach dann erfolgreich, wenn die Interpretation des Empfängers mit den mentalen Gehalten oder Absichten des Senders übereinstimmt. 7 Sofern mentalistische Ansätze nicht von vorneherein auf die Anwendbarkeit ihres Kriteriums für Verstehen verzichten wollen, können sie die mentalen Gehalte oder kommunikativen Absichten nicht als rein private und damit nicht intersubjektiv zugängliche Größen konzipieren. Denn selbst wenn die Bedingung für Verstehen (d.h. die Übereinstimmung der Interpretation mit den mentalen Gehalten und Absichten) erfüllt wäre, könnten wir das dann nicht feststellen, weil wir dafür die mentalen Gehalte mit der Interpretation vergleichen müssten. Damit die Gehalte oder Intentionen für die Kommunikation überhaupt relevant sein können, müssen sie erkennbar bzw. rekonstruierbar sein. Sowohl die Annahme der Relevanz von Intentionen als auch die Annahme ihrer Rekonstruierbarkeit sind bezweifelbar. Gegen die Annahme, dass die Berufung auf Gehalte oder Absichten überhaupt relevant ist, lässt sich Wimsatts und Beardsleys Argument gegen den ‚Intentional Fallacy‘ (1946) verallgemeinern. 8 Dem Argument zufolge sind zwei Möglichkeiten denkbar: Entweder scheitert der Sender in der Verwirklichung oder Versprachlichung seiner Intentionen oder die Realisierung der Intentionen gelingt. Wenn er scheitert, sind seine mentalen Zustände offensichtlich nicht relevant für die Deutung des Kommunikats. Wenn er dagegen erfolgreich ist, sind seine men7 8

Als exemplarischer Vertreter einer intentionalistischen Interpretationstheorie kann Hirsch (1972) gelten. Einen Überblick über intentionalistische Ansätze liefern Danneberg/Müller (1983). Vgl. zum Folgenden die überarbeitete Fassung des Aufsatzes, Wimsatt/Beardsley (1954), bes. S. 4. Vgl. auch Black [(1972), bes. S. 112], dessen Argumente gegen intentionalistische Bildtheorien auf sprachliche Kommunikation übertragbar sind.

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talen Zustände ebenso irrelevant, weil die Deutung gemäß sprachlicher Konventionen erfolgt und eben nicht aufgrund der Kenntnis der privaten Bewusstseinszustände. Das skizzierte Argument beruht auf der Unterscheidbarkeit von intendierter und realisierter Bedeutung. Um dieser Kritik zu entgehen, berufen sich Vertreter mentalistischer Bedeutungstheorien häufig auf die Identitätsthese, wonach der Sinn eines Kommunikats immer der intendierte Sinn des Senders ist. 9 Damit ist zwar die Möglichkeit des Scheiterns per definitionem ausgeschlossen, es stellt sich aber wiederum die Frage nach der Relevanz der Intentionen oder mentalen Gehalte. Denn insofern wir den Sinn eines Kommunikats mittels der Kenntnis der sprachlichen Konventionen bestimmen, scheint die Berufung auf mentale Zustände des Senders wiederum überflüssig. Die Berufung auf mentale Zustände scheint dann nur relevant, wenn die mentalistische und die konventionalistische Deutung auseinanderklaffen. Die Frage wäre dann aber wieder, wie man die mentalen Zustände überhaupt rekonstruieren könnte, 10 was ja die Bedingung für erfolgreiches Verstehen wäre und zugleich die Voraussetzung für die Feststellung, ob das Kriterium für Verstehen erfüllt ist. 2.2 Codeorientiertes Modell: Kommunikation als regelhaftes Spiel Folgt man der Analyse mentalistischer Kommunikationstheorien, dann scheinen diese auf eine konventionalistische bzw. codeorientierte Position zurückzufallen. Die Frage lautet nun, ob der Konventionalismus eine zufriedenstellende Alternative für die Beschreibung des Sprachverstehens liefert. Dem Konventionalismus zufolge wäre das Verstehen dann erfolgreich, wenn die Interpretation mit den geltenden sprachlichen und rhetorischen Konventionen übereinstimmt. Die Bedingung für erfolgreiches Verstehen wäre demnach, dass Sender und Empfänger denselben Code verwenden. Ob diese Bedingung erfüllbar ist und dies dann auch feststellbar ist, hängt von dem Charakter des Codes ab. Konventionalistische Ansätze der verschiedenen Richtungen teilen die Vorliebe dafür, den Charakter des Codes (bzw. des sprachlichen Systems oder der sprachlichen Regeln) mittels des Vergleichs mit Spielen und Spielregeln zu erläutern. 11 Das System wird dabei mit Spielregeln gleichgesetzt und die Sprachpraxis mit dem Befolgen dieser Regeln, wobei die Regeln erst das Spielen bzw. die Sprachpraxis ermöglichen. Denn ohne Spielregeln spielen wir nicht Schach oder Fußball, sondern ziehen einfach nur Figuren auf einem Brett umher oder laufen 9 Vgl. Danneberg/Müller (1983), S. 100f. und 124f. (dort auch weitere Literaturhinweise). 10 Eine deutlich detailliertere Kritik intentionalistischer Bedeutungstheorien findet sich bei Scholz (2004), bes. S. 142 und Schöttler (2012), S. 223–228. 11 Für die strukturalistische Tradition vgl. Saussure (1916), S. 149, 153 und 159 und für die analytische Tradition vgl. Searle (1969), S. 34f. – Die folgende Charakterisierung und Kritik konventionalistischer Ansätze beschränkt sich auf einige wesentliche Punkte; für eine ausführlichere Darstellung und Kritik vgl. Krämer (2001), Bertram et al. (2008) und Schöttler (2012), Kap. IV. 3.

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mit einem Ball auf einer Wiese herum. Entsprechend handelt es sich nur dann um sprachliche Kommunikation, wenn das Sprachsystem und die entsprechenden Regeln befolgt werden. Für das Gelingen von Kommunikation und damit für Verstehen müssten demnach alle Kommunikationsteilnehmer in ihren Kommunikations- wie auch in ihren Verstehensakten dasselbe System bzw. denselben Code voraussetzen. Damit impliziert die Spielanalogie eine Trennung von Konstitution und Anwendung des (Sprach-)Systems. 12 Demzufolge erfolgt die Konstitution des Sprachsystems unabhängig von den Subjekten, der Welt und der praktischen Anwendung des Systems. Gegenüber der Konstitution des Systems ist seine Anwendung nur ein nachträgliches Phänomen. Die Trennung von Konstitution und Anwendung ist bezogen auf Gesellschaftsspiele und auf künstliche Kommunikationssysteme wie etwa das Morsealphabet ja durchaus plausibel, weil uns dabei die Regeln vor der praktischen Umsetzung erklärt werden – und zwar mittels einer Sprache, die wir bereits beherrschen. An dieser Stelle versagt jedoch die Analogie zwischen natürlichen Sprachen einerseits und Spielen sowie künstlichen ‚Sprachen‘ andererseits; denn natürliche Sprachen lernen wir üblicherweise während und durch die Kommunikation. Ein solches Lernen einer Sprache ist aber im Rahmen eines strikten Konventionalismus nicht erklärbar, weil dieser ja annimmt, dass jeder Kommunikationsakt bereits das Verfügen über das gesamte System voraussetzt. Selbst wenn man den Konventionalismus dahingehend aufweichen wollte, dass der Spracherwerb durch Sprachpraxis als möglich erachtet wird, wäre es mehr als unwahrscheinlich, dass alle Kommunikationsteilnehmer genau dasselbe Sprachsystem lernen. In der kommunikativen Praxis sind wir immer nur mit sprachlichen Äußerungen konfrontiert, nie mit dem System selber. Selbst wenn man voraussetzt, es gäbe ein überindividuelles Sprachsystem, dann wäre dieses System in den einzelnen sprachlichen Äußerungen nur partiell verwirklicht, weshalb die verschiedenen Kommunikationsteilnehmer zur Ausbildung mehr oder weniger stark voneinander abweichender Systeme kommen, was leicht an Ideolekten und Soziolekten zu ersehen ist. Das Problem der Verfügbarkeit und der Einheitlichkeit des sprachlichen Codes ist misslich für die vom Konventionalismus vorgeschlagene Bedingung für Verstehen wie auch für das damit verbundene Kriterium zur Unterscheidung zwischen gelungenem und misslungenem Verstehen. Denn erstens ist die Erfüllbarkeit der Bedingung problematisch, weil es extrem unwahrscheinlich ist, dass alle Kommunikationsteilnehmer denselben Code voraussetzen (oder überhaupt Kenntnis von demselben Code haben). Zweitens ist die Anwendbarkeit des Kriteriums problematisch, insofern wir überhaupt keine Möglichkeit haben, die Übereinstimmung der Codes festzustellen – es sei denn, es gelingt uns, eine Gottesperspektive einzunehmen. Ein göttliches Wesen könnte womöglich die vom Konventionalismus und vom Mentalismus vorgeschlagenen Kriterien anwenden und überprüfen, ob die jeweiligen Bedingungen erfüllt sind. Da uns diese Perspektive nicht vergönnt ist, 12 Vgl. dazu allgemein Krämer (2001), S. 9–15 und 95–105.

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sind wir auf die Teilnehmerperspektive festgelegt und in dieser Perspektive sind uns weder mentale Gehalte anderer Personen noch die von ihnen verwendeten Sprachsysteme zugänglich. Damit können wir aber auch nie feststellen, ob die vorgeschlagenen Bedingungen erfüllt sind, weshalb sowohl der Mentalismus als auch der Konventionalismus nicht helfen, die Skepsis von der Unwahrscheinlichkeit des Verstehens auszuräumen. Vielmehr liefern sie einer solchen Skepsis noch Munition. 3. DIE MÖGLICHKEIT DES VERSTEHENS: KOMMUNIKATION ALS INTERPRETATION In der Teilnehmerperspektive – der einzigen uns zugänglichen Perspektive – können wir weder auf die mentalen Gehalte unserer Kommunikationspartner noch auf die von ihnen voraussetzten Codes unabhängig voneinander zugreifen. Dieses Problem kann im Anschluss an Donald Davidson als Interdependenz von Überzeugung und Bedeutung bezeichnet werden: „A central source of trouble is the way beliefs and meanings conspire to account for utterances. A speaker who holds a sentence to be true on an occasion does so in part because of what he means, or would mean, by an utterance of that sentence, and in part because of what he believes. If all we have to go on is the fact of honest utterance, we cannot infer the belief without knowing the meaning, and have no chance of inferring the meaning without the belief.“ 13

Damit formuliert Davidson einen hermeneutischen Zirkel, mit dem jede Interpretation – verstanden als ‚Akt des Verstehens‘ 14 – konfrontiert ist. 15 Da wir aufgrund der Interdependenz von Überzeugungen und Bedeutungen keine Chance haben, das eine ohne das andere zu erschließen, können wir in den Zirkel nur einbrechen, indem wir beides einzig auf Grundlage unserer Beobachtung des verbalen und des nonverbalen Verhaltens unseres Gesprächspartners erschließen. Dies ist der Anspruch von Davidsons Modell der radikalen Interpretation. 16 Wie aber ist ein solches Verstehen überhaupt möglich? Davidson zufolge unter Voraussetzung dessen, was er als ‚principle of charity‘ bezeichnet. 17 Beim 13 Davidson (1974b), S. 142. 14 Vgl. Glüer (1993), S. 14. 15 Dies ist nur eine Verwendungsweise der zahlreichen Verwendungsweisen des hermeneutischen Zirkels. Üblicherweise wird der hermeneutische Zirkel auf das Verhältnis von Teil und Ganzem bezogen oder auf das Verhältnis von Vorverständnis und Auslegung. – Dem von Davidson formulierten hermeneutischen Zirkel versucht die Hermeneutik mit einer Kombination von grammatischer und psychologischer Interpretation zu entkommen [vgl. Schleiermacher (1838), S. 77–80]; einige sprachphilosophische Ansätze des 20. Jahrhunderts verbinden konventionalistische und intentionalistische Ansätze miteinander; bes. deutlich bei Searle (1969), S. 42ff. 16 Vgl. bes. Davidson (1973). Davidsons radikale Interpretation ist von Quines Idee der radikalen Übersetzung inspiriert; vgl. Quine (1960), Kap. 2. 17 Den Ausdruck ‚principle of charity‘ übernimmt Davidson von Wilson (1959). In der Hermeneutiktradition (von der Davidson vermutlich keine Kenntnisse hatte) firmiert dieses Nach-

