Der Selfmademan in der deutschsprachigen Erzählliteratur der Moderne: Zur Imaginationsgeschichte einer Schlüsselfigur 9783110766134, 9783110765915

Als Verkörperung des amerikanischen Traums scheint der Selfmademan untrennbar mit dem Selbst- und Fremdverständnis Ameri

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Der Selfmademan in der deutschsprachigen Erzählliteratur der Moderne: Zur Imaginationsgeschichte einer Schlüsselfigur
 9783110766134, 9783110765915

Table of contents :
Dank
Inhalt
Einleitung
Erster Teil: Erzählkonstanten, Kontexte und Relationen
1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten
2 Resonanzeffekte
3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich
Zweiter Teil: Geschichten, Verfahrensweisen und Codierungen
1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung: Die Konturierung des Selfmademans im Realismus
2 Literarische Repliken
3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans
4 Perspektiven auf die neue Welt
Der Selfmademan: Ausblick und Rückblick
1 Fortführung und Ende einer Erzähltradition
2 Ökonomie, Verklärung, Gegenwart: Resümee
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Jana Vijayakumaran Der Selfmademan in der deutschsprachigen Erzählliteratur der Moderne

spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature

Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von / Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans Wissenschaftlicher Beirat / Editorial Board Sam-Huan Ahn, Peter-André Alt, Aleida Assmann, Francis Claudon, Marcus Deufert, Wolfgang Matzat, Fritz Paul, Terence James Reed, Herta Schmid, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski

Band 76

Jana Vijayakumaran

Der Selfmademan in der deutschsprachigen Erzählliteratur der Moderne Zur Imaginationsgeschichte einer Schlüsselfigur

Die Arbeit wurde im Jahr 2021 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität als Dissertation angenommen.

ISBN 978-3-11-076591-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-076613-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-076618-9 ISSN 1860-210X Library of Congress Control Number: 2021949507 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Dank Die vorliegende Arbeit ist am DFG-Graduiertenkolleg Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses entstanden und wurde im Frühjahr 2021 von der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Die finanzielle Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft schuf ideale Rahmenbedingungen, für die ich zu großem Dank verpflichtet bin. Für die Übernahme der Betreuung und Begutachtung der Arbeit danke ich Prof. Dr. Johannes F. Lehmann und Prof. Dr. Christian Moser. Den Herausgeber*innen Prof. Dr. Moritz Baßler, Prof. Dr. Werner Frick und Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe spectrum Literaturwissenschaft. Wichtige Anregungen in der Anfangsphase des Projekts erhielt ich von Prof. Dr. Ingo Stöckmann. Als dankenswert und förderlich erwiesen sich darüber hinaus Gespräche mit Jun.-Prof. Dr. Christopher Busch und Eva Stubenrauch. Ganz besonderer Dank gebührt Dr. Uwe Lindemann, der das Projekt von Anfang an mit entscheidenden Hinweisen und großzügiger Gesprächsbereitschaft begleitet hat. Ohne seine wertvollen Anregungen wäre die Arbeit in dieser Form nicht zustande gekommen. Herzlich danken möchte ich schließlich meiner Familie. Meine Schwester Insa Kost stand mir stets mit hilfreichen Ratschlägen zur Seite und bewies eine zuverlässige Unterstützungsbereitschaft, für die ich nicht genug danken kann. Unersetzlich und unsagbar dankenswert ist die Unterstützung, die ich von meinen Eltern Simone und Nadarajah Vijayakumaran erfahre. Ihnen ist das Buch in tiefer Dankbarkeit gewidmet. Mönchengladbach, Juni 2021

https://doi.org/10.1515/9783110766134-001

Jana Vijayakumaran

Inhalt Einleitung 1  Der Selfmademan: Annäherung an eine Schlüsselfigur der Moderne 1  Manifestationsformen des Selfmademans 20  Forschungsstand, Aufbau der Arbeit und Vorgehensweisen

27

Erster Teil: Erzählkonstanten, Kontexte und Relationen  . . . .

Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten 39 Selbstreferenz und Kraftmobilisierung 41 Männliche Subjektwerdung 49 65 Exkurs: Modellierungen von Weiblichkeit Diskontinuität und Gegenwart 73

 . . .

Resonanzeffekte 90 91 Sammelbiographien Unternehmertheorien 100 Evolutionstheorien und Ratgeber

 . .

Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich 119 Temporale Konstruktionen: Kontinuitäten und Brüche 122 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und 130 Aktualisierungen Der Aufstiegsroman – Möglichkeiten und Grenzen einer Klassifikation 143

.

108

Zweiter Teil: Geschichten, Verfahrensweisen und Codierungen  . .

Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung: Die Konturierung des Selfmademans im Realismus 153 Erfolgsmodell Benjamin Franklin: Apologien und Demontagen (Gotthelf, Keller) 157 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag) 190

VIII

Inhalt

 . . .

Literarische Repliken 219 220 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger) Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen) 253 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald) 279

 . .

305 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz) 312 Kritiken der ökonomischen Moderne (Karlweis, Heinrich Mann, 344 Saudek)

 . . .

Perspektiven auf die neue Welt 378 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf) 380 Amerika als Spiegelbild (Kellermann) 405 431 Kollektivaufstieg und Stahlfiktion (Herzog)

Der Selfmademan: Ausblick und Rückblick 

Fortführung und Ende einer Erzähltradition



Ökonomie, Verklärung, Gegenwart: Resümee

Literaturverzeichnis 468 468  Quellen  Forschung 481 Personenregister

501

443 455

Einleitung 1 Der Selfmademan: Annäherung an eine Schlüsselfigur der Moderne 1859 skizziert Frederick Douglass die Züge eines Typus, der als Verkörperung des amerikanischen Traums die Kulturgeschichte des Kontinents nachhaltig geprägt hat. Es handelt sich um den Selfmademan, der sich durch Arbeit aus ärmlichen Verhältnissen befreit und sozial aufsteigt: Self-made men […] are the men who owe little or nothing to birth, relationship, friendly surroundings; to wealth inherited or to early approved means of education; who are what they are, without the aid of any of the favoring conditions by which other men usually rise in the world and achieve great results.¹

Mit dem Typus des Selfmademans und der Entwicklungsgeschichte des amerikanischen Traums hat sich eine Reihe von Studien auseinandergesetzt.² Der

 Frederick Douglass [1859]: Self-Made Men: An Address delivered in Carlisle, Pennsylvania, in March 1893. In: Blassingame, John W.; McKivigan, John R. (Hrsg.): The Frederick Douglass Papers. Series One: Speeches, Debates and Interviews. Volume 5: 1881– 95. New Haven/London: Yale University Press, 1992. S. 545 – 575, hier S. 549 f.  Anglistische und amerikanistische Forschungen zum Selfmademan und zum Erfolgskonzept setzen bereits in den 1950er Jahren ein und reichen bis in die Gegenwart. Vgl. zu den frühen Forschungen vor allem Irvin G.Wyllie: The Self-Made Man in America. The Myth of Rags to Riches. New Jersey: Rutgers University Press, 1954; Richard Weiss: The American Myth of Success: From Horatio Alger to Norman Vincent Peale. New York: Basic Books, 1969; Martha Banta: Failure and Success in America: A Literary Debate. Princeton University Press, 1978; Birgitta Koch-Linde: Amerikanische Tagträume: Success und Self-Help Literatur der USA. Frankfurt a. M.: Campus, 1984; John Cawelti: Apostles of the Self-Made Man. University of Chicago Press, 1988. Seit den 1990er Jahren dominieren männlichkeits- und gendertheoretische Perspektiven die Forschungen zum Selfmademan. So stellt etwa die Studie von Michael Kimmel dar, wie sich der Typus des Selfmademans seit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zu einer Leitvorstellung moderner Männlichkeit herausgebildet hat. Vgl. Michael Kimmel: Manhood in America: A Cultural History. New York: Free Press, 1996. Die 2001 erschienene Studie von James V. Catano nähert sich dem Selfmademan aus einer sprachkritischen, gendertheoretischen und teilweise psychoanalytischen Perspektive. Vgl. James V. Catano: Ragged Dicks. Masculinity, Steel, and the Rhetoric of the SelfMade Man. Southern Illinois University, 2001. Zudem rückt der Figurentypus seit den 1990er Jahren zunehmend in das Blickfeld postkolonialistisch inspirierter Ansätze. Jeffrey Louis Decker etwa befragt historische Variationen des amerikanischen selfmade-Narrativs auf Konstruktionsformen von race, gender und nation. Vgl. Jeffrey Louis Decker: Made in America: Self-Styled Success from Horatio Alger to Oprah Winfrey. University of Minnesota Press, 1997. Phillipa Kafka dagegen untersucht die Funktionen des durch Franklin geprägten Erfolgsmythos für weiblichhttps://doi.org/10.1515/9783110766134-002

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Einleitung

Selfmademan wurde dabei nicht nur als geschlechtscodiertes, sondern auch als national codiertes Imaginationsprodukt herausgestellt. In seiner Funktion als Symbolfigur, die vor allem mit Benjamin Franklin und Henry Ford in Verbindung gebracht wird, scheint der Selfmademan ein ausschließlich amerikanisches Phänomen zu sein. Die vorliegende Studie setzt bei einer gegenläufigen Beobachtung an. Im Gegensatz zur herkömmlichen Annahme, dass der Selfmademan eine spezifisch amerikanische Figur sei, beschreibt diese Arbeit den Figurentypus als Produkt einer Erzählung, die seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auch die deutschsprachige Literatur durchwandert und geprägt hat. Wenn der Titelheld aus Jeremias Gotthelfs Roman Uli, der Knecht (1841) durch konsequente Arbeit vom Knecht zum Pächter wird, Anton Wohlfart zum Teilhaber des Schröter’schen Handelshauses avanciert, und der ehemalige Gefängnisinsasse in Friedrich Spielhagens Hammer und Amboß (1869) am Ende ein erfolgreicher Fabrikleiter wird, so gewinnt ein Narrationsmuster Kontur, das den amerikanischen Traum als deutsch-bürgerliche Wirklichkeit erscheinen lässt. Dieses Narrationsmuster wird in der Folgezeit unter verschiedenen Vorzeichen fortgeschrieben und neu kontextualisiert. Im ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert mobilisiert es ein naturalismustypisches Feld von „Kraft und Ermüdung, von Stärke und Schwäche, von energetischer Selbstbehauptung und ,entropischem‘ Selbstverlust“³. Vorstellungen von Kraftmobilisierung, Verausgabung und Energie, die sich im Selfmademan niederschlagen, machen ihn zum genuinen Bestandteil einer naturalistischen Moderne, die ihren referenziellen Unterbau im thermodynamischen Diskursfeld des späten neunzehnten Jahrhunderts findet.⁴ Neben voluntaristisch fundierten Modernitätserfahrungen sind es die aus ökonomischen und gesellschaftlichen Umbrüchen gewonnenen Diagnosen einer ,neuen Zeit‘, die sich um 1900 im literarischen Selfmademan verdichten. Seine Übersiedlung nach Berlin, die in den entsprechenden Romanen die Initialzündung des Aufstiegs bildet, sein unternehmerischer Erfolg, den er durch die Nutzung neuer Produktionsweisen erzielt, und die Gestaltungsmacht, die er gewinnt, machen ihn zu einer Leitfigur moderner Männlichkeit auf den vom Hochkapitalismus entfesselten Märkten.

afroamerikanische Identitätskonstruktionen und stellt neben der kolonialistischen und genderisierten Exklusionslogik des selfmade-Narrativs auch dessen subversive Aneignungspotenziale heraus. Vgl. Phillipa Kafka: The Great White Way: African American Women Writers and American Success Mythologies. New York: Garland, 1993.  Ingo Stöckmann: Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne. 1880 – 1900. Berlin: de Gruyter, 2009. S. 4.  Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 7– 20.

1 Der Selfmademan: Annäherung an eine Schlüsselfigur der Moderne

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Gefestigt wird dieser Konnex zum grand récit ,Moderne‘ durch die kontingenzzentrierte Zeitlichkeit, die sich im Selfmademan hypostasiert.⁵ Aufstieg impliziert einen Bruch mit genealogisch-familialen Linien und spiegelt damit die Erfahrung einer Realität, in der sich einst fest gefügte Ordnungen, die den Status einer Person festlegten, verflüssigt haben. Der Selfmademan ist ein „Klassenübergänger“: eine Figur, für die die Gesetze der Reproduktion und familiären Mimesis nicht zu gelten scheinen, ein „transclasse“, der sich von den Zwängen des Herkunftsmilieus befreit und durch die gleichzeitige Distanz zu seinem Ankunftsmilieu eine Position des Zwischenraums besetzt.⁶ Paradigmatisch steht der Aufsteiger damit für eine moderne Gegenwartserfahrung, die sich im Zeichen von Vergangenheitsunabhängigkeit, Diskontinuität und Zukunftsoffenheit bewegt. In der kapitalistischen und amerikanisch anmutenden Moderne – so die Suggestion – hängt die Zukunft nicht von der Herkunft ab, sondern von einer in der Gegenwart erbrachten Arbeitsleistung. Was der Figurentypus sichtbar werden lässt, ist folglich das Diskursfundament einer Moderne, die sich über männlichkeitsbezogene, temporale und kraftzentrierte Normsetzungen definiert. Vorstellungen von Zukunftsgestaltung und Vergangenheitsemanzipation korrelieren mit thermodynamisch plausibilisierten Kraft- und Energiemodellen und fügen sich in eine suggestive Männlichkeitserzählung ein. Die vorliegende Studie beleuchtet diese Konstellation, die in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert ihre prägende Gestalt annimmt. Im Zentrum stehen literarische Darstellungen des Selfmademans, anhand derer die Historizität des Figurentypus und spezifische Dimensionen seines Konnexes zum Modernenarrativ hervortreten. In der Figur des Selfmademans, so die Leitthese, verdichten sich die Selbstbeschreibungsmuster der Moderne, die in den jeweiligen Texten auf unterschiedliche Weise literarisiert und kritisch verhandelt werden. Eine Erkundung dieser Beschreibungsmuster erhellt nicht nur bestimmte Dimensionen des Imaginationskomplexes ,Moderne‘, sondern die Geschichte

 Michael Makropoulos bezeichnet Kontingenzerfahrungen und die temporalen Denkfiguren, die sich daraus herleiten, als Definitionsmerkmale moderner Gesellschaften. Das Signum der Moderne sei der „offene Möglichkeitshorizont, die Unabschließbarkeit fortschrittslogischer Optimierung, die Positivierung des Transitorischen und die organisierte Auflösung der definitiven sozialen Orte und der konkreten Bindungen an sie, kurz: ihr Signum ist die Normalisierung der Kontingenz.“ Michael Makropoulos: Grenze, Horizont und moderne Gesellschaft. In: Frischmann, Bärbel; Holtorf, Christian (Hrsg.): Über den Horizont. Standorte, Grenzen und Perspektiven. Berlin/Boston: de Gruyter, 2019. S. 39 – 56, hier S. 54.  Vgl. Chantal Jaquet: Les transclasses ou la non-reproduction. Paris: Presses Universitaires de France, 2014. S. 136.

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Einleitung

eines Figurentypus, der ein eminent literarisches Gestaltungspotenzial in sich birgt. Klassenübergänger, wie Chantal Jaquet betont, fascinent et font rêver parce qu’ils apparaissent comme des rescapés ou des prodiges, déjouant toutes les prévisions et défiant la raison. Ils offrent une prise à la pensée magique tant leur destin fabuleux a quelque chose de miraculeux. Leur parcours exceptionnel semble échapper à l’explication rationelle; il donne lieu à toute une mythologie du don, de la chance ou du mérite et il sert à nourrir cette idéologie de la réussite personnelle qui est au cœur de l’american dream, celle qui conduit à croire que toute personne vivant ou immigrant sur le continent américain peut s’enrichir et prospérer à partir de rien grâce à son courage, sa volonté et son travail acharné.⁷

Die suggestiven Bilder, die der Selfmademan in dieser Perspektive nach sich zieht, nähren eine Vorstellung sozialer Aufstiege, die vor allem durch die amerikanischen rags-to-riches-stories geprägt worden ist. In der deutschsprachigen Erzähltradition ergeben sich andere, literarhistorisch spezifische Akzentsetzungen. Die historische Genealogie des Selfmademans führt hier durch Programme und Ästhetiken, hinter denen sich die ideologisierten Untergründe prominenter literarischer Gestaltungskontexte verbergen: idealrealistische Verklärungen und ihre normalisierenden Subjektivationsappelle, naturalistische Fiktionen und ihre darwinistischen Codierungen, modernediagnostische Modellbildungen und ihre stereotypbeladenen Projektionen. Eine Rekonstruktion dieser Imaginationsgeschichte eröffnet folglich eine Perspektive auf den Selfmademan als spezifisch literarische, historisch imprägnierte sowie kulturell geprägte Schlüsselfigur in der deutschsprachigen Erzählliteratur. Bevor die Vorgehensweise und die Ausgangsthesen dieser Arbeit näher beschrieben werden, seien zunächst einige kultur- und zeitspezifische Voraussetzungen für die literarische Populärwerdung des Selfmademans im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert umrissen. Die Bezeichnung ,Selfmademan‘, die im amerikanischen Sprachraum auf eine 1832 gehaltene Rede Henry Clays zurückgeht,⁸ findet in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts Eingang in den deutschen Sprachgebrauch und wird vor allem im Bereich des Biographie- und Zeitungswesens verwendet. Neben dem Begriff ,Selfmademan‘, dessen Konjunktur auch die Sprachreinigungsversuche der Jahrhundertwende nicht einzudämmen vermochten,⁹ findet bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein sein verdeutsch-

 Jaquet, S. 23.  Vgl. Wyllie, S. 153.  Sprachpurist*innen wie Hermann Dunger, Gründer des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, riefen um 1900 zur Ersetzung des Begriffs durch einen deutschen Terminus auf. In seiner 1899

1 Der Selfmademan: Annäherung an eine Schlüsselfigur der Moderne

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tes Äquivalent vielfache Verwendung. Bezeichnenderweise kommt der deutsche Begriff im Gegensatz zum Anglizismus fast ausschließlich in affirmativer Konnotation zum Einsatz: „Keiner ist ein Mann, der nicht ein selbstgemachter Mann ist“¹⁰, heißt es in einem 1909 erschienenen Kurzessay. Obgleich sich der Selfmademan begrifflich erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts konturiert, weist die Figur Bezüge zu Ideen und Konzepten auf, die durch verschiedene historische Konfigurationen geprägt und rejustiert worden sind. Die Idee des arbeitsamen, sich selbst verwirklichenden Subjekts etwa profiliert sich spätestens im Umfeld der protestantischen Reformation,¹¹ wohingegen sich der antigenealogische Erzählkern, der dem Figurentypus innewohnt, bis in die römisch-antiken novitas-Apologien zurückverfolgen lässt. Auch das narrative Modell, das für die literarische Diskursivierung der Figur konstitutiv ist, hat mehrere Epochen der europäischen Literaturgeschichte durchwandert. Einen sozialen Aufstieg erzielt nicht nur die typische Pikarofigur, wie sie im Lazarillo, in Gil Blas und in den Romanen Johann Beers in Erscheinung tritt,¹² sondern auch der aus Lesages Turcaret ou le Financier (1709) und Marivaux’ Le Paysan parvenu (1734/35) bekannte Parvenütypus. Nicht zuletzt wird die Literatur des Sturm und Drang und der Spätaufklärung von fiktiven Aufsteigern durchwandert – man denke etwa an den tragisch endenden Titelhelden in Goethes Clavigo (1774), den das Aufstiegsstreben vor die Entscheidung zwischen familiär-privatem Glück und sozialem Prestige führt, an den Protagonisten in Friedrich Traugott Hases Gustav Aldermann (1779), an dem exemplarisch die „Psychologie des ichbezogenen Aufsteigers“¹³ illustriert wird, oder auch an den Protagonisten aus Johann Gottlieb erschienenen Schrift Wider die Engländerei in der deutschen Sprache schreibt Dunger: „Wie oft hören wir von dem Five o’clock tea statt 5 Uhr-Thee, von Self-made man und Self-government, obgleich wir doch ganz gut sagen können selbstgemachter Mann und Selbstverwaltung […].“ Hermann Dunger: Wider die Engländerei in der deutschen Sprache. Braunschweig/Berlin: Verlag des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins, 1899. S. 8.  Alexander von Gleichen-Rußwurm: Erziehung. In: Harden, Maximilian (Hrsg.): Die Zukunft. Bd. 69 (1909), S. 388 – 395, hier S. 395.  Vgl. Wim Peeters: Selbsthilfe „durch die Macht des Beispiels“. Der Weg zum Erfolg durch eigene Kraft von Hugo Schramm-Macdonald. In: Kleiner, Stephanie; Suter, Robert (Hrsg.): Guter Rat. Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900 – 1940. Berlin: Neofelis, 2015. S. 93 – 114, hier S. 100.  Bereits Jurij M. Lotman hat das Aufstiegssujet als Fundament pikaresken Erzählens bezeichnet: „Das Sujet der Schelmennovelle ist also die Geschichte einer erfolgreichen Gaunerei, die den armen Schlucker zum reichen Mann macht oder den erfolglosen Anbeter zum glücklichen Liebhaber oder Ehemann.“ Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München: Fink, 1972. S. 347.  Wolfgang Martens: Goethes Clavigo und Hases Gustav Aldermann. Aufsteigertum und Schuld. In: Plachta, Bodo; Woesler, Winfried (Hrsg.): Sturm und Drang. Geistiger Aufbruch 1770 – 1790 im Spiegel der Literatur. Tübingen: Niemeyer, 1997. S. 121– 133, hier S. 127.

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Einleitung

Schummels Roman Wilhelm von Blumenthal (1780/81), dessen Aufstiegsweg mit einer bürgerlichen Sozialisation zusammenfällt.¹⁴ Von diesen früheren Aufstiegsfiguren ist jedoch der Selfmademan in fundamentalen Hinsichten verschieden. Der Selfmademan, wie ihn Romane des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts konstruieren, erzielt seinen Reichtum über effizientes Wirtschaften, technische Innovativität und ein Erkennen und Nutzen von Marktchancen. Damit unterscheidet er sich von den Aufsteigern der Sturm-und-Drang-Zeit, die nicht als Wirtschaftsakteure, sondern überwiegend als politische Akteure präsentiert werden, ebenso wie von den Pikarofiguren, deren Aufstiegserfolge von einem wechselhaften Überlebenskampf herrühren und stets ins Gegenteil umschlagen können. Auch mit dem Typus des Parvenüs, der im neunzehnten Jahrhundert in Frankreich wie in Deutschland eine Blütezeit erlebt, hat der Selfmademan nicht viel gemein. Der Parvenütypus verdankt seinen Aufstiegserfolg einem kommunikativen Geschick, assimilatorischen Konformierungspraktiken und vorteilhaften Beziehungsführungen. Gesellschaftlich ist der Parvenü ein Außenseiter, erpicht darauf, Wohlstand und Titel zu ergattern. Sein sozialer Status ist ähnlich wie der des Pikaros unstet und prekär, seine genealogisch-soziale Bindungslosigkeit die Keimzelle eines beständigen Herumgetriebenseins.¹⁵ Der Selfmademan dagegen tritt als Leitfigur der bürgerlichen Ordnung in Erscheinung. Nicht umsonst fällt die erste modellbildende Ausgestaltung des selfmade-Topos mit der Begründung des bürgerlichen Tugendkatalogs zusammen. Benjamin Franklin leitet seine Autobiographie mit den folgenden Worten ein: Having emerged from the poverty and obscurity in which I was born and bred, to a state of affluence and some degree of reputation in the world, […] the conducing means I made use of, which, with the blessing of God so well succeeded, my posterity may like to know, as they may find some of them suitable to their own situations, and therefore fit to be imitated.¹⁶

 Vgl. Johann Wolfgang Goethe [1774]: Clavigo. In: J.W. Goethe. Sämtliche Werke. Bd. 4: Der junge Goethe. Zürich: Artemis, 1949. S. 754– 805; vgl. Friedrich Traugott Hase: Gustav Aldermann. Leipzig: Weygand, 1779; vgl. Johann Gottlieb Schummel: Wilhelm von Blumenthal oder das Kind der Natur. Eine deutsche Lebensgeschichte. Bd. I‒II. Leipzig: Weygand, 1780/81. Zum Erzählmuster des Aufstiegs in den genannten Texten vgl. Jana Vijayakumaran: Im Spiegel der Figur. Der spätaufklärerische homo novus als Reflexionsmedium der Gegenwart. In: Cimmino, Giuseppina; Steglich, Dana; Stubenrauch, Eva (Hrsg.): Figur(ation)en der Gegenwart/Figure(ation)s of the Present. Hannover: Wehrhahn, 2022 [im Erscheinen].  Vgl. zur Figur des Parvenüs Sarah Juliette Sasson: Longing to belong. The Parvenu in Nineteenth-Century French and German Literature. New York: Palgrave Macmillan, 2012.  Benjamin Franklin: The Autobiography of Benjamin Franklin. Boston/New York: Houghton Mifflin & Company, 1906. S. 1.

1 Der Selfmademan: Annäherung an eine Schlüsselfigur der Moderne

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In ihrem ethisch untermalten Rationalisierungselan begründet die Autobiographie den Idealtypus des bürgerlichen Subjekts, das im neunzehnten Jahrhundert unter dem Begriff des Selfmademans bekannt wird: ein männliches Individuum, das sein Leben einem rationalen Kontrollsystem unterwirft, gelingende Selbsthilfe betreibt und schließlich für seine Selbstoptimierung, Disziplin und Arbeit belohnt wird. In der deutschsprachigen Literatur wird dieses Subjektbild vor allem seit den 1850er Jahren zu einem Schlüsselelement literarischer Fiktionsbildung. Mit dem Realismus profiliert sich ein Erzählprogramm, in das sich das ökonomiezentrierte Subjektivationsmodell des Selfmademans auf idealtypische Weise einfügt.¹⁷ In proklamierter Abgrenzung von Goethes Wilhelm Meister und in Opposition zur Romantik zielt der programmatische Realismus auf eine verklärte Hinwendung zur Wirklichkeit und Jetztzeit, womit in erster Linie eine ökonomische Realität gemeint ist. Berthold Auerbach bringt es in seiner Rezension zu Soll und Haben auf den Punkt: Das Ideal der Romantiker war der frei Genießende, das Ideal der realistischen Poesie ist der frei Arbeitende, indem in der Arbeit die Individualität zu der vollsten Darstellung kommt.¹⁸

Nicht nur Auerbach sieht die realistischen Ideale in Soll und Haben verwirklicht. Einer Reihe von Romankritikern, von Hermann Marggraff bis zu Felix Dahn, gilt Freytags Roman als Auftakt einer neuen, realistischen Literatur, die in ihrer Fokussierung auf das Feld des Ökonomischen Gegenwartsbezogenheit, Bürgerlichkeit und Zeitgemäßheit bekunde. Dieser angenommene Wechsel von goethezeitlichem Idealismus und romantischer Wirklichkeitsflucht hin zu realisti-

 Wie Horst Thomé herausgestellt hat, deckt sich das autonome Subjekt, das der medizinischanthropologische Diskurs des neunzehnten Jahrhunderts vornehmlich ex negativo postuliert, nicht nur mit dem selbstverantwortlichen Bürger, den ein politischer Liberalismus visioniert. Es korrespondiert zugleich mit dem Romanprotagonisten, den Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die programmatischen Realisten fordern. Vgl. Horst Thomé: Autonomes Ich und ,Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848 – 1914). Tübingen: Niemeyer, 1993. S. 4. Die Verbindungslinie zwischen Bürgerlichem Realismus, liberalistischen Gesellschaftsvorstellungen und autonomiezentrierten Subjektbildern führt dazu, dass auch die Krisendiagnostik des neunzehnten Jahrhunderts verschiedene Bezugsrichtungen einschlägt. So spricht Peter Küng von einer „dreifache[n] Krise des Bürgers, des Mannes und des autonomen Subjekts“, die im neunzehnten Jahrhundert diskursübergreifend manifest werde und die „Gefährdungen der bürgerlichen Klasse“ mit denen des männlichen Geschlechts und des „autarken Bewusstseins“ vernetze. Vgl. Peter Küng: Die Krise der liberalen Anthropologie in der Literatur des Bürgerlichen Realismus. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2015. S. 11 f.  Berthold Auerbach: Soll und Haben, Roman in 6 Büchern von Gustav Freytag. In: Allgemeine Zeitung, Nr. 250. 7. September 1855. S. 3994– 3996, hier S. 3996.

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Einleitung

scher Modernität, signalisiert durch die Hinwendung zum Ökonomischen, hat nicht nur Begeisterung ausgelöst. „Die Geschichten einfacher Werther’scher Herzensleiden sind von den Geschichten complizierter Geld- und Erwerbsleiden verdrängt worden“¹⁹, heißt es in der Freytag-Rezension von Marggraff. Mit der Einschätzung, dass auch Freytags Roman „in nicht zu ferner Frist zu den vergessenen gehören wird“²⁰, befindet sich Marggraff indes in einem offenkundigen Irrtum. In seiner Zentrierung auf einen männlichen Protagonisten, der es durch bürgerliches Wirtschaften zu ökonomischem Erfolg bringt, begründet Freytags Roman eine Erzähltradition, deren Popularität bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein anhält. Eine Reihe von Romanen, von Fanny Lewalds Von Geschlecht zu Geschlecht (1864‒1866) bis hin zu Gustav Frenssens Klaus Hinrich Baas (1909), führen das bei Freytag angelegte Erzählmodell fort und forcieren damit zugleich die „gattungsgeschichtliche[] Verschiebungstendenz“²¹ des bürgerlichen Romans vom Bildungs- zum Zeit- und Gesellschaftsroman. Im Rahmen dieser intertextuellen Verweisungen und Aktualisierungen kristallisieren sich verschiedene Bilder des bürgerlichen Aufsteigers heraus, den die jeweiligen Romane mit je spezifischen Konnotationen und Funktionen besetzen. Die literarische Imaginationsgeschichte des Selfmademans wird folglich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vor allem von Romanen getragen, die unter dem Rezeptionseindruck von Soll und Haben stehen und sowohl die poetologischen als auch die zeitdiagnostischen Tendenzen des Romans teils affirmativ, teils kritisch verhandeln. Im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, wenn sich ein naturalistischer Programmhorizont Bahn bricht, wandeln sich die Perspektiven auf den Selfmademan. Reflektiert werden nicht mehr die Bedingungen bürgerlicher Subjektivationsmodelle, sondern voluntaristisch referenzialisierte Zeiterfahrungen, die einen emphatischen Modernitätsanspruch erheben. Ein Gedicht von Alexander Tille und Curt Grottewitz, erschienen in der naturalistischen Programmschrift Sonnenaufgang! Die Zukunftsbahnen der Neuen Dichtung (1890), führt diese Zeiterfahrungen nachdrücklich vor Augen. Zunächst wird die modernetypische Vorstellung einer Unabhängigkeit von der Vergangenheit artikuliert: „Wir sind nicht gebunden an Tradition / An Dogmen und Zeremonien.“²² Auf die Kampfansage an

 Hermann Marggraff: Ein Roman, „der das deutsche Volk bei seiner Arbeit sucht“. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 25 (1855), S. 445 – 452, hier S. 451.  Marggraff, S. 451.  Matthias Agethen: Vergemeinschaftung, Modernisierung, Verausgabung. Nationalökonomie und Erzählliteratur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Göttingen: V&R unipress, 2018. S. 91.  Alexander Lauenstein und Curt Grottewitz: Sonnenaufgang! Die Zukunftsbahnen der Neuen Dichtung. Leipzig: Carl Reißner, 1890. S. 77.

1 Der Selfmademan: Annäherung an eine Schlüsselfigur der Moderne

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Vergangenheit und Tradition folgt eine Ausrufung des ,neuen Menschen‘. Diese Erneuerungsvision geht Hand in Hand mit der Idee einer Gesellschaft, die Privilegien und Rechte nicht vom sozialen Stand oder von der Menschlichkeit an sich abhängig macht, sondern allein in Anbetracht der jeweiligen Leistungen verteilt. Aus dieser proklamierten Leistungsgesellschaft gehe schließlich ein Geschlecht hervor, dem Dekadenz- und Degenerationssymptome fremd sind und das zur produktiven Kraftmobilisierung sowie zur permanenten Steigerung fähig ist: Wir wollen zu einem edlen Geschlecht Die ganze Menschheit züchten, Dann soll nach der Leistung das Menschen Recht Sich messen und seine Pflichten. Belebend soll herrschen in jeder Brust Ein heiteres Weltbehagen. Dann wollen in Kraft und Schaffenslust Wir höher und höher uns wagen!²³

In nuce bekunden sich in dem Gedicht die Zeiterfahrungen, die seit dem Durchbruch der naturalistischen Moderne die Darstellungen des Selfmademans bestimmen. Der Figurentypus avanciert zum Ausdruck einer Zeiterfahrung, die die Vorstellung einer Emanzipation von der Vergangenheit mit dem Ideal des ,neuen Menschen‘ engführt und in der sich folgenreiche Steigerungs- und Kraftnormen verdichten. In diesen Neucodierungen kündigen sich zentrale diskursgeschichtliche und realhistorische Umbrüche an, die das späte neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert prägen und in den Darstellungen des Selfmademans ihren paradigmatischen Niederschlag finden. Der Steigerungs- und Fortschrittsoptimismus verweist auf eine allgegenwärtige Stimmung der Jahrhundertwende, die den wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen geschuldet ist. Bekanntlich finden im späten neunzehnten Jahrhundert fundamentale Transformationsprozesse im wirtschaftlichen Feld statt, die grundlegende Neuorientierungen im gesellschaftlichen Kontext nach sich ziehen. Unter dem Eindruck neu entstehender Industrien, Techniken und Großstadtkulturen verändert sich die kollektive Wahrnehmung von Gegenwart. Diskursübergreifend wird um die Jahrhundertwende der Anbruch einer ,neuen Zeit‘ verkündet, die dem Einzelnen Gestaltungsmöglichkeiten von einem bislang ungekannten Ausmaß bietet, ihn damit aber auch vor neue Herausforderungen stellt – Herausforderungen, denen er nur durch konsequente Kraftmobilisierung und Kraftsteigerung gerecht werden kann.

 Lauenstein und Grottewitz, S. 77.

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Verbunden mit den Diagnosen einer ,neuen Zeit‘ sind folglich kraft- und steigerungszentrierte Subjektivationsnormen. Von hier ausgehend lässt sich eines der zentralen Bezugsfelder benennen, in denen der Selfmademan um die Jahrhundertwende steht. In ihrer Willenskraft und Leistungsfähigkeit führt die Figur Ideale vor Augen, die zum Kern eines modernetypischen „Diskurs[es] um die Selbstführung“²⁴ gehören. Entworfen wird das Bild eines Subjekts, das sich selbst zum Bezugspunkt von Steigerungsimperativen macht und dem es nicht nur als Möglichkeit, sondern als Pflicht obliegt, sein Leben aktiv zu gestalten und auf eine verbesserte Zukunft hinzuarbeiten. Eingebunden in einen ökonomischen Wettbewerb und angetrieben durch die Mechanismen eines unbarmherzigen ,Daseinskampfes‘, ist dieses Subjekt einer „permanenten Selbstverbesserung im Zeichen des Marktes“²⁵ ausgesetzt. Dieses Subjektbild, in dem sich (sozial‐)darwinistische Selektions- und Konkurrenzgedanken, aufklärerisch imprägnierte Autonomie-Ideale und kapitalistisch-liberale Wirtschaftsbilder treffen, ist in den vergangenen Jahren unter verschiedenen Vorzeichen erkundet worden. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Studie von Ulrich Bröckling zu nennen, die im Anschluss an Foucaults Konzepte der Gouvernementalität und Subjektivierung das „unternehmerische Selbst“ als Leitbild der Moderne theoretisiert.²⁶ An dieses Leitbild koppelt sich Bröckling zufolge eine Serie von Deutungsmustern, die das Selbst- und Weltverständnis des modernen Menschen prägen, normative Rollen- und Orientierungsangebote bereitstellen und „Selbsttechnologien“ generieren.²⁷ Mit diesem Themenkomplex, den Selbsttechnologien und Subjektivationsnormen, haben sich wiederum mehrere Studien an der Schnittstelle von Literaturwissenschaft, Diskursgeschichte und Soziologie eingehend befasst. Eine spezifische Diskursivierungsform von Selbsttechnologien erschließt Ralph Köhnen in seiner Studie Selbstoptimierung (2018).²⁸ Anhand einer Problemgeschichte des Tagebuchs rekonstruiert Köhnen die diaristische Genealogie des subjektivationsbezogenen Optimierungs- und Steigerungsgedankens, der immer auch einen „Beobachtungsimperativ“²⁹ nach sich ziehe. Während sich Köhnens Studie um das Tage-

 Stefan Senne und Alexander Hesse: Genealogie der Selbstführung. Zur Historizität von Selbsttechnologien in Lebensratgebern. Bielefeld: transcript, 2019. S. 183 und 196.  Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007. S. 283.  Vgl. Bröckling, S. 19 – 45.  Vgl. Bröckling, S. 7.  Vgl. Ralph Köhnen: Selbstoptimierung. Eine kritische Diskursgeschichte des Tagebuchs. Berlin: Peter Lang, 2018.  Köhnen, S. 22.

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buch zentriert, fokussiert sich die jüngst erschienene Studie von Stefan Senne und Alexander Hesse auf das Genre der Ratgeberliteratur, um historische Erscheinungsformen und Entwicklungen moderner Subjektivationsmodelle nachzuzeichnen.³⁰ Obgleich folglich mehrere textsortenspezifische Konkretisationen des ,unternehmerischen Selbst‘ erschlossen worden sind, ist dieses Subjektbild bislang nicht auf seine literarischen Ausgestaltungen und seine literarhistorischen Implikationen hin befragt worden. Zwar haben mehrere Studien literarische Konstruktionsweisen des ökonomischen Menschen untersucht und dabei die Profilierungen und Transformationen eines Subjektmodells erschlossen, das im Kern dem Bild des ,unternehmerischen Selbst‘ entspricht. Joseph Vogl erkundet in seiner einschlägigen Studie Kalkül und Leidenschaft (2002) literarische Erscheinungsformen einer ökonomischen Anthropologie, die anstelle des homo compensator den homo oeconomicus als Prototyp setzt. Diese Anthropologie, die sich im späten achtzehnten Jahrhundert herausbilde, ersetze die tradierten Ideale des Ausgleichs und Maßes durch das Bild der Unersättlichkeit: Es ist nicht mehr die Symmetrie des Ausgleichs, sondern eine kontinuierliche Selbstoptimierung, nicht mehr das Maß der Bedürfnisse, sondern grenzenloses Verlangen, nicht mehr ein vitales Gleichgewicht, sondern ein sich selbst verzehrendes Leben, die das Verhältnis des Menschen zu sich, zu anderen und zu den Dingen bestimmen und damit ein neues Wissen von seinen Austauschprozessen begründen.³¹

Die Herausbildung des ökonomischen Menschen steht Vogl zufolge in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Veränderungen im ökonomischen Wissen der Zeit. Um und nach 1800 komme es zu einer Neujustierung von Kategorien, über die die Wahrnehmung und Beschreibung ökonomischer Vorgänge verlaufen. Aus dem dabei konturierten Neuverständnis von Arbeit, Arbeitskraft, Produktion und Konsumption habe sich das wirtschaftsanthropologische Wissen vom homo oeconomicus ergeben.³² Die von Vogl aufgezeigten Wechselbeziehungen zwischen Ökonomie und Literatur sind für die vorliegende Arbeit vor allem deshalb anschlussfähig, da der zu untersuchende Figurentypus seinerseits als Produkt interdiskursiver Brückenschläge lesbar wird. Anders als in Vogls Studie aber geht es in der vorliegenden Arbeit darum, das spezifische Wissen, das sich im Typus des Selfmademans konkretisiert, in seinen Kontextualisierbarkeiten und Darstellungsformen  Vgl. Senne und Hesse.  Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich: diaphanes, 2011 (1. Auflage 2002). S. 289.  Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 12.

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zu erschließen. Dieses Wissen lässt sich vornehmlich als ökonomisches Wissen, genauer gesagt als wirtschaftsanthropologisches Wissen beschreiben.³³ In die Konstruktionen des Selfmademans fließen jedoch gleichermaßen transdisziplinär zirkulierende Wissensbestände ein, die das Feld der Ökonomie transzendieren: temporale Konstruktionen, insofern es immer auch um ein Reflexivmachen von Zeiterfahrungen geht, geschlechtercodierte Wissenskategorien, da bestimmte Männlichkeitserzählungen verhandelt werden, thermodynamische Wissensbestände, sofern es um Willenskraft und Energie geht, ein soziales Wissen, da aristokratische und bürgerliche Selbstverständnisse verhandelt werden, ein zeitdiagnostisches Wissen, da Großstadterfahrungen, Mobilitätserfahrungen und Veränderungsdynamiken beschrieben werden, und nicht zuletzt ein poetologisches Wissen, da die Gegenwartsnähe etablierter Erzählmuster verhandelt wird. Der Selfmademan und das an ihn gekoppelte Bild des ,unternehmerischen Selbst‘ werden damit lesbar als Imaginationsprodukte, deren historische Konjunktur aus einem Zusammentreffen verschiedener Wissensbestände heraus zu erklären ist. Dass ebendiese Wissensbestände zugleich den grand récit ,Moderne‘ untermalen, mag auf einer diskursgeschichtlichen Ebene den Modernitätsindex des Selfmademans erklären. Die Arbeit grenzt sich folglich sowohl durch ihren Untersuchungsgegenstand als auch durch ihr Erkenntnisinteresse und ihren Zugriff von Studien ab, die prima facie eine ähnliche Richtung einschlagen. Anstatt das ökonomie- und steigerungszentrierte Subjektivationsmodell auf faktualitätsbeanspruchende Textsorten einzugrenzen, rekonstruiert sie seine fiktionalen Erscheinungsformen und literarischen Implikationen, und anstatt es diskurshistorisch auf ein bestimmtes Wissensfeld zu beschränken, bindet sie verschiedene Bezugsfelder mit ein. Insgesamt lassen sich drei Felder benennen, die zugleich zentrale Ausgangsthesen sowie die theoretischen Eckpunkte dieser Arbeit umreißen:

 In seiner eigens diesem Thema gewidmeten Habilitationsschrift definiert Manuel Bauer ,Wirtschaftsanthropologie‘ als „Reflexionsfeld, das sich mit wirtschaftlichen menschlichen Handlungen befasst“. Dazu zähle unter anderem die Frage nach der Rolle des Menschen in ökonomischen Prozessen, nach seiner Positionierung im Produktionsbereich sowie in der Konsumsphäre, und nach den Menschenbildern, die im ökonomischen Diskurs entworfen werden. Vgl. Manuel Bauer: Ökonomische Menschen. Literarische Wirtschaftsanthropologie des 19. Jahrhunderts. Göttingen: V&R unipress, 2016. S. 20 f., Zitat auf S. 20.

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I. Literatur und Ökonomie Eine Verortung des Selfmademans im Feld der ,literarischen Ökonomik‘³⁴ liegt schon nahe, wenn man sich wesentliche Charakterzüge der Figur vor Augen führt. Als ein rationaler Nutzen- und Gewinnmaximierer teilt der Selfmademan zentrale Merkmale eines Typus, der seit den 2000er Jahren verstärkt die Aufmerksamkeit einer am Zusammenspiel von Literatur und Ökonomie interessierten Forschung gefunden hat: dem homo oeconomicus. ³⁵ Wie eng die Verbindungslinie zwischen dem homo oeconomicus und dem Selfmademan ist, zeigt sich, wenn man einen locus classicus beider Figurentypen in den Blick nimmt. Die Autobiographie Benjamin Franklins, die auf große Resonanz im deutschsprachigen Raum gestoßen ist, lässt sich als eines der prägendsten Begründungsdokumente des amerikanischen Selfmademans bezeichnen. Wie Klaus P. Hansen herausgestellt hat, handelt es sich bei Franklins Lebensbeschreibung um die „erste Autobiographie des ökonomischen Aufstiegs“³⁶. Die Lebensbeschreibung, die den Menschen zum „Schmied seines eigenen Glückes aufrückt“³⁷, begründet laut Hansen ein neues Modell der biographischen Selbst- und Fremdbeschreibung. Ein programmatischer Glaube an die Gestaltbarkeit der Zukunft verbindet sich mit einem meritokratischen Gesellschaftsbild, aus dem sich der Kanon bürgerlicher Verhaltensregeln herleitet: Sparsamkeit, Mäßigkeit, effektive Zeitnutzung und Ordnung sollen den Einzelnen zum ökonomischen Erfolg führen und zugleich eine moralische Vervollkommnung gewährleisten. Im ökonomisierten Welt- und Selbstbezug, den die Erzählung ausgestaltet, ihrem Rationalitätscredo und Utilitarismus verdichten sich Eigenschaften, die charakteristisch für den homo oeco-

 Für einen Überblick zum Forschungsfeld der literarischen Ökonomik vgl. Iuditha Balint: Einleitung I.Was ist literarische Ökonomik? Wesensbestimmung und Entwicklung einer Methode. In: Balint, Iuditha; Zilles, Sebastian (Hrsg.): Literarische Ökonomik. Paderborn: Fink, 2014. S. 9 – 16.  Mit dem homo oeconomicus hat sich eine Reihe von literaturwissenschaftlichen Studien auseinandergesetzt. Vgl. in diesem Zusammenhang Bauer: Ökonomische Menschen; Vogl: Kalkül und Leidenschaft; Bernd Blaschke: Der homo oeconomicus und sein Kredit bei Musil, Joyce, Svevo, Unamuno und Céline. München: Fink, 2004. Vgl. außerdem Fritz Breithaupt: Homo Oeconomicus (Junges Deutschland, Psychologie, Keller und Freytag). In: Fohrmann, Jürgen; Schneider, Helmut J. (Hrsg.): 1848 und das Versprechen der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. S. 85 – 112 sowie Urs Urban: Die Ökonomie der Literatur. Zur literarischen Genealogie des ökonomischen Menschen. Bielefeld: Aisthesis, 2018.  Klaus P. Hansen: Die Mentalität des Erwerbs. Erfolgsphilosophien amerikanischer Unternehmer. Frankfurt a. M.: Campus, 1992. S. 56.  Hansen, S. 64.

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nomicus sind: ein rationales, von Selbstinteresse geleitetes Handeln, das auf Nutzenmaximierung aus ist.³⁸ Die bei Franklin angelegte Engführung von Selfmademan und homo oeconomicus klingt auch in Erzählungen des deutschsprachigen Realismus an. Der Protagonist aus Gotthelfs Uli, der Knecht etwa agiert nach seiner ,Bekehrung‘ nicht nur als prototypischer homo oeconomicus, sondern erzielt durch sein musterhaftes Verhalten als Wirtschaftsakteur einen sozialen Aufstieg. Da die Erzählwelt, in der sich der Selfmademan bewegt, neben subjektivationsbezogenen Normen ein eminent ökonomisches Wissen verlautbart, liegt es nahe, die jeweiligen Texte als Manifestationen wirtschaftsanthropologischer Vorstellungen zu lesen. Eine solche Perspektive greift das Erkenntnisinteresse auf, das Manuel Bauer in seiner Studie Ökonomische Menschen (2016) verfolgt: Betrachtet wird der Beitrag literarischer Texte zum interdiskursiv verlaufenden Konstruktionskomplex des wirtschaftenden Menschen.³⁹ Literarische Texte, so Bauer, werden auf diese Weise als „Medien der wirtschaftsanthropologischen Normierung und Selbstauslegung des Menschen“⁴⁰ lesbar. Vor allem für die realistischen Texte, die in der vorliegenden Arbeit untersucht werden, bietet sich diese Herangehensweise, die Bauer zufolge weniger eine Methode im strikten Sinne als einen Gegenstand und ein Erkenntnisinteresse impliziert,⁴¹ zweifelsohne an. Romane wie Soll und Haben und Der grüne Heinrich sind – dies ist in der Forschung mehrfach nachgewiesen worden – in ihren Figurenzeichnungen und Handlungskonstruktionen eng an ökonomiezentrierte Konzepte, Menschenbilder und Normsetzungen gekoppelt.⁴² In der realistischen Erzählliteratur der Jahrhundertmitte bildet sich damit eine Konvergenz von ökonomischer Fiktionsbildung und Aufstiegsnarration heraus, die soziale Mobilitätsvorstellungen noch heute wesentlich prägt.⁴³

 Vgl. Bauer: Ökonomische Menschen, S. 293.  Vgl. Bauer: Ökonomische Menschen, S. 24.  Bauer: Ökonomische Menschen, S. 25.  Vgl. Bauer: Ökonomische Menschen, S. 24.  Vgl. in diesem Zusammenhang neben den Studien von Bauer und Agethen die Studie von Karolina Brock: Kunst und Ökonomie. Die Beobachtung der Wirtschaft in G. Kellers Roman Der grüne Heinrich. Frankfurt a. M.: Lang, 2008. Vgl. darüber hinaus Christian Rakow: Die Ökonomien des Realismus. Kulturpoetische Untersuchungen zur Literatur und Volkswirtschaftslehre 1850 – 1900. Berlin/Boston: de Gruyter, 2013.  So bemerkt Carlos Spoerhase in seiner Auseinandersetzung mit Chantal Jaquet, dass „Imaginationen sozialer Mobilität eine große Affinität zum wirtschaftlichen Aufstieg und ökonomischen Gewinn haben.“ Carlos Spoerhase: Aufstiegsangst: Zur Autosoziobiographie des Klassenübergängers. In: Jaquet, Chantal: Zwischen den Klassen. Über die Nicht-Reproduktion sozialer

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Spätestens mit den naturalistischen Neucodierungen des Selfmademans rücken Ideale, Konzepte und Probleme ins Zentrum, die den wirtschaftsanthropologischen Verweisungshorizont des Selfmademans erweitern und an ein thermodynamisches Diskursfeld anschließen. Der Selfmademan wird dabei immer seltener als homo oeconomicus dargestellt, sondern dem genieästhetisch angereicherten Unternehmerbild, das kurze Zeit später auch in der Nationalökonomie grassiert, angenähert.⁴⁴ Anstelle der Gewinn- und Nutzenmaximierung tritt das schöpferisch-zerstörerische Moment unternehmerischen Handelns in den Vordergrund, anstelle der Rationalität der zuweilen regelrecht dämonisierte Gestaltbarkeitsanspruch, anstelle des Kalküls die Radikalität, mit der Ansprüche des Neuen, Traditionslosen und Gegenwärtigen vertreten werden.⁴⁵ Auch in der Zeit um 1900 wirft der Selfmademan Fragen und Probleme auf, die über einen wirtschaftsanthropologischen Bezugskontext hinaus die temporalitätszentrierten Selbstbegründungen der Moderne tangieren. Reflektiert werden das Verhältnis von Erbschaft und Verdienst, die Determinationskraft der Vergangenheit und die Zukunftsoffenheit der Gegenwart. Dass diese modernediagnostischen Subtexte von einem Figurentypus getragen werden, der immer auch als Wirtschaftsakteur in Erscheinung tritt, verdeutlicht dabei, welch weit dimensionierte Reflexionsfunktion dem ökonomischen Diskurs im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert zukommt. Die wirtschaftsanthropologische Funktionsdimension des Selfmademans ist noch aus einem anderen Grund signifikant. Durch die ökonomiezentrierte Bezugsebene wird der Modernitätsindex des Selfmademans, der sich aus den modernediagnostischen Fundamenten seiner Darstellung ergibt, in die discours-

Macht. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Konstanz University Press, 2018. S. 231– 253, hier S. 233.  Der Typus des Unternehmers, wie ihn in der Nationalökonomie vor allem Joseph Schumpeter konzeptualisiert, steht „im scharfen Gegensatz zum (neo‐)klassischen homo oeconomicus.“ Hans H. Bass: J.A. Schumpeter. Eine Einführung. Bremen: Institut für Weltwirtschaft und Internationales Management, 1998. S. 28. Laut Franziska Schößler folgt Schumpeters Unternehmer „rein intrinsischen Motiven wie der Freude am Gestalten von Neuem“, ist damit einem hoch aufgeladenen „Schöpfungsdiskurs“ entlehnt und vom profitorientierten homo oeconomicus grundlegend verschieden.Vgl. Franziska Schößler: Femina Oeconomica: Arbeit, Konsum und Geschlecht in der Literatur. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2017. S. 270.  Wie Andreas Reckwitz herausgestellt hat, wird der von Schumpeter entworfene Unternehmertypus als „Instanz der unberechenbaren Kreation des Neuen eingeführt“. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2012. S. 151. Die Unternehmertheorie bilde somit eine markante Station innerhalb des Weges zur „langfristigen Umstellung des ökonomischen Feldes auf Kreativitätsorientierung.“ Reckwitz, S. 155.

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Ebene überführt. Die wirtschaftsanthropologische Ausrichtung ermöglicht es den Texten, an etablierte Narrationsmuster anzuschließen und diese zugleich zu durchkreuzen. Dies betrifft vor allem das Erzählmodell des Bildungsromans. Während die Darstellungen des Selfmademans strukturell die Tradition des Bildungsromans fortführen, werden Erzählgehalte, die seit dem achtzehnten Jahrhundert mit dem Bildungsroman assoziiert worden sind, grundlegend verändert. An die Stelle der meist scheiternden ganzheitlichen Selbstverwirklichung tritt das ökonomische Gelingen, an die Stelle des postulierten Harmonieverhältnisses von Ich und Welt die Synthese eines wirtschaftenden Subjekts mit dem Marktgeschehen, an die Stelle der Bildungsgeschichte die Aufstiegsgeschichte. Mit diesen Transformationen scheint eine der zentralen Forderungen, die die Romankritik seit dem Vormärz durchzieht, eingelöst: Der Roman durchbricht eine an Goethe anschließende Erzähltradition, die schon Theodor Mundt als „eine vergangene, in manchen Interessen […] veraltete“⁴⁶ bezeichnet hat, und produziert Bilder einer ökonomisierten Gegenwart.

II. Literarische Männlichkeitserzählungen Eine Analyse der literarischen Darstellungen des Selfmademans schließt nicht nur an Erkenntnisziele aus dem Bereich der literarischen Ökonomik an, sondern führt unweigerlich zu einem Kerngegenstand der gendertheoretisch sensibilisierten Literaturwissenschaft: die literarische Konstruktion von Männlichkeiten. Folgt man James V. Catano, so ist mit der Fiktion der Autogenese, die dem Begriff ,Selfmademan‘ eingeschrieben ist, ein genuines Merkmal rhetorisch produzierter Männlichkeit benannt. Was der Selfmademan vor Augen führt, sei die Vorstellung eines maskulinen „self-makings“, die tief verankert in sozialen Praktiken und geschlechtscodierten Subjektivationsmodellen sei: The rhetorical dynamic performed by all these figures is part of a vital cultural discourse that moves the story from components and claims about masculine self-making and into the process of making masculinity itself. The myth of the self-made man is, in short, a particular part of ongoing rhetorical practices that are constitutive of society, culture, and subjects – in this case, of the specific activities known as masculinity.⁴⁷

 Theodor Mundt: Wilhelm Meister’s Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Blätter für literarische Unterhaltung. Nr. 264 (1830), S. 1053 – 1056, hier S. 1053.  Catano, S. 2.

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Angesichts seiner geschlechterdiskursiven Funktionsdimension scheint der Selfmademan für männlichkeitstheoretische Beobachtungen geradezu prädestiniert. Eine Rekonstruktion der Darstellungsformen des Figurentypus kann anschließen an Perspektiven der männlichkeitssensiblen Literaturwissenschaft, wie sie unter anderem Toni Tholen umrissen hat.⁴⁸ Männlichkeit wird dabei fassbar als relational konfiguriertes Produkt historisch kontingenter kultureller Praktiken, Bilder und Erzählungen.⁴⁹ Literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteressen lassen sich in diesem Zusammenhang auf unterschiedlichen Wegen verfolgen. Zum einen ergibt sich die Möglichkeit, konkrete Erscheinungsformen von Männlichkeit, die bestimmte Zeitabschnitte oder literaturgeschichtliche Konfigurationen geprägt haben, sichtbar zu machen.⁵⁰ Ein solcher Ansatz wurde schon in Klaus Theweleits einschlägiger Studie Männerphantasien (1977) verfolgt, die den Konstruktionsprozess soldatisch-faschistischer Maskulinität in der Weimarer Republik nachzeichnet.⁵¹ Auch George L. Mosses Studie Das Bild des Mannes (1997) steht in dieser Tradition, doch dehnt sie die Befunde Theweleits in eine diachrone Richtung aus, insofern sie die Prägung moderner maskuliner Stereotype durch das späte achtzehnte Jahrhundert nachweist.⁵² Neben diesen Ansätzen, in denen sich die Männlichkeitsforschung einer Stereotypforschung annähert, hat sich in der jüngeren Zeit eine Perspektive herausgebildet, die gendertheoretische und narratologische Herangehensweisen vereint.⁵³ Den Grundstein dafür legte Walter Erharts Studie Familienmänner (2001), die Männlichkeit als eine „Abfolge von Erzählmodellen und ,narrativen Konfigurationen‘“⁵⁴ begreift. Die Anschlussfähigkeit für literaturwissenschaftli Vgl. Toni Tholen: Männlichkeiten in der Literatur. Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung. Bielefeld: transcript, 2015. S. 11– 25.  Vgl. Tholen, S. 11.  Vgl. Tholen, S. 11– 15.  Vgl. Klaus Theweleit: Männerphantasien. Frankfurt a. M.: Roter Stern, 1977 sowie Tholen, S. 11.  Vgl. George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt a. M.: Fischer, 1997 sowie Tholen, S. 11.  Vgl. hierzu Vera Nünning und Ansgar Nünning: Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart: Springer, 2004 sowie Vera Nünning und Ansgar Nünning: Making Gendered Selves: Analysekategorien und Forschungsperspektiven einer gender-orientierten Erzähltheorie und Erzähltextanalyse. In: Nieberle, Sigrid; Strowick, Elisabeth (Hrsg.): Narration und Geschlecht. Texte – Medien – Episteme. Köln: Böhlau, 2006. S. 23 – 44. Wie fruchtbar es sein kann, gendertheoretische und narratologische Prämissen zu vernetzen, zeigen vor allem die Arbeiten von Sebastian Zilles und Stefan Voß. Vgl. Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit. Männerbünde in Wissenschaft und Literatur um 1900. Köln/Weimar: Böhlau, 2018; vgl. Stefan Voß: Männlichkeit und soziale Ordnung bei Gottfried Keller. Berlin/Boston: de Gruyter, 2019.  Walter Erhart: Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit. München: Fink, 2001. S. 54.

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che Untersuchungen liegt auf der Hand: Aufgefasst als Manifestationsraum kulturell geprägter scripts und plots wird ,Männlichkeit‘ lesbar als narrativer Text, womit genuin erzähltheoretische Zugriffe ermöglicht werden.⁵⁵ Dieses Erkenntnispotenzial beschränkt sich mitnichten auf die histoire-Ebene literarischer Texte. Wie Tholen betont hat, ergeben sich narrative Modellierungen von Männlichkeit immer erst durch ihre jeweiligen Formen. Erst der Formbezug ermögliche es daher, differenzierte Einblicke in die Konstruktion von Männlichkeiten zu erhalten.⁵⁶ In die Reihe der Studien, die gendertheoretische und narratologische Perspektiven verbinden, fügt sich die vorliegende Arbeit jedoch nur bedingt ein. Zwar rückt mit dem selfmade-Narrativ eine folgenreiche Männlichkeitserzählung in das Blickfeld – eine Erzählung, die über einen Zeitraum von fast 200 Jahren hinweg nicht nur mehrere Sprach- und Kulturräume, sondern auch mehrere Textsorten durchwandert hat. Die Funktionen und Bedeutungen des Selfmademans für die deutschsprachige Literatur erschließen sich jedoch erst, wenn man neben der genderdiskursiven Dimension noch weitere Ebenen des Figurentypus in den Blick nimmt – Ebenen, die von der genderdiskursiven Komponente freilich kaum zu trennen sind. So gehen mit dem selfmade-Narrativ im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert nicht nur teils normativ, teils subversiv verlaufende Erzählungen von Männlichkeit einher, sondern eine Reflexion von Temporalität, eine Verhandlung kraftbezogener Subjektivationsnormen und eine Positionierung zu literarischen Erzählmustern und -traditionen. Anstatt also den Selfmademan ausschließlich als Kristallisationsfläche geschlechtscodierter Narrationen zu sehen, fokussiert sich die Arbeit auf das Zusammenspiel mehrerer Ebenen, das die Komplexität des Figurentypus allererst vor Augen führt.

III. Literarische Selbstreflexivität Zu den verschiedenen Reflexionsebenen, die dem Figurentypus immanent sind und seinen Modernitätsindex begründen, zählt insbesondere eine poetologische. Was der Selfmademan verhandelbar macht, ist auch und vor allem das literarische Erzählen, seine Zeitgemäßheit, seine Gegenwartsnähe und seine Modernität. Mit dem Selfmademan geht also eine bestimmte Spielart dessen einher, was sich mit Gerhard Plumpe als literarische ,Systemreferenz‘ bezeichnen lässt.⁵⁷ Besonders in den realistischen Aufstiegserzählungen gewinnt diese systemre Vgl. Tholen, S. 16 f.  Vgl. Tholen, S. 18 – 21.  Vgl. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995. S. 61 f., S. 107.

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ferenzielle Ebene, die eine poetologische Lesbarkeit des Selfmademans ermöglicht, strukturbildende Dimensionen. Nicht nur werden durch eine fiktionsinterne Anachronisierung des Bildungsromans literarische Muster und Traditionen verhandelt. Der realistische Selfmademan verkörpert zugleich einen bestimmten Zeichenbezug. Dieser Zeichenbezug lehnt sich an das poetologische Kardinalziel des deutschsprachigen Realismus an: die Vereinigung von Poesie und Prosa.⁵⁸ Wie in der Realismusforschung durch Claus-Michael Ort und Moritz Baßler herausgestellt worden ist, zieht der verklärungsästhetische Harmonisierungsanspruch ein semiotisches Problem nach sich, das die jeweiligen Texte durch spezifische Figuren – allen voran die Entsagung⁵⁹ – und Verfahrensweisen reflexiv machen: Die textinterne Balance zwischen den Extremen nicht außenmotivierter, nur mehr selbstreferentieller Zeichen einerseits und nicht-zeichenhafter ,Realität‘ andererseits scheint auf vielfältige Weise bedroht.⁶⁰

Folgt man Ort, so besteht die spezifische Metasemiotik des Realismus darin, dass er diese ,Bedrohung‘ und somit die eigene Zeichenhaftigkeit thematisiert.⁶¹ Ebendiese metasemiotische Bezugsrichtung lässt sich als Determinante des realistischen selfmade-Narrativs bestimmen. Exemplarisch lässt sich dies an einer Passage aus Fanny Lewalds Roman Die Familie Darner (1887) demonstrieren. Zunächst wird die Aufstiegsfigur zum Sprachrohr eines Selbstbestimmungscredos, das sich mit einem vitalistischen Willens- und Kraftbegriff verbindet. Emphatisch bekundet die Figur ihren Glauben an die emanzipatorische Wirkungs-

 Vgl. zur anvisierten Synthesepoetik des deutschen Realismus Hermann Kinder: Poesie als Synthese. Ausbreitung eines deutschen Realismus-Verständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1973. Zu konkreten Verfahrensweisen der Verklärungsästhetik vgl. unter anderem den Abschnitt „Aspekte literarischer Kommunikation“ in Gerhard Plumpe: Einleitung. In: McInnes, Edward; Plumpe, Gerhard (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848 – 1890. München: Hanser, 1996. S. 17– 83, hier S. 42– 83; das Kapitel „Idealistische Realitätskonstruktionen“ in Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 125 – 131; Moritz Baßler: Zeichen auf der Kippe. Aporien des Spätrealismus und die Routines der Frühen Moderne. In: Ders. (Hrsg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Verfahren der frühen Moderne. Berlin: de Gruyter, 2013. S. 3 – 21, hier S. 12 f. sowie Rakow, S. 128 – 144.  Zur Funktion der Entsagung als „Lösung eines Strukturproblems“ vgl. Moritz Baßler: Figurationen der Entsagung. Zur Verfahrenslogik des Spätrealismus bei Wilhelm Raabe. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 51 (2010), S. 63 – 80, Zitat auf S. 66.  Claus-Michael Ort: Zeichen und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 1998. S. 2.  Vgl. Ort: Zeichen und Zeit, S. 1.

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macht des Willens: „Unser Wille ist unser Schicksal! Alle Kraft einsetzen, um ihn durchzuführen, ist das eigentliche Leben, ist der Genuß desselben!“⁶² Was wie ein zeittypischer Appell zur Ermächtigung qua Kraftmobilisierung anmutet, legt zugleich den Grundstein für eine metasemiotische Verweisungsdimension. Die Realisierung des Willens macht den Selfmademan zum Repräsentanten einer „praktische[n] Phantastik“⁶³, die das tradierte Ideal einer Synthese von Realismus und Idealismus einlöst. Die vom Selfmademan praktizierte Semiotik des Willens verschafft der amimetischen Zeichenbildung nachträglich eine signifikatsgedeckte Referenzialisierbarkeit und enthebt sie damit simulativ ihrer romantisch konnotierten Arbitrarität. Der Wille wird zum Medium einer Signifikationsform, in der poetische Zeichenautonomie und mimetische Referenzialität verschmelzen: „[I]st doch Alles Traum, und all unser Denken wesenloses Spiel des Gehirns, bis der Wille es in Wirklichkeit verwandelt.“⁶⁴ Seine Rolle als Willens- und Kraftheld macht den Selfmademan folglich zum Realisator des Synthese-Ideals, von dem sich die Programmatik und Ästhetik des ,Idealrealismus‘ herleiten. Metasemiotische Bezüge dieser Art bestimmen die realistische Imaginationsgeschichte des Selfmademans seit ihrer Anfangsphase. Nicht umsonst ist Anton Wohlfart, die modellbildende Aufstiegsfigur des Realismus, zugleich eine emphatische Verfechterin des Verklärungsprogramms, das der Roman durch die Aufstiegsnarration auch auf discours-Ebene einzulösen sucht. Das ökonomische Gelingen wird zu einem poetologischen – eine Konvergenz, die ein halbes Jahrhundert später durch Gustav Frenssens Roman Klaus Hinrich Baas angefochten wird.⁶⁵ Der Selfmademan wird damit lesbar als Figurentypus, dessen poetologische Funktionen von den 1850er Jahren bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein auf unterschiedliche Weise ausgestaltet und verhandelt worden sind.

2 Manifestationsformen des Selfmademans Als Untersuchungsgegenstand lässt sich der Selfmademan unterschiedlich konzeptualisieren. Insofern das späte neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert eine Reihe von Erzählungen verzeichnen, die in ihren Subjektmodellen dieselben Beschreibungsschemata heranziehen, scheint es legitim und plausibel, vom Selfmademan als einem Figurentypus zu sprechen. Der Begriff ,Figurentypus‘    

Fanny Lewald: Die Familie Darner. Bd. 1. Berlin: Otto Janke, 1887. S. 113. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 119. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 119. Vgl. Kapitel 4.1 in diesem Buch.

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verweist dabei auf „inter- und extratextuell etablierte Figuren-Schemata“, mit denen festgelegt wird, „welche spezifischen Eigenschaften (welche äußeren Merkmale, Wesenszüge, Wertpräferenzen, typischen Verhaltensweisen etc.) eine bestimmte Figur kennzeichnen.“⁶⁶ Stellt man vor diesem Hintergrund die Frage, was für Schemata es sind, die den Selfmademan zu einem Typus machen, so fällt eine spezifische Konstruktionsbedingung der Figur ins Auge. Zwar lässt sich ein bestimmtes Merkmalsarsenal rekonstruieren, das mit der Bezeichnung ,Selfmademan‘ assoziiert ist und sich aus Idealen der (Willens‐)Kraft und Arbeitsamkeit zusammensetzt. Diese Eigenschaften allein reichen jedoch nicht aus, um eine Figur als Selfmademan zu titulieren. Erst wenn zu diesen Eigenschaften ein bestimmtes Erzählschema, die Aufstiegsnarration, hinzukommt, kann von einem Selfmademan die Rede sein. Diese Narrativität ist vor allem auf einer methodischkonzeptuellen Ebene bedeutend, insofern sie die Rekonstruktion der Genealogie des Selfmademans im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert allererst ermöglicht. Dadurch, dass die Arbeit den Figurentypus als Erzählprodukt auffasst, kann sie in die Analyse Texte einbeziehen, in denen der Begriff ,Selfmademan‘ nicht ausdrücklich verwendet wird. In solchen Fällen begründen spezifische Handlungs- und Erzählmuster die Lesbarkeit als Diskursivierungsform des Selfmademans. Diese Muster können sich in einem Text entfalten, ohne dass explizit vom Selfmademan die Rede sein muss. Exemplarisch lässt sich dies anhand von Theophil Zollings Roman Die Million (1893) verdeutlichen. Im Modus indirekter Rede resümiert die Erzählinstanz den Aufstiegserfolg des Protagonisten, der „von seinen mühsamen Anfängen auf dem Wege zur Million“⁶⁷ erzählt: […] wie er, der Sproß einer kinderreichen Arbeiterfamilie, als kleiner Knabe, statt die Schule zu besuchen, die Spinnstühle fegen und die zerrissenen Baumwollfäden anknüpfen mußte, dann nach Jahren endlich einen Spinnstuhl bekam, Aufseher wurde und eines Tages eine kleine Wattenmühle einrichtete, aus der sich im Laufe der Jahrzehnte die größte Spinnerei der Rheinprovinz entwickelte.⁶⁸

Eine ähnliche Vorgeschichte besitzt eine Figur in Rudolph Stratz’ Roman König und Kärrner (1914), die explizit als „Selfmademan“ bezeichnet wird.⁶⁹ Leopold

 Peter Hühn et al.: Narratologisches Begriffslexikon. Ausgearbeitet von der Projektgruppe 6 in der Forschergruppe Narratologie an der Universität Hamburg. Interdisciplinary Center for Narratology ICN, Universität Hamburg, 2003. S. 4. Zugänglich unter https://www.icn.uni-hamburg. de/sites/default/files/download/publications/verlinktes_p6_lexikon_200603.pdf (letzter Zugriff am 21.06. 2020).  Theophil Zolling: Die Million. Berlin: Verlag der Gegenwart, 1893. S. 31.  Zolling, S. 31.  Rudolph Stratz [1914]: König und Kärrner. Berlin: August Scherl Verlag, 1915. S. 79.

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Winterhalter hat, wie die Erzählinstanz berichtet, „aus dem Nichts heraus“⁷⁰ eine Fabrik mit Monopolstellung gegründet. Beide Figuren werden also über dasselbe Muster narrativer Sujetfügung konstituiert: Geschildert wird der Übergang von einem als defizitär erfahrenen Anfangszustand in einen erstrebten Endzustand. Bei dieser Veränderung bricht der Handlungsträger aus seinem sozialen Herkunftsmilieu heraus und durchkreuzt als „bewegliche Figur“⁷¹ par excellence die Grenze zwischen einem sozialen ,Unten‘ und ,Oben‘. Wenn sich diese aufstiegsteleologische Verlaufsform als Konstituens des Selfmademans bestimmen lässt, so sind mit dem Figurentypus immer auch ein feststehendes Ereignis im Sinne Lotmans und ein Erzählschema benannt. Es lässt sich hier ein Bogen spannen vom selfmade-Sujet, das sich aus der Veränderung qua Grenzdurchschreitung ergibt,⁷² zum selfmade-Narrativ – einem „narrative[n] Schema […], das elementares Erzählmaterial so anordnet und richtet, dass es einen spezifischen Verlaufssinn ausbildet, gleichwohl noch nicht die konkrete narrative Vermittlung bzw. ,Darbietung‘ determiniert.“⁷³ Auf einer „,mittlere[n]‘ Selektivitätsebene zwischen histoire und discours“⁷⁴ wird ein narratives Schema wirksam, als dessen Manifestationen und Varianten sich die jeweiligen Texte bezeichnen lassen. In Anlehnung an Albrecht Koschorke lassen sich Narrative als regelgeleitete Erzählformulare beschreiben, die bei aller kohärenzstiftenden und generalisierenden Dimension ein solches Maß an inhaltlicher und struktureller Variabilität aufweisen, dass sie durch unterschiedliche Erzählinstanzen unter unterschiedlichen Vorzeichen reaktualisiert und ausgestaltet werden können. Konstitutiv für Narrative sind demnach Prozesse der Wiederholung, Adaption und Neukontextualisierung, die auf einer elementaren Erzählebene Kontinuitätslinien und Momente der Schablonenhaftigkeit zutage treten lassen:

 Stratz, S. 152.  Lotman zufolge ist eine bewegliche Figur „eine, die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten“ (Lotman, S. 338). Bezeichnenderweise nennt Lotman eine Aufstiegsfigur als erstes Beispiel für eine solche Beweglichkeit und Grenzdurchquerung: „Von dieser Art sind Rastignac, der sich von unten nach oben durchschlägt, Romeo und Julia, die die Barriere zwischen den verfeindeten ,Häusern‘ überwinden, der Held, der mit dem Haus seiner Väter bricht, um ins Kloster zu gehen und ein Heiliger zu werden, oder der Held, der mit seinem sozialen Milieu bricht und ins Volk geht im Dienste der Revolution.“ Lotman, S. 338.  Unter ,Sujet‘ versteht Lotman die „Entfaltung eines Ereignisses – nämlich des Übergangs über eine semantische Grenzlinie“. Lotman, S. 339.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 65.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 65.

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Dieser informellen und in gewisser Weise einladenden Offenheit steht die Gravitationskraft bestimmter kulturprägender Narrative entgegen. Daraus ergibt sich eine Spannung zwischen ,Schauseite‘ und Tiefenstruktur. Die Buntheit der Erzähloberfläche […] wird durch Reduktion auf wiederkehrende Grundmuster gleichsam ausgefiltert – ein Prozess der Akkommodation, der das Neue, das jeden Augenblick aufglüht und vergeht, in die langsamere, gleichförmigere Arbeit der kulturellen Semiosis überführt.⁷⁵

Ausgehend vom Begriff des ,Narrativs‘ lässt sich eine zentrale und historisch konstant bleibende Funktionsdimension des Selfmademans bestimmen. Folgt man der Begriffsbestimmung Koschorkes, so tragen Narrative als selektiv organisierte Ordnungsstrukturen zu einer komplexitätsreduzierenden Deutung von Wirklichkeit bei.⁷⁶ Eine solche Form der Wirklichkeitsdeutung wird durch das selfmade-Sujet zweifellos erzielt. Text(sorten)übergreifend gehen mit dem Selfmademan suggestive Bilder von der Wirklichkeit einher: die Vorstellung, dass Kraftmobilisierung zu Aufstieg und Erfolg führe, dass vergangene und gegenwärtige Verhältnisse überwunden werden können, dass die Zukunft planbar und gestaltbar sei. Den Erzählrahmen dazu liefert ein „metaphorische[s] Paradigma“⁷⁷, das gleichermaßen eine komplexitätsreduzierende Wirklichkeitsdeutung in sich birgt. Als Aufstiegsnarration ist das selfmade-Sujet Teil eines semantischen Komplexes, der sich auf die vertikalen Raummetaphern ,oben‘ und ,unten‘ stützt und ausgehend von diesen Kategorien die soziale Wirklichkeit beschreibt. Mit der Oben-unten-Dichotomie, die sich im Bild des Aufstiegs niederschlägt, rufen die jeweiligen Texte kollektive Orientierungsmetaphern auf – Metaphern, die sich aus der Orientierung im Raum herleiten und als modellbildende Semantiken die Vorstellungen der sozialen Welt maßgeblich beeinflussen.⁷⁸ Eine semantisch-

 Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt a. M.: Fischer, 2012. S. 38.  Ein Kernmerkmal des Erzählens besteht Koschorke zufolge darin, „Wissen von geringerer Relevanz oder zu hoher Komplexität nicht weiterzugeben.“ Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 32. Analog zu kognitiven Schemata erlauben es Erzählmuster laut Koschorke, eine Fülle kontingenter Wahrnehmungen zu ordnen, Unbekanntes in Bekanntes zu integrieren und zwischen Relevantem und Irrelevantem zu unterscheiden. Ihre Tendenz zur Komplexitätsreduktion ergebe sich vor allem daraus, dass sie bestimmte Erwartungen und frames generieren, die die Welt- und Selbstwahrnehmung prägen. Vgl. Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 29 – 38.  Daniel Witte: Von Fahrstühlen und Graswurzeln: Orientierungsmetaphern in der soziologischen Zeitdiagnose. In: Junge, Matthias (Hrsg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Wiesbaden: Springer, 2016. S. 21– 50, hier S. 28.  Vgl. Witte, S. 22 f. Vgl. darüber hinaus das Kapitel „Orientational Metaphors“ in George Lakoff und Mark Johnson: Metaphors we live by. Chicago/London: The University of Chicago Press, 1980. S. 14– 21.

