Historiker im Nationalsozialismus: Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten 9783666359422, 352535942X, 9783525359426

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Historiker im Nationalsozialismus: Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten
 9783666359422, 352535942X, 9783525359426

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143

VÖR

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka Hans-Peter Ulimann, Hans-Ulrich Wehler

Band 143

Ingo Haar Historiker im Nationalsozialismus

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Historiker im Nationalsozialismus Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im Osten

von

Ingo Haar

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Umschlagabbildung:

Appell der Deutschen Studentenschaft vor der Technischen Hochschule in Berlin 1933 © Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz, Berlin, 2000

Die Deutsche Bibliothek -

ClP-Einheitsaufnahme

Ingo Haar Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der »Volkstumskampf« im O s t e n / von Ingo Haar. Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht, 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft; Bd. 143) I S B N 3-525-35942-X Gedruckt mit Unterstützung der Axel Springer Stiftung und der Fazit-Stiftung. © 2000, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. - Printed in Germany. http://www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen u n d die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Umschlag: Jürgen Kochinke, Holle. Satz: Text & Form, Pohle. Druck und Bindung: G u i d e - D r u c k G m b H , Tübingen. Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

Inhalt Vorwort

9

Einleitung I.

»Volkstumsforschung« in der Weimarer Republik: Der Aufstieg der Volks- und Kulturbodenforschung (1923-1930).. 1.

25

Die »Mittelstelle für zwischeneuropäische Fragen« in Leipzig: Revisionistische Herrschaftsstrategien und »wissenschaftliche« Konzepte zur »Ostfrage« (1923-1924)

25

»Innere Kolonisation« und deutscher »Volksboden«: Ostdeutsche Eliten in der »Mittelstelle für Volks- und Kulturbodenforschung« (1925-1926)

37

3.

»Abwehrarbeit« und »Entdeutschungspolitik«: Die Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung (1926-1930)

50

4.

Das Scheitern der Leipziger Stiftung: Zwischen politischer Radikalisierung und wissenschaftlicher Abwehrarbeit

57

2.

II.

11

»Revisionistische« Historiker und Jugendbewegung: Hans Rothfels und seine Schüler 1.

2.

3.

4. 5.

70

Vom Wandervogel zum Freikorps: Das politische Profil der Deutsch-Akademischen Gildenschaft

70

Vom »Young-Plan« zur »Großraumordnung«: Die Königsberger Nachwuchshistoriker und die radikale Rechte

76

Hans Rothfels und die »junge Generation«: Der Verein für das Deutschtum im Ausland und die Ostmission

86

»Bevölkerungsgeschichte« und »Nationalitätenfrage«: Die »Volksgeschichte« als neues Paradigma

90

Hans Rothfels und der Göttinger Historikertag: Die Ostwende der Geschichtswissenschaft

97 5

III. Albert Brackmann und die Gleichschaltung der deutschen Geschichtswissenschaft: Das System der »Ostmarkenforschung« ... 1.

Die Anfänge der »Ostmarkenforschung«: Das Institut für Archivwissenschaft und die Publikationsstelle

106

2.

Der Internationale Historikertag in Warschau

116

3.

»Ostfrage« und »Grenzlandpolitik«: Die Gleichschaltung der Historischen Reichskommission

126

Der Verband Deutscher Historiker und der Internationale Historikertag

135

4. 5.

Die Ostforschungsstelle und der Verband Deutscher Historiker: Das vertrauliche »Vademecum« 139

IV Die »nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft«: Die Implementierung einer Großforschungseinrichtung 1. 2. 3. 4.

V

150

Zur Gründerzeit der Volksgeschichte: Die Ostuniversitäten und der B D O

150

Die große Ostausstellung: Die »Reservation Deutschlands«?

159

Z u m Niedergang der Historischen Reichskommission: Brackmann versus Meinecke

171

Die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft: Großwissenschaft für den »Völkstumskampf«

182

Die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft als Großforschungsverbund: Die Hinwendung zur Bevölkerungspolitik

197

1.

Der »Präzeptor« der deutschen Geschichtswissenschaft

197

2.