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‚principle of charity‘ handelt es sich um eine Interpretationsmaxime und zugleich um eine notwendige Präsupposition jeglichen Verstehens. 18 Genauer betrachtet handelt es sich beim ‚principle of charity‘ in der Verwendung Davidsons um eine Sammelbezeichnung verschiedener methodologischer Prinzipien. 19 Insbesondere lassen sich (als speziellere Varianten des Nachsichtigkeitsprinzips) die Wahrheitsunterstellung und die Konsistenzunterstellung ausmachen. Mit der Wahrheitsunterstellung dreht Davidson die gewohnte Reihenfolge von Verstehen und Kritik um. 20 Gewöhnlich gehen wir davon aus, dass wir eine Quelle allererst verstehen müssen, um sie im Anschluss kritisieren zu können. Das Nachsichtigkeitsprinzip geht nun von einem Vertrauensvorschuss aus. Demnach müssen wir zu allererst unterstellen, dass uns der Sender etwas Wahres bzw. etwas, das er für wahr hält, mitteilen will, damit wir überhaupt die Chance haben, den Sender bzw. seine Mitteilung zu verstehen. Bezogen auf Beobachtungssätze (den vornehmlichen Ausgangsbeispielen Davidsons) heißt das, dass wir – um den Sprecher verstehen zu können – voraussetzen müssen, dass der Sprecher uns etwas Wahres oder Zutreffendes über die intersubjektiv zugängliche Realität mitteilen möchte. 21 Die Wahrheitsunterstellung hängt eng zusammen mit der Konsistenzunterstellung. Davidson verwendet den Begriff der Konsistenz in einem sehr weiten Sinne; grob lassen sich dabei zumindest zwei Arten von Konsistenz unterscheiden, nämlich zum einen die Übereinstimmung zwischen den Überzeugungen von Sprecher und Interpret und zum anderen die interne Stimmigkeit der Überzeugungen des Sprechers. Die Notwendigkeit, den Überzeugungen des Sprechers eine (gewisse) Konsistenz oder interne Stimmigkeit zu unterstellen, folgt daraus, dass Davidson von einem Überzeugungsholismus ausgeht. D.h. unsere Überzeugungen treten nicht vereinzelt auf, sondern sind miteinander vernetzt, insofern sie andere Überzeugungen voraussetzen und wieder andere Überzeugungen zu Folge haben. 22 Aufgrund dieser Annahme sollten wir die Äußerungen des Sprechers dahingehend interpretieren, dass die durch die Interpretation unterstellten Überzeugungen eine möglichst hohe interne Stimmigkeit aufweisen. Diese Art der Konsistenzunterstellung impliziert eine Rationalitätspräsupposition; d.h. man muss in der Interpreta-

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sichtigkeitsprinzip oder Prinzip der wohlwollenden Interpretation unter dem Titel ‚hermeneutische Billigkeit‘. Zu den Parallelen zwischen der Hermeneutik und Davidsons Sprachphilosophie vgl. Künne (1990), Tietz (1994) und Scholz (2001). Vgl. Glüer (1993), S. 64. Vgl. hierzu und zum Folgenden Künne (1990), S. 223, Glüer (1993), S. 64ff. und Scholz (2001), S. 115–118. Vgl. Künne (1990), bes. 212. Die Wahrheitsunterstellung ergibt sich aus Davidsons Umkehr des von Tarski angenommenen Verhältnisses von Wahrheit und Bedeutung. Während Tarski die Wahrheit in Abhängigkeit von einer Sprache bestimmt, setzt Davidson Wahrheit voraus, um ausgehend davon Bedeutung zu explizieren; vgl. dazu Davidson (1973), S. 150 und (1974b), S. 150 sowie Glüer (1993), S. 18–36. Vgl. etwa Davidson (1974a), S. 196. Zur Unterstellung der Existenz einer intersubjektiv zugänglichen Realität vgl. Glüer (1993), S. 66. Vgl. z.B. Davidson (1975), S. 168 und dazu Glüer (1993), bes. S. 69.

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tion unterstellen, dass der Sprecher überhaupt rational in dem Sinne ist, dass „seine Überzeugungen in Begründungsverhältnissen zueinander stehen“. 23 Wenngleich die Unterstellung der internen Stimmigkeit und der Rationalität noch zu überzeugen vermag, scheint es sich doch gerade bei der Übereinstimmung zwischen Sprecher und Interpret um eine ziemlich gewagte Unterstellung zu handeln. Nun geht es Davidson aber gerade nicht darum, das Vorliegen von Meinungsverschiedenheiten oder ähnlichem zu negieren. Vielmehr geht er davon aus, dass Unterschiede in den jeweiligen Überzeugungen allererst vor dem Hintergrund gemeinsamer Überzeugungen festgestellt werden können. „What justifies the procedure is the fact that disagreement and agreement alike are intelligible only against a background of massive agreement. Applied to language, this principle reades: the more sentences we conspire to accept or reject (whether or not through a medium of interpretation), the better we understand the rest, whether or not we agree about them.“ 24

Daher beginnt der Interpret notwendigerweise seine Interpretation damit, dass er sein Überzeugungssystem sowie das von ihm verwendete Sprachsystem auf den Sprecher projiziert, um (später) überhaupt eine Chance zu haben, die Unstimmigkeiten zwischen Sprecher und Interpreten festzustellen. Durch diese Projektion wird dem Sprecher vorläufig ein bestimmtes Überzeugungs- und Sprachsystem unterstellt, dass dann im Laufe der weiteren kommunikativen Interaktion modifiziert wird. In seiner Sprachphilosophie konzentriert sich Davidson weitgehend auf Aussagesätze, die mittels der Kategorien wahr/falsch beurteilbar sind. Um auch die anderen Arten verbalen Verhaltens zu interpretieren, ist sein ‚principle of charity‘ zu erweitern. Eine Perspektive dafür bieten Grice konversationale Implikaturen (von denen einige auch in Davidsons Texten anklingen). 25 Wenngleich Grice eher sprecherbezogen argumentiert, können die von ihm angenommenen Implikaturen auch als Unterstellungen seitens des Interpreten gedeutet werden. 26 An dieser Stelle sollen nicht alle von Grice angenommenen Implikaturen behandelt werden. Für die gegenwärtigen Zwecke reicht es, dass Grice neben den durch das ‚principle of charity‘ abgedeckten methodologischen Prinzipien auch Kriterien wie die Relevanz einer Äußerung in Betracht zieht. Davidsons ‚principle of charity‘ (ggf. erweitert durch weitere methodologische Prinzipien) erweist sich somit als transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Kommunikation und des Verstehens. Da es sich bei dieser Bedingung (in ihren verschiedenen Spielarten) um eine Setzung des Interpreten handelt, ist sie ihm – anders als die mentalen Gehalte des Senders oder der von diesem verwendete Code – zugänglich. Das zugehörige Kriterium für Verstehen wäre das Passen zwischen den sprachlichen Äußerungen, dem Kontext und dem ‚principle of charity‘. Allerdings ist dabei ein äußerst vager und vieldeutiger Verstehensbegriff im Spiel und ebenso ein recht undifferenzierter Begriff des Nachsichtigkeitsprinzips. 23 24 25 26

Glüer (1993), S. 70. Davidson (1973), S. 137. Vgl. Grice (1989), Kap. 2. Vgl. Scholz (2001) bes. S. 166.

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Will man Verstehen auf der Basis der skizzierten Möglichkeitsbedingung beschreiben, gilt es, verschiedene Dimensionen des Verstehens voneinander abzugrenzen. Dies verhilft auch zu einer Präzisierung und Ausdifferenzierung des Nachsichtigkeitsprinzips. 4. DIMENSIONEN DES VERSTEHENS Oftmals wird die Mehrdeutigkeit des Verstehensbegriffs beklagt. 27 Denn sicherlich macht es einen Unterschied, ob wir einen mathematischen Beweis verstehen oder eine Äußerung in einer Fremdsprache verstehen oder die Handlung einer Person verstehen. Im ersten Fall erkennen wir den Zusammenhang zwischen den einzelnen Beweisschritten; im zweiten Fall gelingt uns eine (uns plausibel erscheinende) Übersetzung in unsere Muttersprache; im dritten Fall können wir die Handlung einer Person nachvollziehen, indem wir uns ggf. in diese einfühlen oder ihre Motive oder Handlungsgründe erfassen. Diese und andere Verwendungsweisen des Verstehensbegriffs unterscheidet Günther Patzig und kritisiert dementsprechend: „Daß man diese verschiedenen Verwendungsweisen [des Ausdrucks ‚Verstehen‘] bisher nicht unterschieden hat, ist eine der Hauptquellen der großen Verworrenheit im Bereich der Geisteswissenschaften.“ 28 Die Gefahr dieser Mehrdeutigkeit besteht darin, dass sie zu Missverständnissen und Fehlschlüssen Anlass gibt – sofern sie übersehen wird –, weshalb Gilbert Ryle hervorhebt: „Unnoticed systematic ambiguities are a common source of type-confusions and philosophic problems.“ 29 Denn man könnte versucht sein, die Bedingungen, die für eine bestimmte Form des Verstehens erfüllt sein müssen, für andere Formen des Verstehens geltend machen zu wollen. Das gilt auch für die verschiedenen Weisen des Sprachverstehens. Je nachdem, auf welchen Aspekt einer sprachlichen Äußerung sich das Sprachverstehen bezieht, gelten auch (zum Teil) unterschiedliche Bedingungen. Zur Differenzierung der verschiedenen Dimensionen des Verstehens bietet sich Austins ‚Weg über die Unglücksfälle‘ (infelicities) an. 30 Austin differenziert verschiedene Arten von Sprechakten anhand ihrer je eigenen Möglichkeiten des Scheiterns (misfire). Entsprechend werde ich Dimensionen des Verstehens entsprechend der verschiedenen Arten, wie das Verstehen einer sprachlichen Äußerung misslingen kann, unterscheiden. Dieses Vorgehen erscheint mir gerade deshalb angemessen, weil wir im Alltag wie auch in wissenschaftlichen Kontexten eher das Miss- oder Nichtverstehen thematisieren als das Verstehen (abgesehen von Fällen, in denen jemand lange mit dem Nichtverstehen zu kämpfen hatte und es dann endlich geschafft hat). Von den je eigenen Weisen des Verunglückens lassen sich die je eigenen Bedingungen dieser Weise des Verstehens sowie die 27 28 29 30

Vgl. etwa Patzig (1973), Künne (1981) und Strube (1985). Patzig (1973), S. 128. Ryle (1945), S. 216. Vgl. Austin (1962), S. 14.

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Kriterien, anhand derer wir ein gelungenes Verstehen feststellen, ausmachen. Demzufolge werde ich sechs Dimensionen des Sprachverstehens in vier Hinsichten charakterisieren. Ich unterscheide das perzeptive Verstehen (4.1), das lexikalische bzw. intensionale Verstehen (4.2), das extensionale Verstehen (4.3), das modale Verstehen (4.4), das übertragende Verstehen (4.5) und das symptomatische Verstehen (4.6). Diese Dimensionen des Verstehens werden in vier Hinsichten charakterisiert. Ich werde erstens deutlich machen, auf welchen Aspekt der sprachlichen Äußerung die Dimension des Verstehens sich bezieht bzw. als was das Kommunikat aufgefasst wird (a). Zweitens skizziere ich den jeweiligen Unglücksfall bzw. die jeweilige Weise des Verunglückens, also den spezifischen Charakter des Nicht- oder Missverstehens (b). Drittens leite ich davon die spezifischen Möglichkeitsbedingungen der jeweiligen Weise des Verstehens ab (c), um anschließend die Kontrollverfahren zu benennen, derer wir uns üblicherweise bedienen, um festzustellen, ob das Verstehen jeweils geglückt ist (d). Die im Folgenden entwickelte Differenzierung von Dimensionen des Verstehens unterscheidet sich in zwei Hinsichten von alternativen Einteilungen. Erstens setzen diese Einteilungen andere sprachphilosophische Positionen voraus, etwa einen Konventionalismus oder einen Intentionalismus. 31 Zweitens werden Differenzierungen verschiedener Formen oder Aspekte des Verstehens bzw. des Interpetierens gerne in Stufenmodellen angeordnet. 32 Hier wurde aber bewusst die Bezeichnung ‚Dimensionen‘ verwendet, um einige Konnotationen des Stufenbegriffs zu vermeiden. Insbesondere impliziert der stufenförmige Aufbau, dass alle Stufen vorhanden sein müssen (damit die Treppe vollständig ist) und dass eine Stufe die jeweils vorherigen voraussetzt. Statt von einem stufenförmigen Aufbau ist eher davon auszugehen, dass die verschiedenen Dimensionen sich wechselseitig bedingen, wobei nicht immer alle Dimensionen des Verstehens vorliegen müssen. 4.1 Perzeptives Verstehen a) Aspekt der sprachlichen Äußerung: Das perzeptive Verstehen bezieht sich auf den akustischen oder visuellen Aspekt der sprachlichen Äußerung. Das Kommunikat wird dabei als Wahrnehmungsgebilde aufgefasst. b) Unglücksfall: Das perzeptive Verstehen verunglückt, wenn akustische oder graphische Störungen vorliegen. 33 Jeder kennt die Rufe aus den hinteren Reihen in Seminaren oder auf Tagungen: ‚Können Sie bitte lauter reden! Ich verstehe hier hinten nichts.‘ Offensichtlich sind mit solchen Aufforderungen keine semantischen, sondern akustische Probleme angesprochen. Bezogen auf

31 Eine Tendenz zum Konventionalismus findet sich in den Einteilungen von Künne (1981) und Strube (1985); eine Tendenz zu einem Intentionalismus weist zudem die Einteilung von Strube (1985) auf. 32 Vgl. Künne (1981) und Scholz (2001), S. 294–307. 33 Vgl. Künne (1981), S. 65.