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diskursive Kernvoraussetzung des selfmade-Sujets ist folglich die Vorstellung von einem gesellschaftlichen und sozialen ,Oben‘ und ,Unten‘, von der sich das für den Figurentypus konstitutive Erzählschema, die Aufstiegsnarration, herleitet.⁷⁹ In Anlehnung an diese metaphorische Gesellschaftshermeneutik, die mit dem Selfmademan einhergeht, lässt sich vorab ein grundlegender Erzählkontext des Figurentypus festhalten. Wie Daniel Witte gezeigt hat, ist die Orientierungsmetaphorik des ,Oben‘ und ,Unten‘, die sich in Begriffen wie Auf- und Abstieg, Unterund Niedergang manifestiert, das Ergebnis „internalisierter Erfahrungen von Ungleichheit“⁸⁰ innerhalb stratifikatorisch organisierter Gesellschaften. Das Eigentümliche dieser Orientierungsmetaphorik besteht darin, dass ihr eine „doppelte metaphorologische Hermeneutik“⁸¹ innewohnt. An die soziale Bedeutungsdimension koppelt sich eine moralisch-ethische.⁸² Diese zweite Dimension hat ihre Wurzeln in einer christlichen Denktradition.⁸³ Räumlich semantisierte Begriffe wie ,emporheben‘ und ,emporarbeiten‘ ziehen in diesem Kontext ebenso wie ihr semantisches Pendant, das Fallen, eine religiöse Konnotation nach sich. Verwiesen wird auf ein Emporarbeiten zu Gott, ein Sich-Emporheben zur Gottesebenbildlichkeit, die – so die alttestamentarische Botschaft – durch den Sündenfall verlustig gegangen ist. Der katholische Pfarrer und Schriftsteller Albert Werfer beispielsweise spricht in seiner Poesie der Bibel (1875) von einem „Emporarbeiten des Menschen […] nicht aus einem bloß thierischen Zustand zu einem höheren geistigen, sondern aus einem gefallenen Zustand. Und dabei ist der Mensch nicht allein thätig, sondern ganz besonders Gott, ohne dessen Gnade der Mensch sich nicht emporarbeiten kann.“⁸⁴ Neben dieser religiösen Konnotation zirkulieren seit dem achtzehnten Jahrhundert moralisch-ethische Bedeutungsdimensionen, die einem kolonialistisch imprägnierten Fortschrittsnarrativ entspringen. So ist seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert die Rede von „Völkern, die sich aus der Barbarey, nach dem Muster älterer, verfeinerter Na-

 Auch Chantal Jaquet weist darauf hin, dass Erscheinungen sozialer Mobilität über räumliche Metaphern des Oben und Unten beschrieben werden und durch diese räumliche Semantisierung moralische Konnotationen nach sich ziehen. Vgl. Jaquet, S. 11.  Witte, S. 27.  Witte, S. 43.  Vgl. Witte, S. 25.  Selbst die Bibel wird von einer Oben-unten-Metaphorik durchdrungen. Im Brief an die Epheser beispielsweise wird der neutestamentarische Kerngedanke, die Menschwerdung Gottes durch Jesus, über eine Auf- und Abstiegssemantik beschrieben: „Derselbe, der herabstieg, ist auch hinaufgestiegen bis zum höchsten Himmel, um das All zu beherrschen.“ Epheser 4,10.  Albert Werfer: Poesie der Bibel. Tübingen: Laupp’sche Buchhandlung, 1875. S. 4.

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tionen, emporarbeiten“⁸⁵, von Ländern, „welche sich in der Cultur hoch emporheben, wie England, Frankreich und Deutschland“⁸⁶, oder einer Menschheit, die „ins Unendliche fort perfektibel ist, und sich daher von der rohern Sinnlichkeit zu einer immer höheren Geisteskultur emporhebt“⁸⁷. Dass spätestens seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts monetäre Konnotationen Oberhand gewinnen, zeigt unter anderem die Begriffsbestimmung des ,Emporkömmlings‘ als Mann, der „schnell und ohne große Anstrengung zu Ansehen und Vermögen gekommen ist.“⁸⁸ Es zeigt sich folglich schon in der historischen Semantik der Oben-unten-Metaphorik die von Witte beobachtete Überlagerung ökonomiebezogener und ethischer Werturteile.⁸⁹ Für die literarischen Texte des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die in dieser Arbeit untersucht werden, ist diese semantische Legierung insofern relevant, als sie verschiedene textimmanente Perspektiven auf den Selfmademan bedingt. So prägt die Engführung von religiöser, moralischer und ökonomischer Codierung vor allem das bürgerlich-realistische Aufstiegssujet, das nicht selten mit dem religiös konnotierten Schema der conversio und mit fortschrittsemphatischen Kulturalisierungsnarrativen vernetzt wird. In naturalistischen Romanen dagegen schlagen die Konnotationen der Aufstiegsmetaphorik um: Das soziale ,Oben‘ wird vom moralischen ,Oben‘ entkoppelt. Wenn sich der naturalistische Aufsteiger den Weg nach oben bahnt und den Gipfel des Erfolgs erklimmt, so sinkt und fällt er zugleich im moralischen Sinne. Von den verschiedenen konnotativen Besetzungen der Oben-unten-Dichotomie leiten sich folglich verschiedene Perspektiven auf den Selfmademan her, der vom neunzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert äußerst unterschiedliche Gestalten annimmt: Je nach historischer Konstellation tritt er als Träger bürgerlicher Normen in Erscheinung, als Sieger im ,Kampf ums Dasein‘ und als Projektionsfläche modernisierungsfeindlicher Verfallsdiagnosen, womit wiederum verschiedene Stereotypbildungen einhergehen: Inszeniert als vorbildlicher Bürger, fungiert der Selfmademan als Träger deutscher ,Nationaltugenden‘, dargestellt als Repräsentant materialistischer Gesinnungen,

 Christian Garve: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Bd. 2. Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn, 1796. S. 439.  Ignaz Beidtel: Betrachtungen über einige durch die Zeitumstände besonders wichtig gewordene Gegenstände der Civilgesetzgebung und Staatswirthschaft. Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1840. S. 46.  Johann Baptist Schad: Gemeinfaßliche Darstellung des Fichteschen Systems und der daraus hervorgehenden Religionstheorie. Bd. 3. Erfurt: Henningsche Buchhandlung, 1802. S. 445.  Wilhelm Hoffmann: Vollständigstes Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. 2. Leipzig: Verlag der Dürr’schen Buchhandlung, 1854. S. 108.  Vgl. Witte, S. 23 – 25.

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ist er ein Repräsentant Amerikas, verteufelt als profitgieriger Emporkömmling, wird er zur Inkarnation ,jüdischen Wesens‘. So vielgestaltig die Codierungen des Selfmademans auch sein mögen und so unterschiedlich sich seine verfahrenstechnischen Realisierungen gestalten, so konstant bleiben die Erzählbausteine der jeweiligen Texte. Durch das selfmadeNarrativ werden sie auf dasselbe telos und dieselben Handlungselemente abgestimmt. Die anfängliche Mittellosigkeit eines männlichen Protagonisten, der in der Regel als Waise präsentiert wird, wird durch ökonomische Tätigkeit gezielt überwunden. Dieses Erzählmuster kann auf verschiedene Weisen entfaltet werden.Während es in den Romanen von Zolling und Stratz retrospektiv eingebunden und erzählerisch vermittelt wird, bildet es in Romanen wie Hanns von Zobeltitz’ Arbeit (1904) und Johannes Schlafs Aufstieg (1911) das organisierende und strukturbildende Narrationsmuster. Über das selfmade-Narrativ lässt sich also eine „Gruppe ähnlich konstituierter Texte“⁹⁰ beschreiben, womit eine Grunddefinition der Ordnungskategorie ,Gattung‘ zum Tragen kommt. Da die Ähnlichkeit, die sich bestimmen lässt, vom Figurentypus des Selfmademans und dessen Erzählkonstituens, dem Aufstiegssujet, herrührt, bietet sich zur Bezeichnung dieser Textgruppe der Begriff ,Aufstiegsroman‘ an. Die entsprechenden Texte lassen sich also nicht nur über den übergeordneten Gattungsbegriff ,Roman‘ beschreiben, sondern über die Subgattungsbezeichnung ,Aufstiegsroman‘. Für diese lässt sich dieselbe Begriffsbestimmung anführen, die Wilhelm Voßkamp für das Konzept ,Gattung‘ aufgestellt hat. Unter Gattungen versteht Voßkamp im Anschluss an Luhmann „literarisch-soziale Institutionen“ und „Konsensbildungen“, die durch eine komplexitätsreduzierende Selektionsstruktur charakterisiert werden und als „geschichtliche Bedürfnissynthesen“ bestimmte Problemkomplexe artikulieren.⁹¹ Problemlösungsfunktionen dieser Art werden in Romanen, die sich der Subgattung ,Aufstiegsroman‘ zuordnen lassen, über die spezifische Anlage ihrer Handlungsträger, den fiktiven Selfmademen, und deren narrative Grundstruktur erzielt. Je nach historisch spezifischer Problemlage ermöglicht es das selfmade-Sujet, den Hiatus von Poesie und Prosa zu überwinden, Auswege aus der vielbeklagten Dekadenz zu imaginieren und die Umbruchsprozesse der technisch-ökonomischen Moderne zu verhandeln. Die Transformationen, die der Aufstiegsroman im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert durchläuft, entsprechen also den Transforma Klaus Hempfer: Gattungstheorie. München: Fink, 1973. S. 17.  Vgl. Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozialund funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Hinck, Walter: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Heidelberg: Quelle & Meyer, 1977. S. 27– 44.

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tionen seines Handlungsträgers. Figuren- und Gattungsgeschichte sind insofern unmittelbar aufeinander bezogen, was eine jüngst aufgestellte Beobachtung Dirk Göttsches bestätigt: Göttsche zufolge haben Figuren und die mit ihnen verbundenen „Konfigurationsformen“ seit dem achtzehnten Jahrhundert eine entscheidende Bedeutung für die Geschichte des Romans gewonnen.⁹² Was Göttsche für Subgattungen wie den Schelmenroman, Räuberroman und Angestelltenroman konstatiert, lässt sich auf den Aufstiegsroman übertragen: Die Subgattung wird strukturell und propositional bestimmt durch die narrative Konkretisationsform und die semantisch-diskursiven Verweisungslinien ihres typisierten Handlungsträgers. In ihrer Vorgehensweise versucht die vorliegende Arbeit folglich auch, vorzuführen, wie eine bisher noch ausstehende „systematische gattungstheoretische Erschließung von Figurentypen und Konfigurationsformen“⁹³ aussehen könnte.⁹⁴

3 Forschungsstand, Aufbau der Arbeit und Vorgehensweisen Mit der Zentrierung um den Selfmademan widmet sich diese Arbeit einem Figurentypus, dessen Funktionen und Bedeutungen für die deutschsprachige Literaturgeschichte bisher unerschlossen sind. Dass der Figurentypus im deutschsprachigen Kulturraum überhaupt präsent ist, hat einzig Thorsten Unger in einem Kapitel seiner Habilitationsschrift Diskontinuitäten im Erwerbsleben (2004) angemerkt.⁹⁵ Die Ausführungen, die sich methodisch im Bereich der komparatisti Dirk Göttsche: Figural als Bestimmungskriterium. In: Zymner, Rüdiger (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart: Metzler, 2010. S. 31 f.  Göttsche: Figural als Bestimmungskriterium, S. 32.  Dass die Arbeit trotz der Inbezugsetzung von figurenanalytischer und gattungsgeschichtlicher Beschreibungsebene den Figurentypus ins Zentrum rückt, hängt mit folgender Beobachtung zusammen: Eine (sub‐)gattungsdifferenzierende Funktion kann dem Selfmademan nur dann zugeschrieben werden, wenn das ihm zugrunde liegende Erzählmuster als handlungs- und strukturbildende Ereigniskette entfaltet wird, wie es etwa in Zobeltitz’ Arbeit und Schlafs Aufstieg der Fall ist. Nun ist allerdings seit der Jahrhundertmitte eine Reihe von Romanen erschienen, in denen die Imaginationsgeschichte des Selfmademans neue Akzente erfährt, ohne dass dem Figurentypus eine strukturbildende Funktion zukommt. Fanny Lewalds Von Geschlecht zu Geschlecht (1864– 1866) beispielsweise lässt eine spezifische temporale Reflexionsfunktion des Figurentypus sichtbar werden, obgleich dessen Narrationsmuster nur einen Teil innerhalb des Erzählgefüges bestimmt. In diesem Fall muss die Figurenanalyse von einer Gattungsgeschichte entkoppelt werden.  Vgl. Thorsten Unger: Diskontinuitäten im Erwerbsleben. Vergleichende Untersuchungen zu Arbeit und Erwerbslosigkeit in der Literatur der Weimarer Republik. Tübingen: Niemeyer, 2004. S. 115 – 181.

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schen Imagologie verorten, stellen den Selfmademan als Teil eines auf Amerika hin ausgerichteten Arbeitsdiskurses der Weimarer Republik heraus. Wie Unger demonstriert, fundamentiert der Selfmademan als „kulturelle[s] Schlüsselkonzept“ nicht nur amerikanische Selbstbeschreibungen, sondern er ist ebenso Teil des europäischen Fremdverstehens.⁹⁶ Die vorliegende Arbeit schließt an diese Beobachtung an, wenn es darum geht, nationale Codierungen des Selfmademans nachzuzeichnen. Abgesehen davon sind die Anschlussmöglichkeiten begrenzt. Unger geht es nicht um die literarische Diskursgeschichte des Selfmademans, sondern um eine systematische Analyse der Darstellungen von Arbeit und Erwerbslosigkeit in der Literatur der Weimarer Republik, die Unger unter anderem über sozial- und medienhistorische sowie sozialpsychologische Zugänge erschließt. Auch die einschlägige Studie Les transclasses ou la non-reproduction (2014) von Chantal Jaquet bietet nur begrenzte Anschlussmöglichkeiten für den vorliegenden Untersuchungskontext. Zwar führt Jaquets soziologische und philosophische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Aufstiegs durch eine Reihe von literarischen Texten – von Stendhals Le Rouge et le Noir über Jack Londons Martin Eden bis hin zu Annie Ernaux’ La place –, doch enthält die Studie keinerlei Aufschlüsse über die Präsenz des Selfmademans im deutschsprachigen Raum, von seinen (literar‐)historischen Konstitutionsbedingungen ganz zu schweigen.⁹⁷ Im Anschluss an Jaquet hat sich in jüngster Zeit Eva Blome mit dem für den Selfmademan konstitutiven Thema der Aufstiegsmobilität auseinandergesetzt. Blomes Aufsatz behandelt indes keine Romane des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, sondern aktuelle „Autosoziobiografien“ (Annie Er-

 Vgl. Unger: Diskontinuitäten im Erwerbsleben, S. 118.  Überhaupt lässt sich die soziologische Perspektivierung des ,Klassenübergängers‘ nur schwerlich auf die deutschsprachigen Imaginationslinien des Selfmademans beziehen. Freilich durchkreuzt auch der Typus des Selfmademans Reproduktionslogiken und soziale Grenzen, doch beweist er dabei weniger ein soziales oder habituelles Anpassungsvermögen als Eigenschaften wie Arbeitselan, Beharrlichkeit und Kraft. Das von Jaquet betonte Charakteristikum des Klassenübergängers, einen Sprung zwischen gegensätzlichen Milieus bewältigen zu müssen, nimmt in der deutschsprachigen Imaginationsgeschichte des Selfmademans eine eher marginale Stellung ein. Im Fokus der entsprechenden Romane stehen weniger die „fluctuatio animi“ (Jaquet, S. 156) des Klassenübergängers und seine ambivalente ,Transidentität‘ als seine Konvergenz mit zeitgenössisch zirkulierenden – und modernediagnostisch angelegten – Subjektivationsmodellen: seine bürgerliche Sozialisation, seine voluntaristisch-energetischen Anlagen und sein Profil als unternehmerischer Wirtschaftsmensch. Soziologisch relevante Phänomene wie Habitusassimilation und soziale Deplatziertheit scheinen – wenn man von einigen Ausnahmen absieht – in der deutschsprachigen Erzählliteratur primär im Typus des Parvenüs verhandelt zu werden und auf eine erzählerische Unterscheidung von Parvenü und Selfmademan hinauszulaufen.

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naux), in denen aus einer sozialen und geografischen Rückkehrperspektive individuelle Aufstiegserfahrungen verhandelt und auf gesellschaftliche Problemlagen bezogen werden.⁹⁸ Wie die Genealogie des Selfmademans ist die Geschichte des Aufstiegsromans bislang gänzlich unerforscht. Lediglich einzelne Aspekte dieser Geschichte sind bisher implizit erschlossen worden. So untersucht Anja Kischel unter Rückbezug auf Pierre Bourdieus Theorie der sozialen Ungleichheit die Darstellung sozialer Mobilität in den Gesellschaftsromanen Theodor Fontanes, während Gunhild Kübler in ihrer feministisch-literaturwissenschaftlich ausgerichteten Monographie Die soziale Aufsteigerin (1982) geschlechtscodierte Normsetzungen in den Blick nimmt, die sich mit dem Narrationsmuster des Aufstiegs verbinden.⁹⁹ Untersucht werden deutsche Romane, die im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts erschienen sind und anhand derer Kübler die „Wandlungen einer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung“ erkundet.¹⁰⁰ Da der Aufstiegsroman – wie noch zu zeigen ist – um 1900 immer auch das Wirken moderner Unternehmer¹⁰¹ schildert, überschneidet er sich in weiten Teilen mit dem Unternehmerroman, dessen Erzählinhalte und -funktionen Hans-Werner Niemann ausführlich und systematisch erschlossen hat.¹⁰² Niemann selbst weist darauf hin, dass Autoren, die dem industriellen Unternehmertum positiv gegenüberstehen, ihre fiktiven Unternehmerfiguren als Selfmademen schildern: Immer wieder werde die anfängliche Mittellosigkeit der Protagonisten betont, die sich „durch eigenen Fleiß emporarbeiten“ müssen.¹⁰³ An den literarischen Implikationen dieses selfmade-Narrativs, seiner subgattungsbildenden Funktion und seinen diskursgeschichtlichen Kontextualisierbarkeiten ist Niemann jedoch nicht interessiert. Eine größere Bedeutung kommt dem selfmade-Narrativ in einer Studie von Peter Alheit und Frank Schömer zu, die sich autobiographischen Aufstiegserzählungen von der Epochenschwelle 1800 bis zur Gegenwart widmet und dabei

 Vgl. Eva Blome: Rückkehr zur Herkunft. Autosoziobiografien erzählen von der Klassengesellschaft. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94 (2020), S. 541– 571.  Vgl. Anja Kischel: Soziale Mobilität in Theodor Fontanes Gesellschaftsromanen. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2009; vgl. Gunhild Kübler: Die soziale Aufsteigerin: Wandlungen einer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung im deutschen Roman 1870 – 1900. Bonn: Bouvier, 1982.  So der Untertitel von Küblers Monographie.  Da unternehmerisches Handeln in den entsprechenden Romanen ausschließlich männlich besetzt ist, wäre eine geschlechtergerechte Sprache in diesem Zusammenhang fehlleitend.  Vgl. Hans-Werner Niemann: Das Bild des industriellen Unternehmers in deutschen Romanen der Jahre 1890 bis 1945. Berlin: Colloquium-Verlag, 1982.  Niemann, S. 301. Vgl. auch das Kapitel „Die soziale Herkunft der dargestellten Unternehmer im Vergleich zur historischen Realität des Unternehmertums“ in Niemann, S. 98 – 104.

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den Aufsteiger als „Prototypus der Moderne“¹⁰⁴ auffasst. Im Aufsteiger, der die Gestaltbarkeit der Zukunft durch die eigene Leistung vor Augen führe, verdichte sich ein „subtiler Traum der Moderne“¹⁰⁵. Auch Alheit und Schömer geht es indes nicht um literarische Implikationen der Aufstiegsnarration, sondern um deren autobiographische Diskursivierungen, wobei über weite Strecken auch Schlüsse über realhistorische Verhältnisse gezogen werden. Studien, die sich ausschließlich auf den Typus des Selfmademans in der deutschsprachigen Literatur fokussieren oder sich dem Aufstiegsroman als historischer Subgattung widmen, gibt es bislang nicht. Gleichwohl kann die vorliegende Arbeit in mehreren Zusammenhängen an vorgängige Studien anschließen. Wie sich zeigen wird, führt die literarische Genealogie des Selfmademans zu Themen und Aspekten, die in jüngerer Zeit in unterschiedlichen Forschungskontexten in das Blickfeld literaturwissenschaftlicher Untersuchungen gerückt sind. Das Spektrum reicht von literarischen Zeitkonzeptualisierungen über realistische Normalisierungsästhetiken bis hin zu naturalistischen Metacodierungen. Auf die für diese Arbeit relevanten Thesen und Befunde wird an den entsprechenden Stellen Bezug genommen. Um die Imaginationsgeschichte des Selfmademans zu erschließen, geht die Arbeit in mehreren Schritten vor. Zunächst wird versucht, die Kontexte und Erzähldeterminanten herauszustellen, die die Diskursivierungen des Selfmademans im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert bestimmen. Ausgangspunkt in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung, dass es bei allen Divergenzen und Transformationen einige konstant bleibende Erzählzusammenhänge gibt, die in den jeweiligen Texten in stets unterschiedlicher Akzentsetzung zutage treten und für eine Kontextualisierung des Selfmademans im Modernediskurs des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts unerlässlich sind: kraftemphatische Ermächtigungsgedanken, selbstreferenzielle Männlichkeitsmodelle und zukunftsund zäsurzentrierte Gegenwartsvorstellungen. Auch wenn sich im Zeitraum von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert die Perspektivierungen von Kraft, Männlichkeit und Zeit verändern, bleibt ihre Funktion als Leitkategorien des selfmade-Narrativs bestehen. Für das Erzählsystem von Freytags Soll und Haben etwa ist die Differenzsetzung von Zukunftsorientierung und Vergangenheitsbezug ebenso signifikant wie für die Aufstiegsromane der Jahrhundertwende, die diese Dichotomie jedoch unter veränderten Vorzeichen

 Peter Alheit und Frank Schömer: Der Aufsteiger: Autobiographische Zeugnisse zu einem Prototypen der Moderne von 1800 bis heute. Frankfurt a. M.: Campus, 2009. S. 10.  Alheit und Schömer, S. 11.

3 Forschungsstand, Aufbau der Arbeit und Vorgehensweisen

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perspektivieren. Das erste Kapitel dieser Arbeit legt entsprechend den Grundstein für eine diskursgeschichtlich orientierte Erschließung des Selfmademans im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, da es darzulegen sucht, welche grundlegenden Erzählkerne und Aussagen in diesem Zeitraum mit ihm verbunden sind und in welchen diskursiven Kontexten er textübergreifend steht. Zu dieser allgemeinen und kontextualisierenden Annäherung an den Selfmademan als literarisches Phänomen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gehört auch eine Erkundung von gattungsspezifischen und interdiskursiven Bezugslinien, die in Kapitel 2 und 3 herausgestellt werden sollen. Ein Darstellung der Resonanzeffekte zwischen Erzählliteratur, Ratgeberliteratur, Unternehmertheorie und Sammelbiographie soll die diskursiven Orte aufzeigen, an denen das Sprechen über den Selfmademan im untersuchten Zeitraum stattfindet, während ein anschließender Vergleich zwischen Bildungs- und Aufstiegsroman auf eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung zielt. Nachdem auf diese Weise allgemeine Zusammenhänge, Konstellationen und Kontexte umrissen worden sind, werden in einem zweiten Schritt exemplarische Realisierungen des selfmade-Narrativs und dessen historisch variable Diskursivierungsformen untersucht. Der Schwerpunkt verschiebt sich folglich vom Allgemeinen zum Besonderen, oder, mit Koschorke gesagt, vom generalisierten selfmade-Narrativ zur „Vielfalt individueller Geschichten (im Sinn von stories)“¹⁰⁶. Anhand ausgewählter Romane und Erzählungen wird die literarische Imaginations- und Verfahrensgeschichte des Selfmademans von seiner Konturierung im Realismus über seine Neudefinitionen im Naturalismus und um 1900 bis hin zu seiner ideologischen Instrumentierung zur Zeit des Ersten Weltkriegs erkundet. Ein Ausblick umreißt das Fortleben der Figur in den 1920er und 1930er Jahren, wenn der neusachliche ,Roman der Neuen Frau‘ etablierte Erzähldeterminanten des selfmade-Sujets umkehrt und zugleich eine zunehmende Epigonalisierung das Ende seiner literarischen Blütezeit verlautbart. Die Arbeit gliedert sich folglich in zwei komplementäre Teile, die in ihrem Zusammenspiel sowohl die Konstanten als auch die Transformationen des Figurentypus sichtbar machen sollen. Während der erste, konfigurativ gegliederte Teil ausgehend von den Kategorien der Kraft, Männlichkeit und Zeitlichkeit die kontextuellen und konstellativen Zusammenhänge skizziert, in denen der Selfmademan im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert steht, nimmt der chronologisch gegliederte zweite Teil konkrete Ausgestaltungen des Figurentypus in den Blick. Die im ersten Teil aufgezeigten Erzähldeterminanten werden dabei auf ihre sich verändernden Darstellungsformen und Codierungen befragt. Ziel ist

 Koschorke: Wahrheit und Erfindung, S. 30.

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Einleitung

die Erkundung textspezifischer Strukturen, Verfahrensweisen und Erzählgehalte, die sich in Bezug zur Manifestation des selfmade-Sujets setzen lassen. Neben den allgemeinen und konstant bleibenden Leitlinien sollen daher im zweiten Teil auch die Idiosynkrasien einzelner Texte sowie Transformationen und Diskontinuitäten in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans hervortreten. Die Perspektive des ersten Teils wird folglich im zweiten Teil um zwei Dimensionen ergänzt: Zum einen tritt eine diachrone Ausrichtung hinzu, zum anderen eine verstärkt verfahrensorientierte Beschreibungsebene. Es werden spezifische literarische Varianten des selfmade-Sujets untersucht, wobei die Analysen stets diejenige Gestaltungsdimension fokussieren, über die sich das transformierende Potenzial des jeweiligen Textes bestimmen lässt. Ein solches Potenzial wird einem Text dann zugeschrieben, wenn seine Diskursivierungsform des Selfmademans einen Bruch mit etablierten Erzählmustern erkennbar werden lässt – einen Bruch, der gegebenenfalls in einer Auskonturierung neuer Muster einmündet. Dies ist etwa in poetologisch lesbaren und zumeist vielbeforschten Erzählungen des Bürgerlichen Realismus der Fall, die über den Typus des Selfmademans die Möglichkeiten und Grenzen des Verklärungsprogramms reflektieren, aber auch in nichtkanonisierten Romanen der 1870er und 1880er Jahre, in denen das Implikationspotenzial des Selfmademans vornehmlich auf einer semantischen Ebene zutage tritt. Wenn etwa Wilhelmine von Hillerns Roman Aus eigener Kraft (1870) das selfmade-Sujet über Figuren ausagiert, denen eine körperliche Behinderung oder ein Schwarz-Sein zugeschrieben wird, so bricht er mit den Ausschlusslogiken und normativen Normalisierungsmechanismen seiner Zeit. Die Orientierung am transformierenden Potenzial des Selfmademans erklärt nicht nur das selektive Analyseverfahren des zweiten Teils, das die jeweiligen Texte stets auf ausgewählte Funktionen und Verfahrensweisen hin befragt. Es fundamentiert zugleich die Auswahl des Textkorpus. Analysiert werden Texte,von denen ausgehend sich die literarische Implikationskraft der Figur aufzeigen lässt und Brüche in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans ersichtlich werden. Anvisiert wird folglich weniger eine erschöpfende Analyse der ausgewählten Texte und Textebenen als die Beantwortung zweier Fragen: 1) Welche Impulse liefert der jeweilige Text für die literarische Diskursgeschichte des Selfmademans? 2) Welche textuellen Dynamiken, Funktionen, Elemente und Verfahrensweisen, die zuvor noch nicht zum Ausdruck gekommen sind, entstehen durch die jeweilige Konstruktion der Figur? In Bezug auf das verändernde Potenzial des Selfmademans ergeben sich vielfältige Möglichkeiten. Nicht nur die Gestaltungsformen und Funktionen des Figurentypus durchlaufen im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert grundlegende Transformationen. Auch die nationalen Codierungen des Selfmademans verändern

3 Forschungsstand, Aufbau der Arbeit und Vorgehensweisen

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sich. Die Erzähltradition des neunzehnten Jahrhunderts, die den ,Mann eigner Kraft‘ als Inbegriff des bürgerlichen Tugendkanons inszeniert, wird um 1900 von einer neuen Deutungslinie flankiert: Der Selfmademan avanciert zu einer Projektionsfläche antiamerikanischer Beschreibungsschemata. Romane wie Bernhard Kellermanns Der Tunnel (1913), der einen Großteil der als modernetypisch geltenden Zeiterscheinungen auf einen amerikanischen Selfmademan projiziert, schalten sich im Modus fiktionalen Erzählens ein in die grassierenden Amerikanisierungsdebatten, die dazu dienen, „sich des eigenen Standpunkts innerhalb der Moderne zu vergewissern“¹⁰⁷. Diese identitätsstiftende Funktionsebene schlägt im frühen zwanzigsten Jahrhundert noch eine ganz andere Richtung ein. In Romanen der antimodernen Bewegung kehrt sich das Konnotationspotenzial um: Der ,Mann aus eigener Kraft‘ wird als Träger deutscher Nationaltugenden semantisiert und avanciert zum Protagonisten präfaschistischer Erzählungen. Die Heterogenität der Codierungen, die der Selfmademan nach sich zieht, verdeutlicht einmal mehr, welch breites Analysepotenzial der Figurentypus in sich birgt. Temporale Reflexionsebenen und Kraftsemantiken verankern ihn im grand récit ,Moderne‘, erzählerische Gestaltungsformen profilieren ihn als Medium der literarischen Programmbekundung, während nationale Codierungen ihn zu einer Schlüsselfigur im nationalidentitären Diskursfeld der Zeit machen. Um das Analysepotenzial des Figurentypus in seiner Fülle ausloten zu können, ist auf methodischer Ebene eine Tendenz zum Eklektizismus unvermeidbar. Je mehr Perspektiven hinzugezogen werden, desto mehr Dimensionen des Figurentypus treten zutage, und desto tiefgründiger erschließt sich sein Stellenwert in der deutschsprachigen Erzählliteratur. Die damit verbundene Heterogenität und eklektizistische Tendenz schließt jedoch die Möglichkeit einer methodisch reflektierten Textarbeit nicht aus.¹⁰⁸ Konkret lässt sich die hier gewählte Herangehensweise wie folgt beschreiben: Den methodischen Angelpunkt bildet eine Einzeltextanalyse, die sich als genealogisch verfahrende Figurenanalyse versteht. Genealogisch verfährt die Arbeit insofern, als sie die Historizität des untersuchten Gegenstands in den Vordergrund stellt und gegenüber einer genetischen Herangehensweise die Diskontinuitäten und Brüche fokussiert.¹⁰⁹ Dass es die Genealogie des Selfmademans ist, die analytisch erkundet wird, schließt die Arbeit an das Feld der

 Philipp Gassert: Amerika im Dritten Reich: Ideologie, Propaganda und Volksmeinung, 1933 – 1945. Stuttgart: Steiner, 1997. S. 12 f.  Darauf weist auch Stefan Voß in seiner jüngst erschienenen Studie hin. Vgl. Voß, S. 33.  Vgl. die Aussage von Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow: „Genealogy seeks out discontinuities where others found continuous development. It finds recurrences and play where others found progress and seriousness.“ Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow: Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics. Chicago University Press, 1983. S. 106.

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Einleitung

Figurenforschung an, das verschiedene methodische und theoretische Zugriffe erlaubt. Geht man mit Greimas davon aus, dass die literarische Sinngenese nicht unmittelbar aus der Selektion und Kombination sprachlicher Einheiten resultiert, sondern über die Transkription jener Einheiten in narrative Strukturen verläuft,¹¹⁰ so lässt sich der literarischen Figur eine Schlüsselrolle in Bezug auf die intratextuelle Bedeutungskonstitution zuweisen. Nach dieser Auffassung dienen literarische Figuren als „Agenten eines semantischen Grundinventars, das durch metonymische Reihenbildung von der paradigmatischen Tiefenstruktur auf die syntagmatische Oberfläche verstreut wird.“¹¹¹ Im Rahmen der syntagmatischen Erzähloberfläche fungieren Figuren als „Träger der semantischen Einheiten, indem sie sie in Handlungen transformieren und die Kasuistik ihrer möglichen Konstellationen ausagieren.“¹¹² Es wird in dieser Studie folglich eine an strukturalistische Prämissen anschließende Vorgehensweise gewählt, die sich der Figur als Textphänomen nähert.¹¹³ Die Figur wird dabei auf zwei verschiedene Weisen hin konzeptualisierbar. Im Hinblick auf die semantische Struktur eines Textes lässt sich die Figur als konstitutives Element desselben bestimmen und wird damit beschreibbar als funktional bestimmbarer Teil eines relational strukturierten Zusammenhangs. Rückt die Art und Weise der Figurenkonstruktion in den Vordergrund, so erscheinen die Figuren selbst als „Systeme, die durch eine bestimmte Menge sprachlicher Elemente und deren Relationen konstituiert werden.“¹¹⁴

 „[D]ie Generierung der Bedeutung nimmt zunächst nicht ihren Weg über die Produktion von Aussagen und ihre Kombination zu einem Diskurs; sie wird bei ihrem Durchlauf auf narrative Strukturen umgeschaltet, und gerade diese bringen den sinntragenden, in Aussagen artikulierten Diskurs hervor“, heißt es bei Greimas. Vgl. Algirdas Julien Greimas: Elemente einer narrativen Grammatik. In: Blumensath, Heinz (Hrsg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1972. S. 47– 67, hier S. 48. Hervorhebung im Original.  Ralf Simon: Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur. Überlegungen zu Max Kommerell. In: Birus, Hendrik (Hrsg.): Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1995. S. 72– 91, hier S. 77.  Simon: Die Reflexion der Weltliteratur in der Nationalliteratur, S. 77.  Die Studie schlägt damit eine andere Richtung ein als die rezeptions- und kognitionswissenschaftlich ausgerichteten Ansätze, die die Figurenforschung seit den 2000er Jahren dominieren. Kognitionswissenschaftlich inspirierte Figurentheorien, wie sie Ralf Schneider: Grundriss zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen: Stauffenburg, 2000 und Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin: de Gruyter, 2004 entworfen haben, verschieben den Blickwinkel von der Text- zur Rezeptionsebene und erweisen sich damit für die in dieser Studie angestrebte diachrone und synchrone Erschließung von Verfahrensweisen und Kontexten, in denen der Figurentypus des Selfmademans verankert ist, als wenig anschlussfähig.  Michael Titzmann: Strukturale Textanalyse. München: Fink, 1977. S. 41.

3 Forschungsstand, Aufbau der Arbeit und Vorgehensweisen

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Eine solche Sichtweise, die die sprachliche Konstruktivität der literarischen Figur in den Vordergrund stellt, macht das strukturalistische Figurenverständnis anschlussfähig für Perspektiven aus den Bereichen der Diskursanalyse und der Text-Kontext-Analyse. Produktiv zusammenführen lassen sich beide Perspektiven über einen Ansatz, den Susanne Bernhardt vorgeschlagen hat. Bernhardt zufolge bildet die literarische Figur eine Schnittstelle zwischen „real world frames“ und „literary frames“: Die Figur nehme „auf textexternes Wissen Bezug […], indem sie es textintern, durch literarische Verfahren, aufbereitet“¹¹⁵. Ausgehend von dieser Synthese strukturalistischer und diskursanalytischer Prämissen ergibt sich die methodische Anlage der vorliegenden Arbeit: Neben den historisch-diskursiven Bedingungen, unter denen die Konturierung des Selfmademans erfolgt, werden die an die Figur gekoppelten Verfahren intratextueller Sinnkonstitution in den Blick genommen. Der Selfmademan wird dabei als Imaginationsprodukt aufgefasst, das diskursiv durch spezifische Kategorien und Wissensbestände imprägniert wird, historischen Veränderungen unterworfen ist und damit einhergehend auch verfahrenstechnische Transformationen durchläuft. Aus der anvisierten Allianz von strukturalen und diskursanalytischen Zugriffen erklärt sich, warum die Arbeit methodisch bei der Einzeltextanalyse ansetzen muss. Wie Stefan Voß herausgestellt hat, kann eine an strukturalistischen Prämissen orientierte Erschließung textspezifischer Erzählstrukturen und Verfahrensweisen Textbefunde liefern, auf deren Grundlage eine Beobachtung diskursiver Strukturen allererst möglich wird.¹¹⁶ Eine strukturalistische „Ersterkundung“¹¹⁷ literarischer Texte bildet Voß zufolge das Fundament kontextorientierter und diskursanalytischer Zugriffe: Historische, kulturelle und diskursive Imprägniertheiten, die beide Perspektiven unterstellen, werden erst über eine Materialbeobachtung beschreibbar.¹¹⁸ Auch diskurs- und kontextorientierte Zugänge können sich somit einer strukturalistischen Hermeneutik verpflichten, wodurch eine methodisch reflektierte Engführung von rekonstruktiv-strukturalistischen und genealogischen Betrachtungsweisen möglich wird.

 Susanne Bernhardt: Figur im Vollzug. Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses. Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 2016. S. 26.  Vgl. Voß, S. 37 f.  Voß, S. 39.  Vgl. Voß, S. 39.

Erster Teil: Erzählkonstanten, Kontexte und Relationen

1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten Der 1890 erschienene Ratgeber Der Weg zum Erfolg durch eigene Kraft von Hugo Schramm-Macdonald beginnt mit einer Verheißung: Ein Leben in Armut und Entbehrungen sei die beste Voraussetzung, um zukünftigen Erfolg zu erringen. Wer bei allen Herausforderungen des Lebens Arbeitsamkeit und Disziplin beweist, dem sei eine Verbesserung anfänglicher Lebensumstände gewiss: Zahlreich sogar sind die Fälle, in denen Menschen mittels ihres entsagungsvollen Fleißes, ihrer Thatkraft und Gesinnungstüchtigkeit aus tiefer Armut zu Glanz und Reichtum wie zu den höchsten und einflußreichsten Stellungen emporgestiegen sind und damit zugleich den größten Ehrennamen: den von Wohlthätern der Menschheit sich verdient haben, und scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten und Hindernisse haben sie auf ihrem Wege nicht aufzuhalten vermocht; vielmehr haben gerade oft genug diese Schwierigkeiten und Hindernisse sie am meisten und am besten vorwärts gebracht, insofern sie ihre ganze Kraft und Ausdauer herausforderten, ihren Charakter stählten und Fähigkeiten erst in ihnen weckten, die sonst vielleicht fortgeschlummert hätten.¹

Zum Beleg führt der Ratgeber ein Panorama exemplarischer Einzelschicksale vor, das zeitlich in der Antike ansetzt und bis in die zeitgenössische Gegenwart hineinreicht. Das Spektrum reicht von Äsop, der in seiner Jugend Sklave gewesen sei, über Plautus, der seinen Lebensunterhalt zeitweise durch Sklavendienste in einer Mühle verdient habe, bis hin zu Schiller, der als Abkömmling einer Bäckerfamilie etikettiert wird,² und schließt den Kanon der amerikanischen Selfmademen mit ein ‒ James Garfield beispielsweise wird als „,selbstgemachter‘ Mann im vollsten Sinne des Wortes“³ tituliert. In dieselbe Reihe werden neben Jung-Stilling, der sich „vom Schneiderlehrling zum Schriftsteller mühsam emporgearbeitet“⁴ habe, Kant und Kepler gestellt – ersterer als Sohn eines Sattlers, letzterer als Sohn eines Schankwirts.⁵ Die bahnbrechende Wirkungskraft der eigenen Kraft, die Schramm-Macdonald anhand realhistorischer Persönlichkeiten zu belegen sucht, wird kurz nach der Jahrhundertwende in einem Roman von Hanns von Zobeltitz fiktional ver-

 Hugo Schramm-Macdonald: Der Weg zum Erfolg durch eigene Kraft. Heidelberg: Georg Weiß, 1890. S. 23.  Vgl. Schramm-Macdonald, S. 26 – 28.  Schramm-Macdonald, S. 48.  Schramm-Macdonald, S. 35.  Schramm-Macdonald, S. 42 f. https://doi.org/10.1515/9783110766134-003

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

handelt. Der 1904 erschienene Roman Arbeit schildert den Aufstiegsweg eines Protagonisten, der an einer Stelle explizit als „Selfmademan“⁶ bezeichnet wird. Friedrich Haltern verliert zu Erzählbeginn seinen Vater, wird nun der Alleinversorger seiner mittellosen Familie, durchlebt eine Phase der Arbeit und Entbehrungen, bringt das von ihm gegründete Technikunternehmen zum Florieren, bis es eines der erfolgreichsten Unternehmen des Landes ist, gewinnt immer mehr finanzielle und soziale Macht und wird schließlich Millionär. Es ist der typische Weg des Selfmademans, wie ihn amerikanische success stories immer wieder durchgespielt haben.⁷ In welchen Konstellationen und Zusammenhängen das selfmade-Narrativ im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert in Deutschland seine Wirkungskraft entfaltet, bildet die Ausgangsfrage der folgenden Ausführungen. Das Ziel dieses Kapitels besteht darin, der für den zweiten Teil angedachten Erschließung literarischer Implikationen, die mit der Darstellung des Selfmademans verbunden sind, eine Klärung grundlegender Fragen vorausgehen zu lassen. Dazu zählt auch und vor allem die Frage, in welchen Bezugskontexten das selfmadeNarrativ verankert ist, wozu auch geklärt werden muss, welche Züge den Figurentypus überhaupt kennzeichnen. Zwar sind die Konnotations- und Funktionsbesetzungen von Text zu Text verschieden, doch lassen sich einige sich gegenseitig bedingende Verweisungslinien herausstellen, die die Figur textübergreifend bestimmen. Ausgehend von diesen eng miteinander verschränkten Verweisungslinien lassen sich auch die konstellativen Umstände skizzieren, unter denen sich der Typus des Selfmademans herausbildet. Wie sich zeigen wird, ist die  Hanns von Zobeltitz [1904]: Arbeit. Roman aus dem Leben eines deutschen Großindustriellen. Jena: Hermann Costenoble, 1921. S. 167.  In der amerikanischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts ist das selfmade-Narrativ fast durchgehend präsent, sei es in Form von empowernden Beispielerzählungen oder ernüchternden Desillusionsgeschichten. Es findet sich etwa in Nathaniel Hawthornes 1832 erschienener Kurzgeschichte My Kinsman, Major Molineux, die das Erfolgsethos Benjamin Franklins konterkariert, in dem 1885 erschienenen Roman The Rise of Silas Lapham von William Dean Howells, der den Fall des Selfmademans mit einer Wiederinstandsetzung moralischer Werte zusammenführt, und in Stephen Cranes Kurzgeschichte A Self-made Man (1899), die im satirischen Bezug auf Horatio Alger den Gedanken der Gestaltbarkeit karikiert. Vgl. Nathaniel Hawthorne: My Kinsman, Major Molineux. In: Charvat, William et al. (Hrsg.): The Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne. Bd. XI: The Snow-Image and Uncollected Tales. Columbus: Ohio State University Press, 1974. S. 208 – 231; William Dean Howells: The Rise of Silas Lapham. New York: Random House, 1951; Stephen Crane: A Self-Made Man: An Example of Success that anyone can follow. In: Cornhill Magazine, 1899. S. 324– 329. Für einen Überblick über die amerikanischen Darstellungen des Selfmademans vgl. das Kapitel „Expressive Individualism and the Myth of the Self-Made Man“ in Heike Paul: The Myths that made America. An Introduction to American Studies. Bielefeld: transcript, 2014. S. 367– 420.

1.1 Selbstreferenz und Kraftmobilisierung

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Funktion der Figur als Reflexionsmedium von Zeit und Projektionsfläche von Subjektivationsnormen ein Ausdruck textsortenübergreifender Resonanzeffekte. Nachdem die Konstellationen und Zusammenhänge, in denen sich der Selfmademan in diesem Zeitraum bewegt, skizziert worden sind, soll in einem dritten Schritt ein Bogen gespannt werden vom Selfmademan als interdiskursivem Imaginationsprodukt zum Selfmademan als literarischem Strukturkonstituens. Was in diesem Zusammenhang beleuchtet und problematisiert werden soll, ist das (sub‐)gattungsdifferenzierende Potenzial der Figur, wobei der Fokus auf der Frage liegt, inwiefern und unter welchen Prämissen von der Subgattung ,Aufstiegsroman‘ die Rede sein kann.

1.1 Selbstreferenz und Kraftmobilisierung Ein zentraler Erzählkern des selfmade-Sujets lässt sich bereits von den phraseologisierten Semantiken ableiten, die mit dem Begriff ,Selfmademan‘ assoziiert sind. Lexikalische Begriffsbestimmungen, die sich vor allem seit den 1880er Jahren finden lassen, definieren den Selfmademan als Mann, der „durch eigene Tüchtigkeit etwas geworden [ist]“⁸, „durch eigene Kraft und Anstrengung von unten aufgestiegen ist“⁹, oder als einen „durch eigene Kraft emporgekommene[n] Mann“¹⁰. Konstitutiv für die Figur sind also vier Faktoren: eine männlich besetzte Aufstiegsnarration, eine meritokratische, meist energetisch fundierte Verweisungslinie, markiert durch Begriffe wie Leistung und Kraft, und eine selbstreferenzielle Rhetorik: Der Akzent liegt nicht nur auf der mobilisierten Kraft, sondern auf der mobilisierten eigenen Kraft, sodass es weniger die Differenz zwischen Kraft und Schwäche als die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und Fremden ist, die den Selfmademan bestimmt.¹¹

 O.V.: Neunter Jahres-Bericht der k.k. Ober-Realschule in Salzburg. Salzburg: Pustet, 1876. S. 91.  Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Bd. 14. Leipzig: Brockhaus, 1886. S. 682.  Brockhaus’ Konversations-Lexikon 1895. Bd. 14. Leipzig: Brockhaus, 1895. S. 840; vgl. auch Meyers Konversationslexikon. Bd. 14. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1889. S. 848.  Im amerikanischen Sprachraum wird diese Selbstreferenzialität noch weiter dimensioniert: Das ,self-making‘, das der Begriff ,Selfmademan‘ impliziert, erstreckt sich hier immer auch auf den männlichen Charakter, der sich selbst nach eigenen Wünschen, Projektionen und Ambitionen formt. Stärker als im deutschen Sprachraum, wo sich das ,self-making‘ primär auf ein errungenes Vermögen bezieht, ist das amerikanische ,self-making‘ folglich mit dem Vorstellungskomplex der ,self-culture‘ verknüpft, der wiederum eine Reihe von selbstreferenziell artikulierten Praktiken zusammenfasst. Michael Zakim konstatiert: „[…] Self-making became another of the great production projects of the age of capital, in fact, this one resting on an infrastructure of self-

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Dieselben selbstreferenziellen und kraftemphatischen Semantiken, eingelagert in Oben-unten-Metaphoriken und die daraus abgeleitete Erzählung vom sozialen Aufstieg, prägen seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Männlichkeitskonstruktionen literarischer Texte. Karl Mays frühe Abenteuererzählung Ein Self-man (1877/78) zum Beispiel lässt mit dem fiktionalisierten Abraham Lincoln einen prototypischen Autodidakten auftreten, der „sich durch Kampf, Arbeit und Noth emporringt zu einer besseren Stelle, als sie der Westen bietet“¹², und „nur durch sich selbst“¹³ zu einer erfolgreichen Persönlichkeit herangebildet wird. In der Zeit um 1900 findet sich das selbstreferenziell artikulierte Subjektbild in einer Vielzahl von Romanen und Erzählungen. In Elisabeth Werners Roman Die Alpenfee (1888) fasst der Protagonist den Entschluss, sich bei seinem Ingenieursprojekt nur auf „die eigene Kraft“¹⁴ zu verlassen. Den Protagonisten in Werners Roman Freie Bahn! (1893) erfüllt „das ganze Selbstbewußtsein des Mannes, der durch eigene Kraft und Arbeit emporgestiegen ist“¹⁵. Auch der Protagonist in Zobeltitz’ Arbeit (1904) ist, wie es seine Schwester am Ende rückblickend formuliert, „aus eigner Kraft ein reicher Mann geworden“¹⁶, der sein Unternehmen „aus eigener Kraft“¹⁷ begründet hat. In Max Freunds Roman Der Warenhauskönig (1912) deklariert der Protagonist gleich zu Erzählbeginn: „Aus kleinen Anfängen habe ich mich zu dieser Höhe emporgearbeitet. – Alles aus eigener Kraft.“¹⁸ In ihrer emphatischen Selbstreferenzialität verkörpern die Figuren, was Berthold Auerbach 1876 in seinem Vorwort zur Autobiographie Benjamin Franklins postuliert hat: „Aus eigener Kraft sein Leben auferbauen, das ist ein Ideal der neuen Zeit.“¹⁹

study, self-satisfaction, self-observation, self-esteem, self-respect, self-confidence, and self-acquaintance […].“ Michael Zakim: Accounting for Capitalism. The World the Clerk Made. Chicago/ London: University of Chicago Press, 2018. S. 86.  Karl May: Ein Self-man. Authentische Schilderungen nacherzählt von Emma Pollmer. In: Frohe Stunden. Unterhaltungsblätter für Jedermann. Sammlung der neuesten und besten Romane und Novellen unserer beliebtesten Schriftsteller der Gegenwart. Jg. 2, Nr. 25 – 28 (1877/78), S. 398 – 399, 414– 415, 430 – 431, 446 – 447, Zitat auf S. 399.  May, S. 430.  Elisabeth Werner: Die Alpenfee. In: Die Gartenlaube. Leipzig: Ernst Keil, 1888. S. 472.  Elisabeth Werner: Freie Bahn! In: Die Gartenlaube. Leipzig: Ernst Keil, 1893. S. 56.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 220.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 283.  Max Freund: Der Warenhauskönig. Barmen: Eos-Verlag, 1912. S. 7.  Berthold Auerbach [1876]: Vorwort. In: Benjamin Franklin: Sein Leben, von ihm selbst beschrieben. Mit einem Vorwort von Berthold Auerbach und einer historisch-politischen Einleitung von Friedrich Kapp. 2. unveränderte Auflage. Stuttgart: August Berthold Auerbach, 1877. S. 1– 8, hier S. 1.

1.1 Selbstreferenz und Kraftmobilisierung

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Nimmt man die selbstreferenzielle Rhetorik, die sich im Ideal des Aufstiegs ,aus eigener Kraft‘ manifestiert, näher in den Blick, so scheint der Modernitätsindex, den ihm Auerbach verleiht, fragwürdig. Schon die 1776 erschienene Erzählung Zerbin oder die neuere Philosophie von Jakob Michael Reinhold Lenz lässt einen bürgerlichen Kaufmannssohn in Erscheinung treten, der zu Erzählbeginn den Vorsatz fasst, „sich bloß durch seine eignen Kräfte emporzubringen“²⁰. Vom Typus des Selfmademans, wie ihn Romane des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts konstruieren, ist Zerbin allerdings in einer fundamentalen Hinsicht verschieden. Was wie eine Aufstiegsgeschichte beginnt, schlägt bei Lenz in eine (Sünden‐)Fallgeschichte um.²¹ In seiner konkupiszenten Triebhaftigkeit verstrickt sich Zerbin in Ereignisketten, die seine Autonomie und Unabhängigkeit untergraben und schließlich im Tod seiner Geliebten und seiner selbst münden. Ein solches Scheitern ist in den Gesetzen der Erzählwelten, in denen sich der Selfmademan bewegt, nicht vorgesehen. Der Typus des Selfmademans, wie ihn das späte neunzehnte und frühe zwanzigste Jahrhundert konstruieren, arbeitet unbeirrbar auf seinen Erfolg hin, dessen schlussendliches Eintreten ein Kausalitätsgesetz verkündet: Beharrliche Kraftmobilisierung zahlt sich am Ende aus. „Männer wie wir können bisweilen das Glück und den Zufall zwingen“²², postuliert die Figur Strousberg in Zobeltitz’ Arbeit. Das Eintreten und Ausbleiben des Erfolgs ist in diesem Sinne immer auf die eigene Person und deren Kräfteaktivierung zurückzuführen.²³ Zufälle und Kontingenzen kann es nach dieser Logik

 Jakob Michael Reinhold Lenz: Zerbin oder die neuere Philosophie. In: Deutsches Museum. Bd. I. Leipzig: Weygandsche Buchhandlung, 1776. S. 116 – 131 und S. 193 – 207, hier S. 118.  Vgl. dazu Johannes F. Lehmann: Leidenschaft und Sexualität: Materialistische Anthropologie im Sturm und Drang. J.R.M. Lenz’ Die Soldaten und Zerbin. In: Buschmeier, Matthias; Kauffmann, Kai (Hrsg.): Sturm und Drang. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013. S. 180 – 202.Vgl. auch das Kapitel „Semantik des Falls. Jakob Michael Reinhold Lenz’ Zerbin (1776)“ in Nicolas Pethes: Literarische Fallgeschichten. Zur Poetik einer epistemischen Schreibweise. Konstanz University Press, 2016. S. 37– 54; Johannes F. Lehmann: Was der Fall war: Zum Verhältnis von Fallgeschichte und Vorgeschichte am Beispiel von Lenz’ Erzählung Zerbin. In: Mülder-Bach, Inka; Ott, Michael (Hrsg.): Was der Fall ist. Casus und lapsus. Paderborn: Fink, 2014. S. 73 – 87 sowie Johannes F. Lehmann:Vom Fall des Menschen. Sexualität und Ästhetik bei J.M.R. Lenz und J.G. Herder. In: Bergengruen, Maximilian; Borgards, Roland; Lehmann, Johannes F. (Hrsg.): Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001. S. 15 – 36.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 167.  Das erfolgsideologische Kausalitätscredo, das sich hier abzeichnet, wird später vor allem durch die Ratgeberliteratur fortgeschrieben. Gustav Großmann beispielsweise entwirft in seinem 1927 erschienenen Ratgeber das Bild eines männlichen Subjekts, das zukünftige Erfolgserlebnisse systematisch und gezielt herbeiführt: „Wer sein Handeln, seine Arbeit systematisch organisiert, wessen Arbeit nichts anderes ist als eine planmäßige Vorbereitung, bei dem stellt sich der er-

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

nicht geben. Deutlich zeigt sich hier der Unterschied zwischen dem Typus des Selfmademans und dem Protagonisten aus Zerbin. Gestaltungsansprüche, wie sie Romane des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts vermitteln, werden bei Lenz – wie in anderen Erzählungen der Aufklärungszeit – mit Skepsis verhandelt. Zerbins Glaube an die Gestaltbarkeit des Lebens wird vonseiten der Erzählinstanz als Verblendung markiert und als Ausgangspunkt des Scheiterns dargestellt: Er hielt es den Menschen für unwürdig, den Umständen nachzugeben, und diese edle Gesinnung (ich kenne bei einem Neuling im Leben keine edlere) war die Quelle aller seiner nochmaligen Unglücksfälle.²⁴

Was Lenz’ Erzählung als fatale und naive hybris darstellt, zelebrieren die Romane des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts als positive Errungenschaft der ökonomischen Moderne: Die Wirtschaftssphäre erscheint als steuerbare Welt, deren Entwicklungen nicht als zufällige Begebenheiten auftreten, sondern aus dem Handeln männlicher Akteure resultieren. Es zeigt sich hier eine Funktionsdimension, die den Selfmademan text(sorten)übergreifend bestimmt: Mit dem Figurentypus ist eine Moderneerzählung verbunden, die um Gestaltbarkeit, Zukunftsoffenheit und Kontingenzbeherrschung kreist. Obgleich diese Erzählung auf einem aufklärungstypischen Autonomiegedanken aufzuruhen scheint, ist sie von diesem weit entfernt. Autonomie und Kontingenzbeherrschung, die das selfmade-Sujet nahelegt, stellen sich infolge einer Kraftmobilisierung ein. Diese Kraftmobilisierung erscheint nicht nur als Ermächtigungschance des modernen Individuums, sondern zugleich als dessen Pflicht. Nicht umsonst steht zuweilen neben den Erfolgsgeschichten das Schreckensbild des Untergangs, den jene Figuren erfahren müssen, die nicht die eigene Kraft mobilisieren können oder wollen. Schon der 1855 erschienene Klassiker des Realismus folgt dieser dialektischen Oszillation von Autonomieverheißung und -versagung, Ermutigung und Drohgeste. Wenn die Maxime Anton Wohlfarts, „durch eigene Anstrengung sich heraufzuarbeiten“²⁵, von Erfolg gekrönt ist, so ist dies nicht nur auf die Revitalisierung eines aufklärerischen Autonomiecredos zurückzuführen, sondern auf ein energetisch fundiertes Modernebild, das seinen komplementären

strebte Erfolg als naturnotwendige Wirkung der Erfolgvorbereitung ein.“ Gustav Großmann: Sich selbst rationalisieren ‒ Mit Mindestaufwand persönliche Bestleistungen erzeugen. Stuttgart: Verlag für Wirtschaft und Verkehr, 1927. S. 83.  Lenz: Zerbin, S. 117.  Gustav Freytag [1855]: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern. Waltrop/Leipzig: Manuscriptum Verlagsbuchhandlung, 2013. S. 485.

1.1 Selbstreferenz und Kraftmobilisierung

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Niederschlag im Erzählstrang um den Freiherrn von Rothsattel findet. In diesem Modernebild spiegelt sich eine Weltanschauung, die kurze Zeit später in sozialdarwinistischen Beschreibungsmustern prominent wird: In der modernen Welt hat nur derjenige ein ,Daseinsrecht‘ und eine Überlebenschance, der die eigene Kraft mobilisiert. Auf paradigmatische Weise kristallisiert sich diese Ansicht in der Rede des Kaufmanns Schröter heraus: Wo die Kraft aufhört in der Familie oder im einzelnen, da soll auch das Vermögen aufhören, das Geld soll frei dahinrollen in andere Hände, und die Pflugschar soll übergehen in eine andere Hand, welche sie besser zu führen weiß. Und die Familie, welche im Genusse erschlafft, soll wieder heruntersinken auf den Grund des Volkslebens, um frisch aufsteigender Kraft Raum zu machen. Jeden, der auf Kosten der freien Bewegung anderer für sich und seine Nachkommen ein ewiges Privilegium sucht, betrachte ich als einen Gegner der gesunden Entwicklung des Staates.²⁶

Dem aristokratischen Lebensstil und Genealogiedenken wird folglich eine bürgerliche Kräfteaktivierung entgegengesetzt, in deren Zeichen das liberal-individualistische Leistungsprinzip zu einem Sozialdarwinismus avant la lettre gerinnt.²⁷ Bezeichnenderweise finden sich derselbe Argumentationsgang und eine ähnliche Rhetorik vierzig Jahre später in einer evolutionstheoretischen Abhandlung von Alexander Tille wieder, der als Germanist Soll und Haben zweifellos rezipiert hat. Bei Tille heißt es: Mit dem Versinken der Person im Strome des Daseins soll auch ihr Besitz, der an dieses geknüpft war, aufhören; sonst kommt es immer wieder dahin, wo wir heute stehen, daß die Toten herrschen über die Lebenden.²⁸

 Freytag: Soll und Haben, S. 486.  Eine ähnliche Beobachtung macht Christine Achinger, die in Schröters Rede Anklänge an Adam Smiths „invisible hand“ erkennt und die von Schröter formulierten Grundsätze als Manifestation sozialdarwinistischer Denklinien liest: „Wirtschaftliches Geschick, die Fähigkeit zur Kapitalvermehrung, wird biologisiert als Lebenskraft; wirtschaftliche Konkurrenz erscheint als natürliche Auslese, Geld und Pflugschar sind gleichermaßen Instrumente der Produktion zum Wohle des Ganzen, Kapitalismus wird naturalisiert.“ Christine Achinger: Gespaltene Moderne. Gustav Freytags „Soll und Haben“: Nation, Geschlecht und Judenbild.Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. S. 103.  Alexander Tille: Volksdienst. Berlin: Wiener’sche Verlagsbuchhandlung, 1893. S. 155. Das von Tille aufgerufene Bild der Vergangenheit als Reich der Toten, das von der Welt der Lebenden ferngehalten werden muss, hat eine lange Tradition. „The earth belongs to the living, not to the dead“, schreibt Thomas Jefferson schon 1813. Thomas Jefferson: Brief an John W. Eppes, Monticello, 1813. In: Holmes, Jerry (Hrsg.): Thomas Jefferson. A Chronology of His Thoughts. Oxford: Rowman & Littlefield Publishers, 2002. S. 242. Dieselbe Rhetorik findet sich auch in Jeffersons früheren Äußerungen. So heißt es in einem Brief aus dem Jahr 1789: „I set out on this ground

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Den Erbenden, die in ihrer Berufung auf die Vergangenheit zu „Räuber[n] an der Gegenwart“ werden, stellt Tille Männer gegenüber, die „sich selbst die Herrenstellung erobern“²⁹. Argumentiert wird über ein biologistisch perspektiviertes Kampfnarrativ, das geburtsbedingte Privilegien als Störfaktoren im Evolutionsprozess – der immer auch als Fortschrittsprozess gedacht wird – diskreditiert. Demjenigen, der sich auf die eigene Kraft stützt, müsse der Sieg im ökonomischen ,Daseinskampf‘ gebühren, wohingegen nach den Gesetzen der natürlichen Ordnung eine vergangenheitsbezogene Fremdreferenz und die damit verbundene Stagnation der individuellen Kräfte dem Untergang geweiht sein müssen: Für den Herren der Zeit, für den, der sich in ihren Kämpfen hinaufschwingt, für den, welcher am tüchtigsten zum Daseinskampf ausgerüstet geboren worden, mit den reichsten Fähigkeiten, höchstbewertete Arbeit zu leisten, alle Ehren, alle Auszeichnungen, die die Zeit erdenken kann, mögen sie Titel, Orden, Ehrenstellung, Ehrengehalte oder sonst wie heißen! Aber wo man sich anmaßt, seine Nachkommen, über deren Beschaffenheit man gar nichts weiß, noch wissen kann, im Voraus mit Vorrechten zu begaben, da beginnt das Puschen gegen das allwaltende Naturgesetz. Werden seine Nachkommen tüchtig sein, dann werden sie auch ohne das ihre Bahn ebnen. Kraft seiner Stellung hat ihr Vater ja die Mittel, ihnen eine gründliche Bildung geben zu lassen. […] Werden die Seinen liederliche Nichtsthuer – dann sollen sie auch keinen Adelstitel, kein Vermögen ererben, nichts was ihnen irgend einen Vorsprung im Wettkampf mit andern Menschen ihrer Zeit geben könnte.³⁰

Deutlich zeigt sich hier der kontextbedingte Hiatus zwischen dem Aufstiegsnarrativ der Spätaufklärung und dem des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist die Selbstreferenz der eigenen Kraft nicht mehr der Ausdruck eines Autonomiestrebens, sondern eines Subjektivationsappells, der (sozial‐)darwinistischen Ideologemen entspringt und eine spezifische Dialektik von Entmachtung und Ermächtigung bedingt.³¹

which I suppose to be self evident, that the earth belongs in usufruct to the living; that the dead have neither power nor rights over it.“ Thomas Jefferson: Brief an James Madison, Paris 1789. In: Woods, Brett F. (Hrsg.): Thomas Jefferson. Thoughts on War and Revolution. Annotated Correspondence. New York: Agora Publishing, 2009. S. 91– 94, hier S. 91. Hervorhebung im Original. Später wurde das Bild unter anderem von Karl Marx aufgegriffen, der den Gegensatz von Vergangenheits- und Zukunftsfokussierung als Gegensatz von Tod und Leben ausschreibt: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden.“ Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Hamburg: Meißner, 1869. S. 1. Vgl. zu Marx’ zeitbezogener Aussage Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München: Hanser, 2013. S. 165.  Tille: Volksdienst, S. 132 f.  Tille: Volksdienst, S. 133.  Freilich hat auch dieses Argumentationsmuster seine Wurzeln in der Sattelzeit. Schon Schillers Franz Moor tritt kategorisch für das Recht des Stärkeren ein, aus dem ein teils er-

1.1 Selbstreferenz und Kraftmobilisierung

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Das Fundament dieser Dialektik bildet die Vorstellung der produktiv mobilisierbaren Kraft. Besonders in den Romanen der Jahrhundertwende bildet die Kraft das Leitthema der Figurenzeichnung. Nicht nur Arbeit präsentiert mit Friedrich Haltern eine Unternehmerfigur, die ihr Kraftpotenzial immer weiter ausschöpft und es auf diese Weise zu immer größeren Erfolgen bringt. In Ferdinande von Brackels Roman Die Enterbten (1909) wird ein fiktiver Kommerzienrat über einen Bericht der Erzählinstanz als Aufsteiger qua Kraftmobilisierung präsentiert. Die aus mittellosen Verhältnissen stammende Figur hat sich ihren Lebensweg „mit eiserner Kraft von der Pike an gebahnt“ und einen international exportierenden Maschinenkonzern etabliert.³² Noch der 1929 erschienene Roman Kilian Krafft von Alfred Bohnagen zentriert sich um einen Aufsteiger, der schon durch seinen Nachnamen als Kraftheld ausgewiesen wird. Dass die Romane über das selfmade-Narrativ Bilder männlicher Kraft und Energie entwerfen, ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie durch diese subjektivationszentrierte Normsetzung ein Gefüge von Konzepten und Vorstellungen aufrufen, die um 1900 in vornehmlich kriseologisch besetzten und modernediagnostischen Bezugskontexten stehen.³³ Die Kraftmobilisierung bildet einen „fundamentalen Imperativ […] des 19. Jahrhunderts“³⁴, der sich genauso wie der Willensdiskurs in einem thermodynamischen Referenzhorizont bewegt und gesellschaftlich-soziale Phantasmen mit normativen Subjektvorstellungen engführt. Aus den Dynamiken der Kraft leiten sich sowohl die Ängste als auch die

mächtigender, teils entmachtender Appell zur Kraftmobilisierung hergeleitet wird: „Schwimme, wer schwimmen kann, und wer zu plump ist, geh unter! Sie gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache. Jeder hat gleiches Recht zum Größten und Kleinsten; Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beim Überwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze.“ Friedrich Schiller: Die Räuber. In: Fricke, Gerhard et al. (Hrsg.): Friedrich Schiller. Sämtliche Werke in 5 Bänden. Bd. 1: Gedichte/Dramen I. Lizenzausgabe mit Genehmigung des Carl Hanser Verlages, München; Jubiläumsbibliothek der deutschen Literatur. S. 481– 618, hier S. 500. Wie Helmut J. Schneider herausgestellt hat, bedient sich Franz Moors Rebellion gegen das genealogische Gesetz der „intellektuellen Waffen der Aufklärung und ihrer Forderung, sich von unhinterfragten Autoritäten zu befreien.“ Helmut J. Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie. Dramaturgie der Humanität von Lessing bis Büchner. Berlin University Press, 2011. S. 8. Den Ausgangspunkt der antigenealogischen Revolte bilde eine aufklärungstypische Differenzsetzung zwischen Vernunft und Natur, die mit einer Dichotomisierung von Rationalität und Genealogie konvergiere. Vgl. Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie, S. 8 – 10 sowie S. 175 – 181.  Ferdinande Freiin von Brackel: Die Enterbten. 13. Auflage. Köln: J.P. Bachem, 1909. S. 33.  Vgl. dazu Wolfgang Martynkewicz: Das Zeitalter der Erschöpfung. Die Überforderung des Menschen durch die Moderne. Berlin: Aufbau Verlag, 2013.  Anson Rabinbach: Motor Mensch. Kraft, Ermüdung und die Ursprünge der Moderne. Wien: Turia + Kant, 2001. S. 12.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Ermächtigungsvorstellungen der selbstproklamierten Moderne ab. Normativ besetzte Figuren von „Zirkulation und Zerstreuung, Kraftausübung und Kraftausbruch“³⁵ fundieren insofern nicht nur die genderisierten Subjektbilder der Zeit, sondern die daran anknüpfenden Selbstbeschreibungen der Moderne, der sie einen „psychosomatischen Erfahrungsrückhalt“³⁶ verschaffen. Im Rahmen dieser modernediagnostischen Vorstellungsbildung werden Normen der Kraft, Aktivität und des Willens primär ex negativo aufgerufen und zu Bezugspunkten pathologisierender Beschreibungsmuster. Max Nordau etwa widmet Ende der 1880er Jahre der „Krankheit des Jahrhunderts“ einen gleichnamigen Roman und hält gleich im Vorwort fest, worin das ,Pathologische‘ der Gegenwart seiner Meinung nach besteht: Wer nicht sieht, daß diese Krankheit der Pessimismus ist, für den ,Weltverachtung‘, ,Abkehr von der Wirklichkeit‘, ,Quietismus‘, ,Willenlosigkeit‘, ,Thatenscheu‘, ,Buddhismus‘, ,Schopenhauerismus‘, ebensoviele Synonyme sind, der muß entweder das Buch sehr zerstreut gelesen haben oder überhaupt unfähig sein, eine allgemeine Zeiterscheinung in einem gegebenen Einzelfalle wiederzuerkennen.³⁷

Wendet man diese „Synonymreihe“³⁸ ins Gegenteil, so ergibt sich ebenjener Merkmalskatalog, der durch das selfmade-Sujet aufgerufen wird. Profiliert werden willensstarke und tatkräftige Subjekte, die die vielbeklagte psychophysische Pathologie der Moderne Lügen strafen. Ausgehend von einem in der materialistischen Anthropologie des achtzehnten Jahrhunderts wurzelnden Subjektideal, das auf Tätigkeit und Kräfteaktivierung setzt, wird die Krisenerzählung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – die immer auch eine Krise der Männlichkeit darstellt – negiert und in eine Gewinnerzählung umgemünzt. Vor diesem Hintergrund lässt sich eines der erzählkonstitutiven Imaginationsfelder benennen, in dem sich das selfmade-Sujet um 1900 bewegt. Romane, in denen das selfmade-Narrativ zum Tragen kommt, schreiben mit an thermodynamisch fundierten Moderneerzählungen, indem sie eine Überwindung der diagnostizierten Schwächungen in Aussicht stellen und auf diese Weise die wirkmächtigen Leitutopien und -ängste der Jahrhundertwende einverleiben. Dem Bild geschwächter und degenerierter – und insofern ,entmännlichter‘ – Individuen set-

 Christof Windgätter: Euphorie und Erschöpfung. Das Paradigma der Kraft im 19. Jahrhundert. In: Brandstetter, Thomas; Windgätter, Christof (Hrsg.): Zeichen der Kraft. Wissensformationen 1800 – 1900. Berlin: Kadmos, 2008. S. 7– 23, hier S. 18. Hervorhebung im Original.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 17.  Max Nordau: Vorwort. In: Ders.: Die Krankheit des Jahrhunderts. Leipzig: Elischer, 1889. S. XVII.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 129.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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zen die Texte das Bild des erstarkten, revirilisierten und vitalen Mannes entgegen, der seine Kräfte konsequent mobilisiert und steigert. Damit sagen die Romane dem dominanten, naturalistisch geprägten Strang innerhalb des zeitgenössischen literarischen Systems den Kampf an. Ausgehend von einem energetischen Subjektivationsideal hatte ein Großteil naturalistischer Romane – von Nordaus Die Krankheit des Jahrhunderts (1887) bis zu Hermann Conradis Adam Mensch (1888) – Dekadenzsymptome und neurasthenische Sensibilitäten in den Vordergrund gerückt. In seiner Bilanz der Moderne (1904) beschreibt Samuel Lublinski das energetisch-voluntaristische Labilitätsgefühl und die damit verbundene Selbstpathologisierung als Signum der naturalistischen Moderne:³⁹ Man verlor sich in der Fülle, man ertrank im Rausch, man fühlte sich krank, willensschwach und wie gelähmt, weil an die organisatorischen Kräfte des Willens plötzlich die ungeheuersten Anforderungen gestellt wurden. […] Der passive Held des naturalistischen Dramas wurde in den neuen Romanen zu einem Helden der Willenlosigkeit, dessen Haupteigenschaft die mimosenhafte Empfänglichkeit für Stimmungsschwankungen war.⁴⁰

Willenslähmungen, Passivität und Schwächen sind dem Selfmademan per definitionem fremd. Was das selfmade-Sujet im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert nahelegt, ist ein Ausgang aus der Dekadenz zugunsten einer Zeit der Regeneration und vitalen Erneuerung.Wenn das selfmade-Sujet eine energetische Selbststeigerung und Kräfteaktivierung in Aussicht stellt, so schaltet es sich folglich in subjektivationsbezogene Bilanzen zur Moderne ein und reagiert unmittelbar auf zeitgenössische Stoßrichtungen im literarischen System.