Volksgeschichte und Bevölkerungspolitik: »Assimilation« und »Dissimilation«

208

»Kämpfende Wissenschaft« versus Wissenschaftsfreiheit: Ein erzwungener Paradigmenwechsel?

223

Die Nordostdeutsche Forschungsgemeinschaft: Die Volksgeschichte und die Auflösung der Historischen Reichskommission

236

3. 4.

VI. Geschichtswissenschaft und NS-Volkstumspolitik: Die Bildung einer Disziplin 1.

6

106

Volkstumspolitik und Volksgeschichte: Das Netzwerk der Arbeitskreise

249 249

2.

3.

4.

Von der »Nordostdeutschen-« zur »Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft«: Der Weg in die Großwissenschaft

261

Das Forschungsprogramm der nordostdeutschen Volksgeschichte: Minderheitenstatistik und ethnische Dekomposition

277

Institutionenbildung und Kriegsvorbereitung: Abwehrarbeit und Volksgruppenpolitik

287

VII. »Ostforschung« und »Lebensraum«: Von der »Volksgruppenpolitik« zur »Endlösung der Judenfrage« 1. 2. 3. 4. 5.

307

Von München nach Warschau: »Volksgruppenrecht« und »Judenfrage«

307

Die Arbeit der Experten: Rücksiedlung und Deportation

318

Die Pläne der Experten: Modernisierung oder Vernichtung?

327

Eingliedern und Aussondern: Aufstieg und Fall einer Disziplin

337

»Generalplan Ost« und »Endlösung der Judenfrage«: Ostforschung im Vernichtungskrieg

351

Zusammenfassung

361

Anhang

375

Abkürzungen

389

Quellen- und Literaturverzeichnis

391

Register

429

7

Verzeichnis der Abbildungen im Anhang Abb. 1: Forschungsmittel des Grenzlandfonds des Reichsministerium des Innern zur wissenschaftlichen Abwehr der Feindforschung für 1928

375

Abb. 2: Der deutsche Volks- und Kulturboden: Die kartographische Grundlage der Würzburger Schutzbund-Tagung

377

Abb. 3: Die Verteilung deutsch-stimmender Oberschlesier polnischer Zunge (Franz Doubek)

378

Abb. 4: Die Teilungen Polens (Peter-Heinz Seraphim)

379

Abb. 5: Die allgemeine Bevölkerungsdichte in Polen 1931

380

Abb. 6: Dichte der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung 1931

381

Abb. 7: Die Bevölkerung Litauens dargestellt in ihrem nationalen Gefüge

382

Abb. 8: Die deutschen Ostgebiete 1914-1940

383

Abb. 9: Die Verwaltungseinteilung der Ostgebiete des Deutschen Reiches und des Generalgouvernements nach dem Stand von Juni 1941

384

Abb. 10: Die Bevölkerung Polens

385

Abb. 11: Die Sprachenverteilung in Westpreußen

386

Abb. 12: Die Verbreitung der Polen im nordwestlichen europäischen Rußland

387

Abb. 13: Die Verbreitung der Juden im nordwestl. Europäischen Rußland

388

8

Vorwort

Ich danke allen Freunden und Kollegen, aber auch meiner Familie und meinen Geschwistern, welche die Entstehung dieser Arbeit mit Rat und Tat begleitet haben. Besonders hervorheben möchte ich meinen Betreuer Professor Dr. HeinzGerhard Haupt, aber auch Professor Michael G. Müller und Professor Dr. Ernst Schulin. Die entscheidende Förderung in der Schlußphase übernahm großzügig das Hamburger Institut für Sozialforschung. Aufbauende Kritik und Hilfe erhielt ich von Dr. Michael Fahlbusch und Dr. Peter Schöttler, Dr. Peter Thomas Walther, Dr. Dr. Karl-Heinz Roth und Dr. Mathias Beer. Wertvolle Tips und fachlichen Austausch verdanke ich den Kollegen Markus Kroszka und Dr. Philipp-Christian Wachs, Wolfgang Freund, Sven Reichardt und Andrej Angrick. Auch die Neugier und das Interesse am Fortgang dieser Arbeit seitens von Professor Dr. Rüdiger vom Bruch und Professor Dr. Wolfgang Hardtwig, Dr. Konstantin Goschler und Michael Wildt sind hervorzuheben. Katharina Hering und Gudrun Maurer, Stefanie Marggraf und Alexandra Herb, Jochen Lippstreu und Julia Thiele, Martin Liebetruth und Sace Eider, Frank Stier, Susanne Holder und Andrea Mischker ließen mich auch dort nicht allein, wo viel Arbeit zu erledigen war. Schließlich verdanke ich der Axel Springer Stiftung und der Fazit-Stiftung (Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH/Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH) den Druckkostenzuschuß. Berlin, im August 2000