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Handschriften oder Drucke kennt man analoge graphische Probleme, nämlich wenn die Quelle schlecht erhalten und daher stellenweise unleserlich ist. c) Möglichkeitsbedingungen: Entsprechend der skizzierten Unglücksfälle lassen sich zwei Möglichkeitsbedingungen der Dimension des perzeptiven Verstehens ausmachen. Zum einen muss der Zustand des Kommunikats geeignet sein; d.h. der Sprecher darf nicht zu leise oder undeutlich sprechen und die Quelle sollte nicht beschädigt sein. Zum anderen müssen geeignete Hintergrundbedingungen vorliegen. Ein perzeptives Verstehen wird nicht möglich sein, wenn der Sprecher durch Hintergrundgeräusche übertönt wird oder wenn man versucht, ohne Licht einen Text zu lesen. d) Kontrollverfahren: Da in dieser Dimension noch kein inhaltlich-semantisches Verstehen erforderlich ist, reicht die bloße Wiedergabe oder Wiederholung zur Kontrolle, ob das perzeptive Verstehen erfolgreich war. Gemeint ist damit das Wiederholen des Gesagten oder das Abschreiben eines Satzes bzw. Textes. 4.2 Lexikalisches oder intensionales Verstehen a) Aspekt der sprachlichen Äußerung: Das lexikalische Verstehen bezieht sich auf das Kommunikat als Gefüge von Worten, also als ein Gebilde von Lauten oder Graphemen, die nach syntaktischen Regeln zusammengefügt sind, wobei die Wörter rein sprachlich definiert sind. Unter Voraussetzung einer solchen Idealisierung – also dem Absehen vom Kontext der Äußerung und von den Bezugsobjekten der Wörter – beschränkt sich diese Dimension des Verstehens gänzlich auf die Intensionen der Ausdrücke im Sinne der sprachlich definieroder erklärbaren Begriffsinhalte und sieht völlig von den Extensionen der Ausdrücke, also ihren Bezugsobjekten, ab. b) Unglücksfall: Ein lexikalisches Verstehen wird nicht möglich sein, wenn man mit einer Äußerung in einer Sprache konfrontiert ist, die man nicht beherrscht, oder wenn in der Äußerung unbekannte Wörter vorkommen oder die Äußerung nicht wohlgeformt ist, d.h. nicht den syntaktischen Regeln entspricht. Angesichts dessen, dass wir aber häufig die Bedeutung unbekannter Wörter aus dem Kontext erschließen können und über geringfügige grammatische Abweichungen hinwegsehen, treten entsprechende Unglücksfälle freilich nur in extremeren Fällen auf. c) Möglichkeitsbedingungen: Ermöglicht wird das lexikalische Verstehen durch die Unterstellung des eigenen Sprachsystems des Interpreten. Häufig wird angenommen, dass das lexikalische Verstehen völlig ohne Kenntnis des Kontextes der Äußerung auskommt. 34 Dabei handelt es sich um eine Idealisierung; denn tatsächlich benötigen wir aufgrund der Vieldeutigkeit vieler Ausdrücke über die Kenntnis lexikalischer Definitionen und syntaktischer Regeln hinaus 34 Vgl. Künne (1981), S. 65f.

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auch ein gewisses Kontextwissen, um zwischen verschiedenen möglichen Deutungen wählen zu können. d) Kontrollverfahren: Das dieser Dimension des Verstehens eigentümliche Kontrollverfahren ist die Transkription. Demnach gilt das Verstehen als erfolgreich, wenn eine (sinnvoll erscheinende) Paraphrase in derselben Sprache oder eine Übersetzung der betreffenden Äußerungen in eine andere Sprache gelingt. Insofern die in der Transkription verwendeten Ausdrücke wiederum lexikalisch definiert sind, kann wiederum eine Transkription der Transkription erzeugt werden, weshalb die Gefahr einer unendlichen Kette von Transkriptionen droht. Andernfalls landen wir nach einer endlichen Anzahl von Transkriptionen wieder bei der ursprünglichen Formulierung. 4.3 Extensionales Verstehen der denotativen Bezüge a) Aspekt der sprachlichen Äußerung: Gemeinhin beziehen wir uns mit unseren Äußerungen auf etwas in der Welt; d.h. wir unterstellen, dass die verwendeten Wörter eine Extension aufweisen. 35 Dementsprechend begreift das extensionale Verstehen die Äußerung als Vehikel zur Bezugnahme auf die Welt. b) Unglücksfall: Möglicherweise beherrscht man eine bestimmte Sprache und kann eine Äußerung auch transkribieren, also paraphrasieren oder übersetzen, aber man weiß nicht, auf welche Objekte in der Welt sich bestimmte Wörter beziehen. Dies ist besonders offensichtlich bei indexikalischen Wörtern wie ‚ich‘, ‚hier‘, ‚heute‘ usw., die kontextabhängig sind und deren Bezug vom Sprecher sowie dem Ort und Zeitpunkt der Äußerung abhängt. Letztlich kommen wir aber bei einem Großteil der Ausdrücke nicht mit dem Verstehen ihrer Intension aus; denn je nach Erkenntnisinteresse kann auch ihre Extension relevant sein: Bei der Lektüre historischer Quellen wollen wir in der Regel wissen, auf welche bestimmte Personen Eigennamen Bezug nehmen und begnügen uns nicht mit dem Wissen, dass auf irgendeine Person Bezug genommen wird. So wird gerade in mittelalterlichen Texten mit der Formulierung ‚der Philosoph‘ meist auf Aristoteles Bezug genommen; man würde diese Textstellen gründlich missverstehen, würde man annehmen, dass mit dem Ausdruck auf den Philosophen im Allgemeinen Bezug genommen würde. c) Möglichkeitsbedingung: Die Identifizierung der Extension der verwendeten Ausdrücke setzt in der Regel die Kenntnis des historischen oder situativen Kontextes (Ort und Zeitpunkt der Äußerung) voraus. Ohne entsprechende Kenntnisse bleibt die Extension in der Regel unbestimmt. Wir müssen einen bestimmten Kontext unterstellen, damit wir überhaupt die Möglichkeit haben, die Extension zu bestimmen.

35 Ich konzentriere mich hier auf die Extension einzelner Ausdrücke und sehe von der Extension eines ganzen Satzes ab. Die Extension eines Satzes wird häufig mit dem Wahrheitswert des Satzes gleichgesetzt.

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d) Kontrollverfahren: Äußerungen, in denen die Extensionen unklar sind, können umformuliert werden, wobei in der Paraphrase die unklaren Ausdrücke durch Beschreibungen ersetzt werden, welche die Identifizierung des Bezugsobjekts ermöglichen, z.B. die Ersetzung des Ausdrucks ‚der Philosoph‘ durch ‚Aristoteles‘. Über die Richtigkeit dieser Beschreibungen urteilen wir gemeinhin danach, ob die durch die Beschreibung ausgedrückte Deutung zum Kontext passt. Wir würden eher annehmen, dass sich ein bestimmter Eigenname in einer Quelle auf einen Zeitgenossen des Autors bezieht als auf eine Person gleichen Namens, die erst hundert Jahre nach Abfassung der Quelle gelebt hat. 4.4 Modales Verstehen: Erfassen der Illokution oder Funktion a) Aspekt der sprachlichen Äußerung: Gewöhnlich tätigen wir Äußerungen nicht einfach so, sondern verbinden damit bestimmte Zwecke; d.h. Äußerungen dienen uns als Mittel mit einer bestimmten Funktion, z.B. Behaupten, Fragen, Wünschen, Versprechen, Befehlen usw. 36 Das auf die Funktion einer Äußerung gerichtete Verstehen erfasst ihre Modalität. b) Unglücksfall: Das Verstehen der Funktion von Äußerungen kann verunglücken, nicht zuletzt weil die Modalität einer Äußerung nur in wenigen Fällen durch grammatische oder andere sprachliche Merkmale angezeigt wird. Abgesehen von den wenigen expliziten Sprechakten handelt es sich bei den meisten Äußerungen um implizite Sprechakte, deren Funktion sich aus dem Kontext ergibt. So kann es sich bei der Äußerung ‚Dieser Hund ist bissig‘ 37 um eine bloße Behauptung, aber auch um eine Warnung oder um eine Empfehlung handeln – vorausgesetzt, der Adressat sucht einen besonders bissigen Wachhund. Das Verstehen dieser Äußerung verunglückt demnach, wenn ich beispielsweise ihren warnenden Charakter nicht erkenne. c) Möglichkeitsbedingung: Da ein und dieselbe Äußerung in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Funktionen haben kann, ist die Kenntnis des Kontextes (insbesondere des Verhältnisses von Sprecher und Interpret) in den meisten Fällen notwendig für das angemessene Verstehen der Modalität einer Äußerung. Zwischen verschiedenen möglichen Funktionen einer Äußerung wird dann diejenige ausgewählt, die in dem betreffenden Kontext am plausibelsten ist. Wenn ich bei einem Hundezüchter nach einem Hund für meine Tochter suche, würde ich die Äußerung über die Beißfreudigkeit des Hundes sicherlich nicht als Empfehlung deuten. d) Kontrollverfahren: Während die Modalität einer Äußerung meist auf der Ebene der Äußerung selber nicht explizit gemacht wird, kann sie gerade in der Umformulierung in der indirekten Rede explizit gemacht werden. Aus ‚Dieser 36 Vgl. Austin (1962) und Searle (1969). Eine Taxonomie sprachlicher Äußerungen, die hauptsächlich an ihren Funktionen orientiert ist, liefert Searle (1979), Kap. 1. 37 Das Beispiel stammt von Savigny (1979), S. 11f.