1.2 Männliche Subjektwerdung Wie sich gezeigt hat, geht mit dem Selfmademan eine kraftzentrierte Normsetzung einher.Vom Selfmademan zu sprechen, bedeutet immer auch, Möglichkeiten und Grenzen der Kraftmobilisierung zu verhandeln und Modelle ,erfolgreicher‘ Lebensführung zu entwerfen. Diese Funktionsdimension lässt sich in Bezug zu einer weiteren Funktionsebene setzen: der Konstruktion von Männlichkeit. Sämtliche Züge der Figur, von ihrer energetischen Disposition bis zur demiurgischen Gestaltungsmacht, schreiben angestammte Männlichkeitsbilder fort. Schon die Bezeichnung ,Selfmademan‘ lässt die Funktion des Figurentypus als Modell einer geschlechtsspezifischen Identitätsform ersichtlich werden. Der of-

 Vgl. hierzu Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 1– 4.  Samuel Lublinski: Die Bilanz der Moderne. Berlin: Siegfried Cronbach, 1904. S. 104 f.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

fensichtliche Konnex zwischen dem Typus des Selfmademans und der Kategorie ,Männlichkeit‘ zeigt sich auch in den Ausschlusslogiken, die die jeweiligen Texte bestimmen. Der Großteil der Romane, die am selfmade-Topos mitschreiben, zentriert sich um den Selfmademan als männliche Figur und setzt diese durch ausdrückliche Markierungen als Maskulinitätsideal: Aufstiegsfiguren vermitteln den „Eindruck vollster männlicher Kraft“⁴¹ (Freie Bahn!) und erscheinen als „Inbegriff […] aller Männlichkeit und Stärke“⁴² (Eine Siegernatur). Die männlichkeitszentrierte Konstruktionsfunktion des selfmade-Narrativs ist vor allem deshalb signifikant, weil sich auch die Erzählkategorie der Männlichkeit um 1900 vorwiegend kriseologisch äußert.⁴³ Spätestens seit den 1880er Jahren und besonders um 1900, wenn beschleunigte soziale, politische und mediale Modernisierungsprozesse zu Umbrüchen in der Geschlechterordnung führen, erhält die Krisendiagnostik des Fin de Siècle eine genderdiskursive Kardinalfunktion. „Die Verlustgeschichte der Moderne“, so Walburga Hülk und Britta Künkel, „wurde zur Problemgeschichte des Mannes und der Männlichkeiten – seiner dégénérescence (ein ungutes Wort an sich), seiner Neurasthenie oder seiner ungezähmten Energie, alle biologisch basiert, jede mit negativen Konsequenzen.“⁴⁴ Dass dem Selfmademan, wie ihn Romane des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts konstruieren, derartige Krisensymptome fremd sind, macht ihn zum Teil eines Gegendiskurses, der sich zu dieser Zeit an vielen Orten herauskristallisiert und dem krisenhaften Männlichkeitsbild mit einer Reaktivierung angestammter Männlichkeitsideale begegnet.⁴⁵ Diese Anbindung an einen zwischen Kriseologie und Optimismus oszillierenden Männlichkeitsdiskurs festigt zugleich seine Anbindung an den grand récit ,Moderne‘. Wie mehrere Studien gezeigt haben, nimmt die Kategorie ,gender‘ um 1900 eine Schlüssel-

 Werner: Freie Bahn, S. 35.  Curt Grottewitz: Eine Siegernatur. Moderner Roman. Berlin: Hochsprung, 1892. S. 20.  Literaturgeschichtlich ist die genderisierte Kriseologie der Moderne vornehmlich im Naturalismus zu kontextualisieren, dessen Nervositäts-, Degenerations- und Neurasthenievorstellungen tiefgreifende Wandel in der Geschlechtersemantik zur Folge haben. Natalia Igl, die die Transformationen geschlechtscodierter Semantiken eingehend erkundet, bezeichnet in diesem Sinne den Naturalismus als „erste intensive Phase der literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise“. Natalia Igl: Geschlechtersemantik 1800/1900. Zur literarischen Diskursivierung der Geschlechterkrise im Naturalismus. Göttingen: V&R unipress, 2014. S. 26.  Walburga Hülk und Britta Künkel: Crisis? What Crisis? Lob des Optimismus. In: Schuhen, Gregor (Hrsg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900. Bielefeld: transcript, 2014. S. 81– 99, hier S. 84.  Vgl. Hülk und Künkel, S. 99.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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funktion für die Selbstbeschreibungen der ästhetischen Moderne ein.⁴⁶ Das Geschlecht avanciert – ähnlich wie schon im späten achtzehnten Jahrhundert⁴⁷ – zu einem kulturellen Deutungsmuster, das Diagnosen des Niedergangs ebenso wie Erneuerungsimperative fundamentiert und für die Selbstbegründungen der Moderne konstitutiv ist. Diese geschlechtscodierte Dimension zeigt sich zum Beispiel dann, wenn Eugen Wolffs prominenter Moderne-Aufsatz den „männliche[n] Zug der Poesie“ und ihren „Kampf gegen das Backfisch- und Altjungfernthum“ hervorhebt,⁴⁸ wenn Georg Simmel die gesellschaftliche Moderne als Rationalisierungsprozess darstellt und mit der angenommenen Differenziertheit des männlichen Geschlechts assoziiert,⁴⁹ oder wenn Leo Berg seine modernediagnostische Krisenvorstellung über eine Feminisierungsthese plausibilisiert und zu einer Virilisierung der Kunst aufruft:⁵⁰ Wenn man heute so oft Männlichkeit und Kraft von der Kunst fordert […], so sollte man vor allem daran mitarbeiten helfen, die Kunst aus der Passivität herauszuheben, sie von der Knechtschaft des Stoffs und des Zuschauers zu befreien, ihre Aktivität und Aggressivität zu erhöhen!⁵¹

Eine moderne, antidekadente Ästhetik, wie sie Berg imaginiert, zeichnet sich folglich durch Merkmale aus, die der tradierte Genderdiskurs als männlich ausweist: Es werden ihr Aktivität, Aggressivität und eine heroisch anmutende Rettungsfunktion zugeschrieben – die geknechtete Kunst muss Berg zufolge „befreit“ werden – und eine elementare Differenzfunktion attestiert: Die Befreiung von der

 Zur geschlechtlichen Codierung des Narrationskonstrukts ,Moderne‘ vgl. unter anderem Ross Poole: Modernity, rationality and ‘the masculine’. In: Threadgold, Terry; Cranny-Francis, Anne (Hrsg.): Feminine/Masculine and Representation. Sydney: Allen & Unwin, 1990. S. 48 – 61; Rita Felski: The Gender of Modernity. Cambridge: Harvard University Press, 1995; Albrecht Koschorke: Die Männer und die Moderne. In: Asholt, Wolfgang (Hrsg.): Der Blick vom Wolkenkratzer: Avantgarde, Avantgardekritik, Avantgardeforschung. Amsterdam: Rodopi, 2000. S. 141– 162; Urte Helduser: Geschlechterprogramme. Konzepte der literarischen Moderne um 1900. Köln: Böhlau, 2005.  Auf diese Wiederholungsdimension hat Koschorke hingewiesen. Vgl. Koschorke: Die Männer und die Moderne, S. 144.  Eugen Wolff: Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne. Berlin: Richard Eckstein Nachfolger, 1888. S. 47.  Vgl. Georg Simmel [1902]: Weibliche Kultur. In: Dahme, Heinz-Jürgen; Köhnke, Klaus Christian (Hrsg.): Georg Simmel. Schriften zur Philosophie und Soziologie der Geschlechter. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1985. S. 159 – 176.  Vgl. Helduser, S. 152 f.  Leo Berg: Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst. München: Verlag der Münchner Handelsdruckerei & Verlagsanstalt M. Poessl, 1892. S. 227.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

implizit effeminisierten „Knechtschaft des Stoffs“ kommt einer Emanzipation der Form gleich. Berg ist im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert nicht der einzige Moderneprogrammatiker, der ästhetische Qualität mit dem Begriff des ,Männlichen‘ gleichsetzt, eine ,Verweiblichung‘ zeitgenössischer Gegenwartsliteratur kritisiert und zu einem Aufbruch im Zeichen der Männlichkeit aufruft. Zentrale Begriffe der naturalistischen Programmbekundungen, die noch das zwanzigste Jahrhundert über mehrere Dekaden hinweg prägen, unterstehen einer mitunter ausdrücklich markierten Geschlechtscodierung und legen die proklamierte literarische Moderne auf männlich codierte Begriffe wie Freiheit, Kühnheit, Innovation, Vitalität und Heroismus fest.⁵² So fordern etwa die Brüder Hart in den Kritischen Waffengängen ein Ende der „bloßen Frauen- ja vielleicht Mädchenliteratur“, die sich an „verzärtelten, prüden und albernen Geschöpfen“ orientiere, und rufen zu einer literarischen Entdeckung der „freien, kühnen und starken Männlichkeit“ auf.⁵³ Ähnlich beschwört Curt Grottewitz einen „Zukunftsstil“ herauf, der „einfach, klar und mannhaft“ ist und frei von jeglicher Effeminität: Es wird kein Spielen sein mit pomphaft aufgeputzten Redensarten, kein schwülstiges Versteckenspielen mit gesuchten Ausdrücken und zerrissenen Sätzen, kein zimperliches, kleinliches Salonparlieren. Unumwunden, durchsichtig und markig wird die zukünftige Entwicklungsdichtung die grossen Gedanken und Ideale der neuen Aera sprachlich objektivieren.⁵⁴

Die Vorstellung von einem genuin männlichen Stil, der die ästhetische Moderne ihrer vermeintlichen Effeminität entheben soll, umreißt eine spezifische Erzähldeterminante des selfmade-Sujets. Dieses deutet nicht nur durch seine kraftzentrierte Verweisungsdimension den Auftakt einer ,männlichen‘ Moderne an, sondern macht auch auf erzähldiskursiver Ebene einen Anspruch auf Revirilisierung kenntlich.Vor allem in Erzählungen, die während des Ersten Weltkriegs oder kurz davor erschienen sind, kommt diese geschlechtscodierte Dimension stilistischer Gestaltungsweisen deutlich zum Ausdruck. Rudolph Stratz’ Roman König und Kärrner (1914) etwa verschafft dem durch das selfmade-Narrativ vermittelten Normenarsenal ein stilistisches Pendant. Elliptisch verknappte und parataktische

 Vgl. Helduser, S. 72.  Heinrich Hart und Julius Hart: Für und gegen Zola. In: Kritische Waffengänge. Heft 2 (1882), S. 44– 55, hier S. 54.  Curt Grottewitz [1891]: Neuer Stil und neue Schönheit. In: Wunberg, Gotthart: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971. S. 83 – 87, hier S. 85.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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Satzkonstruktionen entfalten einen Sprachduktus, der Bestimmtheit, Direktheit und Nüchternheit evoziert: Blauer Himmel über schlafenden Höfen. Feiernde Schlote. Rastende Riemen hinter den verstaubten Scheiben. Die Räder standen still. […] Das Volk der Arbeit war fern. Draußen im Grünen. Keine Menschenseele weit und breit.⁵⁵

In ihrer Verknappungstendenz führt die Erzählung die Ebenen der histoire und des discours propositional zusammen und löst die genderisierten Forderungen, die bereits naturalistische Programmatiker an die moderne Literatur gestellt hatten, exemplarisch ein. Mit der sprachökonomischen Erzählgestaltung, die dem Prinzip sprachlichen Dekors Schlichtheit und Beschränkung auf das Wesentliche entgegensetzt, artikuliert der Roman auf sprachlicher Ebene ein Mäßigkeitsgebot, das ein um 1900 weiblich codiertes Luxusschwelgen simulativ überwindet. Ein ebensolches Überwinden von Luxussucht wird auf histoire-Ebene durch eine Abkehr des Protagonisten vom luxuriösen Lebensstil, dem seine erste Ehefrau anhängt, geschildert. Diese Abkehr vom Luxusdenken begründet zugleich seine Subjektivation als Selfmademan. Der Protagonist durchläuft eine Wandlung vom Müßiggänger zu einem der ,Wohlfahrt‘ dienenden Mann der Tat, dessen Antlitz zunehmend von Zügen des „Wollens und Kämpfens“⁵⁶ gezeichnet wird. Anstatt passiv das Erbe des Vaters zu übernehmen, avanciert Werner ,aus eigener Kraft‘ zum erfolgreichen Erfinder im Bereich der Automobilindustrie und leitet schließlich die Errichtung einer „Arbeiterstadt der Zukunft“⁵⁷ in die Wege. Stratz’ König und Kärrner ist nicht der einzige Roman, der die männlichkeitsbezogene Erzähldimension des selfmade-Narrativs stilistisch spiegelt. Noch 1941 ist mit Georg Oedemanns Roman Zwanzig Jahre Arbeit ein Aufstiegsroman erschienen, der durch betont nüchterne und knappe Sätze und durch eine präsentische Erzählweise die genderisierten Gestaltungsnormen umsetzt, die sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert herausgebildet haben. Bezeichnenderweise ist der Roman in der zeitgenössischen Kritik für seine stilistische Gestaltungsweise belobigt worden, die ein Vorbild für die postulierte Durchsetzung soldatischer Männlichkeit liefere. In ihrer „knappen und sachlichen, fast soldatischen Form“ schließe die Erzählung sämtliche „Konzessionen an Liebhaber eines gefühlvollen oder auch nur gemütlichen Stils“ aus.⁵⁸ Eine genuin männliche Erzählform breche sich Bahn. „Vielleicht ist dies der Stil, den unsere Soldaten aus

   

Stratz, S. 2. Stratz, S. 381. Stratz, S. 378. O.V.: Georg A. Oedemann: Zwanzig Jahre Arbeit [Rezension]. In: Bücherkunde 2 (1943), S. 76 f.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

den Jahren der männlich nüchternen Bewährung nach Hause bringen werden“⁵⁹, heißt es in einer Rezension. Die geschlechtspolitische Signifikationskraft, die das selfmade-Narrativ entfaltet und seine Anbindung an den Modernediskurs verstärkt, ergibt sich indes nicht nur aus seiner in mehreren Texten zutage tretenden stilistischen Gestaltungsform. Wie der sprachliche Duktus untersteht die narrative Anlage des Figurentypus einer geschlechtlichen Codierung. Mit dem selfmade-Sujet entfaltet sich eine narrative Struktur, die die Kategorie ,Männlichkeit‘ auf eine spezifische Weise profiliert. Es lässt sich an dieser Stelle ein Bogen spannen zu einer Leitthese der erzähltheoretisch ausgerichteten Men’s Studies. ⁶⁰ Folgt man Walter Erhart, so ist der „Ursprung moderner Männlichkeit“ ein genuin literarischer: [E]r läßt sich […] auf ganz bestimmte Erzählmodelle, auf narrative Strukturen und literarische Muster, zurückführen, die aus männlichen Attributen und den geschlechtsspezifischen Kontexten des 19. Jahrhunderts eine Geschichte der Männlichkeit formen und Männlichkeit selbst als ein Ensemble von Geschichten (die der einzelnen Männer und die der Männlichkeit) entstehen lassen.⁶¹

Wie der Selfmademan in dieses Geschichtenensemble hineinspielt, geht aus der Narrationsstruktur hervor, über die sich die Figur konstituiert. Der Selfmademan ist der männliche Protagonist einer Aufstiegsnarration und somit der Träger eines teleologischen und klimaktisch ausgerichteten Erzählschemas, dem ein Fortschrittscredo innewohnt: Eine defizitäre Ausgangslage wird in einen verbesserten Endzustand überführt. Die narrationsbildende Differenz von Anfangs- und Endzustand legt dem Selfmademan eine zäsurbetonende Zeitlichkeit zugrunde, der eine geschlechtszentrierte Konstruktionsfunktion zugeschrieben werden kann: Wenn der Aufstiegsweg des Selfmademans eine Veränderungsdynamik kenntlich macht, so lässt sich das selfmade-Narrativ als Ausdruck der Abgrenzung von einer als weiblich konnotierten Zyklizität deuten. Ausgehend von der zäsursetzenden Temporalität, die das selfmade-Narrativ entfaltet, lässt sich also eine spezifisch narrative Konstruktionsweise von Männlichkeit aufzeigen. Dass diese Männlichkeitserzählung bei einer Zäsurmarkierung ansetzt, ist umso bemerkenswerter, als das herkömmliche Männlichkeitsmodell des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts in seiner temporalen Erzählachse eine gegenteilige Logik verfolgt. Wenn männliche Identität, wie Robert Nye gezeigt hat, im neunzehnten

 O.V.: George A. Oedemann, S. 77.  Zur narrativen Konstruktivität von Männlichkeit vgl. Erhart und Zilles.  Erhart, S. 10.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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Jahrhundert durch Reproduktionserfolg und biologisch-familiale Vererbungskapazität konstituiert wird,⁶² so wird in ihrer Konstruktionsweise keine Zäsurlogik, sondern ein Kontinuitätscredo operativ. Schon der zentrale literarische Artikulationsraum moderner Männlichkeit legt diese auf eine kontinuitätszentrierte Zeitkategorie fest. Wie Erhart herausgestellt hat, ist es um 1900 vor allem der Familienroman, der narrative Modelle von moderner Männlichkeit entwirft, verhandelt und problematisiert. Die Familie nun, die im neunzehnten Jahrhundert ein zentrales „kollektive[s] Konstruktionsprinzip der kollektiven Realität“⁶³ darstellt, diskursiviert sich über eine Zeitlichkeit, deren Ansatzpunkt die Kontinuität ist. Wie Britta Herrmann gezeigt hat, dient das Phantasma der Familie im neunzehnten Jahrhundert dazu, die Zeitkategorie der Gegenwart innerhalb der „historischen Kontinuität der Generationenabfolge“⁶⁴ zu verorten. Die spezifische Funktion der Familie, so Auguste Comte, bestehe darin, dass „der erste Begriff der ewigen sozialen Dauer von ihr ausgeht, indem sie die Zukunft an die Vergangenheit knüpft.“⁶⁵ Dieses familienbezogene Kontinuitätsdenken wird auf exemplarische Weise in den Buddenbrooks verhandelt, wenn Jean Buddenbrook in einem Brief an Tony postuliert: Wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangegangen sind und uns die Wege weisen.⁶⁶

Vor diesem Hintergrund erscheint die Männlichkeitserzählung, die sich im selfmade-Sujet niederschlägt, konträr. An die Stelle der männlichen Generationenkette setzt das selfmade-Sujet die tabula-rasa-Existenz einer Sohnfigur, die mit genealogischen Traditionen kategorisch bricht. Das selfmade-Sujet definiert maskuline Identität nicht über ein Reproduktions- und Kontinuitätsideal, sondern über den Aufstieg, was wiederum exemplarisch aus Zobeltitz’ Arbeit hervorgeht. Das Konstituens der Männlichkeit bildet in Arbeit das berufliche Reüssieren, zu dessen

 Vgl. Robert Nye: Masculinity and Male Codes of Honor in Modern France. New York: Oxford University Press, 1993. S. 72– 74.  Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1999. S. 127.  Britta Herrmann: Verweigerte Ich-Ausdehnung, historische Kontinuitätsbildung und mikroskopierte Wirklichkeit: Familienroman im 19. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2010), S. 186 – 208, hier S. 187.  Auguste Comte: Die Soziologie. Die positive Philosophie im Auszug. Hg. von Friedrich Blaschke. Stuttgart: Kröner, 1974. S. 126.  Thomas Mann [1901]: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Frankfurt a. M.: Fischer, 2011. S. 146.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Zweck der Protagonist die Eheschließung mit seiner Jugendfreundin Sophie ausschlägt: [D]as Herrengefühl siegte über allem andern, denn es war eins mit der Überzeugung: „du darfst dich nicht binden, du darfst keinen Ballast mit dir herumschleppen durchs Leben. Oder du musst verzichten auf jeden Aufstieg, bleibst ewig unten […]!“⁶⁷

Das hier entfaltete Männlichkeitsmodell legt die imaginierte männliche Identität auf Erfolg, Arbeit und Aufstiegsstreben fest und überführt dabei das Franklin’sche Rationalitätsprimat in einen gleichsam zölibatären Normkodex. Es ist jedoch nicht nur der für den Selfmademan charakteristische Aufstiegswille, der einen Bruch mit dem genealogischen Männlichkeitsmodell signalisiert. Vielmehr liegt es in der Erzähllogik des selfmade-Sujets begründet, dass es dem genealogiezentrierten Männlichkeitsnarrativ eine Alternative entgegenstellt. Wenn eine als männlich markierte Figur dadurch zum Selfmademan wird, dass sie ihre Identität unabhängig von oder in Abgrenzung zu ihrer Herkunftsfamilie definiert, so scheint es nur konsequent, dass sie auch auf eine Fortpflanzungsfamilie verzichtet. Ebendiese antigenealogische Erzähllogik, die im selfmade-Narrativ verankert ist, würde in Zobeltitz’ Roman die Tode von Frau und Kind erklären sowie die Adoption des Neffen, mit der die Erzählung schließt. Ausgehend von der Negation des genealogischen und kontinuitätszentrierten Männlichkeitsmodells lässt sich die Problemlösungsfunktion bestimmen, die der geschlechtsspezifischen Konstruktionsachse des selfmade-Sujets innewohnt. Das Ausbleiben biologischer Reproduktion wird in Arbeit nicht als Zeichen einer prekär gewordenen Männlichkeit inszeniert, sondern im Sinne des selfmadeNarrativs als Signum autonomer, selbstreferenziell begründeter Identität: Der moderne Mann bedarf weder zur Selbstdefinition noch zur zukunftsstiftenden Reproduktion hereditärer Bindungen, sondern sieht sich ausschließlich an die eigene Subjektivität verwiesen. Mit dieser Suspension des hereditären Dispositivs kann der Roman ein Männlichkeitsmodell entwerfen, das die angestammten Krisensymptome überdeckt. Der Protagonist bei Zobeltitz ist frei von einer genealogischen Kontinuitätsverpflichtung und damit frei von jener Männlichkeitsnorm, die in den Buddenbrooks kriseologisch verhandelt wird.⁶⁸ Die Buddenbrooks handeln von einem „väterlichen Gesetz, dem die Söhne nicht mehr folgen

 von Zobeltitz: Arbeit, S. 95.  Vgl. zum Problematischwerden des genderisierten Genealogiemodells auch das Kapitel „Literatur der Söhne“ in Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne. Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900. Köln: Böhlau, 2006. S. 97– 106.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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können“⁶⁹. Thomas Buddenbrook ist bis zu seinem desillusorischen anagnorisisMoment stets davon überzeugt (gewesen), daß er in seinen Vorfahren gelebt habe und in seinen Nachfahren leben werde. Dies hatte nicht allein mit seinem Familiensinn, seinem Patrizierselbstbewußtsein, seiner geschichtlichen Pietät übereingestimmt, es hatte ihn auch in seiner Tätigkeit, seinem Ehrgeiz, seiner ganzen Lebensführung unterstützt und bekräftigt. Nun aber zeigte sich, daß es vor dem nahen und durchdringenden Auge des Todes dahinsank und zunichte ward […].⁷⁰

Durch die Schopenhauer-Lektüre löst sich das Genealogiedenken und damit auch das genealogiezentrierte Männlichkeitsmodell vollends auf: „Was soll mir ein Sohn? Ich brauche keinen Sohn!“ […] Die Mauern seiner Vaterstadt […] taten sich auf […] Die trügerischen Erkenntnisformen des Raumes, der Zeit und also der Geschichte, die Sorge um ein rühmliches, historisches Fortbestehen in der Person von Nachkommen, die Furcht vor irgend einer endlichen historischen Auflösung und Zersetzung ‒, dies alles gab seinen Geist frei und hinderte ihn nicht mehr, die stete Ewigkeit zu begreifen. Nichts begann und nichts hörte auf. Es gab nur eine unendliche Gegenwart […].⁷¹

Die „unendliche Gegenwart“, die Thomas Buddenbrook erst erfahrbar wird, nachdem er am geschlechtsspezifischen Subjektivationsmodell gescheitert ist, prägt die Erfahrungswelt eines Selfmademans wie Haltern von Anfang an. Von den Fesseln der paternalen Genealogie befreit, kann sich der Selfmademan nicht auf eine familiäre Vergangenheit berufen und sieht sich ausschließlich an die Gegenwart verwiesen. Von hier aus lässt sich ein antikriseologischer Bezugskontext des Figurentypus bestimmen, in dem Genderdiskursivität und narrative Temporalität Hand in Hand gehen. Der Selfmademan ist das Produkt einer Männlichkeitserzählung, die über eine emphatische Selbstreferenz der krisenhaft gewordenen, genealogisch definierten Männlichkeit ein Alternativmodell entgegensetzt: Der moderne Mann definiert sich ausschließlich aus sich selbst heraus, ohne genealogischer Instanzen zu bedürfen. Über die gegenwartsemphatische Temporalität des Selfmademans konturiert sich also ein Männlichkeitsmodell, das den Anspruch auf Selbstreferenzialität, der für den Selfmademan konstitutiv ist, zum geschlechtsspezifischen Konstruktionsmoment erhebt. Paradoxerweise bildet ebendiese Neujustierung des Erzählkonstrukts ,Männlichkeit‘ den Ausgangspunkt dafür, dass der Roman in entkriseologisierender Form an die tradierte, genealogische Männlichkeitserzählung des neun-

 Erhart, S. 291.  Mann: Buddenbrooks, S. 652.  Mann: Buddenbrooks, S. 657– 659.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

zehnten Jahrhunderts anschließen kann. Dem Protagonisten bei Zobeltitz gelingt am Ende, was Thomas Buddenbrook zur Bürde wird. In seinem Neffen findet Haltern einen Erben, der ein technisches Interesse aufbringt und das Lebenswerk des Unternehmers fortzuführen gedenkt. Der geschlechtspolitisch aufgeladenen Norm genealogischer Reproduktion wird die Figur also am Ende doch gerecht. Zurückführen lässt sich dies auf den antigenealogischen und temporalitätsbezogenen Propositionskern, der dem selfmade-Sujet innewohnt. Da Haltern als Selfmademan eine Entlegitimierung des Vergangenheitsbezugs zugunsten von Gegenwart und Zukunft versinnbildlicht, scheint es nur konsequent, dass ihm die mit der Erbschaft verbundene Zukunftsstiftung gelingt. Über das selfmade-Sujet wird also die herkömmliche, genealogiebezogene Männlichkeitsnorm eingelöst: Die erfolgreiche „,Ich-Ausdehnung‘ in die Zukunft“⁷², die ein „spezifisch männliches Begehrenskonstrukt“⁷³ in sich birgt, erscheint als Produkt der stetigen Kraftmobilisierung und Leistungserbringung. Dass Haltern selbst kein Erbe ist, ermöglicht es ihm erst, sein Leben als Erblasser zu beschließen. Es zeigt sich hier eine ähnliche Inbezugsetzung von Reproduktions- und Kraftkapazität, wie sie zehn Jahre zuvor in der sozialdarwinistischen Argumentationslinie Alexander Tilles zum Ausdruck gekommen war. Auch hier bedeutet Kraftmobilisierung Zukunftsstiftung, während unterlassener Kraftaufwand die genealogische Reproduktion – und damit auch die männliche Identitätsbildung – verhindert und ein endgültiges Ausscheiden aus dem vermeintlich naturgemäßen ,Kampf ums Dasein‘ impliziert: Nicht irgend eine menschliche Gerechtigkeitsvorstellung ist hier entscheidend, sondern einzig und allein die Thatsache, daß in der Natur das Tüchtigere überlebt und das Untüchtigere zu Grunde geht, oder sich doch wenigstens minder stark fortpflanzt.⁷⁴

In Zobeltitz’ Roman klingen zwar ähnliche Vorstellungen an, doch ist es gerade durch diese Parallele umso bemerkenswerter, dass die am Ende geschilderte Erblassung nicht über eine Fortpflanzung verläuft, sondern über eine Art Adoption. Dieses Adoptionsmotiv erklärt sich nicht nur daher, dass die Ehefrau des Protagonisten und sein Sohn früh sterben, sondern lässt sich auf eine spezifische geschlechtspolitische Erzähllogik zurückführen. Halterns Adoption signalisiert eine Reproduktionsinitiative, der durch das Onkel-Neffe-Verhältnis zwar eine genealogische Bindungslogik eignet, die sich dennoch jenseits eines biologisch-

 Herrmann, S. 187.  Herrmann, S. 189.  Tille: Volksdienst, S. 116.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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hereditären Dispositivs bewegt und damit auch ein Gegenmodell zum weiblich konnotierten Naturparadigma lanciert. Es zeigt sich an dieser Stelle abermals ein Rückbezug zu aufklärerisch geprägten Denklinien. Gerade das Element der Adoption weist zurück auf eine aufklärerische Tradition, die in der Adoptionsfigur „den Primat der Leistung über die Geburt […] zum Ausdruck brachte.“⁷⁵ Die kontextbedingten Unterschiede sind indes auch hier kaum zu übersehen. Wie Helmut J. Schneider gezeigt hat, emblematisiert das aufklärerische Adoptionsmotiv ein Ideal menschlicher Autogenese, dem die aufklärungstypische Leitdifferenz von Kultur und Natur zugrunde liegt. Das adoptierte Kind repräsentiert demnach „den Triumph der Vernunft und Kultur gegenüber den Mächten des Blutes, der Herkunft und der blinden Gewohnheit.“⁷⁶ Diese aufklärungstypischen Erzählkategorien, die schon in literarischen Texten der Aufklärungszeit auf kritisch-desillusionistische Weise verhandelt worden sind,⁷⁷ werden in Zobeltitz’ Arbeit gänzlich aufgegeben. Nicht die Ideale der Vernunft und Kultur, sondern ein kraftemphatischer Verweisungshorizont und darwinistisch imprägnierter Notwendigkeitsgedanke untermauern die Figur der Adoption, die damit semantisch-diskursiv mit dem selfmade-Narrativ legiert ist: Jeder Einzelne muss die eigene – männliche – Normativität durch Kraftaufwand beweisen, ohne sich auf genealogische Linearitäten stützen zu können. Dass mit der Selbstreferenzialität und Gegenwartsemphase, die der Selfmademan verkörpert, ein spezifisches Männlichkeitsmodell verbunden ist, zeigt sich noch in einer anderen Hinsicht. Der erste Baustein der Aufstiegsnarration besteht im Tod des Vaters. Dieser Verlust der paternalen Instanz geht im Aufstiegsroman nun keineswegs mit einem Scheitern der männlichen Subjektivation einher, sondern ermöglicht vielmehr eine unmittelbare und konfliktfreie Integration in die paternale Ordnung. Dem Sohn bleibt gar nichts anderes übrig, als direkt die Stelle des Vaters einzunehmen und zur paternalen Autoritätsinstanz zu avancieren, was in den Erzählungen immer auch einen Akt der Mannwerdung signalisiert. Man hat den Eindruck, als sei „in wenigen Stunden aus dem Jüngling ein Mann geworden“⁷⁸, verkündet die Erzählinstanz bei Zobeltitz schon im ersten Kapitel. Obgleich der männliche Initiationsprozess gleich zu Erzählbeginn gelingt, zeigen sich im Männlichkeitsmodell, das sich im selfmade-Sujet niederschlägt,  Helmut J. Schneider: Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist. In: Kleist-Jahrbuch 2002, S. 21– 41, hier S. 25.  Schneider: Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist, S. 25.  Vgl. Schneider: Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist, S. 25.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 30.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Spuren des zeitgleich kursierenden Krisennarrativs. Besonders deutlich zeigt sich dies wiederum bei Zobeltitz. Neben der Vorstellung autonomer Männlichkeit, die das selfmade-Sujet evoziert, steht das Scheitern des paternalen Autoritätsanspruchs – ein Scheitern, das nach der patriarchalischen Erzähllogik des Romans dem Verhalten weiblicher Figuren geschuldet ist. Halterns Schwester Marie widersetzt sich dem Verbot, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen, und entzieht ihm damit die väterliche Verfügungsgewalt. Die damit schon brüchig gewordene paternale Autorität wird schließlich auch von der Mutter angefochten: „Ich stehe hier nicht nur als dein Bruder, ich steh hier auch als dein Vormund, an Vaters statt, und ich verbiete dir, auch nur einen Schritt weiter auf diesem Wege zu tun. Hast du mich verstanden, Marie?“ Einen Augenblick war Stille im Zimmer. Dann lachte die Mutter auf: „An Vaters statt? Bin ick nich auch noch da, Herr Sohn?“⁷⁹

Was wie ein paternaler Autoritätsverlust erscheint, erweist sich zugleich als weiterer Schritt auf dem Weg zur dargestellten männlichen Identitätskonstitution. Die Rebellion vonseiten der weiblichen Figuren lässt Haltern die Unüberbrückbarkeit geschlechtsbedingter Differenzen gewahr werden und ermöglicht ihm die dezidierte Absetzung von der Sphäre des Weiblichen: Die Mutter scheint ihn nun „wie durch eine Welt von ihm entfernt“⁸⁰; Schwester und Mutter erscheinen als die unversöhnlichen Anderen: „Sie verstanden ihn nicht, wollten ihn nicht verstehen.“⁸¹ An die Differenz männlich/weiblich koppelt sich eine weitere Polarität: Mit Friedrich Haltern und Marie stehen sich nicht nur ,Mann‘ und ,Frau‘ gegenüber, sondern Bürger und Künstlerin. Dass Marie gegen den Willen ihres Bruders vom bürgerlichen Weg abkommt, markiert folglich einen doppelten Kontrollverlust des Mannes, der trotz aller Bemühungen weder ,das Weibliche‘ noch ,das Unbürgerliche‘ zurückdrängen kann. Hinter der zelebrierten Männlichkeit verbirgt sich also die topische Brüchigkeit einer traditionellen Männlichkeitsimagination, die ihr patriarchalisches Fundament bedroht sieht. Dieses Brüchigwerden des tradierten Männlichkeitskonzepts zeigt sich auch im weiteren Erzählverlauf, in dem eine ödipal lesbare Verstrickung weitere Abstriche der konstruierten Männlichkeit sichtbar werden lässt. Die Verehrung, die Halterns beständig infantilisierte Ehefrau Marion ihm entgegenbringt, rührt von dessen Ähnlichkeit mit ihrem verstorbenen Vater her. Gegen den Willen Halterns wird das Eheverhältnis als VaterTochter-Beziehung ausgelebt, womit die männliche Identität des Protagonisten

 von Zobeltitz: Arbeit, S. 105.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 109.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 109.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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abermals prekär wird. Die Schuld daran wird wiederum der weiblichen Figur gegeben: Die männliche Subjektivation wird dadurch verhindert, dass Marion ihrer Rolle als Ehefrau erst nicht gerecht wird. Dass Marion schließlich doch „vom Kinde zum Weibe“⁸² reift, signalisiert ihre Mutterwerdung, die ihr jedoch zum Verhängnis wird: Wie ihr Kind verstirbt Marion gleich nach der Geburt. Das symbolische Potenzial dieser Handlungswende ist kaum zu übersehen. Die Figur, die sich schließlich doch auf eine traditionelle Mutterrolle verpflichtet, erleidet den Tod, wohingegen die kinderlos bleibende Künstlerin Marie überlebt. In der männlichkeitsemphatischen Aufstiegserzählung tritt folglich ein topisches Krisennarrativ hervor, dessen Fundament die unkontrollierbar gewordene Weiblichkeit ist. Implizit thematisiert wird das Aufkommen von Weiblichkeitsmodellen, die sich nicht mehr an traditionelle Rollenmuster anlehnen und sich der patriarchalischen Ordnung widersetzen. Vor diesem Hintergrund liest sich das Ende des Romans wie ein Problemlösungsversuch. Haltern, der seinen Neffen zum Erben erzieht, gelingt es damit, ein genealogisches Kontinuum ohne jedwede Interaktion mit weiblichen Figuren zu stiften. Die paternale Erzählung schreibt sich ohne weibliche Figuren fort, was den selbstreferenziellen Propositionskern des selfmade-Narrativs einmal mehr auf eine geschlechtsspezifische Ebene erhebt: Männliche Identität, so das Statement des Erzählendes, bedarf zu ihrer Formation und Reproduktion ausschließlich ihrer selbst.Wieder einmal zeigt sich hier der Kontrast zu den Buddenbrooks. Die Krise der Männlichkeit kulminiert und wurzelt in dem Scheitern, das genealogische Kontinuum aufrechtzuerhalten und fortzuführen, was Manns Roman als Prozess einer sich von Generation zu Generation steigernden Effeminisierung auserzählt.⁸³ Zobeltitz’ Roman befreit seinen Protagonisten von dieser ,Gefahr‘, indem er ihm uneingeschränkte Autonomie in puncto Genealogiebegründung gewährt. Imaginiert wird eine Kontinuitätsstiftung und Zukunftssicherung, die ohne weibliche Figuren verläuft. Die postulierte Entbehrlichkeit von Frauen zeigt sich noch in einem anderen Erzählelement. Friedrich Haltern leidet, wie leitmotivisch betont wird, unter Vereinsamung, und ist damit mit dem topischen Problem des modernen vergesellschafteten Subjekts konfrontiert. Diese Isolation wird durch den Kriegseinsatz überwunden. Erstmalig sieht sich Haltern erfüllt von dem

 von Zobeltitz: Arbeit, S. 229.  Vgl. Gwendolyn Whittaker: Überbürdung – Subversion – Ermächtigung. Die Schule und die literarische Moderne 1880 – 1918. Göttingen: V&R unipress, 2013. S. 99.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Bewußtsein, daß der einzelne doch nur ein Glied des Ganzen ist, daß er mit dem Ganzen fühlen muß, daß jeder an seinem Teil, mit seiner Kraft und seinem Können für dies Ganze mitzuschaffen, mitzusorgen, mitzukämpfen hat.⁸⁴

Das ökonomiezentrierte Männlichkeitsmodell, das sich im Aufstiegssujet profiliert, wird hier von einem herkömmlichen, militärisch fundierten Modell überlagert. Vor dem Hintergrund des Vereinsamungsnarrativs wirkt diese militärische Männlichkeit jedoch brüchig. Ihr unmarkiertes Fundament ist die Krise eines Mannes, der den „selbstverschuldeten Individualismus der Moderne“⁸⁵ als Familienvater nicht mehr überstehen kann, da ihm weibliche Figuren den paternalen Status verwehren.Wenn der Krieg es der Figur ermöglicht, sich als Teil einer communitas zu definieren und die eigene Individualität in einem übergeordneten Ganzen aufgehen zu lassen, so übernimmt er folglich ebenjene Kompensationsfunktion, der sich weibliche Figuren entziehen. Auch hier nimmt die selbstreferenzielle Erzähllogik des selfmade-Sujets eine geschlechtsspezifische Rettungsfunktion ein: Haltern findet die Lösung eines vielbeklagten Problems der Moderne, in diesem Fall der einseitige Individualismus, in einer als rein männlich konnotierten Sphäre, dem Krieg. Es zeigt sich hier dieselbe Verschränkung von geschlechtsspezifischer Autonomie-Proklamation und Krisennarrativ, die bei der Kontinuitätsthematik aufscheint: Haltern bleibt gar nichts anderes übrig, als die Lösung seiner Probleme in einer männlich besetzten Sphäre zu suchen, da weibliche Figuren sich dieser Funktionalisierung widersetzen – sei es willentlich, wie im Fall Maries, sei es unwillentlich, wie im Fall Marions. Der Fokus des genderdiskursiven Subtextes kehrt sich damit um. Die Erzählung liest sich nicht nur als Begründungsversuch einer neuen Männlichkeit, sondern als unterschwellige Reflexion neujustierter Weiblichkeit(en): Es ist die Suspension tradierter Weiblichkeitsmodelle, die die Autonomiezelebrierung des Mannes initiiert und die Keimzelle des neuen, selbstreferenziell artikulierten Männlichkeitsmodells bildet. Zobeltitz’ Arbeit ist um 1900 nicht der einzige Roman, dessen Männlichkeitsmodell von einer neu definierten Weiblichkeit herrührt und im selfmade-Sujet Konkretion gewinnt. Auch in Zobeltitz’ Roman Die Erben (1901) wirkt das selfmadeNarrativ dem Brüchigwerden des tradierten Männlichkeitsmodells entgegen, wobei sich jedoch eine andere Erzählvariante abzeichnet. Das Typenparadigma des Selfmademans wird zunächst nicht auf den Handlungsträger projiziert, sondern auf seinen Vater, mit dessen Tod der Roman einsetzt. Gleich zu Beginn be von Zobeltitz: Arbeit, S. 211.  Erhart, S. 87.

1.2 Männliche Subjektwerdung

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findet sich der Protagonist folglich in derselben Lage wie Friedrich Haltern: Durch den Tod des Vaters fällt ihm die paternale Rolle zu. Gleichwohl sind die Ausgangsbedingungen verschieden. Georg Geltern ist der Erbe eines erfolgreichen Großunternehmens, das er von nun an zu leiten hat. Die Subjektivation als Selfmademan scheint damit ausgeschlossen, womit ein genderbezogenes Problem einhergeht, das den weiteren Erzählverlauf bestimmt. Dem Protagonisten, dem das Vorbild des Vaters zur Last wird, bleibt der Eintritt in die paternale Ordnung verwehrt, was ein Brüchigwerden seiner männlichen Identität zur Folge hat. Dieses Brüchigwerden artikuliert sich in der Interaktion mit seiner Geliebten Charlotte, die sich ebenjener Attribute rühmen kann, die dem Protagonisten fehlen: eine „wahre Freude am Vorwärtsstreben“ und in der „Arbeit am eigenen Ich.“⁸⁶ Es zeichnet sich hier eine ähnliche Konstellation ab, wie sie später Theodor Fontanes Roman Mathilde Möhring (postum 1906) ausgestaltet. Eine weibliche Figur gewinnt die Macht über eine männliche Figur, der es an Willenskraft mangelt: „Sie wußte, Georg würde Wachs in ihren Händen sein, sie würde ihn leiten können… er sagte es ja selbst … er wollte, er wünschte nichts anderes.“⁸⁷ Im Gegensatz zu Mathilde Möhring sieht Charlotte in dieser Leitungsbedürftigkeit der männlichen Figur jedoch ein Hindernis zur Eheschließung: Sollten sie eine Ehe führen, in der die Rollen vertauscht waren? In der der Mann sich bewußt unterordnete? Nein! […] Sie wollte nicht Sklavin, aber noch viel, viel weniger Herrin sein… ihr schauderte vor der Ehe, in der sie zu ihrem Gatten nicht mit Stolz würde emporsehen können, in der Stunden kommen mußten, wo sie ihn klein und schwach fand, zaghaft, ohne Entschlußkraft! Und sie kannte den armen Georg nur zu gut, sie hatte ihn studiert seit Jahren, mit mitleidsvollem Herzen oft, mit der brennenden Begierde dann, ihn doch endlich erwachen zu sehen, sich aufraffend zu einer That […]!⁸⁸

Wie Hugo Großmann aus Fontanes Roman ist also Georg Geltern mit einer weiblichen Figur konfrontiert, die stereotypisierte Rollenerwartungen an ihn heranträgt, was mit einer plakativen Inversion einhergeht: Der willensstarke, tatkräftige Mann wird als Wunschbild weiblicher Figuren markiert, die in ihren Projektionen und dem Oktroyieren geschlechtsspezifischer Rollenmuster ebenjene Subjektposition einnehmen, die ihnen die patriarchalische Ordnung gemeinhin versagt. Die männliche Subjektivation geht nicht vom ,Mann‘, sondern von der ,Frau‘ aus, was in Zobeltitz’ Roman vor allem dann ersichtlich wird, wenn Charlotte den Handlungsträger mit einem kategorischen Virilisierungsimperativ

 Hanns von Zobeltitz: Die Erben. Bd. 1. Berlin/Jena: Hermann Costenoble, 1901. S. 61.  von Zobeltitz: Die Erben, S. 64.  von Zobeltitz: Die Erben, S. 65.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

konfrontiert: „[W]erde zum Mann!“⁸⁹ Die oktroyierte Mannwerdung bildet von da an das telos des Erzählverlaufs, der in diesem Zusammenhang das selfmade-Sujet für eine Rettung der prekär gewordenen Männlichkeit instrumentiert: Das Ziel der Mannwerdung gelingt, indem der Protagonist, der Erbe eines Großunternehmens, die eigene Kraft mobilisiert. Nach und nach gewinnt die Figur Freude an der „rastlosen Thätigkeit“ und der „Anspannung aller Kräfte“⁹⁰, fühlt sich in der Arbeit erstarkt und gewinnt als zweiter Anton Wohlfart Einsicht in die „Poesie der Arbeit“, die ihm ein „ästhetische[s] Empfinden“ bereitet.⁹¹ Mit der bürgerlichen conversio gelingt auch die Initiation in die paternale Ordnung. Die Figur, die nun ihre eigene Kraft mobilisiert, kann damit den Platz des Vaters, dem Selfmademan par excellence, einnehmen. Deutlich zeigt sich hier der Konnex von selfmade-Sujet und Männlichkeitsevokation: Dass die Figur ihre eigene Kraft mobilisiert, begründet ihre männliche Identität, was die schlussendliche Verlobung mit Charlotte signalisiert. Der zuvor verweigerten Eheschließung steht nichts mehr im Wege, da der virilisierte Georg seiner Geliebten nun ebenbürtig ist. Im Gegensatz zum Protagonisten aus Arbeit, der sich weder seiner Herkunftsfamilie zugehörig fühlt noch eine Fortpflanzungsfamilie begründet, wird Georg folglich am Ende der Erzählung zum Träger und Stifter einer genealogisch-familialen Kontinuität. Dass diese Bindungen die männliche Identitätsformation zuvor verhindert hatten, ist dem antigenealogischen Propositionskern der neuen Männlichkeitserzählung geschuldet, die sich im selfmadeSujet manifestiert. Das genealogie- und reproduktionsbezogene Männlichkeitsnarrativ wird durch das selfmade-Sujet jedoch nicht eingedämmt, sondern komplementiert und seines kriseologischen Moments enthoben: Der moderne Mann kann der genealogiezentrierten Subjektivationsnorm, die das tradierte Männlichkeitsnarrativ an ihn stellt, gerecht werden, wenn er die eigene Kraft mobilisiert. In einem paradigmatischen Versöhnungsgestus führt der Roman das tradierte Männlichkeitsnarrativ und die Männlichkeitsnorm des selfmade-Narrativs zusammen.⁹² Es zeigt sich hier ein Synthese-Effekt, der für den geschlechtsbe-

 von Zobeltitz: Die Erben, S. 16.  Hanns von Zobeltitz: Die Erben. Bd. 2. Berlin/Jena: Hermann Costenoble, 1901. S. 39.  von Zobeltitz: Die Erben, Bd. 2, S. 27.  Synthesen dieser Art werden in mehreren um 1900 erschienenen Romanen vorgenommen, wobei sich verschiedene Varianten herauskristallisieren. Hans Hopfens Roman Glänzendes Elend (1893) etwa lässt mit dem explizit als Selfmademan bezeichneten Gerhart Küntzel eine Figur in Erscheinung treten, deren ausdrücklicher Wunsch es ist, genealogische Linearität zu stiften. Die Figur, die sich als prototypische Autodidaktin „errungen [hat], was man selbst und allein erwerben kann“, zielt nun darauf ab, ehrenvoll in einer „Ahnengallerie“ verewigt zu werden. Verwirklicht wird das genealogisch-familiale Kontinuitätsbegehren durch die schlussendliche Ehe-

1.3 Exkurs: Modellierungen von Weiblichkeit

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zogenen Subtext des selfmade-Sujets charakteristisch ist. Obgleich der Selfmademan eine Symbolfigur genealogischer Bindungslosigkeit darstellt, bringt er das herkömmliche Männlichkeitsnarrativ, dessen Zielpunkt die Kontinuität einer paternal gestifteten Familiengeschichte ist, nicht gänzlich zum Verschwinden. Nicht umsonst durchwandert der Selfmademan im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert auch und vor allem das Genre des Familienromans. Die Generationen- und Familienromane Fanny Lewalds, Max Kretzers und Rudolf Herzogs verdeutlichen die inhärente Paradoxie des Figurentypus: Die Figur, die sich über eine Negation genealogischer Kontinuität definiert, ist Handlungsträgerin in einem Strukturmodell, das sich um genealogische Kontinuitätsstiftung zentriert.

1.3 Exkurs: Modellierungen von Weiblichkeit Wie der Blick auf Zobeltitz’ Arbeit und Die Erben gezeigt hat, geht die Modellierung von Männlichkeit, die im selfmade-Sujet stattfindet, unweigerlich mit narrativen Konzeptualisierungen weiblicher Identität einher. Besonders deutlich zeigt sich der Konnex zwischen dem Typus des Selfmademans und der Kategorie ,Weiblichkeit‘ in den wenigen Romanen, die das selfmade-Sujet weiblich besetzen. Ein Beispiel dafür ist der 1882 erschienene Roman Herrschen oder Dienen? von Minna Kautsky.⁹³ Dem Roman, der über die flammenden Reden seiner porteparole-Figuren für Gleichberechtigung und Emanzipation kämpft,⁹⁴ dient das leitmotivisch reflektierte selfmade-Ideal als Mittel einer Anklage gegen die Sicherheit des Herrschenden […], die Ueberlegenheit, die der Mann dem Weibe gegenüber in allen Lagen und Verhältnissen des Lebens behaupten will und die er sich selbst als ein angestammtes Recht zuerkannt hat.⁹⁵

schließung mit der adligen Protagonistin des Romans. Vgl. Hans Hopfen: Glänzendes Elend. Berlin: Paetel, 1893. Zitate auf S. 29 und 30.  Dass Kautskys Roman das Aufstiegsmodell weiblich besetzt, ist bereits von Kübler vermerkt worden (vgl. Kübler, S. 73 f.).  Exemplarisch dafür ist das Plädoyer einer – interessanterweise männlichen – Figur für Gleichberechtigung, das die geschlechterpolitische Kernproposition des Romans auf den Punkt bringt: „Und wäre nicht die Gleichheit, die vollständige Gleichberechtigung beider Geschlechter das einzige richtige, um aus Mann und Weib zusammen jene harmonische Existenz eines wahren wirklichen Menschen zu schaffen?“ Minna Kautsky [1882]: Herrschen oder Dienen? Nürnberg: Fränkische Verlagsgesellschaft und Buchdruckerei, o.J. S. 335.  Kautsky, S. 483.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Im Fokus der Erzählung stehen indes weniger die tatsächlichen Aufstiegserfolge der weiblichen Protagonistin als ihre Schwierigkeiten, sich dem selfmade-Ideal zu nähern. Über den Topos des Selfmademans übt Kautskys Erzählung Kritik an einer patriarchalischen Gesellschaft, die die Möglichkeit zur Kraftmobilisierung und autonomen Lebensführung ausschließlich Männern vorbehält. Die musikalisch begabte Elvira, die „vermöge ihrer Kraft“⁹⁶ zu Reichtum, Unabhängigkeit und Handlungsmacht gelangen will, nimmt den Kampf auf „gegen eine Strömung, die jedem Versuch unseres Geschlechts, sich durch eigene Kraft selbständig zu machen, von vornherein sich entgegensetzt […].“⁹⁷ Wie es das selfmade-Sujet vorsieht, löst sich Elvira von sämtlichen familialen und traditionsbezogenen Vorgegebenheiten. Um ihr Ziel der unabhängigen und autonomen Daseinsweise zu erreichen, verlässt die Figur ihre Heimatstadt und zieht nach Paris, wo sie ihren beruflichen Plänen nachgeht. Mit dieser Übersiedlung folgt die Figur ganz dem Muster klassischer französischer Aufstiegsfiguren, die der Ehrgeiz allesamt in die französische Hauptstadt gezogen hat – man denke an Julien Sorel und Rastignac. Paris, so Chantal Jaquet, bildet das „signe de l’ascension sociale“⁹⁸. Der klassische Aufsteigertypus besiegelt durch die Ankunft in Paris seine (soziale und geistige) Distanz zum Herkunftsmilieu, die durch die Übersiedlung räumliche Evidenz gewinnt. Dass Paris als Großstadt zugleich Bilder von Geschwindigkeit, Zentralität, Neuheit und Dynamik nach sich zieht, betont die Modernität des typisierten Aufsteigers: Der Aufstiegsweg vollzieht sich buchstäblich als Weg in die Moderne. Kautskys Roman verleiht damit seiner weiblichen Protagonistin einen dezidierten Modernitätsindex, der in französischen Romanklassikern – und später auch in deutschen Romanen⁹⁹ – ausschließlich männlichen Handlungsträgern vorbehalten ist.

 Kautsky, S. 180.  Kautsky, S. 165.  Jaquet, S. 143.  Was in den französischen Romanen Paris ist, stellt in deutschsprachigen Erzählungen zumeist Berlin dar. In einer Reihe von Romanen – von Heinrich Manns Im Schlaraffenland (1900) bis zu Max Kretzers Der Mann ohne Gewissen (1905) – beginnt der Aufstiegsweg mit einer Übersiedlung in das berlinische Großstadtmilieu. Noch Hans Falladas 1941 verfasster und 1953 erschienener Roman Ein Mann will nach oben folgt dieser Tradition und lässt das Berlin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts als Schauplatz ehrgeiziger Aufstiegsbestrebungen erscheinen – Bestrebungen, die allerdings bei Fallada erst einmal Desillusionierungen nach sich ziehen, bevor sie letztlich doch realisiert werden. Karl Siebrechts inbrünstiger Wunsch, sozial aufzusteigen, äußert sich dabei in seinem immer wieder betonten Wunsch, Berlin zu „erobern“. Vgl. Hans Fallada [1953]: Ein Mann will nach oben. Reinbek: Rowohlt, 2011. S. 77, 109, 117, 480.

1.3 Exkurs: Modellierungen von Weiblichkeit

67

In ihrem vehementen Autonomiewillen wird die Figur zur Verfechterin emanzipatorischer Bestrebungen, die sie dazu antreiben, ihre beruflichen Ambitionen zu verfolgen und sich von der Rollenbestimmung als Ehefrau zu befreien: „Ich gehorche einem allmächtigen, unbezwinglichen Trieb! Er sagt mir, daß der Brauch, die althergebrachte Sitte, die ein Mädchen in ihrer Entwicklung hindert und sie in die engen Grenzen einer nicht begehrten Häuslichkeit verweist, mit meinem innersten Bedürfen, mit meinem Sehnen nicht übereinstimmt. Wohlan, ich will die Freiheit, die ich brauche, mir erobern – gewaltsam – warum zwingt man mich dazu?! […] Ich weiß, […] daß ich nur bauen kann auf die eigene Kraft, daß meine letzte Zuflucht die – List ist. Aber weil ich dieses weiß, […] darum werde ich mein Ziel erreichen und ich werde herrschen über meine Feinde.“¹⁰⁰

Das betonte Autonomiestreben und der Wille zur Kraftmobilisierung nähern die Figur offenkundig dem androzentrischen Bild des Selfmademans an – und entheben es so seiner rigorosen männlichen Exklusivität –, doch macht der Text immer wieder die geschlechtsbezogenen Ausschlussmechanismen deutlich, die dem selfmade-Konzept innewohnen. Zwar kann auch Elvira eine Herauslösung von tradierten Bestimmungen vornehmen und sich den Zielen der Unabhängigkeit und Kraftentfaltung verschreiben, doch muss sie sich zur Realisierung dieser Ziele zunächst in die Abhängigkeit eines männlichen Gönners begeben. Das im Typus des Selfmademans veranschaulichte Ideal der Selbsthilfe erscheint ihr unrealisierbar: „[W]ar ihr als Mädchen nicht jede Selbsthilfe versagt?“¹⁰¹ Der selfmade-Topos wird in seiner genderbezogenen Exklusivität thematisch und zum Mittel einer Kritik an geschlechtsabhängigen Machtverhältnissen. Diese Machtverhältnisse werden von der Figur – die damit einmal mehr dem selfmade-Ideal gerecht wird – schließlich durchbrochen. Aus der einstigen Abhängigkeit von ihrem Gönner kann sich Elvira befreien, sodass ihr Eigenständigkeitsbestreben am Ende des Romans realisiert wird: „Jetzt, auf der Höhe meiner Kunst stehend, ökonomisch frei, jetzt werde ich das Recht haben, nach meinem Sinne und mir selbst zu leben, und jetzt werde ich auch meine Frauenehre mir bewahren können.“¹⁰²

In Verbindung mit der emanzipatorischen Neujustierung des selfmade-Topos mobilisiert der Roman ein Beschreibungsmuster, das für die Erzähltradition des Selfmademans prägend ist. Den rigiden Strukturen Europas werden die unbegrenzten Möglichkeiten in Amerika entgegengesetzt. Auf der Höhe ihres Erfolgs

 Kautsky, S. 213.  Kautsky, S. 169.  Kautsky, S. 500.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

und ihrer ersehnten Unabhängigkeit angelangt, siedelt die Figur nach Amerika über. Das damit verbundene Statement des Romans liegt auf der Hand: Die Wahlheimat für emanzipierte, karrieristische und durchsetzungsfähige Frauen ist nicht die ,alte Welt‘ Europas, sondern Amerika. Statements dieser Art sind für Kautskys Tendenzroman charakteristisch. Sämtliche Handlungselemente transportieren eine genderpolitische Botschaft. Dies betrifft vor allem den Erzählstrang um Elviras Schwester Marie. Im Gegensatz zu ihrer Schwester setzt sich Marie nicht gegen die patriarchalischen Verhältnisse zur Wehr, sondern begibt sich in eine eheliche Abhängigkeit. Der schlussendliche Tod Maries setzt ein ebenso plakatives Statement wie die Amerika-Reise Elviras: Die unterwürfige und abhängige Frau, die „sich zur Haussklavin erniedrigt und […] geistig verkommt“¹⁰³, gehört der Vergangenheit an. Die ,Frau der Zukunft‘ gibt sich nicht mit der Rolle als Ehefrau und Mutter zufrieden, sondern verfolgt berufliche Ambitionen und strebt nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung jenseits der häuslichen Sphäre. Dieses Emanzipationsideal wird durch mehrere Handlungsträgerinnen des Romans repräsentiert. Wie Elvira lehnt sich die Künstlerin Juanna gegen die patriarchalischen Machtverhältnisse auf, die Frauen zu einem „beruf- und ziellos[en]“¹⁰⁴ Dasein zwingen und ihnen die Möglichkeit der Selbstverwirklichung versagen.¹⁰⁵ Der Erzählstrang um Juanna ist folglich ebenso wie die Geschichte Elviras darauf angelegt, geschlechtsbezogene Stereotype zu durchbrechen. Voluntaristisch fundierte Eigenschaften wie Tätigkeitsdrang, Aktivität und Willenskraft, die das selfmade-Narrativ im Einklang mit dem asymmetrischen Genderdiskurs der Zeit gemeinhin als männlich konnotiert, werden einer weiblichen Figur zugeschrieben. Analoge Stereotypdurchbrechungen zeigen sich im Handlungsstrang um Minna, der ebenfalls das Ideal des Selfmademans seiner männlichkeitszentrierten Konstruktionsfunktion enthebt und es für eine Emanzipationserzählung funktionalisiert. In ihrer „gänzlichen Selbstüberlassenheit“¹⁰⁶ wird Minna zur Trägerin emanzipatorischer Bestrebungen, die sich um ökonomische Unabhängigkeit zentrieren. Der Roman, der das selfmade-Sujet auf weibliche Figuren projiziert, nimmt damit nicht nur eine Neudefinition von Weiblichkeit vor, sondern schreibt zu-

 Kautsky, S. 318.  Kautsky, S. 357.  In einem Bericht über ihre bisherigen Lebensstationen stellt die Figur Selbstverwirklichung und Selbstbildung als ausschließlich männliche Vorrechte heraus: „Ich hatte so viel von dem heiligsten Menschenrecht gelesen, die Wahrheit zu erforschen und sich zu bilden, und nun sah ich wohl, […] daß dieses Menschenrecht nur ein Recht der Männer, und selbst unter diesen nur wenigen eingeräumt war.“ Kautsky, S. 351.  Kautsky, S. 24.

1.3 Exkurs: Modellierungen von Weiblichkeit

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gleich an kriseologisch gefärbten Männlichkeitsbildern mit. Fast jede der männlichen Figuren des Romans entzieht sich willentlich oder ungewollt der Versorger*innenrolle und damit einem Kernelement männlicher Identitätskonstrukte. Fritz wird lange Zeit materiell durch Minna unterstützt, der Baron lehnt aus Prinzip die Eheschließung und damit auch die Familiengründung ab, während Alfred es gleich doppelt versäumt, den Rollenerwartungen des patriarchalischen Systems gerecht zu werden: Nach dem Tod seiner Eltern geht er künstlerischen Bestrebungen nach, sodass sich seine Schwestern selbst versorgen müssen; die Ehe mit Marie wird beständig von finanziellen Sorgen begleitet, da Alfred kein gesichertes Einkommen hat. Indem der Roman auf diese Weise das paternale Männlichkeitsmodell dementiert, verschafft er seiner feministischen Emanzipationserzählung ein zusätzliches Legitimationsfundament: Der Appell an die Leserinnenschaft, sich zu emanzipieren, scheint umso dringlicher, als Männer in der erzählten Welt ohnehin nicht fähig sind, eine Versorger*innenrolle einzunehmen. Neben der patriarchalischen Rollenverteilung wird die geschlechtshierarchische Subjekt-Objekt-Relation in der Erzählung destruiert. Immer wieder macht der Roman den Status der Frau als Bezugsobjekt männlicher Definitionsansprüche zum Thema. „Wir brauchen sanfte, gefügige und schüchterne Frauen“¹⁰⁷, postuliert eine männliche Figur in dem Roman. Auch Alfred versetzt Marie permanent in einen Objektstatus: Die Eheschließung zwischen ihm und Marie rührt daher, dass Alfred in ihr die Inkarnation seines stereotypisierten Weiblichkeitsideals sieht. Mit dem Tod Maries wird folglich auch der weibliche Objektstatus zu Grabe getragen. Die Zukunft der erzählten Welt gehört weiblichen Figuren, die sich männlichen Erwartungen widersetzen und ihre Identität wie ihren Lebensstil selbst bestimmen. Auch hier wird die Selbstreferenzialität des selfmade-Sujets geschlechtspolitisch instrumentiert: Die moderne Frau widersetzt sich den Projektionen und oktroyierten Subjektivationsnormen männlicher Figuren und definiert sich stattdessen selbst. Es ist ein ähnliches Statement, das kurze Zeit später Fontanes postum erschienener Roman Mathilde Möhring setzt. Auch bei Fontane entfaltet sich über das Aufstiegssujet ein genderbezogener Subtext, der mit etablierten Geschlechternormen bricht: Die Protagonistin sorgt für den Aufstieg ihres Ehemanns zum Bürger*innenmeister und für den eigenen Aufstieg ins Großbürger*innentum, indem sie ihn zur Leistungserbringung und Arbeit animiert. Die subversive Tendenz des Romans steigert sich dadurch, dass sich das Aufstiegssujet an ein Pygmalion-Motiv koppelt, dessen tradierte genderbezogene Normativität die Erzählung invertiert: Eine weibliche Figur erzieht ihren Ehemann nach ihren Wünschen

 Kautsky, S. 311.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

um und macht ihn zum Gegenstand von Projektionen, indem sie ihm die Subjektwerdung als Selfmademan ans Herz legt. Der Typus des Selfmademans wird zum Produkt einer oktroyierten Selbstkonstitution, durch die sich eine männliche Figur den Wünschen, Ansprüchen und Erwartungen ihrer Ehefrau anpasst, was die angestammte männlichkeitsbezogene Konstruktivität des selfmade-Sujets ad absurdum führt: Der ,Mann eigner Kraft‘ ist der Stellvertreter seiner Frau, die die eigentliche Trägerin der an den Selfmademan gekoppelten Ideale ist. Die genderdiskursive Oppositionslogik, die das selfmade-Narrativ fundamentiert, wird damit suspendiert. Die Figur steht nicht mehr für eine als männliche markierte Aktivität, Kraft und Gestaltungsmacht, die mit einer als weiblich dargestellten Passivität, Schwäche und Ohnmacht kontrastiert wird, sondern die normativ besetzten Zuschreibungen kehren sich um: Es ist die weibliche Aktivität, Kraft und Gestaltungsmacht, die die männliche Figur zur Überwindung ihrer Passivität, Schwäche und Ohnmacht antreibt und ihre Subjektwerdung als Selfmademan initiiert. Dabei ist sich der Protagonist durchaus bewusst, dass sein Verhältnis zu Mathilde von klassischen Rollenverteilungen abweicht: So schwach war er nicht, um nicht einzusehn, daß Thilde mit ihm machte, was sie lustig war, und so uneinsichtig war er nicht, daß er das sehr Unheldische seiner Situation nicht herausgefühlt hätte. Ja, das hätte nicht sein sollen. Aber das waren nur kurze Anwandlungen, eigentlich war er froh, daß jemand da war, der ihn nach links oder rechts dirigierte, wie’s grade paßte. Daß es gut gemeint war und daß er dabei vorwärtskam, empfand er jeden Augenblick, und was ihm über gelegentliche Mißstimmungen am besten forthalf, war die Beobachtung der Methode, nach der Thilde mit ihm verfuhr. In seinem ästhetischen Sinn, der sich an Finessen erfreuen konnte, sah er mit einem gewissen künstlerischen Behagen auf die Methode, nach der Thilde verfuhr, und freute sich der Erleichterungen, die das pädagogische Verfahren ihm unmittelbar gewährte.¹⁰⁸

Die Zusammenführung von ästhetischem und pädagogischem Code und deren Einbettung in einen Genderdiskurs bindet die histoire einmal mehr an den Pygmalion-Stoff an. Der zum Erziehungsobjekt degradierte Antiheld Großmann, dessen Name ein unverkennbares Ironiesignal setzt, ist sich seines Verstoßes gegen die tradierte Männlichkeitsnorm gewahr, empfindet diesen Verstoß jedoch als legitim, da er nicht zuletzt den Schlüssel für das ersehnte Vorwärtskommen darstellt.¹⁰⁹

 Theodor Fontane [post. 1906]: Mathilde Möhring. München: dtv, 1995. S. 64.  In ihren Zielen stehen sich Hugo und Mathilde folglich näher, als es zunächst den Anschein hat. Auch der ,Antiselfmademan‘ Hugo teilt den gründerzeittypischen Aufstiegswunsch, den er durch Mathildes Hilfe realisieren kann. Der soziale Aufstieg wird zum Produkt einer Übereinkunft, die durch die Ehe vollzogen und besiegelt wird. Vgl. dazu Sabina Becker: Aufbruch ins

1.3 Exkurs: Modellierungen von Weiblichkeit

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Vollzogen wird das Aufstiegsprojekt durch einen von Mathilde ausgearbeiteten Trainingsplan. Um Hugos Effizienz und Leistung zu steigern, plant Mathilde selbst Pausen ein, was eine parodistische Bezugnahme auf die zeitgenössisch grassierenden Leistungs- und Steigerungsimperative erkennbar werden lässt: Wenn ihr feststand, wie sie Hugo zu trainieren habe, so stand ihr auch ebenso fest, daß sie so was wie Zuckerbrot beständig in Reserve haben müsse, um Hugo bei Lust und Liebe zu erhalten […]. Überhaupt nur nichts Gewaltsames, nur nichts übereilen. Alles mit Erholungspausen.¹¹⁰

Vor der oktroyierten Metamorphisierung stehen also gezieltes Training, Handlungsanweisungen und kalkulierte Einflussnahme.¹¹¹ Der Erfolg dieses Erziehungsprojekts ist jedoch nur von kurzer Dauer. Auf dem Gipfel des Erfolgs angelangt, stirbt Hugo. Als Todesursache wird Schwindsucht genannt, doch liegt es angesichts des Krankheitsverlaufs, der mit dem Zuwachs an gesellschaftlichen Verpflichtungen korreliert, nahe, von einem Tod durch Überforderung zu sprechen.¹¹² Dass Hugo am Erziehungsprogramm Mathildes körperlich zugrunde geht, verdeutlicht die Anbindung der Erzählung an den Überbürdungsdiskurs der Jahrhundertwende, womit die gendersubversive Tendenz abermals forciert wird:

20. Jahrhundert: Theodor Fontanes Roman „Mathilde Möhring.“ Versuch einer Neubewertung. In: Zeitschrift für Germanistik. Bd. 10, Nr. 2 (2000). S. 298 – 315, hier S. 305 f. Beide Figuren haben ein gemeinsames Interesse, den Aufstieg, den sie durch gegenseitige Kompensationsleistungen realisieren können. Mathilde kompensiert durch ihre Motivation und Energie die Passivität und Schwäche Hugos, der wiederum durch seinen privilegierten Stand und sein Geschlecht Mathildes Marginalität ausgleichen kann (vgl. Becker: Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 305). Die Verlobung wird damit für Mathilde zum Auftakt zur Mündigkeit: „Jetzt aber hatte sie das Recht, zu sprechen und zu handeln“ (Fontane: Mathilde Möhring, S. 51). Durch Hugos kommunalpolitische Tätigkeit verschafft sich Mathilde die Möglichkeit, in die Verhältnisse der sie umgebenden Sozialwelt einzugreifen. Es sind ihre Gestaltungsideen und Befehle, die Hugo als Bürger*innenmeister umsetzt: „Du mußt morgen den Stadtverordneten vorschlagen, daß ein Steindamm gebaut wird (es ist ja nur eine halbe Meile) oder eine Klinkerchaussee oder doch mindestens ein Knüppeldamm, daß die Wagen im Modder nicht steckenbleiben. Und dann laß ein Chausseehaus baun, es ist ja alles noch auf städtischem Grund und Boden, und der Landrat hat nicht mit dreinzureden.“ Fontane: Mathilde Möhring, S. 79.  Fontane: Mathilde Möhring, S. 51.  Dass sich Mathilde der Person Hugos bedient, um ihre Aufstiegs- und Gestaltungsambitionen zu verwirklichen, lässt nicht nur die genderdiskursive Funktionalität des Selfmademans umschlagen, sondern auch die des Parvenü-Typus. Während sich klassische Parvenü-Figuren wie Julien Sorel und Georges Duroy in bewusster Machtausübung weiblicher Figuren bedienen, um einen sozialen Aufstieg zu erzielen, kehrt sich in Fontanes Roman das Machtverhältnis um.  Auch Anja Kischel sieht in der Überlastung Hugos den Grund für dessen Tod. Vgl. Kischel, S. 256.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Während es gemeinhin Vaterfiguren sind, die ihre Söhne durch zu hohe Anforderungen zugrunde richten,¹¹³ ist es bei Fontane eine weibliche Figur, die die Verausgabung und Überbürdung ihres Ehemanns verschuldet. Die Subversionsfunktion verstärkt sich dadurch, dass Hugos Tod zugleich Mathildes Emanzipation besiegelt. Nach Hugos Tod beginnt der Aufstiegsweg vom Kleinbürger*innentum zum Bildungsbürger*innentum von Neuem, doch agiert Mathilde nicht mehr als heimliche Drahtzieherin, die ihren Mann zur Mobilisierung seiner Kräfte antreibt, sondern als Vollstreckerin des eigenen Erfolgsprojekts. Über das Paradigma des Selfmademans setzt der Roman also ein genderpolitisches Statement: Der männlichen Figur, die daran scheitert, sich zum Selfmademan zu transformieren, stellt der Roman eine weibliche Figur entgegen, die diese Subjektivierungsnorm erfüllt.¹¹⁴

 Vgl. hierzu Whittaker, S. 113 f.  Angesichts dieser Inversion scheint es nur konsequent, dass der Roman seiner Protagonistin auch erzähldiskursiv eine markierte Mündigkeit zugesteht. Der Erzähldiskurs konstituiert sich zum einen über weitgehend neutral gehaltene Berichte der Erzählinstanz, die stellenweise mit der transponierten Rede Mathildes interferieren, zum anderen über unvermittelte Figurenrede. Die Gedankenrede Mathildes wird dabei nicht durch die privilegierte Stimme der Erzählinstanz – die bei einer methodisch fragwürdigen Äquivalenzsetzung von Autor*in und Erzähler*in als männlich tituliert werden müsste – korrigiert, sondern erhält den Status einer autonomen Selbstartikulation. Der Protagonistin wird „Sprache verliehen“ (Becker: Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 311). Ein Wechsel in der Diskursivierungsform markiert diesen Autonomiestatus als Produkt einer sukzessiven Entwicklung, die mit dem Aufstiegsweg zusammenhängt. Der Erzählbeginn präsentiert Mathilde aus der Sicht der Erzählinstanz, die durch die Attribution bzw. Aberkennung femininer Qualitäten einen herkömmlichen male gaze einnimmt. Je weiter jedoch Mathildes Aufstiegsprojekt fortschreitet, desto größer wird ihr Redeanteil. Dass sich die Erzählinstanz mit Kommentaren und Wertungen zurückhält und einen nüchtern berichtenden Modus dominieren lässt, ist auf eine propositionale Korrespondenz von discours und histoire zurückzuführen. Wie die diegetische Welt wird der Erzähldiskurs von der parole einer weiblichen Figur beherrscht, die sich weder ihrem Ehemann noch der Erzählinstanz unterwirft. Das distanzierte Verhältnis zwischen Titelheldin und Erzählinstanz, der hohe Anteil innerer Monologe, Gedankenzitate und direkter Redesequenzen verschaffen der narrativ apostrophierten Selbstbestimmung der Protagonistin ein erzähldiskursives Komplement. Mathilde ist, wie es Becker formuliert, „nicht in die Blicke der Männer verstrickt, ihr Schicksal ist es nicht, gegenüber einer von Männern imaginierten Weiblichkeit zu bestehen.“ (Becker: Aufbruch ins 20. Jahrhundert, S. 312). Bezeichnenderweise ist es stattdessen der männliche Romanprotagonist, dem das Recht auf Selbstdarstellung abgesprochen wird. Die Figurenzeichnung Hugos nämlich erfolgt größtenteils durch die direkte Rede Mathildes, die im Gespräch mit ihrer Mutter ein konkretes Bild des entmännlichten Antihelden entwirft. Sowohl auf Text- als auch auf Darstellungsebene werden damit etablierte genderbezogene Machtverhältnisse zum Kippen gebracht.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

73

Ähnlich wie Kautskys Herrschen oder Dienen nimmt Fontanes Roman durch seine genderdiskursiven Umcodierungen eine Sonderstellung in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans ein. Zwar sind im Kontext der erstarkenden Frauenbewegung mehrere Romane erschienen, die bestehende Geschlechternormen und Zuschreibungen angreifen und dabei auch die Erzähldeterminanten des selfmadeSujets umkehren. Wenn etwa Ilse Frapans Roman Arbeit (1903) die „rastlose Tätigkeit“ einer weiblichen Figur im Feld der Wissenschaft zum Thema macht und ihrer Protagonistin eine durch Arbeit entfaltete „Fülle von Kraft“ zuschreibt,¹¹⁵ so enthebt sie die Ideale der Arbeitsamkeit, Leistungsfähigkeit und Disziplin ihrer männlichen Konnotation. Durch die wissenschaftliche Arbeit kann die Figur ihr intellektuelles Potenzial entfalten und eine gewisse Autonomie gewinnen: Die Figur empfindet „einen Genuß am Erkennen, der sie widerstandsfähig machte gegen die Stöße des Geschicks.“¹¹⁶ Derartige Inversionen des selfmade-Narrativs bilden im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Erst in den 1920er Jahren entsteht mit dem ,Neue-FrauRoman‘ der Weimarer Republik eine Textgruppe, die das selfmade-Sujet dezidiert für eine Definition moderner Weiblichkeit instrumentiert.¹¹⁷ Im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert dagegen wird der Selfmademan fast ausschließlich als männliche Figur gekennzeichnet.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart Die genderdiskursiven Akzentsetzungen des selfmade-Narrativs werden ebenso wie seine Kraftemphasen von einer spezifischen Funktionsdimension mitbestimmt. Eine temporale Verweisungsebene macht den Selfmademan zu einem Reflexionsmedium der Zeitkategorien ,Gegenwart‘ und ,Zukunft‘. Ein Selfmademan wie Friedrich Haltern kann weder auf väterliche Unterstützung noch auf eine Erbschaft hoffen und muss sich seine Lebensgrundlage in der Gegenwart und für die Zukunft selbst erschaffen. Die gegenwarts- und zukunftsfokussierte Zeitvorstellung, die der Figurentypus transportiert, verstärkt sich durch seinen fortschrittsoptimistischen Erzählkern: Als Selfmademan gilt derjenige, der einen defizitären Ausgangszustand überwindet und der somit paradigmatisch für eine Suspension vergangenheitsbezogener Bindungen steht. Alles scheint zum Positiven veränderbar, alles scheint gestaltbar, nichts scheint durch Herkunft, Tradi Ilse Frapan: Arbeit. Berlin: Paetel, 1903. S. 48.  Frapan, S. 62.  Vgl. hierzu das Kapitel „Fortführung und Ende einer Erzähltradition“ in der vorliegenden Studie.

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tion oder die Vergangenheit schlechthin festgelegt zu sein. Lediglich die eigene Kraft zählt. Die selbstreferenzielle Sprache, in der sich der Selfmademan konstituiert, begründet seinen spezifischen Gegenwartsindex. Sie zieht eine Unterscheidung zwischen dem Eigenen und Fremden – eine Unterscheidung, die die Differenz von Gegenwart und Vergangenheit nach sich zieht und eng verankert ist im zeitlichkeitszentrierten Selbstverständnis der Moderne: Der Aufstiegsweg des Selfmademans, der sich durch ein erfolggekröntes Beweisen der eigenen Kraft definiert, versinnbildlicht eine Emanzipation von den Einflusskräften der Vergangenheit zugunsten einer zukunftsoffenen Gegenwart.¹¹⁸ Auf exemplarische Weise kommt folglich im Selfmademan eine temporale Relationalität zum Tragen, die Joachim Ritter als modernetypisch charakterisiert hat: „Die mit der modernen Gesellschaft beginnende Zukunft verhält sich diskontinuierlich zur Herkunft.“¹¹⁹ Die von Ritter beobachtete Entzweiung von Herkunft und Zukunft nimmt ähnlich wie das Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, das Reinhart Koselleck beschrieben hat,¹²⁰ im selfmade-Narrativ konkrete Form an. Was der Selfmademan thematisch macht, ist ein modernetypisches „Brechen der Zeit“¹²¹. Mit der Entwertung von Herkunft und Vergangenheit und der Aufwertung von Gegenwart und Zukunft führt das selfmade-Narrativ eine Ausdifferenzierung der Zeitkategorien vor und damit ebenjene Umwertung, die sich systemtheoretisch als zentrales Merkmal des Modernisierungsprozesses bezeichnen lässt. Folgt man Aleida Assmann, so kennzeichnet diesen Prozess ein zeitlicher Erfahrungshorizont, der auf die Zukunft anstelle der Vergangenheit ausgerichtet ist und durch diese Zukunftsfokussierung modernetypische Kategorien und Wertsetzungen denkbar macht: Bewegung statt Stillstand, Transformation und Differenz statt Kontinuität, Erneuerung statt Persistenz, Fortschritt statt Tradition, Innovation statt Überlieferung.¹²² Diese Kategorien, die wesentlich durch die Sattelzeit geprägt worden sind, haben seither die Selbstbeschreibungen der Moderne mitbestimmt. Ihre erneute Konjunktur um 1900 hängt unter anderem mit den technisch-industriellen Entwicklungen zusammen, die sich zu dieser Zeit vollzie-

 Eine ähnliche Beobachtung macht Aleida Assmann in ihrer zeittheoretischen Studie. Assmann zufolge handelt es sich bei dem sozialen Aufstiegsversprechen um ein „mobilisierendes nationales Narrativ, das die Umstellung von Herkunft auf Zukunft zu einem mobilisierenden Wert und Ziel machte.“ Assmann, S. 114.  Joachim Ritter: Subjektivität. Sechs Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974. S. 27.  Vgl. Reinhart Koselleck: ,Erfahrungsraum‘ und ,Erwartungshorizont‘ ‒ zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1989. S. 349 – 375.  Assmann, S. 131– 148.  Vgl. Assmann, S. 23.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

75

hen.¹²³ Unter dem Eindruck tiefgreifender Wandlungsprozesse kann sich leicht ein Wertungshorizont Bahn brechen, der Innovation, Fortschritt und Diskontinuität ins Zentrum rückt. Der Selfmademan, der in seinem Aufstiegsweg ebendiese Zeitkategorien reflexiv macht, wird damit zum Repräsentanten einer Moderne, die die sattelzeittypischen Kategorien des Fortschritts und Wandels sowie der Gestaltbarkeit und Machbarkeit in Anbetracht der technisch-industriellen Entwicklungen neu akzentuiert. Die damit verbundenen Vorstellungen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft lassen ein Verständnis von Moderne aufscheinen, das von vorherigen Modernenarrationen, etwa der prominenten modernediagnostischen Erzählung Baudelaires, in einer grundlegenden Hinsicht verschieden ist. Bei Baudelaire verschmelzen Zeit und Moderne in einer Gegenwart, die sich im Moment ihrer Emergenz verflüchtigt.¹²⁴ Das selfmade-Narrativ dagegen setzt an die Stelle der Ephemerität die Planbarkeit. Was den Selfmademan auszeichnet, sind Zukunftsziele, die er konsequent umzusetzen sucht. Damit führt die Figur nicht nur den Legitimationsverlust der Herkunft vor, sondern sie demonstriert zugleich den Anbruch einer Zukunft, die in der Gegenwart gezielt vorbereitet worden ist. In diesem Zukunftsbild, das auf Planbarkeit, Kontrolle und Kausalität setzt, unterscheidet sich der Selfmademan von Figurentypen, die im selben Zeitraum ebenfalls zu Figurationen der Moderne avancieren. Der Flaneur zum Beispiel ist der Träger eines Modernebilds, das dem selfmade-Narrativ geradezu diametral entgegensteht.¹²⁵ Im Flaneur verdichtet sich das Bild moderner Subjektivität, die weder Bezüge zur Vergangenheit noch Erwartungen an die Zukunft kennt.¹²⁶ In ihrer bedingungslosen Hingabe an eine ephemere Gegenwart schließt diese Subjektvorstellung Kategorien von Fortschritt, Utopie und Steigerung kategorisch

 Sowohl aus zeitgenössischer als auch historischer Sicht lässt sich die Jahrhundertwende als Umbruchsphase beschreiben. Es kam zu einer rasanten Ausdehnung der Industrie, vor allem im Bereich der Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie, die schon die Leitsektoren der ersten Industrialisierungsphase gebildet hatten, sowie in der neu herausgebildeten Chemie- und Elektroindustrie. Vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs versechsfachte sich die industrielle Produktion; es bildeten sich verstärkt globale Handelsstrukturen heraus, technische Innovationen beförderten den Waren- und Personentransport, es kam zu einer beschleunigten Kommunikation durch Telegraph und Telefon und zu einer erhöhten räumlichen Mobilität, forciert durch die durchbrechende Urbanisierung. Vgl. Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: Beck, 2017. S. 27– 43.  Vgl. Assmann, S. 29.  Zum Modernitätsindex des Flaneurs vgl. Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999.  Vgl. Assmann, S. 30.