Ingo Haar

9

Einleitung

Am 11. Oktober 1939 verschickte die Publikationsstelle im Geheimen Preußischen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem eine Denkschrift zur »Eindeutschung Posens und Westpreußens«.1 Darin empfahlen die Historiker Hermann Aubin und Albert Brackmann, Theodor Schieder, Werner Trillmich und Ludwig Petry sowie der Volkskundler Walter Kuhn die sofortige »Umsiedlung« von zunächst 2,9 Millionen Polen und Juden, die bis dahin in den ehemaligen preußischen Gebieten in Westpolen gelebt hatten. 2 Die Publikationsstelle bildete den Kern eines überregional angelegten Forschungsverbundes, der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft. Ihre Mitglieder schlugen vor, in Posen-Westpreußen eine »geschlossen siedelnde, alle Schichten umfassende deutsche Bevölkerung mit einer gesunden sozialen Ordnung« anzusetzen. Diese deutschen Siedler sollten sich »Kraft eigener Initiative auf den kleinen und kleinsten Fronten des völkischen Kampfes mit dem Polentum« bewähren. 3 Nicht nur die ehemaligen preußischen Gebiete in Westpolen, sondern auch der noch einzurichtende polnische »Reststaat« wurden als ein Objekt der bevölkerungspolitischen Interventionen ausgewiesen. Das schloß die Beseitigung der Eliten, die »Herauslösung des Judentums« aus den Städten und die »Minderung« der Gesamtbevölkerung ein.4 Die Regionen rund um Danzig und Bromberg, Kattowitz und Posen wurden als alter deutscher »Volksboden« betrachtet, den es zu restituieren galt. Dieser »Lebensraum« sollte durch eine staatlich gelenkte Siedlungs- und Bevölkerungspolitik neu erschlossen werden. 5 Die Urheber der Polendenkschrift betätigten sich offenbar als Spezialisten, die das Grundwissen für eine »völkische Flurbereinigung« lieferten. Die von ihnen verwandten Topoi, speziell »Volksboden«, »Volkstum« und »Lebensraum«, verweisen auf ein Paradigma, das sich im heuristischen Kern der universitär verfaßten »Volksgeschichte« ebenso findet wie in den Expertisen der geheimen Sonderforschungseinrichtungen des nationalsozialistischen Herr1 PuSte an das AA, das RMdl und das O K W v o m 11. Oktober 1939 (PA, R 104208, Bl. 484108). Als Literaturangabe folgt der Autor oder der Autor und das Erscheinungsjahr. Wenn es zwei Titel pro Jahr gibt, folgt ein Kurztitel statt dem Jahr [I. H . ] 2 Denkschrift über die Fragen der Eindeutschung Posens und Westpreußens und der damit zusammenhängenden Umsiedlungen (PA, R 104208, Bl. 484109-484116). 3 Ebd. (Bl. 484110). 4 Ebd. (Bl. 484116). 5 Ebd. (Bl. 484108-484114).