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Hund ist bissig‘ würde dann zum Beispiel ‚Ich warne Sie, dass dieser Hund bissig ist‘. 4.5 Übertragendes Verstehen: Erfassen ‚uneigentlicher‘ Bedeutungen a) Aspekt der sprachlichen Äußerung: Bezogen auf Ironie, Metaphern oder indirekte Äußerungen wird häufig von der übertragenden oder uneigentlichen Bedeutung in Abgrenzung zur wörtlichen Bedeutung gesprochen. Unter der Voraussetzung, dass es eine wörtliche Bedeutung von Äußerungen gibt (die Gegenstand der vorherigen drei Dimensionen des Verstehens wäre), gilt das Kommunikat demnach als Träger zusätzlicher Bedeutungen. Die angesprochenen drei Arten uneigentlicher Bedeutung sollen jeweils kurz erläutert werden. Bei der Metapher werden (tatsächliche oder angenommene) Eigenschaften eines Gegenstandes auf einen anderen Gegenstand übertragen, wie etwa bei der Bezeichnung ‚Stuhlbein‘; freilich hat ein Stuhl keine Beine aus Fleisch und Blut, aber das Stuhlbein hat die gleiche Funktion wie ein menschliches Bein, insofern der Stuhl darauf steht. Der Philosoph Troy Dyer definiert Ironie folgendermaßen: „It’s when the actual meaning is the complete opposite from the literal meaning.“ 38 Ein Beispiel dafür wäre die Lobpreisung von Dieter Bohlens Texten als die höchste Form der deutschen Prosa. Die indirekten Äußerungen (oder indirekten Sprechakte) beziehen sich auf die Modalität einer Äußerung, wobei diese anders als bei den oben behandelten direkten Äußerungen nur indirekt ausgedrückt wird, indem auf eine Bedingung für die Erfüllung der Funktion Bezug genommen wird. 39 So kann man direkt darum bitten, dass jemand einem das Salz reicht, oder indirekt darum bitten, indem man etwa fragt ‚Können Sie mir das Salz reichen?‘. Wörtlich verstanden fragt man mit dem Satz nur, ob derjenige in der Lage ist, das Salz zu reichen; diese Fähigkeit oder Möglichkeit des Angesprochenen ist jedoch die Bedingung dafür, dass er der indirekt ausgedrückten Bitte nachkommen kann. b) Unglücksfall: Das Verstehen solcher Äußerungen verunglückt, wenn die Äußerung wörtlich verstanden wird und damit die uneigentliche Bedeutung gar nicht erfasst wird. Jemand, der den metaphorischen Charakter des Ausdrucks ‚Stuhlbein‘ nicht erfasst, könnte annehmen, dass Stühle laufen können. Jemand, der die Ironie nicht erkennt, könnte annehmen, dass der Sprecher eigenartige Vorstellungen von der Qualität des Bohlensches Oeuvre hegt. Das absichtliche Missverstehen indirekter Äußerungen ist allseits bekannt, nämlich die Spaßvögel, die auf Fragen wie ‚Wissen Sie, wie viel Uhr wir haben?‘ oder ‚Können Sie mir das Salz reichen?‘ einfach mit ‚Ja!‘ antworten. c) Möglichkeitsbedingung: Häufig wird gerade das Verstehen indirekter und ironischer Äußerungen als Beleg dafür gesehen, dass wir für das Verstehen 38 Troy Dyer in dem Film „Reality Bites“. 39 Vgl. Searle (1979), S. 31ff.

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(zumindest) dieser Äußerungsarten auf die Intentionen des Sprechers Bezug nehmen müssten, weil ja die konventionale wörtliche Bedeutung und die tatsächliche Bedeutung der Äußerung auseinanderdriften. 40 Nach der obigen Kritik intentionalistischer Bedeutungs- und Verstehenskonzeptionen dürfte klar sein, dass ich mich dieser Deutung nicht anschließen möchte. Denn tatsächlich verstehen wir die Bedeutungen von Äußerungen nicht dadurch, dass wir Intentionen (verstanden als private Entitäten) erfassen. Vielmehr verstehen wir diese Äußerungen aufgrund der Unterstellung des ‚principle of charity‘ bzw. konversationaler Implikaturen. Das Verstehen metaphorischer Äußerungen wird durch die Wahrheitspräsupposition ermöglicht. Wir unterstellen, dass jemand mit dem Ausdruck ‚gläserner Mensch‘ etwas Wahres mitteilen möchte, und folgern, dass nicht behauptet werden soll, dass ein Mensch tatsächlich aus Glas besteht, sondern dass nur bestimmte Eigenschaften von Glas – wie etwa durchsichtig zu sein – auf den Menschen übertragen werden sollen. Ironische Äußerungen verstehen wir gewöhnlich aufgrund der Rationalitätsunterstellung. Da die ironische Äußerung wörtlich verstanden nicht zu den sonstigen bisher kommunizierten Überzeugungen des Sprechers oder Autors passt, schließen wir auf eine ironische Bedeutung. Für das Verstehen indirekter Äußerungen unterstellen wir die Relevanz der Äußerungen. Die Frage ‚Können Sie mir das Salz reichen?‘ ist wörtlich verstanden irrelevant. Denn sofern der Adressat nicht die Arme gefesselt oder eingegipst hat, dürfte er in der Lage dazu sein; und selbst in dem Fall, dass er aufgrund der Fesseln oder des Gipses nicht dazu in der Lage ist, sind die Gründe für das Unvermögen so offensichtlich, dass sich die Frage auch erübrigt. d) Kontrollverfahren: Die uneigentliche Bedeutung einer Äußerung kann in eine ‚eigentliche‘ oder direktere Formulierung übertragen werden. Eine solche ‚Übersetzung‘ beurteilen wir gemeinhin dahingehend, ob diese Übersetzung in sich stimmig ist und zum situativen und sprachlichen Kontext passt. 4.6 Symptomatisches Verstehen: Exemplifikation und Ausdruck a) Aspekt der sprachlichen Äußerung: Der Anspruch der Hermeneutik, ‚den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat‘, 41 begreift das Kommunikat als Symptom für zugrunde liegende Haltungen oder ähnliches des Autors oder Sprechers. Beispielsweise schließen wir von der Wortwahl und Syntax häufig auf den sozialen Hintergrund des Autors. Wenn man ganze Texte berücksichtigt, werden bestimmte Haltungen des Textproduzenten durch die Argumentationsweise u.ä. exemplifiziert. Textstrukturen, Wortwahl, Themen usw. können demnach als Symptome für Entstehungsbedingungen gelesen werden. 40 Vgl. Danneberg/Müller (1983), S. 135 (dort auch weitere Literaturhinweise). 41 Vgl. Schleiermacher (1838), S. 94 und Dilthey (1900), S. 331.

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b) Unglücksfall: Ähnlich wie das Verstehen der uneigentlichen Bedeutung bezieht sich das Erfassen des symptomatischen Sinns auf eine Dimension der Bedeutung eines Textes jenseits seiner wörtlichen Bedeutung. Allerdings verunglückt das Verstehen nicht unbedingt, wenn der symptomatische Sinn nicht erfasst wird, während das Verstehen einer Äußerung verunglückt, wenn die uneigentliche Bedeutung nicht erkannt wird. Dennoch kann auch das symptomatische Verstehen verunglücken, nämlich dann, wenn die entsprechende Deutung nicht zum Kontext passt. Da das symptomatische Verstehen in viel stärkerem Maße als die anderen Dimensionen des Verstehens das jeweilige Kommunikat in Bezug zur Biographie seines Produzenten oder in Bezug zu den Entstehungsbedingungen setzt, können diese Biographie bzw. die Entstehungsbedingungen gewissermaßen Einspruch erheben. Dies ist etwa der Fall, wenn Sigmund Freud Wilhelm Jensens „Gradiva“ dahingehend deutet, dass sich in dem Text eine intime, geschwisterähnliche Beziehung in der Kindheit des Autors manifestiere. 42 Für diese Deutung erwies es sich als problematisch, dass der betreffende Autor gar keine Schwester hat. c) Möglichkeitsbedingung: Anders als die vorher untersuchten Dimensionen des Verstehens hängt diese Dimension in einem viel stärkeren Maße von den spezifischen Interessen des Interpreten ab. So würde eine marxistischsozialwissenschaftliche Deutung einen Text etwa als Ausdruck bestimmter Klassen- und Gesellschaftsverhältnisse deuten, wohingegen eine psychoanalytische Deutung den Text als Manifestation psychischer Probleme des Autors lesen könnte. Das symptomatische Verstehen ergibt sich somit aus dem Zusammenspiel der Äußerung (bzw. eines ganzen Quellenkorpus) und einer vom Interpreten vorausgesetzten Hintergrundtheorie – sei es eine psychologische, eine geistesgeschichtliche, eine sozialwissenschaftliche oder eine wie auch immer geartete Theorie. 43 Die jeweilige Hintergrundtheorie legt fest, als was das Kommunikat betrachtet wird, und dementsprechend, für was das Kommunikat als mögliches Symptom gesehen wird. d) Kontrollverfahren: Ganz allgemein gesprochen sollte der behauptete symptomatische Sinn zu den sonstigen Quellen passen. Dabei gerät man aber in einen hermeneutischen Zirkel, wenn man beispielsweise eine historische Quelle als Symptom für einen bestimmten ‚Zeitgeist‘ betrachtet und diesen Zeitgeist wiederum durch andere Quellen aus der gleichen Zeit und Kultur eruiert. Denn die Deutung der als Kontext herangezogenen Quellen wird ja wiederum nur dadurch gerechtfertigt, dass sie zur Deutung der anderen Quellen passt. Letztlich handelt es sich bei solchen Deutungen um Hypothesen, die dadurch gerechtfertigt werden, dass sie zu möglichst vielen Quellen passen. 44

42 Vgl. Freud (1941), bes. S. 120f. und 124. 43 Vgl. Spree (1995), S. 197ff. 44 Zu weiteren Kriterien für die Beurteilung von Textinterpretationen vgl. Strube (1992).

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5. CHARAKTERISTIKA DES KOMMUNIKATIVEN VERSTEHENS Ausgehend von den je eigenen Möglichkeitsbedingungen der verschiedenen Dimensionen des Verstehens lässt sich ein anwendbares Kriterium für Verstehen ausmachen. Das lexikalische Verstehen wird durch die Projektion des eigenen Sprachsystems ermöglicht; das extensionale Verstehen setzt die Äußerung in Bezug zu ihrem Ort und Zeitpunkt; das modale Verstehen rekurriert auf das Verhältnis von Sender und Empfänger; das übertragende Verstehen wird durch die Wahrheitsunterstellung (Metapher), die Relevanzunterstellung (indirekte Äußerung) bzw. die Rationalitätspräsupposition (Ironie) ermöglicht und das symptomatische Verstehen wird durch die Unterstellung einer (psychologischen, sozialwissenschaftlichen oder sonstigen) Hintergrundtheorie ermöglicht. Das übergeordnete Kriterium für Verstehen wäre in all diesen Fällen ein Verhältnis des Passens zwischen sprachlicher Äußerung, der spezifischen Möglichkeitsbedingung und der angenommenen Deutung. Bei diesen Möglichkeitsbedingungen handelt es sich um Setzungen oder Unterstellungen des Interpreten. Wir müssen das Nachsichtigkeitsprinzip in seinen verschiedenen Varianten unterstellen, wollen wir überhaupt die Möglichkeit haben, in die Kommunikation hineinzukommen. Diese Setzungen werden jedoch nicht von jedermann geteilt; so betonen etwa einige Spielarten der poststrukturalistischen Lektüre eher die Brüche und Unstimmigkeiten in Texten und beabsichtigen diese durch ihre Textarbeit hervorzuheben. 45 Solche Umgangsweisen mögen an sich legitim sein, aber gelten zumindest nach der hier vorgestellten Konzeption des Verstehens nicht als Verstehen. Das ist aber insofern unproblematisch, als dass es in dem vorliegenden Aufsatz auch nicht darum geht, eine allgemeinverbindliche Rahmenkonzeptionen für jeglichen Textumgang zu liefern. Dementsprechend konkurriert die verstehensbasierte Interpretationstheorie auch nicht mit jenen Ansätzen; sie konkurriert aber mit den intentions- und den konventionsbasierten Ansätzen, insofern diese Ansätze den Anspruch erheben, Kriterien für das angemessene Verstehen sprachlicher Äußerungen zu liefern. Anders als der Mentalismus und der Konventionalismus liefert die vorgestellte Interpretationstheorie öffentlich anwendbare Kriterien für Verstehen (siehe die in Kap. 4 ausgeführten Kontrollverfahren). Letztlich ist es das, was man von einer Verstehenskonzeption erwarten kann: intersubjektive Überprüfbarkeit. Das heißt jedoch nicht, dass man mit Sicherheit ein für alle Zeiten feststehendes Verstehen erreichen kann. Vielmehr handelt es sich bei dem Verstehen um ein dynamisches Geschehen. Der dynamische Charakter des Verstehens ergibt sich vor allem aus dem Umstand, dass der Interpret zu Beginn vorläufig das ‚principle of charity‘ in seinen verschiedenen Varianten unterstellen muss, um diese Unterstellungen dann schrittweise zu modifizieren.