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aus.¹²⁷ Beim Selfmademan dagegen verbindet sich die Negation der Vergangenheitsreferenz mit einer dezidierten Zukunftsorientierung. Der Selfmademan hat die Vision einer verbesserten Zukunft, die er durch Selbstoptimierung und -kontrolle in der Gegenwart anzubahnen sucht. Die Zukunft bildet insofern die temporale Leitkategorie des selfmade-Narrativs. Sie bildet den Fluchtpunkt der Wünsche, Ziele und Projektionen des konstruierten männlichen Subjekts und wirkt sich damit unweigerlich auf dessen erlebte Gegenwart aus: Was in der Gegenwart geschieht, geschieht vor allem deshalb, weil eine bessere Zukunft in die Wege geleitet werden soll. Obgleich diese temporale Ontologie des selfmadeNarrativs einen ermächtigenden Kern in sich bergen mag, basiert sie auf einer ähnlichen Dialektik, die die Kraftthematik kennzeichnet. Dass die Zukunft von der Herkunft unabhängig ist, macht sie einerseits zu einer suggestiven Versprechung und Verheißung, andererseits zu einem Angstobjekt. Wer es nämlich unterlässt, durch Arbeit und Leistung auf eine bessere Zukunft hinzuarbeiten, der muss mit entsprechenden Konsequenzen rechnen. Aus der Ermächtigungstendenz des selfmade-Narrativs wird damit abermals eine Warngeste. Paradigmatisch zeigt sich hier, wie aus der Allianz zwischen einem zukunftsfokussierten Gegenwartskonzept und bürgerlichen Ideologemen ein modernetypisches Gesellschaftsbild erwächst, das sowohl Mobilität als auch Hierarchien plausibilisiert, Aufstiegsambitionen ebenso wie Abstiegsängste zulässt, und gleichermaßen auf Möglichkeiten wie Notwendigkeiten insistiert. Die zeitlichen Propositionen, die sich in das selfmade-Narrativ einlagern, geben indes nicht nur Aufschlüsse über die dialektische Logik des Figurentypus. Sie fördern zugleich seine ästhetischen Bezugslinien zutage. In der temporalen Erzähldimension des Selfmademans liegt der konzeptuelle Konnex begründet, der die Figur mit einem Kernanliegen der kulturellen Moderne in Bezug setzt. Im Selfmademan artikuliert sich ein Deutungsmuster, das für das Selbstverständnis der Moderne programmatisch ist: der Anspruch, als historisch singuläres Projekt emergiert zu sein und als ein genuin Neues in Erscheinung zu treten, das sich nicht mehr an ästhetischen Normen, tradierten Erzählweisen oder Darstellungsinhalten der Vergangenheit orientiert, sondern einer eigenen Gesetzlichkeit folgt und die Zukunft nach eigenen, vergangenheitsunabhängigen Prämissen gestaltet. Dieser temporal fundierte Autonomie-Anspruch verbindet das selfmade-Narrativ mit einer topischen Figuration des achtzehnten Jahrhunderts: dem Genie.¹²⁸ Auch  Vgl. Assmann, S. 30.  Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass der Geniebegriff des Sturm und Drang um 1900 erneute Konjunktur erfährt. Emphatisch treten Moderneprogrammatiker für eine Wiedergeburt des Genies im Geiste der Männlichkeit ein: „Nur das Genie aber kann die Männlichkeit wiederbringen, den Sturmgeist, der alles Kleinliche niederwirft“, postulieren Julius Hart und Heinrich

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

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das Genie verhält sich „inkommensurabel zum Kosmos der ständischen Laufbahnen“¹²⁹, bricht aus Traditionslinien heraus und rebelliert gegen die Legitimationsfunktion vergangener Zeiten. In Jakob Friedrich Abels Rede über das Genie (1776) heißt es, es verrate Genie oder Mangel desselbigen, wann man mehr oder weniger genau nach einer vorgezeichneten Bahn läuft. Der Genielose, matt und kraftloß, kann nie ohne die Krüke der Reglen und der Geseze gehen, kraftloß und elend, nie über die vorgezeichnete Bahn wegspringen, oder mit Heldenkühnheit sie durchbrechen, um sich selbst schöpferisch eine neue Bahn zu finden; Er schleicht also ruhig und dumm, gleich jenen trägen lastbaren Thier, im Gleisse fort. Das Genie voll Gefühl seiner Kraft voll edlen Stolzes, wirft die entehrende Fesseln hinweg, höhnend den engen Kerker in dem der gemeine Sterbliche schmachtet, reißt sichs voll Helden-Kühnheit loß, und fliegt gleich dem königlichen Adler weit über die kleine niedre Erde hinweg, und wandelt in der Sonne.¹³⁰

Die temporale und kraftemphatische Reflexivität des Selfmademans, die immer auch eine geschlechtscodierte Modellierungsfunktion in sich birgt, hat also ein Vorleben im Genieparadigma der Sattelzeit, das ebenfalls suggestive Vorstellungen von Gestaltungsmacht und Zukunftsoffenheit qua Kraftmobilisierung transportiert.¹³¹

Hart: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart. In: Kritische Waffengänge. Heft 6 (1884), S. 3 – 74, hier S. 74. Wie Urte Helduser herausgestellt hat, ist diese geschlechtscodierte Geniesemantik nicht nur dem Sturm und Drang entlehnt, sondern sie korrespondiert zugleich mit dem gründerzeitlichen Heroenkult. Vgl. Helduser, S. 90 – 92.  Georg Stanitzek: Genie: Karriere/Lebenslauf. Zur Zeitsemantik des 18. Jahrhunderts und zu J.M.R. Lenz. In: Fohrmann, Jürgen (Hrsg.): Lebensläufe um 1800. Tübingen: Niemeyer, 1998. S. 241– 255, hier S. 246.  Jakob Friedrich Abel: Werden grosse Geister gebohren oder erzogen, und welches sind die Merkmale derselbigen? Rede vom 14.12.1776. In: O.V.: Beschreibung des Sechsten Jahrs-Tags der Herzoglichen Militair-Akademie zu Stuttgart, den 14ten December 1776. Stuttgart: Christoph Friedrich Cotta, 1776. S. 34– 67, hier S. 53.  In ihrem Drang, sich von familialen Vorgegebenheiten zu befreien und durch eigene Kraft die Zukunft zu gestalten, führen die fiktiven Selfmademen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts auch das Erbe einer Sturm-und-Drang-Dramatik fort. In dieser bildet der Bruch mit der väterlichen Welt bekanntlich einen Leittopos (vgl. hierzu Peter Michelsen: Der Bruch mit der Vater-Welt. Studien zu Schillers ,Räubern‘. Heidelberg: Winter, 1979). Prominentester Repräsentant ist wohl Karl Moor, der nach einer „seinem genialischen Kraftdrang gemäßen Welt“ (Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie, S. 10) strebt. Das Schicksal Karl Moors ist exemplarisch für den aufklärungstypischen Kampf gegen die Einflusshorizonte der Geburt und Herkunft – ein Kampf, der im Namen der Vernunft gefochten wird: Es ist die vermeintliche Naturgegebenheit der Herkunft und Geburt, die die Sturm-und-Drang-Protagonisten außer Kraft zu setzen suchen (vgl. hierzu Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie, S. 176 f.).

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Angesichts der Bezugslinien zur Spätaufklärung mag die Kontextualisierbarkeit des Selfmademans im Modernediskurs des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts abermals fragwürdig erscheinen. Um jedoch der Komplexität des Figurentypus und des in ihm veranschaulichten temporalen Denkhorizonts gerecht zu werden, bietet es sich an, den grand récit ,Moderne‘ mit Assmann als Produkt räumlich und zeitlich verstreuter Schübe zu verstehen. Folgt man Assmann, so handelt es sich bei der angenommenen Modernisierung nicht um einen einlinigen Prozess, sondern um eine „Dynamik heterogener Schübe, die auf jeweils ganz andere historische Ursachen treffen und dabei sehr unterschiedliche Neuerungen freigesetzt haben.“¹³² Jeder dieser Modernisierungsschübe habe die historische Konzeptualisierung des Verhältnisses von Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit wesentlich mitbestimmt.¹³³ Vor diesem Hintergrund ließe sich der Modernitätsindex des Selfmademans wie folgt beschreiben: Das im Selfmademan hypostasierte Gegenwarts- und Zukunftsdenken hat seine Wurzeln im späten achtzehnten Jahrhundert, wird aber um 1900 unter neuen Vorzeichen und Bedingungen – allen voran ökonomischer und technischer Natur – revitalisiert und modifiziert. Gerade die literaturkritischen Programmbekundungen der emphatischen Moderne führen das sattelzeittypische Zukunftsdenken, das auf den Eigenwert der Gegenwart und die Gestaltbarkeit der Zukunft setzt, mit neuem Pathos fort.¹³⁴ So ruft beispielsweise Eugen Wolff 1888 in seiner Programmschrift Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne zu einer Loslösung vom Legitimitätsanspruch der Vergangenheit auf:

 Assmann, S. 104 f.  Es ließe sich in diesem Zusammenhang auch die Differenzierbarkeit zwischen der Moderne als Makroepoche und ihren verschiedenen Mikroepochen fruchtbar machen: Die Zeit um 1900 wäre in diesem Sinne als Mikroepoche der Moderne zu verstehen, in deren Zeichen temporale Leitkategorien, die die Moderne als Gesamtphänomen ausmachen und ihre Wurzeln in der Epochenschwelle um 1800 haben, unter veränderten realhistorischen Bedingungen erneute Strahlkraft gewinnen. Vgl. zu den Begriffen ,Makroepoche‘ und ,Mikroepoche‘ Dirk Kemper: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: Vietta, Silvio; Kemper, Dirk (Hrsg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München: Fink, 1997. S. 97– 126 sowie Uwe Japp: Kontroverse Daten der Modernität. In: Schöne, Albrecht (Hrsg.): Kontroversen, alte und neue. Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Tübingen: Niemeyer, 1986. S. 125 – 134.  Bereits Urte Helduser hat darauf hingewiesen, dass für die literarischen Tendenzen um 1900 in gesteigertem Maße gilt, was die Makroepoche ,Moderne‘ im Allgemeinen ausmacht: eine spezifische Zeiterfahrung, die vornehmlich durch eine „Bezogenheit auf die eigene Gegenwart“ bestimmt sei und von dort ausgehend imperativische Normen der Veränderung und Innovation setze. Um 1900 radikalisiere sich der Anspruch auf Vergangenheitsunabhängigkeit und Neugestaltung, der bereits seit der Querelle des Anciens et des Modernes wirkmächtige Präsenz entfaltet. Vgl. Helduser, S. 33.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

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Eine jede Generation habe das Recht, aus dem „Geist [der] Zeit heraus eine neue Dichtung nach neuen Gesetzen zu schaffen.“¹³⁵ Es ist der topische Eigenrechtsanspruch der Gegenwart, der sich ein gutes Jahrhundert zuvor in der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung niedergeschlagen hat, wenn es in Artikel 28 heißt: „Un peuple a toujours le droit de revoir, de réformer et de changer sa Constitution. Une génération ne peut assujettir à ses lois les générations futures.“¹³⁶ Wie die konstitutionelle Macht ausschließlich der gegenwärtigen und lebenden Generation verliehen wird, soll die berufene literarische Moderne einzig ihren eigenen Richtlinien folgen. Das Manifest der Moderne ist eine Huldigung der Jetztzeit, die sich – einer tradierten Assoziation folgend – als Apotheose auf das Leben geriert. Im Moderne-Manifest von Hermann Bahr heißt es: Wir wollen die faule Vergangenheit von uns abschütteln, die, lange verblüht, unsere Seele in fahlem Laube erstickt. Gegenwart wollen wir sein. Die Vergangenheit war groß, oft lieblich. Wir wollen ihr feierliche Grabreden halten. Aber wenn der König bestattet ist, dann lebe der andere König!¹³⁷

Gegenwartsemphasen dieser Art und die damit verbundenen Differenztopoi des Alten und Neuen, Vergangenen und Gegenwärtigen, Toten und Lebendigen, Erstarrten und Dynamischen durchziehen die zahlreichen Gründungsakte der Moderne. So proklamiert auch Otto Brahm den Beginn einer neuen, genuin modernen Kunst, die „das gegenwärtige Dasein“ ins Visier nimmt und dabei vom Zwang der Tradition und Konvention befreit ist.¹³⁸ Wie Bahr postuliert Brahm eine Abkehr von den Orientierungsmaßstäben der Vergangenheit zugunsten einer Besinnung auf den Eigenwert der Gegenwart: Dem Werdenden gilt unser Streben, und aufmerksamer richtet sich der Blick auf das, was kommen will, als auf jenes ewig Gestrige, das sich vermisst, in Konventionen und Satzungen

 Wolff, S. 7.  Der Text der Menschenrechtserklärung ist zugänglich unter: http://www.conseil-constituti onnel.fr/conseil-constitutionnel/francais/la-constitution/les-constitutions-de-la-france/constitu tion-du-24-juin-1793.5084.html (letzter Zugriff am 19.11. 2019). Vgl. dazu Johannes F. Lehmann: Kontinuität und Diskontinuität. Zum Paradox von ,Bildung‘ und ,Bildungsroman‘. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 41 (2016), Heft 2, S. 251– 270, hier S. 255 sowie Ohad Parnes, Ulrike Vedder und Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008. S. 97 f.  Hermann Bahr: Die Moderne. In: Kafka, Eduard Michael (Hrsg.): Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik. Jg. 1, Bd. 1 (1890), S. 13 – 15, hier S. 14.  Vgl. Otto Brahm [1890]: Zum Beginn [der „Freien Bühne für modernes Leben“]. In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971. S. 56 f., hier S. 56.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

unendliche Möglichkeiten der Menschheit, einmal für immer, festzuhalten.Wir neigen uns in Ehrfurcht vor allem Großen, was gewesene Epochen uns überliefert haben, aber nicht aus ihnen gewinnen wir uns Richtschnur und Normen des Daseins; denn nicht, wer den Anschauungen einer versunkenen Welt sich zu eigen gibt ‒ nur wer die Forderungen der gegenwärtigen Stunde im Innern frei empfindet, wird die bewegenden geistigen Mächte der Zeit durchdringen, als ein moderner Mensch.¹³⁹

Was Brahms Gegenwartspostulat einfordert, wird im Figurentypus des Selfmademans veranschaulicht. Der Selfmademan, der sich durch die eigene Leistung anstelle der Berufung auf genealogische Linien definiert, wird damit lesbar als Artikulationsmedium eines modernetypischen Anspruchs auf Vergangenheitsunabhängigkeit und Eigenreferenzialität. Dieser Zeitindex manifestiert sich nicht nur im Aufstiegsweg des Selfmademans, sondern auch in den Projekten, die seinen Aufstieg in die Wege leiten. In ihren Unternehmer- und Ingenieursprojekten treten die Figuren als Agenten der Veränderung in Erscheinung und ergreifen rigorose Maßnahmen zur Loslösung der Jetztzeit vom Horizont der Vergangenheit. Exemplarisch lässt sich dies anhand von Wilhelmine von Hillerns 1901 erschienenem Roman Der Gewaltigste demonstrieren. Der anfangs mittellose Protagonist, der schließlich als Ingenieur reüssiert, bringt auch in seinen Bauprojekten eine temporale Perspektive ein, die die Zukunft nicht im Zeichen der Vergangenheit betrachtet, sondern als frei gestaltbare tabula rasa wahrnimmt. Die Abkehr von der Herkunftssphäre, die die erste Stufe des selfmade-Narrativs darstellt, wird durch die plakative Symbolik des Bauprojekts bespiegelt: Der Aufsteiger sprengt sein Elternhaus, damit an dessen Stelle eine Straße gebaut werden kann. Vehement tritt der Protagonist für den Eigenwert von Gegenwart und Zukunft ein und präsentiert sich als „Kind einer Zeit […], die andre Pflichten und andre Rechte“¹⁴⁰ besitzt als die Vergangenheit. Legitimiert wird diese Umstellung vom Vergangenheitsbezug zur Zukunftsfokussierung durch einen biologistischen Bezug auf das Walten der Natur, deren organische Schöpfungskraft immer auch eine Destruktion des Alten bedeute: Die Natur schafft nicht neues Leben, daß es mit dem Alten vergehe sondern um das Vergehende zu ersetzen. Wenn sich das Alte dagegen wehrt, ist es seine Schuld, daß es von der Jungkraft überwuchert wird.¹⁴¹

 Brahm, S. 56.  Wilhelmine von Hillern [1901]: Der Gewaltigste. Stuttgart/Berlin: Cotta’sche Buchhandlung, 1925. S. 80.  von Hillern: Der Gewaltigste, S. 71.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

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Mit dem Bild der „Jungkraft“ geht der temporale Index der Figur in einer vitalistischen Verweisung auf. Es zeigt sich hier eine angestammte Analogiesetzung von Leben, Gegenwart und Kraft. Eine solche Assoziation wird in von Hillerns Roman immer wieder aufgezogen und mit einem archetypischen Fortschrittsnarrativ vernetzt. Der Protagonist, der sich in seiner vitalen Gestaltungskraft hinwegsetzt über die Widerstandskräfte der Vergangenheit, wird zum Herrscher über die Natur. Sich seiner schöpferisch-zerstörerischen Kraft bewusst werdend, übertrifft er die Mächte der Natur und ihre gleichermaßen agonalen Energien: Was jahrtausende Umwälzungen aufgetürmt, von den Tiefen des Meeres bis hinauf zu den Wolken, muß stürzen, zerbröckeln – von der Hand eines einzigen, denkend Erschaffenen! – Was ist der Kampf der Elemente, was der Sieg des Lichts, das nach finsterer Sturmnacht die Nebel zerreißt, gegen das Gefühl einer jungen Seele, wenn der vollendete Mensch zum erstenmal sich selbst begreift, seine Kraft, sein Können, seine Herrschaft über die Gewalten des Unbewußten, er, der Gewaltigste!¹⁴²

Ideale von Fortschritt, Kraft, Vergangenheitsüberwindung und Zukunftsgestaltung gehen an dieser Stelle Hand in Hand und stimmen die Erzählung auf ein darwinistisches Weltbild ab: Die Zerstörung des Alten zugunsten des Neuen wird als darwinistische Triumpherzählung ausagiert, da sie ein Durchsetzen des Stärkeren gegenüber dem Schwächeren impliziert, und als Fortschrittserzählung, da sie einen Siegeszug menschlicher gegenüber natürlicher Schöpfungskraft signalisiert. Gleichwohl ist es nicht die topische Kultur-Natur-Opposition, die die Erzählung strukturiert. Suggeriert wird das Walten einer elementaren Kraft, die den menschlichen Körper zum einen als Analogon der Natur erscheinen lässt, zum anderen mit der Arbeitskraft der Dampfmaschine verbindet. Naturalisierende Vergleiche prägen die körperzentrierte Figurenzeichnung des Romans ebenso wie technizistische. Den Protagonisten kennzeichnet eine muskelzähe, eckige Gestalt, die zugleich an die Elastizität und an die Mißform eines jungen Bergpferdes erinnert. Auch seine Bewegungen sind so gewaltsam und ruckweise, wie die jener hochgewachsenen Tiere, die auf ihren steilen Pfaden Hindernisse, wie Felsblöcke, Moränenschutt, schäumende Wasserstürze oder klaffende Spalten, zu nehmen haben. Dabei ist eine fortwährende Unruhe in ihm, als ob seine Muskeln von der eigenen gespannten Kraft erzitterten, wie eine geheizte Dampfmaschine, bevor sie angelassen wird.¹⁴³

Naturalisierungen dieser Art ermöglichen es dem Roman, das Narrativ vom Aufbruch in die technische Moderne als emphatische Gewinnerzählung auszu-

 von Hillern: Der Gewaltigste, S. 22.  von Hillern: Der Gewaltigste, S. 9.

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

schreiben. Trotz oder vielmehr aufgrund ihrer Zerstörungskraft erscheint die technische Modernisierung nicht als Bedrohung der Natur, sondern als Ausdruck einer Veränderungsdynamik, die in doppeltem Sinne selbst Natur ist: Die elementare Vitalkraft, die ihr innewohnt, signalisiert in ihrem Sieg über ein geringeres – natürliches – Kraftpotenzial das Wirken eines darwinistischen Naturgesetzes. Verbunden mit dem diskontinuitätszentrierten Temporalitätsindex des Selfmademans ist also eine darwinistisch und lebensideologisch kolorierte Apotheose auf die technische Moderne. Apotheotisch wird die Erzählung vor allem dann, wenn sie die Zerstörungs- und Erneuerungslust der Figur, die sie vehement als Ausdruck einer Vitalkraft ausweist, über eine bildhaft-pathetische Sprache und expressionismustypische Rhetorizität diskursiviert. Rhythmisierte und parataktische Satzkonstruktionen, alliterative Rekurrenzen und Inversionen erzeugen eine phonetische Materialität, die in einem mitunter hypertrophen Pathos einmündet: Aber jetzt – ein fürchterliches Zittern geht durch den Berg, der Boden unter ihren Füßen wird rissig. Jauchzt, Himmel und Hölle, jauchzt, zerstörende Mächte! Die Massen bewegen sich – ein Zwängen und Drängen, Schieben und Stoßen im Innern, der Berg bläht sich – birst – und brüllend hervor bricht der Drache! Die Echos donnern es weiter von Firn zu Firn, die Lüfte kreischen, es ist wie ein einziger Angstschrei durch die ganze Natur. Krachend zerspaltet’s die Felsen, sie neigen sich – stürzen, eine Steinwolke verdüstert die Luft.¹⁴⁴

Die poetische Funktionalisierung, die die Zerstörungswut an dieser Stelle erfährt, verstärkt die emphatische Konnotation, mit der die temporalen Kategorien der Zäsur und Diskontinuität bei von Hillern besetzt werden. Die zäsurzentrierte Temporalität, die im Selfmademan zum Ausdruck kommt, ist Teil einer moderneaffirmativen Triumpherzählung, die emphatisch eine Zerstörung des Alten und Vergangenen zugunsten des Neuen und Gegenwärtigen postuliert und diesen Siegeszug der Gegenwart als Durchbruch einer vitalen Energetik zelebriert. Strukturiert wird der Roman folglich durch die angestammte „Rhetorik der Doppelfiguren“ – „gegenwärtig/vorherig; neu/alt; vorübergehend/ewig“¹⁴⁵ –, die die Selbstbegründungen der programmatischen Moderne fundiert. Auch die assozi-

 von Hillern: Der Gewaltigste, S. 178 f.  Gerhart von Graevenitz: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Konzepte der Moderne. Stuttgart: Metzler, 1999. S. 1– 16, hier S. 10. Vgl. zu den Differenzbildungen den von Graevenitz zitierten Aufsatz von Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart: Klett-Cotta, 1978. S. 93 – 131 sowie Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 328.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

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ierten Folgedichotomien, die den Erzähldiskurs organisieren – lebendig/tot, kraftvoll/schwach –, haben ein Vorleben in der ästhetischen Semantik des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts. Neues Leben heißt in den naturalistischen Moderne-Manifesten, durch einen Bruch mit Traditionen und Vergangenheitsrelikten Stillstand und Erstarrungen zu überwinden und die Dynamiken der eigenen Zeit ungehemmt auszukosten. Aus dem naturalismustypischen Neuheitsdrang und Modernitätspathos geht folglich eine vitalistische Ekstase hervor, die Programmatiken mit literarischen Erzählungen vereint. Wie sehr von Hillerns Roman im Zeichen einer naturalistischen Ästhetik steht, zeigt sich, wenn man seine elementare semantische Organisation vor der Folie naturalistischer Programmschriften liest. In Wilhelm Bölsches Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik (1887) etwa wird der naturalistische Erzähltopos vom Siegeszug des Neuen über das Alte mit dem Triumph des Gesunden über das Kranke in Bezug gesetzt. Es zeichnet sich bei Bölsche folglich ebenjene darwinistische Aufladung moderner Zeitlichkeit ab, die später in von Hillerns Roman erzählkonstitutiv wird. Diskontinuitätselan und Lebenspathos, die von Hillerns Roman prägen, werden bei Bölsche zu klassischen Erzählsujets deklariert. Eine Literatur, die diesen temporalen und pathologisierenden Propositionskern vermittelt, bewege sich in enger Nähe zum darwinistischen Gedankengut: Unendlicher Stoff für den Dichter liegt allerdings auf diesen Gebieten. Sowohl das Aufstreben des Neuen wie das Absterben des Veralteten, die geheimnissvollen Processe, wie das Gesunde verdrängt wird durch ein Gesunderes, wie es zum Ungesunden herabsinkt durch haltlose Opposition gegen das bessere Neue, ohne selbst das alles begreifen zu können – sie sind seit alten Tagen die Domäne der Poesie, ohne dass man sich in der rechten Weise über die eigentlichen Gesetze, die darin walten, und ihre Beziehungen zu den Darwin’schen Gedanken hat klar werden wollen.¹⁴⁶

Wenn von Hillerns Roman Der Gewaltigste das Bild des aufstrebenden Neuen mit dem des absterbenden Alten korreliert und vitalistisch untermauert, so greift er folglich auf ein semantisches Reservoir zurück, das seit den 1880ern die naturalistische Poetik prägt. Von Hillerns Roman ist um 1900 nicht der einzige, der über die im Selfmademan hypostasierte Zeiterfahrung emphatische Bilder vom technisch-ökonomischen Modernisierungsprozess zeichnet. In einer Reihe von Romanen fungiert der Selfmademan als Sinnbild einer fortschreitenden Selbstermächtigung

 Wilhelm Bölsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Aesthetik. Leipzig: Carl Reissner, 1887. S. 81.

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des männlichen Subjekts durch Wissenschaft und Technik. Schon Elisabeth Werners Roman Die Alpenfee (1888) korreliert das Aufstiegssujet mit einem Fortschrittsnarrativ und einer Kraftemphase – ein Konnex, der 1913 in Bernhard Kellermanns Der Tunnel (1913) revitalisiert und metaperspektivisch verhandelt wird.¹⁴⁷ Über den Typus des Selfmademans reflektieren die Romane Gegensätze, die in einem temporalen Wertungsfeld verortet sind und strukturbildende Elemente des grand récit ,Moderne‘ darstellen: Dynamik und Fortschritt werden mit Stagnation und Stillstand kontrastiert, Vergangenheitsbezogenheit mit Zukunftsoffenheit. Seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zeichnet sich indes noch ein anderer Beschreibungskontext ab, für den der Zeitindex des Selfmademans zentral ist. In einer Reihe von Romanen wird die Veränderungslogik, die der Selfmademan signalisiert, nicht auf den technischen Modernisierungsprozess bezogen, sondern auf Mentalitäten, Lebensstile und Verhaltensweisen. Das Bild einer zukunftsoffenen Moderne, in der Traditionslinien obsolet und genealogische Kontinuitäten anachronistisch geworden sind, lagert sich in Verlusterzählungen ein, die um die Kategorien von Schein und Authentizität kreisen. Diese Beschreibungslinie geht in eine ganz andere Richtung als die technikzentrierte, die sich in den Romanen von Hillerns,Werners und Kellermanns abzeichnet, doch setzt auch sie beim temporalen Propositionskern des Selfmademans an. Die gegenwartsbezogene Zeitlichkeit, die der Figurentypus illustriert, wird zum Gegenstand einer Diskreditierung, deren positive Gegennorm die kontinuitätszentrierte Institution der (aristokratischen) Familie ist. Ausgangspunkt dieser Beschreibungslinie ist nicht selten ein ,Kulturaristokratismus‘, der sich im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts textsortenübergreifend herausbildet und den Zeitindex des Fortschrittsnarrativs umschlagen lässt: Nicht mit der Suspension, sondern mit der Stabilität genealogischer Bindungen ist ein kultureller Fortschritt verbunden. In diesem Fortschrittsnarrativ fungiert der Selfmademan als negative Exemplifikationsfigur. Eduard von Hartmann beispielsweise stützt die in der Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins (1879) entfaltete These einer „Antinomie von Gesamtwohl und Kulturentwicklung“¹⁴⁸ auf die kulturelle Dekadenz, die sich im Lebenswandel eines Selfmademans niederschlage. Der Selfmademan steht bei Hartmann für die Herrschaft einer „nicht-erblichen Amtsaristokratie“, die im Gegensatz zur „befestigte[n] Aristokratie des Grundbesitzes“ keinerlei

 Vgl. Kapitel 4.2 in diesem Buch.  Jean-Claude Wolf: Eduard von Hartmann. Ein Philosoph der Gründerzeit. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006. S. 219.

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Beitrag zur „Erhaltung der Cultur“ leiste und unweigerlich in „Rohheit, Gemeinheit und Unsittlichkeit“ ausarten müsse.¹⁴⁹ Der steigerungsunfähige „Culturzustand der Masse“ könne sich nur dann heben, wenn die „Cultur der begünstigten Minderheit“¹⁵⁰ wächst, wohingegen eine Privilegierung aufstrebender Männer aus dem ,Volk‘ einen kulturellen Niedergang zur Folge habe: Denn es ist eine bekannte Erscheinung, dass ein Parvenu oder self-made-man nur aus Eitelkeit und ohne Geschmack und Verständniss Mäcenatenthum zu treiben und Bildungsinteressen nur zu erheucheln pflegt, dass seine Kinder sogar meist einem lüderlichen Genussleben niederer Art zuneigen, und dass erst die dritte Generation, welche an die Art der Erwerbung ihrer Erbgüter nicht mehr denkt, sondern sich ihrer als eines angestammten, gesicherten Besitzes erfreut, einen angemessenen Theil ihres Wohlstandes aus innerem Interesse auch der Förderung höherer Geistescultur zufliessen lässt.¹⁵¹

Bei Hartmann wird also der Aufsteiger mit dem Stigma der Kulturlosigkeit belegt. Diskreditierungen dieser Art schlagen sich im selben Zeitraum auch in literarischen Aufstiegserzählungen nieder. Julius von Wickedes 1884 erschienener Roman Die Streber beispielsweise lässt den Aufsteiger als Signum eines Verfallsprozesses erscheinen, in dessen Verlauf ein autotelisches Vorwärtsstreben an die Stelle moralischer Prinzipien rückt. Der gesamte Erzählkosmos wird von Aufsteiger*innen unterschiedlichen Kalibers bewohnt, deren Gemeinsamkeit ein rastloser Ehrgeiz ist. Das Spektrum reicht von der Justizrätin, über deren Herkunft „ein gewisses geheimnißvolles Dunkel“¹⁵² schwebt und die nach Ruhm und Ansehen trachtet, über den Kommerzienrat, der nach Nobilitierung strebt, bis zum Freiherrn von Sonnenburg, der eine Karriere im Militärwesen anvisiert. All diese karrieristischen Bestrebungen werden mit einer unverhüllten Missbilligung geschildert, die ihren deutlichsten Ausdruck im Ende der Erzählung findet. Programmatisch beschließt der Roman die Diskreditierung der Moderne durch den „gänzliche[n] Untergang aller ehrsüchtigen Streber“¹⁵³. Auf den Aufstieg sämtlicher Emporkömmlinge folgt unvermittelt der Fall, der weniger aus einer diegetischen Motiviertheit erwächst, als dass er ein moralisches Statement setzt. Der zum Spekulanten gewordene Kommerzienrat geht bankrott, die Justizrätin erhält Einsicht in die Lächerlichkeit ihrer Assimilationsbestrebungen, die anderen Fi-

 Eduard von Hartmann: Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins. Prolegomena zu jeder künftigen Ethik. Berlin: Carl Duncker, 1879. S. 634 f.  von Hartmann, S. 634.  von Hartmann, S. 634.  Julius von Wickede: Die Streber. Socialer Roman aus der Gegenwart. Breslau: S. Schottlaender, 1884. S. 43.  von Wickede, S. 179.

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guren zerstören sich gegenseitig durch intrigante Racheakte. Am Ende des Romans stehen die Wiederherstellung einer Ordnung, die durch die Aufsteiger*innen bedroht war, und die programmatische Warnung vor der Teilhabe an einer vermessenen Moderne, die sich von ihren tradierten Fundamenten lossagt. Von Wickedes Roman reproduziert damit zwar herkömmliche modernisierungsfeindliche Beschreibungsmuster, doch lagert sich in die Fehde gegen die Moderne ein Erzählelement ein, das stereotypisierte Muster unterläuft. Eine der wenigen positiv gezeichneten Figuren ist der jüdische Kaufmann Aaron. Auch er wird als Aufsteiger präsentiert, doch unterscheidet sich sein Aufstiegsweg von dem der übrigen Figuren. Während diese über vorteilhafte Eheschließungen und Beziehungen reüssieren, erzielt Aaron seinen Aufstieg über eine Lebensführung, die sich am Franklin’schen Tugendkatalog orientiert: Als armer Knabe hatte er von Kindesbeinen an den Handel begonnen ganz allmälig und in dem sauersten Schweiß der unausgesetzten härtesten Arbeit, die kaum des Nachts ihm wenige Stunden Ruhe gönnte; und dabei von der strengsten Sparsamkeit in All’ und Jedem, hatte er sich langsam emporgearbeitet.¹⁵⁴

Das Arbeitsethos der Figur lässt ihr einen Zeitindex zuteil werden, der sie von den übrigen Aufstiegsfiguren des Romans abgrenzt. Während die anderen Aufsteiger*innen zu Figurationen einer Gegenwart werden, die gezielt mit der Vergangenheit bricht, steht Aaron für eine Zeitlichkeit, in der Kontinuität und Diskontinuität zusammentreffen. Zwar versinnbildlicht auch sein Aufstiegsweg die Veränderbarkeit individueller Verhältnisse, doch schreibt sich in diese Veränderungslogik ein bürgerlich ideologisiertes Kausalitätscredo ein: Die herbeigeführte Veränderung anfänglicher Verhältnisse ist das Ergebnis disziplinierter Arbeit und Sparsamkeit. Was in der Zukunft eintritt, ist in der Gegenwart angebahnt worden. Die damit verbundene Verschmelzung von Kontinuität und Diskontinuität lässt sich als konstitutives Element des selfmade-Narrativs bestimmen, von dem die suggestive Verheißungsfunktion des Figurentypus herrührt. Auch sein Kontrastverhältnis zu einem scheinbar verwandten Typus wie dem Parvenü liegt in dieser Zeitlichkeit bedingt. Der Selfmademan nutzt seine Gegenwart, um eine verbesserte Zukunft anzubahnen. Der Parvenü dagegen fokussiert sich manipulatorisch auf die Vergangenheit, um seinen Wunsch nach Veränderung umzusetzen. Sein Bestreben zielt darauf, über den Erwerb eines Adelstitels oder die Einheirat in eine alteingesessene Familie den Eindruck einer fehlenden genealogischen Vergangenheit zu kompensieren. In beiden Figurentypen werden also verschiedene Zugriffe auf die jeweilige Gegenwart sichtbar, wodurch sie zu Trägern je verschie von Wickede, S. 51.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

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dener Zeiterfahrungen avancieren. Besonders deutlich zeigt sich dies in Romanen, die beide Figurentypen kontrastieren. Georg von Omptedas 1909 erschienener Roman Droesigl beispielsweise lässt mit dem Titelhelden einen prototypischen Parvenü in Erscheinung treten. Das Fehlen einer vergegenwärtigbaren Vergangenheit, von der aus die eigene Normativität begründet werden kann, wird der Figur zum Stigma, das sie verbissen zu verbergen sucht. Louis Droesigl täuscht eine genealogische Glanzvergangenheit vor – „ein Droesigl war vor der Reformation Bürgermeister“¹⁵⁵ –, heiratet in die aristokratische Familie Kölln ein, versucht durch übermäßigen Prunk und Habitusassimilation als Teil der aristokratischen Oberschicht anerkannt zu werden, und erhält schließlich den lang ersehnten Adelstitel. Den Gegenpol dazu bildet sein Vater, der Kommerzienrat Droesigl, den der Roman als Selfmademan par excellence präsentiert: Der Figur ist es gelungen, „sich vom einfachen Arbeiter in höchste Höhe zu schwingen“¹⁵⁶. Im Gegensatz zu seinem Sohn ist Droesigl nicht darauf bedacht, durch genealogische Zugehörigkeitsemphasen kulturelles, soziales und symbolisches Kapital zu akquirieren. Der aristokratischen Vergangenheitskultur hält die Figur eine bürgerlich ideologisierte Selbstreferenz entgegen. Bezeichnenderweise steht die damit verbundene Gegenwartsemphase selbst im Zeichen einer historischen Verweisung: In Droesigls Fehde gegen ein aristokratisches Genealogiedenken verdichten sich topische Argumentationsfiguren der römisch-antiken und renaissantistischen novitas-Debatten. Droesigls ausgeprägte „Abscheu vor Titeln, Orden, äußerlicher Stellung in der Welt“ und seine Überzeugung, „es gelte nur das, was man sich selbst erworben habe“¹⁵⁷, korrespondieren der programmatischen Aussage Senecas, nicht eine „Halle voll rauchgeschwärzter Ahnenbilder“¹⁵⁸ weise jemanden als vornehm aus. Es handelt sich um einen Argumentationstopos der nobilitas-Debatten, der in Juvenals Kampfansage gegen den Standesstolz satirisch funktionalisiert wird¹⁵⁹ und sich in Petrarcas moralphilosophischer Schrift De remediis utriusque fortunae wiederfindet.¹⁶⁰

 Georg von Ompteda: Droesigl. Berlin: Egon Fleischel & Co, 1909. S. 174.  von Ompteda, S. 174.  von Ompteda, S. 189.  Lucius Annaeus Seneca: Wahrer Adel [44. Brief]. In: Ders.: Epistulae morales ad Lucilium/ Briefe an Lucilius. Bd. 1. Hg. und übersetzt von Gerhard Fink. Düsseldorf: Artemis & Winkler, 2007. S. 231.  In seiner achten Satire unterzieht Juvenal das antimeritokratische Genealogiedenken einer scharfen Kritik. Über eine rhetorische Fragereihung dekuvriert die satirische persona nicht nur die Nichtigkeit von Stammbäumen, sondern hält den ahn*innenstolzen Namensträgern ein Verhalten jenseits aller virtus vor, das sie – so die Kritik der Sprechinstanz – durch die Berufung auf die Verdienste der Vorfahr*innen zu verdecken suchen: „Welchen Wert haben schon Stammbäume? Was nützt es, Ponticus, nach uraltem Blut eingeschätzt zu werden, gemalte Gesichter der Ahnen

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1 Der Selfmademan um 1900: Erzähldeterminanten

Auch die Rede des Selfmademans Droesigl zu Ehren seiner adligen Schwiegertochter sagt dem genealogischen Vergangenheitsbezug den Kampf an. Dem aristokratischen Ahn*innenstolz begegnet der Kommerzienrat mit dem topischen Argument, dass sich jene angepriesenen Vorfahr*innen ihr Ansehen durch Verdienst errungen haben und der Erbadel somit auf demselben meritokratischen Normenarsenal aufruht, das ihn selbst als Selfmademan definiert: „Und ich glaube, wenn sie sich ihrer Vorfahren erinnert, die durch eine Leistung ihren Namen verdient haben, so kann sie sich auch wohl fühlen, denn meinen schlichten bürgerlichen Namen habe ich mir genau so verdient wie ihre Vorfahren, nur ist’s nicht so lange her.“¹⁶¹

Die Verbindungslinie des Selfmademans führt also nicht zum Parvenütypus, sondern zum homo novus: dem männlichen Subjekt, das seine Nobilität durch Verdienst erworben hat. Auch die Aristokratie wird bei von Ompteda folglich vom Stigma der Vergangenheitsbezogenheit befreit. Dem Erbadel wird ein tradiertes Alternativmodell gegenübergestellt, das den vir nobilis auf Leistung und Verdienst verpflichtet. Vertreten wird dieses Modell auch vom Prinzen Hohengart: „Wir gehören hier beinahe alle durch Geburt zu jenen Familien, deren einer Sproß vor vielen hundert Jahren einmal Bedeutendes geleistet hat und dadurch sich den adeligen Namen erwarb. Ich glaube aber versichern zu dürfen, daß es in unseren Familien immer Leute gegeben hat, die den Namen, den ihr Ahn erwarb, sich von neuem verdienten, ja, daß es solche Leute in all unseren Familien noch heute genug gibt. Es ist eine alte Erfahrung, daß es schwerer ist, sich auf einmal erreichter Höhe zu erhalten, als sie zu gewinnen.“¹⁶²

Das gegenwartsemphatische und bürgerlich ideologisierte Zeitkonzept, das der Selfmademan versinnbildlicht, wird damit auch auf die Aristokratie projiziert. Auch der Adel orientiert sich in dieser Perspektive am Prinzip der Leistung, anstatt sich ausschließlich auf die Vergangenheit zu berufen. Die Polarität zwischen dem Selfmademan und Aristokraten, die den tradierten Konflikt zwischen dem homo novus und vir nobilis revitalisiert, wird bei von Ompteda folglich behoben.

vorzuzeigen […], welchen Gewinn bringt es, auf ausladener Ahnentafel mit einem Corvinus zu protzen, danach mit vielen Zweigen die Verbindung herzustellen zu rauchgeschwärzten Reitergenerälen samt einem Diktator, wenn man vor Lepidern ein übles Leben führt?“ Juvenal: Satura VIII/Achte Satire. In: Juvenal Satiren. Lateinisch ‒ deutsch. Hg. und übersetzt von Joachim Adamietz. München: Artemis & Winkler, 1993. S. 167– 188, hier S. 167.  Vgl. dazu Tilmann Jorde: Cristoforo Landinos De vera nobilitate. Ein Beitrag zur NobilitasDebatte im Quattrocento. Stuttgart/Leipzig: Teubner, 1995. S. 77– 91.  von Ompteda, S. 120.  von Ompteda, S. 122 f.

1.4 Diskontinuität und Gegenwart

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Beiden wird über das Verdienstethos eine gegenwartsemphatische Selbstreferenz attestiert, sodass beide im Parvenütypus und dessen vergangenheitsbezogenen Inszenierungspraktiken eine gemeinsame Gegenfigur finden.

2 Resonanzeffekte Wie sich gezeigt hat, lassen sich dem selfmade-Sujet um 1900 spezifische Funktionsebenen zuschreiben, die eng miteinander verbunden sind: eine kraftbezogene, insofern die Mobilisierung der eigenen Kraft und die Gestaltbarkeit des Lebens verhandelt werden, eine genderdiskursive, insofern die Kategorie der Männlichkeit narrativiert wird, und eine temporale, insofern der Eigenwert von Gegenwart und Zukunft thematisch wird. Diese Korrelation von Kraftemphase, Männlichkeitsideal und Zeitvorstellung ist nicht nur für die literarischen Gestaltungen des Selfmademans um 1900 konstitutiv, sondern zeichnet sich im selben Zeitraum auch in anderen Textsorten ab, die an der Popularisierung des selfmadeSujets teilhaben. In der biographischen Literatur ist seit den 1870er Jahren leitmotivisch vom ,Mann eigner Kraft‘ die Rede, der durch produktive Kräfteaktivierung einen Aufstieg erzielt; um 1900 geben Ratgeberschriften wie Wilhelm Berdrows Seines Glückes Schmied (1907) Anleitungen zur maximalen Kraftausschöpfung, während Nationalökonomen wie Werner Sombart von einem unternehmerischen Aufsteigertum ausgehen, das als Kennzeichen der kapitalistischen Epoche beschrieben wird. Was das selfmade-Narrativ um 1900 hervortreten lässt, ist folglich ein Dialogverhältnis zwischen verschiedenen Textsorten und diskursiven Feldern. Dieses Dialogverhältnis ist vor allem deshalb relevant, da es den Typus des Selfmademans als Produkt und Träger synchroner und textsortenübergreifender Interferenzen sichtbar werden lässt. Um diese Interferenzen konzeptuell zu beschreiben, bietet sich der vom New Historicism geprägte Begriff der ,Resonanz‘ an. Gemeint ist das Potenzial eines Textes oder textuellen Elements, „über seine formalen Grenzen hinaus in eine umfassendere Welt hineinzuwirken“¹ – eine Welt, die wiederum als Möglichkeitsbedingung textueller Aussagen in die jeweilige Textwelt hineinwirkt: Mit dem für den New Historicism zentralen Begriff der Resonanz ist ja zunächst gemeint, daß im historischen Text der Widerhall kultureller Werte, Kontexte und Praktiken mitschwingt, daß also im „Innerhalb“ des Textes das „Außerhalb“ kultureller Codices anwesend ist, die den Ermöglichungsraum dieses Textes in seiner Form bereiten und die als kulturelles Material von ihm aufgenommen und vielleicht transformiert werden.²

 Stephen Greenblatt: Resonanz und Staunen. In: Ders.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin: Wagenbach, 1991, S. 7– 29, hier S. 15.  Christa Karpenstein-Eßbach: Johann Karl Wezel als Treffpunkt aufklärerischer Energien aus der Perspektive des New Historicism. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 77 (2003), S. 564– 590, hier S. 569. https://doi.org/10.1515/9783110766134-004

2.1 Sammelbiographien

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Wenn der Typus des Selfmademans um 1900 nicht nur die fiktionale Erzählliteratur, sondern Biographien, Ratgeber und Unternehmertheorien durchwandert, so bildet sich eine historisch spezifische Konstellation heraus, in der es zu wechselseitigen Entlehnungen, Verweisungen und Modifikationen kommt. Wie diese Resonanzeffekte im Einzelnen aussehen, soll im Folgenden anhand einer synchronen Kontextualisierung des selfmade-Narrativs herausgestellt werden. Im Vordergrund der Betrachtungen steht dabei das beobachtete Dialogverhältnis zwischen fiktionalen und faktualitätsbeanspruchenden Texten, die im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert am Topos des Selfmademans mitschreiben.

2.1 Sammelbiographien Wenn Zobeltitz’ Roman Arbeit den Aufstieg eines Unternehmers schildert, so folgt er einem Erzählschema, das seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts auch im Feld der biographischen Literatur grassiert. Der Aufstieg ,aus eigener Kraft‘ bildet den Gegenstand zahlreicher Unternehmerbiographien, die über das selfmade-Sujet biographischen Sinn stiften und dabei das durch Franklin geprägte Erzählmodell fortführen.³ Zugleich bildet sich eine sammelbiographische Traditionslinie heraus, die den Aufstieg als Kernkriterium der Biographiewürdigkeit setzt und dabei nach und nach ein Standardarsenal deutscher Selfmademen – angeführt von Alfred Krupp und Werner von Siemens – auskonturiert. Der nationalidentitäre Impetus dieser Traditionslinie ist kaum zu übersehen. Seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatten amerikanische Sammelbiographien den Selfmademan als eigentümliche Errungenschaft Amerikas präsentiert. Schon die 1848 erschienene Sammelbiographie von John Frost, die den Titel SelfMade Men of America trägt, deklariert Amerika zum „home of self-made men“⁴ und schreibt emphatisch mit am American Dream: „Self-Made Men!“ We use the term every day; and we use it without irreverence, because all understand its popular import. A self-made man means one who has rendered himself accomplished, eminent, rich, or great, by his own unaided efforts. We have many such in our

 Vgl. dazu Sandra Markus: Bilanzieren und Sinn stiften. Erinnerungen von Unternehmern im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Franz Steiner, 2002. S. 108 – 116 sowie Miriam Gebhardt: Das Familiengedächtnis. Erinnerung im deutsch-jüdischen Bürgertum 1890 bis 1932. Stuttgart: Franz Steiner, 1999. S. 169 f.  John Frost: Self-Made Men of America. New York: W.H. Graham, 1848. S. III.

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2 Resonanzeffekte

country, where talent is free, and where the enterprises of learning, ingenuity, or industry, is not checked in every path by stupid, restrictive laws, enacted in ages of feudal barbarism.⁵

Mit der Darstellung des Selfmademans als lebender Beweis für die amerikanische Freiheits- und Egalitätskultur bekräftigt die Sammelbiographie die tradierte Selbsterzählung Amerikas. Ähnliches zeigt sich in einer Sammelbiographie von James McCabe, die 1871 unter dem Titel Great Fortunes, and how they were made, or the struggles and triumphes of our Self-Made Men erschienen ist. Mit unverhohlenem Patriotismus setzt McCabe den Figurentypus für eine laudatio auf die meritokratische Demokratie Amerikas ein, die er als positives Gegenmodell zur stratifikatorischen Gesellschaftsordnung Europas präsentiert: The chief glory of America is, that it is the country in which genius and industry find their speediest and surest reward. Fame and fortune are here open to all who are willing to work for them. Neither class distinctions nor social prejudices, neither differences of birth, religion, nor ideas, can prevent the man of true merit from winning the just reward of his labors in this favored land. We are emphatically a nation of self-made men, and it is to the labors of this worthy class that our marvelous national prosperity is due.⁶

Die bei McCabe zur Geltung kommende Funktion des selfmade-Narrativs als inszenatorisches Beschreibungsmedium Amerikas wird im selben Zeitraum durch deutschsprachige Sammelbiographien zu einem Gegenstand der Demontage.⁷ Eine Schlüsselstellung dabei nimmt die 1875 erschienene Sammelbiographie

 Frost, S. III.  James McCabe: Great Fortunes and how they were made or the Struggles and Triumphs of our Self-Made Men. Cincinnati/Chicago: E. Hannaford & Company, 1871. S. 5.  Bereits gegen Ende der 1860er Jahre setzt eine Adaption (und damit auch Inversion) des amerikanischen Selbstbeschreibungsschemas durch deutschsprachige Sammelbiographien ein. Im zweiten Band seiner Gallerie hervorragender Kaufleute und Förderer des Handels (1869) versammelt Otto Spamer die Lebensgeschichten berühmter Männer aus den Gebieten der Industrie und Technik, die als exemplarische Selfmademen beschrieben werden. Ein Kapitel über Johann Liebieg beispielsweise trägt die Überschrift „Ein Lebenslauf vom Tuchmachergesellen zum Millionär“ und zieht eine klare Grenze zwischen dem Typus des Emporkömmlings und dem ,Mann eigner Kraft‘: „Hier kann es sich nicht darum handeln, einen vom Glück begünstigten ,Emporkömmling‘ zu verhimmeln oder dem Millionär Weihrauch zu streuen. Hier kann es sich nur darum handeln, Thatsachen sprechen zu lassen, um den Beweis herzustellen, daß Fleiß, Beharrlichkeit, Klugheit und Energie nicht minder die Mittel bieten, glänzende Erfolge zu erringen, als es dem Genie in einer bevorzugten Lebensstellung beschieden ist, zum Tempel des Nachruhms emporzusteigen.“ Otto Spamer: Der Kaufmann zu allen Zeiten oder Buch berühmter Kaufleute. Zweite Sammlung. Vorbilder, Charakter- und Zeitgemälde, vornehmlich Schilderungen interessanter Lebensgänge hervorragender Kaufleute, Industrieller, sowie Förderer des Handels. Leipzig/Berlin: Otto Spamer, 1869. S. 510.

2.1 Sammelbiographien

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Männer eigner Kraft von Otto Spamer ein. Im Gegensatz zu den amerikanischen Sammelbiographien lässt Spamers Lebensbildsammlung den Selfmademan als Typus erscheinen, der auch und vor allem in der europäischen Welt beheimatet ist. Der Text, der dem Untertitel zufolge die Lebensbilder verdienstvoller, durch Thatkraft und Selbsthülfe emporgekommener Männer versammelt, agiert das selfmade-Narrativ über Personen unterschiedlicher Kulturkreise und Berufszweige aus. Porträtiert wird eine Reihe von „durch Energie, Charakterstärke und Regsamkeit emporgewachsenen Männern“⁸, von Karl Linné über Johann Liebieg bis hin zu Robert Burns. Spamers Lebensbildsammlung, die in plagiatorischer Form auf die Biographiesammlung Self-Help (1859) von Samuel Smiles Bezug nimmt,⁹ begründet damit im deutschsprachigen Raum eine lang anhaltende Beschreibungstradition.Vom späten neunzehnten Jahrhundert bis in die 1930er und 40er Jahre hinein ist eine Reihe von Sammelbiographien erschienen, die sich offenkundig an Spamers Männer eigner Kraft anlehnen und dabei maßgeblich zur Popularisierung des Selfmademans im deutschsprachigen Raum beitragen.¹⁰ Die Epigonalität der Texte zeigt sich nicht nur darin, dass sie in der Regel dieselben Personen zum Gegenstand der Porträtierung machen, sondern ähnliche, teilweise identische Titel aufweisen – Titel, die im selben Zeitraum auch literarische Texte tragen: Aus eigener Kraft heißt zum einen ein 1870 erschienener Roman von Wilhelmine von Hillern,¹¹ dessen Handlungsträger ausdrücklich als „self-made

 Otto Spamer: Männer eigner Kraft. Der Jugend und dem Volke vorgeführt. Leipzig: Otto Spamer, 1875. S. XXI.  Vgl. Samuel Smiles: Self-Help. With Illustrations of Character and Conduct. London: John Murray, 1859. S. 12. Auf Spamers plagiatorische Bezugnahme auf Smiles hat bereits Christian von Zimmermann hingewiesen, der auch einen Vergleich beider Biographiesammlungen vornimmt. Vgl. Christian von Zimmermann: Biographische Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtlicher Darstellung (1830 – 1940). Berlin: de Gruyter, 2006. S. 166 – 169.  Noch 1938 ist eine biographische Porträtsammlung von Bruno Schaumburg erschienen, die denselben Titel trägt und sich bei der Auswahl biographiewürdiger Personen ebenfalls am selfmade-Ideal orientiert. Porträtiert werden unter anderem Carl Benz, August Borsig, Alfred Krupp und Werner von Siemens, in denen sich Schaumburg zufolge „eine Fülle von beinahe gleichen Wesenszügen“ bekundet: „Alle haben sie sich von der Drehbank zum Wirtschaftsführer heraufgearbeitet! In des alten Sprichwortes echtester Bedeutung sind sie alle ,ihres Glückes Schmiede‘ gewesen: Männer aus eigner Kraft!“ Bruno Schaumburg: Männer aus eigener Kraft. Leipzig: Koehler & Amelang, 1938. S. 266.  Der Roman ist zuerst 1870 in der Gartenlaube veröffentlicht worden, bevor er 1872 in einer dreibändigen Buchform publiziert wurde. Vgl. Lynne Tatlock: Flutkatastrophen und Binnenkolonisation: Eroberte Natur, deutsche Nation und männliche Subjektbildung in der Erzählliteratur des Kaiserreichs (1870 – 1891). In: Berbig, Roland; Göttsche, Dirk (Hrsg.): Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Berlin/Boston: de Gruyter, 2013. S. 99 – 121, hier S. 102.

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2 Resonanzeffekte

man“¹² bezeichnet wird, zum anderen eine um die Jahrhundertwende veröffentlichte Biographiesammlung von Karsten Brandt, die unter anderem auf Theodor Körner, Friedrich Jahn und Alfred Krupp eingeht.¹³ Kurze Zeit später ist unter dem Titel Männer eigner Kraft (1907) eine Lebensbildsammlung von Hans Löw erschienen, die ebenfalls Lebensgeschichten von Männern präsentiert, welche, „aus engen, bescheidenen Verhältnissen hervorgegangen, etwas Tüchtiges oder gar Berühmtes und Bedeutendes geworden sind.“¹⁴ Obgleich die Sammelbiographien denselben biographischen Auswahlkriterien folgen wie Spamers Männer eigner Kraft, gibt es einen signifikanten Unterschied. Hatte Spamer den Selfmademan als europäisches und kulturübergreifendes Phänomen dargestellt, so sind es in den später erschienenen Sammelbiographien ausschließlich deutsche Unternehmer, die als ,Männer eigner Kraft‘ gefeiert werden. Gestaltungsmacht und Kräfteaktivierung werden – so der unmissverständliche Erzählkern der Texte – nicht nur in Amerika ermöglicht und belohnt, sondern gehören ebenso (und allererst) zur ökonomischen Moderne Deutschlands. Im selben Zeitraum, in dem der Typus des Selfmademans die Erzählliteratur durchwandert, wird er also in einem spezifischen Strang des sammelbiographischen Genres zu einer Leitfigur. Wie eng die Verbindung zwischen literarischen und sammelbiographischen Erzählmustern ist, lässt sich anhand von Spamers Lebensbildsammlung demonstrieren. Die porträtierten Personen werden als „Männer aus einem Guß“¹⁵ inszeniert, deren Gemeinsamkeit darin bestehe, dass sie „nicht großgeworden [sind] durch ihre Geburt oder durch den Zufall, sondern durch die Größe ihres Charakters, durch die unausgesetzte Energie ihrer Thatkraft.“¹⁶ Der Typus des ,Mannes eigner Kraft‘ bildet das Leitmotiv der Sammelbiographie, die suggestive Erfolgsversprechen mit unterschwelligen Abstiegsdrohungen verbindet und damit ebenjene Erzählstrategie einsetzt, die die literarische Geschichte des Selfmademans seit Soll und Haben prägt. Was eine Reihe von Romanen über die Parallelisierung aristokratischer Untergangs- und bürgerlicher Aufstiegsszenarien suggerieren, wird bei Spamer über den biographisch-kompi-

 Wilhelmine von Hillern: Aus eigener Kraft. Bd. II. Leipzig: Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G.m.b.H., 1873. S. 265.  Vgl. Karsten Brandt (Hrsg.): Aus eigner Kraft. Lebensbilder hervorragender Männer. Stuttgart: Loewes Verlag Ferdinand Carl. 3. Auflage, o. J.; vgl. dazu von Zimmermann, S. 170 f.  Hans Löw: Männer eigner Kraft. Sechs Biographien für die reifere Jugend zusammengestellt. Basel: Friedrich Reinhardt. 5. Auflage, o. J., Kap. IV, S. 3. Vgl. zur Struktur der biographischen Erzählungen von Zimmermann, S. 174.  Spamer: Männer eigner Kraft, S. X.  Spamer: Männer eigner Kraft, S. XXII.

2.1 Sammelbiographien

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latorischen Modus erzielt, dessen dirigistischer Wirkungsanspruch kaum zu übersehen ist. Die Aufstiegsgeschichten der porträtierten Männer sollen den Leser¹⁷ zur Kräfteaktivierung animieren und das Primat der Leistung vor der Herkunft unterstreichen. Legitimiert wird diese meritokratische und kraftemphatische Normsetzung über ein idealistisch konnotiertes Anthropologem: „Jeder ist das, was er ist, nur durch sich selbst.“¹⁸ Wie bei Freytag – und später auch bei Spielhagen und Lewald – wird folglich der Appell zur Mobilisierung der eigenen Kraft mit einer emphatischen Berufung auf die Selbstgestaltungsmacht des Individuums verbunden, und wie die realistischen Romane führt Spamers Sammelbiographie als negatives Gegenbild die aristokratische Berufung auf die Leistungen der Vorfahren an. Adligen und wohlhabenden Personen sei der Eintritt in die „Reihe der großen, ureignen Männer“¹⁹ nur dann möglich, wenn sie sich, ihrer geburtsbedingten Privilegien ungeachtet, als genuine ,Männer eigner Kraft‘ beweisen: Anlage und Reichthum, hohe Geburt helfen nichts, ja wirken entgegengesetzt, wenn sich mit ihnen nicht Charaktereigenschaften verbinden, welche die eigene Kraft vervielfachen und mit jedem Schritt weiter nach vorwärts drängen.²⁰

Eingelagert in die selbstreferenzielle Rede vom Einsatz der eigenen Kraft (re‐) konturiert sich also ein Modernebild, das zwanzig Jahre zuvor bei Freytag literarisch ausgestaltet worden ist: In der modernen Welt zählen nicht Herkunft und Geburt, sondern der Einsatz und die Maximierung der individuellen Kräfte und die damit verbundene Leistung. Die Polarisierung von Erbschaft und Leistung, die auf einer Differenzsetzung zwischen dem Eigenen und Fremden aufruht und für den Typus des ,Mannes eigner Kraft‘ konstitutiv ist, verbindet Spamers Sammelbiographie und die epigonal anmutenden Lebensbildsammlungen der Folgezeit jedoch nicht nur mit einem an Soll und Haben anschließenden Strang der Erzählliteratur. Es zeigt sich zugleich eine diachrone Verweisungslinie innerhalb des sammelbiographischen Genres. Seit der Spätaufklärung bildet die meritokratische Normsetzung ein

 Es wird an dieser Stelle und in mehreren Passagen dieses Kapitels keine geschlechtergerechte Sprache verwendet, da sich die thematisierten historischen Aussagen ausschließlich an männliche Leser richten und um Männer kreisen. Zur männlichkeitszentrierten Verweisungsdimension des Selfmademans vgl. Kapitel 1.2 in diesem Buch.  Spamer: Männer eigner Kraft, S. XXII.  Spamer: Männer eigner Kraft, S. XXII.  Spamer: Männer eigner Kraft, S. XXII.

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2 Resonanzeffekte

sammelbiographisches Erzählfundament.²¹ Paul von Stetten beispielsweise schreibt in seinen 1778 erschienenen Lebensbeschreibungen zur Erweckung und Unterhaltung bürgerlicher Tugend ausdrücklich „Männer[n] von Verdiensten“²² die Biographiewürdigkeit zu. Über den Juristen Georg Tradel schreibt von Stetten: Es ist wahr, er war aus keinem alten oder reichen Hause entsprossen. Sein Vater war ein bürgerlicher Schneider in der bischöflichen Residenz-Stadt Dillingen […]. Allein, ihn wegen niedrigem Herkommen geringschätzen, ist thöricht. Ein Mann, der ohne Vorgang verdienter Ahnen, ohne die Vortheile besserer Erziehung, sich durch eigenen Verstand und Fleiß erhebet, ist gedoppelter Ehre werth.²³

Die Lebensbeschreibungen von Stettens sind nur ein Beispiel aus einer Reihe von spätaufklärerischen Kollektivbiographien, die die tradierten sammelbiographischen Auswahlprinzipien revolutionieren und dabei ebenjene selbstreferenzielle Rhetorik an den Tag legen, die im späten neunzehnten Jahrhundert das selfmadeNarrativ fundamentiert. Drei Jahre zuvor hatte auch Justus Möser in seinen Patriotischen Phantasien (1775) die Forderung nach einer „westphälischen Biographie“²⁴ aufgestellt, in der Männer porträtiert werden, „die sich durch eigne Verdienste haben heben müssen“²⁵. Derartige Geschichten seien „wichtiger als die Sammlung aller Thaten von manchem gebohrnen Reichsfürsten“²⁶. Mit diesem antigenealogischen Impetus stellt die spätaufklärerische Sammelbiographie die Weichen für den selfmade-Topos, wie ihn die Lebensbildsammlungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts profilieren. Die kontextbedingten Differenzen sind jedoch kaum zu übersehen. Was die Sammelbiographie der Spätaufklärung anleitet, ist ein bürgerlicher Wertekanon, der auf Verdienst, Tätigkeit und Arbeit zielt und sich von einem aristokratischen Ehrbegriff abgrenzt. Mit der Zentrierung um die „durch eigene Kraft und Thätigkeit großen Menschen des Jahrhunderts“²⁷, wie es bei Möser heißt, soll die biographische Kompilation ein Zeichen setzen gegen die „gewöhnliche ungerechte Gleichgültigkeit gegen das

 Vgl. dazu Jana Vijayakumaran: Vom „Athanasium“ zum Propagandamedium: Die Kollektivbiographie im Zeichen politischer Funktionalität. In: Szybisty, Tomasz; Godlewicz-Adamiec, Joanna (Hrsg.): Literatura a polityka. Literatur und Politik. Wydawnictwa Uniwersytetu Warszawskiego, 2020. S. 325 – 340.  Paul von Stetten: Lebensbeschreibungen zur Erweckung und Unterhaltung bürgerlicher Tugend. Augsburg: Conrad Heinrich Stage, 1778. S. 11 und 14.  von Stetten, S. 198.  Vgl. das Kapitel „Aufmunterung und Vorschlag zu einer westphälischen Biographie“ bei Justus Möser: Patriotische Phantasien. Erster Theil. Berlin: Friedrich Nicolai, 1775. S. 358 – 363.  Möser, S. 362.  Möser, S. 362.  Möser, S. 42.

2.1 Sammelbiographien

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Andenken verdienter Männer des thätigen Lebens“²⁸. Die Sammelbiographie des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts schreibt das Ideal des verdienstvollen, tätigen Bürgers fort, macht diesen jedoch zum Protagonisten eines ökonomiezentrierten und technizistischen Modernenarrativs. Nicht umsonst wird der sammelbiographische Personenkanon, der sich um 1900 herausbildet, von Unternehmerpionieren bestimmt. Über den Typus des ,Mannes eigner Kraft‘ nehmen die Sammelbiographien des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts Bezug auf eine gründerzeitliche, hochindustrialisierte Moderne.²⁹ Es zeigt sich hier einmal mehr die Verbindungslinie zwischen der sammelbiographischen und erzählliterarischen Beschreibungstradition. Was für den sammelbiographischen ,Mann eigner Kraft‘ gilt, trifft in ähnlicher Form auf den literarischen Figurentypus zu, wie er um 1900 in Erscheinung tritt. Exemplarisch lässt sich dies anhand von Zobeltitz’ Arbeit vorführen. Friedrich Haltern ist ein fiktiver Karrierist, dessen Aufstiegsambition durch das Vorbild realhistorischer Aufsteiger verstärkt wird: „Schritt für Schritt vorwärts kommen, sicher, zielbewußt, bis in die Reihe der Vordersten! Borsig hatte auch klein angefangen und Egels und Schwarzkopf.“³⁰ Biographisch-ökonomische Referenzialisierungen dieser Art durchziehen den Roman und durchsetzen ihn mit evidenten Faktualitätssignalen. Der Aufstieg Halterns wird mit den Aufstiegswegen industrieller Unternehmerpioniere in Bezug gesetzt, die die monumentalisierenden Sammel- und Einzelbiographien der Zeit immer wieder zum Thema machen. Gerade August Borsig gilt in der biographischen Literatur als Selfmademan par excellence. Das zeitgenössisch wohl bekannteste Lebensporträt August Borsigs stammt von Otto Spamer, der in seinem Buch berühmter Kaufleute (1868) den Unternehmer in die Reihe emphatisch zelebrierter Aufstiegshelden stellt: Im Geiste dieser Gallerie von Helden des Friedens ist für uns Jeder ein Vorbild, der Hervorragendes auf irgend einem Gebiete des Handels oder der Industrie geleistet, und ein ganzer Mann, wenn er sich unverdrossen auf dem engen Pfade kümmerlicher Anfänge zu einem Meister seines Faches herangebildet oder emporgeschwungen hat. – Zu den Helden der letztgenannten Art gehört der Marschall der Eisen-Industrie.³¹

 Möser, S. 39.  Vgl. zu diesem Modernebild und seiner sammelbiographischen Artikulation Michael Gamper: Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas. Göttingen: Wallstein, 2016. S. 370.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 77.  Otto Spamer: Das Buch berühmter Kaufleute oder Der Kaufmann zu allen Zeiten. Vorbilder, Charakter- und Zeitgemälde, vornehmlich Schilderungen interessanter Lebensgänge hervorragender Kaufleute, Industrieller, sowie Förderer des Handels. Leipzig/Berlin: Otto Spamer, 1868. S. 881.

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2 Resonanzeffekte

Borsig ist nicht der einzige Unternehmer, der im neunzehnten Jahrhundert als Selfmademan gefeiert wird und dessen Aufstiegskarriere der fiktiven Figur Friedrich Haltern als Modell dient. Die Geschichte Halterns, der nach dem Tod seines Vaters ein Unternehmen leitet, das zunächst nur mit wenigen Mitarbeitern produziert, bis die Entwicklung des Eisenbahnwesens und damit verbundene Bedarfsveränderungen einen allmählichen Aufschwung in die Wege leiten, erinnert unverkennbar an die Geschichte Alfred Krupps, wie sie in zahlreichen zeitgenössischen Einzel- und Sammelbiographien geschildert worden ist. Bezeichnenderweise hat Zobeltitz selbst eine Sammelbiographie unter dem Titel Vierzig Lebensbilder deutscher Männer aus neuerer Zeit (1901) veröffentlicht und Alfred Krupp über das selbstreferenziell rhetorisierte Aufstiegssujet zum Inbegriff heroischer Männlichkeit stilisiert: In eiserner Zeit ein eiserner Mann! Ein ganzer Mann in allem seinem Schaffen und Thun, seinem Streben und Vollenden; ein Mann, der wie wenig andere mit dem Schicksal gekämpft, wie wenig andere durch eigene Kraft und eigene Tüchtigkeit sich emporgerungen hat, der aber nicht nur selbst, großen Zielen nachstrebend, Großes erreichte, sondern der auch Tausenden und Abertausenden zum allzeit bereiten Helfer und Wohlthäter wurde; ein Mann, der seine Zeit richtig zu erfassen, der ihre Aufgaben klar zu erkennen wußte, ein Mann von weitem Blick und treuem Herzen, ein Mann von unerschütterlicher Thatkraft: das war Alfred Krupp.³²

Das Männlichkeitsbild, für das in der Sammelbiographie Alfred Krupp Pate steht, wird in Arbeit über den fiktiven Selfmademan Haltern lanciert. Nicht nur der Topos vom Aufstieg aus eigener Kraft setzt die Figur in Bezug zu Alfred Krupp. Die sozialpolitische Hauptmaßnahme, die Haltern einführt, die Gründung einer Konsumanstalt, spielt auf das Krupp’sche Wohlfahrtsprogramm an; Halterns briefliche Stellungnahme zur Streikbewegung und zu den Forderungen nach Lohnerhöhung ist der 1877 gehaltenen Ansprache Krupps an seine Angestellten nachgebildet, die in einer Fußnote des Romans auch als Quelle angegeben wird.³³ Blickt man auf diese ostentativen Ähnlichkeiten zwischen der fiktiven Figur Haltern und dem realhistorischen Alfred Krupp, so liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei Arbeit um einen Schlüsselroman handelt. Diese Kategorisierung trifft indes nur eingeschränkt zu. Zwar durchziehen verschlüsselte und unverschlüsselte Faktualitätssignale den Roman, doch beziehen sich diese weniger auf reale Einzelpersonen als auf ,den Unternehmer‘ als Sozialtypus sui generis, wie ihn sammelbiographische Schriften der Zeit konstruieren. So könnte man hinter

 Hanns von Zobeltitz: Vierzig Lebensbilder deutscher Männer aus neuerer Zeit. Bielefeld/ Leipzig: Velhagen & Klasing, 1901. S. 529.  Vgl. von Zobeltitz: Arbeit, S. 295.

2.1 Sammelbiographien

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Friedrich Haltern nicht nur Alfred Krupp vermuten, sondern ebenso gut Werner von Siemens. Auch zu Siemens hat Zobeltitz ein biographisches Porträt verfasst, wobei wiederum der Aufstiegstopos als Beschreibungsmodell gedient hat: Aus dem schlichten Artillerieleutnant war einer der größten Fabrikbesitzer der Welt und, sagt man, einer der reichsten Männer Europas geworden. Es liegt etwas Märchenhaftes in dieser Entwickelung, die wohl nur mit dem Emporblühen der Kruppschen Unternehmungen zu vergleichen ist – wenn man von dem plötzlichen Aufschießen der amerikanischen „Milliardäre“ neuester Zeit absieht, die aber ihren Reichtum nicht ernster Arbeit, starkem Streben, sondern fast stets wüster Erwerbshast verdanken. Das ist der Unterschied, den man nie aus den Augen verlieren darf!³⁴

Dass die Geschichte Halterns ebenjenen „märchenhaften“ Aufstiegsweg vorführt, den Zobeltitz’ Siemens-Porträt ausdrücklich von den amerikanischen rags-to-riches-stories abgrenzt, lässt einen zentralen Prätext des Romans zutage treten. 1892 sind die Lebenserinnerungen von Werner von Siemens erschienen, die Zobeltitz als Siemens-Biograph zweifelsohne rezipiert hat. Eingeleitet wird die Autobiographie durch einen Verweis auf die Nützlichkeit (auto‐)biographischer Aufstiegsgeschichten. Die Lektüre der Lebensgeschichte sei „lehrreich und anspornend“, da sie bezeuge, daß ein junger Mann auch ohne ererbte Mittel und einflußreiche Gönner, ja sogar ohne richtige Vorbildung, allein durch seine eigene Arbeit sich emporschwingen und Nützliches leisten kann.³⁵

Es ist dieselbe Schreibmotivation, die bereits der Autobiographie Benjamin Franklins, dem locus classicus des selfmade-Topos, zugrunde gelegen hatte. Dem finanziell und sozial schlechter Gestellten sollen Maximen vorgeführt werden, durch die sich der eigene Lebensstandard verbessern lässt und – so die Verheißung – ein sozialer Aufstieg in die Wege geleitet werden kann. Zobeltitz’ Roman übernimmt diese pragmatische Erzählausrichtung und zeigt dabei zugleich die Schattenseiten des damit verbundenen Subjektivationsmodells auf. Dem Selfmademan bei Zobeltitz gelingt zwar der Aufstieg, doch führt ihn dieser nicht zum Glück. Eine Antwort auf die Frage, die sich die Figur schließlich stellen muss, bleibt aus: „[D]as Streben und Arbeiten, das Klettern an der großen Leiter! Lohnt’s denn auch?“³⁶

 von Zobeltitz: Vierzig Lebensbilder, S. 557.  Werner von Siemens [1892]: Lebenserinnerungen. Hg. von Wilfried Feldenkirchen. München/ Zürich: Piper, 2008. S. 30.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 131.