11

schaftssystems. Es handelte sich um die Auffassung, daß das deutsche Volk von seinen Siedlungsrändern außerhalb der politischen Grenzen des Deutschen Reiches durch »fremdstämmige« Einflüsse bedroht sei. Dieser »Überfremdung« sollte durch die Mobilisierung der Widerstandskräfte des Volkes von innen her und durch seine territoriale Expansion nach außen begegnet werden. 6 Die aus der Polendenkschrift ablesbaren Paradigmen und politischen Dispositionen lassen die Hypothese zu, das Dritte Reich habe über einen komplexen und funktionstüchtigen Forschungsapparat verfügt. Seine Akteure rechtfertigten nicht nur die nationalsozialistische Siedlungs- und Bevölkerungspolitik, sondern vermittelten auch das nötige Grundwissen, um eine »völkische Flurbereinigung« planbar und damit auch durchsetzbar zu machen. Der Planungsstab, 7 der die Sonderforschungseinrichtungen der völkischen Geschichtswissenschaft gegründet und mit Ressourcen versorgt hat, steht im Mittelpunkt dieser Studie. Dazu gehören neben den Akteuren aus dem Wissenschaftsbetrieb auch die zuständigen Sachbearbeiter oder Vertreter der staatlichen Verwaltung und politischen Verbände. Die Verflechtung von Geschichtswissenschaft und Politik wird als ein historischer Prozeß begriffen, der in den Kontext der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis einzuordnen ist. Die Hypothese, es habe im Nationalsozialismus eine wissenschaftliche Begleitforschung der »völkischen Flurbereinigung« gegeben, wird anhand der Netzwerke und der Forschungspraxis deutscher Historiker in der Nord- und Ostdeutschen Forschungsgemeinschaft, in der Berliner Publikationsstelle und in ihrer Vorgängerorganisation, der Leipziger Stiftung für Volks- und Kulturbodenforschung, untersucht. Dem Volksbodentheorem lag ein spezifisches Forschungsprogramm zugrunde, an dem die Vertreter der völkischen Geschichtswissenschaft in der Zwischenkriegszeit beständig arbeiteten. Unter Forschungsprogramm kann ein Paradigma verstanden werden, das aus einem gemeinhin akzeptierten dogmatischen Kern und einer positiven Heuristik besteht. Diese Heuristik definiert Probleme, konstruiert einen Hilfsgürtel von Hypothesen, sieht Anomalien voraus und wandelt sie erfolgreich in Beispiele um. Dazu bedarf es eines eingespielten Kreises von Experten unterschiedlicher akademischer Graduierung. Sie setzen sich für die Geltung ihres Forschungsprogrammes solange ein, bis abweichende Forschungsergebnisse oder Widersprüche auftreten. Uber die Aufrechterhaltung der Kernsätze eines Paradigmas entscheidet nicht der Wahrheitsgehalt eines Forschungsprogrammes, wie Imre Lakatos gezeigt hat, sondern die Machtstellung, die sich eine Gruppe von Wissenschaftlern zu sichern vermag, um eventuelle Widersprüche zu marginalisieren. 8 Die Aus6 Vgl. Kleßmann, 1985, S. 356f. 7 Unter »Planungsstab« verstand Max Weber die »bürokratischen Kräfte«, die das Rückgrat einer jeden bürokratischen Verwaltungsorganisation bildeten. Vgl. Weber, Typen, S. 153. 8 Lakatos, S. 282f.