45 Vgl. Spree (1995), bes. S. 152f. et passim.

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KOMMENTAR UND NACHFRAGEN * Uwe Walter Polarität als kognitives Muster der Wahrnehmung (oder Herstellung) von Wirklichkeit – auf diese Formel brachte der Althistoriker Paul Cartledge seinen Entwurf der griechischen Kultur. Freie/Sklaven, Hellenen/Barbaren, Männer/Frauen, Nomos/Physis, Rede/Gegenrede. 1 Wenn wir heute von Ost und West sprechen, ist eine derartige metageographische Konzeption immer noch sehr lebendig, trotz aller Dekonstruktion durch die Ideologiekritik. Und wenn es auch das Geschäft des Historikers ist, zu differenzieren, zu kontextualisieren, zu phasieren und die Bedeutung situativ-kontingenter Momente auszumachen, hat sich das dem Promotionsverbund zugrunde liegende Modell des Auseinanderdriftens und der kulturellen Dissoziation als sehr fruchtbar erwiesen, weil es eben für die genannten Operationen viel Raum lässt. So war viel zu lernen über dissoziative Prozesse innerhalb des Ostens beziehungsweise des Westens, wie Abgrenzungen entstanden etwa zwischen ostsyrischen Christen und der byzantinischen Orthodoxie oder von den Goten in Schriften des merowingischen Gallien im 6. Jahrhundert. Oder über den Mehrfrontenkampf des Eunapios von Sardes gegen die Christen, gegen konkurrierende Intellektuelle und gegen den ‚Westen‘ insgesamt. Oder von der kategorialen Unterscheidung zwischen kriegerisch-nomadischer und stabil-berechenbarer Lebensweise am Beispiel von Hunnen und Goten. 2 Doch versucht dieser kurze Kommentar nicht, die einzelnen Beiträge zusammenzufassen oder auf verallgemeinerbare Befunde abzuklopfen. Vielmehr sollen auf der Basis allein der gehörten Vorträge zwei, drei Aspekte skizziert werden, die mir wichtig erscheinen und vielleicht während der Tagung zu kurz kamen. 1. Nicht zu unterschätzen ist die Materialität der Kommunikation, auch wenn dies zunächst auf Realien und ‚antiquarische‘ Fragestellungen hinzudeuten scheint. Was wissen wir über spätantike Reisegeschwindigkeiten und Postwege, 3 über die Sicherheit des Schriftverkehrs oder über die Frequenz von Gesandtschaf-

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1 2 3

Anmerkung der Herausgeber: Dieser Beitrag basiert auf dem mündlichen Kommentar, der die Tübinger Tagung beschloss. Uwe Walter hat ihn freundlicherweise ausformuliert und leicht überarbeitet, so dass er den Band beschließen kann. Cartledge (2002). Locus classicus ist Amm. 31,2,1–11. Vgl. Stöhr (1933), Riepl (1972), Kolb (2000), Andreau/Virlouvet (2002), Capdetrey (2006), Drecoll (2006).

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ten, Reisen und Begegnungen? 4 Vor gelungenen oder verpassten Kommunikationen liegen die Bedingungen der Möglichkeit, in der Wirklichkeit wie in der historischen Analyse. Unentbehrlich erscheint daneben eine Prosopographie der Grenzgänger zwischen Osten und Westen, wie sie im Promotionsverbund auch als methodische Grundlegung genannt wird. Kann man eine plausible Schätzung abgeben, wie viele Leute wann und wie oft zwischen Syrien und Gallien, Palästina und Rom, Konstantinopel und Karthago unterwegs waren? Michael McCormick hat diese Fragen in seinem Panorama berücksichtigt und gezeigt, in welchem Ausmaß im 8. und 9. Jahrhundert Gesandte, Pilger, Flüchtlinge, Exulanten, Sklaven und selbstverständlich Kaufleute zwischen den keineswegs hermetisch voneinander abgeschotteten drei Weltteilen unterwegs waren. 5 Doch nicht allein die Möglichkeit und die Tatsächlichkeit sind in Rechnung zu stellen, sondern auch die einer Kommunikation zugrundeliegenden Ordnungsvorstellungen: wenn etwa der Bischof von Rom, um Informationen über die Lage in Alexandria zu erhalten, offenbar nicht etwa dort (oder bei den doch zahlreichen Rückkehrern aus der Stadt) anfragte, sondern den Weg über den Patriarchen von Konstantinopel nahm (Beitrag von Sebastian Scholz). Solches Hierarchiedenken gehörte auch zu den Strukturbedingungen von Information und Kommunikation, wie schon in der Republik die mündliche Auskunft eines sozial Ebenbürtigen mehr als galt als ein dokumentarischer Beleg, den zu erheben man einen Sklaven schicken konnte. 6 2. Die Vorstellung einer Dissoziation setzt voraus, dass zuvor eine größere Homogenität bestand. Doch ist eine solche Homogenität in der geschichtlichen Welt kein selbstverständlicher Zustand oder ein notwendiges Ergebnis eines evolutionären Prozesses, sondern ihrerseits hochgradig voraussetzungsreich. Unter die Lupe zu nehmen wäre vergleichend eine Phase, in der die Homogenität evident groß war, sinnvollerweise also die Hohe Kaiserzeit zwischen 100 und 300 n.Chr. Nach Prozessen von Dissoziation zu fragen ergibt – anders gewendet – nur Sinn, wenn zugleich der Wegfall von zuvor integrativ wirkenden Strukturen und Faktoren in den Blick genommen wird. Was stiftete in der Hohen Kaiserzeit diese Homogenität und vermied Missverständnisse? Hier kommt „die ganz profane staatliche Alltagsebene“ ins Spiel. 7 Ging die stärkere administrative Segmentierung des Reiches in der Spätantike mit einer analogen ‚Regionalisierung‘ der Reichselite einher? In der Frühen und Hohen Kaiserzeit war es nicht unüblich, dass ein Statthalter wie Quinctilius Varus von Syrien nach Germanien versetzt wurde. Expertisen für die Verhältnisse in einer Region waren hilfreich und erwünscht, aber grundsätzlich konnten die militärisch-administrativen Spitzenkräfte reichsweit eingesetzt werden. Das galt – mit gewissen Einschränkungen – auch für Truppen. Und ganz banal: Wenn es einen Kaiser gibt, ist das eine andere 4 5 6 7

Fallstudien aus der Spätantike: Pratsch (2006) und Paoli-Lafaye (2002). McCormick (2001), vgl. Rezension Meier (2003). Walter (2004), S. 361–373. Wie es Wolfram Brandes in der Diskussion eher beiläufig formulierte.

Kommentar und Nachfragen

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strukturelle Voraussetzung, als wenn deren zwei die Herrschaft ausüben oder ein Kaiser im Osten regiert, im Westen aber keiner mehr. Die administrativen Strukturen und die Sozialisierung der Reichselite bilden also zwei Bereiche, wo man nach dem Verlust einer mühsam errungenen und behaupteten Homogenität fragen kann und muss. Umgekehrt erscheint es sinnvoll, auch nach Spielräumen für Unschärfen und Verschiedenheiten zu suchen, die in der Spätantike verschwanden. Denn wenn es einen höheren Homogenitätsdruck gibt, ergeben sich auch vermehrt Chancen für Dissonanzen. Allein die Pluralität von kirchlichen Zentren im spätantiken Reich bei gleichzeitig bestehendem Orthodoxiegebot machte Dissoziationen wahrscheinlich – und gleichzeitig weniger erklärungsbedürftig. Diesen Aspekt hat Jan-Markus Kötter gerade eben in einem instruktiven Aufsatz erhellt. 8 Da aus der Konstellation der Entstehungsphase des Christentums eine Mehrzahl von autonomen Kirchen entstanden war, diese aber seit Konstantin durch den Kaiser, die Sakramentsgemeinschaft und die Idee einer una ecclesia die Vorstellung einer gemeinsamen Referenzgröße teilten, bildete die Reichskirche sowohl Ergebnis als auch Voraussetzung der zahlreichen Dissoziationen in ihr. Ihre Existenz war dabei weder vom Konsens der Akteure noch von einer tatsächlich erreichten Verwirklichung ihrer Einheit abhängig. Die Kirche blieb ‚von der Basis‘ her segmentär, doch durch die Idee und Existenz der Reichskirche gewannen Dissense in dogmatischen und hierarchischen Fragen eine ganz neue Qualität. Das dritte Streitfeld, die Stellung des Kaisers in und zu der Kirche, entstand überhaupt erst durch die Unitätsidee. Und „erst die Reichskirche stattete die Kirche mit einer theoretisch dauerhaft abrufbaren kaiserlichen Sanktionsmacht aus; und erst unter dieser Voraussetzung entwickelten die kirchlichen Auseinandersetzungen ihre volle Schärfe“, da nun die reichsweite Regelung dogmatischer Konflikte die regional unterschiedlichen theologischen Traditionen aufeinanderprallen ließ. Die Suche nach Konsensen setzte enorme intellektuelle Energien frei und führte zu einer verstärkten Fixierung und Ausdifferenzierung von Theologie und Hierarchie – die wiederum immer neuen Zündstoff für aktualisierten innerkirchlichen Streit produzierten. Damit ist eine ‚Blaupause‘ für das Verständnis aller innerkirchlichen Konflikte in der Spätantike gewonnen und zugleich erklärt, warum die Konfliktanfälligkeit der Kirche strukturell niemals zu beheben war. Kötters Studie untermauert eine wichtige Einsicht: Nicht das Scheitern der auf Einheit zielenden Ordnungsversuche überrascht und verlangt nach Erklärungen, sondern die Tatsache, dass „angesichts der problematischen strukturellen Rahmenbedingungen die Verständigung der Bischöfe über gewisse Zeiträume hinweg überhaupt funktionierte“. 9 So zeigt Carola Föller am Beispiel von Gregor d.Gr., wie sich im Streit mit dem Patriarchen von Konstantinopel und im Verhältnis zu den Synoden gleichsam rolleninduzierte Dissoziationen ergaben und also keineswegs immer kulturelle Widersprüche im Sinne von echter Entfremdung zugrunde lagen. Auch der ‚Stel8 9

Kötter (2014). Kötter (2014), S. 23.

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lungswechsel‘ der nestorianischen Christen im Persischen Reich bzw. im frühen Islam gegenüber dem Imperium Romanum wäre in diesem Zusammenhang anzuführen. Wenn in den Beiträgen generell viel von Kommunikationen die Rede ist – gelingenden, scheiternden, verweigerten, kanalisierten –, so hängt das wohl auch mit der strukturell vermehrten Zahl von Akteuren zusammen. Für die Hohe Kaiserzeit ist etwa von einem regelmäßigen oder gar ausgedehnten Austausch zwischen den Vertretern der administrativen Elite in verschiedenen Regionen kaum je die Rede (sieht man von grenzüberschreitenden Problemen in zwei benachbarten Provinzen einmal ab); die Statthalter schrieben sich, soweit wir wissen, untereinander nicht, sondern sie kommunizierten jeweils mit dem Kaiser. Die Gruppe, der sie angehörten, war vergleichsweise homogen, aber nicht auf das Aushandeln von Rang- und Sachfragen untereinander angewiesen. Das vermied Reibungen und Spannungen. 3. Die meisten der in diesem Band vorgestellten Beispiel, in denen Nähe hergestellt, das Auseinanderdriften also konterkariert werden konnte, haben gemeinsam, dass es ganz bestimmte Umstände und Voraussetzungen gab. Das konnte ein kollektives oder individuelles Interesse an der ‚anderen Seite‘ sein, wie im Falle von Augustinus und Hieronymus in ihrer Verfolgung des Pelagius (Fabian Schulz) oder im Falle von Gregor von Tours und Fredegar in ihren Repräsentationen des Byzantinischen Reiches (Hans-Werner Goetz) – zuspitzend kann man sagen: Wenn das Interesse da war, fanden sich auch Gemeinsamkeiten bzw. Informationsquellen. Bei der autorzentrierten Wahrnehmung stellt sich selbstverständlich immer die Frage nach ihrer Reichweite und formativen Wirkung. In Kommunikationsmodellen ist der Faktor Intentionalität inzwischen strittig geworden. Auch das legt es nahe, nach den größeren, überpersönlichen und situationsübergreifenden Bedingungen von Homogenität und Dissoziation zu fragen. LITERATURVERZEICHNIS Jean Andreau/Catherine Virlouvet (Hrsg.) (2002), L’Information et la Mer dans le Monde Antique. Sous la direction de Jean Andreau et Catherine Virlouvet (Collection de l’École Française de Rome, 297), Rom. Laurent Capdetrey (Hrsg.) (2006), La circulation de l’information dans les états antiques. Actes de la Table Ronde La Circulation de l’Information dans les Structures de Pouvoir Antiques, Institut Ausonius, Pessac, 19–20 janvier 2002. Bordeaux u.a. Paul A. Cartledge (2002), The Greeks. A Portrait of Self and Others. Second edition, Oxford. Carsten Drecoll (2006), Nachrichten in der römischen Kaiserzeit. Untersuchungen zu den Nachrichteninhalten in Briefen. Freiburg/Br. Jan-Markus Kötter (2014), Die Suche nach der kirchlichen Ordnung. Gedanken zu grundlegenden Funktionsweisen der spätantiken Reichskirche, in: Historische Zeitschrift 298, S. 1–28. Anne Kolb (2000), Transport und Nachrichtentransfer im Römischen Reich (Klio Beihefte 2), Berlin. Michael McCormick (2001), Origins of the European Economy. Communications and Commerce, A. D. 300–900. Cambridge. Mischa Meier (2003), Rez. Michael McCormick (2001), in: Plekos 5, S. 179–181.