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2 Resonanzeffekte

2.2 Unternehmertheorien Der Typus des Selfmademans, wie ihn Zobeltitz’ Roman exemplarisch konstruiert, ist nicht nur ein ,Mann eigner Kraft‘, wie ihn zeitgleich die an Spamer anschließenden Sammelbiographien modellieren. Er tritt zugleich als treibende Kraft der gründerzeitlichen Wirtschaftswelt in Erscheinung. Der Aufstieg der Figur hängt untrennbar mit den ökonomischen Entwicklungen der Zeit und einem Gespür für aktuelle Marktentwicklungen zusammen: Fast zu gewaltsam drängte ihn das alles zur Erweiterung, zur Ausdehnung der Anlagen, fast wider Willen mußte er, um den großen Ansprüchen der Zeit gerecht zu werden, um für die voraussichtlich noch größeren der Zukunft Vorsorge zu treffen, Grundstücke erwerben, mußte bauen, die Betriebe erweitern, teilweise verdoppeln.³⁷

Expansionsdrang, Zukunftsorientiertheit, weitsichtiges und progressives Wirtschaften machen den Protagonisten zu einem prototypischen Unternehmer, wie ihn um 1900 mehrere Abhandlungen aus dem Feld der Nationalökonomie darstellen.³⁸ Einmal mehr zeigt sich hier, in welchem Ausmaß der Figurentypus an

 von Zobeltitz: Arbeit, S. 234.  Interessanterweise ist es um 1900 weniger der Sozialtypus des Unternehmers als der ,Unternehmergeist‘, den nationalökonomische Abhandlungen konzeptualisieren. Eine besondere Bedeutung dabei kommt einer 1900 erschienenen Abhandlung von Gustav Schmoller zu, in der zum einen historische Entstehungsbedingungen des ,Unternehmergeists‘ umrissen werden, zum anderen ein Arsenal von Merkmalen entworfen wird, das den Unternehmer als Persönlichkeit kennzeiche: „Er [d.i. der Unternehmergeist] entspringt mit den Möglichkeiten des Tausch- und Handelsgewinnes, nimmt in dem Maße zu, als in bestimmten Klassen infolge der Arbeitsteilung und des Marktverkehrs wachsende Chancen sich bilden, durch kluge Kombinationen einen Erwerb zu gewinnen. Die bisher erörterten wirtschaftlichen Tugenden sind zumal für den kleinen Unternehmer wesentliche Stützen des Unternehmergeistes; aber der psychologische Schwerpunkt liegt anderswo. Der Händler und Unternehmer muß einerseits eine umfassende Kenntnis des Bedarfes, des Geschmackes, der Absatzwege und eine technische Beherrschung der möglichen und üblichen Produktionsmethoden, andererseits Organisationstalent, Menschenkenntnis, Kombinationsgabe, eine gewisse geschäftliche Phantasie, die sich ein Bild von der Zukunft machen kann, vor allem aber Mut, Energie, Thatkraft und Rücksichtslosigkeit besitzen. […] Die Unternehmer sind die Offiziere und der Generalstab der Volkswirtschaft.“ Gustav Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig: Duncker & Humblot, 1900. S. 40 f. Auffallend an dieser Beschreibung ist nicht nur die militärische Semantik, in der sich eine Engführung des homo oeconomicus mit dem homo militaris andeutet, die sich später auch in der Erzählliteratur wiederfindet und den Unternehmertypus auf tradierte Männlichkeitsideale abstimmt. Was darüber hinaus ins Auge fällt, ist die dezidierte Zukunftsorientiertheit, die dem Unternehmer zugeschrieben wird. Voraussetzung und Merkmal unternehmerischen Handelns, wie es Schmoller beschreibt, ist das Entwerfen von Zukunftsbildern. Diese Assoziation von Un-

2.2 Unternehmertheorien

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realhistorisch-wirtschaftliche und diskursive Umbrüche des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts gekoppelt ist. Die Herausbildung des industriellen Unternehmertums nämlich hängt eng mit den ökonomisch-technischen Entwicklungen des neunzehnten Jahrhunderts zusammen.³⁹ Ein gesteigerter Kapitalbedarf der modernen Technik und die daraus resultierenden Chancen und Risiken kapitalintensiver Produktionsprozesse befördern im neunzehnten Jahrhundert eine Ausdifferenzierung industrieller Organisationsstrukturen und die Entstehung moderner Unternehmensformen.⁴⁰ Bereits die zeitgenössische Unternehmertheorie sieht im Unternehmer eine genuine Erscheinung der ökonomischen Moderne. „Das kapitalistische Unternehmertum ist die revolutionäre Kraft, der wir das neue Deutschland verdanken“⁴¹, schreibt Sombart in seiner 1903 erschienenen Studie Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert. Zwei Jahre später heißt es auch bei Karl Lamprecht: [D]ie Unternehmung ist die eigentlich moderne Form des Wirtschaftserwerbs; in der Unternehmung gipfelt das Wirtschaftsleben des neuen Zeitalters; durch die Unternehmung scheidet es sich von der Vergangenheit […].⁴²

In der deutschsprachigen Erzählliteratur wird der Typus des Unternehmers, dies haben mehrere Studien gezeigt,⁴³ seit dem neunzehnten Jahrhundert auf vielfäl-

ternehmertum und Zukunftsdenken wird später durch Joseph Schumpeter zu einem Kernelement der Unternehmertheorie. In der Zwischenzeit geht unter anderem Alexander Tille auf die Zukunftsfokussiertheit des modernen Unternehmers ein, die er als Ausgangspunkt wirtschaftlichen Denkens und als Keimzelle der Zivilisation beschreibt: „Das Leben der Menschheit ist in seinen Anfängen eine Naturerscheinung so gut wie der Daseinskampf der wilden Tierwelt. […] Erst wenn der Mensch an die Zukunft denkt und dieser Gedanke an die Zukunft in ihm so mächtig wird, dass die Rücksicht auf ihn die augenblickliche Gier nach dem Genusse zurückdrängt, wenn er, um künftig auch etwas zu haben, auf einen Genuss verzichtet, erst dann entsteht im Menschenhirne das Wirtschaften.“ Alexander Tille: Die Berufsstandpolitik des Gewerbe- und Handelsstandes. Bd. 1: Die gewerkliche Ertragswirtschaft. Berlin: Rosenbaum & Hart, 1910. S. 43 f.  Vgl. dazu Helmut Neuhaus (Hrsg.): Die Rolle des Unternehmers in Staat und Gesellschaft. Universitätsbund Erlangen-Nürnberg e.V., 2007.  Vgl. Werner Plumpe: Funktionen der Unternehmerschaft – Fiktionen, Fakten, Realitäten. In: Heidbrink, Ludger; Seele, Peter (Hrsg.): Unternehmertum. Vom Nutzen und Nachteil einer riskanten Lebensform. Frankfurt a. M.: Campus, 2010. S. 43 – 60, hier S. 43.  Werner Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert. Berlin: Georg Bondi, 1903. S. 76.  Karl Lamprecht: Zur jüngsten Deutschen Vergangenheit. Bd. 2: Wirtschaftsleben – Soziale Entwicklung. Freiburg: Heyfelder, 1905. S. 53 f.  Vgl. neben der Studie von Niemann, die den Wandel in der literarischen Konzeption des Unternehmers von 1890 bis 1945 erschließt, die Studie von Ilsedore Rarisch: Das Unternehmerbild in der deutschen Erzählliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Rezeption

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2 Resonanzeffekte

tige Weise dargestellt und reflektiert. In der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist es vor allem der mit dem Unternehmer verwandte Typus des Fabrikanten, den engagierte soziale Romane meist stereotypisierend darstellen und für eine literarische Verarbeitung der ökonomisch-technischen Zäsuren funktionalisieren.⁴⁴ Das vormärzlich geprägte Unternehmerbild wandelt sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, wenn es vor dem Hintergrund gründerzeitlicher Modernisierungsprozesse zu einem Spannungsverhältnis kommt zwischen Fortschrittseuphorie und Modernitätsemphase einerseits, Krisenerfahrungen und kulturkritischen Niedergangsbilanzen andererseits.⁴⁵ Nicht nur in der Erzählliteratur, auch in der Nationalökonomie avanciert der Unternehmer um 1900 zu einer Schlüsselfigur, auf die sämtliche wirtschaftliche Entwicklungen zurückgeführt werden. „Die ertragswirtschaftlichen Unternehmer […] sind die einzig treibende, schaffende und wertebildende Kraft in jedem Volke“⁴⁶, schreibt Tille 1910. Wie Tille konzipiert eine Reihe von Abhandlungen den Unternehmer als kulturelle Leitfigur und übernimmt so die tradierte Engführung von Ökonomisierungs- und Kulturalisierungsnarrativ. In der Unternehmertheorie von Felix Kuh zum Beispiel, dem Redakteur der Deutschen Arbeitgeberzeitung, wird eine Moderneerzählung entfaltet, die Reminiszenzen an die Philemon-undBaucis-Episode des Faust II anklingen lässt und den vom Unternehmer initiierten Ausgang aus dem vorzivilisatorischen Weltzustand als Auftakt eines Goldenen Zeitalters konzipiert: Vielleicht beklagt ein Naturfreund, daß die stille Einsamkeit vom Lärm einer Dampfmaschine, vom Surren der Räder, vom Klopfen der Hämmer gestört wird, aber das kann auch er nicht leugnen, daß sich ihm nunmehr ein lebensvolles Bild fruchtbarer Betriebsamkeit und wachsenden Wohlstandes auftut. Was Jahrtausende hindurch unbenutzt in der Erde gelegen hatte, das ist nun durch den Zauberstab menschlicher Unternehmungslust zu regsamem Leben erwacht, es ist zum Nutzen und Segen für die ganze Menschheit geworden […]. Die verfallenen Hütten aber sind verschwunden, an ihrer Stelle stehen schmucke Arbeitshäuser […]. Der feste Wille des Unternehmers hat den Sieg erfochten; seine Faust hat durchgegriffen,

der frühen Industrialisierung in der belletristischen Literatur. Berlin: Colloquium Verlag, 1977. In jüngerer Zeit hat sich Johannes Brambora im Rahmen seiner Untersuchung des sozialkritischen Unterhaltungsromans um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit literarischen Unternehmerdarstellungen befasst.Vgl. Johannes Brambora: Von Hungerlöhnern, Fabriktyrannen und dem Ideal ihrer Versöhnung. Der Beitrag des populären Romans zur Entstehung eines sozialen Erklärungsmusters ökonomischer Gegensätze der Industrialisierung. 1845 – 1862. Bielefeld: Aisthesis, 2020.  Vgl. Brambora.  Vgl. Niemann, S. 3.  Tille: Die Berufsstandpolitik des Gewerbe- und Handelsstandes, S. 188.

2.2 Unternehmertheorien

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sein Gebot hat aus der verlassenen Einöde eine blühende, fruchtbringende Welt entstehen lassen […].⁴⁷

Wie sich in Kuhs emphatischer Moderneerzählung andeutet, wird der Unternehmer im frühen zwanzigsten Jahrhundert nicht nur als Kulturstifter und Fortschrittsbringer konzipiert, sondern über klassische Männlichkeitsideale definiert: Willenskraft, Kampfbereitschaft und Gestaltungsmacht. Ein solches Unternehmerbild korrespondiert den geschlechtscodierten Subjektivationsidealen, die zeitgleich mit der literarischen Figur des Selfmademans verbunden sind. Bezeichnenderweise führt Kuh den Typus des „selbständigen Unternehmers“ an einer Stelle explizit mit dem Typus des Selfmademans zusammen.⁴⁸ Verbindungslinien zwischen dem Selfmademan und Unternehmer zeigen sich auch bei Kurt Wiedenfeld, demzufolge der Unternehmer „die eigenen Kräfte über den Willen hinaus nach allen Seiten hin entfalten will“⁴⁹. Alexander Tille schließlich definiert den Unternehmer als Mann, der auf eigene Faust und unter eigener Verantwortlichkeit und Haftung der wirren Masse der wirtschaftlichen Erscheinungen gegenübertritt und sie zum Ringen auf Gewinn oder Verlust herausfordert. Er packt sie an irgendeiner Stelle und müht sich, ihr in schaffender Arbeit abzugewinnen, was möglich ist.⁵⁰

Ähnlich wie die Erzählliteratur dementiert die Nationalökonomie durch das anklingende selfmade-Narrativ und das Bild des sich durchsetzenden Unternehmers prominente Dekadenz- und Degenerationsvorstellungen.⁵¹ Mit den emphatischen

 Felix Kuh: Der selbständige Unternehmer. Seine wirtschaftliche, politische und soziale Bedeutung. Berlin: Verlag der Deutschen Vereinigung, 1918. S. 35.  Im Rahmen des Vergleichs macht der Wirtschaftsjournalist nicht nur auf die Verbindungen, sondern auch auf die Unterschiede zwischen Selfmademan und Unternehmer aufmerksam: „[D]ie Begriffskreise des self made man und des selbständigen Unternehmers decken sich doch nur zum Teil. Der Mann, der sich aus eigener Kraft heraufgearbeitet hat, braucht noch keineswegs die Fähigkeit selbständigen Handelns zu besitzen, er beschließt sein Leben vielleicht als tüchtiger Beamter oder Angestellter. Andererseits braucht der Unternehmer durchaus kein self made man zu sein, wenn auch die Geschichte zahlreiche Beispiele aufweist, bei denen beide Erscheinungen zusammentreffen. Kuh, S. 25.  Kurt Wiedenfeld: Das Persönliche im modernen Unternehmertum. Leipzig: Duncker & Humblot, 1911. S. 108.  Tille: Die Berufsstandpolitik des Gewerbe- und Handelsstandes, S. 17 f.  Werner Sombart beschreibt Unternehmer ausdrücklich als vitale, virile und tatenfreudige Persönlichkeiten, denen jegliche Eigenschaften, die im neunzehnten Jahrhundert als Ausdruck von Dekadenz und Effeminisierung gelten, abgehen: „Es sind Männer (keine Weiber!) – ausgerüstet vor allem mit einer außergewöhnlichen Vitalität, aus der ein übernormaler Betätigungs-

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2 Resonanzeffekte

Konzeptualisierungen unternehmerischen Handelns wird auch die Assoziation von vitalistischem Kraftüberschuss und diskontinuitätszentrierter Zeitlichkeit, die das literarische selfmade-Sujet charakterisiert, übernommen. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn man die einschlägigste Unternehmertheorie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts in den Blick nimmt. Joseph Schumpeters Konzept des schöpferisch-zerstörerischen Unternehmertums kreist nicht nur leitmotivisch um die Begriffe „Energieaufwendung“⁵² und „Energieprinzip“⁵³, über die das unternehmerische Handeln definiert wird, sondern macht die Differenzsetzung zwischen Vergangenheitsverhaftung und Zukunftsoffenheit zum Kernbaustein einer ökonomischen Entwicklungstheorie. Im Hinwegsetzen über das Alte und Bewährte manifestiert sich Schumpeter zufolge eine unternehmerische Innovativität, die allein den wirtschaftlichen Fortschritt bedinge. Kennzeichen des schöpferischen Unternehmertums ist laut Schumpeter ein Bruch mit Traditionslinien und Überlieferungen: Seine Bedeutung für uns liegt darin, daß es die Kontinuität der Entwicklung auf dem betreffenden Gebiet unterbricht, daß die bisherige Entwicklung ein Ende findet und eine neue beginnt […].⁵⁴

Mit der Annahme einer durchbrochenen Kontinuität und neu begründeten Entwicklung übernimmt die Unternehmertheorie Vorstellungen und Differenztopoi, die durch die ästhetischen Moderne-Manifeste vorgeprägt worden sind. Max Burckhard etwa sieht in der Emanzipation von der Vergangenheit ein Definitionsmerkmal des modernen Menschen. ,Modern‘ zieht laut Burckhard nicht nur die Unterscheidung zwischen Zukunft und Vergangenheit nach sich, sondern die „Empfindung von der Notwendigkeit des entwicklungsgeschichtlichen Fortschrittes“⁵⁵. Der moderne Mensch nach Burckhard ist wie der Unternehmer bei Schumpeter ein Traditions- und Kontinuitätsdurchbrecher:

drang, eine leidenschaftliche Freude an der Arbeit, eine unbändige Lust zur Macht hervorquellen. […] Männer mit prononciert intellektual-voluntaristischer Begabung, mit gering entwickeltem Gefühls- und Gemütsleben. Werner Sombart: Der kapitalistische Unternehmer. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 29 (1909), S. 689 – 758, hier S. 747.  Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Leipzig: Duncker & Humblot, 1911. S. 150.  Schumpeter, S. 170.  Schumpeter, S. 127.  Max Burckhard [1899]: Modern. In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971. S. 131 f, hier S. 131.

2.2 Unternehmertheorien

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Nicht […] auf die Vergangenheit blickt er zurück mit ängstlichem Bemühen, möglichst viel aus ihr für die Zukunft zu retten. Anders will er alles machen, als es bisher war, das ist der unbewusste Zug in ihm, unter dessen Bann er steht. Er repräsentiert das eine der zwei welterhaltenden Prinzipien: die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz.⁵⁶

Der Kontrast zwischen Beharrungs- und Bewegungstendenz korrespondiert der von Schumpeter angenommenen Dichotomie von Statik und Dynamik, die der Nationalökonom mit kraftemphatischen Semantiken vernetzt. Der Unternehmer, der in seinen Wirtschaftspraktiken aus den Bahnen des Bewährten herausbricht, wird durch diesen Kontinuitätsbruch zum Träger eines Kraftideals: Schwache kämpfen sich mühsam durch die Erledigung der hergebrachten und wiederkehrenden Aufgaben durch. Der Starke behält dabei einen Kraftüberschuß – er wird ändern und wagen um des Änderns und Wagens willen, immer neue Pläne durchführen und dann an immer weitere herantreten.⁵⁷

Leicht ließen sich die nietzscheanisch anmutenden Semantiken in die naturalistische Erzählliteratur zurückverfolgen. Sei es der Protagonist aus von Hillerns Roman Der Gewaltigste oder der Aufsteiger aus Curt Grottewitz’ Eine Siegernatur – sämtliche Figurenzeichnungen korrelieren die im selfmade-Sujet angedeutete Diskontinuitätsemphase mit einer Apotheose auf die durchbrechende Kraft. Das in der Sattelzeit wurzelnde Bild des tatmächtigen Subjekts, das Gegenwart und Zukunft unabhängig von der Vergangenheit gestaltet und auf diese Weise ein vitales Kraftpotenzial an den Tag legt, zieht sich damit als Leittopos von den Programmbekundungen der emphatischen Moderne zum naturalistisch geprägten Erzählsystem bis hin zur nationalökonomischen Unternehmertheorie. Gerade in puncto Tatpathos und Kraftemphase sind die Verbindungslinien zwischen Erzählliteratur und Nationalökonomie kaum zu übersehen. In Rudolph Stratz’ Roman König und Kärrner (1914) wird der Selfmademan und Unternehmer Leopold Winterhalter mehrfach explizit als „Mann der Tat“⁵⁸ bezeichnet – ein Ausdruck, der Schumpeters drei Jahre zuvor erschienene Unternehmertheorie durchzieht und den schon Julius Wolf in seinem System der Sozialpolitik (1892) im Hinblick auf den typisierten Unternehmer verwendet hat.⁵⁹ Der Unternehmer- und Aufstiegsfigur in Werners Die Alpenfee (1888) wird ein „rastlose[r] […] Thaten-

 Burckhard, S. 132.  Schumpeter, S. 145.  Stratz, S. 153.  Vgl. Julius Wolf: System der Sozialpolitik. Sozialismus und kapitalistische Gesellschaftsordnung. Kritische Würdigung beider als Grundlegung einer Sozialpolitik. Stuttgart: Verlag der Cotta’schen Buchhandlung, 1892. S. 432.

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2 Resonanzeffekte

drang“⁶⁰ zugeschrieben und damit jene Eigenschaft, die in der Nationalökonomie als Motor ökonomischer Entwicklungen gilt. Schon Adolph Wagner hatte 1886 auf den „Bethätigungsdrang“⁶¹ erfolgreich wirtschaftender Unternehmer hingewiesen und damit die Grundlage für eine anthropologisch ausgerichtete Wirtschaftstheorie gelegt, die um die Jahrhundertwende vor allem durch Gustav Schmoller ausgebaut wird. Schmollers Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre (1900) führt wirtschaftliche Praktiken auf menschliche Triebe zurück, wobei dem Tätigkeitsdrang eine Kardinalfunktion zukommt.⁶² Es sei die elementare „Lust thätigen Schaffens und Wirkens“⁶³, die das Wirtschaften bedinge. Wie die Erzählliteratur revitalisiert folglich die unternehmerzentrierte Nationalökonomie das Bild des tätigen und stets aktiven männlichen Subjekts. Und wie die Erzählliteratur leitet die Nationalökonomie aus diesem normativ besetzten Subjektbild Vorstellungen vom Anbruch einer ,neuen Zeit‘ ab, in die zeittypische Deutungsmuster – ,Daseinskampf‘, Energieentfaltung, Regeneration – einfließen. Besonders deutlich zeigt sich dies bei Sombart, der in Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert (1903) eine topoisierte Modernebilanz zieht: Die stille Beschaulichkeit, die sichere, in sich ruhende Behaglichkeit der früheren Zeit sind verschwunden. Die Sorge um das Morgen, die Unsicherheit des Heute haben eine stete Anspannung aller Kräfte, eine unausgesetzte Aufmerksamkeit nötig gemacht. So ist der Schlendrian dem Tätigkeitsdrange gewichen; wo ehedem der Friede im Innern war, ist heute der Kampf. Dieser verschärfte Kampf ums Dasein aber hat das Geschlecht härter gemacht. Die weicheren Regungen des Herzens sind zurückgetreten, die Willensfunktionen stärker entwickelt. Aus diesem verschärften Kampfe ums Dasein erklärt sich auch die Intensivierung, das heißt die Beschleunigung unserer Lebensführung: die Notwendigkeit, in einer gegebenen Zeit mehr Energie auszugeben, um eine höhere Nutzwirkung zu erzielen.⁶⁴

Es ist das geläufige Modernenarrativ, das zeitgleich auch das literarische selfmade-Sujet substanziiert. Der Figurentypus, so lässt sich schließen, profiliert sich um 1900 im Zeichen semantisch-narrativer Resonanzeffekte zwischen Erzählliteratur und Nationalökonomie, die seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert denselben zeitdiagnostischen und wirtschaftsanthropologischen Erzählgehalt vermitteln.

 Werner: Alpenfee, S. 415.  Adolph Wagner: Systematische Nationalökonomie. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik. Bd. 12 (1886), S. 198 – 252, hier S. 231.  Vgl. Bauer: Ökonomische Menschen, S. 288 f.  Schmoller, S. 29.  Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert, S. 486.

2.2 Unternehmertheorien

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Resonanzeffekte zwischen nationalökonomischen Unternehmertheorien und fiktionalen Aufstiegserzählungen ergeben sich indes nicht nur aus dem thermodynamisch referenzialisierten Modernenarrativ. Das selfmade-Sujet selbst, das um 1900 eine Reihe von literarischen Texten strukturiert, grassiert im frühen zwanzigsten Jahrhundert auch in unternehmerzentrierten Abhandlungen der Nationalökonomie. Kurt Wiedenfeld etwa zeichnet in seiner Studie Das Persönliche im modernen Unternehmertum (1911) das Bild einer Klasse von „Männer[n] […], die erst selber aus der großen Masse der Bevölkerung, aus der Sphäre der Unpersönlichkeit, zur Unternehmerpersönlichkeit sich emporgereckt haben“⁶⁵ und nun an der Spitze wirtschaftlicher Großunternehmen stehen. Ein ähnlich verklärender Ton klingt bei Felix Pinner an, der sich in einer 1918 erschienenen Abhandlung auf das Wirken „große[r] Industriepersönlichkeiten“ beruft ‒ „Männer von jener zähen, soliden Genialität, die von unten, von klein herauf strebten, ihre Geschäfte Schritt für Schritt aufbauten […]“⁶⁶. Aufstiegsnarrationen durchziehen die Unternehmertheorie bis in die 1930er Jahre und finden sich auch in den Klassikern der Nationalökonomie. In Sombarts Der moderne Kapitalismus (1927) wird die gesteigerte soziale Aufstiegsmobilität als Kernmerkmal der modernen Wirtschaftsepoche herausgestellt: Betrachten wir zunächst das Rekrutierungsgebiet der Unternehmerschaft innerhalb eines bestimmten Volkskörpers, also ihre soziale Herkunft, so lässt sich als das wichtigste Kennzeichen unserer Epoche eine weitgehende Demokratisierung des Führertums feststellen: die leitenden Männer des Wirtschaftslebens steigen aus immer breiteren und somit immer tieferen Schichten der Bevölkerung auf.⁶⁷

Zwar sei die Zahl der berühmten Aufsteiger in Amerika am höchsten, wo eine Reihe von Wirtschaftspionieren, von Carnegie über Ford und Harriman zu Rockefeller, aus der Unterschicht hervorgegangen seien. Doch auch die deutsche Wirtschaft könne eine Vielzahl von Gründerpersönlichkeiten verzeichnen, die laut Sombart „sehr klein angefangen“⁶⁸ haben – eine These, die durch einen umfangreichen Beispielkatalog belegt wird.⁶⁹

 Wiedenfeld, S. 107 f.  Felix Pinner: Emil Rathenau und das elektrische Zeitalter. In: Ostwald, Wilhelm (Hrsg.): Grosse Männer. Studien zur Biologie des Genies. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft, 1918. S. 50.  Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 3: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus. Leipzig: Duncker & Humblot, 1927. S. 19.  Sombart: Der moderne Kapitalismus, S. 19.  Sombart: Der moderne Kapitalismus, S. 21.

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2 Resonanzeffekte

Dass Zobeltitz’ Arbeit die Aufstiegskarriere eines fiktiven Unternehmers in der Gründerzeit darstellt, lässt folglich auf einen unmittelbaren Konnex zwischen Erzählliteratur und Unternehmertheorie schließen. Beide schreiben mit am Topos des Selfmademans, den sie ähnlich wie die deutschsprachigen Sammelbiographien auf deutsche Unternehmer projizieren.

2.3 Evolutionstheorien und Ratgeber Seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, wenn der ,Mann eigner Kraft‘ zu einer Leitfigur im sammelbiographischen Genre wird und Resonanzeffekte zwischen Erzählliteratur, biographischer Literatur und Nationalökonomie anstößt, wird das selfmade-Narrativ noch in einer weiteren Textsorte populär. Evolutionstheoretische Abhandlungen setzen den Typus des Selfmademans als Leitbild der imaginierten kampfdurchzogenen Gesellschaft. Während der Selfmademan in der Sammelbiographie ein suggestives Erfolgsversprechen impliziert, signalisiert er in evolutionszentrierten Abhandlungen das Walten eines universalen Naturgesetzes: Wer die eigene Kraft mobilisiert, geht als Sieger aus dem ,Daseinskampf‘ hervor. Verbunden mit dem Kampfmotiv ist ein Fortschrittsdenken, das die Normativität der darwinistischen Evolutionserzählung bedingt. „Erst wegen des impliziten Fortschrittskonzepts“, so Markus Vogt, „erhalten die Mechanismen der Evolution werthaften Charakter, so daß aus der Evolutionstheorie ein Sollen ableitbar scheint.“⁷⁰ Dass auch der Typus des Selfmademans, wie ihn das Evolutionsnarrativ um 1900 konturiert, ein Produkt normativer Positionen bildet, zeigt sich auf exemplarische Weise in Alexander Tilles 1893 erschienener Abhandlung Volksdienst. Nachdrücklich ruft Tille dazu auf, soziale Bedingungen zu schaffen, die immer nur den Tüchtigen gedeihliches Fortkommen sichern, die Untüchtigen aber eliminieren und so nur die Tüchtigsten von den Kindern der Tüchtigen das Erbe des heutigen Geschlechtes antreten lassen.⁷¹

Ausgangspunkt dieses Appells, der eine zeitgleich auch bei Alfred Ploetz aufscheinende Allianz von sozialen Reformbestrebungen und eugenischer Argu-

 Markus Vogt: Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie. Freiburg i. Br.: Herder, 1997. S. 109.  Tille: Volksdienst, S. 67.

2.3 Evolutionstheorien und Ratgeber

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mentation ersichtlich werden lässt,⁷² ist das typische, an Herbert Spencer anschließende Fortschrittsdenken des späten neunzehnten Jahrhunderts. Die Menschheitsgeschichte sei die Geschichte einer „Entwickelung zu reicherem und besserem Dasein“⁷³, heißt es bei Tille. Dieser Fortschritt werde gehemmt durch soziale Strukturen, die nicht die Leistung des Einzelnen, sondern Geburt und Herkunft privilegieren. Eine solche Privilegierung verhindere den natürlichen Gang des ,Daseinskampfes‘ und mache so die evolutionäre ,Höherentwicklung‘ zunichte. Dem vermeintlich fortschrittshemmenden und ,naturwidrigen‘ „Erbkapitalismus“⁷⁴ setzt Tille das Bild einer Sozial- und Leistungsaristokratie entgegen, in der sich ein jeder entsprechend seiner Befähigung „einen Platz in der Gesellschaft zu erobern“⁷⁵ hat. Eine solche Leistungsaristokratie schaffe eine eminent dynamische Gesellschaftsordnung. Durch die alleinige Anerkennung der Leistung als statusbegründendem Faktor werde ein „noch weit stärkeres Steigen und Fallen von Stand zu Stand“⁷⁶ in Gang gesetzt, als es in der ,erbkapitalistischen‘ Ordnung der Fall sei.⁷⁷ Ausdrücklich bezeichnet Tille eine erhöhte Aufstiegsmobilität als Signum einer noch zu schaffenden ,sozialaristokratischen‘ Gesellschaftsordnung: In dem neuen Staat muß ein fortwährendes rastloses Aufsteigen von unten nach oben stattfinden. Der Arbeitersohn wird zum Bürger und Gelehrten, der Bürgersohn tritt an die Spitze des Staates. Jedes Talent, ganz gleich wo geboren, strebt sofort der nächsten oder übernächsten Stufe zu, und die niederste Schicht der Arbeiter bildet wirklich den Bodensatz von allen. Den dummen Sohn eines Reichen wird kein väterlicher Geldbeutel mehr davon retten, daß er zum bloßen Handarbeiter heruntersinkt, und den begabten Sohn des armen Arbeiters wird keine aussichtslose Konkurrenz mit den Kindern Vermögender mehr abhalten, sich empor zu schwingen […].⁷⁸

 Vgl. Alfred Ploetz: Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Berlin: Fischer, 1895. Zu den sozialistischen Positionen zur Eugenik vgl. Michael Schwartz: Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890 – 1933. Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., 1995.  Tille: Volksdienst, S. 67.  Vgl. das gleichnamige Kapitel in Tille: Volksdienst, S. 154– 176.  Tille: Volksdienst, S. 124.  Tille: Volksdienst, S. 137.  Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Vision einer „Sozialaristokratie“ im faschistischen Kontext aufgegriffen worden ist. In Hitlers Mein Kampf wird ein „aristokratisches Prinzip“ gefordert, dem die Funktion zukomme, „den besten Köpfen die Führung und den höchsten Einfluß im betreffenden Volke [zu] sichern.“ Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine kritische Edition. Hg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel. Bd. 2. München/Berlin: Institut für Zeitgeschichte, 2016. S. 1125. Hervorhebung im Original.  Tille: Volksdienst, S. 147.

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2 Resonanzeffekte

Ausgangspunkt für Tilles Forderung nach einer ,Leistungsaristokratie‘ ist eine biologistische Engführung von Natur und Gesellschaft. Im Anschluss an Ernst Haeckels Idee einer „Auslese der Besten“⁷⁹ fordert Tille die Abschaffung jeglicher Besitzprivilegien, damit das ,natürliche‘ Gesetz, demzufolge nur der Tüchtigste sich durchsetzt, ungehemmt in Kraft treten kann: Nur, wo es kein Erbeigen mehr giebt, wird es möglich sein, daß persönliche Tüchtigkeit und individuelle Leistung innerhalb der Gesellschaft diejenige Anerkennung und denjenigen Lohn finden, der ihnen in der Natur und unter primitiven Verhältnissen, infolge ihres Besserseins als andere ganz von selbst zufallen müßte.⁸⁰

Die Kampfansage gegen genealogisch-hereditäre Sozialmechanismen rührt folglich von einem (sozial‐)darwinistischen Glauben an eine agonale Ordnung her, die sich von der Naturwelt auf die Sozialwelt überträgt: Wie sich in der Natur der ,Stärkere‘ durchzusetzen pflegt, so soll in der sozialen Welt das Recht des ,Stärkeren‘ walten. Mehr noch als in den zeitgenössischen Sammelbiographien bekundet sich damit bei Tille die sozialdarwinistische Ummünzung, die das Ideal des ,Mannes eigner Kraft‘ um 1900 erfährt. Wenn Tille eine Privilegierung von Leistung anstelle von Geburt verlangt, so steht diese meritokratische Idee im Zeichen einer subjektivationsbezogenen Normsetzung, die ihre moralische Fundierung genauso wie ihre Autonomie-Emphase hinter sich gelassen hat und in den Kategorien der Nützlichkeit und Unnützlichkeit, Überlebenswürdigkeit und Untergangsnotwendigkeit operiert: Das Maß und der Grad seiner Leistung einzig machen den Wert des Menschen aus, sie bestimmen, ob er ein wertvolles Glied seiner Gattung ist, oder ein wertloses, und diejenigen, welche besonders hoch über den Durchschnitt mit ihren Leistungen emporragen, das sind die Leistungsaristokraten.⁸¹

Aus dem bürgerlichen ,Mann des Verdienstes‘, wie ihn das späte achtzehnte Jahrhundert modelliert, wird also ein ,Leistungsaristokrat‘, der nicht den Siegeszug der Autonomie symbolisiert, sondern das vorgeblich naturnotwendige Durchsetzen des (Leistungs‐),Stärkeren‘ gegenüber dem ,Schwächeren‘. Um diese Leistungsaristokratie in die Wege zu leiten und damit der Natur ihr Recht zurückzuerstatten, plädiert Tille für spezifische Reformmaßnahmen. Eine bei  Ernst Haeckel: Ueber vernünftige Weltanschauung (1892). In: Ders.: Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen aus dem Gebiete der Entwicklungslehre. Bd. 2. Bonn: Emil Strauß, 1902. S. 325 – 358, hier S. 334.  Tille: Volksdienst, S. 121.  Tille: Volksdienst, S. 114.

2.3 Evolutionstheorien und Ratgeber

111

zwanzig Prozent ansetzende und im Laufe der Zeit immer weiter ansteigende Erbschaftssteuer soll den Einzelnen darauf verpflichten, ein Vermögen durch Leistung zu erwerben, anstatt von herkunftsbedingten Privilegien zu profitieren.⁸² Über eine evolutionsideologische Argumentationslinie bezieht Tille folglich Position zu zeitgenössisch kontrovers diskutierten Entwicklungen im juristischen Bereich. 1873 ist in Preußen ein Erbschaftssteuergesetz eingeführt worden, das in den 1890er Jahren den übrigen Ländern als Muster diente, bis die landesrechtlichen Regelungen durch das Reichsgesetz von 1906 vereinheitlicht worden sind.⁸³ Für Tille bildet die Erbschaftssteuer den Schlüssel zu einer Sozialordnung, die den Naturgesetzen freien Lauf lässt und sich dahingehend einrichtet, dass ein jeder „seines Glückes Schmied“⁸⁴ sein kann. In dieser Sozialordnung bildet der Selfmademan keine Sondererscheinung, sondern einen Normaltypus: In einem Staate, in welchem jeder sein Glück sich selbst verdanken kann, muß sehr bald auch der Stolz reifen, es nur sich selbst verdanken zu wollen, und damit die Arbeitsenergie und Arbeitstüchtigkeit.⁸⁵

Vor dem Hintergrund von Tilles Plädoyer für eine ,Leistungsaristokratie‘ lässt sich festhalten: Das Ideal des Aufstiegs ,aus eigener Kraft‘ und das damit verbundene Bild des Selfmademans profilieren sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert als Schlüsselelemente eines sozialdarwinistischen Evolutions- und Fortschrittsnarrativs, das die Fähigkeit und den Willen zur Kraftmobilisierung als Grundvoraussetzung für einen naturgemäßen ,Daseinskampf‘ und evolutionären ,Fortschritt‘ inszeniert. Angesichts der sozialdarwinistischen Imprägnierungen, die der Selfmademan um 1900 erfährt, ist es nicht verwunderlich, dass er einige Zeit später auch in einem Genre populär wird, für das die moderne männliche Subjektivation erzählleitend ist: die Ratgeberliteratur. Postulieren Evolutionstheoretiker wie Tille die alleinige Durchsetzungsfähigkeit desjenigen, der Leistungen erbringt und die eigene Kraft mobilisiert, anstatt sich auf genealogische Bindungen zu stützen, so geben die um 1900 erschienenen Erfolgsratgeber Instruktionen darüber, wie eine solche Kraftmobilisierung ungehindert vonstatten gehen kann. Wilhelm Gebhardt leitet seinen 1902 erschienenen Ratgeber mit einem Versprechen ein:

 Vgl. Tille: Volksdienst, S. 162 f.  Vgl. Werner Steden: Erbschafts- und Schenkungssteuern. In: Albers, Willi (Hrsg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Bd. 2. Stuttgart: Fischer, 1980. S. 439 – 450, hier S. 448.  Tille: Volksdienst, S. 157.  Tille: Volksdienst, S. 164.

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2 Resonanzeffekte

Jeder, der alle meine Anordnungen bis zu Ende durchführt und sämtliche Willensübungen absolviert, wird durch diese Selbstbehandlung moralisch und körperlich wiedergeboren werden. Neues Selbstvertrauen, das Gefühl der eigenen Kraft, das Bewusstsein der erarbeiteten Selbstsicherheit, der Untergrund gestählter Energie wird ihn den Kampf ums Dasein mit ganz neuen Chancen aufnehmen lassen und ihm die Erfolge verschaffen, die bisher ihm fern blieben.⁸⁶

Es lassen sich aus dieser Passage verschiedene Verweisungslinien ablesen, die das selfmade-Sujet um die Jahrhundertwende bestimmen. Argumentiert wird erstens über eine Daseinskampfrhetorik, die in der Erfolgsverheißung eine aus darwinistischen Zeitbilanzen begründete Pflichtsetzung aufscheinen lässt: Der Einzelne kann nicht nur durch Kraftmobilisierung zum Erfolg gelangen, sondern er muss seine Kräfte mobilisieren, da ihm die Verhältnisse der proklamierten Moderne keine andere Wahl lassen. Zweitens tritt ein voluntaristischer Bezugshorizont zutage, der sich vor allem in der Aufforderung zur Willensübung andeutet.⁸⁷ Schon im Untertitel des Ratgebers, Eine vollständige Anleitung zur Heilung von Energielosigkeit […], kündigen sich die zeittypischen Krisen-, Ermüdungsund Dekadenzdiagnosen an, aus denen die Funktion des Selfmademans als Projektionsfläche suggestiver Heilungs- und Regenerationsvorstellungen ersichtlich wird. Die von Gebhardt beschriebenen „Hemmnisse der Energieentfaltung“⁸⁸ werden durch das sich selbst ermächtigende Individuum, das sein Kraftpotenzial beständig maximiert, überwunden, sodass der Weg für eine postdekadente, regenerierte Moderne frei wird. Dieses männliche codierte Subjektivationsideal wird im normativen Erzählsystem der Ratgeberliteratur über konkrete Verhaltensdirektive vermittelt. Willens- und Kraftübungen, Atemtechniken, Augengymnastik und Ernährungshinweise sollen den Einzelnen zum anvisierten Aufstieg und Erfolg hinführen und so die Subjektivation als Selfmademan befördern. Aufstieg und Erfolg durch produktive Kräftemaximierung und energetische Selbster-

 Wilhelm Gebhardt [1902]: Wie werde ich energisch? Eine vollständige Anleitung zur Heilung von Energielosigkeit, Zerstreutheit, Niedergeschlagenheit, Schwermut, Hoffnungslosigkeit, Angstzuständen, Gedächtnisschwäche, Schlaflosigkeit, Verdauungs- und Darmstörungen, allgemeiner Nervenschwäche u.s.w.. 7. vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig: Modern-Medizinischer Verlag Glöckner & Co, o.J. S. 4 f.  Vgl. zur thermodynamischen Referenzialisierbarkeit der Ratgeberliteratur Ingo Stöckmann: Willensschwäche oder von der Selbstbemeisterung durch Gewohnheit. Kommentar zu Josef Clemens Kreibig und Reinhold Gerling. In: Kleeberg, Bernhard (Hrsg.): Schlechte Angewohnheiten. Eine Anthologie 1750 – 1900. Berlin: Suhrkamp, 2012. S. 336 – 345. Vgl. darüber hinaus Michael Cowan: Energieregulierung. Willenskultur und Willenstraining um 1900. In: Gronau, Barbara (Hrsg.): Szenarien der Energie. Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen. Bielefeld: transcript, 2013. S. 67– 85.  Gebhardt, S. 13.

2.3 Evolutionstheorien und Ratgeber

113

mächtigung – dies ist die Losung der Ratgeberliteratur. Legitimiert wird der Appell zur Kräftemaximierung durch eine spezifische Strategie der Selbsteinschreibung: Das selfmade-Narrativ wird auf ein goethezeitliches Bildungsideal abgestimmt. Hugo Schramm-Macdonald etwa stellt seinen Erfolgsratgeber in den Dienst einer „naturgemäße[n] Entfaltung der Körper- und Geisteskräfte“⁸⁹ und übernimmt an einer Stelle der Form nach den topisch gewordenen WilhelmMeister-Satz: Jeder, auch der Niedrigste und Geringste, darf mit einem gewissen Selbstgefühl sagen: „Mich selbst zu achten, mich selbst zu erziehen und zu bilden, das ist meine wahre Lebensaufgabe. […].“⁹⁰

Neben Goethes Romanprotagonisten ist es Jean Paul, dem die im Ratgeber vermittelten Normen in den Mund gelegt werden: „[…] ein jeder sollte wenigstens mit Jean Paul von sich sagen können: ‚Ich habe aus mir selbst so viel gemacht, wie ich gekonnt, und mehr kann niemand verlangen.ʻ“⁹¹ Mit den Referenzen auf Jean Paul und Wilhelm Meister werden die erfolgsideologischen und kraftemphatischen Normen des Ratgebers in eine idealistische Denktradition eingeschrieben und ideell aufgewertet. Noch 1927 findet sich dieses Verfahren im Ratgeber Richard Zoozmanns, der seiner instruierten Leserschaft explizit die Lektüre von Goethes Bildungsroman nahelegt: „Zahllose Winke und Wege zum Erfolge“ sieht Zoozmann im Wilhelm Meister angelegt.⁹² So vehement die Ratgeber eine Verbindungslinie zur Bildungstradition apostrophieren, so offenkundig ist die Diskrepanz zu dieser. Wie die Sammelbiographien entwerfen die Ratgeber das Bild männlicher Subjekte, die sämtliche Hindernisse heroisch überwinden und für ihre beständige Kraftmobilisierung am Ende sozial und materiell belohnt werden. Als Beleg für die proklamierte Wirkungsmacht der Kraftmobilisierung werden auch in der Ratgeberliteratur die Erfolge realhistorischer Aufsteiger angeführt. Kurze, aneinandergereihte Beispielserzählungen sollen den Leser von der alleinigen Bedeutung der eigenen Leistung überzeugen und zur Nachahmung auffordern. So heißt es beispielsweise in Wilhelm Berdrows Ratgeberschrift Seines Glückes Schmied (1907), aus deren umfangreichen Exempelkatalog hier nur ein Ausschnitt zitiert werden kann:

 Schramm-Macdonald, S. 73.  Schramm-Macdonald, S. 106.  Schramm-Macdonald, S. 106.  Vgl. Richard Zoozmann: Weg und Wille zum Erfolg. Ein Handbuch der Lebensklugheit. Wiesbaden: Hermann Rauch, 1927. S. 158.

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2 Resonanzeffekte

Alle jungen Leute, die ihre Untätigkeit und Erfolglosigkeit damit entschuldigen, dass ihre Eltern ihnen nichts hinterlassen haben und ohne Kapital heute nichts zu beginnen sei, sollten sich des älteren Krupp erinnern, der bei seinem Tode über das größte Einkommen in Preußen, vielleicht in ganz Deutschland verfügte. Er verlor seinen Vater mit vierzehn Jahren, und was ihm und seiner Mutter blieb, war eine fast überschuldete Werkstatt mit vier Arbeitern, für die am Sonnabend oft nicht einmal der Lohn in der Kasse war. […] Ähnlich ging es mit Richard Hartmann, dem großen Chemnitzer Maschinenbauer, der wie Borsig der Sohn armer Eltern war, ähnlich mit Ferdinand Schichau, der der Sohn eines wenig bemittelten Handwerkers war und neben Krupp, Borsig, Siemens, Hartmann und vielen anderen eines der größten deutschen Geschäftshäuser begründet hat.⁹³

Es zeigt sich hier derselbe Personenkanon, der zeitgleich im Genre der Sammelbiographie festgeschrieben wird: Prominente deutsche Unternehmer werden als Selfmademen markiert und als Orientierungsmodelle für die männliche Leserschaft entworfen. Das realhistorisch referenzialisierte selfmade-Narrativ nährt damit den Glauben an die Mobilisierungskraft des Beispiels, in dem sich Sammelbiographien und Erfolgsratgeber treffen.⁹⁴ Dieser Glaube verleiht zugleich dem zeitlichen Propositionsgehalt des selfmade-Narrativs eine neue Dimension. Durch die Beispielbildung gerinnt der Ermächtigungsanspruch des selfmadeNarrativs zu einer Negation von Gegenwart als Zeitkategorie. Die Möglichkeit, dem Beispiel vorgängiger Personen zu folgen, kann nur dann behauptet werden, wenn zeitliche Veränderungen ausgeblendet werden.⁹⁵ Nicht umsonst illustriert Schramm-Macdonald die angenommene mimetische Mobilisierungskraft des Beispiels durch das Bild einer „Kette, der sich unaufhörlich Glied an Glied reiht und die sich damit durch alle späteren Zeiten zieht“⁹⁶. Ebendiese Kettenlogik habe den Typus des ,Mannes eigner Kraft‘ hervorgebracht. Unter Berufung auf vorgebliche Selbstaussagen historischer Persönlichkeiten entwirft Schramm Wilhelm Berdrow: Seines Glückes Schmied. Stuttgart: Carl Ulshöfer, 1907. S. 63 f.  Zur Funktion der Beispielerzählung in der Ratgeberliteratur um 1900 vgl. Peeters.  Eine solche Gegenwartsnegierung ist für mehrere Ratgeber, die am selfmade-Narrativ mitschreiben, charakteristisch. Um die Gestaltbarkeitsverheißung, die sich in das selfmade-Sujet einschreibt, zu plausibilisieren, betont eine Reihe von Ratgebern eine grundlegende Unveränderlichkeit, was die Bedingungen des Aufstiegs betrifft. So schreibt etwa Reinhold Gerling: „Junge Leute beantworten so oft die Aufforderung, es einem die Menschheit führenden Großen nachzutun, mit dem Einwand: ,Damals lagen die Verhältnisse ganz anders‘, oder: ,Der konnte das, aber ich bin arm, mir fehlt die Gelegenheit.‘ – Ein Satz ist so falsch wie der andere. Die Verhältnisse waren in gewisser Beziehung niemals andere als heute. Allezeit war der Lebenskampf schwierig, Hindernisse türmten sich überall und immer.“ Reinhold Gerling [1905]: Die Gymnastik des Willens. Praktische Anleitung zur Erhöhung der Energie und Selbstbeherrschung, Kräftigung von Gedächtnis und Arbeitslust durch Stärkung der Willenskraft ohne fremde Hilfe. 5. neubearbeitete Auflage. Oranienburg: Wilhelm Möller, 1920. S. 37 f.  Schramm-Macdonald, S. 167.

2.3 Evolutionstheorien und Ratgeber

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Macdonald eine Genealogie des Selfmademans, in der das Beispiel die quasihereditäre Triebkraft bildet, durch die spezifische Eigenschaften von einer Generation in die nächste übertragen werden. Der ,Mann eigner Kraft‘ wird als Produkt und Initiator eines immer wieder neu erzeugten Transfervorgangs dargestellt und so weniger mit Diskontinuität als mit Wiederholung und Konstanz assoziiert.⁹⁷ Durch die Wirkungskraft des Beispiels wird der Selfmademan bei Schramm-Macdonald zum Modell, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart transferiert wird, sodass sich eine fortlaufende Wiederholungsdynamik herauskristallisiert: Benjamin Franklin pflegte seinen Ruhm dem Umstande zuzuschreiben, dass er in seiner Jugend eine Schrift Cotton Mather’s (1663 – 1728) gelesen habe, in welcher dieser ausgezeichnete Theolog die in seinem eigenen Leben gesammelten Erfahrungen zu Nutz und Frommen seiner Mitmenschen veröffentlicht hatte. Und hier sieht man auch recht deutlich, wie das gute Beispiel immer weiter wirkt und sich über Raum und Zeit fortpflanzt, denn der englische Schuster und Naturphilosoph Samuel Drew hat ausdrücklich erklärt, dass er sich das Leben Franklins für sein eigenes Leben und besonders für seine geschäftlichen Gewohnheiten zum Muster genommen habe.⁹⁸

Das Fundament der ratgeberischen Autonomieverheißung bildet folglich eine „Geschichtsblindheit“⁹⁹, die mit dem antideterministischen Propositionskern des selfmade-Sujets zusammenhängt. Wenn das selfmade-Narrativ Gestaltungsmacht verheißt, so muss es das einzelne männliche Subjekt von äußeren Einflusskräften isolieren. Die damit verbundene Ausblendung gesellschaftlicher und sozialer

 Emphatisch entwirft Schramm-Macdonald das Bild einer Weltordnung, in der jeder Einzelne als Selfmademan Teil eines übergeordneten, die Zeitgrenzen überschreitenden Zusammenhangs ist. Dadurch, dass der Einzelne dem Beispiel früherer ,Männer eigner Kraft‘ folge und auf diese Weise gleichzeitig zum Vorbild für spätere Generationen werde, manifestiere sich in ihm die zeitliche Entgrenzung der jeweiligen Gegenwart, die nicht als das Andere der Vergangenheit oder der Zukunft aufgefasst wird, sondern als Schauplatz einer Verschmelzung zwischen den drei Zeitformen: „Wie die Gegenwart in der Vergangenheit wurzelt und Leben und Beispiel unserer Vorfahren uns noch heute in hohem Grade beeinflussen, ebenso helfen w i r den geistigen und sittlichen Zustand künftiger Geschlechter gestalten. Der Mensch der Gegenwart ist eine Frucht, welche die Kulturbestrebungen aller vorausgegangenen Jahrhunderte zur Entwickelung und zur Reife gebracht haben, und das lebende Geschlecht pflanzt den magnetischen Strom der Thaten und des Beispiels fort, der die fernste Vergangenheit mit der fernsten Zukunft verbindet.“ Schramm-Macdonald, S. 171.  Schramm-Macdonald, S. 166 f.  Rudolf Helmstetter: Wille und Wege zum ,Erfolg‘. In: Kleiner, Stephanie; Suter, Robert (Hrsg.): Guter Rat. Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900 – 1940. Berlin: Neofelis, 2015. S. 61– 92, hier S. 79.

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2 Resonanzeffekte

Strukturen bekundet sich auch bei Gebhardt, der im Schlusswort seines Ratgebers resümiert: Was auch immer über die Abhängigkeit des Einzelnen von den äußeren, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zu sagen ist, der innere Mensch ist und bleibt das maßgebende Element in der Lebensgestaltung, der Leitstern von Lebensglück und Lebensführung!¹⁰⁰

Dass dieses Autonomieversprechen eingebunden ist in einen Ratgeber, der sich die „Heilung von Energielosigkeit“¹⁰¹ auf die Fahne geschrieben hat, steigert die Ambivalenz der zeitlichen Bezugslinien. Auf der einen Seite wird die Einbindung des Individuums in zeitspezifische Verhältnisse durch das selfmade-Narrativ ausdrücklich negiert. Auf der anderen Seite steht der ratgeberische Selfmademan ganz im Zeichen zeitdiagnostischer Bilanzen und Beobachtungen: Der Selfmademan, der durch seine Willenskraft und Energie besticht, soll damit zum Vorbild werden für Zeitgenossen, denen diese Eigenschaften abgehen. Die zeitbezogene Ambivalenz des selfmade-Narrativs verbindet sich an dieser Stelle mit der herkömmlichen Dialektik, die dem selfmade-Topos seit der Jahrhundertmitte innewohnt.¹⁰² Der erzielte Aufstieg signalisiert sowohl Gestaltungsmacht und Autonomie als auch eine Determination durch angenommene Verhältnisse der Zeit: Das männliche Subjekt muss seine Kräfte mobilisieren und tätig sein, wenn es sich im ,Daseinskampf‘ behaupten will. An dieser Stelle geraten die Ratgeber in ein Erzählproblem. Sie postulieren etwas als Chance und Notwendigkeit, das im energetischen Diskursfeld der Zeit als unmöglich gilt. Unablässige Kraftmobilisierung, wie sie die Ratgeber fordern, führt in ihrer entropisch verausgabenden Tendenz irgendwann zum Stillstand. Stets läuft der entkriseologisierende Impetus der Ratgeber also Gefahr, in die topischen Angstgegenstände der Jahrhundertwende abzukippen: Kehrseiten von Kraftmobilisierung, Energiemaximierung und Arbeitspathos sind Überbürdung, Ermüdung und Erschöpfung. Es zeigen sich

 Gebhardt, S. 280.  So der Untertitel von Gebhardts Ratgeber.  Gerade in der Ratgeberliteratur tritt diese Dialektik verstärkt zutage. Wenn Erfolgsratgeber auf der Wirkungsmacht des Beispiels insistieren, so forcieren sie den dialektischen Propositionsgehalt des selfmade-Narrativs, das einen Raum des ,Machbaren‘ eröffnet und zugleich begrenzt. Wie das selfmade-Narrativ bewegt sich die ratgeberische Beispielbildung in einem Zwischenfeld von Möglichkeitsverheißung und Normsetzung. Besonders deutlich wird dies wiederum im Erfolgsratgeber Schramm-Macdonalds. Gleichsam selbstreferenziell weist SchrammMacdonald darauf hin, dass sein Ratgeber über die Macht des Beispiels eine normative Tendenz zur Verpflichtung in eine Logik der Ermächtigung überführt: „Seine Macht ist um so sicherer und unwiderstehlicher, als sie sanft und unmerklich ist, denn das Beispiel spricht nicht ein strenges ,Du sollst‘, sondern ein freundliches ,Auch du kannst es‘.“ Schramm-Macdonald, S. 162.

2.3 Evolutionstheorien und Ratgeber

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hier einmal mehr die Resonanzeffekte, die der Selfmademan um 1900 erzeugt.Wie die Ratgeber befinden sich die jeweiligen Romane durch die Zentrierung um den kraftstrotzenden Selfmademan in einer Schwebelage zwischen Krisennarrativ und -demontage, Utopie und Desillusionierung. Mit dieser Kippgefahr gehen die Romane auf unterschiedliche Weise um. Theophil Zollings Roman Die Million (1893) etwa umgeht die Problematik, indem er Arbeit und Kraft aus ihrem thermodynamischen Bezugshorizont herauslöst und ihnen eine gesundheits- und lebenserhaltende Funktion zuschreibt. Emphatisch postuliert der typisierte Aufsteiger eine unmittelbare Verbindung von Arbeit, Leben und Gesundheit: „Ja, die Arbeit ist die Kraft meines Lebens und die Ruhe für mich der Tod. Ich habe bemerkt, dass ich ein ganz Anderer, Jüngerer, fast ganz Junger geworden bin, seit ich eine Thätigkeit gefunden. Meine Säfte stocken nicht mehr, das Blut kreist schneller, mein Gehirn ist frei, ich schlafe besser des Nachts, ich kann wieder essen. Und das alles macht die Arbeit.“¹⁰³

Während Zollings Roman seinen Protagonisten vom Entropieproblem unbehelligt lässt, macht Zobeltitz’ Arbeit die aporetisch anmutende Allianz von Kraftmobilisierung und -verlust gegen Ende zum Thema. An der Spitze des Erfolgs angelangt, überkommt den Protagonisten eine „müde Resignation“¹⁰⁴. Wie sehr diese Handlungswende auf den thermodynamischen Entropiesatz abgestimmt ist, zeigt der Kommentar eines Freundes, der durch die Analogisierung von menschlichem Körper und Dampfmaschine ein zeittypisches Argumentationsmuster anbringt: „[D]aß du müde bist, ist kein Wunder. Es arbeitet doch nicht einer ungestraft, als ob er Nerven von Stahl und Eisen hätte. Ich bitt’ dich, geht vielleicht die erste Dampfmaschine noch, die du aufgestellt hast!“¹⁰⁵

Dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik entsprechend, lässt der Text also auf die Kraftmobilisierung und Steigerungstendenz Stillstand und Erschöpfung folgen. Damit steht die Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte Friedrich Halterns nicht weit entfernt von der Geschichte einer Unternehmerfigur, die ein kurz zuvor erschienener Klassiker des Fin de Siècle schildert. In einer Rede über den Erfolg macht Thomas Buddenbrook das Naheverhältnis von Krafterstarkung und -erschlaffung, Ermächtigung und Machtverlust, Aufstieg und Untergang reflexiv, das auch der Protagonist bei Zobeltitz gegen Ende hin zu spüren bekommt:

 Zolling, S. 203.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 326.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 328.

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2 Resonanzeffekte

Was ist der Erfolg? Eine geheime, unbeschreibliche Kraft, Umsichtigkeit, Bereitschaft… das Bewusstsein, einen Druck auf die Bewegungen des Lebens um mich her durch mein bloßes Vorhandensein auszuüben… Der Glaube an die Gefügigkeit des Lebens zu meinen Gunsten.. Glück und Erfolg sind in uns. Wir müssen sie halten: tief, fest. Soweit hier drinnen etwas nachzulassen beginnt, sich abzuspannen, müde zu werden, alsbald wird alles frei um uns her, widerstrebt, rebelliert, entzieht sich unserem Einfluß… Dann kommt eines zum andern, Schlappe folgt auf Schlappe, und man ist fertig. […] der Rückgang, der Abstieg, der Anfang vom Ende…¹⁰⁶

Obgleich Friedrich Haltern eine ähnliche Desillusionierung erfährt, kann er dem Umschlag vom Aufstieg in den Untergang entgegenwirken. Die Müdigkeit, die ihn am Ende überkommt, ändert nichts an seinem Erfolg als Unternehmer und hat völlig andere Dimensionen als Thomas Buddenbrooks Neurasthenie. Ihr Bezugshorizont ist das kontingenzzentrierte und darwinistische Modernebild des neunzehnten Jahrhunderts, das sich schon in Soll und Haben abzeichnet und bei Zobeltitz um eine thermodynamische Erzählkomponente ergänzt wird: In einer sozial mobil gewordenen Moderne, in der ein Sozialstatus nicht durch Geburt festgelegt ist und sich stets ändern kann, muss sich jedes aufstiegsambitionierte männliche Individuum soweit verausgaben, bis ein entropischer Stillstand unvermeidlich ist. Trotz dieser desillusionistischen Aussicht signalisiert die Müdigkeit keine Krise des Bürger*innentums im Zeitalter der Dekadenz, sondern ein paradigmatisches Entsprechen der bürgerlich-männlichen Subjektivationsnorm – ein Entsprechen, das sich in seiner letzten Konsequenz selbst zuwiderläuft.

 Mann: Buddenbrooks, S. 430 f.

3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich In Rückschau auf die bisherigen Ausführungen lässt sich Folgendes festhalten: Im Zusammenspiel von (sammel‐)biographischer Literatur, Ratgeberliteratur, Nationalökonomie und Erzählliteratur bildet sich seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts das selfmade-Narrativ heraus, dem sich spezifische Funktionen und Verweisungen zuschreiben lassen: Es werden darwinistisch imprägnierte Bilder der Moderne lanciert, entkriseologisierende Männlichkeitsmodelle und temporale Kategorien wie Zukunftsoffenheit und Diskontinuität verhandelbar gemacht. Romane, die als Diskursivierungen des selfmade-Narrativs gelesen werden können, lassen sich folglich nicht nur über dasselbe Narrationsmuster beschreiben, sondern über spezifische propositionale und funktionale Merkmale, was die jeweiligen Texte zu Kristallisationsflächen kontinuitätsstiftender Muster macht. Ausgehend von dieser Beobachtung lässt sich die Figurenanalyse in eine gattungsbezogene Klassifikationshandlung überführen: Einer gruppierten Menge von Texten wird eine gemeinsame Selektionsstruktur zugeschrieben, womit sich ebenjener klassifikatorische Beobachtungsakt vollzieht, der für Gattungsbildungen konstitutiv ist. Deessenzialisierte Gattungsbildungen nehmen, wie Werner Michler in Abgrenzung zur Gattungstheorie der 1970er Jahre herausgestellt hat, eine „Klassifikation (Gruppierung) literarischer Texte aufgrund der Zuschreibung gemeinsamer Eigenschaften“¹ vor. Eine solche Zuschreibung konstatiert, wie sich mit Heinrich F. Plett festhalten lässt, immer auch einen intertextuellen Zusammenhang: Gattungen sind Erscheinungsformen von Intertextualität. Intertextualität besagt: Ein Text existiert nicht als isolierte Monade, sondern als Beziehung zwischen (inter) Texten. Diese Beziehung kann struktureller oder materieller Art sein. Materiell ist sie dann, wenn Segmente aus einem Vorgänger- (oder Prä‐)Text bzw. einem Folge- (oder Post‐)Text auf einen (Inter‐)Text bezogen sind. Strukturell ist sie hingegen dann, wenn allgemeine Konstitutionsregeln zwischen Texten Gemeinsamkeiten herstellen. Sind solche Regeln in kohärenten Systemen organisiert, so sind sie in der Lage, Textklassen oder Gattungen hervorzubringen. In einem solchen Fall spricht man von generischer Intertextualität.²

 Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750 – 1950. Göttingen: Wallstein, 2015. S. 48.  Heinrich F. Plett: Gattungspoetik in der Renaissance. In: Ders. (Hrsg.): Renaissance-Poetik / Renaissance Poetics. Berlin: de Gruyter, 1994. S. 147– 176, hier S. 147. https://doi.org/10.1515/9783110766134-005

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

Intertextuelle Relationen bestimmen das selfmade-Narrativ des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts auf verschiedene Weisen. Zum einen lässt sich, ausgehend von einer synchronen Beobachtung, eine textsortenübergreifende Intertextualität festhalten: Das Sprechen vom Selfmademan findet um 1900 in mehreren Textsorten statt und ist insofern Ausdruck intergenerischer Interferenzen. Zum anderen manifestiert sich, wenn man den Selfmademan als Figurentypus konzipiert, eine literarische und diachron perspektivierbare Intertextualität, die es möglich macht, als spezifische Spielform der Gattung ,Roman‘ die Subgattung ,Aufstiegsroman‘ zu klassifizieren. Diese Bezeichnung ist deshalb naheliegend, weil sich der Figurentypus des Selfmademans über das Erzählmuster des Aufstiegs konstituiert und dieses Erzählmuster das strukturbildende und gruppierende Element der jeweiligen Romane darstellt. Es ist das an den Selfmademan gekoppelte Aufstiegssujet, das Romane wie Arbeit und Der Gewaltigste verbindet und sie auf dieselben Funktionen und Verweisungen hin beschreibbar macht. Über das Narrationsmuster des Aufstiegs entfalten die Romane ein darwinistisch imprägniertes, technizistisches und ökonomiezentriertes Modernenarrativ, eine geschlechtscodierte Erzähllogik und temporale Reflexionsachse. Auf Basis figurenanalytischer Befunde lässt sich also eine gattungsbezogene Beschreibungsebene eröffnen, auf der die Figur als Trägerin einer historischen Subgattung erscheint. Das subgattungsdifferenzierende Funktionspotenzial des Selfmademans erscheint allerdings fragwürdig, wenn man die strukturellen und propositionalen Homogenitäten, die die jeweiligen Texte aufweisen, literaturhistorisch kontextualisiert. Schon durch einen Blick auf formale Gestaltungsweisen scheint die Klassifikationskategorie ,Aufstiegsroman‘ an Legitimität zu verlieren. Eine chronologische und einsträngige Erzählform, perspektiviert durch eine heterodiegetische und intern fokalisierte Erzählinstanz, durchsetzen die jeweiligen Romane mit Elementen, die traditionell dem Erzählmodell des Bildungsromans zugeschrieben werden. Was für die discours-Ebene gilt, lässt sich auch auf die histoireEbenen der Texte beziehen. Setzt man eine männlichkeits- und temporalitätszentrierte Ebene als konstitutives Element des Aufstiegsromans, so beschreibt man diese Subgattung über Funktionen und Verweisungen, die sich auch dem Gattungskonstrukt ,Bildungsroman‘ zuschreiben lassen. Wie Franziska Schößler gezeigt hat, schildert der paradigmatische Bildungsroman, Goethes Wilhelm Meister, eine konfliktbeladene Erziehung zur Männlichkeit, die über unterschiedliche Stationen verläuft und verschiedene Begehrensformen nacheinander durchspielt.³ Mit dem Bildungsprojekt wird ein geschlechterspezifisches Soziali-

 Vgl. hierzu Franziska Schößler: Familie und Männerbund. Die Erziehung zur Männlichkeit in

3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

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sationsmodell vorgeführt, das zwar in seinen kontextuellen Imprägnierungen – der Anbindung an Ideen der perfectibilité und Entelechie – vom Männlichkeitsmodell des selfmade-Sujets unterschieden ist, doch auf derselben Prozessualitätslogik aufruht. Hier wie da erscheint Männlichkeit als Attribut, das im Rahmen eines performativen Prozesses erlangt und internalisiert wird.⁴ Dieser Prozess allerdings geht auf völlig verschiedene Weisen vonstatten. Der ,Held‘ eines Aufstiegsromans um 1900, wie er etwa in Arbeit und Der Gewaltigste in Erscheinung tritt, definiert seine männliche Identität über eine lukrative Kraftmobilisierung und ökonomische Produktivität und damit über all das, was einem prototypischen Bildungssubjekt wie Wilhelm Meister zunächst als wenig erstrebenswert erscheint oder woran die Protagonisten desillusionierter Bildungsromane, etwa Anton Reiser oder Heinrich Lee, scheitern. Noch deutlicher bekundet sich die Affinität und gleichzeitige Diskrepanz von Bildungs- und Aufstiegsroman, wenn man die zeitbezogene Reflexionsebene des Aufstiegsromans auf ihr Verhältnis zum Erzählmodell des Bildungsromans hin befragt. Mit der Zentrierung um eine männliche Figur, die ihre Normativität aus sich selbst heraus und in der Gegenwart zu schöpfen hat, reproduzieren die jeweiligen Romane Erzählmuster und Zeitlichkeit der klassischen Romansubgattung. Johannes F. Lehmann zufolge entfaltet der Bildungsroman „aus der Perspektive des sich bildenden, von seiner Herkunft wegstrebenden Subjekts“ heraus die Geschichte einer „Suche nach den eigenen Kräften und dem mit ihnen korrespondierenden Platz in der Gesellschaft“⁵. Ein ähnlicher Anspruch auf Selbstreferenzialität, der immer auch einen Anspruch auf Vergangenheitsunabhängigkeit signalisiert, ist für den Typus des Selfmademans konstitutiv, was sein (sub‐) gattungsdifferenzierendes Funktionspotenzial ebenso fragwürdig erscheinen lässt wie seine historische Lokalisierbarkeit im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert. Als Reflexionsmedium von Diskontinuität und Zukunftsoffenheit versinnbildlicht der Selfmademan temporale Kategorien, die sich mit Niklas Luhmann und Ingrid Oesterle als genuine Zeitvorstellungen der Sattelzeit bezeichnen lassen⁶, und die sich im Bildungsroman auf paradigmatische (und ambivalente) Weise niederschlagen.

Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre. In: Freiburger Zeitschrift für GeschlechterStudien 21 (2007), Jg. 13. S. 241– 254.  Vgl. Schößler: Familie und Männerbund, S. 243 f.  Lehmann: Kontinuität und Diskontinuität, S. 257.  Vgl. Ingrid Oesterle: Der ,Führungswechsel der Zeithorizonte‘ in der deutschen Literatur. Korrespondenzen aus Paris, der Hauptstadt der Menschheitsgeschichte, und die Ausbildung der geschichtlichen Zeit ,Gegenwart‘. In: Grathoff, Dirk (Hrsg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode. Frankfurt a. M.: Lang, 1985, S. 11– 76; vgl. Ingrid Oesterle: „Es ist an

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

Ziel der folgenden Ausführungen ist es, das Verhältnis von Aufstiegs- und Bildungsroman näher zu beleuchten. Nachdem die temporalen Reflexionsebenen beider Erzählmodelle exemplarisch und vergleichend in den Blick genommen worden sind, sollen in einem zweiten Schritt Merkmale, die in der zeitgenössischen Romankritik und in der jüngeren Forschung dem Bildungsroman zugeschrieben werden, in Bezug zum Erzählmodell des Aufstiegsromans gesetzt werden. Möglicherweise lassen sich über den Vergleich beider Subgattungskonstrukte einige Konstitutionsbedingungen und Erzählspezifika des Aufstiegsromans aufzeigen.

3.1 Temporale Konstruktionen: Kontinuitäten und Brüche Folgt man der Begriffsbestimmung Rolf Selbmanns, so gehört es zum thematischen Grundmerkmal des Bildungsromans, dass er seine histoire auf das Leitthema der Bildung abstimmt.⁷ Verbunden mit dieser thematischen Fokussierung ist eine spezifische und ambivalente Konstruktion von Zeitlichkeit, von der ausgehend sich eine erzähllogische Verbindungslinie zwischen Bildungsroman und Aufstiegsroman herausstellen lässt. In seiner Verabschiedung der Vergangenheit zugunsten einer zukunftsoffenen Gegenwart reproduziert das Aufstiegssujet die Zäsurlogik, die sich im Bildungsideal artikuliert und dort in einer Oszillation zwischen inhärenter Kontinuitäts- und Diskontinuitätslogik mündet.⁸ Auch die selbstreferenzielle Rhetorik, die den Topos vom Aufstieg ,aus eigener Kraft‘ konstituiert, erinnert an die Bildungsdebatten des achtzehnten Jahrhunderts. Johann Gottfried Herder schreibt in einer pädagogischen Schrift: Worte sind blos das Instrument, dies muß ich mit eignen Kräften, auf meine Weise brauchen lernen, oder ich habe nicht gelernet. Der beste Prüfstein also, ob jemand etwas gefaßt hat,

der Zeit!“ Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800. In: Hinderer, Walter et al. (Hrsg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002. S. 91– 120; vgl. Niklas Luhmann: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme. In: Ders.: Soziologische Aufklärung 2. Ansätze zur Theorie der Gesellschaft. 6. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009. S. 128 – 166.  Vgl. Rolf Selbmann: Der deutsche Bildungsroman. 2. Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1994. S. 32.  Vgl. hierzu Lehmann: Kontinuität und Diskontinuität.

3.1 Temporale Konstruktionen: Kontinuitäten und Brüche

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ist, daß ers nachmachen, daß ers selbst vortragen kann, nach seiner eignen Art, mit seinen eignen Worten.⁹

Selbstreferenzielle Semantiken durchziehen den Text. Kurz darauf heißt es: „Eigne Bildung erlangt man unter der Hand und Leitung eines rechtschaffnen Lehrers nur durch eignen Fleiß, durch eigne Bildung“¹⁰. Wie eng verbunden das Bildungsideal der Sattelzeit und das selfmade-Narrativ des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts sind, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass der Begriff des ,selbstgemachten Mannes‘, der um 1900 ein Äquivalenzlexem zum Begriff ,Selfmademan‘ darstellt,¹¹ in den Bildungsdebatten des späten achtzehnten Jahrhunderts seine erstmalige Verwendung gefunden hat. 1799 ist im Berlinischen Archiv der Zeit und ihres Geschmacks ein Aufsatz erschienen, der den Typus des ,selbstgemachten Mannes‘ ausdrücklich als Subjektivationsnorm setzt – 33 Jahre, bevor sich der Begriff ,Selfmademan‘ im amerikanischen Sprachraum herausbildet, und ein halbes Jahrhundert, bevor er Eingang in den deutschen Sprachraum findet: Wenn wir einen Mann rühmen wollen, der sich aus niedrigem Stande, aus Armuth und Dürftigkeit, bloß durch Fleiß und Talent, zu Ehre und Reichthum emporgerungen: dann sagen wir von ihm: es ist ein selbstgemachter Mann. Und so großen und richtigen Werth wir auch in unsern Tagen auf Erziehung setzen: so fügen wir zugleich immer hinzu: Die beste Erziehung muß der Mensch sich selbst geben. Auch im moralischen Sinn also ist es wahr: der Mensch macht sich selbst.¹²

Obgleich der ,selbstgemachte Mann‘ in seiner selbstreferenziellen Rhetorizität und durch das Aufstiegssujet, das ihn konstituiert, als Selfmademan avant la lettre anmutet, sind die Differenzen zwischen beiden Figurentypen offenkundig. Im Gegensatz zum Selfmademan, den das späte neunzehnte Jahrhundert als Protagonist der ökonomisch-technischen Moderne konzipiert, ist der ,selbstgemachte Mann‘ der Träger aufklärerischer Erziehungsideale und eng verankert in

 Johann Gottfried Herder [1800]: Non scholae, sed vitae discendum. In: Müller, Johann Georg (Hrsg.): Johann Gottfried von Herder’s sämmtliche Werke zur Philosophie und Geschichte. Zwölfter Theil. Tübingen: Cotta’sche Buchhandlung, 1810. S. 207– 216, hier S. 209.  Herder: Non scholae, sed vitae discendum, S. 211.  Im Brockhaus beispielsweise wird der Selfmademan 1895 als „selbst gemachter Mann“ definiert. Vgl. Brockhaus 1895, S. 840.  O.V.: „Das macht sich von selbst!“ Eine grundgelehrte Abhandlung, in welcher sonnenklar bewiesen wird, daß die wichtigsten und wesentlichsten, die größten und erhabensten aller Dinge sich von selbst machen. In: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. Hg. von Friedrich Eberhard Rambach und Ignaz Aurelius Feßler. Bd. 2 (1799), S. 111– 120, hier S. 119.

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

Anthropologemen des späten achtzehnten Jahrhunderts.Was der ,selbstgemachte Mann‘ veranschaulicht, ist ein Selbstbildungsauftrag, der dem aufklärerischen Bild der Autogenese entspricht und somit nicht nur mit dem Typus des Autodidakten, sondern auch mit der Idee des Genies konvergiert: Der Gedanke der Autogenese wird auf exemplarische Weise in der Figuration des künstlerischen Genies verkörpert, das die eigene Normativität ohne jeden Traditionsbezug begründet und ausschließlich aus den „Quellen der (eigenen) Natur“¹³ schöpft. Wie der ,selbstgemachte Mann‘ und der Selfmademan verbunden und zugleich verschieden sind, so sind auch die Subgattungen des Bildungs- und Aufstiegsromans relationiert. Das spezifische Verhältnis von Bildungs- und Aufstiegsroman bekundet sich vor allem, wenn man anhand exemplarischer Vertreter beider Subgattungen einen vergleichenden Blick auf die Bezugskontexte jener selbstreferenziell artikulierten Diskontinuitätslogik wirft, die beide Modelle prima facie verbindet. Der paradigmatische Bildungsroman, Goethes Wilhelm Meister, macht durch den Wunsch des Protagonisten, sich selbst, ganz wie er da ist, auszubilden, eine sattelzeittypische „Umbesetzung von der Vergangenheits- auf die Zukunftsrelation der Gegenwart“¹⁴ verhandelbar, die das erzählkonstitutive Problem des Bildungsromans begründet: Dass der Held des Bildungsromans sich selbst finden muss […], erscheint nur deshalb überhaupt als schwierige Bildungsaufgabe, weil das zu findende Selbst und die eigenen Talente und Kräfte per definitionem nicht in der Linie der Kontinuität der eigenen Herkunftssphäre, sondern nur ab- und jenseits davon gefunden werden können.¹⁵

Es ist dasselbe Ausgangsproblem, das dem Aufstiegsroman innewohnt. Der Protagonist des Aufstiegsromans wird dadurch zum Selfmademan, dass er aus seiner Herkunftssphäre herausbricht und sich auf sich selbst stützt. Gleichwohl besteht ein Unterschied in der Vergangenheitsemanzipation, die die histoire-Bildung beider Romantypen fundiert.Wenn Wilhelm Meister seiner Herkunftssphäre den Rücken kehrt, so ist dies einem Bildungsstreben geschuldet, das nicht nur im Rahmen einer situationsbedingten Selbstcharakterisierung artikuliert wird,¹⁶ sondern eine individuell-voluntaristische Komponente aufweist ‒ von Werner wird es bekanntlich nicht geteilt. Wie Werners Laufbahn zeigt, ist die Emanzipation von genealogischen Linien in der erzählten Welt des Wilhelm Meister zwar

 Assmann, S. 163.  Oesterle: „Es ist an der Zeit!“, S. 96.  Lehmann: Kontinuität und Diskontinuität, S. 257.  Vgl. Günter Saße: Auswandern in die Moderne. Tradition und Innovation in Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre. Berlin/New York: de Gruyter, 2010. S. 242.