12

Schaltung der wissenschaftlichen Konkurrenz ist dabei ein Mittel, um die Anomalien eines Forschungsprogrammes zu verdecken. Die Historiker des Volkstums beabsichtigten mit ihrem Programm der Volks- und Kulturbodenforschung, das sogenannte Besitz- und Existenzrecht einer »Volksgruppe« an einem Ort und in einem Raum nachzuweisen. 9 Den Forschungsgegenstand bildete das deutsche Volk, dessen vermeintlicher »Rechtsanspruch« auf die Inbesitznahme der von ihm über Jahrhunderte hinweg »kultivierten« Gebiete in Ost- und Südosteuropa durch wissenschaftliche Forschung legitimiert werden sollte. Die Besitzrechte galten als zeitlos und waren durch den Kampf um die wirtschaftlichen Ressourcen und die kulturelle Vorherrschaft in einer bestimmten Region zu sichern. Der ab 1933 verwandte Begriff des »Volkstumskampfes« um »Blut und Boden« markiert den Einfluß des nationalsozialistischen Gedankengutes auf das Volksbodentheorem, das schon in den zwanziger Jahren begrifflich voll ausgeprägt war.10 Unter »Volkstum« und »Volksgruppe«, »Volksboden« und »eigenständigem Volk« begriffen die Historiker des Volkstums einen Personenverband, der durch ethnische Herkunft, eigenständige Kultur und soziale Leistung definiert war und sich klar von anderen »Volkstümern« unterschied. 11 Die ab 1930 erfolgte Hinwendung der deutschen Geschichtswissenschaft zu diesem Forschungsprogramm des »Volksbodens«, das mit Hilfe einer Reihe von Verfahren im Bereich der historischen Demographie, der Kartographie und der Siedlungsgeschichte operationalisiert werden konnte,12 bezeichnete Reinhard Wittram 1937 retrospektiv als »kopernikanische Wende«.13 Er meinte die Erfolgsstory einer neuen Disziplin innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft. Diese Studie untersucht den raschen Aufstieg, aber auch den Fall dieser völkisch orientierten Denkrichtung der deutschen Geschichtswissenschaft. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Vernetzung der »Volksgeschichte« mit dem nationalsozialistischen Herrschaftssystem. Es werden die zwei eng miteinander korrespondierenden Faktoren analysiert, die für eine Implementierung der »Volksgeschichte« wegweisend waren. Das ist zum einen die Interdependenz zwischen Paradigmenbildung und dem Aufbau außeruniversitärer Forschungseinrichtungen, zum anderen die wissenschaftliche Praxis der Akteure und ihre Rolle in der Politikberatung. Die bisherigen Verfahren der historiographiegeschichtlichen Forschung reichen nicht aus, um der Komplexität des Forschungsprogrammes der völkischen Wissenschaften gerecht zu werden. Statt wie üblich die Werkgeschichte »großer« Historiker oder die Wirkmächtigkeit ihrer Schulen, also die disziplinare Matrix einer sich bereits in Vollendung 9 10 11 12 13

Vgl. Fahlbusch, 1994; überkronte, 1993, S. 28ff.; Schönwälder, 1992, S. 51ff. Kleßmann, 1985, S. 356f. Vgl. hierzu Boehm, 1932, S. 9. überkronte, 1993, S. 104, 227. Wittram, 1937, S. 110.

13

befindlichen Denkrichtung zu betrachten 14 , wird hier der Versuch unternommen, die vielfältigen Faktoren darzustellen, welche die Forschungsprogramme der völkischen Geschichtswissenschaft auf den Weg brachten, neue Wissenschaftsorganisationen implementieren halfen und die Karrierewege ihrer Akteure beeinflußten. Es wird gefragt, welche Mittel und persönlichen Ressourcen völkische Historiker mobilisieren mußten, um ihre Netzwerke und Paradigmen in ein institutionell verankertes Forschungsprogramm zu überführen.15 Damit rückt die Periodisierung langfristiger Entwicklungen in den Vordergrund, durch die der Prozeß des Eliten- und Paradigmenwechsels im akademischen Betrieb der deutschen Geschichtswissenschaft vorangetrieben wurde. Gemeint ist das Wechselverhältnis zwischen der Ablösung der »alten Eliten« im Nationalsozialismus, deren politisches Denken ganz im Zeichen des »Kaiserund Reichspatriotismus« stand, und dem Aufstieg einer neuen »Funktionselite«, die sich, wie Martin Broszat festhielt, auf die »Grundvorstellung einer Vorrangigkeit des naturgegebenen ethnischen >Volkskörperseinfachen< Menschen in Raum und Zeit zusammengetragen, Kollektivphänomene verschiedenster Observanz quantifiziert und partiell auch regional bzw. interethnisch verglichen« hätten.55 Aufgrund dieser Merkmale sprach Oberkrome der »Volksgeschichte« ein rationales und progressiv wirkendes Potential zu. Das betrifft vornehmlich die Option, auf soziologische Verfahren im Bereich der quantifizierenden Forschung interdisziplinär zurückzugreifen sowie kartographische, alltagsgeschichtliche und statistische Verfahren zu erproben.56 Da Willi Oberkrome den »rationalen Analysemomente [n]« in den Werken der Volkstumshistoriker nachging, ohne den ablesbaren Konnex zwischen wissenschaftlich korrekter Detailforschung und angewandter Raumforschung im Nationalsozialismus zu berücksichtigen, wurde ihm vorgeworfen, er habe »angesichts der personellen und ideellen Kontinuitäten zwischen >Volksgeschichte< und >moderner Sozialgeschichte< aus der N o t eine Tugend gemacht und in retrospektiver Teleologie nach >Reformansätzen< gesucht«.57 De facto gab Oberkrome differenziert Auskunft über einzelne Forschungsfelder, in denen sich die »Absicht eines völkischen >social engineering«< bereits angekündigt hatte. Während er im Fall von Konrad Meyer und der »Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumordnung« den neuesten Forschungsstand heranzog und festhielt, in diesen Zweigen sei methodisch exakte Sozialforschung zu einem »Präzisionsinstrument eines völkermörderischen Expansionismus« verkommen 58 , fiel sein Urteil im Fall von Hermann Aubin, Werner Conze und Theodor Schieder allzu 53 54 55 56 57 58