Kommentar und Nachfragen

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Élisabeth Paoli-Lafaye (2002), Messagers et messages. La diffusion des nouvelles de l’Afrique d’Augustin vers les régions d’au-delà des mers, in: Andreau/Virlouvet (2002), S. 233–259. Thomas Pratsch (2006), Dezentrales Netz und Chiffre. Zum Kommunikationswesen byzantinischer Mönchsgemeinschaften, in: Ulrike Peter/Stephan J. Seidlmayer (Hrsg.), Mediengesellschaft Antike? Information und Kommunikation vom Alten Ägypten bis Byzanz (Altertumswissenschaftliche Vortragsreihe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen, Sonderband 10). Berlin, S. 69–92. Wolfgang Riepl (1972), Das Nachrichtenwesen des Altertums mit besonderer Rücksicht auf die Römer, Hildesheim. Kurt Stöhr (1933), Das Nachrichtenwesen des weströmischen Kulturkreises von der Völkerwanderung bis zum Tode Karls des Großen, Diss. phil. Halle. Uwe Walter (2004), Memoria und res publica. Zur Geschichtskultur im republikanischen Rom. Frankfurt.

REGISTER

GEOGRAPHISCHES REGISTER Adda: 209 Afrika: 87, 89, 117, 203 Agen: 109f. Ägypten: 42, 50, 57, 64, 87, 102, 109, 140, 144 Anm. 48, 158, 167–170 Albanien (Balkan): 203 Albanien (Kaukasus): 117f. Alexandria (Ägypten): 42, 44, 50, 87, 102, 127 Anm. 76, 144 Anm. 48, 158f., 164–166, 168f., 180, 182–185, 263, 266, 268, 302 Amboise: 105 Anm. 32 Angoulême: 102 Antiochia (Orontes): 20, 22 Anm. 27, 25– 27, 31, 58 Anm. 13, 59–61, 84 Anm. 38, 91, 127 Anm. 76, 139, 165–167, 169, 180, 182–185 Arabien: 118 Arles: 106, 108 Armenien: 117 Asien: 28, 47, 51, 222 Athen: 21–24, 27f., 32, 34, 49–51, 58 Anm. 13, 60, 61 Anm. 29, 153 Äthiopien: 117 Auxerre: 107 Avignon: 106 Bagdad: 120, 127 Anm. 76 Balkan: 105 Anm. 36 Berytos: 20, 51, 59 Bethlehem: 135, 140, 143f., 150, 152f. Bithynien: 273 Anm. 48 Bosporus: 198 Britannien: 246, 251 Bulgarien: 201 Chalkedon: 12, 92 Anm. 86, 117, 119, 128, 158f., 161–164, 167, 170, 254 Anm. 88, 256, 259, 263, 266–270, 273 Cherson (Krim): 159 China: 119 Anm. 15 Clermont: 215, 217, 228–230

Dalmatien: 22, 203, 205 Diospolis: 150 Donau: 198, 223 Anm. 45, 224, 253 Dyrrhachium: 203 Edessa (Mesopotamien): 119, 122f., 264 Ephesos: 49, 119, 149, 151, 169 Epirus: 246f., 249 Frankenreich: s. Merowingerreich Galatien: 49 Gallien: 48, 91, 99–101, 103, 106, 109–113, 227 Anm. 81, 228, 229 Anm. 91 und 92, 232, 245, 251, 301f. Georgien: 117 Germanien: 302 Griechenland: 22, 28 Anm. 54, 32, 34, 42, 46, 48, 50f., 67, 137, 147f., 198, 241, 243–245 Gomorrha: 84 Hippo: 136 Horreum Margi: 207 Illyrien: 48, 197, 244f., 247, 254 Anm. 89 Irak: 118 Iran: 118 Isaurien: 266 Isonzo: 204 Italien: 12, 31f., 34, 48, 56, 81, 86f., 90, 100, 106f., 136, 193–195, 200, 203–209, 230, 241 Anm. 8, 246, 249 Jericho: 102 Jerusalem: 87, 127 Anm. 76, 144, 149f., 182f., 265, 270, 272f. Kappadokien: 164 Karthago: 82, 87, 147–149, 302 Katalaunische Felder: 196 Kaukasische Pforte: 93 Kleinasien: 48f., 51, 266, 273

310 Krim: 159 Kroatien: 203 Kyzikos: 63 Limoges: 107 Limousin: 110 Loire: 100 Lyon: 229 Anm. 91 Mailand: 209, 245 Makedonien: 198f. Marmarameer: 63f. Merowingerreich: 77, 79–81, 86f., 94f., 99f., 103, 107, 110, 113 Mesopotamien: 117f., 264 Moesien: 201f. Naher Osten: 117, 169 Neokaisareia: 24 Nikomedien: 273 Anm. 48 Nisibis: 119, 122f. Nizäa: 119, 159, 267 Nordafrika: 56, 136, 150 Noricum: 245f., 251 Novae: 201 Nubien: 117 Orléans: 111, 112 Anm. 78 Orontes: 25 Ostgotenreich: 81, 86, 108 Palästina: 118, 140, 143, 152, 170, 264f., 268, 302 Pannonien: 193, 197f. Pavia: 205, 248, 251 Pergamon: 41 Perserreich: 90, 92f., 95, 118, 120, 124, 304 Persien: 87, 91f., 121, 123, 125 Phrygien: 255 Plattensee: 197 Poitiers: 100, 102, 108f., 112f. Poitou: 110 Provence: 108, 110, 205 Pyrenäen: 110 Ravenna: 105, 205, 247, 249 Sardes: 37, 41f., 47, 49, 51, 58 Anm. 13 Sasanidenreich: s. Perserreich Seleukia-Ktesiphon: 119f., 127f. Serbien: 207 Singidunum (Belgrad): 198

Register Sirmium: 207 Sizilien: 48 Anm. 75, 205 Sodom: 84 Sondis (Berg): 202 Spanien: 56, 81, 87, 100, 103, 112, 207 Stobi: 199 Stridon: 135 Syrien: 48, 60, 118, 123, 139, 144, 152, 170, 302 Thagaste: 136 Thrakien: 87, 202, 259 Ticinum: s. Pavia Toulouse: 227 Tours: 80, 101f. Transkaukasien: 117 Troja: 85 Anm. 46, 146 Tuszien: 207 Tyros: 58 Anm. 13 Ungarn: 197 Vandalenreich: 86, 88f. Verona: 205, 209 Vuka: 203f. Voullié: 11, 99–101, 103, 106, 108, 110, 112f. Westgotenreich: 101, 103f., 108, 110 Xi`an: 119 Anm. 15 Yarmuk: 93 Anm. 95

PERSONENREGISTER Abaris: 22 Ablabius (praefectus praetorio): 42, 44, 51 Abraham: 127 Abundantius: 254 Anm. 89 Acacius (Katholikos): 122 Anm. 42 Adaloald: 86 Anm. 52 Adamantius: 203 Addaeus: 254 Anm. 89 Aegidius (magister militum): 91, 95 Aelius Aristides: 34 Aemilius Paullus: 138 Agamemnon: 27 Agathias: 107 Ägypter: 51 Anm. 90 Ahab: 272 Aidesios: 46, 48f. Akakios von Konstantinopel: 159–170, 263, 270–272 Alamannen: 92 Anm. 85, 101 Alarich I.: 106, 241, 243–247, 249–251, 254 Anm. 89 Alarich II.: 100–106, 109f. Alexandros: 61 Anm. 28 Al-Mahdī: 127 Anm. 73 Alypios (Musiktheoretiker): 39 Anm. 8 Amazonen: 89 Ambrosius von Mailand: 242 Ammianus Marcellinus: 20 Anm. 16, 32f., 61, 68, 138 Anm. 15 Ampelios: 22 Anm. 27 Amphilochios von Ikonion: 42, 139 Anacharsis: 22, 23 Anm. 29 Anastasios I.: 56 Anm. 5, 80, 86, 208f., 264f., 275f. Anastasios (Bischof): 167 Anastasios I. von Antiochia: 176, 180f., 184–186 Anatolios (praefectus praetorio): 33 Anm. 79, 46, 51 Anatolios von Konstantinopel: 158, 266 Anthemios: 266 Antichrist: 161, 182f., 264, 267f., 270f., 272 Anm. 44, 275

Antonia (Ehefrau des Belisar): 89f. Antoninos (Philosoph): 44 Apharat: 117, 120f., 128 Apollinaris von Laodizea: 139 Apollonios von Rhodos: 64 Appian: 34 Apsines: 50 Araber: 117f. Aradius Rufinus: 25 Anm. 43 Arcadius: 10, 85, 240, 242, 244–261 Argonauten: 63f. Ariadne (Ehefrau des Zenon): 265f. Arianer: s. Homöer Arioald: 86 Anm. 52 Aristoteles: 23 Anm. 31, 26, 30, 39, 145, 292f. Arius: 102, 258 Asklepios: 41 Aspar: 261 Assyrer: 120 Astat: 199 Athanasius von Alexandria: 138 Athanasios von Isaurien: 176, 178 Athener: 33, 49 Anm. 77 Attila: 196f., 215, 217, 222–226, 231 Augustinus von Hippo: 12, 39 Anm. 7, 135f., 145–153, 304 Augustus: 29, 96, 106 Aurelianus (praefectus praetorio): 255 Authari (dux): 86 Anm. 52 Authari (König der Langobarden): 86 Anm. 52 Avianius (Vater des Symmachus): 25, 26 Anm. 47 Avitus von Vienne: 105, 111, 113 Anm. 80 Babai der Große: 125 Babai (Sarmatenkönig): 198 Bacurius: 252 Barḥaḏbšabbā ‘Arḇāyā: 122f. Barṣauma von Nisibis: 122f. Basileios der Große: 23, 42, 66 Anm. 54, 67

312 Basiliskos (Usurpator): 12, 159–162, 164, 168, 201, 263, 265–267, 269–271, 273– 275 Basilios von Antiochia: 158 Basilius von Ancyra: 140 Anm. 28 Bassus von Saintes: 110 Belisar: 81, 86, 88–90, 92, 94 Beremud: 196 Bleda: 223 Brennus: 142 Anm. 37 Buccelenus: 81, 86, 90 Burgunder: 85 Anm. 50, 103, 107f., 207 Byzas: 273 Caelestius: 149f. Caesara (Ehefrau des Chosroes): 91 Caesarius von Arles: 108 Calandion von Antiochia: 166f. Calminius: 228 Anm. 89 Camillus: 29f. Caracalla: 29 Cassiodor: 67–71, 105 Cassius Dio: 34, 65 Cato der Ältere: 29, 65 Charibert: 112 Childebert II.: 81f., 87, 107 Childerich I.: 86, 91, 95, 100f. Chilperich I.: 81, 83 Anm. 37 Chlodwig I.: 80, 86, 89 Anm. 78, 91, 92 Anm. 85, 99–113 Chosrau I.: 91, 124 Chosrau II.: 92, 124–126 Chrodechilde: 92 Anm. 85, 111 Chrysanthios von Sardes: 39, 47, 49 Cicero: 31, 65, 68, 141f., 147f. Claudius Claudianus: 32, 242 Claudius Marcellus (consul 222 v. Chr.): 138 Clemens von Alexandria: 67 Constans: 20 Anm. 16 Constantina (Ehefrau des Maurikios): 176, 180, 182, 184 Constantinus (Usurpator): 245–251 Constantius II.: 20 Anm. 16, 29, 31, 109 Dagobert: 87, 93, 94 Anm. 97 Damasus I.: 69, 139f., 144, 152f. Daniel: 120f., 183, 263, 265, 269, 272–275 Daniel Stylites: 263–265, 271f., 274f. David: 93 Demosthenes: 32, 34, 68 Diodor: 142 Anm. 37