3.1 Temporale Konstruktionen: Kontinuitäten und Brüche

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ein notwendiger Schritt, den ein nach Ganzheit und Individualität strebendes Subjekt zu tun hat, doch ist ein Verlassen der väterlichen Sphäre keineswegs zwingend. Dem Helden des Aufstiegsromans ist eine solche Entscheidungsmöglichkeit meist nicht gegeben. Es bleibt ihm in der Regel nichts anderes übrig, als sich jenseits genealogischer Linien zu definieren, da es in seinem Fall gar keine Herkunftssphäre gibt. Nicht umsonst setzt fast jeder Aufstiegsroman des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts mit dem Tod des Vaters ein oder präsentiert den Protagonisten gleich zu Beginn als Waisen. Die Suspension der Vergangenheitsbezüge zugunsten eines Eigenwerts der Gegenwart und Zukunft, die sich im Bildungsroman niederschlägt, wird im Aufstiegsroman folglich radikalisiert. Die Unterschiede gehen noch weiter. Wenn der Bildungsroman seinen Protagonisten von einer Herkunftsfamilie isoliert, so ist diese Isolation der Schlüssel zur Selbstfindung und Autonomisierung. Wie Michael Titzmann herausgestellt hat, repräsentiert die Herkunftsfamilie die „Heteronomie des nicht frei gewählten sozialen Kind-Zustandes“¹⁷, die Abkehr von ihr den Eintritt in eine Transitionsphase und insofern die erste Stufe innerhalb einer Dreiphasenstruktur, die sich als Initiationsgeschichte lesen lässt.¹⁸ Im Aufstiegsroman wird dieses Modell um seine zweite Phase, die Transitionsphase, verkürzt. Auf die Abkehr vom Elternhaus folgt keine Suche, kein Streben nach Selbstfindung, keine Transformation anfänglicher Ziele, wie es im Bildungsroman der Fall ist,¹⁹ sondern die Subjektivation als Selfmademan: ein Sich-Behaupten auf dem kapitalistischen Markt, ein Unter-Beweis-Stellen unternehmerischer Fähigkeiten, ein rastloses Streben nach Aufstieg, Reichtum und Erfolg. In diesem Erzählmodell kommt der Vorstellung von Diskontinuität und zeitlichen Veränderung ein anderer Status zu, als es im Bildungsroman der Fall ist. Für den Typus des Selfmademans, der konsequent auf eine bessere Zukunft hinarbeitet, spielt die Herkunft nur insofern eine Rolle, als sie Gegenstand der Überwindung ist. Im Bildungsroman dagegen werden Bilder der Zukunftsoffenheit und Diskontinuität immer wieder von den Kategorien der Herkunft und Vergangenheit eingeholt und überlagert. Wie Christian Moser gezeigt hat, zielt der Bildungsroman analog zur entwicklungsgeschichtlichen Autobiographie der Goethezeit darauf ab, „den Einschnitt der Initiation zu elimi-

 Michael Titzmann: Die „Bildungs-“/Initiationsgeschichte der Goethe-Zeit und das System der Altersklassen im anthropologischen Diskurs der Epoche. In: Danneberg, Lutz (Hrsg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer, 2002. S. 7– 64, hier S. 16.  Vgl. Titzmann: Die „Bildungs-“/Initiationsgeschichte, S. 12 f.  Vgl. Titzmann: Die „Bildungs-“/Initiationsgeschichte, S. 12 f.

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

nieren und einen gleitenden Übergang von Natur zu Kultur zu gewährleisten.“²⁰ Im Einklang mit der zeitgenössischen Bildungspädagogik profiliere der Bildungsroman Formen der Kulturalisation, die auf Erinnerung beruhen und dem harten Initiationseinschnitt durch Kontinuitätsstiftung entgegenlaufen.²¹ Im Wilhelm Meister werde diese Erinnerungsarbeit durch die Turmgesellschaft angeleitet, die den Protagonisten zu einer kontinuitätsstiftenden Lebensschau befähigt. An die Stelle des Bruches trete eine durch Erinnerung erzeugte Kontinuität: In dem Moment […], da Wilhelm durch den Verzicht auf die Theaterlaufbahn dazu genötigt wird, einen Bruch mit seiner Vergangenheit zu vollziehen, verweist ihn die Turmgesellschaft auf eine Möglichkeit, diesen Bruch zu heilen.²²

Das Mittel zu dieser Heilung ist Moser zufolge nicht die „bekenntnishafte Selbstdurchleuchtung“, sondern die Lektüre der vom Turm verfassten Biographie, in der ein „liebevolle[r] Blick der Erinnerung“ den „kalten Blick der Selbsterkenntnis“ ersetzt.²³ So vehement sich Wilhelm zunächst von seiner Herkunftssphäre lossagt, so einschneidend ist folglich der Einfluss, den Kindheit und Jugendzeit auf seine Sozialisation haben. Diese Rückkopplung an Kindheitserfahrungen schlägt sich auch im Figurenarsenal nieder, das über weite Strecken auf eine Zusammenführung von erzählter Jetztzeit und Vergangenheit zugeschnitten ist. Durch die Begegnung mit Mignon wird Wilhelm nach seiner einstweiligen Resignation, die ihn zurück in die väterliche Wirtschaftssphäre geführt hatte, wieder an die künstlerischen Ambitionen seiner Kindheit herangeführt.²⁴ Auch die Figur des Harfners ist eng mit Wilhelms Kindheitsphantasien korreliert. Wie Franziska Schößler herausgestellt hat, entspricht die (musik‐)therapeutische Beziehung zwischen Wilhelm und dem Harfner dem Verhältnis zwischen Saul und David und erinnert damit an die Geschichte, deren märchenhafte Fassung Wilhelm auf dem Puppentheater emphatisch rezipiert hat.²⁵ Was diese figurenhaft veranschaulichte Wiederkehr des Vergangenen andeutet, wird schließlich durch Wilhelms Überzeitlichkeitserfahrung im To-

 Christian Moser: Initiation und Erinnerungsbild: Zur literarischen Konstitution des Subjekts um 1800 (Rousseau, Goethe, Wordsworth). In: Schneider, Helmut J.; Simon, Ralf; Wirtz, Thomas (Hrsg.): Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne. Bielefeld: Aisthesis, 2001. S. 249 – 267, hier S. 249 f.  Vgl. Moser, S. 254– 259.  Moser, S. 256.  Moser, S. 257 f.  Vgl. Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre: Eine Kulturgeschichte der Moderne. Tübingen: A. Francke Verlag, 2002. S. 78.  Vgl. Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 73 f.

3.1 Temporale Konstruktionen: Kontinuitäten und Brüche

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tensaal des Oheims explizit gemacht.²⁶ Die Bilder im Saal führen dem Protagonisten die Unveränderlichkeit menschlicher Erfahrungen vor Augen: „Welch ein Leben“, rief er aus, „in diesem Saale der Vergangenheit! Man könnte ihn ebensogut den Saal der Gegenwart und der Zukunft nennen. So war alles und so wird alles sein! […] Hier dieses Bild der Mutter, die ihr Kind ans Herz drückt, wird viele Generationen glücklicher Mütter überleben. Nach Jahrhunderten vielleicht erfreut sich ein Vater dieses bärtigen Mannes, der seinen Ernst ablegt und sich mit seinem Sohne neckt. So verschämt wird durch alle Zeiten die Braut sitzen und bei ihren stillen Wünschen noch bedürfen, daß man sie tröste, daß man ihr zurede; so ungeduldig wird der Bräutigam auf der Schwelle horchen, ob er hereintreten darf.“²⁷

Deutlich zeigt sich hier die zweite temporale Konzeptionslinie des Textes: Neben Zäsur und Diskontinuität rücken Kontinuität und Zusammenhangsstiftung in den Fokus. Diese „doppelte zeitliche Dynamik“²⁸ zeigt sich auch in anderen Handlungselementen. Wie Cornelia Zumbusch gezeigt hat, werden im Wilhelm Meister wie später auch im Agathon und Nachsommer sowohl prekär gewordene als auch unproblematisch erscheinende hereditäre Bindungen durch alternative soziale Genealogien ersetzt, die die „gesicherte biologische Genealogie um eine zweite Abkunft“²⁹ verdoppeln. Die Protagonisten erhalten neue soziale Väter und finden sich in Ordnungen wieder, die den Eindruck einer verlustig gegangenen genealogischen Kontinuität relativieren.³⁰ Was der Bildungsroman auf seiner temporalen Erzählebene zum Ausdruck bringt, ist folglich vom Aufstiegsroman in fundamentalen Hinsichten verschieden. Nicht nur verschärft sich im Aufstiegsroman der antigenealogische Impetus, der im Bildungsroman durch Alternativgenealogien unterschwellig nivelliert wird. Auch in ihrer kontextuellen Imprägnierung ist die Diskontinuitätslogik des Bildungsromans von der des Aufstiegsromans logischerweise unterschieden. Wenn in Goethes Roman die Legitimationsfunktion der Vergangenheit zugunsten einer Offenheit der Zukunft suspendiert wird, so wird in ihm ein zeittypischer „Führungswechsel der Zeithorizonte“³¹ konkretisierbar, der mit vielfältigen Ent-

 Vgl. dazu Martina Kohl: „The Wilhelm Meister Pebble“. Bildungsromanelemente in Thomas Wolfes Look Homeward, Angel (1929), Of Time and the River (1935), The Web and the Rock (1939) und You Can’t Go Home Again (1940). Würzburg: Königshausen & Neumann, 1994. S. 54.  Johann Wolfgang Goethe [1795/96]: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Berlin: Aufbau Verlag, 1952. S. 581.  Lehmann: Kontinuität und Diskontinuität, S. 268.  Cornelia Zumbusch: Nachgetragene Ursprünge. Vorgeschichten im Roman (Wieland, Goethe, Stifter). In: Poetica 43 (2011), S. 267– 299, hier S. 298.  Vgl. Zumbusch, S. 297.  Luhmann, S. 155.

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

wicklungen der Zeit zusammenhängt: der Herausbildung pädagogischer Lehren, die auf der Beobachtung einer stetigen Wandelbarkeit gesellschaftlicher Zustände aufruhen,³² der Entwicklung eines polizeilichen Ordnungssystems, das sich als gegenwartsbeobachtende Instanz etabliert,³³ und dem zeitgenössischen Epochenereignis, der Französischen Revolution. Spätestens mit der Kontinuitätsskepsis der Turmgesellschaft macht sich in der erzählten Welt die Auswirkung des epochalen Umbruchs bemerkbar.³⁴ Die sozialreformerischen Maßnahmen der Turmgesellschaft und ihr Amerikaplan kalkulieren das Eintreten unkalkulierbarer Ereignisse mit ein: Ausgangspunkt ist der Gedanke, „daß eine Staatsrevolution den einen oder den anderen von seinen Besitztümern völlig vertriebe.“³⁵ Die Zeitlichkeit, die dem Aufstiegssujet um 1900 inhäriert, basiert auf einem analogen Diskontinuitätsdenken, doch bezieht sich dieses auf ökonomisch-technische Umbruchsprozesse des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts.³⁶ Gerade um 1900 werden zeitliche Erfahrungen der Transformation und Irreversibilität in einem bislang unbekannten Ausmaß erfahrbar. Die Rückkehr zu vorindustriellen Gesellschaftsstrukturen einschließlich ihrer bedürfnisorientierten Wirtschaftsform und ihrer vermeintlichen sozialen Stabilität scheint seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert ausgeschlossen; die um die Jahrhundertmitte eingeleitete ökonomische, technische und soziale Modernisierung erscheint als Auftakt einer unaufhaltsamen und sich auch zukünftig beschleunigt fortsetzenden Entwicklung.³⁷ Zusammenhänge zwischen diesen Zäsur- und Irreversibilitätserfahrungen und dem selfmade-Narrativ ergeben sich vornehmlich aus einer metonymischen  Vgl. hierzu Lehmann: Kontinuität und Diskontinuität.  Vgl. Johannes F. Lehmann: „Literatur der Gegenwart“ als politisches Drama der Öffentlichkeit. Der Fall Robert Prutz und seine Voraussetzungen im 18. Jahrhundert. In: Gamper, Michael; Schnyder, Peter (Hrsg.): Dramatische Eigenzeiten des Politischen um 1800. Hannover: Wehrhahn, 2017. S. 191– 214, hier S. 202 f.  Vgl. Saße, S. 240 f.  Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 605 f.  Dass sich im selfmade-Sujet Zeiterfahrungen niederschlagen, die die ästhetischen Selbstbeschreibungen der Moderne fundamentieren und zugleich auf realhistorische Umbrüche Bezug nehmen, lässt die Interdependenz von ästhetischen und gesellschaftlichen Bestimmungsweisen der Moderne hervortreten. Für eingehende Analysen zur Relation von ästhetischer und gesellschaftlicher Moderne vgl. Sabina Becker: Zum Verhältnis von gesellschaftlicher Moderne und ästhetischer Modernität 1900 – 1933. In: Braungart, Georg; Jianhua, Zhu; Thomé, Horst (Hrsg.): Chinesisch-deutsches Jahrbuch für Sprache, Literatur und Kultur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008. S. 151– 161 sowie Thomas Anz: Gesellschaftliche Modernisierung, literarische Moderne und philosophische Postmoderne. Fünf Thesen. In: Anz, Thomas; Stark, Michael (Hrsg.): Die Modernität des Expressionismus. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1994. S. 1– 8.  Vgl. Lucian Hölscher: Die Entdeckung der Zukunft. Göttingen: Wallstein, 2016. S. 138 f.

3.1 Temporale Konstruktionen: Kontinuitäten und Brüche

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Erzähllogik. Der Aufstiegsweg des Selfmademans, der um 1900 meist als Unternehmer in Erscheinung tritt, wird mit dem Aufkommen moderner Wirtschaftsweisen in Bezug gesetzt. Ob es Franz Bohle aus Eine Siegernatur ist, der ein Bauerngut in einen kapitalistischen Betrieb umwandelt, Friedrich Urban aus Meister Timpe, der eine auf Massenproduktion ausgerichtete Fabrik gründet, oder Friedrich Haltern aus Arbeit, der seinen Aufstieg den Erfolgen seines stetig expandierenden Technikunternehmens verdankt – sämtliche fiktiven Selfmademen erzielen ihre Aufstiege über die Errungenschaften einer ökonomisch-technischen Moderne, an der sie aktiv teilhaben. Dass sie als Initiatoren kapitalistischer Dynamiken figurieren, weitet ihre temporale Indexalisierung von der Individualgeschichte auf die Wirtschaftsgeschichte aus und macht somit ihren ökonomischen Verweisungshorizont unmittelbar sichtbar. Über den Typus des Selfmademans agiert der Aufstiegsroman um 1900 folglich auf doppelte Weise ein ökonomisch fundiertes Modernenarrativ aus, das einmal mehr seine Nähe zur nationalökonomischen Theoriebildung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts vor Augen führt. Die Vorstellung einer Diskontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die sich im Aufstiegsweg des Selfmademans niederschlägt und sich in seinen Wirtschaftspraktiken spiegelt, ist für nationalökonomische Abhandlungen der Zeit theorieleitend. Nationalökonomische Theorien zum modernen Unternehmertum setzen bei einer temporalen Differenzmarkierung an, die sich gegen die ,Überzeitlichkeitsprämisse‘ der Klassischen Nationalökonomie richtet: Elemente der „gegenwärtigen Wirtschaftsweise“ werden von denjenigen vergangener Epochen abgegrenzt und als zäsurhafte Phase im Rahmen einer organischen „Gesamt-Entwickelung“ konzeptualisiert.³⁸ Sombart etwa leitet seine 1903 erschienene Studie über eine Zeitreise ein, damit „jedermann die Mächtigkeit des Wandels vor Augen steht“, der sich durch die „wirtschaftliche Revolution“ im neunzehnten Jahrhundert vollzogen habe.³⁹ Auf dieselbe Revolutionssemantik stützt sich Ludwig Pohle in seiner Abhandlung Die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens im letzten Jahrhundert (1913). Mit der Wende vom Agrar- zum Industriestaat sei das Zeitalter der modernen Volkswirtschaft eingeläutet worden; in kürzester Zeit haben sich radikale Veränderungen vollzogen, die die ,alte Welt‘ erschüttert haben: Allein eine so vollständige Umwälzung aller überkommenen Wirtschaftsverhältnisse, ein so gewaltiges und allgemeines Niederreißen und Neuaufbauen auf wirtschaftlichem Gebiete,

 Karl Bücher: Die Entstehung der Volkswirtschaft. Sechs Vorträge. Tübingen: Laupp, 1893. S. 10. Zum nationalökonomischen Stufenmodell, auch bei Karl Bücher, vgl. Agethen, S. 18 – 23.  Sombart: Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert, S. 72.

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

wie das letzte Jahrhundert es uns gebracht hat, hat sich in der ganzen deutschen Wirtschaftsgeschichte noch nie in einer so kurzen Zeitspanne abgespielt.⁴⁰

Wenn der Aufstiegsroman das ökonomiezentrierte Modernenarrativ literarisch ausgestaltet, so verdeutlicht dies seine unmittelbare Anbindung an Erzählbestände der zeitgenössischen Nationalökonomie und seine Bezugnahme auf wirtschaftshistorische Erscheinungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Der Aufstiegsroman, so lässt sich schlussfolgern, adaptiert und radikalisiert die diskontinuitätszentrierte Zeitvorstellung, die das Erzählmodell des Bildungsromans fundiert, doch untersteht diese zeitbezogene Anschlussdimension Erzählparadigmen, die den Aufstiegsroman zu einer genuinen Subgattung des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts machen: Thematisch fokussiert werden das Ende der ,alten Welt‘ und der Anbruch einer neuen, die von ökonomischen und technischen Dynamiken bestimmt wird.

3.2 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und Aktualisierungen Dass der grand récit ,Moderne‘, der seit der Jahrhundertmitte die Nationalökonomie durchwandert, die histoire-Bildung des Aufstiegsromans nährt, lässt eine neue Dimension des Verhältnisses von Bildungs- und Aufstiegsroman sichtbar werden. Obgleich der Aufstiegsroman die Zeitlichkeit des Bildungsromans teilt, ist er in seinem Erzählfokus von dem des Bildungsromans fundamental verschieden. Folgt man Hartmut Steinecke, so handelt es sich bei dem Romantypus, der traditionell als Bildungsroman bezeichnet wird, um einen Individualroman, der das Individuum und sein konfliktbeladenes Selbst- und Weltverhältnis ins Zentrum rückt.⁴¹ Ähnlich sieht auch Norbert Ratz den Romantypus des Bildungsromans, für den Ratz den Alternativbegriff „Identitätsroman“ vorschlägt, von einer „Identitätsbewegung“ bestimmt, die sich in einer invarianten Abfolge von Identitätsverwirrung, Selbstreflexion und Synthetisierung herauskristallisiere.⁴²

 Ludwig Pohle: Die Entwicklung des deutschen Wirtschaftslebens im letzten Jahrhundert. Leipzig: B.G. Teubner, 1913. S. 147.  Vgl. Hartmut Steinecke: Wilhelm Meister und die Folgen. Goethes Roman und die Entwicklung der Gattung im 19. Jahrhundert. In: Wittkowski, Wolfgang (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen: Niemeyer, 1984. S. 89 – 111.  Vgl. Norbert Ratz: Der Identitätsroman. Eine Strukturanalyse. Tübingen: Niemeyer, 1988. S. 8 – 10.

3.2 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und Aktualisierungen

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In der jüngeren Wilhelm-Meister-Forschung wurde die individualzentrierte Lesart durch diskurstheoretisch inspirierte Analysen und Perspektiven aus dem New Historicism erweitert, wobei die vielfältigen epistemischen Verweisungslinien des Romans erkundet worden sind.⁴³ Wie sich dabei gezeigt hat, bildet Goethes Roman seine Diegese über Wissensbestände aus Pädagogik, Medizin⁴⁴ und Ökonomie⁴⁵, lässt politische, philosophische, anthropologische und ästhetische Vorstellungskomplexe einfließen, und entfaltet so ein dichtes Netz aus Wissenselementen koexistierender Diskursstränge.⁴⁶ Dass gerade das Bildungsparadigma trotz beziehungsweise aufgrund der Betonung von Innerlichkeit und Autonomie eine eminent gesellschaftspolitische Erzählebene entfaltet, haben jüngere Forschungen zum Bildungsroman nachgewiesen.⁴⁷ Die jeweiligen Erkenntnisse schließen indes eine Lesart des Bildungsromans als Manifestationsraum zirkulierender Individualitätsvorstellungen nicht aus. In welcher Form gerade Goethes Roman Vorstellungen von Individualität, Identität und Subjektivität narrativiert und in welchen Kontexten diese Vorstellungen stehen, geht aus einer Reihe von Studien hervor. Während Clark S. Muenzer den Roman im Zeichen enigmatischer Subjektkonstrukte liest, die weniger

 Für einen Überblick zu den diskurstheoretisch informierten Forschungen zum Wilhelm Meister vgl. Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 10 – 13.  Vgl. zur Rolle der Medizin im Wilhelm Meister insbesondere Walter Müller-Seidel: Dichtung und Medizin in Goethes Denken. Über Wilhelm Meister und seine Ausbildung zum Wundarzt. In: Gawoll, Hans-Jürgen et al. (Hrsg.): Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift zum 65. Geburtstag von Otto Pöggeler. München: Fink, 1994. S. 107– 137. Für Perspektiven aus dem Feld ,Literatur und Medizin‘ vgl. außerdem HansJürgen Schings: Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister. Zur Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wittkowski, Wolfgang (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen: Niemeyer, 1984. S. 42– 68.  Mit der Diskursivierung ökonomischen Wissens in Goethes Roman hat sich seit längerer Zeit eine Reihe von Studien auseinandergesetzt. Vgl. Stefan Blessin: Die radikal-liberale Konzeption von Wilhelm Meisters Lehrjahren. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), S. 190 – 225; Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen zum Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den ,Amtlichen Schriften‘. Frankfurt a. M.: Lang, 1982; Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 35 – 54; André Lottmann: Arbeitsverhältnisse. Der arbeitende Mensch in Goethes Wilhelm Meister-Romanen und in der Geschichte der Politischen Ökonomie. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011 sowie Bauer: Ökonomische Menschen, S. 91– 110.  Vgl. Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 12– 17.  Vgl. insbesondere Eva Blome und Maud Meyzaud: Editorial. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 41 (2016), Heft 2, S. 242– 250.

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

substanzialistisch als symbolisch referenzialisiert werden,⁴⁸ kontextualisiert Carl Niekerk den Roman in der Ende des achtzehnten Jahrhunderts stattfindenden Physiognomikdebatte, in deren Folge sich das Denken über Subjektivität grundlegend verändert habe.⁴⁹ Wilhelm Voßkamp wiederum stellt die spezifische Temporalität des Bildungs- und Subjektmodells ins Zentrum sowie den „Raum des Unbestimmten“⁵⁰, den diese Temporalisierung mit sich bringe, wohingegen die Studie Stefan Kepplers eine Situierung des Romans im „intrikaten Fragefeld des Subjekts“ vornimmt und den subjektphilosophischen Verweisungskontext der Erzählung erschließt.⁵¹ So komplex und vielschichtig sich die Subjekt- und Individualitätsmodelle des Romans gestalten mögen, so unbestritten ist folglich ihre Funktion als strukturbildende Erzähldeterminanten. Eine solche Orientierung an Paradigmen der Individualität und Identität – wie brüchig und ambivalent sich diese auch gestalten mag – bleibt im Aufstiegsroman aus. Trotz der formal evozierten Individualzentriertheit ist es nicht der Lebensweg einer individuellen Figur, der im Zentrum der entsprechenden Texte steht, was umso offenkundiger ist, als mit dem Selfmademan ein Typus in Erscheinung tritt. Es geht nicht um den Entwicklungsgang einer Figur, sondern um Modernisierungsprozesse des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. In dieser dezidiert zeitdiagnostischen Erzählausrichtung steht der Aufstiegsroman weniger dem Bildungsroman nahe als dem Zeitroman.⁵² Der Typus des Selfmademans dient als personaler Ankerpunkt einer zeitgeschichtlichen Erzählform, die darauf angelegt ist, Determinanten der jeweiligen Zeit zu definieren und soziohistorische Veränderungsdynamiken zur Reflexion zu stellen. Dass der Aufstiegsroman auf diese Weise in eine Diskrepanz zu zeitgenössisch entworfenen Modellen des Bildungsromans gerät, zeigt sich vor allem, wenn man einen Blick auf Wilhelm Diltheys Begriffsbestimmung des Bildungsromans wirft. In Anlehnung an ein durch Hegel geprägtes Beschreibungsmuster bestimmt Dilthey die Individualzentriertheit als Charakteristikum des Bildungsromans:

 Vgl. Clark S. Muenzer: Figures of Identity. Goethe’s Novels and the Enigmatic Self. The Pennsylvania State University, 1984.  Vgl. Carl Niekerk: „Individuum est ineffabile“: Bildung, der Physiognomikstreit und die Frage nach dem Subjekt in Goethes Wilhelm-Meister-Projekt. In: Colloquia Germanica. Bd. 28, Nr. 1 (1995), S. 1– 33.  Wilhelm Voßkamp: „Ein anderes Selbst.“ Bild und Bildung im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein, 2004. S. 16.  Vgl. Stefan Keppler: Grenzen des Ich. Die Verfassung des Subjekts in Goethes Romanen und Erzählungen. Berlin: de Gruyter, 2006. Zitat auf S. 1.  Zum Strukturmodell des Zeitromans vgl. Dirk Göttsche: Zeit im Roman. Literarische Zeitreflexion und die Geschichte des Zeitromans im späten 18. und 19. Jahrhundert. München: Fink, 2001.

3.2 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und Aktualisierungen

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So sprechen diese Bildungsromane den Individualismus einer Kultur aus, die auf die Interessensphäre des Privatlebens eingeschränkt ist. Das Machtwirken des Staates in Beamtentum und Militärwesen stand in den deutschen Mittel- und Kleinstaaten dem jungen Geschlecht der Schriftsteller als eine fremde Gewalt gegenüber. Man entzückte und berauschte sich an den Entdeckungen der Dichter in der Welt des Individuums und seiner Selbstbildung.⁵³

Nimmt man vor diesem Hintergrund den Erzählfokus des Aufstiegsromans in den Blick, so drängt sich der Verdacht auf, dass sich der Aufstiegsroman um 1900 geradezu als Gegenmodell zum Bildungsroman instituiert. Der Aufstiegsroman zentriert sich um eine Wirtschafts- und Sozialwelt, die den typisierten Unternehmerfiguren nicht als „fremde Gewalt“ gegenübersteht, sondern als Realisationsraum ihrer Gestaltungsambitionen. Wie sehr die individualzentrierte Erzählebene in einer zeitbilanzierenden Bezugsachse aufgehen kann, lässt sich wiederum anhand von Zobeltitz’ Arbeit demonstrieren. Der Aufstiegsweg des Protagonisten wird zum pars pro toto für die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Märzrevolution bis zum Tod Friedrich III. Ähnlich wie die syntagmatisch angelegten Unternehmerbiographien der Zeit korreliert der Roman sämtliche Stationen der Aufstiegsgeschichte mit historischen Umbrüchen und Entwicklungstendenzen und lässt den Aufstieg seines Handlungsträgers als verknüpfendes Element im dargestellten Prozess der Hochindustrialisierung erscheinen.⁵⁴ Den Anfang bilden die Berliner Barrikadenkämpfe von 1848, bei denen Halterns Vater zu Tode kommt. Das zentrale Ereignis der deutschen Freiheitsund Nationalbewegung setzt also Halterns Subjektivation als Selfmademan in Gang. Mit den darauffolgenden Stationen, dem sukzessiven Aufbau und der Ausdehnung des fiktiven Unternehmens, nimmt der Roman auf gründerzeitliche Pionierleistungen im Bereich der Technik und Wirtschaft Bezug, bevor er schließlich zentrale Ereignisse der Gründerjahre zum Thema macht, in die der Protagonist direkt involviert wird: Haltern kämpft als Freiwilliger im DeutschFranzösischen Krieg mit, wird von der nationalen Hochstimmung ergriffen, begegnet Bismarck, kommt durch seine Handelsvereinbarungen mit Strousberg mit dem industriellen ,Spekulationsfieber‘ in Berührung und wird durch die Streiks in

 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing • Goethe • Novalis • Hölderlin. Zweite erweiterte Auflage. Leipzig: Teubner, 1907. S. 375.  Vgl. in diesem Zusammenhang Olaf Hähners Konzeptualisierung der syntagmatischen Biographie, die „das Individuum als Kausalursache von historischen Ereignissen, als verknüpfendes Element in einem geschichtlichen Ablauf“ begreift und im Gegensatz zur paradigmatischen Biographie von einer Geschichtsmächtigkeit des Individuums ausgeht. Olaf Hähner: Historische Biographik. Die Entwicklung einer geschichtswissenschaftlichen Darstellungsform von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M.: Lang, 1999. S. 31.

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

seiner Firma mit der erstarkenden Arbeiter*innenbewegung konfrontiert. Es ist also nicht die fiktive Individualität der Figur, die im Erzählfokus steht, sondern ihre zeitbezogene Repräsentationsfunktion.⁵⁵ Nicht nur die Verschiebung vom Individuum zur Zeit markiert einen Bruch mit dem Romantypus des Bildungsromans, wie ihn zeitgenössische Theoretiker definieren.⁵⁶ Halterns Lebensgeschichte selbst weicht fundamental von dem ab, was Dilthey zufolge den Bildungsroman ausmacht. Bei Dilthey heißt es: Von dem Wilhelm Meister und dem Hesperus ab stellen sie alle den Jüngling jener Tage dar; wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird.⁵⁷

Das Bild des Bildungssubjekts, das Dilthey wiederum in Anlehnung an Hegel entwirft, steht dem Handlungsträger in Zobeltitz’ Roman diametral entgegen. Liebesbeziehungen und Freund*innenschaften vernachlässigt der Protagonist zugunsten seiner Arbeit; sich selber muss er nicht erst finden, da er als „Mann, der immer nur aufs Vorwärtskommen sinniert“⁵⁸, den Wunsch nach Selbstfindung nicht kennt, und seine „Aufgabe“ ist mit dem Tod seines Vaters, durch den er ins Berufsleben eintreten muss, von Anfang an festgelegt. Die Diskrepanz zum Bildungsroman verstärkt sich, wenn man Hegels Begriffsbestimmung in den Blick nimmt. Über die männlichen Handlungsträger des Bildungsromans schreibt Hegel bekanntlich: Sie stehn als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze in’s Unermeßliche in

 Bereits Hans-Werner Niemann hat darauf hingewiesen, dass der Roman den individuellen Aufstieg des Protagonisten mit der nationalen Einigung und der politischen und ökonomischen Machtausdehnung Deutschlands parallelisiert. Vgl. Niemann, S. 45.  Es sollte an dieser Stelle betont werden, dass es vornehmlich zeitgenössische Kritiker sind, die von der individualzentrierten Erzählanlage der Lehrjahre auf eine Eindämmung der Gegenwartsbezogenheit schließen. In der Forschung wird vielfach die zeitdiagnostische Erzählebene apostrophiert, die Goethes Roman trotz oder vielmehr aufgrund seiner Individualzentriertheit innewohnt. So sieht zum Beispiel Franziska Schößler in der Vaterfigur eine ökonomische Entwicklung skizziert, die von einer wenig lukrativen Krämerwirtschaft hin zu Reichtum durch Kapitalakkumulation führe. Vgl. Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 47.  Dilthey, S. 374 f.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 129.

3.2 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und Aktualisierungen

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die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt, und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgiebt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerlicher Verhältnisse u.s.f. als ein Hinderniß vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisirt, durchschlagen müssen, und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte u.s.f. giebt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen.⁵⁹

Exemplarisch lässt sich an diesem Zitat der Bruch ablesen, den Zobeltitz’ Roman in der Erzähltradition des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts bedeutet – ein Bruch, der mit der Disposition seines typisierten Handlungsträgers zusammenhängt. Die Subjekt-Außenwelt-Diskrepanz, die Hegel polemisch konstatiert, stellt sich im Aufstiegsroman nicht ein, da sich die vermeintlich subjektiven Wünsche und Forderungen des Protagonisten aus den Erfordernissen der ökonomisierten Außenwelt ergeben. Was den Protagonisten einzig leitet, ist ein Streben nach Aufstieg, und dieses kann und muss er in der modernen Wirtschaftswelt realisieren. Die Wirtschaftswelt tritt ihm also nicht als Hindernis seiner Ziele entgegen, sondern als Realisierungsraum seiner Bestrebungen. Dass der Roman das Konfliktverhältnis, das dem Bildungsroman seit Hegel zugeschrieben wird, konterkariert und sich dergestalt vom Imaginationskonstrukt ,Bildungsroman‘ abgrenzt, zeigt sich auch in einer spezifischen Adaptions- und Inversionsstrategie. Mit Halterns Bruder Wilhelm, der diesen Vornamen gewiss nicht per Zufall trägt, präsentiert der Roman eine Figur, die den topischen Konflikt mit der prosaischen Außenwelt auszutragen hat. Im Gegensatz zu Haltern kann sich Wilhelm nicht mit der ökonomischen Sphäre identifizieren, zieht ein Germanistikstudium in Erwägung und verliebt sich in eine mittellose Frau, die er schließlich gegen den Willen seines Bruders heiratet. In nuce präsentiert der Roman also die Geschichte eines prototypischen Bildungssubjekts – eine Geschichte, die in einem Nebenstrang auserzählt wird, durch die Zentralfigur Friedrich Haltern fokalisiert wird und schließlich durch den brieflich mitgeteilten Tod der Figur abrupt endet. Zuvor ist die Figur nach Amerika ausgewandert, was das inverse Moment des Romans noch verstärkt: Die nach Selbstentfaltung strebende Figur, die aus der ökonomischen Sphäre herauszubrechen sucht, wird mit Amerika assoziiert, wohingegen der materialistisch und pragmatisch denkende Unternehmer als Repräsentant des deutschen Wirtschaftslebens figuriert.

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik. Hg. von Heinrich Gustav Hotho. Bd. 2. Berlin: Duncker & Humblot, 1837. S. 216.

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Blickt man auf diese Inversionsmomente, durch die sich der Roman vom Bildungsroman, wie ihn die Literaturkritik des neunzehnten Jahrhunderts modelliert, absetzt, so mag sich ein déjà-vu-Effekt einstellen. Durch eine intertextuell konkretisierbare Absetzung vom Wilhelm Meister, die Erzählung von der konfliktfreien Sozialisation eines männlichen Subjekts innerhalb der Wirtschaftswelt und die damit verbundene Schilderung eines bürgerlichen Aufstiegswegs hat schon Freytags Soll und Haben (1855) die breite Aufmerksamkeit zeitgenössischer und späterer Romankritiker*innen und -theoretiker*innen auf sich gezogen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass sich Zobeltitz mit Freytags Kaufmannsroman nachweisbar auseinandergesetzt hat. Die 1901 publizierte Neuausgabe von Zobeltitz’ Sammelbiographie enthält ein Porträt über Freytag, in dem Zobeltitz den Handlungsgang des seiner Meinung nach „wertvollsten Roman[s]“⁶⁰ der deutschen Literatur resümiert und vor allem auf das Aufstiegsthema eingeht: Der Dichter führt uns […] an eine der Stätten der Arbeit unseres Volkes, zeichnet in klaren, liebevoll ausgemalten Bildern den deutschen Kaufmann. Ein begabter, aber ganz mittelloser Jüngling, Anton Wohlfahrt [sic], tritt in ein großes kaufmännisches Geschäft ein und erringt sich durch Tüchtigkeit, Zuverlässigkeit, Redlichkeit, Fleiß allgemeine Anerkennung und die Neigung der schönen Schwester seines Prinzipals, Sabinens.⁶¹

Liest man diesen Rezeptionseindruck vor dem Hintergrund von Zobeltitz’ Roman, so drängt sich der Verdacht auf, dass Arbeit als eine Art aktualisierende Imitation von Soll und Haben angelegt ist. Zobeltitz’ Roman wäre nicht der erste, der seine histoire auf Freytags Roman abstimmt. Einer Reihe von Romanen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts hat Soll und Haben als Folie gedient – das Spektrum reicht von Reinhold Solgers Anton in Amerika (1862) über Fanny Lewalds Von Geschlecht zu Geschlecht (1864– 1866) bis zu Conrad Albertis Schröter und Co (1893). Der Eindruck, dass auch Arbeit an dieser Rezeptionstradition partizipiert, verstärkt sich dadurch, dass Zobeltitz’ Freytag-Porträt eine ausdrückliche Historisierung von Soll und Haben vornimmt: Wollen wir den Roman recht verstehen, so müssen wir uns freilich immer vergegenwärtigen, daß er vor einem halben Jahrhundert geschrieben wurde. Seither hat sich so vieles verändert, daß die in „Soll und Haben“ geschilderten Verhältnisse vielfach nicht mehr auf die Gegenwart passen. Der Handel hat andere Wege eingeschlagen, der Arbeiterstand giebt sich anders als damals, die Landwirtschaft wird in anderer und rationeller Weise betrieben […].⁶²

 Zobeltitz: Vierzig Lebensbilder, S. 236.  Zobeltitz: Vierzig Lebensbilder, S. 235.  Zobeltitz: Vierzig Lebensbilder, S. 236.

3.2 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und Aktualisierungen

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Man könnte meinen, dass sich hinter dem Kommentar zu Soll und Haben eine Ankündigung des Romans Arbeit verbirgt. Folgt man diesem Rezeptionsangebot zu Zobeltitz’ Roman, so übernimmt dieser Kernelemente des Freytag’schen Handlungsgangs – allen voran das Aufstiegssujet –, ergänzt diesen jedoch um eine dezidierte Bezogenheit auf die zeitgenössische Gegenwart. Dass sich der Handel verändert hat, wird durch die Episode um Halterns Geschäfte mit Strousberg thematisiert; dass sich der Arbeiter*innenstand verändert hat, spiegeln die Schilderungen der Streiks und der Arbeiter*innenbewegung. Dass ein Aufstiegsroman um 1900 Freytags Kaufmannsroman zum Vorbild nimmt, ist in puncto (sub‐)generischer Verweisungen des Aufstiegsromans aufschlussreich. Mit Soll und Haben schließt Arbeit an einen Roman an, der sich in der zeitgenössischen Literaturkritik einen Namen als „Gegenbild des Götheschen Wilhelm Meister“ gemacht hat und dabei immer wieder als „entschiedene Verbesserung“ (Felix Dahn) seines Vorgängers tituliert worden ist.⁶³ Berthold Auerbach schreibt in seiner Freytag-Rezension: Ich will nur auf das Eine hinweisen daß Wohlfart (der Name scheint nicht ohne Bedeutung gewählt) wesentlich immer inmitten seines Berufes stehen bleibt, und endlich ganz in ihm aufgeht, während Wilhelm Meister, von allerlei Liebhabereien und Schicksalen gegängelt, sich zu einer andern, nur zur nothdürftigen Aushülfe gegebenen Thätigkeit wenden muß. Eben dieses Sichsetzen in seinem Berufe, eben dieses Erhöhen desselben durch gesteigerte Arbeit und Erkenntniß ist ein wohlzubeachtendes Zeichen der neuen Zeit und dieses aus ihr hervorgegangenen Werkes.⁶⁴

Was Auerbach an Soll und Haben belobigt, ließe sich gleichermaßen auf dessen aktualisierenden Hypertext Arbeit beziehen. Beide Romane behalten die formale Struktur des Wilhelm Meister bei, präsentieren jedoch Handlungsträger, die sich von Anfang an mit der bürgerlichen Wirtschaftssphäre identifizieren. Beide Romane rücken in ihrer strukturell markierten Individualzentriertheit Kollektivzusammenhänge in den Vordergrund: Geschildert werden Prozesse der Ökonomisierung, der Nationenbildung⁶⁵ und zeitlichen Veränderung (im Sinne eines vorgeblichen Fort-

 Felix Dahn: Moderne Literatur. Soll und Haben, Roman von Gustav Freytag. In: Beilage zu Nr. 266 der Neuen Münchener Zeitung. 7.11.1855, S. 2731.  Auerbach: Soll und Haben, S. 3994.  Anja Lemke sieht in der nationalidentitären Erzählebene von Soll und Haben ein zentrales Indiz für dessen Absetzung von der Tradition des Bildungsromans. Das „für die Gattung zentrale Moment der Entwicklung“ übertrage sich auf die „eigentlich im Fokus stehende erst zu schaffende Einheit des ,Volkes‘“. Anja Lemke: Waren- und Kapitalzirkulation. Poetisierung der Arbeit als Bildung des Nationenkörpers in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Lemke, Anja; Weinstock,

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3 Aufstieg vs. Bildung? Erzählmodelle im Vergleich

schritts). Nicht zuletzt durchkreuzen beide Romane den Entzweiungs- und Konfliktfokus, der seit Hegel als Definitionsmerkmal des Bildungsromans gilt, und überwinden damit die in der Romankritik vielfach kritisierte Differenzsetzung von ,Poesie‘ und ,Prosa‘. Die Subgattung des Aufstiegsromans ließe sich damit als literarische Reaktion auf einen Problemhorizont begreifen, der sich in der jungdeutschen und vormärzlichen Romankritik herauskristallisiert und die Literaturkritik bis ins beginnende zwanzigste Jahrhundert durchzieht. So vehement man am Wilhelm Meister festhält, so sehr lehnt man eine Orientierung daran ab.⁶⁶ Sei es die Vernachlässigung der „großen Gegenstände“ zugunsten des einzelnen Subjekts, die Goethes „Humanitäts-Roman“ (Vischer) zum Vorwurf gemacht wird,⁶⁷ oder das Verharren in der „Kleinstädterwelt“⁶⁸ (Gustav Kühne) – in einem Punkt herrscht Konsens: Den Forderungen nach Zeitgemäßheit und Gegenwartsnähe genügt der Wilhelm Meister nicht. Die Poesie der „neuesten Zeit“ habe eine „höhere Aufgabe“ zu erfüllen, „als die untergeordneten Reize des Privatlebens, Bildungs- und Charakterkämpfe des subjektiven Menschen zu besingen“⁶⁹, heißt es bei Vischer, der in seiner Maler-Nolten-Rezension auf einer Hinwendung zur Gegenwart und ihren „großen historischen Bewegungen“⁷⁰ insistiert. Wie wirkungsmächtig diese vormärzlich-jungdeutsche Rezeptionstradition noch um die Jahrhundertwende ist, zeigt wiederum ein Blick auf Diltheys Bildungsromankonzeption, die sich in diesem Zusammenhang freilich nicht direkt auf den Wilhelm Meister bezieht, sondern auf die Subgattung im Allgemeinen. Die temporalitätszentrierte Rezeptionslinie fortführend, bestimmt Dilthey den Bildungsroman als eine genuine Erscheinung des achtzehnten Jahrhunderts, die aus der Sicht des frühen zwanzigsten Jahrhunderts anachronistisch anmuten müsse:

Alexander (Hrsg.): Kunst und Arbeit. Zum Verhältnis von Ästhetik und Arbeitsanthropologie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn: Fink, 2014. S. 257– 271, hier S. 269.  Vgl. zur vor- und nachmärzlichen Wilhelm-Meister-Rezeption Hartmut Steinecke: Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus. Bd. 1. Stuttgart: Metzler, 1975. S. 78 – 85.  Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Dritter Theil: Die Kunstlehre. Bd. 5: Die Dichtkunst. Stuttgart: Carl Mäcken, 1857. S. 1311 f.  Ferdinand Gustav Kühne: Rezension über Leopold Schefer, „Die Gräfin Ulfeld“, 1835. In: Steinecke, Hartmut (Hrsg.): Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus. Bd. 2, Quellen. Stuttgart: Metzler, 1976. S. 117 f, hier S. 117.  Friedrich Theodor Vischer: Kritische Gänge. Neue Folge. Stuttgart: Cotta’scher Verlag, 1861. S. 21 f.  Friedrich Theodor Vischer: Noch ein Wort darüber, warum ich von der jetzigen Poesie nichts halte. In: Schwegler, Albert (Hrsg.): Jahrbücher der Gegenwart. Tübingen: Ludwig Friedrich Fues, 1844. S. 165 – 177, hier S. 167.

3.2 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und Aktualisierungen

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Wer heute die Flegeljahre oder den Titan Jean Pauls liest, in denen die ganze Summe des damaligen deutschen Bildungsromans zusammengefaßt ist, dem kommt aus diesen alten Blättern der Hauch einer vergangenen Welt entgegen, Verklärung des Daseins im Morgenlichte des Lebens, eine unendliche Verschwendung des Gefühls an eine eingeschränkte Existenz, eine dunkle, träumerische, noch verhüllte Macht der Ideale in jungen deutschen Seelen, die damals so bereit waren, den Kampf mit dieser veralteten Welt in all ihren Lebensformen zu wagen, und so unfähig ihn zu bestehen.⁷¹

Ausgehend von der vielberufenen Anachronizität des Bildungsromans lässt sich eine zentrale innerliterarische Bedingung bestimmen, unter der sich der Aufstiegsroman im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert herausbildet. Der Aufstiegsroman adaptiert das Strukturmodell des Bildungsromans, entwirft (und subvertiert) dabei jedoch Bilder der jeweiligen Jetztzeit. Dies gilt für die prototypischen Aufstiegsromane der Jahrhundertwende ebenso wie für die Romane der Jahrhundertmitte, in denen das Erzählmodell des Aufstiegsromans Kontur gewinnt. Gerade Soll und Haben ist in der Literaturkritik bekanntlich als Roman belobigt worden, der erstmalig und adäquat die prägenden Erscheinungen der eigenen Zeit zur Anschauung bringt.⁷² Der Roman stehe „auf dem Boden der Zeit“⁷³, konstatiert Marggraff, da er mit der Zentrierung um monetäre Interessen die „Hauptfrage der Zeit“⁷⁴ zu seinem Handlungsfundament mache. Die Zuschreibung von Aktualität und Gegenwartsbezogenheit mag verwundern, wenn man sich die zeitlichen Selbstkontextualisierungen des Romans und seine nostalgische Erzähltendenz vor Augen führt.⁷⁵ Wie die Erzählinstanz selbst anmerkt, steht die Warenhandlung Schröters zeitlich vor der anbrechenden ökonomisch-technischen Moderne: Bei der Firma handelt es sich um ein Warengeschäft, wie sie jetzt immer seltener werden, jetzt, wo Eisenbahnen und Telegraphen See und Inland verbinden, wo jeder Kaufmann aus den Seestädten durch seine Agenten die Waren tief im Lande verkaufen läßt, fast bevor sie im Hafen angelangt sind, so selten, daß unsere Nachkommen diese Art des Handels kaum weniger fremdartig finden werden wie wir den Marktverkehr zu Timbuktu oder in einem Kaffernkral.⁷⁶

 Dilthey, S. 375.  Bereits Rolf Selbmann hat darauf hingewiesen, dass sich Soll und Haben als „Anwendung der an Goethes Bildungsroman abgelesenen Maximen auf die eigene Gegenwart“ versteht. Vgl. Selbmann, S. 123.  Marggraff, S. 450.  Marggraff, S. 451.  Vgl. dazu Philipp Böttcher: Gustav Freytag – Konstellationen des Realismus. Berlin/Boston: de Gruyter, 2018. S. 314.  Freytag: Soll und Haben, S. 51.

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Dass der Roman die Industrialisierung und die damit verbundenen gesellschaftlichen Folgeerscheinungen vornehmlich ex negativo einblendet, schließt indes eine textimmanente Suggestion von Gegenwartsbezogenheit nicht aus. Zeitgemäßheit und Aktualität werden in Soll und Haben gezielt evoziert, was vor allem durch eine ökonomiezentrierte, bürgerlich ideologisierte Figurenzeichnung geschieht. Es deutet sich hier eine Korrelation von Ökonomie, Bürgerlichkeit und Gegenwartsbewusstsein an, die für die Zeiterfahrungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts prägend ist. Über die bürgerliche Selbstverständigung konkretisiert sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Wahrnehmung der eigenen Zeit als einer neuen, von der Vergangenheit wesentlich verschiedenen Epoche. „Unsere ganze Zeit trägt einen bürgerlichen Charakter“⁷⁷, heißt es etwa in Wilhelm Heinrich Riehls populärem Frühwerk Die bürgerliche Gesellschaft (1851), das sich ausdrücklich als eine „die Zeichen der Zeit“⁷⁸ bestimmende Studie präsentiert. Der dabei etablierte Konnex zwischen bürgerlichem Selbstverständnis und Gegenwartsemphase wird in Freytags Roman zu einem fundierenden Handlungselement. Temporale Wertungen plausibilisieren den bürgerlichen Normenhorizont, den die Erzählung propagiert. Der Polarität bürgerlich/unbürgerlich korrespondieren die Dichotomien von Gegenwart und Vergangenheit, Aktualität und Obsoletheit, Modernität und Antiquiertheit. Die aristokratische Lebens- und Wirtschaftsweise etwa wird nicht nur als unbürgerlich, sondern als anachronistisch inszeniert. Das polnische Landgut der Rothsattels erscheint als Bau aus „uralter Zeit“⁷⁹; die wirtschaftliche Unproduktivität des Freiherrn wird auf einer vorzivilisatorischen Entwicklungsstufe platziert. Der anachronisierenden Wildheitssemantik, die ihre Wurzeln im nationalökonomischen Progressionsnarrativ hat,⁸⁰ stehen emphatische Neuheitsbetonungen gegenüber: Fink soll „ein neues deutsches Geschlecht“⁸¹ begründen, auf den Landgütern soll „neues Leben“⁸² einziehen, Anton Wohlfart beginnt ein „neues Soll und Haben“⁸³. Mit der Leitdichotomie bürgerlich/unbürgerlich geht also eine zeitliche Wertsetzung einher, durch die der Roman in reflexiver Form am Gegenwartsdiskurs der Zeit partizipiert: Es wird ein Bild dessen konstruiert, was die Jetztzeit definiert, was der Vergangenheit zugehört und was die Zukunft do-

 Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. Stuttgart/Tübingen: Verlag der Cotta’schen Buchhandlung, 1851. S. 187.  Vgl. das Kapitel „Zeichen der Zeit“ in Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft.  Freytag: Soll und Haben, S. 506.  Vgl. Agethen, S. 77– 85.  Freytag: Soll und Haben, S. 845.  Freytag: Soll und Haben, S. 837.  Freytag: Soll und Haben, S. 851.

3.2 Wilhelm Meister als Kontrastfolie: Verweisungen und Aktualisierungen

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minieren wird. Diese bürgerlich ideologisierte Zeitdiagnostik wird durch die Aufstiegs- und Untergangsteleologie in symbolischer Form forciert. Mit dem Untergang des Rothsattel-Landguts werden die ,unbürgerliche‘ Spekulationswirtschaft und Hypothekenbildung aus der diegetischen Gegenwart ausgeschlossen. Im Aufstieg Anton Wohlfarts dagegen spiegelt sich dieselbe temporal begründete Monumentalisierung des Bürger*innentums, über die Riehl in seiner Studie argumentiert: Die Emanzipation des Bürger*innentums habe „die Pforten der Gegenwart erschlossen“; wie im Mittelalter die aristokratische Schicht „der Mikrokosmos der Gesellschaft war“, so sei es „das Bürgerthum in der Gegenwart.“⁸⁴ Was für Soll und Haben gilt, zeigt sich in ähnlicher Form im Aufstiegsroman der Jahrhundertwende. Der Aufstiegsroman adaptiert die bei Freytag angelegte zeitdiagnostische Funktionsdimension des Aufstiegssujets, das den veränderten Bezugskontexten und sozioökonomischen Entwicklungen entsprechend neu justiert wird. Über seinen Handlungsträger, den typisierten Selfmademan, bestimmt und verhandelt der Aufstiegsroman den Durchbruch des Kapitalismus und die Entstehung einer ökonomisch-technischen Moderne.Was den Aufstiegsroman um 1900 mit dem Realismusklassiker der Jahrhundertmitte vereint, ist folglich eine dezidiert zeitdiagnostische Funktionalisierung des Aufstiegssujets. Die damit verbundene Absetzung vom Erzählmodell des Bildungsromans, die sich in Zobeltitz’ Roman abzeichnet, ist gleichermaßen durch Freytags Roman vorgeprägt. Auch in Soll und Haben steht das Aufstiegssujet im Zeichen einer intertextuellen Inversion, durch die sich der Roman als kontrastiv angelegter und moderner Hypertext zum Wilhelm Meister präsentieren kann. Waren bürgerliche Tugenden im Wilhelm Meister auf eine Neben- und Kontrastfigur projiziert worden, deren Geschichte punktuell und retrospektiv eingeblendet wird, so geriert sich Soll und Haben als die bis dato ungeschriebene Geschichte vom Aufstieg eines bürgerlichen Kaufmanns. Dieser tritt nicht als „arbeitsamer Hypochondrist“⁸⁵ von mangelhafter äußerer Gestalt in Erscheinung, wie es in Goethes Roman durch die Figurenzeichnung Werners geschieht,⁸⁶ sondern wird mit einer „gesunde[n]“ und „rüstige[n] Jugendkraft“ ausgestattet, die den Wohlstand des Handelshauses – als

 Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 188.  Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 536.  In einem Kommentar der Erzählinstanz wird das im Verfall begriffene Erscheinungsbild der Figur beschrieben: „Der gute Mann schien eher zurück als vorwärts gegangen zu sein. Er war viel magerer, als ehemals, sein spitzes Gesicht schien feiner, seine Nase länger zu sein, seine Stirn und sein Scheitel waren von Haaren entblößt, seine Stimme hell, heftig und schreiend, und seine eingedrückte Brust, seine vorfallenden Schultern, seine farblosen Wangen ließen keinen Zweifel übrig, daß ein arbeitsamer Hypochondrist gegenwärtig sei.“ Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 536.

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pars pro toto für den Staat – befördern soll.⁸⁷ Intertextuelle Konkretion gewinnt der Bezug zum Wilhelm Meister in Anton Wohlfarts laudatio auf die moderne Handelswelt.⁸⁸ Argumentationsfiguren, die Werners Rede über den Handel zugrunde gelegen hatten, werden in Freytags Roman zwar deklarativ reproduziert, doch stilistisch überformt und auf das verklärungsästhetische Ideal der Aussöhnung von ,Poesie‘ und ,Prosa‘ abgestimmt.⁸⁹ Während Werners Rede ein nationalökonomisches Vokabular ausrollt und von Begriffen wie Spedition, Spekulation und Zirkulation durchzogen wird,⁹⁰ spielt Antons vielzitierte Rede in ihrer Gewebe-Metaphorik auf Blanckenburgs Romanästhetik an und beschreibt den globalisierten Warenverkehr über ein poetologisches Vokabular.⁹¹ Wenn sich Anton als Lehrling einer Kolonialwarenhandlung durch einen Faden mit einer imaginierten brasilianischen Kaffeebohnenpflückerin und einem jungen Kaffeekonsumenten verbunden sieht, so wird dieselbe Bildlichkeit aufgerufen, die Blanckenburg in seinem Versuch über den Roman (1774) anbringt. Folgt man dieser Anspielung, so erscheint die globalisierte Wirtschaft wie ein Roman im Sinne Blanckenburgs als ein „in einander geschlungenes Gewebe, das, wenn es aus einander zu wickeln wäre, ganz ununterbrochen einen Faden enthielte.“⁹² Mit der programmatischen Differenzmarkierung zum Prätext Wilhelm Meister lässt Freytags Roman intertextuelle Referenz und Gegenwartskonstitution amalgamieren. Literarische Gegenwärtigkeit wird bei Freytag über eine gezielte Absetzung von einem als anachronistisch ausgewiesenen Prätext erzeugt, womit die zeitdiagnostische Reflexionsebene an die poetologische histoire des Textes angeschlossen wird. Dieses Verfahren der Zeitbilanz qua hypertextueller Überschreibung, das im Aufstiegsroman um 1900 ein Nachleben findet, verdeutlicht einmal mehr die ambivalente Beziehung, die die Subgattung zum Bildungsroman unterhält. Auf der einen Seite übernimmt der Aufstiegsroman in seiner strukturellen Gestaltung fundierende Elemente des Bildungsromans, wie er um 1900 konzipiert wird. Auf der anderen Seite zielen intertextuelle Verweisungen sowie

 Freytag: Soll und Haben, S. 850.  Auf die intertextuelle Bezuglinie, die in Antons Rede über den Welthandel sichtbar wird, hat schon Philipp Böttcher hingewiesen. Vgl. Philipp Böttcher: Die Poesie des Prosaischen. Zur Literaturprogrammatik der Grenzboten und der feldstrategischen Positionierung von Gustav Freytags Soll und Haben. In: Böhm, Elisabeth; Dennerlein, Katrin: Der Bildungsroman im literarischen Feld: Neue Perspektiven auf eine Gattung. Berlin/Boston: de Gruyter, 2016. S. 165 – 220.  Vgl. Böttcher: Die Poesie des Prosaischen, S. 190.  Vgl. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 37.  Vgl. Böttcher: Die Poesie des Prosaischen, S. 189 f.  Christian Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman. Leipzig/Liegnitz: David Siegerts Wittwe, 1774. S. 313.

3.3 Der Aufstiegsroman – Möglichkeiten und Grenzen einer Klassifikation

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die Suspension des Individualitätsparadigmas zugunsten einer zeitgeschichtlichen Erzählform darauf ab, dem Bildungsroman à la Wilhelm Meister ein zeitgemäßes Nachfolgemodell entgegenzusetzen – ein Nachfolgemodell, als das sich schon der realistische „Programmroman“⁹³ durch intra- und paratextuelle Inszenierungsstrategien geriert hatte.⁹⁴ Auch der geschlechtsbezogene Verweisungshorizont des Aufstiegsromans erhält damit eine zusätzliche Dimension. Die Wertungskategorien der Zeitgemäßheit, Aktualität und Gegenwartsnähe sind im neunzehnten Jahrhundert männlich besetzt, was sich wiederum in den Debatten um den Bildungsroman zeigt. Von der vermeintlichen Ausblendung der Zeitverhältnisse wird auf eine mangelhaft realisierte Maskulinitätsnorm geschlossen. Vischer etwa macht dem Wilhelm Meister eine „bedenkliche Scheue […] vor dem herben Rohstoffe des realen Lebens“ zum Vorwurf und sieht in dieser Wirklichkeitsflucht das Zeichen eines „Mangel[s] an männlichem Marke.“⁹⁵ Wenn der Aufstiegsroman das Paradigma des Wilhelm Meister durch ein zeitgemäßes Romanmodell zu suspendieren sucht, so reagiert er folglich auch auf das genderisierte Desiderat eines Romans, in dem sich niederschlagen soll, was im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert als ,männlich‘ gilt.

3.3 Der Aufstiegsroman – Möglichkeiten und Grenzen einer Klassifikation Dass sich der Aufstiegsroman als Gegenmodell zum Bildungsroman profiliert, lässt zwar eine seiner innerliterarischen Entstehungsbedingungen sichtbar werden, sagt allerdings nur bedingt etwas über das Verhältnis zwischen Aufstiegs- und Bildungsroman aus. Sieht man den Aufstiegsroman als aktualisierende Fortführung des Bildungsromans gemäß den ökonomisierten Gegenwartsvorstellungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, so folgt man einem objektsprachlichen Deutungsangebot, das sich an zeitgenössische, durch Hegel geprägte und von Dilthey fortgeführte Modellbildungen anlehnt. Im Einklang mit diesen Modellbildungen übernimmt der Aufstiegsroman eine Perspektive, die auf einer Reduktion aufruht: Wenn der Aufstiegsroman eine Kontrastrelation zum Bildungsroman insinuiert, so negiert er zentrale Komponenten des klassischen Er-

 Claudia Stockinger: Das 19. Jahrhundert. Zeitalter des Realismus. Berlin: Akademie Verlag, 2010. S. 145.  Vgl. Böttcher: Die Poesie des Prosaischen.  Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, S. 1312.

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zählgenres. Der ökonomisierte Gehalt des Konzepts ,Bildung‘, das immer auch Ideen „gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit oder institutioneller Formung“⁹⁶ in sich birgt, wird im Aufstiegsroman ausgeblendet. Nur so kann sich der Aufstiegsroman überhaupt als Gegenmodell zum Bildungsroman inszenieren. Andere Schlüsse über das Verhältnis beider Romantypen ergeben sich, wenn man den objektsprachlichen Bildungsromanbegriff in den Hintergrund rückt, womit man allerdings bei topischen Kontroversen der germanistischen Literaturwissenschaft anlangt: den Fragen, was den Bildungsroman als Romantypus ausmacht und ob überhaupt vom Bildungsroman als Subgattung die Rede sein kann. Von der Konzeption des Bildungsromans hängt logischerweise auch die Verhältnisbestimmung von Bildungsroman und Aufstiegsroman ab, und nicht nur das: Auch eine Begriffsbestimmung des Aufstiegsromans, die wie alle Definitionen auf Unterscheidungen aufruht, wird letztlich durch die BildungsromanKonzeption mitkoloriert. Die Inbezugsetzung beider Erzählmodelle kann damit, und dies gilt es im Folgenden darzulegen, verschiedene Richtungen einschlagen. Folgt man dem Bildungsromankonzept von Hartmut Laufhütte, so lassen sich sowohl der Bildungsroman als auch der Aufstiegsroman als historische Konkretisationen ein und derselben Gattungsstruktur bestimmen. In beiden realisieren sich die Muster der „Exemplarik erstrebende[n] Biographie- bzw. AutobiographieErzählung“⁹⁷, die beide mit historisch spezifischen Propositionskernen besetzen. Während der Bildungsroman eng mit dem Individualitätsideal verbunden ist,⁹⁸ steht der Aufstiegsroman unter dem Einfluss der nationalökonomischen Unternehmertheorie sowie dem grand récit des Darwinismus. Beide Romantypen sind in diesem Modell durch die ihnen gemeine formale Struktur verbunden und Teile desselben biographisch orientierten Erzählparadigmas, das sie unter unterschiedlichen Vorzeichen, entsprechend der Bedingungen ihrer jeweiligen Zeit, spezifizieren. Ein etwas anderes Bild ergibt sich, wenn man dem Bildungsromanbegriff Rolf Selbmanns folgt.Wie Laufhütte sieht Selbmann den Bildungsroman als historisch  Blome und Meyzaud, S. 243.  Hartmut Laufhütte: „Entwicklungs- und Bildungsroman“ in der deutschen Literaturwissenschaft. Die Geschichte einer fehlerhaften Modellbildung und ein Gegenentwurf. In: Titzmann, Michael (Hrsg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen: Niemeyer, 1991. S. 299 – 314, hier S. 310.  Vgl. dazu Georg Stanitzek: Bildung und Roman als Momente bürgerlicher Kultur. Zur Frühgeschichte des deutschen „Bildungsromans“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 416 – 450; vgl. Wilhelm Voßkamp: Perfectibilité und Bildung. Zu den Besonderheiten des deutschen Bildungskonzepts im Kontext der europäischen Utopie- und Fortschrittsdiskussion. In: Jüttner, Siegfried; Schlobach, Jochen (Hrsg.): Europäische Aufklärung(en). Einheit und Vielfalt. Hamburg: Felix Meiner, 1992. S. 117– 126.

3.3 Der Aufstiegsroman – Möglichkeiten und Grenzen einer Klassifikation

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spezifische Realisierung einer epochenübergreifenden Grundstruktur, die sich aus der Einsträngigkeit der Handlung und deren lebensgeschichtlicher Zentrierung ergibt. Im Gegensatz zu Laufhütte historisiert Selbmann jedoch nicht nur die Erzählinhalte des Bildungsromans, sondern auch den Bildungsbegriff. In Selbmanns Modell stellt der Bildungsroman eine historisch variable Subgattung dar, deren Erscheinungsform davon abhängt, was jeweils unter ,Bildung‘ verstanden wird. Von einem Bildungsroman könne dann die Rede sein, wenn über die einsträngige und individualzentrierte Grundstruktur Bildung „als zentraler Diskurs thematisiert wird“⁹⁹, unter welchen Vorzeichen diese Thematisierung auch vonstatten gehen mag. Löst man in diesem Sinne den Begriff ,Bildung‘ aus seinen ursprünglichen Verweisungskontexten heraus und setzt ihn als Erzählgrundlage des Bildungsromans, so ließe sich auch ein Roman wie Zobeltitz’ Arbeit dem Gattungskonstrukt ,Bildungsroman‘ zuordnen.¹⁰⁰ Dass Haltern einen Aufstieg durchläuft, ließe sich als Ausdruck eines Subjektkonzepts verstehen, das zeitgleich auch in der Biographie- und Ratgeberliteratur populär wird und mit dem spezifische Bildungsideen verbunden sind. Präsentiert wird ein männliches Individuum, das von Anfang an in der praktischen Sphäre des Lebens beheimatet ist. Gleich im Erzähleinstieg distanziert sich Haltern von den humanistischen Bildungsidealen seines Vaters und wendet sich technisch-praktischen Tätigkeiten zu. Nach dem Tod seines Vaters nimmt die schulische Laufbahn der Figur ein Ende, da Haltern ins praktische Berufsleben eintreten muss. Theoretische Kenntnisse, die für die technischen Erfindungsarbeiten notwendig sind, eignet sich die Figur autodidaktisch an ‒ „aus Büchern, ohne Lehrer, ohne Anschauung von Modellen“¹⁰¹. Da die Figur ansonsten durchgängig der praktischen Arbeit huldigt, realisiert sich in ihr ein Subjektivationsideal, das seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts textsortenübergreifend zirkuliert und um 1900 Konjunktur hat.¹⁰² 1892 ist in den Grenzboten ein Artikel erschienen, der sich um die

 Selbmann, S. 32. Hervorhebung im Original.  Bezeichnenderweise geht Selbmann an einer Stelle selbst auf das Narrationsmuster des Aufstiegs ein, das für ihn eine bestimmte Station innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Bildungsromans darstellt. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts orientiere sich eine Gruppe von Texten, die Selbmann zur Kategorie des ,neuen Bildungsromans‘ zählt, an einem „verkürzten Wilhelm Meister-Schema, bei dem Goethes Bildungsroman auf sozialen Aufstieg, privates Glück und höchstens noch ökonomischen Erfolg reduziert ist.“ Vgl. Selbmann, S. 146 f.  von Zobeltitz: Arbeit, S. 119.  Bereits 1852 ist eine pädagogische Abhandlung von Karl Friedrich erschienen, die sich für einen Paradigmenwechsel in den zeitgenössischen Bildungs- und Erziehungspraktiken ausspricht. Vgl. Karl Friedrich: Die Erziehung zur Arbeit. Eine Forderung des Lebens an die Schule. Leipzig: Avenarius & Mendelsohn, 1852. Die Abhandlung, die sich gleich auf der Titelseite dem Motto „Können ist besser denn Wissen“ verschreibt, weist auf die Notwendigkeit einer auf das

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Erziehung der Knaben zur praktischen Arbeit zentriert. Vorgestellt wird ein Erziehungsprogramm, das auf praktische Arbeitsfähigkeit und die dafür notwendige körperliche Kraft zielt. Emphatisch blickt der Verfasser einer Zeit entgegen, in der allgemein anerkannt wird, „daß es nicht bloß auf die Ausbildung des Verstandes und auf die Übermittlung von Kenntnissen ankommt, sondern darauf, starkwillige, thatkräftige Männer zu erziehen“¹⁰³. Auch der Ratgeberautor Hugo SchrammMacdonald spricht sich 1890 für eine „praktische Erziehung“ aus, die in Fabriken und Werkstätten stattfinden soll. Nur eine praxisorientierte Erziehung mache den Einzelnen zu einem wirklichen Mitgliede der Gesellschaft, indem sie ihn lehrt, wie er zu handeln, sein Leben einzurichten, sich selbst weiter zu bilden und sich selbst zu leiten hat, um allenthalben seinen allgemeinen Menschenpflichten gerecht zu werden und seinen Berufspflichten mit Erfolg nachzukommen.¹⁰⁴

Wie der Begriff ,Erziehung‘ fällt der Begriff ,Bildung‘ bei Schramm-Macdonald mehrmals explizit und verkündet ein ähnlich berufsbezogenes Arbeitsethos, wie es Zobeltitz’ Roman darstellt: Der „Hauptzweck der Bildung“ bestehe darin, „uns […] zu tüchtigen Arbeitern in unserem Berufe zu machen“¹⁰⁵. Deutlich zeigt sich hier, wie ein ökonomisches Kalkül das klassische Paradigma der Bildung aufruft und zugleich unterminiert. Zwar sind ökonomische und gesellschaftspolitische Funktionen bereits dem spätaufklärerischen Bildungsdiskurs inhärent.¹⁰⁶ Das „intrikate Verhältnis von Bildung und Gesellschaftsordnung“¹⁰⁷, das der Bildungsroman entwirft, basiert auf einem „re-entry von institutioneller Lenkung und Kontrolle“ in das vermeintlich apolitisch-autonome Bildungskonzept.¹⁰⁸ Die etablierte – und bereits von Novalis erkannte – Verzahnung von Ökonomie und Bildung wird jedoch im Laufe des neunzehnten Jahr-

,praktische‘ Leben ausgerichteten Erziehung hin. Ein solcher Praxisbezug gereiche nicht nur der Jugend zum Vorteil, sondern sei ein „Nationalbedürfniß“ (Friedrich, S. 58), da der zur Abstraktion neigende ,Geist‘, der die zeitgenössischen Bildungsinstitutionen beherrsche, ein Gegengewicht erforderlich mache.  O.V.: Die Erziehung der Knaben zur praktischen Arbeit (Schluß). In: Die Grenzboten. Jg. 51, 2. Vierteljahr (1892), S. 543 – 551, hier S. 546 f.  Schramm-Macdonald, S. 22.  Schramm-Macdonald, S. 105.  Vgl. Blome und Meyzaud sowie Eva Blome: Zerstückte Laufbahn. Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 41 (2016), Heft 2, S. 271– 289.  Blome und Meyzaud, S. 243.  Blome und Meyzaud, S. 243.

3.3 Der Aufstiegsroman – Möglichkeiten und Grenzen einer Klassifikation

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hunderts noch enger.¹⁰⁹ Ein eminent politischer Gehalt koppelt Bildung an die „Vorstellung, als gebildetes Subjekt gesellschaftlich funktional sein zu können.“¹¹⁰ Ebendiese gesellschaftspolitische Funktionalisierung, die in SchrammMacdonalds Bildungsprogramm unverhohlen zutage tritt, lässt sich auf das vorgeführte Lebensmodell in Arbeit beziehen. Präsentiert wird ein Lebensweg, in dem die produktive Arbeit des Einzelnen nicht nur ihm selbst zum Vorteil gereicht und seinen Aufstieg bedingt, sondern als Motor eines ökonomisch-technischen Fortschritts zugleich zu einer gesellschaftlichen Ressource wird. Den Kern dieses gesellschaftspolitischen Modells bildet ein Erfolgscredo, von dem sich der kausale Erzählverlauf in Arbeit herleitet: Auf disziplinierte Arbeit folgen Aufstieg und Erfolg. Damit konturiert sich in der Erzählung ein erfolgszentrierter Erziehungsbegriff, der vor allem Ende der 1920er Jahre im Kontext deutscher Amerika-Abhandlungen populär wird. Ausgangspunkt ist auch hier ein Krisennarrativ, das eine Heilung des willenskranken Europäers durch ein amerikanisches Erziehungsmodell in Aussicht stellt. In der von Ludwig Lewin herausgegebenen Erfolgsenzyklopädie Der Erfolgreiche Mensch (1928) findet sich ein speziell diesem Thema gewidmeter Aufsatz, der den Titel „Amerikanische Erziehung zu Tüchtigkeit“ trägt. Der Topos vom Aufstieg ,aus eigener Kraft‘ wird dabei als anekdotische Beispielerzählung aufgerufen, die die Effektivität des amerikanischen Erziehungssystems illustrieren soll: Es ist schon richtig: die Chancen des Amerikaners sind größer als die des Europäers. […] Vor drei Jahren lernte ich in New-York einen Berliner Schriftsteller kennen, der drüben anfing, sich eine Existenz zu gründen. Mit der Feder kam er nicht vorwärts. Aber heute ist er Fabrikdirektor, sorgenlos, mit Auto, Bankkonto und Zukunft. Eine Ausnahme? Kennen Sie nicht ähnliche Fälle? Dem Tüchtigen also bietet dieses große Land zweifellos unzählige Möglichkeiten. Und das ist der Grund dafür, daß eine Erziehung zur Tüchtigkeit einen so ungeheuren Widerhall in ganz Amerika findet. Es lohnt sich eben, etwas zu können.¹¹¹

Dass die Beschreibungen der amerikanischen Erziehung auf einer klischeebehafteten Selbst- und Fremddarstellung fußen, zeigt sich im Bild einer „zur Tüchtigkeit und Bildung erzogene[n]“ amerikanischen Generation, die im Gegensatz zur dekadenten Jugend in Europa „nicht in die ästhetische Sphäre der

 Vgl. Markus Steinmayr: Abstieg trotz Bildung. Inszenierungen sozialer Unsicherheit in der Gegenwartsliteratur (Melle, Kisch, Bilkau). In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 44 (2019), Heft 1, S. 100 – 131, hier S. 105.  Steinmayr, S. 105.  Fritz Zielesch: Amerikanische Erziehung zur Tüchtigkeit. In: Lewin, Ludwig (Hrsg.): Der erfolgreiche Mensch. Bd. I:Voraussetzungen des persönlichen Erfolges. Berlin/Zürich: Allgemeine Deutsche Verlagsgesellschaft und Eigenbrödler-Verlag, 1928. S. 367– 383, hier S. 369.

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Glacéhandschuhe abirren wird“¹¹². Stereotypisierungen dieser Art sind bei Zobeltitz nicht direkt anzutreffen, doch spiegeln sich in dem Aufstiegsweg des Protagonisten ähnliche Erziehungsideale, die mit den herrschenden Männlichkeitsmodellen zusammenhängen. Propagiert wird eine Erziehung, die das männliche Subjekt auf ein praktisches und produktivitätszentriertes Berufsleben hin sozialisiert und damit einhergehend auch seine virile Identität bestärkt. Als Bildungsroman im Sinne Selbmanns wäre der Roman folglich insofern aufzufassen, als er teils ex negativo durch die Aufstiegserzählung um Haltern, teils direkt durch die Rand- und Kontrastfigur Wilhelm, Bildungsideale des achtzehnten Jahrhunderts anklingen lässt und anachronisiert. In der ökonomischtechnischen Moderne, in der sich der Protagonist bewegt, wird aus dem klassischen Bildungsbedürfnis der Drang nach ökonomischer Produktivität, aus dem Bildungsstreben ein Erfolgs- und Aufstiegsstreben, aus Reflexionstätigkeit praktische Arbeitsamkeit. Abermals zeigt sich hier die Verbindungslinie zu Freytags Soll und Haben. Anton Wohlfart verdankt seine Persönlichkeitsbildung ebenfalls der praktischen Erfahrung und durchläuft einen Sozialisationsprozess, der die „Bildungsmächte des klassisch-romantischen Entwicklungsromans“¹¹³ – Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst – durch eine ökonomische Tätigkeit ersetzt. Ebendiese Ersetzungen und Modifikationen machen jedoch die Einordnung der Romane als Bildungsromane zu einem Problem, das mit der Historisierung des Bildungsbegriffs zusammenhängt. Wenn der Begriff ,Bildung‘ nicht als spezifisches Imaginationsprodukt des achtzehnten Jahrhunderts konzipiert wird, sondern als epochenübergreifendes und variabel besetzbares Produkt, das Zobeltitz’ Arbeit im Anschluss an Freytags Soll und Haben gemäß dem zeitgenössischen Erfolgscredo und Praxisideal ausgestaltet, so legt man dem Romantypus ,Bildungsroman‘ einen leeren Signifikanten zugrunde und dämmt die differenzierende Funktion generischer Modelle ein. Betrachtet man dagegen den Bildungsroman als exklusiven Romantypus des achtzehnten Jahrhunderts und subsumiert die Romane des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, die formal an die Tradition des Bildungsromans anschließen, dabei jedoch dem Narrationsmuster des Aufstiegs folgen, unter der Kategorie ,Aufstiegsroman‘, so kann der historischen Spezifität der jeweiligen Texte Genüge getan und die Differenzfunktion generischer Modellbildungen heuristisch nutzbar gemacht werden.

 Zielesch, S. 370.  Hartmut Steinecke: Gustav Freytag: Soll und Haben (1855). Weltbild und Wirkung eines deutschen Bestsellers. In: Denkler, Horst (Hrsg.): Romane und Erzählungen des bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam, 1980. S. 138 – 152, hier S. 143.

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Vor diesem Hintergrund und im Rückbezug auf die vorherigen Ausführungen wird der Aufstiegsroman lesbar als eigenständige, vom Bildungsroman abgekoppelte Subgattung. In dieser schlägt sich exemplarisch nieder, was Michael Titzmann unter dem Begriff des „literarische[n] Strukturwandel[s]“ theoretisiert hat: Infolge einer bestimmten Problemsituation, die entweder systemintern bedingt ist oder mit realhistorischen Umbrüchen, diskursgeschichtlichen Entwicklungen oder veränderten Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen zusammenhängt, werden etablierte Regularitäten durch neue ersetzt, sodass sich ein Wandel der „systemkonstitutiven Propositionen“ vollzieht.¹¹⁴ Folgt man diesem systemtheoretischen Modell des literarischen Strukturwandels oder der eng verwandten formalistischen Evolutionsprämisse, derzufolge sich literarische Wandlungsprozesse als Ablösungen konventionalisierter Formen und Verfahren durch sie verfremdende neue vollziehen,¹¹⁵ so drängt sich im Hinblick auf die Subgattung des Aufstiegsromans folgender Schluss auf: Der Aufstiegsroman lässt sich über Elemente beschreiben, die gemeinhin dem Gattungskonstrukt ,Bildungsroman‘ zugeschrieben werden, im Aufstiegsroman jedoch eine Reaktualisierung erfahren. Die biographisch-fiktionale und lineare Erzählform wirkt fort, klassisch-idealistische Bildungskonzepte werden überschrieben, doch wird ihr temporalitätsbezogener Propositionskern beibehalten und neu kontextualisiert; das Interesse an der individuellen Partikularität der Figuren weicht einem zeitdiagnostischen Erzählinteresse, bei dessen Umsetzung textsortenübergreifend zirkulierende Erzählbestände der Zeit literarisiert werden. Da solche aktualisierenden Bezüge in der zeitgenössischen Romankritik immer wieder gefordert worden sind, lässt sich als systeminterne Entstehungsbedingung der Subgattung eine Verschiebung in der historischen Rezeptionstradition des Bildungsromans festhalten: Goethes Wilhelm Meister, der im neunzehnten Jahrhundert als Inbegriff des Bildungsromans gilt, behält seinen modellbildenden Status bei, ruft jedoch Aktualisierungsforderungen hervor, die der Aufstiegsroman einlöst. Angesichts der auf den Bildungsroman bezogenen Aktualisierungsfunktion des Aufstiegsromans gewinnt dessen diskursive und historische Verortbarkeit eine neue Dimension. Wenn dem Aufstiegsroman zeitgenössische Beurteilungen des Bildungsromans eingeschrieben sind, die sich – wie der Blick auf seine Erzähldeterminanten und Resonanzeffekte gezeigt hat – mit modernediagnosti-

 Vgl. Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hrsg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen: Niemeyer, 1991. S. 395 – 438, hier S. 428.  Vgl. Jurij Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution. In: Ders. (Hrsg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München: Fink, 1981. S. 7– 83, hier S. 30.