20

Schulze, 1990, S. 197; Schulze, 1989, S. 32-37. Oberkrome, 1996, S. 2f. Oberkrome, 1993, S. 101. Ebd., S. 215. Vgl. Schüttler, Legitimationswissenschaft, S. 19. Oberkrome, 1993, S. 109, 198 f, 213f.

vorsichtig aus. Er bezog sich auf den uneingeschränkt positiven Ruf, der diesen bedeutenden Historikern der Nachkriegszeit post mortem zugewiesen wurde.59 Wie kritisch mit diesen Nachrufen für die NS-Zeit der Betroffenen umgegangen werden muß, zeigte Ursula Wolf. Sie konstatierte, daß die Nachrufe beispielsweise auf Hermann Aubin mit kritischem Sachverstand gelesen werden müßten, weil sie Widersprüche enthielten und seine Verstrickung in den Nationalsozialismus bagatellisierten. O b die selten nachgeprüften und zumeist mündlich tradierten Aussagen, insbesondere wenn sie durch die wohlverdienten Nachrufe transportiert werden - de mortuis nihil nisi bene - , einer wissenschaftlichen Uberprüfung standhalten, ist zu bezweifeln. Nicht nur der Fall Karl Dietrich Erdmann zeigt, daß die Nachrufe für wissenschaftliche Zwecke ungeeignet sind.60 Es überrascht kaum, wenn der Forschungsgegenstand »Volksgeschichte« oder »Ostforschung« nach einer äußerst kurzen Entwicklungszeit seit 1989 widersprüchliche Bewertungen nach sich gezogen hat. Die Sorge, dieser Komplex könnte erneut dem Zugriff der Historiographiegeschichte entzogen werden,61 ist abwegig. Die disziplinaren Konsequenzen der als besonders belastet geltenden »Ostforschung« sind inzwischen gezogen. 62 Auch das langfristig wirksame »Schweigegelübde«, das sich nach Willi Oberkrome um das Arkanum »Volksgeschichte« gelegt hat,63 ist durchbrochen. 64 Die seit Ende der neunziger Jahre veröffentlichten Interpretationen weisen trotz intensiver Forschung eine beachtliche Varianz auf Götz Aly vertritt die These, Theodor Schieder und Werner Conze seien als »Vordenker der Vernichtung« an der Endlösung beteiligt gewesen.65 Ursula Wolf meint dagegen, in den von Hermann Aubin vor 1945 geschriebenen Texten drückten sich nur konservative Sekundärtugenden wie »Fleiß und Anpassungsfähigkeit, Zucht« und die Forderung nach »verantwortungsbewußte [m] Handeln« aus, während sich keine Hinweise auf eine gewollte »Unterdrückung, Ausbeutung oder gar >AusrottungWeltanschauung