Register Diokletian: 55 Dion von Prusa: 29, 34 Dionysios (comes Aegypti): 158 Dionysios von Halikarnassos: 34 Diophantos (Sophist): 46f. Dioskoros (Briefpartner des Augustinus): 135f., 147–149, 152 Dioskoros von Alexandria: 166, 266 Domitian: 29 Donatisten: 146f. Dositheus: 65 Ecdicius (magister militum): 229f. Elias: 272 Ennodius von Pavia: 204 Epiphanios von Salamis: 139, 143, 152 Epiphanius (Diakon): 162, 164 Eptadius (Presbyter): 107 Erelieva: 196 Esau: 121 Anm. 26 Euagrios Scholastikos: 270 Euagrius (Gastgeber des Hieronymus): 139 Eucherius: 228 Anm. 89 Eucherius (Sohn des Stilicho): 248 Eugenius (Usurpator): 240, 242, 243 Anm. 20, 252f., 254 Anm. 89 Eulogios I. von Alexandria: 176, 180, 184– 186 Eunapios von Sardes: 21, 32f., 37–51, 58, 255, 301 Euphemia (Märtyrerin): 256 Eurich: 100f., 215, 217, 227f., 229 Anm. 92 und 98 Eusebios von Alexandria: 21 Anm. 21, 50 Eusebius (Gesandter): 86 Anm. 52 Eusebius von Vercelli: 138 Eustathios (Philosoph): 39 Eustochium: 144 Anm. 50 Eutharich: 196, 201 Anm. 43 Eutropios (Eunuch): 254f., 257 Eutyches (Miaphysit): 94, 159 Esaias (Bischof): 166 Faustinus (Abt): 268 Feletheus: 204 Felix II.: 170 Festus (caput senatus): 209 Festus (proconsul): 42–44, 51 Firminus (Averner): 81 Flavianus (Virius Nicomachus F.): 28 Flavianus von Konstantinopel: 169, 266 Anm. 17

Personenregister Franken: 85 Anm. 46, 91, 103, 107, 109, 207 Fravitta: 254 Anm. 89 Fredegar: 11f., 77, 79, 84–96, 304 Friedrich (Rugier): 204 Gabriel von Schingar: 125 Gainas: 12, 51, 239f., 245, 252–261 Galater: 141–143 Galen: 142 Anm. 37 Gallier: 141f. Gelasius I.: 170 Gelimer: 90 Gennadios von Konstantinopel: 266 Genoveva von Paris: 110 Gepiden: 203f. Giso (Cousine des Theoderich): 204 Goliath: 93 Goten: 12, 88, 102, 104, 106, 110, 193–210, 225, 241, 243 Anm. 20, 252f., 255, 257–261, 301 Gratian: 30 Gregor (patricius): 87 Gregor der Große: 82, 88 Anm. 71, 173– 188, 303 Gregor von Antiochia: 91 Gregor von Nazianz: 23, 42, 66 Anm. 54, 70 Anm. 65, 139, 140 Anm. 28 Gregor von Nyssa: 19 Anm. 7, 23f., 66 Anm. 54, 67, 69f. Gregor von Tours: 11f., 77, 79–84, 87, 90, 92 Anm. 85, 94–96, 99–103, 106, 108– 111, 113, 304 Gripo: 82, 84 Gundobad: 105, 111 Gundowald: 87 Guntchramn: 81 Anm. 26 Herakleios: 66, 85, 87, 92–94, 96, 126 Hermenegild: 81 Hermes: 41 Herodes Atticus: 34 Herodot: 34 Heruler: 104 Hieronymus: 12, 85, 135f., 139–145, 147, 149–153, 304 Hilarianus: 199 Hilarius (Bischof von Rom): 159, 169 Hilarius von Poitiers: 102, 109, 138, 141– 143 Himerios (Rhetor): 21–23, 27–30, 32f., 41, 44, 51, 58f., 60 Anm. 24

313

Hippolyt von Rom: 120, 264 Anm. 2 Homer: 27, 32–34, 68 Homöer: 100–103, 107, 109f., 113, 209, 258–260 Honorius (Kaiser): 10, 85, 240–252, 254 Anm. 89, 260f. Hormizd: 124 Hunnen: 12, 194, 196, 216–217, 222–226, 231, 253f., 301 Hypatia von Alexandria: 45 Hyperboreer: 22 Iamblichos von Apamea: 25 Anm. 42, 37, 39f., 46, 48f. Illus (magister officium): 169, 266, 270 Illyrer: 22 Ingunde (Tochter Sigiberts): 81 Invilia: 199 Ionikos von Sardes: 41, 49 Isaak (patricius): 86 Anm. 52 Isebel: 272 Isidor von Sevilla: 66 Anm. 54, 103 ’Išō’yahb I.: 127 Anm. 76 Israeliten: 109 Ivan: s. Jawan Jakob von Sarug: 122 Japhet (Sohn Noahs): 85 Jawan: 85 Jazdegerd: 124 Jesus Christus: 92 Anm. 85, 94, 104, 120f., 123f., 127 Anm. 78, 136, 144, 160, 183, 263, 266, 268, 274 Johannes (Evangelist): 268 Johannes I. (Bischof von Rom): 88 Anm. 71 Johannes II. (Bischof von Jerusalem): 143, 146, 149f., 152 Johannes III. (Patriarch von Konstantinopel): 91 Johannes Chrysostomos: 19 Anm. 8, 24, 42, 43 Anm. 36, 58 Anm. 13, 67, 70 Anm. 65, 140 Anm. 28, 258–260 Johannes Nesteutes: 173–178, 180–186 Johannes Rufus: 266 Anm. 18, 275 Johannes I. Talaia: 167–169 Johannes von Antiochia (Chronist): 205, 244 Johannes von Chalcedon: 176, 178 Johannes von Ephesos: 125 Jordanes: 106, 194, 196, 198 Josua Stylites: 264 Jovinian: 145 Juden: 93f., 121

314 Julian: 19 Anm. 10, 21, 23, 28, 31, 32 Anm. 76, 38, 41f., 44f., 51, 58, 62, 138, 142 Julianos (Rhetor): 49 Anm. 77, 50 Julianus von Aeclanum: 135, 151f. Julius Africanus: 264 Anm. 2 Julius Nepos: 203 Juno: 146 Justinian I.: 10, 56 Anm. 6, 65f., 80f., 83, 86, 88–90, 96, 106, 127 Anm. 76, 183, 275 Anm. 58 Justinian (Sohn des Germanus): 87 Justin I.: 201 Anm. 43 Justin II.: 80–83, 86 Justus (vicarius Asiae): 47, 51 Juvenal: 65 Karthager: 82 Kelsos (Philosoph): 42, 44 Konstans II.: 86f. Konstantin der Große: 30, 42, 44, 85, 121, 124, 273, 303 Konstantin III.: 87, 94 Kopten: 118 Kyriakos von Konstantinopel: 177 Kyrill von Alexandria: 67, 157 Kyros II.: 124 Kyzikos: 63 Laktanz: 141 Lampadius: 247 Langobarden: 81, 82 Anm. 26, 86f., 107, 178 Latinus (patricius): 163 Leo der Große (Bischof von Rom): 158f., 162, 169f., 266 Leo I. (Kaiser): 86 Anm. 50, 88, 96, 158f., 161f., 198, 201, 265f., 273, 275 Leo II. (Kaiser): 265 Anm. 14 Leo (Feldherr): 252, 255 Anm. 90 Leovegild: 81 Libanios: 18, 20f., 24–29, 31–33, 34 Anm. 80, 38, 42, 44, 46, 49, 51, 58–61, 67–70 Liberius (praefectus praetorio): 206 Liutprand von Cremona: 96 Livius: 65, 146 Lukian: 64 Anm. 44 Macedonius von Konstantinopel: 181 Madusius: 163 Majorian: 86 Anm. 50 Makedonier: 85 Anm. 46 Malchos von Philadelphia: 202

Register Mār Āḇā der Große: 117, 121, 124 Māranzeḵā von Nisibis: 126 Marc Aurel: 19 Anm. 10, 29 Marcella (Heilige): 144 Anm. 50 Mār Gīwargīs: 117, 125 Maria (Tochter Stilichos): 242 Marius von Avenches: 110f. Markian: 80 Anm. 14, 85 Anm. 50, 86, 158, 162, 266, 273 Anm. 50 Markianos (Sohn des Anthemios): 266 Martina (Ehefrau des Herakleios): 93f. Martin von Tours: 101 Martyrius (Diakon): 166 Matthäus (Evangelist): 123, 274 Maurikios: 80–83, 86f., 91, 176, 180–182, 184–186 Maxentius aus dem Poitou: 108, 113 Anm. 80 Maximos von Ephesos: 43, 49, 61 Anm. 24 Melkiten: 127 Menander: 30 Merowech: 91 Merowinger: 82, 84, 91, 102, 112 Anm. 74 Miaphysiten: 94, 119, 125, 159, 163 Milesios (Dichter): 51 Monophysiten: s. Miaphysiten Muhammad: 127 Anm. 73 Mundo: 207 Musen: 41, 47 Muslime: 127 Anm. 73 Narsai der Große: 117, 121–123 Narses: 81, 83, 86f. Nebukadnezar: 120, 183 Nepotianus (Priester): 140 Anm. 28 Neptun: 87 Nero: 29, 243 Anm. 19 Nestorianer: s. Ostsyrer Nestorius von Konstantinopel: 119, 157, 159, 181 Nicetius von Trier: 112 Nilus (Presbyter): 166 Noah: 85 Anm. 45 Nonnos: 63, 65 Odoaker: 203–205, 206 Anm. 71, 208f. Olympiodoros der Jüngere: 246, 249 Olympius (magister officiorum): 245, 248, 250–252, 261 Onegesios: 224 Oribasios (Arzt): 41 Origenes: 67, 140, 143

Personenregister Orosius: 150, 151 Anm. 87, 152 Ostgoten: s. Goten Ostsyrer: 12, 117–119, 122, 124, 128, 301, 304 Pachomios: 144 Anm. 48 Palladas: 17, 18 Anm. 1 Patiens von Lyon: 228 Paula (Asketin): 144 Anm. 50 Paulinus (Bischof von Antiochia): 139, 152 Paulus (Apostel): 141, 146f., 183, 269 Paulus von Ephesos: 165 Paulus von Theben: 139 Pausanias: 142 Anm. 37 Pelagianer: 149–152 Pelagius (Mönch): 82, 135f., 143, 146, 149f., 151 Anm. 87, 152f., 304 Pelagius I. (Papst): 174 Anm. 3 Pelagius II. (Papst): 174 Anm. 3, 176, 179 Peroz: 124 Perser: 81 Anm. 23, 83, 91f., 93 Anm. 91, 117, 119–124, 264 Petros Mongos III.: 158, 162, 165f., 169 Petrus (Apostel): 127 Anm. 76, 144, 151, 153, 161f., 181f. Petrus Fullo von Antiochia: 165 Phasganios: 26 Anm. 46 Philostorgios: 248 Philostratos: 21 Phokas: 87, 92, 96, 126 Pierius: 206 Anm. 71 Pitzias (comes): 207 Platon: 21, 23 Anm. 31, 29f., 34, 39, 43, 65, 146 Plotin: 39f. Plutarch: 34, 71 Pompeius: 30 Porphyrios: 39, 42, 48, 58 Anm. 13 Postumianus: 24–27, 58f., 68 Praetextatus (Vettius Agorius P.): 26, 28 Priskos (Historiker): 223–225 Priskos (Philosoph): 49, 60 Anm. 24 Privatus: 22 Prohairesios (Sophist): 40 Anm. 22f., 41f., 43 Anm. 35, 46f., 49 Anm. 77, 50f. Prokop: 106f. Proterios von Alexandria: 158, 266 Ptolemaios (Freund des Theoderich): 88, 94 Pytagoras: 23 Anm. 31 Quintus von Smyrna: 63, 65 Quodvultdeus von Karthago: 108