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schen Beschreibungen verbinden, so schöpft er seinen Erzählgehalt aus zwei verschiedenen Wissenskontexten: Als Subgattung birgt der Aufstiegsroman nicht nur ein verdichtetes Wissen über die Moderne in sich, das ihn mit anderen Textsorten und diskursiven Feldern in Bezug setzt (Unternehmertheorie, Evolutionstheorie, Sammelbiographie, Ratgeberliteratur), sondern er nährt zugleich ein spezifisch literaturbezogenes Wissen. Diese Kopräsenz von extraliterarischen und innerliterarischen Wissenselementen mag die weite historische Spannbreite, die die Genealogie des Aufstiegsromans abdeckt, plausibilisieren. Während sich nämlich das extraliterarische Wissen, das der Aufstiegsroman literarisiert – etwa die Vorstellungen vom Unternehmertypus und der ökonomischen Moderne –, über weite Strecken erst um 1900 profiliert und erst im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert die Textsorten entstehen, mit denen der Aufstiegsroman in einen Dialog tritt, bilden sich die innerliterarischen Wissensbestände bereits früher, im Kontext der Debatten um den Bildungsroman, heraus. Wie die Entwicklung des Aufstiegsromans vom Medium innerliterarischer Problemverhandlungen zum Beschreibungsmedium der Moderne konkret vonstatten geht und welche funktionalen Brüche und Kontinuitäten sich dabei abzeichnen, wird im zweiten Teil dieser Arbeit dargelegt.

Zweiter Teil: Geschichten, Verfahrensweisen und Codierungen

1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung: Die Konturierung des Selfmademans im Realismus Die Herausbildung des Aufstiegsromans als Gegenentwurf zum anachronisierten Bildungsroman lässt sich als subgattungsgeschichtliche Entwicklungstendenz bezeichnen, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihren Anfang nimmt.Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, sind zentrale Elemente, die den Aufstiegsroman um 1900 prägen, schon in Soll und Haben, dem populärsten Kaufmannsroman des neunzehnten Jahrhunderts, angelegt. Mit Soll und Haben konturiert sich ein Erzählmodell, das sich als zeitgemäße Neujustierung des Wilhelm Meister präsentiert und dadurch eine Traditionslinie begründet, die um die Jahrhundertwende durch Aufstiegsromane wie Zobeltitz’ Arbeit unter veränderten historischen Bedingungen fortgeführt wird. Dass ein solcher subgattungsbezogener Umschlag vollzogen werden kann, hängt mit einer Entwicklung zusammen, die um die Jahrhundertmitte vielfach zu beobachten ist. Wie Fritz Breithaupt gezeigt hat, kommt es zur „Epochenschwelle um 1848“¹ zu einem Wandel in der Konzeption von Subjektivität. Seinen deutlichsten Niederschlag findet dieser Wandel Breithaupt zufolge im Typus des homo oeconomicus: Wenn man den Homo Oeconomicus und den von ihm unterstellten Menschen des SelbstInteresses als historische Typen betrachtet, fällt auf, daß sie als ihre Vorgänger das romantische, selbst-bestimmte Genie als Leitbild einer Epoche ablösen.²

Die Relation von Genie und homo oeconomicus ist nun keineswegs als kategorische Opposition zu fassen und auf ein zeitliches Nacheinander zu beschränken. Gerade im späten achtzehnten Jahrhundert bildet sich bekanntlich nicht nur das Geniekonzept heraus, sondern ein (gleichermaßen androzentrisches) Modell des wirtschaftenden Menschen, das nicht zuletzt in Goethes Wilhelm Meister eine prototypische Ausgestaltung gefunden hat. Mit Werner lässt Goethes Roman einen „homo oeconomicus par excellence“³ in Erscheinung treten. Bezeichnenderweise wird nicht nur dessen kaufmännisches Nützlichkeitsdenken als defizitär markiert. Auch der ökonomiefeindliche Idealismus, den der Protagonist anfangs an den Tag legt, wird zum Gegenstand einer Kritik. Die positive Norm des Romans  Breithaupt, S. 85.  Breithaupt, S. 88.  Thomas Wegmann: Tauschverhältnisse. Zur Ökonomie des Literarischen und zum Ökonomischen in der Literatur von Gellert bis Goethe. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002. S. 190. https://doi.org/10.1515/9783110766134-006

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

besteht in einer Überwindung von Einseitigkeit zugunsten einer Synthese der vermeintlich entgegengesetzten Pole.⁴ Durch eine Rede Jarnos wird dieses Synthese-Ideal explizit gemacht: „Jede Anlage ist wichtig, und sie muß entwickelt werden. Wenn einer nur das Schöne, der andere nur das Nützliche befördert, so machen beide zusammen erst einen Menschen aus.“⁵ Eine Lesart des Romans als Manifestationsfläche ökonomiefeindlicher Bildungsideale verkennt nicht nur das proklamierte Ganzheitsideal, sondern unterschlägt zugleich die Verschränkung der Bezugslinien, die die histoire fundamentieren. Nicht umsonst führt die Turmgesellschaft gemeinsame wirtschaftliche Projekte mit Werner, der vorgeblichen Kontrastfigur zu Wilhelm, durch.⁶ Ökonomie und Bildung gehen im Konzept der Turmgesellschaft Hand in Hand, sodass die Kontrastrelation brüchig wird.⁷ Trotz dieser Verbindungslinien und trotz der postulierten Ganzheit werden stets die Grenzen zwischen beiden Sphären markiert. Nicht das Wirtschaften, sondern das moralische und ästhetische Empfinden erscheint dem Protagonisten als genuin menschliche Anlage: […] wenn du dich recht untersuchst, so sind es nur äußere Umstände, die dir eine Neigung zu Gewerb, Erwerb und Besitz einflößen, aber dein innerstes Bedürfnis erzeugt und nährt den Wunsch, die Anlagen, die in dir zum Guten und Schönen ruhen mögen, sie seien körperlich oder geistig, immer mehr zu entwickeln und auszubilden.⁸

Vor dem Hintergrund dieser Differenzmarkierung erscheint Breithaupts These eines Wandels, der sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vollziehe, durchaus berechtigt. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geraten Lebensläufe von Figuren in den Vordergrund, denen die Zwei-Seelen-Problematik fremd ist. Nicht nur Soll und Haben entwirft mit Anton Wohlfart einen Protagonisten, der sein Glück im bürgerlichen Kaufmannsleben findet. Schon Jeremias Gotthelfs Uli, der Knecht

 Vgl. Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 48 – 50. Angesichts dieses Synthese-Ideals wird auch das Kontrastverhältnis zwischen Werner und Wilhelm relativiert. An einer Stelle wird explizit auf die Komplementarität beider Figuren hingewiesen: „Im Grunde aber gingen sie doch, weil sie beide gute Menschen waren, nebeneinander, miteinander nach einem Ziel und konnten niemals begreifen, warum denn keiner den andern auf seine Gesinnung reduzieren könne.“ Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 62. Hervorhebung im Original. Beide Figuren repräsentieren also Prinzipien, die erst durch ihr Zusammentreffen den ,ganzen Menschen‘ definieren.Vgl. hierzu Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 49.  Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 593.  Vgl. Klaus-Dieter Sorg: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann. Heidelberg: Winter, 1983. S. 77.  Vgl. Bauer: Ökonomische Menschen, S. 99.  Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 295.

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lässt eine Figur in Erscheinung treten, deren Entwicklungsgang von Anfang an auf Aufstieg und Erfolg zielt. Exemplarisch steht Gotthelfs Protagonist damit für ein Subjektmodell, dessen ökonomisches Erfolgscredo einen Bruch in der deutschsprachigen Literaturgeschichte signalisiert. Dieser Bruch erstreckt sich auch auf strukturelle Muster. Das nach Aufstieg strebende männliche Subjekt, das sich erfolgreich im Feld des Ökonomischen behauptet, diskursiviert sich über eine offenkundig teleologische Verlaufsform. Diese Teleologie grenzt das selfmadeNarrativ strukturell von einem goethezeitlich konnotierten Subjektivationsmodell ab, das trotz aller proklamierten Zielgerichtetheit auf Kontingenz und Fragmentarität setzt.⁹ Gerade in Goethes Roman wird bekanntlich die Teleologie der erzählten Ereignisse immer wieder durchbrochen. Neben dem Lebensplan des Protagonisten steht ein Geflecht kontingenter Ereignisse.¹⁰ Ein teleologischer Sinn wird durch Kohäsionsmomente erzeugt, die in anschließenden Handlungselementen relativiert werden. Und nicht nur das: Im Konflikt zwischen Wilhelm und der Turmgesellschaft kristallisiert sich ein Bildungsbegriff heraus, der dem Ideal der Teleologie zuwiderläuft. In Abgrenzung von der teleologischen Zusammenhangsstiftung der Turmgesellschaft beruft sich der Protagonist auf ein Bildungskonzept, das auf „Offenheit gegenüber festen Zielen“¹¹ setzt: Wehe jeder Art von Bildung, welche die wirksamsten Mittel wahrer Bildung zerstört und uns auf das Ende hinweist, anstatt uns auf dem Wege selbst zu beglücken!¹²

Eine nachträgliche Teleologisierung, wie sie die Turmgesellschaft vornimmt, erscheint Wilhelm folglich als Gegenpol zur „wahren Bildung“, deren Grundlage die Kontingenz der Zukunft ist.¹³ Angesichts dieser evozierten Offenheit scheint es legitim, im Wilhelm Meister den Auftakt einer Erzähltradition zu sehen, die die „neue bürgerliche Sozialisationsform der Bildung“ als unabschließbar, unverbindlich und dynamisch inszeniert und von der Oktroyierung eines normativen

 Wie Klaus-Dieter Sorg herausgestellt hat, nimmt Goethes Wilhelm Meister zwar auf die teleologischen Bestimmungen, die zeitgenössische Bildungs- und Romantheorien auszeichnen, Bezug, doch stellt er diese Bestimmungen in ein ambivalentes Licht. Wilhelms Bildungsgeschichte sei nicht auf eine bestimmte Zielvorgabe festzulegen, der sich der Handlungsträger stufenweise nähert, sondern vollziehe sich als „Suche nach der eigenen Lebensform, die ohne feste Zielpunktbestimmung auskommen muß.“ Sorg, S. 57.  Vgl. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 35 f.  Sorg, S. 68.  Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 539.  Hier trifft sich Sorgs These zum ateleologischen und zukunftsoffenen Bildungskonzept des Wilhelm Meister (bzw. des Protagonisten) mit Voßkamps These zur Verzeitlichung des Bildungsbegriffs. Vgl. Voßkamp: „Ein anderes Selbst“.

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telos absieht.¹⁴ Stärker noch bekundet sich die Durchkreuzung teleologischer Erzählmuster im paradigmatischen Bildungsroman der Romantik, Heinrich von Ofterdingen (postum 1802), dessen antiteleologische Verlaufsform Joseph Vogl herausgestellt und kontextualisiert hat. Vogl zufolge bringt Heinrich von Ofterdingen die intransitive Dynamik ökonomischer und poetischer Semiosen strukturell zur Anschauung: Er [d.i. Heinrich von Ofterdingen] kennt keinen direkten Zugriff, kein Kalkül der Mittel und Zwecke, keine Teleologie, die sich nach einem Verhältnis von Absichten und erreichten Zielen bemisst. Der Held, der im Roman Zufällen und Begebenheiten erliegt und immer schon ein passiver war, ist noch passiver geworden, tritt selbst in den Regelkreis ein und erscheint handelnd nur als Leidender. Er wirkt nur, indem er bewirkt wird, er bewegt nur, indem er bewegt wird, er modifiziert nur, indem er modifiziert wird, er affiziert nur, indem er affiziert wird: das ist die Regel seiner Hervorbringung und das, was man seine romantische Karriere oder Bildung nennen kann. Ganz konsequent gehört es darum zu einer neuartigen Definition des Romans, dass dieser selbst nirgendwo ankommt, kein Ende, kein Ziel, keinen Endzweck, keine Absicht und „kein bestimmtes Resultat“ verrät […].¹⁵

In seiner antiteleologischen Manifestation bildet das romantische Bildungssujet die Kontrastfolie der realistischen Wirtschaftsanthropologie, die um die Jahrhundertmitte durch das selfmade-Narrativ entfaltet wird. An die Stelle der Fragmentarität rückt das selfmade-Narrativ die poetische clôture, an die Stelle der Kontingenz die Teleologie. Letztere orientiert sich an teils sozialen, teils ökonomischen Kategorien und führt den Protagonisten zu klar markierten Zielen: soziale Anerkennung, materielle Sicherheit und Wohlstand. Auch die Rolle des Protagonisten verändert sich. An die Stelle des passiven Protagonisten tritt der aktive Held, der sein Leben zu gestalten sucht und dem Glauben an den Zufall die Selbstverantwortung entgegensetzt. Unter welchen Voraussetzungen und auf welche Weise diese Verschiebungen – die den Grundstein für die Herausbildung des Aufstiegsromans legen – vonstatten gehen, soll im Folgenden anhand von drei Romanen herausgestellt werden, in denen das selfmade-Sujet modellbildende Ausgestaltungen gefunden hat: Gotthelfs Uli, der Knecht (1841), Kellers Der grüne Heinrich (1854/55) und Freytags Soll und Haben (1855). Gotthelfs Roman bietet sich vor allem deshalb an, weil sich an ihm die semantisch-diskursiven und literaturgeschichtlichen Impulse, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts vom selfmade-Sujet ausgehen – Neujustierung des Bildungsromans, Ausrichtung auf Ökonomie und bürgerliche Normen – ablesen lassen. Ebendiese Impulse werden in der Vaterepisode bei Keller, dem Uli, der Knecht bekannt gewesen ist, kritisch  Vgl. Sorg, S. 69.  Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 269.

1.1 Erfolgsmodell Benjamin Franklin

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verhandelt. Soll und Haben schließlich nimmt als zentraler Bezugspunkt späterer Aufstiegsromane eine Schlüsselstellung in der literarischen Diskursgeschichte des Selfmademans ein. Mit Freytags Roman wird der Figurentypus in einen verklärungsästhetischen Darstellungskontext gestellt, der in der Folgezeit die realistischen Variationen des selfmade-Narrativs maßgeblich bestimmt.

1.1 Erfolgsmodell Benjamin Franklin: Apologien und Demontagen (Gotthelf, Keller) Dass sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Erzählmodell herausbildet, in dem das Bildungsideal einem Aufstiegstelos weicht, lässt sich anhand von Gotthelfs Roman Uli, der Knecht (1841) exemplarisch vorführen. Wie Wolfgang Braungart herausgestellt hat, lässt der Motivkomplex von Lehre und Lehrzeit darauf schließen, dass in Uli, der Knecht eine „Replik auf Goethes strukturbildenden Roman“ entfaltet wird.¹⁶ In der Tat sind die Anschlüsse bei Gotthelf ebenso deutlich wie die Brüche mit dem goethezeitlichen Erzählmodell, mit dem sich Gotthelf nachweislich auseinandergesetzt hat.¹⁷ Ideen von Individualität und Ganzheitlichkeit, die für den Bildungsroman erzählleitend sind, werden von einem ökonomiezentrierten Erziehungsprogramm überlagert, das nicht auf die „humanistisch-universale Entfaltung aller Geisteskräfte“¹⁸ zielt, sondern auf die Ausbildung zum vorbildhaften Wirtschaftsakteur. Dem säkularisierten Modell der Konversionserzählung folgend, schildert der Roman die Geschichte eines zunächst ,taugenichtigen‘ Knechts, der nach und nach den bürgerlichen Verhaltenskodex erlernt. Diese Selbsttransformation erweist sich als Schlüssel zum sozialen Aufstieg: Aus dem mittellosen Knecht wird ein wohlhabender Pächter. Angesichts dieser ökonomischen Fundierung des Entwicklungsgangs erstaunt es nicht, dass Uli, der Knecht um die Jahrhundertwende, der Blütezeit des Aufstiegsromans, genauso wie Soll und Haben als Alternativmodell zum Wilhelm Meister gefeiert worden ist. So schreibt etwa der Germanist Hermann Anders

 Wolfgang Braungart: Hiobs Bruder: Zur ästhetischen Theodizee der „Uli“-Romane. In: Pape, Walter et al. (Hrsg.): Erzählkunst und Volkserziehung. Das literarische Werk des Jeremias Gotthelf. Tübingen: Niemeyer, 1999. S. 27– 42, hier S. 38.  Vgl. Braungart, S. 38.  Sabina Becker: Erziehung zur Bürgerlichkeit: Eine kulturgeschichtliche Lektüre von Gustav Freytags Soll und Haben im Kontext des Bürgerlichen Realismus. In: Krobb, Florian (Hrsg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 29 – 46, hier S. 35 f.

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

Krüger in seinem Aufsatz Der neuere deutsche Bildungsroman (1906) über Gotthelfs Roman: Uli zieht nicht abenteuernd durch die Welt wie Meister und seine Nachkommen, in achtzehn langen, arbeitsvollen Jahren wächst er sich unter der Leitung eines klugen, sich gern zurückhaltenden Meisters, der seinen Knecht lieber durch die Erfahrungen des Lebens als durch weise Lehren erziehen läßt, aus einem törichten Bauernhudel zu einem selbständigen Menschen aus, der nicht nur ein so bildsauberes, gescheites Mädel wie das Vreneli gewinnt, sondern auch mit ihr es wagen darf, ein Gut zu pachten. […] „Uli, der Knecht“, dessen Grundgedanken, knapp ausgedrückt, lauten: Arbeite, beherrsche dich, sei sparsam, klug und ehrlich und bete, ist bei all seiner derben Urwüchsigkeit ein psychologisch unendlich feines Werk […].¹⁹

Krügers Handlungsresümee bringt die bewusstseinsgeschichtliche Voraussetzung des Umbruchs, den der Aufstiegsroman signalisiert, auf den Punkt: Dem Bildungsroman à la Wilhelm Meister wird ein Sozialisationsmodell entgegengehalten, das den Einzelnen auf einen bürgerlichen Tugendkatalog festlegt. Die Internalisierung dieses Tugendkatalogs bildet das zentrale telos in Gotthelfs Erzählung, der dabei eine unverhohlen pragmatische Funktionsebene zugrunde liegt: Wie der Protagonist sollen sich die Leser*innen einem bürgerlichen Normenhorizont verschreiben. Die Erzählung wird damit zum Medium einer (wirtschafts‐)didaktischen Unterweisung, die nicht nur fiktionsimmanent operativ wird, sondern einen außertextuellen Rezipient*innenkreis ,mitdenkt‘. Besonders deutlich zeigt sich dies in den paränetischen Redesequenzen der Meisterfigur Johannes, die konkrete Handlungsanweisungen gibt. An einer Stelle etwa erhalten Dienstbot*innen konkrete Empfehlungen, wie sie in einer „Ersparnißkasse“²⁰ Geld anlegen und akkumulieren können: Sobald ein Jahr um sei, werde der Zins zum Kapital geschlagen und trage wieder Zins; so könne sich, zu vier Prozent gerechnet, in zwanzig Jahren das Kapital verdoppeln. Und sobald er es nöthig habe, kriege er es ohne Umstände in gesetzlicher Frist wieder ganz bestimmt, denn solche Kassen seien gut verbürget und versichert. Da könnten Dienstboten weit aus am besten ihre Gelder einlegen, eben weil man auch Weniges nehme und zu jeder Zeit; weil sie sich da vor keinen Schelmereien, Kunstgriffen u. in Acht zu nehmen hätten, nichts zu thun hätten mit Konkursen und Advokaten.²¹

 Hermann Anders Krüger: Der neuere deutsche Bildungsroman. In: Westermanns Monatshefte. Illustrierte Deutsche Zeitschrift für das geistige Leben der Gegenwart. Bd. 101, Jg. 51, Teil 1 (1906), S. 257– 272, hier S. 258.  Jeremias Gotthelf: Uli, der Knecht. Ein Volksbuch. Bearbeitung des Verfassers für das deutsche Volk. Berlin: Springer, 1846. S. 86.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 85 f.

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Wie die Figurenrede folgt die Rede der Erzählinstanz einem konsultativ angelegten und paternalistisch intonierten Modus, der die Tugenden der Sparsamkeit und Mäßigkeit vermittelt und dabei auf plastische Analogisierungen zurückgreift: Laßt Pferde umsonst einen Wagen anziehen, durch einen ungeschickten Fuhrmann schlecht geleitet, und der Wagen kömmt nicht nach, so werden sie allemal schlechter anziehen und zuletzt es gar nicht mehr versuchen wollen. Gerade so ist es beim Sparen insbesonders, beim Besserwerden, sich Bekehren im Allgemeinen: Fruchtlose Versuche, Rückfälle sind die gefährlichsten Feinde wirklicher Besserungen.²²

Die Ratschläge der Erzählinstanz und Meisterfigur werden durch die Aufstiegsund Bekehrungsgeschichte plausibilisiert. Das Befolgen der Anweisungen und Empfehlungen führt zu einem unweigerlichen Aufstieg und Erfolg – so die Suggestion. Der Handlungsverlauf steht folglich im Dienste einer ökonomischen Didaxis, die den fiktionalen Modus in einer „normativen Wirklichkeitserzählung“²³ aufgehen lässt: Die modellierte Diegese tendiert auf realweltliche Umsetzung der demonstrierten Normen. Diese sollen dem Einzelnen nicht nur Reichtum einbringen, sondern Autonomie und Zufriedenheit. Schon die ersten Aufstiegsetappen werden durch die Erzählinstanz als Ausgang aus der statusbedingten Unmündigkeit deklariert: Er [d.i. der Knecht] fühlt, er ist nicht mehr ganz allen Winden, fremder Willkür preisgegeben, er ist schon selbstständiger, mehr Herr seiner selbst. Er kann schon einige Krankheitswochen unbesorgt ertragen, kann wenige Wochen ohne Meister sein; das macht ihn zufriedener, gelassener.²⁴

Mit dem Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsens sowie der konsequenten Pronominalisierung geht die Erzählung in einen generalisierenden Modus über, der sich weniger auf Uli, den Knecht, denn auf ,den Knecht‘ an sich bezieht und einmal mehr die ratgeberische Anlage des Romans demonstriert. Inhaltlich schließt die Erzählung dabei an eine Vorstellung an, die Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1837) beschrieben und auf epistemische Umbrüche in der Reformation zurückgeführt hat. Nach dieser Auffassung bildet nicht nur der Verstand, sondern allen voran das bürgerliche Arbeitsethos den Schlüssel zur Emanzipation des Menschen: „[…] es wurde als das Höhere

 Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 66.  Christian Klein und Matías Martínez: Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2009. S. 6.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 87.

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angesehen, daß der Mensch in der Abhängigkeit durch Thätigkeit und Verstand und Fleiß sich selber unabhängig macht.“²⁵ In seiner Engführung von Bürgerlichkeits- und Emanzipationsgedanken reproduziert Gotthelfs Roman nicht nur eine Denkweise, die von Hegel historisch kontextualisiert worden ist, sondern er setzt zugleich bei Vorstellungen an, die sich in Franklins Autobiographie manifestieren. Was beide Texte in Aussicht stellen, ist eine (Selbst‐)Erziehung zur Bürgerlichkeit, für die der Einzelne schließlich belohnt wird. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Franklins Aufstiegsbiographie im selben Zeitraum, in dem Gotthelfs Roman erschienen ist, eine rezeptionsgeschichtliche Hochphase erfahren hat. Seit den 1840er Jahren ist eine Reihe deutschsprachiger Franklin-Biographien erschienen. Diese greifen das Aufstiegsnarrativ und das darin eingelagerte Subjektivationstelos des homo oeconomicus emphatisch auf. Die 1845 veröffentlichte Lebensbeschreibung Benjamin Franklin’s von Julius Kell etwa, die der Untertitel als Volksschrift zur Beförderung edler Menschlichkeit, tüchtigen Bürgersinnes und uneigennütziger Vaterlandsliebe annonciert, setzt Franklins Aufstiegsgeschichte als idealtypisches Beispiel einer gelungenen Subjektivation. Der Erziehungsgedanke wird dabei ähnlich wie in Uli, der Knecht auf zwei Ebenen entfaltet. Nicht nur das erzählte Subjekt durchläuft einen Erziehungs- und Entwicklungsprozess, sondern auch der männliche Leser soll durch das ihm vorgeführte Beispiel zum bürgerlichen homo oeconomicus erzogen werden: Jünglinge können von ihm lernen, wie man Etwas wird, – wie man in den drückendsten Verhältnissen Etwas werden kann; wie man die größten Schwierigkeiten überwindet! ‒ ‒ Männern zeigte er, wie man durch Betriebsamkeit und Arbeitsamkeit, Sparsamkeit und Ehrlichkeit sich Zutrauen, Freunde und Wohlstand erwirbt; – wie man aus Armuth zum Reichthum gelangt und Reichthümer, wie Kräfte und Einsichten, wohl verwendet!²⁶

In seiner laudatio auf Franklin (re‐)formuliert Kell das prozessualisierte Subjektivitätskonzept, das für die histoire-Bildung in Uli, der Knecht prägend ist. Auch Gotthelfs Roman führt ein Modell ökonomisch-rationaler Lebensführung vor, das als Produkt eines Entwicklungs- und Lernprozesses inszeniert wird. Dieser Aspekt des Lernens ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil er eine spezifische Dimension des Verhältnisses von Aufstiegs- und Bildungsroman zutage treten lässt.

 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Hg. von Eduard Gans. Bd. 9. Berlin: Duncker & Humblot, 1837. S. 423.  Julius Kell: Lebensbeschreibung Benjamin Franklin’s, des thatkräftigen Mannes und freisinnigen Volksfreundes. Eine Volksschrift zur Beförderung edler Menschlichkeit, tüchtigen Bürgersinnes und uneigennütziger Vaterlandsliebe. Leipzig: Julius Klinkhardt, 1845. S. 166 f.

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Wenn die Verhaltensnormen, die an den Selfmademan gekoppelt sind, erst durch einen Lernprozess angeeignet werden müssen, so wirkt ebenjene Prozessualitätsvorstellung fort, die den Bildungsroman kennzeichnet.²⁷ Parallel zur Neukonzeptualisierung von Bildung lässt der Roman folglich eine temporal fundierte Kontinuitätslinie zutage treten, die Breithaupt auf den Punkt gebracht hat: Nach wie vor […] wird das neue, auf Selbst-Interesse gegründete Individuum nicht nur vorausgesetzt, sondern zugleich auch als Sache des Lernens, also eine zukünftige Leistung gedacht.²⁸

Was Gotthelfs Selfmademan mit dem Bildungssubjekt des achtzehnten Jahrhunderts verbindet, ist folglich eine Entwicklungsmission, die mit einer zukunftsorientierten Temporalität einhergeht. Das Ziel dieser Entwicklung ist indes fundamental verschieden. Während der Protagonist eines Bildungsromans nach allseitiger Bildung und individueller Selbstauslebung strebt, wird bei Gotthelf die Erwerbsfähigkeit als zu erlernendes Ziel präsentiert und so zum Baustein einer teleologischen Erzählform.²⁹ Erwerbsfähigkeit und Selbstinteresse besetzen damit ebenjene Position als Subjektivationsziele, die im achtzehnten Jahrhundert Individualität und Ganzheitlichkeit eingenommen hatten.³⁰ Mit dieser ökonomisch-bürgerlichen Ideologisierung wird auch die geschlechtscodierte Erzählebene, die dem Bildungsroman zugrunde liegt, neu akzentuiert. Gleich zu Beginn wird in Gotthelfs Roman die wirtschaftsbürgerliche Sozialisation als Prozess der Virilisierung markiert. Der Weg zum Aufstieg stellt für den Titelhelden einen Weg zur Mannwerdung dar: „Es that ihm wohl, zu denken, er sei nicht dazu erschaffen, ein arm, verachtet Bürschchen zu bleiben, sondern er könnte noch ein Mann werden.“³¹ Auch die Bekehrungsappelle der Meisterfigur berufen sich auf die Chance einer männlichen Subjektwerdung: „Laß dein wüstes Leben sein, so kannst du noch ein Mann werden.“³² Dass die erzählte Mannwerdung ebenso wie die bürgerliche Sozialisation durch einen Gesinnungswandel möglich wird, koppelt beide Erzählungen an das säkularisierte Schema der conversio und verstärkt die temporalen Akzente des

 Vgl. die Aussage von Voßkamp: „Allseitige Bildung wird zugleich als hypothetisch möglich gedacht und als Versprechen und Aufgabe für die Zukunft benannt.“ Voßkamp: „Ein anderes Selbst“, S. 16.  Breithaupt, S. 90. Hervorhebung im Original.  Vgl. Breithaupt, S. 90.  Im Hinblick auf Stifters Novelle Abdias (1842) stellt Breithaupt fest, dass anstelle des Ichs die Erwerbsfähigkeit das Ziel der Individuation bilde. Vgl. Breithaupt, S. 91.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 29.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 23.

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Romans. Wie die Aufstiegsnarration lässt die conversio die Nichtnotwendigkeit des status quo und die Veränderbarkeit bestehender Verhältnisse zutage treten, und wie das Aufstiegssujet präsentiert das Bekehrungsschema das einzelne Subjekt als Träger der Veränderung: Der Wandel der Verhältnisse erscheint als Folge einer Transformation, die vom männlichen Subjekt ausgeht und bei seinen Verhaltensweisen ansetzt. Es ist Ulis Wandel vom Müßiggänger zum sparsamen und disziplinierten Arbeiter, der dazu führt, dass sich seine Lebensumstände verändern. Trotz der veränderungszentrierten Zeitlichkeit, die in der Verschränkung von Aufstiegs- und Bekehrungssujet aufscheint, wird die Erzählung von einer Kontinuitätsemphase bestimmt. Ihr Artikulationsmedium ist eine sozialutopische oikos-Konstruktion, die sich vierzehn Jahre später in Gustav Freytags Soll und Haben wiederfindet und hier wie dort mit der Aufstiegsnarration verschränkt wird. Wie Soll und Haben affirmiert Gotthelfs „sittlich-religiöse[r] Ordnungsroman“³³ ein patriarchalisches Prinzip des ,ganzen Hauses‘, das auf genealogischen Tradierungsprinzipien aufruht. Gleich zu Beginn zieht die Erzählung einen kausalen Konnex zwischen Erbschaft, Ehre und Moral: Das Bauernhaus gehört zu den Großgrunddynastien, „wo der [sic] Besitzthum lange in der Familie sich fortgeerbt hat, daher Familiensitte sich festgesetzt, Familienehre entstanden ist“³⁴. Auf den ersten Blick scheint dieses Hereditätsprinzip mit dem Zeitindex des selfmadeNarrativs, das einen Bruch mit genealogischen Linien signalisiert, unvereinbar. Der Protagonist ist zu Beginn weder Teil des Verwandtschaftsverbands, noch qualifizieren ihn sein finanzieller und sozialer Status zur Einheirat. Dass er dennoch in die häusliche communitas aufgenommen wird, hängt mit einer meritokratischen Normsubstanz zusammen, die sich in die oikos-Utopie einlagert und den Konnex von Wirtschaft und Verwandtschaft stufenweise modifiziert.³⁵ Der Gesinnungswandel, in dessen Verlauf die Figur zum sparsamen und arbeitsamen Subjekt avanciert, macht sie zugleich zu einem Teil der häuslichen Familiengemeinschaft. Nicht nur weist eine leitmotivische Familiensemantik das Herr-und-Knecht-Verhältnis als Vater-Sohn-Beziehung aus, auch bindet eine plakative Raumsymbolik den Protagonisten immer mehr an den familialen oikos an. Während eine Erzählpassage den Protagonisten in einem räumlichen Dazwischen schildert, in dem er „unter der Traufe des Daches stund, das eine Bein schon außer demselben hatte und doch nicht ganz darüber aus kam“³⁶, schildert der weitere Verlauf eine sukzessive räumliche Integration: Der Aufnahme in die    

Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Bd. III: Die Dichter. Stuttgart: Metzler, 1980. S. 925. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 2. Zum Modell des oikos bei Gotthelf vgl. Bauer: Ökonomische Menschen, S. 121 f. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 70.

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Stube folgt der Einzug in „das Allerheiligste des Hauses“³⁷, den Salon der Meisterleute. Damit tritt an die Stelle konsanguiner Verwandtschaft oder Schwägerschaft eine einvernehmliche Adoption,³⁸ die eine Primatisierung von Leistung anstelle der Herkunft indiziert. Auch die letztendliche Pächterwerdung, die den Aufstiegsweg besiegelt, markiert eine Abkehr vom hereditären Dispositiv zugunsten eines Leistungsprimats. Nicht der Baumwollhändler, dem als Schwiegersohn ein Erstanspruch auf den Gutshof zustehen würde, sondern der ehemalige Knecht, der zunächst in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu den Meisterleuten steht, erhält die Pacht. So wird die Aufstiegsnarration zum Medium einer meritokratischen Rekonzeptualisierung des oikos-Modells. Folge ist eine Verschränkung verschiedener Zeitkategorien: Konservierungsbestrebungen und Progressionsnarrative überlagern sich und machen das Aufstiegssujet zum narrativen Scharnier zwischen traditionalistischen und liberalen Propositionsgehalten. Die Lesart des Romans als „konservativ-utopisches Märchen […], welches die besitzständische Ordnung der bäuerlichen Welt verklärt“³⁹, wird dem Roman damit nur bedingt gerecht. Nichtsdestotrotz ist es kaum zu übersehen, dass gerade die ökonomische Modernisierung mit unverhohlener Missbilligung geschildert wird.⁴⁰ Mit dem spekulativ wirtschaftenden Baumwollhändler lässt die Erzählung eine Kontrastfigur zu Uli in Erscheinung treten, über die sich eine narrative Kampfansage gegen die ökonomische Moderne konfiguriert. Die Figur wird zum Zielobjekt einer antikapitalistischen Offensive, die bezeichnenderweise von der weiblichen Protagonistin Vreneli ausgetragen wird. Mit physischen und verbalen Kräften jagt die spätere Ehefrau Ulis die „Monadologie der modernen Persönlichkeit“⁴¹ aus der Hausgemeinschaft – dem modellierten Mikrokosmos der Gesellschaft – und wird nicht nur zur „glühende[n] Siegesgöttin“⁴² deklariert, sondern zum „Engel mit

 Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 109.  Vgl. Werner Hahl: Jeremias Gotthelf – der „Dichter des Hauses“. Die christliche Familie als literarisches Modell der Gesellschaft. Stuttgart: Metzler, 1993. S. 46.  Hahl, S. 16.  Die Kritik am Durchbruch einer kapitalistischen Moderne nimmt im zweiten Band, Uli, der Pächter (1849), neue Dimensionen an. Hatte der erste Band das unproduktive und unökonomische Dasein als korrekturbedürftig dargestellt, so ist es im zweiten Band die bis ins Extreme gesteigerte Sparsamkeit, die kritisiert wird. Erst im Zusammenspiel beider Romane ergibt sich folglich das Subjektideal eines homo oeconomicus, dessen wirtschaftsbürgerliche Tugenden durch eine christliche Moral ausbalanciert werden. Vgl. Jeremias Gotthelf: Uli, der Pächter. Ein Volksbuch. Berlin: Springer, 1849. Vgl. zur Kapitalismuskritik in Uli, der Pächter Hahl, S. 76 f.  Hahl, S. 98.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 346.

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flammendem Schwerte vor dem Paradiese der Unschuld“⁴³, der den Spekulanten mit einem „buchene[n] Scheit“⁴⁴ attackiert. Das traditionalistisch anmutende Wirtschaftsbild des Textes hat also weniger eine Negation des Modernenarrativs zur Folge als eine allegorisierte Rediskursivierung und normative Fortführung: Die ,heile Welt‘ des oikos wird von der ökonomischen Moderne heimgesucht, doch kann sie diese bekämpfen und letzten Endes überwinden. Obgleich der Roman den Durchbruch eines entfesselten Kapitalismus ausschließt und an der Stabilität des oikos festhält, legt er sich nur bedingt auf ein Reversibilitätsphantasma fest. Auch die oikonomische communitas nämlich bleibt keineswegs die vorkapitalistische Ordnung, als die sie zu Beginn in Erscheinung tritt. Durch die Bekehrungs- und Aufstiegsgeschichte des Titelhelden wird das oikos-Modell zum Gegenstand eines modernediagnostischen Entwicklungsnarrativs. Dieses wird nicht als Verlustgeschehen auserzählt, sondern als Fortschrittsgeschichte, die (prima facie) in einem Einklang mit christlichen Werten steht. Entfaltet wird diese Geschichte über mehrere Stationen. Zunächst schildert der Roman das Walten einer schenkökonomischen Ethik, die auf generösem Altruismus anstelle eigennütziger Rationalität aufruht. Modelliert wird eine Produktionsgemeinschaft, die sich einer oberhalb des Kalküls stehenden Fürsorgementalität verschreibt. In die laudatio auf den pater familias, den Meister Johannes, fließen Idealvorstellungen einer christlich-philanthropischen Gesinnung ein, die sich im Verzicht auf Gegenleistungen äußert: „Das Bewusstsein, etwas Gutes an einem gethan zu haben, ist auch ein Lohn“⁴⁵, heißt es an einer Stelle. Über die Konstruktion der Meisterfigur bildet sich also ein Erzählkosmos heraus, der auf den ersten Blick von einem transökonomischen Moralkodex beherrscht wird. Diese utopische, von den Gesetzen christlicher Moral beherrschte Ordnung wird nun immer mehr von ökonomischen Rationalitätsprinzipien eingeholt. Schon die Initialzündung der Aufstiegsgeschichte, das Bekehrungsgespräch zwischen Johannes und Uli, führt den Einbruch des Ökonomischen in den religiösen Wertehorizont vor Augen. Der Protagonist führt den Moralkodex des Meisters auf dessen Wohlstand zurück: „[D]u hast den schönsten Hof weit und breit, hast die Ställe voll schönes Vieh, den Spycher voll Sachen, eine gute Frau, von den besten eine, schöne Kinder; du kannst dich wohl freuen, du hast Sachen, woran du Freude haben kannst; wenn ich sie hätte, es käme mir auch kein Sinn ans Hudeln […]. Aber was habe ich? Ich bin ein armes Bürschli.“⁴⁶

   

Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 346. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 346. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 117. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 23.

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Die Antwort der Meisterfigur ist nun weder eine Seligpreisung der Armen noch ein ,Nichtsdestotrotz‘-Appell zur Befolgung christlicher Gebote, sondern eine Bewusstmachung der Aufstiegschancen: „Es hat mancher nicht mehr gehabt, als du, und hat jetzt Haus und Hof und Ställe voller Vieh“⁴⁷. Der Repräsentant des christlich-oikonomischen Hausvaters, der nach den Herrschaftsgeboten der Kolosser- und Epheserbriefe handelt,⁴⁸ figuriert damit als Mediator einer aufstiegsverheißenden self-help-Ideologie. Dass die Gewahrwerdung der Aufstiegsmöglichkeit den Gesinnungswandel des Protagonisten bedingt, zeigt sich in Gedankenberichten, die das Aufkeimen karrieristischer Bestrebungen schildern: Es kamen ihm immer mehr Beispiele in den Sinn von schlechten Dienstboten, die unglücklich geworden, arm geblieben, und hinwiederum, wie er andere von ihren alten Meisterleuten habe rühmen hören, wie sie einen guten Knecht, eine gute Magd gehabt, und die jetzt recht gut im Stande seien.⁴⁹

Beweggrund der conversio ist also kein christlich-moralischer Sinneswandel, sondern die Aussicht auf Erfolg. Vor diesem Hintergrund wird auch das leitmotivisch mobilisierte Sündenfallparadigma,⁵⁰ das den „Bewußtwerdungsprozeß“⁵¹ eröffnet und der Entwicklungsgeschichte eine exemplarische Modellhaftigkeit verleiht, seiner religiösen Primärcodierung beraubt: Nicht das Gebot Gottes wird gebrochen, sondern das kapitalistische Rationalitätscredo.⁵²  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 23.  Vgl. Hahl, S. 54 f. und 357.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 30.  Zum Motiv des Sündenfalls vgl. Braungart, S. 39 f.  Braungart, S. 40.  Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Verpflichtung auf ein kapitalistisches Rationalitätscredo, die Uli, der Knecht affirmativ vorführt, im Folgeband zum Gegenstand einer religiös fundierten Kritik wird.Während der erste Band bürgerlich-wirtschaftliche Tugenden der Sparsamkeit und Arbeitsamkeit propagiert, warnt der zweite Band vor einem ,unchristlichen‘ Ausarten dieser vorgeblichen Tugenden. Aus der Sparsamkeit wird Geiz, aus der Arbeitsamkeit eine Arbeitsobsession, in deren Zeichen der Protagonist seine Pflichten als Familienvater vergisst. Nicht zuletzt wird der Aufstiegswille, den der erste Band als zu fördernde Tugend inszeniert, im zweiten Band pejorativ dargestellt. Auf den Willen zum Aufstieg folgt die Angst vor dem Abstieg, die eine moralische Verschuldung zur Folge hat: Um drohenden finanziellen Einbußen entgegenzuwirken und der Abstiegsgefahr zu entrinnen, beginnt die Figur, ihre Arbeiter*innen auszubeuten, geizt mit wohltätigen Gaben und schreckt schließlich vor unlauteren Wirtschaftspraktiken nicht zurück. Die Abkehr von christlichen Verhaltensnormen, die sich im ersten Band andeutet, hier jedoch strategisch überdeckt wird, wird folglich im zweiten Band offengelegt und kritisiert. Religiöse Codierungen, die im ersten Band einem ökonomischen Code gewichen waren, werden im zweiten Band, der sich bezeichnenderweise um die Perspektive von Ulis Ehefrau Vreneli orchestriert, strukturbildend: Propagiert wird kein Selbsthilfe-Credo, sondern eine un-

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Auch im weiteren Verlauf agiert Johannes – entgegen seiner Namenskonnotation – nicht als Verkünder einer neutestamentarischen Heilsbotschaft, sondern als Motivator zum sozialen Aufstieg. Fundament seiner Lehre ist eine Ideologie der Selbsthilfe, die sich in der Biographie- und Ratgeberliteratur des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts wiederfinden wird: „Aber es ist eben der Fehler, daß du den Glauben nicht hast, daß du noch ein Mann werden könntest. Du hast den Glauben, du seiest arm und bleibest arm und an dir sei nichts gelegen, und darum bleibst du auch arm. Hättest du einen anderen Glauben, so würde es auch anders gehen. Denn es kommt noch immer alles auf den Glauben an.“⁵³

Die religiös konnotierte Glaubenssemantik hier wird in ein ökonomisch gefasstes Autonomiepostulat überführt, das einen Glauben an sich selbst propagiert. Anthropologisches telos der oktroyierten Subjektivierung ist nicht der gottvertrauende Gläubige, sondern der Selfmademan. Aus der göttlichen providentia wird eine affirmierte Kontingenz, die auf einer aufklärerisch anmutenden Idee der Selbstverantwortlichkeit gründet. Auf die Einsicht in die Gestaltbarkeit des Lebens folgt eine wirtschaftsbürgerliche Sozialisation, die einmal mehr die Unterwanderung der religiösen Bezugsachse vor Augen führt: Es ist nicht die christlich-moralische Vervollkommnung, sondern das Erlernen ökonomischer Kompetenzen, auf die der Bekehrungsprozess hinzielt. Die Figur verschreibt sich den Devisen „Ersparen und Reich-werden“⁵⁴, lernt, ihre Zeit „nützlich und abträglich [zu] gebrauchen“⁵⁵, und avanciert zu einem effizienzfixierten homo oeconomicus ⁵⁶, der alles im Auge und daher auch für alles Zeit [hat]. Jeder Augenblick wurde benutzt, jeder Arbeiter wusste, was er zu thun hatte. Hatte man nicht mit dem Korn zu schaffen, so wusste man schon im Voraus, woran man mußte, verlor mit Stotzen, Fragen, Verweisen keine Zeit.⁵⁷

ausweichliche Lenkung durch Gott. So wird Ulis Bruch mit einer christlichen Moral durch ein Unwetter, bei dem das gesamte Hofinventar zerstört wird, bestraft. Erst auf Ulis Einsicht und Reue und seinen Entschluss zur Besserung folgt eine allmähliche Rehabilitierung, die aber nicht durch Ulis eigene Kraft, sondern durch die wohlwollende Lenkung Gottes geschieht.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 24.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 35.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 25.  Vgl. Rémy Charbon: Der Homo oeconomicus in der Literatur von 1830 bis zur Reichsgründung. In: Wunderlich, Werner (Hrsg.): Der literarische Homo oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur. Bern/Stuttgart: Haupt, 1989. S. 135– 152, hier S. 146.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 202.

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Durch die Selbsttransformation zum rational handelnden Wirtschaftsakteur wird die Figur zu einem „vermöglichen Mann“⁵⁸, wodurch das ökonomische (und geschlechtliche) telos der Entwicklungsgeschichte eingelöst wird. Der Roman, der auf diese Weise das religiös geprägte Schema der conversio in einen genderisierten ökonomischen Verweisungskontext einpasst, adaptiert im Zuge dieser Verschiebung eine Argumentationsfigur aus dem nationalökonomischen Diskursfeld der Zeit. Wie die zeitgenössische Nationalökonomie lässt der Roman Wirtschaft und Kultur amalgamieren,⁵⁹ was sich in einer symbolischen Verschmelzung von wirtschaftlicher Ertragssteigerung und kultureller (Selbst‐)Entwicklung spiegelt. Wie der Protagonist wird der Glungge-Hof, zu dem er im Laufe der Erzählung übersiedelt, verwandelt: Das ertraglose Land, wo „nirgends Ordnung“⁶⁰ herrscht, wird nach symbolisch aufgeladenen Akten des Ausmistens und Kornreinigens in einen gepflegten Hof transformiert.⁶¹ Dieser Kultivierungsprozess, der symbolisch die Kulturalisierung des Ichs Revue passieren lässt, markiert die ökonomische Subjektivierung als Element und Korrelat eines kulturellen Fortschritts und lässt mehrere Verweisungslinien des Romans zusammenfließen. Das zeitdiagnostisch angelegte Fortschrittsnarrativ, das die Nähe des Romans zum nationalökonomischen Stufenmodell forciert, wird durch den Motivkomplex der fruchtbaren und unfruchtbaren Erde und des Kornsäens in einen religiösen Bezugskontext eingepasst.⁶² Die symbolische Analogisierung von Land- und Selbstentwicklung stimmt auch die Aufstiegs- und Bekehrungsgeschichte auf das Bild des zur Frucht gedeihenden Korns ab, das in den Gleichnissen vom Senfkorn, vom vierfachen Ackerfeld und der selbstwachsenden Saat das Wort Gottes symbolisiert. Das ökonomische Credo der Selbstoptimierung wird damit religiös legitimiert. Wenn aus dem mittellosen Knecht ein erfolgreicher Wirtschaftsbürger wird, so steht dieser Aufstieg im Zeichen eines göttlichen Willens – so die Suggestion. Derartige Legitimationen durchziehen den Roman und lassen das selfmadeSujet als Ausgangspunkt eines erzählleitenden Problems erscheinen: Erwerbsethik, Erfolgscredo und Autonomievorstellungen, die sich im selfmade-Narrativ verdichten, laufen christlichen Glaubensinhalten – Vorrang des himmlisch ewigen Lebens vor dem irdischen Dasein, Nächstenliebe statt Selbstinteresse, Len-

 Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 116.  Zur „metonymische[n] Verschmelzung von Wirtschaft und Kultur“ im nationalökonomischen Diskurs vgl. Agethen, S. 71– 73.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 143.  Vgl. Braungart, S. 30 f. und S. 40.  Vgl. Braungart, S. 30 f.

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kung der Welt durch Gott – entgegen.⁶³ Sämtliche Erzählelemente werden nun von dem Versuch bestimmt, diese Kollision zu überdecken. Das strukturbildende Erzählprojekt des Romans besteht darin, entstehende Differenzen in eine Einheit zu überführen, wobei sich ebenjener Nexus von protestantischer Ethik und kapitalistischer Rationalität abzeichnet, den Max Weber rund sechzig Jahre später im Rückbezug auf die Lebensbeschreibung Franklins postuliert.⁶⁴ Eine Aussage der Pfarrerfigur bringt die Kernaussage der Erzählung auf den Punkt: „Das Weltliche und das rechte Geistliche sind viel näher bei einander, als die meisten Leute glauben.“⁶⁵ Epimythionartig fasst der Satz zusammen, worauf der gesamte Erzähldiskurs tendiert: die Sichtbarmachung der Vereinbarkeit von Ökonomie und Religion. Schon der Erzählbeginn stellt ein ökonomisches Rationalitätsdenken in einen Bezug zur göttlichen providentia und bonitas. Ein durch Johannes fokalisierter Bericht der Erzählinstanz führt die Idee einer christlichen aisthesis vor Augen, in der interesselose Kontemplation und Gottespreisung Hand in Hand gehen: Der tausendstimmige Gesang und des Landes Herrlichkeit hatten den Bauer früh geweckt, und er wandelte andächtigen Gemüths dem Segen nach, den ihm Gott beschert hatte. Er durchging mit hochgehobenen Beinen und langen Schritten das mächtige Gras; stund am üppigen Kornacker still, an den wohl geordneten Pflanzplätzen, dem sanft sich wiegenden Flachse; betrachtete die schwellenden Kirschen, die von einer kleinen Frucht starrenden Bäume mit Kernobst, band hier etwas auf, und las dort etwas Schädliches ab und freute sich bei Allem nicht nur des Preises, den es einsten gelten, nicht nur des Gewinnes, den er machen werde, sondern des Herren, dessen Güte die Erde voll, dessen Herrlichkeit und Weisheit neu sei jeden Morgen.⁶⁶

Bereits hier werden zwei Semantisierungsarten differenziert und in eine Einheit überführt. Das ,nicht nur‘ signalisiert zugleich ein ,aber auch‘: Der vorgeblich transökonomische Tiefenblick, der in den Wahrnehmungsofferten der Natur das Wirken Gottes erkennt, birgt ein rationalistisches Kalkül in sich. Gerade in den Negationen – „nicht nur des Preises“, „nicht nur des Gewinnes“ – geht die christlich-ästhetische Codierung in eine ökonomische Wertung über, die aber

 Nicht umsonst ist der ursprüngliche Romantitel – Wie Uli, der Knecht, glücklich wird – in späteren Ausgaben zu Uli, der Knecht geändert worden (vgl. Hahl, S. 20). Im Zeichen christlicher Genügsamkeits- und Heilsvorstellungen erscheint auch die Korrelation von wirtschaftlichem Erfolg und Glück, die in diesem Titel zum Tragen kommt, problematisch.Vgl. hierzu Charbon, S. 148.  Vgl. Max Weber [1904/1905]: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Hg. und eingeleitet von Dirk Kaesler. München: Beck, 2010. Zum Franklin’schen Tugendkatalog bei Gotthelf vgl. Charbon 1989, S. 147 f.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 371.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 9 f.

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durch ihre explizite Markierung nicht als Gegenpol, sondern als Analogon ästhetischer und religiöser Affiziertheit ausgewiesen wird. Im weiteren Verlauf holt die ökonomische Wertlogik die christliche Semantisierung etappenweise ein. Zunächst folgt auf die Bewusstseinswiedergabe ein Gedankenzitat, das den Auftrag zur Schöpfungspreisung reformuliert: Und er gedachte: wie alles Kraut und jedes Thier jetzt den Schöpfer preise, so sollte es auch der Mensch thun und mit dem Munde nicht nur, sondern mit seinem ganzen Wesen, wie der Baum in seiner Pracht, wie der Kornacker in seiner Fülle, so der Mensch in seinem Thun und Lassen.⁶⁷

Postuliert wird eine harmonische Ordnung, die durch einen produktiven Gabentausch zusammengehalten wird. Der Protagonist nun durchbricht diese Gabentauschkette, da er – noch unbekehrt und taugenichtig – sein Kraftpotenzial unmobilisiert lässt. Die Rede der Erzählinstanz geht an dieser Stelle von der pathetischen Stilisierung in den berichtenden Modus zurück: Aber wenn er des Ulis gedachte, und wie der liebe Gott ihn so fürstlich ausgestattet mit Gesundheit und Kraft, und wie Uli seines Schöpfers so ganz vergesse, so schnöde seine Gaben missbrauche, so wurde er ganz wehmütig und stand oft und lange still, sinnend, was er ihm wohl sagen solle, dass er wieder werde ein Preis seines Schöpfers.⁶⁸

Die Mobilisierung der eigenen Kraft, das Kernelement des selfmade-Sujets, erscheint also nicht nur als Schlüssel zum Erfolg, sondern als Verpflichtung, die sich aus einer gottgefälligen Ordnung ergibt. Von vornherein werden folglich die Bekehrungs- und Aufstiegsgeschichte und die materialistisch-liberale Anthropologie, die sich in ihr manifestiert, einem christlichen Verweisungshorizont unterstellt. Kraftmobilisierung und wirtschaftsbürgerliche Subjektwerdung werden als Akte der Gottgefälligkeit semantisiert, sodass sich der Roman nicht trotz, sondern aufgrund der entfalteten Aufstiegsnarration als Medium eines christlichen Wertesystems (miss‐)verstehen kann. Der christliche Metacode wird in ein ökonomisches Dispositiv eingepasst. Diese Einpassung spiegelt sich auch in der wendepunkthaften Erzählsequenz, in der die Figur unter der Devise „es müsse ein Jeder für sich selbsten auch sehen“⁶⁹ an den Glungge-Hof übersiedelt, womit die conversio endgültig im Narrationsmuster des Aufstiegs aufgeht. Zunächst wird die Erzählstimme zur mora-

 Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 10.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 10.  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 117.

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lisierenden Wertungsinstanz, die eine Fixierung auf das eigene „Weiterkommen“⁷⁰ pathologisiert: Wie oft mit dem Essen der Hunger kömmt, so kömmt oft mit dem Sparsam-werden, mit dem Vermögen-gewinnen die Ungeduld. […] Das ist ein eigen Kapitel über diese Krankheit, die alle mehr oder weniger ergreift, die zu einigen Kronen kommen und denen der Gedanke geboren worden ist: vermöglich zu werden.⁷¹

Trotz der Absage der Erzählinstanz an das Akkumulationsdenken führt der weitere Verlauf den Protagonisten nicht zu einer moralischen Bekehrung, sondern legitimiert vielmehr das Aufstiegsstreben, indem er es motivisch-allegorisch mit dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26 – 29) kurzschließt. Die Aufstiegsverheißung des Johannes wird mit dem aufs Land geworfenen Samen korreliert, der schließlich Früchte trägt: „Voll Obst hingen die Bäume, […] voll Erdäpfelgräber die Aecker“⁷². In der anschließenden Episode auf dem Markt werden nicht nur die Früchte verkauft: Der Protagonist erhält die höher dotierte Stelle auf dem Glungge-Hof und kann so seine Aufstiegsambitionen realisieren. Der Aufstiegsweg wird hier mit derselben organologisch-evolutionistischen Argumentationslogik durchsetzt, die das markinische Gleichnis fundiert. Dass der Protagonist zum Zweck des Aufstiegs die familiale oikos-Gemeinschaft verlässt – als „Sohn[], der in die Fremde will“⁷³ –, wird mit einem entelechischen Naturprozess analogisiert: Wie der gesäte Samen im Gleichnis „ersten das Gras, danach die Ähren, danach den vollen Weizen in den Ähren“ (Mk 4,28) bringt und schließlich zur erntereifen Frucht erwächst, gelangt der Protagonist stufenweise zur Einsicht, Besserung und zum Erfolg. Die auf das Obst bezogene Aussage des Johannes, „da muß es für Etwas gebraucht sein“⁷⁴, überträgt sich damit auf den Protagonisten, der als gereiftes Subjekt seine Kräfte produktiv machen soll. Die motivische Anspielung auf das Gleichnis, die den Aufstiegsweg religiös legitimiert, verstärkt zugleich die Signatur des ,self-made‘, die der Figurenkonstruktion unterlegt wird. Der Topos der selbstgewachsenen Saat markiert das figurative Paradigma des ,selbstgemachten Mannes‘ als Korrelat einer evangelistischen Autopoiesis-Idee. Suggeriert wird eine symbolische Analogie, die dem Typus des Selfmademans – und somit dem zuvor pathologisierten Aufstiegsstreben – eine christliche Legitimität verschaffen soll. Wie das Reich Gottes im

    

Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 117. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 116. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 118. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 134. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 119.

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Saatgleichnis als Produkt der Selbstmobilisierung emergiert, die „aus sich selber kommt und auf sich selber zugeht“⁷⁵, ist das Werden des Protagonisten – nachdem Johannes den Samen gelegt hat – ein durch ihn selbst vollzogener Entwicklungsprozess. Dem Bauern Johannes kommt dabei die Rolle des Bauern aus dem Gleichnis zu, der nach dem Säen zum passiven Beobachter wird, während Uli durch konsequente „Arbeit an sich selbst“⁷⁶ eine oktroyierte teleologische Selbsttransformation vollzieht. Mit dieser Gleichnisreferenz wird der Aufstiegsweg als irdischer Einbruch des Reichs Gottes markiert und auf ein göttliches Walten zurückgeführt. In der Reifung zum idealen Wirtschaftsbürger – so die Suggestion – realisiert sich ein entelechisch-eschatologischer Prozess, in dem individuelle Zielsetzungen in einem göttlichen Willen aufgehen. Neben dem Saatgleichnis trägt ein biblischer Kerntopos, auf den der Roman leitmotivisch anspielt, dazu bei, das selfmade-Sujet religiös zu untermalen. Immer wieder wird die Aufstiegs- und Bekehrungsgeschichte mit der Geschichte vom Sündenfall in Bezug gesetzt. Es zeigt sich hierbei wiederum das Kernverfahren der Erzählung: Konzepte und Ideale, die einem ökonomischen Kontext entstammen, werden mit einer religiösen Motivik überschrieben. Strategisch führt der Text ein aufklärerisch geprägtes felix-culpa-Motiv mit dem ökonomisch gefassten Fortschrittsgedanken zusammen, der sich zeitgleich in der Historischen Schule der Nationalökonomie profiliert und im Aufstiegssujet personifiziert wird. Der Gedanke Kants, dass die Vertreibung aus dem Garten Eden einen „Übergang aus der Rohigkeit eines bloß thierischen Geschöpfes in die Menschheit, […] aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“⁷⁷ gleichkomme, wird durch die Aufstiegs- und Konversionsgeschichte in Gotthelfs Roman aufgegriffen und auf das nationalökonomische Stufennarrativ abgestimmt, das gleichermaßen einen Übergang vom Natur- zum Kulturzustand insinuiert. Es überlagern sich folglich wiederum die zwei verschiedenen Bezugsrahmen, die der Roman zusammenführt: Ulis Aufstieg und Gesinnungswandel, der die Überwindung eines als defizitär markierten Anfangszustands schildert, wird lesbar als Manifestation eines nationalökonomischen Fortschrittsnarrativs, das wiederum als Korrelat des felixculpa-Topos erscheint. Die Bezüge zum Sündenfalltopos sind nicht nur deshalb aufschlussreich, weil in ihnen die Überlagerung von ökonomischem und religiösem Code exemplarisch kenntlich wird. Sie lassen zugleich die ästhetische Wirkungskraft hervortreten,  Joachim Ringleben: Jesus. Ein Versuch zu begreifen. Tübingen: Mohr Siebeck, 2008. S. 100.  Bauer: Ökonomische Menschen, S. 310.  Immanuel Kant [1786]: Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte. In: Kant’s Werke. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1, Bd. 8: Abhandlungen nach 1781. Berlin/Leipzig: de Gruyter, 1923. S. 107– 124, hier S. 115.

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die die Aufstiegs- und Bekehrungsgeschichte zuweilen entfaltet. In mehreren Passagen gehen die Bezüge zum Sündenfall mit einer markierten Rhetorizität einher, in der ein poetisches Funktionsprimat zum Tragen kommt: Das Äquivalenzprinzip wird auf das Syntagma projiziert und bringt die Achse der (fiktional modalisierten) Fremdreferenz tendenziell zum Kippen. Kulminationspunkt der referenziellen Kippbewegung ist eine Vergegenwärtigung der biblischen Urszene, die der Protagonist im Rahmen einer visualisierenden Genesis-Lektüre plastisch re-imaginiert: Goldene Früchte sah er strahlen in dunklem Laube; er sah die bunte Schlange schimmern in den dunklen Aesten, sah sie spielen mit der goldenen Frucht und naschen davon mit lustfunkelnden Augen. Und wie zwei Lichter strahlten diese Augen weit hin in die Ferne; zwei andere Augen begegneten ihnen, und er sah flüchtigen Schrittes die junge Mutter des alten Menschengeschlechtes nahe dem verhängnißvollen Baume. Und in zierlichen Ringen funkelte die Schlange, so herrlich in dunklem Leibe, und naschte so zierlich von der prangenden Frucht, und ringelte sich noch funkelnder hinaus auf des Baumes Aeste, wiegte sich in süßem Behagen; und hinauf mit glänzenden Augen sah die junge Mutter. Die Schlange prangte so üppig, die Frucht duftete so süß, in der Mutter Brust schwoll das Gelüsten auf. Da wiegte die Schlange näher und näher sich, wälzte spielend die schönsten Früchte zu des Weibes Füßen und lockte in süßen Tönen die neu geborne Lust zum fröhlichen Genuß.⁷⁸

Der semantische Gehalt konfiguriert sich an dieser Stelle primär über phonetische Äquivalenzen ‒ Lexemrepetitionen, Hyperbata, Anastrophen und Klangrekurrenzen (dunklen – lustfunkelnden, Füßen – süßen, Lust – Genuß) ‒ und durchsetzt so die fremdreferenzielle Bezugsrichtung mit einer poetischen Selbstreferenzialität. Durch die Wiederholungsrhetorik und Klangbildlichkeit ‒ Ralf Simon zufolge ein typischer Ausdruck phonetischer Materialität⁷⁹ ‒ verstärkt sich, mit Jakobson gesprochen, die „Spürbarkeit der Zeichen“⁸⁰, was die Signifikant-Signifikat-Dichotomie metasemiotisch transparent werden lässt. Forciert wird die selbstreferenzielle Ebene dadurch, dass das imaginäre Sehen selbst zum Thema wird. Mit der fiktionsimmanenten Illusionsbildung versetzt der Text Leserinnen und Leser in eine Beobachtungsposition vierter Ordnung, die den Sündenfalltopos imaginativ erfahrbar werden lässt. Imaginär beobachtbar wird eine Erzählinstanz, die den visuell-imaginativen Beobachtungsprozess einer Figur beobachtet, der sich wiederum auf die visuellen Beobachtungsakte inner-

 Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 159.  Vgl. Ralf Simon: Was genau heißt: ,Projektion des Äquivalenzprinzips?‘ Roman Jakobsons Lehre vom Ähnlichen. In: Endres, Martin; Herrmann, Leonhard (Hrsg.): Strukturalismus, heute. Brüche, Spuren, Kontinuitäten. Stuttgart: Metzler, 2018. S. 121– 138, hier S. 132.  Roman Jakobson: Poetik. Ausgewählte Aufsätze, 1921– 1971. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979. S. 93.

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halb des imaginierten Szenarios richtet (Blickkontakte zwischen Eva und der Schlange). Die Imagination des Protagonisten figuriert an dieser Stelle als Medium einer inter- bzw. hypertextuellen Formkonstitution, die in ihrer rhetorisierten und selbstreferenziellen Anlage wenig geeignet scheint, das erzählte Geschehen in einen religiösen Referenzhorizont einzuspeisen. Stattdessen entfaltet sich das Sündenfallmotiv als ein exkursartiger Einschub, dem weniger ein handlungsbildendes als ein ästhetisches Wirkungspotenzial zukommt. Die religiöse Legitimationsfunktion, die in der Episode um den Sündenfall von einer ästhetischen Poetisierung überlagert wird, gewinnt in anderen Erzählelementen deutlich die Oberhand. Mit dem Pfarrer wird eine Figur eingeführt, die das erzählte Geschehen im Sinne des christlichen Wertesystems auslegt. Der Erzählprozess geht dabei ähnlich wie seine biblischen Prätexte in einen deiktisch dechiffrierenden Modus über, der den verschlüsselten Bedeutungskern offenlegt. Die Konvergenz von christlicher und kapitalistischer Lebensführung, göttlichem Willen und individuellen Zielsetzungen, die der Roman durch die Adaption biblischer Motive evoziert, wird durch die porte-parole-Figur explizit aufgezeigt: „Das rechte weltliche Glück und das himmlische Glück werden akkurat auf dem gleichen Wege gefunden“⁸¹, lautet die programmatische Devise, die den Aufstiegsweg des Protagonisten religiös rechtfertigt. Die weltlich-ökonomische Subjektivation wird auf einen christlichen Wertehorizont abgestimmt: Auch wenn der Protagonist Reichtum und Wohlstand anvisiert und den Franklin’schen Rationalitätsgeboten folgt (die selbst schon eine Vereinbarkeit mit protestantischen Werten nahegelegt hatten), erfüllt er – so die Legitimation – die biblischen Tugendlehren. Der Dialog zwischen dem Protagonisten und der Pfarrerfigur koppelt auch die Prämisse der Steuerbarkeit des Lebens wieder an den Vorsehungsgedanken. Die göttliche Fügung wird als Voraussetzung des Aufstiegs ausgewiesen.⁸² Die eingangs entfaltete Gestaltbarkeitsemphase wird damit relativiert. Ex post wird die Aufstiegserzählung einem christlichen Metacode unterstellt, der eine apologetisch anmutende Synthese von Providenz und Kontingenz evoziert und die in das Aufstiegsschema eingelagerte Autonomiefiktion religiös überschreibt. Gegen Ende der Erzählung geht der religiöse Code der Aufstiegsnarration vollends in einem ökonomischen Bezugshorizont auf. Eine dogmatische Rede der

 Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 376.  Der Aussage Ulis, es komme „doch auch etwas auf das Glück an“, da erst die Stelle bei Johannes den Wandel und Erfolg in die Wege geleitet habe, begegnet der Pfarrer mit der suggestiven Frage „war das Glück oder Gottes Fügung?“. Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 372.

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Pfarrerfigur bindet religiöse Glaubensinhalte ein in eine Sprache des Ökonomischen: „Alle Menschen empfingen von Gott zwei große Capitale, die man zinsbar zu machen habe, nämlich Kräfte und Zeit. Durch gute Anwendung derselben müssten wir das zeitliche und ewige Leben gewinnen.“⁸³

Mit diesen Sätzen reformuliert der Text noch einmal seine Leitdevise, die das vorangegangene Geschehen legitimieren soll, doch ebenso wie die biblischen Bezugslinien in einer unweigerlichen Suspension der religiösen Referenzebene mündet. Der religiöse Kontext wird zur legitimatorischen Begleiterscheinung einer „kapitalistische[n] Erfolgsstory“⁸⁴, die konsequent versucht, ihr ,weltliches‘ Erzählsubstrat religiös zu überformen. Von hier ausgehend lässt sich eine der zentralen Implikationen bestimmen, die mit dem selfmade-Sujet bei Gotthelf einhergehen. Uli, der Knecht setzt Religion nurmehr als Legitimationscode einer histoire ein, die durch das selfmade-Sujet in erster Linie einen ökonomischen Verweisungskontext aufruft. Mit seinem ökonomiezentrierten Entwicklungsnarrativ, der Analogisierung von Wirtschaft und Kultur, sowie der Propagierung bürgerlicher Ideologeme lässt der Roman Elemente hervortreten, die in der Realismusforschung als Determinanten des realistischen Erzählsystems gelten.⁸⁵ Die von Werner Hahl behauptete „Vorläuferschaft [des Textes] zum bürgerlich-realistischen Roman“⁸⁶ lässt sich insofern aus einer diskursgeschichtlichen Perspektive plausibilisieren.Vor diesem Hintergrund scheint es nur konsequent, dass die Programmatiker des Bürgerlichen Realismus immer wieder auf den paradigmatischen „Dichter des Hauses“⁸⁷ Bezug genommen haben, und dass gerade Uli, der Knecht in der realistischen Romankritik auf positive Resonanz gestoßen ist.⁸⁸ Die wohl aufschlussreichste Rezension des Romans stammt von Gottfried Keller,  Gotthelf: Uli, der Knecht, S. 24 f.  Charbon, S. 146.  Vgl. Rakow und Agethen.  Hahl, S. 17.  So der Titel von Hahls Habilitationsschrift.  Zwei Jahre vor dem Erscheinen von Soll und Haben hat Freytag sein programmatisches Postulat, „Erscheinungen der Wirklichkeit mit künstlerischer Wahrheit und Schönheit“ zu erfassen, durch einen Verweis auf Gotthelf exemplifiziert. Vgl. Gustav Freytag: Deutsche Romane. In: Die Grenzboten. Jg. 12, Bd. I (1853). S. 77– 80, Zitat auf S. 78. Den zeitgenössischen Schriftstellern, die „von dem Treiben der Gegenwart“ (Freytag: Deutsche Romane, S. 78) nichts verstehen, wird Gotthelf als positives Gegenbeispiel vorgehalten. Auch Julian Schmidt hat Gotthelfs Erzählungen in einem 1850 erschienenen Grenzboten-Artikel zum Anlass einer literaturpolitischen Programmbekundung genommen und dabei vor allem den „pädagogischen Zweck“ der Texte verteidigt. Vgl. Julian Schmidt: Jeremias Gotthelf. In: Die Grenzboten. Jg. 9, Bd. II (1850), S. 489 – 494.

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dem die Auseinandersetzung mit Gotthelfs Uli-Bänden als Austragungsort poetologischer Reflexionen diente.⁸⁹ Bezeichnenderweise wird in Kellers Rezension vor allem die Aufstiegserzählung des Romans emphatisch kommentiert: Uli, der Knecht habe „einen ganz gewöhnlichen Menschen“⁹⁰ zum Gegenstand, der durch „Fleiß, Gewissenheit und die unbedingteste Ehrlichkeit“ vom „armen hoffnungslosen Knecht“ zum „Mann [werde], der zu befehlen, zu regieren, selbstständig zu handeln und zu entschließen hat.“⁹¹ Kellers Gotthelf-Rezeption ist umso aufschlussreicher, als der Verfasser des Grünen Heinrichs selbst eine „Erfolgsgeschichte der protestantischen Ethik“⁹² verfasst hat, die dem bürgerlich geläuterten Selfmademan aus Gotthelfs Roman ein Fortleben zu bieten scheint. Der scheiternden Bildungsgeschichte des Protagonisten geht die Geschichte Rudolf Lees voraus, die genauso wie die Uli-Geschichte das materielle Sich-Auszahlen bürgerlicher Leistung schildert. Während die Aufstiegsgeschichte in der ersten Fassung in die intradiegetisch-homodiegetisch erzählte „Jugendgeschichte“⁹³ des Protagonisten eingewoben wird, bildet sie in der zweiten, ausschließlich homodiegetisch erzählten Fassung den Auftakt des Romans. In beiden Versionen berichtet der Protagonist vom Werdegang seines Vaters, der in einer mittellosen Bauernfamilie aufwächst und eine bildungs- und aufstiegsromantypische Herauslösung aus familiären Traditionen vornimmt. Die Geschichte Rudolf Lees, der als ein vierzehnjähriger Knabe, arm und bloß das Dorf verlassen hatte, hierauf bei seinem Meister die Lehrzeit durch lange Arbeit abverdienen mußte, mit einem dürftigen Felleisen und wenig Geld in die Fremde zog und nun solchergestalt als ein förmlicher Herr, wie ihn die Landleute nannten, zurückkehrte⁹⁴,

agiert auf prototypische Weise das selfmade-Sujet aus, das zeitgleich im Rahmen deutschsprachiger Franklin-Biographien populär wird. Mit seinem „erhöhte[n]

 Vgl. Ursula Amrein: „Jeremias Gotthelf“ (1848 – 1855). In: Dies. (Hrsg.): Gottfried-KellerHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. 2. Auflage. Stuttgart: Metzler, 2018. S. 218 – 220, hier S. 218.  Gottfried Keller: Über Jeremias Gotthelf. Berlin: Wilhelm Hertz, 1893. S. 102.  Keller: Über Jeremias Gotthelf, S. 105.  Jens Dreisbach: Disziplin und Moderne. Zu einer kulturellen Konstellation in der deutschsprachigen Literatur von Keller bis Kafka. Berlin: LIT Verlag, 2009. S. 123.  Gottfried Keller [1854/55]: Der grüne Heinrich. Erste Fassung. In: Böning, Thomas; Kaiser, Gerhard (Hrsg.): Gottfried Keller. Sämtliche Werke in sieben Bänden. Bd. 2. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985. S. 816.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 64.

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Fleiße“ und seiner „Mäßigkeit“⁹⁵ fungiert Rudolf Lee ebenso wie der Protagonist bei Gotthelf als Träger eines durch Franklin geprägten Wertekatalogs. Dieser wird jedoch bei Keller völlig anders funktionalisiert und bewertet, als es bei Gotthelf der Fall gewesen ist. Da Der grüne Heinrich den Typus des Selfmademans zum einen mit einer ambivalenten zeitdiagnostischen Funktion, zum anderen mit einer gleichermaßen ambivalenten poetologischen Funktion besetzt, lohnt ein genauerer Blick auf den vielbeforschten Realismusklassiker. Dessen Bedeutung für den vorliegenden Untersuchungskontext ist umso größer, als er ein neues Licht auf das Verhältnis zwischen Bildungs- und Aufstiegsroman wirft. Hatte sich in Uli, der Knecht eine Suspension des Bildungsparadigmas zugunsten einer Aufstiegsteleologie abgezeichnet, so lässt die Geschichte Rudolf Lees Aufstiegs- und Bildungssujet Hand in Hand gehen. Rudolf Lee tritt nicht nur als exemplarischer Wirtschaftsbürger à la Franklin in Erscheinung. Ein „rastloses Suchen nach dem Guten und Schönen“⁹⁶ macht Rudolf Lee prima facie zu einem idealtypischen Bildungssubjekt, das seine ,inneren‘ Anlagen zu veredeln sucht. Die Episode grenzt sich damit nicht nur von Gotthelfs ökonomiezentrierter Aufstiegsgeschichte ab, sondern sie steht zugleich in einem Kontrast zu Wilhelm Meister. Während Goethes Roman seinen Protagonisten zwischen der idealisierten „Muse der tragischen Dichtkunst“⁹⁷ und einer anderen, unansehnlichen „Frauengestalt“⁹⁸, die die ökonomisch-bürgerliche Sphäre personifiziert, hat wählen lassen, wird die Dichotomie von wirtschaftsbürgerlichem Werdegang und Bildungsweg in der Geschichte Rudolf Lees relativiert. Der auf Schulung der Geisteskräfte und Ganzheitlichkeit ausgerichtete Bildungsdrang verbindet sich mit dem Erwerb praktischer und lukrativer Fertigkeiten, was sich in einer Vernetzung von Aufstiegs- und Bildungsgeschichte niederschlägt. Mit dieser Konvergenz der Erzählmodelle entwirft der Roman eine ähnlich idealistische Wirtschaftsanthropologie, wie sie Franklins Lebensbeschreibung profiliert hatte.⁹⁹ Bei Keller jedoch wird die idealistische Perspektive ex post konterkariert. Nach dem Tod Rudolf Lees verwandelt sich sein kapitalistisches Bauunternehmen, das mit den traditionellen Wirtschaftsprinzipien zunftorganisierter Handwerksbetriebe gebrochen hat, in eine von Gläubigern belagerte Konkursmasse.¹⁰⁰ Auf den Aufstieg des Vaters folgt

 Keller: Der grüne Heinrich, S. 65.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 68.  Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 30.  Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 30.  Vgl. dazu Anne Löchte: Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 163.  Vgl. Eva Graef: Martin Salander: Politik und Poesie in Gottfried Kellers Gründerzeitroman. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1992. S. 24.