315

Radagasius: 241 Anm. 8, 246 Rekitach: 202 Remigius von Reims: 110f., 113 Anm. 80 Rhea (Göttin): 63f. Richomer: 24–27, 60 Anm. 24 Romulus: 28, 60 Anm. 24 Romulus Augustulus: 56, 106 Rufinus (praefectus praetorio): 242f., 245, 253f. Rugier: 204 Sabinianus (Papst): 178–180 Sachsen: 101 Salvianus von Marseille: 229 Sarazenen: 87, 91–94 Saturninus (magister militum): 255 Saul (Feldherr): 252 Savinianus: 208 Schapur II.: 120f. Scipio Africanus: 138 Seneca: 65 Serena (Ehefrau des Stilicho): 243 Anm. 18, 247, 250 Severianer: 127 Severus (Kaiser): 86 Anm. 50 Severus von Antiochia: 127 Anm. 73 Sidonius Apollinaris: 227–230 Sigibert I.: 81 Silvanus von Alexandria: 144 Anm. 48 Simeon von Bet Arscham: 125 Anm. 59 Simplicius (magister militum): 254 Anm. 89 Simplicius (Papst): 12, 157–161, 163–170, 275 Simplikios (Philosoph): 39 Anm. 7 Sisebut: 104 Skythen: 22f. Sokrates: 30, 65 Sokrates Scholastikos (Kirchenhistoriker): 253, 255 Solon: 22 Sopatros: 39 Sophia (Ehefrau von Justin II.): 83, 87 Anm. 59 Sopolis: 47 Sosipatra: 40, 44 Sozomenos: 245f., 249, 253, 255, 258–260 Stephan II. von Antiochia: 166 Stilicho: 12, 239–254, 260f. Stoiker: 146 Susanna (Buch Daniel): 272 Symeon Stylites: 264 Anm. 7

316 Symmachus (Q. Aurelius S.): 25–27, 29, 32, 58 Anm. 16 Symmachus (Q. Aurelius Memmius S.): 88 Anm. 71 Syrer: 33, 117–119, 121 Tacitus: 200 Anm. 38, 216 Anm. 13 Taso von Tuszien: 86 Anm. 52 Themistios: 18, 19 Anm. 8, 23 Anm. 31, 26, 28–33, 34 Anm. 80, 45, 58f., 60 Anm. 24 Theodahat (Amaler): 207 Theoderich der Große: 56 Anm. 5, 86, 95f., 104–106, 193–196, 198–209 Theoderich Strabo: 200–203, 266 Theodora (Ehefrau Justinians): 89 Theodoret (Kirchenhistoriker): 58 Anm. 13, 257, 259 Theodoros Anagnostes: 269 Theodoros von Mopsuestia: 119 Theodosius I. der Große: 25, 27, 42, 56, 80, 88, 240–243, 252, 254 Anm. 89, 261 Theodosios II.: 85 Anm. 50, 151, 169, 247, 273 Theon (Arzt): 49 Theophilos von Alexandria: 143 Theudebert I.: 81 Thiudimir (Amaler): 193f., 196, 198–200 Thiudimund: 199 Thraustila: 203f. Thukydides: 32, 34 Thüringer: 91, 104 Tiberios I.: 80–84, 86f., 96, 107, 182 Timasios (magister militum): 254 Anm. 89 Timotheos I. (Katholikos): 117, 119, 126– 128 Timotheos Ailouros: 158–162, 164f., 263, 266–269, 271, 275 Timotheos Salophakiolos: 159, 165–168 Titus: 29 Totila: 86 Trajan: 29, 34 Tribigild: 252–257 Triphidor: 63, 65 Trokundos: 266 Tufa: 204 Türken: 85 Anm. 46 Uldin: 253 Anm. 81 Ursacius (comes): 22

Register Valamir: 198 Valens: 28, 31 Anm. 71 Valentinian I.: 28 Valerius Flaccus: 64 Vandalen: 85 Anm. 85, 89, 203 Varro: 141 Venantius Fortunatus: 109, 112, 113 Anm. 80 Vergil: 65 Anm. 45, 68, 146 Verina (Ehefrau des Leo I.): 265f. Vidimir (Amaler): 193f. Vigilantius: 145 Anm. 57 Vincentius von Agen (Märtyrer): 109f., 113 Anm. 80 Visigoten: s. Westgoten Warmar: 81 Warnen: 104 Westgoten: 12, 99–101, 103, 109, 112, 196, 227, 228 Anm. 83 Wictharius (Priester): 110 Wiomad: 91, 94 Zacharias (Historiker): 266 Anm. 18 Zenon (Kaiser): 86, 159, 162, 164–169, 201–203, 208, 263, 265f., 270f., 273, 274 Anm. 51, 275f. Zenonis (Ehefrau des Basilikos): 266f. Zoroastrier: 123f., 128 Zosimos: 65, 244, 246–250, 253, 255 Anm. 90

Matthias Becker

Eunapios aus Sardes Biographien über Philosophen und Sophisten. Einleitung, Übersetzung, Kommentar Roma Aeterna — Band 1 Eunapios’ Biographiensammlung ist um 400 n. Chr. entstanden und stellt neuplatonische Philosophen des dritten und vierten Jahrhunderts n. Chr. sowie Rhetoriker und Mediziner des vierten Jahrhunderts n. Chr. vor. In dieser bedeutenden Quelle für die Geistesgeschichte der Spätantike legt Eunapios, ein überzeugter Gegner des Christentums, mit den Mitteln der Biographik ein leidenschaftliches Plädoyer für pagane Kultur, Religion und Bildung ab. Damit möchte er zur Identitätssicherung paganer Intellektuelleneliten beitragen.

Matthias Becker Eunapios aus Sardes 2013. 667 Seiten. Geb. & 978-3-515-10303-9 @ 978-3-515-10361-9

Matthias Beckers Buch bietet nicht nur die erste deutsche Übersetzung dieses sprachlich komplexen Textes, sondern auch eine umfangreiche Einleitung sowie den ersten deutschsprachigen Kommentar. Darin werden v. a. literatur- und religionswissenschaftliche sowie philosophische und historische Aspekte in den Blick genommen. Die Kollektivbiographie des Eunapios wird dabei als pagane Hagiographie interpretiert: Als ein zentraler Vertreter dieser nicht-christlichen Form der Heiligenschriftstellerei entwirft Eunapios seine Protagonisten als Heilige und Göttergesandte, die ein Gegenmodell zum christlichen Heiligen- und Märtyrerkult der Zeit bilden sollen. Die Arbeit wurde mit dem Promotionspreis der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen sowie dem Manfred Lautenschlaeger Award for Theological Promise 2014 ausgezeichnet.

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Jan-Markus Kötter

Zwischen Kaisern und Aposteln Das Akakianische Schisma (484–519) als kirchlicher Ordnungskonflikt der Spätantike Roma Aeterna — Band 2

Jan-Markus Kötter Zwischen Kaisern und Aposteln 2013. 361 Seiten. Geb. & 978-3-515-10389-3 @ 978-3-515-10391-6

Die Abgrenzung kirchlicher und weltlicher Sphären war eines der konfliktträchtigsten Themen spätantiker Kirchengeschichte – und bildete den zentralen Aspekt des „Akakianischen Schismas“, der ersten Spaltung zwischen den Kirchen von Rom und Konstantinopel. Diese Kirchenspaltung reiht sich ein in eine längere Folge strukturell ähnlicher Konflikte. Gedanken einer Trennung von Kirche und Reich waren nämlich keineswegs unumstritten: Verschiedene Bischöfe rangen vielmehr darum, wie weit sich die Kirche Gedanken politischer Ratio in der Umwelt eines christlichen Reiches öffnen sollte. Bei der Nachzeichnung dieses Konflikts, ausgehend von der Analyse des „Akakianischen Schismas“, konzentriert sich Jan-Markus Kötter nicht auf altbekannte Fragestellungen um das Verhältnis von Bischöfen und Kaisern, sondern betrachtet den bischöflichen Streit maßgeblich als innerkirchlichen Konflikt. Die Arbeit wurde mit dem Dissertationspreis des Stiftungsfonds Kopper ausgezeichnet. .............................................................................

Aus dem Inhalt Hinleitung: Voraussetzungen des Schismas: Ereignisgeschichtlicher Überblick I: von Chalkedon bis zum Henotikon | Die Entwicklung der fünf Großkirchen bis 482/84 p Bischöfliches Handeln: Ereignisgeschichtlicher Überblick II: vom Bruch bis zur Wiederherstellung der Gemeinschaft p Die Frage nach der kirchlichen Ordnung: Apostolische und politische Begründungen | Positionen und Handeln weiterer kirchlicher Akteure | Positionen und Handeln der Kaiser im Schisma p Schluss: Zusammenfassung: das Schisma und die Ordnung der Kirche | Einordnung: das Schisma als Beispiel

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RA 3

ÆTERNA

Chlodwigs Welt

Mischa Meier / Steffen Patzold (Hg.) mischa meier / steffen patzold (hg.)

Organisation von Herrschaft um 500 Chlodwigs Welt Organisation von Herrschaft um 500

Altertumswissenschaft

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Franz Steiner Verlag

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Chlodwigs Welt

Mischa Meier / Steffen Patzold (Hg.) Chlodwigs Welt Organisation von Herrschaft um 500 2014. 622 S. Geb. & 978-3-515-10853-9 @ 978-3-515-10854-6

Roma Aeterna - Band 3

In den Jahrzehnten um 500 n. Chr. vollzogen sich rund um den Mittelmeerraum Entwicklungen, die in erheblichem Maße zur Transformation der antiken in die mittelalterliche Welt beigetragen haben. Ausgehend von der Person Chlodwigs I., die in verschiedener Hinsicht paradigmatisch für zentrale Aspekte, die diese Übergangsphase prägten, steht, zeigen die Beiträge, aus welchen Gründen, in welcher Weise und in welchen Formen Herrschaft in den unterschiedlichen Regionen des auseinanderbrechenden Imperium Romanum neu organisiert wurde. Der Blick der Verfasser richtet sich dabei nicht nur auf die universale Ebene des Papsttums und des Kaisertums, dessen Abschaffung im Westen seit 476 in besonderer Weise die Erfordernis, Herrschaft neu zu konzipieren, manifest werden lässt. Vielmehr werden auch einzelne Teilräume in ihren je spezifischen Eigenheiten untersucht, bis hinab auf die Ebene der Städte und lokalen Gemeinschaften. Die interdisziplinäre Perspektive von Althistorikern, Mediävisten, Byzantinisten, Archäologen und Kirchenhistorikern schafft eine neue Grundlage dafür, signifikante Veränderungen in der Konzeption und Ausgestaltung von Herrschaft zwischen Antike und Mittelalter klarer zu erfassen.

Mit Beiträgen von Bernhard Jussen | Matthias Becher | Uta Heil | Hartmut Leppin | Rene Pfeilschifter | Mischa Meier | Hanns Christof Brennecke | Wolfram Brandes | Julia Hoffmann-Salz | Hans-Ulrich Wiemer | Stefan Esders | Stefanie Dick | Ian Wood | Anne Poguntke | Karl Ubl | Sabine Panzram | Sebastian Schmidt-Hofner | Steffen Patzold | Avshalom Laniado | Sebastian Brather

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Als Kaiser Theodosius I. 395 überraschend starb, ging die Herrschaft über das römische Imperium an seine beiden Söhne über: Arcadius herrschte im Osten und Honorius im Westen. In den beiden folgenden Jahrhunderten fand ein Prozess der Auseinanderentwicklung zwischen den beiden Sphären statt, die wir heute als den Beginn der Trennung des „lateinischen Westen“ vom „Byzantinischen Reich“ betrachten. Dieser Band nähert sich dieser Divergenzbewegung auf der Ebene der Akteure: Welche Vorstellungen hatten „Ost“ und „West“ voneinander? Konnten sich Vertreter der beiden Seiten überhaupt noch verstehen? Wie fanden Kooperationen statt? Wie kam es zu Konflikten und wie wurden sie ausgetragen? Wie unterschieden sich religiöse, kulturelle und politische Konzepte? Autorinnen und Autoren verschiedener Fachdisziplinen beschreiben die Entwicklungen jener Zeit aus einem Blickwinkel, der mit einer linearen Erzählung der Auseinanderentwicklung bricht und die komplexen kulturellen Differenzierungsprozesse in ihrer Vielgestaltigkeit offenlegt – und so neue Perspektiven auf die Epochenschwelle zwischen Antike und Mittelalter eröffnet.

ISBN 978-3-515-10942-0

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