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der Abstieg von Mutter und Sohn, die die Konsequenzen des Konkurses zu tragen haben. Durch diese Wendung werden die ökonomische Tätigkeit, das Aufstiegsideologem und das ihm zugrunde liegende liberale Credo mit einem negativen Wertakzent versehen. Zugleich wird die zeitliche Modellfunktion des selfmadeSujets durchbrochen. Da Aufstieg und Untergang in einer kausalen Relation stehen, realisiert sich im Handlungsverlauf ebenjener zyklische Prozess, den die Erzählinstanz gleich zu Beginn der Jugendgeschichte andeutet, wenn es heißt: Die Kinder der gestrigen Bettler sind heute die Reichen im Dorfe, und die Nachkommen dieser treiben sich morgen mühsam in der Mittelklasse umher, um entweder ganz zu verarmen oder sich wieder aufzuschwingen.¹⁰¹

Prozesse des Aufstiegs sind folglich ebensowenig wie Untergänge Zeichen einer Veränderungsdynamik, sondern Elemente einer zyklischen Ereigniskette, die keinem Ziel entgegenstrebt. Der Bruch mit einem zeittypischen Fortschrittsnarrativ, der sich hier abzeichnet, steigert sich durch die Wiederholungsrelation zwischen der Geschichte Rudolf Lees und der des Protagonisten: Die ökonomische Nachlässigkeit des Vaters reproduziert sich im ökonomischen Scheitern des Sohnes.¹⁰² Der Kontrast zwischen Vaterfigur und Protagonist, den der weitere Erzählverlauf etappenweise aufbaut, wird damit von vornherein brüchig. Vor diesem Wendepunkt steht jedoch eine Figurenzeichnung, die Rudolf Lee zur Projektionsfläche von Ganzheitsidealen macht und ihn als exemplarischen uomo universale in Erscheinung treten lässt.¹⁰³ Die Geschichte Rudolf Lees, die die Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Handeln, philanthropischem Wirken und Bildungsstreben sichtbar macht, präsentiert einen Lebensentwurf, in dem die verschiedenen bürgerlichen Tugenddimensionen ein ungespaltenes Ganzes bilden: Im Bild des Vaters vereinigen sich die drei Gestalten, in die der moderne Bürger auseinanderfällt: die des Wirtschaftsbürgers (bourgeois), des öffentlich-politischen Bürgers (citoyen) und des privaten Kulturbürgers (homme).¹⁰⁴

Es ist dasselbe Synthesemodell, das im biographischen Diskurs der Zeit auf Benjamin Franklin projiziert worden ist. In einer Reihe von Porträts wird Frank-

 Keller: Der grüne Heinrich, S. 59.  Vgl. Dreisbach, S. 126.  Vgl. Gerhard Kaiser: Gottfried Keller: Das gedichtete Leben. Berlin: Insel, 1987. S. 212.  Gert Sautermeister: Gottfried Keller: „Der grüne Heinrich.“ Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst. In: Denkler, Horst (Hrsg.): Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Stuttgart: Reclam, 1980. S. 80 – 123, hier S. 84.

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lins Lebensweg als ein ideales Ganzes dargestellt.¹⁰⁵ Heinrich Bettziech-Beta beispielsweise, dessen Franklin-Biographie ein Jahr vor dem Grünen Heinrich erschienen ist, sieht in Franklin eine seltene und ungemein glückliche, muntere Vereinigung von Genie und Rechenkunst, von Genialität und der praktischsten, wirtschaftlichen Klugheit und Weisheit bis auf den Pfennig, bis auf die Minute herab, von kaufmännischer, echt geschäftsmäßiger Pfiffigkeit mit der erhabendsten Reinheit von Grundsätzen und der liebenswürdigsten Humanität.¹⁰⁶

Obgleich das Idealbild des totalen Individuums in Kellers Roman durch den Tod der Figur verworfen wird, ist die vorher angedeutete Synthese vor allem hinsichtlich der poetologischen Bezüge des selfmade-Sujets aufschlussreich. Rudolf Lee gelingen eine konfliktfreie Interessenverbindung und eine harmonische Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft. So wird die Aufstiegsgeschichte ähnlich wie im zeitgenössischen biographischen Diskurs mit einem differenznivellierenden Erzählgestus korreliert, der dem Synthesebegehren der bürgerlichrealistischen Verklärungsästhetik Rechnung trägt. Verklärung nämlich bedeutet um die Jahrhundertmitte immer auch Versöhnung:¹⁰⁷ Das männliche Subjekt, das im Bildungsroman als mit der Außenwelt entzweit erscheint, lässt das topische Konfliktverhältnis hinter sich und überwindet damit den vielbeklagten Hiatus von ,Poesie‘ und ,Prosa‘. Bei Keller überträgt sich der verklärende Grundton auf die zeitdiagnostisch ausgerichtete Erzählebene, die die Geschichte Rudolf Lees mitbestimmt. Mit der stufenlogisch strukturierten Aufstiegserzählung, in deren Verlauf die Figur vom Bauernsohn zum Handwerksmeister, kapitalistischen Unternehmer und Bildungsbürger avanciert, vollzieht sich eine Engführung von Individual- und So-

 Vgl. Karl-Heinz Denecke: Der Bürger im Spannungsfeld von Sittlichkeit und Selbstbestimmung. Frankfurt a. M.: Lang, 1996. S. 110. Auch Klaus P. Hansen weist darauf hin, dass Franklins Selbstdarstellung auf einem Einheitsideal basiert. Postuliert werde eine problemfreie Synthese von „Technik und Schöngeistigkeit, Moral und weltliche[m] Erfolg“. Dieses Synthesedenken unterscheide Franklins Autobiographie von einer prominenten deutschsprachigen Denktradition, die sich paradigmatisch im Bildungsroman niederschlage, und mache Franklins Lebensmodell deshalb umso anschlussfähiger für deutschsprachige Projektionen. Während deutschsprachige Bildungsromane seit dem Wilhelm Meister die einseitige Fokussierung auf Ökonomie oder Bildung problematisieren, führe der „Einheitsstifter Franklin“ die Vereinbarkeit der vorgeblich entzweiten Sphären vor. Vgl. Hansen, S. 67 f.  Heinrich Bettziech-Beta: Benjamin Franklin. Sein Leben, Denken und Wirken. Leipzig: Brockhaus, 1853. S. 90 f.  Vgl. hierzu Kinder.

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zialgeschichte.¹⁰⁸ Individualanthropologische und zeitdiagnostische Bezugsebenen verschmelzen. Diese Doppelstruktur wird durch den Übergang zur diegetischen Jetztzeit, in der sich die scheiternde Bildungsgeschichte des Protagonisten ereignet, in eine elegische Selbsterzählung der Moderne überführt. Rudolf Lee und sein Freundeskreis sind frei von „geistigen Überfeinerungen und Wunderseligkeiten“¹⁰⁹ und agieren als „gesunde und naive Männer“¹¹⁰, wohingegen sich in Heinrich Lee das herkömmliche Bild vom fragmentierten modernen Individuum verdichtet. Es zeigt sich hier ein weiterer Resonanzeffekt der FranklinBiographien. Auch Franklin gilt in der biographischen Literatur des späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts als Repräsentant einer ,gesunden‘ Naivität, die immer wieder mit einem Rousseau zugeschriebenen Sentimentalismus kontrastiert wird. Schon Herder hatte die Lebensbeschreibung Franklins als „Gegenbild zu Rousseau’s Confeßionen“¹¹¹ bezeichnet und sich dabei auf die Differenz zwischen substanzloser Phantastik und aufgeklärter Bürgerlichkeit berufen: Wie diesen die Phantasie fast immer irre führte; so verläßt jenen nie sein guter Verstand, sein unermüdlicher Fleiß, seine Gefälligkeit, seine erfindende Thätigkeit, ich möchte sagen, seine Vielverschlagenheit und ruhige Beherztheit.¹¹²

Herder greift an dieser Stelle einen Vergleich auf, den bereits der französische Schriftsteller Jean-Henri Castéra in der von ihm herausgegebenen und übersetzten – und von Herder rezipierten – französischen Autobiographie gezogen hatte. Castéra sieht in Franklins Lebensbeschreibung eine unmittelbare Reaktion auf Rousseaus Autobiographie und resümiert offenkundig normativ die „chemins différens“¹¹³, die beide Symbolfiguren gegangen seien: Chacun d’eux fit sa propre éducation et parvint à la plus grande célébrité. Mais l’un passa indollement plusieurs années dans la servitude obscure, où le retenoit une femme sensuelle; et l’autre ne comptant que sur lui, travailla constammement de ses mains, vécut avec la plus

 „Die Biographie von Heinrichs Vater liest sich wie eine Sozialgeschichte“, vermerkt Rolf Selbmann (Selbmann, S. 127).  Keller: Der grüne Heinrich, S. 64.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 70.  Johann Gottfried Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität. Bd. 1. Riga: Hartknoch, 1793. S. 14.  Herder: Briefe, S. 14.  Jean Castéra (Hrsg.): Vie de Benjamin Franklin, écrite par lui-même, suivie de ses œuvres morales, politiques et littéraires. Paris: F. Buisson, 1797. Préface, S. ij.

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grande tempérance, la plus sévère économie, et en même-temps, fournit généreusement aux besoins, même aux fantaisies de ses amis.¹¹⁴

Die Gegenüberstellung von Franklin und Rousseau wird im neunzehnten Jahrhundert aufgegriffen und um poetologisch codierte sowie nationalistische Beschreibungsfiguren erweitert. Für Friedrich Kapp bildet der Hiatus zwischen dem der Tugend huldigenden Franklin und dem französischen „Mann des Empfindens“ ein symptomatisches Zeichen für den unüberbrückbaren Hiatus, der zwischen Pflichtgefühl und Subjektivität sowie zwischen „germannischer und romanischer Weltanschauung“ bestehe.¹¹⁵ Rousseau, dessen Autobiographie von einer „kokette[n] Zurschaustellung seines Ich’s“ zeuge, wird zum Repräsentanten einer französischen Dekadenz, die zu keinen Taten fähig sei, in „widerlicher Sentimentalität“, „Willkür“ und „Unnatur“ schwelge und die Notwendigkeit objektiver Bindungen verkenne.¹¹⁶ Dagegen wird der amerikanische Selfmademan zur Leitfigur der deutschen Bürgerlichkeit stilisiert. Franklins Leben komme einer „Apotheose der Pflicht“ gleich; seine Schriften schöpfen sich „aus dem reichen Quell seiner gesunden Natur“¹¹⁷. So werden beide Autoren zu Projektionsflächen nationaler und poetologischer Ideale, die an das Realismuskonzept der Grenzboten-Herausgeber anschließen. Bekanntlich hat vor allem Julian Schmidt der „romantische[n] Sentimentalität, alles Leben in das Innerliche zu verlegen“¹¹⁸, das Bild einer bürgerlich-realistischen Literatur entgegengesetzt. Eine analoge Gegenüberstellung nimmt Kapp vor, wenn er eine Rousseau’sche Empfindsamkeit mit der bürgerlichen Idealität Franklins kontrastiert: Je tiefer wir in Rousseau eindringen, desto mehr stößt uns die oft widerliche Sinnlichkeit und krankhafte Empfindsamkeit, die innere Unwahrheit, ja Verlogenheit dieses bedeutenden Geistes zurück. Je länger wir dagegen bei Franklin weilen, desto mehr fühlen wir uns von ihm angezogen, desto lieber gewinnen wir ihn durch seine Thatkraft, sein unerschöpfliches Wohlwollen und seine frische Liebenswürdigkeit.¹¹⁹

Liest man diesen Vergleich vor dem Hintergrund von Kellers Roman, so fällt bei allen offenkundigen Unterschieden eine Verbindungslinie ins Auge. Die Gegen-

 Castéra, S. ij‒iij.  Friedrich Kapp: Aus und über Amerika. Thatsachen und Erlebnisse. Bd. 1. Berlin: Springer, 1876. S. 56 f. Vgl. zu Kapps Franklin-Darstellung Denecke, S. 107 f.  Kapp, S. 57.  Kapp, S. 58.  Julian Schmidt: Geschichte der Romantik in dem Zeitalter der Reformation und der Revolution. Bd. 2. Leipzig: Friedrich Ludwig Herbig, 1850. S. 273.  Kapp, S. 58.

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überstellung von Franklin’scher Naivität und Rousseau’schem Sentimentalismus lässt sich auf die Vater-Sohn-Konstellation beziehen, die sich an ähnlichen modernediagnostischen Differenzsetzungen orientiert. Auf die Geschichte des naiven Selfmademans Rudolf Lee, die das Franklin’sche Aufstiegsmodell reproduziert, folgt die Geschichte seines ,sentimentalischen‘ Sohnes. Freilich sind die Konnotationen und Wertungen, die später bei Kapp zum Ausdruck kommen, von denen in Der grüne Heinrich grundlegend verschieden. Das Bild Franklin’scher Naivität, das später von Kapp emphatisch aufgegriffen wird, wird bei Keller nachträglich zerstört. Und nicht nur das: Was wie die Rediskursivierung eines topischen Modernenarrativs anmutet, erweist sich bei Keller als Ausgangspunkt einer Metareflexion, die die auf Franklin projizierte Naivitätsvorstellung als genuin modernes Erzählmuster herausstellt. Der Bericht der Erzählinstanz geht zwar zunehmend in einen heterodiegetischen Modus über, doch unterstreicht der Ich-Modus der Anfangs- und Endsegmente die Anbindung des Erzählten an die retrospektive Sicht des Protagonisten ‒ einem Vertreter der „neue[n] Zeit“¹²⁰, durch dessen Sichtweise das ,Gesunde‘ und ,Naive‘ der ,alten Zeit‘ erst registriert werden kann. „Naivität (d. h. das Natürliche, welches als solches Verwunderung erregt) ist nur für die sentimentale Empfindung“¹²¹, hatte Julian Schmidt vier Jahre zuvor in einem Grenzboten-Artikel bemerkt. Kellers Roman bringt den Konstruktivitätscharakter des Naiven dadurch zur Anschauung, dass er es an die Wahrnehmung einer als sentimentalisch gekennzeichneten Figur bindet und als Erzählprodukt markiert. Die Figur des Vaters – der ohnehin nur „im Modus des Fehlens“¹²² präsent ist – tritt nicht in der diegetischen Gegenwart in Erscheinung, sondern ist Teil einer rückblickend erzählten Geschichte. Vor allem in der ersten Fassung tritt die temporale Kluft zwischen dem erzählenden Ich des Protagonisten und dem erzählten Vatersubjekt deutlich zutage. Der Vater figuriert als Protagonist der Geschichte, die Heinrich Lee „in jugendlicher Subjektivität und Schreibseligkeit während der letzten Zeit vor seiner Abreise niedergeschrieben hatte“¹²³, und wird damit zum Produkt einer Erzählung, die der Protagonist selbst als eine in der Vergangenheit aufgezeichnete Erinnerung rezipiert, was den Vergangenheitsindex des Vaters und die Konstruktivität seiner vorgeblichen Naivität in verstärkter Form zur Geltung bringt. Was durch den fiktionalen autobiographischen Modus vermittelt wird, erweist sich spätestens gegen Ende der Sequenz als Erzählung, die durch keine  Keller: Der grüne Heinrich, S. 71.  Julian Schmidt: Die Reaction in der deutschen Poesie. In: Die Grenzboten. Jg. 10, Bd. I (1851), S. 17– 25, hier S. 20.  Dreisbach, S. 126.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 56.

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authentische Erinnerung des erzählenden Subjekts gedeckt wird. Beim Tod des Vaters ist der Protagonist ein fünfjähriges Kind; das „Bild seines innern Wesens“¹²⁴, das im Laufe des Berichts entworfen worden ist, fußt zum einen auf den Vatergeschichten seiner melancholischen Mutter, zum anderen auf der dunklen „Ahnung“¹²⁵ des Erzählenden, der das porträtierte Subjekt de facto „nicht mehr gekannt [hat]“¹²⁶. Die Informationen, die in den vorhergehenden Passagen über den naiven Charakter Rudolf Lees vermittelt worden sind, bleiben damit unfundiert. Die Geschichte des Vaters wird als Wahrnehmungsprodukt des Sohnes entlarvt, die vermeintlich vormoderne Naivität als retrofiktionale Imagination herausgestellt. Parallel dazu wird dem elegischen Ton, den die sentimentalische Semantik evoziert hatte, ein Ende gesetzt. Mit dem plötzlichen Tod rückt die vermeintlich idealhafte Lebensart der Figur in ein ambivalentes Licht.¹²⁷ Aus dem „bewunderten Aufsteiger-Vater“, so Peter von Matt, wird ein „suizidale[r] Selbstausbeuter“¹²⁸. In der Tat sind es das „tätige Leben“¹²⁹ der Aufstiegsfigur und ihre mannigfaltigen Interessen, die letztlich ihren Tod bedingen: Er rechnete, spekulierte, schloß Verträge […], riß einem Arbeiter die Schaufel aus der Hand und tat einige gewichtige Würfe damit, […] und statt dann zu ruhen, hielt er am Abend in irgendeinem Verein einen lebhaften Vortrag oder war in später Nacht ganz umgewandelt auf den Brettern, leidenschaftlich erregt, mit hohen Idealen in einem mühsamen Ringen begriffen, welches ihn noch weit mehr anstrengen mußte, als die Tagesarbeit. Das Ende war, daß er plötzlich dahinstarb, als ein junger, blühender Mann, in einem Alter, wo andere ihre Lebensarbeit erst beginnen, mitten in seinen Entwürfen und Hoffnungen und ohne die neue Zeit aufgehen zu sehen, welcher er mit seinen Freunden zuversichtlich entgegenblickte. Er ließ seine Frau mit einem fünfjährigen Kinde allein zurück und dies Kind bin ich.¹³⁰

Indem der Roman den Tod der Figur und den Anbruch der ,neuen Zeit‘ in eine syntagmatische Nähe rückt und den Tod ausdrücklich als zeitliches Vorher markiert, versieht er die metonymische Funktion der Aufstiegsgeschichte mit einer symbolischen Dimension: Der Tod der Figur wird zum Zeichen einer zeitlichen Zäsur. Der bürgerliche Aufstiegsheld erweist sich als Repräsentant der ,alten Zeit‘, die von ihm verkörperte ,heile Ganzheit‘ als Element einer vormodernen Vergangenheit. Dagegen wird der Protagonist in der diegetischen Moderne situiert,  Keller: Der grüne Heinrich, S. 74.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 74.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 72.  Vgl. Eva Ritthaler: Ökonomische Bildung. Wirtschaft in deutschen Entwicklungsromanen von Goethe bis Heinrich Mann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017. S. 108.  Peter von Matt: Das Schicksal der Phantasie. München: Hanser, 1994. S. 205.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 67.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 71.

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was zum einen durch die unmittelbare Aufeinanderfolge der Referenz auf die ,neue Zeit‘ und der Selbstmarkierung des erzählenden Ichs, zum anderen durch den Tempuswechsel vom Präteritum ins Präsens akzentuiert wird. Mit dieser Differenzsetzung revitalisiert der Roman auf eine ambivalente Weise das Modernenarrativ, das die übrigen Passagen metaperspektivisch aufrufen. Einerseits wird die ,neue Zeit‘ mit einer pejorativen Konnotation belegt: In der modernen diegetischen Gegenwart scheint der Verwirklichungsraum totaler Individuen verlustig gegangen. Andererseits büßt die vermeintliche Naivität der Aufstiegsfigur ihren idealen Charakter ein. Das tätige Leben Rudolf Lees, das den Aufstieg ermöglicht und die ,vorsentimentalistische‘ Gesinnung der Figur zum Vorschein bringt, erweist sich als mutmaßliche Todesursache, das plötzliche Ende der Erfolgsgeschichte als Ausdruck einer „Überforderung des Individuums in dem hochdifferenzierten, sektorisierten System der modernen bürgerlichen Gesellschaft.“¹³¹ Die Geschichte des typisierten Selfmademans wird damit zu einer Überbürdungsgeschichte, die sich um Verausgabung und selbstzerstörerischen Krafteinsatz zentriert. Damit bekundet sich in Kellers Erzählung eine Verweisungslinie, die bis ins späte achtzehnte Jahrhundert zurückreicht. Indem die Erzählung die negativen Folgen einer übersteigerten Kraftmobilisierung zum Thema macht, bezieht sie implizit Stellung zu energetischen Steigerungsimperativen, wie sie im Kontext der materialistischen Anthropologie vielfach lanciert worden sind.¹³² In der 1775 erschienenen Abhandlung Stimmen des Layen von Jakob Michael Reinhold Lenz zum Beispiel wird die „Anstrengung und Erhebung aller in uns verborgenen Kräfte“ zum zentralen Wirkungsmerkmal ästhetischer Produkte erklärt.¹³³ Eine solche „Physik der Kräfte“¹³⁴ wird in Kellers Roman ad absurdum geführt. Die Mobilisierung der Kraft – das Kernmerkmal des Selfmademans – erscheint nicht als Weg zum Glück, sondern als Initialzündung einer immer weiter laufenden Verausgabung, die schließlich im Tod mündet. Mit dieser Wendung in ein Narrativ der Überbürdung weist die Geschichte Rudolf Lees auf eine Tendenz

 Ritthaler, S. 107 f.  Vgl. hierzu Lehmann: Leidenschaft und Sexualität.  Jakob Michael Reinhold Lenz: Meynungen eines Layen den Geistlichen zugeeignet: Stimmen des Layen auf dem letzten theologischen Reichstage im Jahr 1773. Leipzig: Weygandsche Buchhandlung, 1775. S. 116. Steigerungs- und Tätigkeitsimperative durchziehen Lenz’ Anthropologie und verbinden sie unter anderem mit dem kinetischen Materialismus von Helvétius, der in seiner 1772 im Nachlass erschienenen Abhandlung De l’homme festhält: „Le désir est le mouvement de l’âme; privée de désirs, elle est stagnante. Il faut désirer pour agir, et agir pour être heureux.“ Claude Adrien Helvétius: De l’homme, de ses facultés intellectuelles, et de son éducation. In: Œuvres complètes d’Helvétius. Bd. 2. Paris: Lepetit, 1818. S. 472.Vgl. dazu Lehmann: Leidenschaft und Sexualität, S. 181.  Lehmann: Leidenschaft und Sexualität, S. 185.

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voraus, die sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert auch in der biographischen Literatur um Franklin zeigt.¹³⁵ 1893 entwirft Jakob Brüschweiler in seiner Franklin-Biographie das Bild eines übereifrigen Geschäftsmannes, der sich keine „Ruhepausen“ gestattete, sondern dieselben „auf die lange Ruhe in der aus sechs Brettern gezimmerten Hütte“ aufzuschieben gedachte.¹³⁶ Franklin ist nicht mehr der ideale Bürger, dem die erstrebte Synthese gelingt und der sich damit „als Modell zur Lösung vorhandener Widersprüche“¹³⁷ funktionalisieren lässt, sondern er avanciert genauso wie die Vaterfigur in Kellers Roman zum Opfer einer Moderne, die den Einzelnen mit kaum einzulösenden Ansprüchen konfrontiert und ihm ein solches Maß an Kraft abfordert, dass darüber die harmonische Ganzheit zerstört wird.¹³⁸ Bezeichnenderweise wurde dem Einheitsideal schon in einer Franklin-Biographie, die fünf Jahre vor dem Grünen Heinrich erschienen ist, unterschwellig eine Absage erteilt.¹³⁹ In einem Franklin-Porträt von Karl Krug, das 1849 in der Sammelbiographie Die Männer des Volks erschienen ist, tritt an die Stelle der harmonischen Synthese eine lose Addition: An dem Jüngling gewinnt uns seine unbegränzte Wissbegierde, sein eiserner Fleiß und das Streben, durch denselben zur Unabhängigkeit zu gelangen. Die Tugenden der Mäßigung, Sparsamkeit und Thätigkeit, der Sinn für Freiheit und Wohlthun schmücken den Mann und den Bürger. Als Gelehrter und Philosoph widmete er alle seine Kräfte nicht nutzlosen Abstraktionen, sondern dachte nur daran, seine Kenntnisse und Erfahrungen zum Wohl der Gesammtheit anzuwenden. Als Gesetzgeber und Staatsmann wird er den spätesten Generationen noch als herrliches Vorbild leuchten; er trat aus der alten Bahn der Staatskünstler heraus, in der nur Willkür und Fürstenlaune das Geschick der Völker bestimmt hatten und führte in die frühe faule Ränke-Diplomatie die neuen gewichtigen Begriffe ein: Vernunft, Menschenrecht, Volkswille und Völkerglück.¹⁴⁰

Kellers Roman formuliert durch den Tod der Figur eine noch deutlichere Absage an das Synthesepostulat und spiegelt dabei auf Handlungs- und Figurenebene ein Kernprinzip seines Erzähldiskurses. Die Erzählung, die in ihrer „organisierte[n]

 Vgl. Denecke, S. 168.  Jakob Brüschweiler-Wilhelm: Benjamin Franklin. Lebensgeschichte eines Nordamerikaners. Stuttgart: Steinkopf, 1893. S. 58 f.  Denecke, S. 172.  Vgl. Denecke, S. 168.  Vgl. Denecke, S. 168.  Karl Krug: Benjamin Franklin. In: Duller, Eduard (Hrsg.): Die Männer des Volks. Bd. 7. Frankfurt a. M.: Johann Valentin Meidinger, 1849. S. 65 – 132, hier S. 126 f.

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Redevielfalt“¹⁴¹ in einen Dialog mit Ästhetik, Naturwissenschaft, Recht, Ökonomie und Psychologie tritt, ohne in den unterschiedlich codierten Aussagemengen einen übergeordneten Sinncode sichtbar zu machen, stellt damit auf Textebene¹⁴² dieselbe Diagnose an, die in der Geschichte Rudolf Lees narrativ ausagiert wird: Im Sozialsystem der Moderne „gibt es keine Instanz mehr, in der sich das ,Ganze‘ verkörpert“¹⁴³. Indem Kellers Roman das Ideal der Synthese auf diskursiver Ebene unterläuft, lässt er die Aufstiegsfigur Rudolf Lee als personifiziertes Korrelat seiner Gesamtstruktur erscheinen. Figuren- und Diskursebene werden in einen metonymischen Bezug gesetzt und durchkreuzen in ihrem Zusammenspiel ein zeitdiagnostisches Beschreibungsmuster: Der Fragmentarität der ,neuen Zeit‘ – illustriert durch das Fehlen eines Metacodes – wird keine idealisierte Vergangenheit gegenübergestellt, sondern der ,alten Zeit‘ selbst werden Ganzheit und Naivität abgesprochen. Die modernediagnostische Krisenbilanz wird damit universalisiert: Eine heile Ganzheit prägt weder die Erfahrungswelt der diegetischen Gegenwart noch die vermeintlich vormoderne Vergangenheit. Die symbolische Funktion der Figur wird hier zu einer antizipatorischen. Das konfliktfreie Verhältnis von Individuum und Außenwelt wird gleich zu Beginn als problematisch dargestellt, die Durchführbarkeit des vom Vater repräsentierten Lebensmodells in der ,neuen Zeit‘ infrage gestellt. Die im weiteren Verlauf geschilderte Geschichte des Protagonisten kann folglich weder die eines Aufstiegs noch die eines gelungenen Bildungswegs sein – beide Modelle lässt der Tod des Vaters zum einen als selbstzerstörerisch, zum anderen als anachronistisch erscheinen.¹⁴⁴ So kündigt sich bereits in der Vaterepisode der „resignative Grundton“¹⁴⁵ an, der durch die scheiternde Bildungsgeschichte Heinrichs noch verstärkt wird.¹⁴⁶  Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller „Der grüne Heinrich“ (Erste Fassung; 1854/55). München: Fink, 1993. S. 13.  Der Begriff ,Textebene‘ wird an dieser Stelle und im Folgenden als komplementärer Gegenpol zum Begriff ,Darstellungsebene‘ verwendet, wobei der Gegensatz von Darstellungs- und Textebene dem Gegensatz von histoire und discours entspricht. Vgl. zu dieser Begrifflichkeit Rakow, S. 99.  Rohe, S. 151.  Christian Rakow kommt zu einem ähnlichen Schluss: „Die Erfüllung des vom Vater vorgelebten Bürgerlichkeitsideals (fruchtbare Ehe, beruflicher Erfolg mit Kapitalbildung, soziales Engagement, Kunstinteresse) und damit ein pyramidaler Handlungsaufbau nach dem Modell des klassischen Bildungsromans war bereits in der ersten Fassung von 1854/55 obsolet geworden.“ Rakow, S. 166 f.  Vgl. Ritthaler, S. 123.  Die ganzheitliche Bildung und harmonische Verbindung von individueller Selbstverwirklichung und altruistischen Wirtschaftspraktiken, die seinem Vater zumindest kurzweilig erfahrbar wurden, werden dem Protagonisten, in dessen Lebensgeschichte eine „Subversion neuhumanistischer Individualitätsvorstellungen“ zutage tritt, gänzlich verwehrt. Vgl. Beatrice Mall-Grob:

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Dass der Erzählsequenz um Rudolf Lee eine antizipatorische Funktion innewohnt, zeigt sich auch in ihrer strukturellen Anlage. Zwar werden sowohl das herkömmliche telos des Bildungsromans, die Synthese von Ich und Welt, als auch das telos der Aufstiegsnarration eingelöst, doch koppelt sich diese Realisierung an eine Wendung ins Tragische, die den teleologischen Gehalt unterbindet. Ebenso wie die verfehlte Laufbahn des Sohnes strebt der gelungene Lebensentwurf des Vaters dem Tod entgegen und markiert damit proleptisch den „Endpunkt der Narration, auf den ein Großteil des geschilderten Geschehens zuläuft und der wiederum den Verlauf des Geschehens bestimmt.“¹⁴⁷ Der von Vischer kritisierte „abreißende Schluss“¹⁴⁸ des Romans wird insofern durch die Aufstiegsnarration vorgezeichnet. Als gleichsam modellbildendes Element der Gesamtstruktur lässt die Aufstiegsgeschichte die zyklische Organisation der Erzählung sichtbar werden. In ihrer präfigurativen Funktion formuliert die Geschichte des Vaters eine Absage an die Modelle der Aufstiegs- und Bildungsgeschichte, deren teleologischen Erzählsubstraten der Romanauftakt die letzte Ehre erweist, bevor er sie mit einem semi-sentimentalischen Unterton der Vergangenheit anheimgibt und im weiteren Verlauf zur Demontage funktionalisiert. Die poetologische Bedeutungsebene, die sich hier andeutet, verfestigt sich dadurch, dass die Figur immer wieder in literaturgeschichtliche Kontexte gestellt wird. Die Hinwendung zum „Guten und Schönen“, zu „Bildung und Menschenwürde“ und „Fragen schönerer Menschlichkeit“ assoziiert Rudolf Lee mit aufklärerisch-humanistisch geprägten Idealvorstellungen.¹⁴⁹ Auch der philhellenische Enthusiasmus der Figur und des von ihr gegründeten Bürgerkreises, der darin herrschende „kosmopolitische[] Schwung“¹⁵⁰ sowie die Affinität zu Schillers Geschichts- und Dramenwerk lokalisieren die Figur in einem klassisch-idealistischen Paradigma. Deutlich zeigt sich hier der Konnex von Metapoetik und Zeitbilanz. Mit dem Tod der Figur wird aus ihrer poetologischen Konnotation eine literaturhistorische Selbstverortung: Das Projekt der Weimarer Klassik ist zum Ende gekommen; in der angebrochenen ,neuen Zeit‘ ist der Realisierungsraum für Humanitäts- und Bildungsideale ver-

Fiktion des Anfangs. Literarische Kindheitsmodelle bei Jean Paul und Adalbert Stifter. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 1999. S. 309.  Philip Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literarischen Realismus: Friedrich Theodor Vischer und Gottfried Keller. Berlin: de Gruyter, 2007. S. 273.  Friedrich Theodor Vischer. Gottfried Keller. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung. Nr. 203 (22.07.1874), S. 3173 – 1375, hier S. 3173.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 68.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 69.

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lustig gegangen. Durch die Selbstdarstellung des Protagonisten, der „mit Sehnsucht und Heimweh nach [s]einem Vater erfüllt“¹⁵¹ ist, und sich, „von einem heiligen Schauer durchweht“¹⁵², die Rückkehr des Vaters erträumt, wird die Epoche der Klassik als unwiederbringliches Früher markiert, das in der ,neuen Zeit‘ nurmehr sentimentalisch erfasst werden kann. Mit dieser metapoetischen Gegenwartsbilanz deutet sich in dem Roman eine ähnliche Verabschiedung vom humanistisch-idealistischen Dispositiv an, wie sie Keller vier Jahre zuvor in einem Brief an Hermann Hettner vorgenommen hat: Bei aller inneren Wahrheit reichen für unser jetziges Bedürfnis, für den heutigen Gesichtskreis, unsere alten klassischen Dokumente nicht mehr aus […]. Es verhält sich ja ebenso mit den Meisterdichtungen Goethes und Schillers; es ist der wunderliche Fall eingetreten, wo wir jene klassischen Muster auch nicht annähernd erreicht oder glücklich nachgeahmt haben und doch nicht mehr nach ihnen zurück, sondern nach dem unbekannten Neuen streben müssen, das uns so viele Geburtsschmerzen macht.¹⁵³

Der poetologische Gehalt, den die Geschichte Rudolf Lees entfaltet, nimmt noch weitere Dimensionen an. Der Nexus zwischen Vater- und Sohnfigur verändert das an Franklin angelehnte selfmade-Ideal auch in seinem poetologischen Bedeutungskern. Die Wirtschaftsweise Rudolf Lees, der von einem Akkumulationsethos auf Kapitalinvestitionen umstellt und spekuliert, birgt einen ästhetischen Reflexionsgehalt in sich. Sie fügt sich ein in eine metasemiotische krypto-histoire, in deren Verlauf der Roman den Wert, die Voraussetzungen und Konsequenzen ungedeckter Zeichenbildungen thematisch macht. Das Geflecht von Schulden, in das sich das Unternehmen verstrickt,¹⁵⁴ präfiguriert das arbiträre und dereferenzialisierte „Gewebe von Federstrichen“¹⁵⁵, das der Protagonist später entwirft und vom Maler Erikson als ästhetische Programmbekundung gedeutet wird. Die vielbeforschte „kolossale[] Kritzelei“¹⁵⁶ ist das Produkt einer gegenstandslosen und zeichenautonomen Formkonstitution, die sich nicht der Illusion eines transzendenten Referenten hingibt. Zwar wird die malerische Tätigkeit durch die Netzund Spinnensemantik mit der Arbeit der Mutter korreliert, doch führt ein zweiter Verweisungsstrang zum Vater. Diese Bezugslinie ergibt sich aus einer wechselseitigen Zusammenführung. Zum einen spiegelt sich im Produktionsprozess und

 Keller: Der grüne Heinrich, S. 72.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 74.  Gottfried Keller: Brief vom 4. März 1851. In: Helbling, Carl (Hrsg.): Gesammelte Briefe. Bd. 1. Bern: Bentelli, 1950. S. 351– 358, hier S. 353.  Vgl. Graef, S. 23.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 656.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 656.

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in der Deutung des Bildes durch Erikson dieselbe arbeitsethische Semantik, die in der Aufstiegsgeschichte Rudolf Lees aufgerufen wird. Betont werden die „Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit“ sowie der „Fleiß und Scharfsinn“, den der Protagonist zur Ausarbeitung aufgebracht hat.¹⁵⁷ Zum anderen nehmen die ökonomischen Tätigkeiten Rudolf Lees vorweg, was in der metapoetisch angelegten Spinnennetz-Episode ästhetisch codiert wird: Die Spekulationen stoßen eine ungedeckte Wertsetzung an, die in der Rede Eriksons in einer Abstraktionsästhetik mündet.¹⁵⁸ Die Substitution des Absenten durch verselbstständigte Zeichen ohne Referenz wird dabei zum Gegenstand der Persiflage. Das verworrene Linienkonglomerat des Protagonisten, das keinen „Stützpunkt“ hat, „herab[zu]sinken“ droht und auf diese Weise – so die Deutung Eriksons – die „abscheulichste Realität“ repräsentiert,¹⁵⁹ bildet das ästhetische Pendant zum spekulativen ,Machwerk‘ Rudolf Lees, das nach dessen Tod zusammenbricht. Auch das an Feuerbachs Religionsphilosophie angelehnte Motiv der creatio ex nihilo,¹⁶⁰ das die Figur zur Beschreibung der Linien aufruft, findet sich in der Episode um Rudolf Lee. Nicht nur die Spekulationsgeschäfte signalisieren eine ökonomisch praktizierte Schöpfung aus dem Nichts. Handlungsstruktur und Figurenzeichnung, die den durch Franklin popularisierten selfmade-Topos literarisieren, speisen sich aus derselben Figur: Der Selfmademan Rudolf Lee begründet seine wirtschaftliche Existenz ex nihilo. Der Konnex, der das referenzlose Gekritzel Heinrich Lees mit der ungedeckten Wertschöpfung seines Vaters verbindet, markiert einen Schnittpunkt zwischen den Sphären des Ästhetischen und Ökonomischen, in dessen Zeichen auch die Figur des Vaters – der fiktionalisierte Franklin-Nachfolger – zu einer Verkörperung gesellschaftlicher Abstraktionsprozesse avanciert.¹⁶¹ Diese Funktion verstärkt sich durch metasemiotisch lesbare Absenzmarkierungen. Rudolf Lee, der von einem retrospektiv geschilderten Akteur und Erinnerungskonstrukt zu einer stilisierten Vorbildfigur und schließlich zur Allegorie wird, bleibt damit stets ein Signifikant ohne Realitätskorrelat.¹⁶² Nach seinem Tod wird er zum Objekt fiktionsimmanenter Semiosen, allen voran farbsemantischer Metonymisierungen, die die Absenz des Signifikats durch Substitution zu tilgen suchen: In der diegetischen Gegenwart bleibt die Figur unter anderem im Spitznamen Heinrich Lees

 Keller: Der grüne Heinrich, S. 656.  Vgl. Caroline Torra-Mattenklott: Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry. Paderborn: Fink, 2016. S. 180 – 189.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 658.  Vgl. Torra-Mattenklott, S. 183 f.  Vgl. Torra-Mattenklott, S. 180 und 187 f.  Vgl. Brock, S. 136.

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und in der grünen Farbe der Joppe präsent und wird so zu einem substitutiven Zeichenprodukt. Die Figur, die auf semantisch-narrativer Ebene eine letztendlich scheiternde Synthese von Ideal und Wirklichkeit verkörpert, wird damit zur Initiatorin semiotischer Prozesse, die unweigerlich die Diskrepanz von diegetischer Wirklichkeit und Ideal markieren. Dass der Roman die in den Franklin-Biographien wurzelnde Deutungslinie, die im Typus des Selfmademans den Inbegriff eines harmonischen Individuumund-Außenwelt-Verhältnisses sieht, durchbricht, zeigt sich auch in der zweiten Aufstiegsgeschichte, die der Roman entwirft. Ein Lackierergeselle, der am selben Tag wie Heinrich Lee in die Fremde zieht, erscheint wie Rudolf Lee als Selfmademan und Gegenpol zum ökonomisch scheiternden Protagonisten.¹⁶³ Während Heinrich Lee die ökonomische Existenzsicherung verwehrt bleibt, gelingen dem Handwerkergesellen ein sozialer Aufstieg und eine exemplarische bürgerliche Lebensführung. Bei der Wiederbegegnung mit dem Protagonisten propagiert die Figur selbstgefällig eine an Franklin anschließende Selbsthilfelehre: Unsereines hat wohl auch allerlei Strapazen auf der Wanderschaft durchzumachen oder als Anfänger harte Zeit zu erleben; allein mit der Arbeit können wir, wenn wir nur wollen, uns jederzeit helfen, und unsere Hände sind immer so gut wie bares Geld oder gebackenes Brot und für jede Stunde eine unmittelbare Selbsthülfe, während es bei Ihnen dazu noch gutes Glück und allerlei Unerhörtes braucht, wovon ich nichts verstehe.¹⁶⁴

Mit der Absetzung vom Typus ,Künstler‘ kehren sich die Ideen der Ganzheit und Synthese um. Der Typus des Selfmademans ist nicht mehr der exemplarische uomo universale, sondern ein von Selbstinteresse geleiteter homo oeconomicus: Sich in seinem einfachen Handwerk beschränkend und nichts anderes kennend, als die unermüdete Nutzanwendung seiner fleißigen und geschickten Hand, jeden Vorteil für dieselbe ersehend und die Augen überall aufmachend, aber nur auf ein und denselben Gegenstand gerichtet und aller Orten nur diesen sehend, war er nach wenigen Jahren als ein wohlgeschulter und entschlossener junger Mann zurückgekehrt und begann die Gründung seines Hauses […].¹⁶⁵

Die ökonomische Rationalität, die den Aufstieg der Figur bedingt, lässt einmal mehr die zeitdiagnostische Funktion hervortreten, die dem Selfmademan bei Keller zukommt. Metonymisch steht der an Franklin angelehnte Figurentypus für die diagnostizierten Defizite der Moderne. Während sich im Handwerkergesellen

 Vgl. Rohe, S. 206.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 756.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 754.

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das Bild der Vereinseitigung des modernen Individuums artikuliert, wird mit Rudolf Lee die Abstraktion moderner ökonomischer Verhältnisse taxiert. In beiden Fällen zersetzt sich nicht nur der normativ-affirmative Unterbau des selfmadeNarrativs, sondern auch die textuelle Präsenz der Figuren. Während Rudolf Lee nur erinnerungsgebunden präsent ist, agiert der namenlos bleibende Nachbarssohn als Randfigur, deren Aufstiegsweg retrospektiv und in nuce umrissen wird, ohne eine detaillierte Ausgestaltung zu erfahren. Der Selfmademan, so lässt sich festhalten, ist nicht mehr Ausdruck einer subjektivationszentrierten Normsetzung, wie es bei Gotthelf der Fall gewesen war, sondern Gegenstand einer problematisierenden Reflexion, die über mehrere Ebenen verläuft. Auf einer subjektbezogenen Erzählebene werden die Verausgabung und Fragmentarität des männlichen Subjekts thematisch, auf einer poetologischen und historisierenden Reflexionsebene das Vergangensein der Goethezeit, auf einer modernediagnostischen Bezugsebene die Differenz zwischen der ,alten‘ und der ,neuen Zeit‘ und der Konstruktcharakter dieser Differenzsetzung.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag) Fast zeitgleich mit dem Grünen Heinrich ist mit Freytags Soll und Haben (1855) ein Roman erschienen, den die Realismusforschung immer wieder als Gegenpol zu Kellers Roman bezeichnet hat.¹⁶⁶ Kellers polyperspektivischer Narrationsform steht eine Monoperspektive gegenüber, Ambivalenzen weichen einer SchwarzWeiß-Zeichnung, aus Polysemie wird eine programmatische Ausschließlichkeit.¹⁶⁷ Den strukturellen Differenzen korrespondiert eine signifikante Verschiebung auf narrativer Ebene: Der Typus des Selfmademans wird bei Freytag zum Handlungsträger und als „normativer gesellschaftlicher Typus“¹⁶⁸ markiert. Entworfen wird ein Prototyp des bürgerlichen Individuums, das „durch seine Tüchtigkeit und Tu-

 Für einen ausführlichen Vergleich der Romane vgl. Rohe, S. 202– 207.  Laut Viktor Žmegač gibt es im neunzehnten Jahrhundert „kaum einen programmatischen Text, der […] derartig strikt auf Ausschließlichkeit besteht.“ Viktor Žmegač: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik. Tübingen: Niemeyer, 1991. S. 172. Auf die Ausschließlichkeitsthese verweist auch Karolina Brock, die zudem auf die Differenzen des Romans zum Grünen Heinrich eingeht. Vgl. Brock, S. 125 – 134.  Agethen, S. 92.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

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gendhaftigkeit vom Kleinbürger zum großbürgerlichen Kaufmann“¹⁶⁹ avanciert. Ähnlich wie der Protagonist bei Gotthelf agiert Anton Wohlfart als Modellfigur, an der das Arsenal bürgerlicher Verhaltensmaximen durchdekliniert wird. Die dargestellte „Psychogenese von ,Bürgerlichkeit‘“¹⁷⁰ gründet sich indes bei Freytag auf einem komplexen semantischen Oppositionssystem, in dem sich verschiedene Codierungen verschränken. Im Zentrum steht die soziale Opposition von Bürger*innentum und Aristokratie, der die Polarisierung von produktiver Arbeit und Leistung auf der einen, Repräsentation und Genealogiedenken auf der anderen Seite zugrunde liegt. An diese Opposition koppeln sich die temporale Differenzsetzung von Gegenwartsprimat und Vergangenheitsbezug, die zeitdiagnostische Entgegensetzung von Zukunftsfähigkeit und Obsoletheit, die schließlich mit einer poetologischen Dichotomisierung von realistischer und romantischer Weltsicht kurzgeschlossen wird. Narrativ entfaltet werden diese Oppositionen durch komplementär angelegte Aufstiegs- und Fallszenarien. Die kontrastiv angeordneten Figurengruppen erfahren je nach ihrer ökonomischen Gesinnung, Zeitkonzeptualisierung und Weltsicht einen Aufstieg oder Untergang, sodass die ihnen zugeordneten Haltungen als zukunftsfähig oder degenerativ, nachahmenswürdig oder verurteilenswert inszeniert werden. Durch die Aufstiegserzählung wird das bürgerliche Denksystem des Protagonisten narrativ belohnt, wohingegen das Untergangsnarrativ eine Reihe von „Reinigungsakten“ in Gang setzt, in deren Folge sich der Roman sämtlicher unbürgerlicher Handlungsträger*innen entledigt.¹⁷¹ Aufstiegs- und Untergangssujet stehen dabei in einem engen Bezug zur normativen Erzählanlage des Romans, dessen Kernanliegen darin besteht, dem Publikum ein nachvollziehbares, sozialökonomisch und nationalpolitisch attraktives Programm mit[zu]liefern, nach dem zu leben und zu arbeiten überdies persönlichen Erfolg verspricht.¹⁷²

 Stefan Neuhaus: Soll und Haben: Literarisches und ökonomisches Feld im 19. Jahrhundert. In: Klettenhammer, Sieglinde (Hrsg.): Literatur und Ökonomie. Innsbruck: Studienverlag, 2010. S. 90 – 109, hier S. 104.  Wolfgang Lukas: ,Weiblicher‘ Bürger vs. ,männliche‘ Aristokratin. Der Konflikt der Geschlechter und der Stände in der Erzählliteratur des Vor- und Nachmärz. In: Frank, Gustav; Kopp, Detlev (Hrsg.): „Emancipation des Fleisches“. Erotik und Sexualität im Vormärz. Bielefeld: Aisthesis, 1999. S. 223 – 260, hier S. 224.  Vgl. Charbon, S. 141.  Petra Weser-Bissé: Arbeitscredo und Bürgersinn. Das Motiv der Lebensarbeit in Werken von Gustav Freytag, Otto Ludwig, Gottfried Keller und Theodor Storm. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. S. 28.

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

Es zeigt sich hier wie schon bei Gotthelf und Keller eine Verbindungslinie zur Lebensgeschichte Franklins, wie sie zeitgleich in der biographischen Literatur grassiert. In einem 1850 erschienenen Franklin-Porträt schreibt Carl G. Schmaltz: An diesem Manne erkennet ein Jeder, […] daß man auch bei wenig günstigen äußern Umständen, ohne besonders vom Glück aufgesucht zu werden, sich emporzubringen vermag, wenn er wie Franklin unermüdet thätig ist, seine Kenntnisse fort und fort zu vermehren ernstlich bemüht bleibt, Lebensklugheit sich erwirbt und strenge Rechtschaffenheit zu seinem Begleiter durch’s Leben macht […].¹⁷³

Die Vorstellung, dass der von Franklin realisierte Weg zum Erfolg wiederholbar sei und nachgeahmt werden könne, lässt sich in Bezug zu Soll und Haben setzen. Wie Franklins Autobiographie selbst lässt Freytags Roman den Erfolg als ein realisierbares und zur Umsetzung anempfohlenes telos erscheinen, das durch Fleiß und Arbeit herbeigeführt werden kann.¹⁷⁴ Diese suggerierte Selbstverantwortung reduziert die Abstraktheit der modernen Wirtschaftswelt auf das bürgerliche oder unbürgerliche Arbeitsethos autonom handelnder Individuen.¹⁷⁵ Auf einer strukturellen Ebene bestätigt die Aufstiegsnarration damit, was der Protagonist an einer Stelle explizit macht: „[D]er ganze Handel ist doch […] sehr auf die Redlichkeit anderer und auf die Güte der menschlichen Natur berechnet […].“¹⁷⁶ Ökonomische Prozesse erscheinen als kausale Folgen von Verhaltensweisen, die je nach ethischer Gesinnung der Akteure Erfolg erzielen oder zum Untergang führen. Die vorgeblich modernetypische Ohnmacht gegenüber wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bestimmtheiten und Zwängen verwandelt sich damit in eine bewusste Handlungsmacht und unaufhebbare Entscheidungsfreiheit.¹⁷⁷ Es zeigt sich hier eine zentrale Funktion, die das selfmade-Narrativ in Freytags Ro-

 Carl G. Schmaltz: Das Leben Benjamin Franklin’s. Für Jung und Alt in allen Ständen. 2. Auflage. Leipzig: C. Schmaltz, 1850. S. 3. Dieselbe Passage findet sich auch in dem drei Jahre zuvor erschienenen Sammelband Der deutsche Bürgerfreund: Ein Hausbuch zur Beförderung bürgerlicher Bildung, des Familienglückes, des Gewerbefleisses und Wohlstandes in Stadt und Dorf. Nach den besten alten und neuen Quellen bearbeitet von einem Vereine deutscher Gelehrten, Oekonomen und Geschäftsmänner. Lindau: Johann Thomas Stettner, 1847. S. 232.  Vgl. dazu Brock, S. 131.  Vgl. Rohe, S. 205. Auch Christine Achinger weist darauf hin, dass Soll und Haben narrativ das ohnmächtige Subjekt „in einen souveränen, nach moralischen Grundsätzen handelnden Akteur zurückzuverwandeln“ sucht. Vgl. Achinger: Gespaltene Moderne, S. 58.  Freytag: Soll und Haben, S. 240.  Vgl. Christine Achinger: Antisemitismus und „Deutsche Arbeit“ – Zur Selbstzerstörung des Liberalismus bei Gustav Freytag. In: Berg, Nicolas (Hrsg.): Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen. Leipzig: Universitätsverlag, 2011. S. 361– 388, hier S. 373.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

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man erfüllt. Was das selfmade-Sujet im Einklang mit der Figurenrede Anton Wohlfarts nahelegt, basiert auf einem komplexitätsreduzierenden Synthese-Ideal: An die Stelle des Hiatus zwischen Individuum und ökonomischer Moderne rückt eine programmatische Versöhnung.¹⁷⁸ In der dargestellten Welt kann der Einzelne den Gang des Wirtschaftslebens mitbestimmen und sein individuelles Streben realisieren. Das Narrationsmuster des Aufstiegs lässt sich damit als Verfahren beschreiben, durch das der Roman das Schlüsselproblem des realistischen Erzählprogramms, die Vereinigung von ,Poesie‘ und ,Prosa‘, tentativ behebt.¹⁷⁹ Indem die Aufstiegsnarration die ökonomische Moderne als ,grüne Stelle‘ im Sinne Vischers markiert, stellt sie der Polarität zwischen dem Idealen und dem Realen ein Alternativmodell entgegen. Diese Problemlösungsfunktion hat auch eine gattungsbezogene Komponente. Wenn das Aufstiegssujet eine Synthese von ,Poesie‘ und ,Prosa‘ evoziert, so negiert es das Theorem der Entzweiung, das spätestens seit Hegel als Grundcharakteristikum des Bildungsromans gilt und in den Grenzboten immer wieder als Defizit der Subgattung gebrandmarkt worden ist. So hat Julian Schmidt vier Jahre vor dem Erscheinen von Soll und Haben die vorgeblich bildungsromantypische Opposition von Ideal und Wirklichkeit als pathologisch ausgewiesen: „Solange man eine unendliche Kluft zwischen dem Wirklichen und dem Möglichen zu finden glaubt, und in das Mögliche das Ideal legt, ist die Kunst krank.“¹⁸⁰ In Freytags Roman stellt das selfmade-Sujet, das die ökonomische Sphäre als Realisierungsraum individueller Ziele präsentiert, der von Schmidt diskreditierten

 Vgl. Brock, S. 132. Es ist dasselbe Verfahren, das in der verklärenden Warenpoetik des Romans zutage tritt. Die Inszenierung der Güter als Zeichen einer praktisch tätigen Kooperationskette lässt den kapitalistischen Warenverkehr als weltumspannende communitas erscheinen, in der frei interagierende Individuen gemeinsam an bedarfsdeckenden Produktionsprozessen teilhaben.Vgl. Christine Achinger: „Prosa der Verhältnisse“ und Poesie der Ware: Versöhnte Moderne und Realismus in Soll und Haben. In: Krobb, Florian (Hrsg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman.Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 67– 86, hier S. 71.  Die Verbindungslinie von Aufstiegsnarration, ökonomischer Modellbildung und Verklärungsästhetik lässt ein typisches Merkmal des realistischen Referenzsystems hervortreten. Erzählgehalte, die realistische Texte mit anderen Kommunikationssystemen – insbesondere der Nationalökonomie – verbinden, erscheinen als Umsetzungen genuin poetologischer und damit binnensystemischer Forderungen. Die Systemreferenzialität des Realismus wird damit von einer markierten Selbstbezüglichkeit überlagert. Insofern ist die vorgebliche „,Diskursarmut‘“ (Rakow, S. 6) des Realismus nicht auf ausbleibende interdiskursive Verweisungslinien zurückzuführen – die ohnehin die literarische Realitätskonstruktion allererst fundamentieren –, sondern auf eine referenzielle Ummünzungs- und Überdeckungsstrategie, in deren Rahmen fremdreferenzielle Verweisungen in selbstreferenzielle Erzählkonfigurationen überführt werden.  Schmidt: Die Reaction in der deutschen Poesie, S. 24.

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Differenzsetzung von Ideal und Wirklichkeit ebenjene Synthese entgegen, die Schmidt zum Remedium gegen die „Einseitigkeit und Schwarzsichtigkeit“ der „neuen Poesie“ deklariert.¹⁸¹ Das selfmade-Sujet bildet folglich die narrative Grundlage für eine strategische (Selbst‐)Positionierung des Romans: Die Erzählung, die Individuum und Außenwelt als versöhnt erscheinen lässt, kann damit inszeniert werden als „harmonische Lösung eines der Kunst wesentlich angehörigen Problems“¹⁸², wie es Julian Schmidt 1855 formuliert.¹⁸³ Während die bisherige Literaturproduktion daran gescheitert sei, „in die sittlichen Mächte der Wirklichkeit“ einzudringen, und die poesiefähige Substanz der modernen Welt verkenne, werde diese Aufgabe in Soll und Haben erfüllt.¹⁸⁴ Schmidts Lesart bringt zwar den poetologischen Unterbau der Erzählung auf den Punkt, verschweigt aber logischerweise dessen zentrale Bedingungen und Kehrseiten. Nicht jeder Figur ist ein produktives und konfliktfreies Verhältnis zur Außenwelt vergönnt. Hinter der verklärenden Modellbildung verbergen sich eine Ausschlusslogik und Warngeste, in denen sich temporale und kraftbezogene Normsetzungen sowie soziale Codierungen verschränken. Im tragischen Fall des Freiherrn von Rothsattel nimmt diese Warnung konkrete Gestalt an. Was den Freiherrn von Anton Wohlfart unterscheidet, ist vor allem ein als ,unbürgerlich‘ markiertes Zeitdenken. Zunächst wird der Figur eine Zeiterfahrung zugeschrieben, die einen deutlichen Modernitätsindex trägt. Durchaus ist es dem Freiherrn bewusst, dass die Zukunft anders aussehen kann als Gegenwart und Vergangenheit, und dass sein aristokratisches Gut mitnichten für alle Zeit gesichert ist: An seinem Großvater war die trübe Erfahrung gemacht worden, daß ein einziger ungeordneter Geist hinreicht, das auseinander zu streuen, was emsige Vorfahren an Goldkörnern und Ehren für ihre Nachkommen gesammelt haben.¹⁸⁵

Den Freiherrn kennzeichnet also ein Zeitbewusstsein, das nur insofern auf Prognostizierbarkeit und Kontinuität setzt, als von einer Diskontinuität und Offenheit der Zukunft ausgegangen wird. Was die Figur nun von Beginn an antreibt, ist das Ziel, diese Zukunftsoffenheit einzudämmen: „Er hätte […] gern sein Haus für alle Zukunft vor dem Herunterkommen gesichert […].“¹⁸⁶ Der Fehler des Freiherrn, der

 Schmidt: Die Reaction in der deutschen Poesie, S. 25.  Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Literatur im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 3: Die Gegenwart. 2. Auflage. Leipzig: Friedrich Ludwig Herbig, 1855. S. 362.  Vgl. hierzu Böttcher: Die Poesie des Prosaischen, S. 177 f.  Böttcher: Die Poesie des Prosaischen, S. 177 f.  Freytag: Soll und Haben, S. 23 f.  Freytag: Soll und Haben, S. 24.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

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den Untergang herbeiführt, besteht in der Art und Weise, in der er der Unkalkulierbarkeit der Zukunft entgegenzuwirken sucht: den Spekulationsgeschäften. Die Spekulationen laufen dem Überzeitlichkeitsideal auf semiotischer Ebene entgegen. Indem der Freiherr vom Weg der Warenzirkulation durch Arbeit abkommt und sich auf kreditwirtschaftliche Unternehmen einlässt, tritt eine temporalisierte Selbstreferenz zutage, die in ihrer Abkehr von materiellen Referenzen auch den Bereich des Gegenwärtigen aus dem Blick verliert.¹⁸⁷ Der Versuch einer Kontinuitätsstiftung via Spekulation scheint durch diese zeitliche Inkompatibilität von vornherein zum Scheitern verurteilt. Anhand von Anton Wohlfart wird diesem ,falschen‘ Weg ein erfolggekrönter bürgerlicher Weg entgegengestellt. Dieser geht keineswegs mit einer Aufgabe des Kontinuitätsideals einher. Wie aus der Rede Schröters hervorgeht, beruht auch das bürgerliche Selbstverständnis auf einem genealogischen Kontinuitäts- und Traditionsdenken: [J]edermann wird es für vorteilhaft halten, wenn die Kultur desselben Bodens vom Vater auf den Sohn übergeht, weil so die Kräfte des Adels am ersten liebevoll und planmäßig gesteigert werden. Wir schätzen ein Möbel, das unsere Vorfahren benutzt haben, und Sabine wird Ihnen mit Stolz jeden Raum dieses Hauses aufschließen, zu dem schon ihre Urgroßmutter die Schlüssel getragen hat.¹⁸⁸

In ihrer emphatischen Bezugnahme auf Erbschaft, Überlieferung und Tradition lässt die Rede hervortreten, was Matthias Agethen zufolge die „Schlüssellogik“ des realistischen Erzähldispositivs ausmacht.¹⁸⁹ Dass Freytags Roman dieses Kontinuitätsdenken einem Träger bürgerlicher Normvorstellungen zuschreibt, mag zunächst paradox anmuten. Durch Schröters Genealogie-Emphase scheint

 Vgl. Lemke, S. 262– 265.  Freytag: Soll und Haben, S. 486.  Agethen, S. 94. Folgt man Agethen, so nähert sich der Realismus in seinen Tradierungs- und Kontinuitätsemphasen der Historischen Schule der Nationalökonomie, wo Kontinuität und Überlieferung gleichermaßen temporale Leitkategorien bilden. Vgl. Agethen, S. 94 f. So schreibt etwa Friedrich List in seiner 1841 erschienenen Abhandlung Das nationale System der politischen Oekonomie: „Der jetzige Zustand der Nationen ist eine Folge der Anhäufung aller Entdeckungen, Erfindungen, Verbesserungen, Vervollkommnungen und Anstrengungen aller Generationen, die vor uns gelebt haben; sie bilden das geistige Capital der lebenden Menschheit, und jede einzelne Nation ist nur productiv, in dem Verhältniß in welchem sie diese Errungenschaft früherer Generationen in sich aufzunehmen und sie durch eigene Erwerbungen zu vermehren gewußt hat […].“ Friedrich List: Das nationale System der politischen Oekonomie. Bd. 1. Stuttgart/Tübingen: Cotta’scher Verlag, 1841. S. 210. Ähnlich wie Schröter geht folglich List von einem Konservierungsund Transferprozess aus, der verschiedene Generationen und damit auch verschiedene Zeitabschnitte in eine kohärente Verbindung bringt.

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seine Selbstabgrenzung von der Aristokratie kontradiktorisch. Gleichwohl zieht der Roman eine deutliche Grenze zwischen bürgerlichen und aristokratischen Zeitwahrnehmungen. Die Kontinuität des bürgerlichen oikos wird über produktive Kraftmobilisierung erzielt und damit über jene selbstreferenzielle und gegenwartsbezogene Lebensführung, die der Freiherr mit Widerstreben abwägt: Und er empfand mit Schmerz, daß sein altes Geschlecht in der nächsten Generation in dieselbe Lage kommen werde, in der die Kinder eines Beamten oder eines Krämers sind, in die unbequeme Lage, sich durch eigene Anstrengung eine mäßige Existenz schaffen zu müssen.¹⁹⁰

Es zeigt sich hier ein enger Konnex zwischen der modellierten Zeitlichkeit und dem propagierten bürgerlichen Normsystem: Es sind temporale Denkfiguren, die die Fehde gegen die Aristokratie und die laudatio auf das Bürger*innentum fundieren.¹⁹¹ Im Gegensatz zur Aristokratie stiftet das Bürger*innentum Kontinuität durch eine synthetische Zeitkonzeptualisierung. Mit dem Appell zur Mobilisierung der eigenen Kraft werden Gegenwart und Zukunft aus dem Horizont der Vergangenheit herausgelöst und zugleich in ein Kontinuum eingewoben: Durch die stetige, von jeder Generation neu zu erbringende Kraftmobilisierung ist der Bestand des bürgerlichen oikos langfristig gesichert. Die oikonomische Gemeinschaft wird damit zum Schauplatz ebenjener Kontinuität, die der aristokratischen Institution verloren geht. Es zeigt sich hier eine Verbindungslinie zwischen Freytags Roman und Wilhelm Heinrich Riehls Abhandlung Die Familie (1854).¹⁹² Auch bei Riehl figuriert das ,ganze Haus‘ als Ort, an dem die drei Zeithorizonte verschmelzen: Und zwar wird ‚das Haus’ hier nicht blos gedacht als die gegenwärtige Generation, sondern die große historische Kette unserer Familie in Vergangenheit und Zukunft ist es, vor deren Glanz und Macht das Interesse des Einzelnen verschwinden muß.¹⁹³

Wie Riehls Abhandlung korreliert Freytags Roman seine bürgerliche Normsetzung mit einer temporalen Narrationsebene, die Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aufeinander abzustimmen sucht. Die damit verbundene Verschränkung von

 Freytag: Soll und Haben, S. 24.  Vgl. hierzu Söhnke Grothusen: Die Verzeitlichung des Lebens und die Emergenz moderner Generationalität bei Freytag, Stifter, Lermontov und Dostoevskij. S. 95 – 112. Zugänglich unter https://d-nb.info/1127856413/34, letzter Zugriff am 22.06. 2020.  Vgl. Grothusen, S. 86 f.  Wilhelm Heinrich Riehl [1854]: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik. Bd. 3: Die Familie. Stuttgart/Augsburg: Cotta’scher Verlag, 1855. S. 208.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

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temporaler und ideologischer Erzähldimension zeigt sich noch in einer anderen Hinsicht. Der Appell zur Kraftmobilisierung, der aus der Figurenrede und Erzählstruktur hervorgeht, steht im Zeichen eines bürgerlich ideologisierten Fortschrittsnarrativs. Das Bürger*innentum, das auf Selbstreferenz und Gegenwartsemphase setzt, wird von Schröter als der Stand bezeichnet, „welcher Zivilisation und Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauer zu einem Staate erhebt, aus sich heraus zu schaffen“¹⁹⁴. Dieser Fortschrittsglaube wird durch das Aufstiegssujet metonymisch veranschaulicht. Ausagiert als Aufstiegsnarration, spiegelt die Lebensgeschichte Anton Wohlfarts ebenjenen Übergang von einem defizitären Anfangszustand in einen verbesserten Endzustand, den das Bürger*innentum gemäß dem Fortschrittsnarrativ vollzieht. Kontextuell wird dieses Narrativ vor allem durch die Nationalökonomie imprägniert, die ebenfalls von einer Kulturalisierung durch produktive Arbeit ausgeht. Wie Matthias Agethen gezeigt hat, postuliert die nationalökonomische Stufentheorie eine teleologische Entwicklung, die vom „wilden Zustand“ über die „Zivilisierung durch Ackerbau und Städtewesen“ bis hin zum Industrie- und Handelsstaat reicht.¹⁹⁵ Bei Friedrich List heißt es: Je mehr ihre Oekonomie entwickelt und vervollkommnet ist, desto civilisirter und mächtiger ist die Nation; je mehr ihre Civilisation und Macht steigt, desto höher wird ihre ökonomische Ausbildung steigen können.¹⁹⁶

Es ist dieselbe Verschränkung von Ökonomie und Kultur, die Freytags Roman durchzieht und dort ähnlich wie bei Gotthelf in einem Fortschrittsnarrativ mündet: Geschildert wird eine Überwindung der Natur zugunsten eines modernen Kulturzustands. Bei Freytag konturiert sich dieses Fortschrittsnarrativ über eine antiaristokratische Ausschlusslogik: Der Naturzustand, dem das Bürger*innentum ein Ende setzt, wird mit einer aristokratischen Untätigkeit korreliert.¹⁹⁷ Ausdrücklich stellt Schröter der bürgerlichen Kulturalisierungstätigkeit in Polen die „halbe Barbarei der privilegierten Freien“¹⁹⁸ gegenüber. Das Fortschrittsnarrativ ist nicht nur für das bürgerliche Selbstverständnis, das der Roman in seinem kolonialistischen Erzählstrang entwirft, konstitutiv,

    

Freytag: Soll und Haben, S. 332. Vgl. Agethen, S. 67. List, S. 17. Vgl. Agethen, S. 71. Freytag: Soll und Haben, S. 332.

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

sondern fundamentiert zugleich den genderdiskursiven Subtext. Die Vorstellung, dass ein als aristokratisch konnotierter Naturzustand überwunden werden müsse, wird in der Aufstiegsgeschichte Anton Wohlfarts über eine geschlechtscodierte Erzähllogik vermittelt. Antons bürgerliche Subjektivation gelingt dadurch, dass er die Versuchung durch Lenore überwindet. Nun steht Lenore nicht nur für eine aristokratische Sphäre, sondern für eine Sphäre des Natürlichen, die der bürgerlichen Kultur entgegengesetzt wird.¹⁹⁹ Ihre Bestimmung findet Lenore in der „scheinbar vorgesellschaftlichen polnischen Wildnis“²⁰⁰, wohingegen sie aus der statischen bürgerlichen Ordnung des Romans immer wieder herausbricht. Für Arbeit im Haushalt und Buchführung, die Anton Lenore beizubringen sucht, ist sie ebenso unzugänglich wie für die patriarchalischen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft. Bereits ihr Vorname indiziert nicht nur eine Assoziation mit einer romantischen Phantastik – Lenore ist der Titel einer Schauerballade von Gottfried August Bürger, auf die 1845 Edgar Allan Poes Gedicht The Raven Bezug nimmt,²⁰¹ ‒ sondern einen Bruch mit geschlechtsspezifischen Erwartungen. Lenore erinnert an ,Leonore‘ und damit an die Protagonistin aus Beethovens Oper Fidelio, mit der sich Freytag 1853 in einem Grenzboten-Artikel auseinandergesetzt hat.²⁰² Beethovens Leonore, die als Mann verkleidet ihren Ehemann aus dem Gefängnis rettet, kehrt damit die klassische weibliche Opferrolle um. Das Motiv der Verkleidung als Mann legt zugleich im spielerisch-komödienhaften Modus die Performativität von gender offen. Freytags Roman greift dieses Verkleidungsmotiv auf, indem er wiederholt Lenores Vorliebe für cross dressing zur Geltung bringt.²⁰³ Gefestigt wird der Eindruck einer Normdurchkreuzung dadurch, dass Lenore aus geschlechterspezifischen Verhaltenskonventionen herausfällt:²⁰⁴ „Sie dürfen mir die Hand nicht küssen, denn ich habe keine Lust Ihnen dasselbe zu thun, und was dem Einen recht ist, soll dem anderen billig sein“²⁰⁵, postuliert die Figur an einer Stelle. Lenores Handeln stellt also gesellschaftliche Konventionen infrage, wodurch der symbolisch-kulturellen Ordnung des Bürger*innentums eine gleichsam

 Vgl. Mark Grunert: Lenore oder die Versuchung des Bürgers: Romantischer „Zauber“ und realistische Ideologie in Gustav Freytags „Soll und Haben“. In: Monatshefte 85 (1993), S. 134– 152, hier S. 136 f.  Achinger: Gespaltene Moderne, S. 247.  Vgl. Grunert, S. 139.  Vgl. Gustav Freytag: Eine Ergänzung des Fidelio von Beethoven. In: Die Grenzboten. Jg. 12, Bd. 1 (1853), S. 462– 464.  Vgl. Achinger: Gespaltene Moderne, S. 254. Beim Tanzen nimmt Lenore die Rolle des Mannes ein, bei einer Theateraufführung tritt sie „sogar selbst als Herr auf, mit einer Reitpeitsche und einem kleinen Bart von Wolle […].“ Freytag: Soll und Haben, S. 206.  Vgl. Grunert, S. 143 f.  Freytag: Soll und Haben, S. 552.

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transdiskursive (Nicht‐)Ordnung entgegengestellt wird. Von hier ausgehend gewinnen sowohl die Fortschrittserzählung des Romans als auch seine Geschlechtscodierungen Profil. Dass Antons Aufstieg erst gelingt, nachdem er sich von den Einflüssen Lenores befreit hat, durchsetzt die metonymisch funktionalisierte Fortschrittsnarration mit einer doppelten Ausschlusslogik: Der Zivilisationsträger, das bürgerlich-männliche Subjekt, begründet seinen Status über die Abkehr von einer (konstruierten) Weiblichkeit, die sich nicht den Regeln des patriarchalischen Systems unterwirft und insofern ebenjene Sphäre der Natur symbolisiert, die das bürgerliche Normensystem auszuschließen sucht. In den Aufstiegsweg des Protagonisten spielt folglich nicht nur die Differenzsetzung Kultur/Natur hinein, sondern die ebenso asymmetrische Dichotomie von Männlichkeit und Weiblichkeit: Der suggerierte Ausgang aus dem Naturzustand kommt einer Stabilisierung von Geschlechterrollen im Sinne des patriarchalischen Systems gleich. Wie die geschlechtsspezifischen Codierungen gewinnen die temporalen Konstruktionen des Romans durch das Fortschrittsnarrativ neue Dimensionen. Evoziert wird ein Zeitenwandel, der auf einem teleologischen Stufenprozess und insofern auf einer Kontinuitätslinie aufruht: Das Defizitäre der Vergangenheit wird ausgetilgt und eine verbesserte Zukunft in die Wege geleitet. Das damit verbundene Nebeneinander von Veränderungs- und Kontinuitätslogik spiegelt sich wiederum metonymisch in der Aufstiegsgeschichte des Protagonisten. Auf der einen Seite legt Antons Aufstieg die Notwendigkeit nahe, die eigene Kraft zu mobilisieren, und versinnbildlicht damit die sattelzeittypische Vorstellung der Diskontinuität von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Auf der anderen Seite kommt es im Laufe der Erzählung immer wieder zu Kopplungen zwischen dem erzählten Anfangs- und Endzustand, sodass die diegetische Vergangenheit und Zukunft einander angenähert werden. In der am Ende eintretenden Eheschließung mit Sabine realisiert sich die schon vom Vater ersehnte Verbindung mit dem Geschäft, die der Protagonist bereits zu Erzählbeginn symbolisch vollzogen hatte: Denn wenn der alte Herr am Abend in seinem Garten saß, das Samtkäppchen in dem grauen Haar und seine Pfeife im Munde, dann verbreitete er sich gern mit leiser Sehnsucht über die Vorzüge eines Geschäfts, welches die Fülle der herrlichsten Sachen gewähre, und frug dann scherzend seinen Sohn, ob er auch Kaufmann werden wolle. Und in der Seele des Kleinen schoss augenblicklich ein hübsches Bild zusammen, aus großen Zuckerhüten, Rosinen und Mandeln und goldenen Apfelsinen […], bis er begeistert ausrief: „Ja, Vater, ich will!“²⁰⁶

 Freytag: Soll und Haben, S. 8.

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Das Versprechen an die Kaufmannswelt, das am Ende des Romans durch die Verlobung mit Sabine offiziell vollzogen wird, lässt die Ereigniskette der Erzählung als Produkt einer teleologisierten Wiederholungslogik erscheinen. Neben das Bild der zukunftsoffenen Gegenwart tritt damit die Vorstellung einer Determination durch die Vergangenheit.²⁰⁷ Durch das Aufstiegssujet wird dieses Synthesemodell konsolidiert. Der Zäsurgestus, den die antigenealogische Logik der Aufstiegsnarration impliziert, verbindet sich mit einer Kontinuitätslinie. Diese tritt vor allem in der oikonomischen Erzählebene zutage. Die aufstiegsteleologische Verlaufsform signalisiert bei Freytag ein Verfahren „häuslicher Kontinuitätssicherung“²⁰⁸. Antons Beförderung zum Kompagnon koppelt sich an die Eheschließung mit Sabine, durch die die Zukunft des Handelshauses sichergestellt wird.²⁰⁹ Durch das Narrationsmuster des Aufstiegs kann der Roman folglich seine oikos-Modellierung beschließen. Damit steht die Aufstiegsnarration ähnlich wie bei Gotthelf im Zeichen eines „oikonomisch Imaginären“²¹⁰, das weniger auf die Zelebrierung einer sozial mobilen und dynamischen Gesellschaftsordnung zielt als auf ein wirtschafts- und sozialkonservatives Restaurationsprogramm. Ähnlich wie Riehl propagiert Freytags Roman eine Renaissance des ,ganzen Hauses‘, das als Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft die vergesellschaftete Moderne überwinden soll. In diese Gemeinschaftsutopie schreibt sich jedoch bei Freytag ein „liberale[r] Gegenentwurf“²¹¹ ein, der das genealogisch ausgerichtete – und damit vergangenheitsorientierte – oikos-Modell mit einem verdienstorientierten – und insofern gegenwartsemphatischen – Substrat versieht. Dieses bezieht sich allerdings weniger auf ein effizientes Wirtschaften als auf einen oberhalb der Nutzenfokussierung stehenden Moralkodex. Eine Aussage Schröters weist Antons Aufstieg zum Mitregenten des Handelshauses als Folge der in Polen bewiesenen Hilfsbereitschaft aus:

 Angesichts dieser Engführung von Kontinuitäts- und Diskontinuitätscredo unterscheidet sich Antons Aufstiegsweg auch vom Aufstieg und Fall Veitel Itzigs. Die durch den Aufstieg evozierte Gegenwartsemphase wird im Falle Antons durch eine Vergangenheitsbezogenheit ausbalanciert. Veitel Itzig dagegen steht für eine radikale Gegenwartszentriertheit, die sich analog zur selbstreferenziellen Logik des Geldes verhält. Vgl. hierzu Grothusen, S. 114– 122.  Marcus Twellmann: Das deutsche Bürgerhaus. Zum oikonomisch Imaginären in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013), S. 356– 385, hier S. 362.  Vgl. Twellmann, S. 358.  Vgl. Twellmann, S. 356– 385.  Twellmann, S. 379.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

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Seit du in der Fremde an meinem Lager knietest und meine Wunde verbandest, trug ich im Herzen den Wunsch, dich für immer mit unserm Leben zu vereinigen.²¹²

Nicht wegen seiner wirtschaftlichen Leistungen, sondern aufgrund seiner altruistischen Verdienste wird Anton folglich in den Firmenvorstand aufgenommen. Zelebriert wird eine „Ordnungs- und Sorgementalität“²¹³, in der sich ein schon zu Erzählbeginn initiierter Kreis der freundschaftlichen Dienste schließt: Schon Antons Vater hatte dem Handelshaus einen Dienst erwiesen, der durch die von Sabine organisierten Weihnachtssendungen vergolten worden ist. Dass Anton infolge seiner Rettungsleistung zum Handelskompagnon befördert wird, forciert nicht nur die kontinuitätsstiftenden Rückkopplungen zwischen diegetischer Vergangenheit und Zukunft, sondern unterlegt das Aufstiegssujet mit einer Signatur poetischer Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeitsdoktrin birgt auch eine poetologische Dimension in sich. Mit dem Rückbezug zur Polenepisode wird nicht nur an Antons Bewährungsakt der Firma gegenüber erinnert, sondern an einen Akt der poetologischen Initiation. Gerade beim Aufbruch nach Polen wurde sich der Protagonist der Poetizität der Handelswelt gewahr. Das von Schröter repräsentierte unternehmerische Handeln wird im Erzählstrang um Polen zum Gegenstand poetischer Verklärung: Nie hatte ihn Anton so verehrt als heut, er sah ihm aus wie verklärt. Mit einer wilden Freude sagte sich Anton: „Das ist Poesie, die Poesie des Geschäftes, solche springende Tatkraft empfinden nur wir, wenn wir gegen den Strom arbeiten. Wenn die Leute sprechen, daß unsere Zeit leer an Begeisterung sei und unser Beruf am allerleersten, so verstehen sie nicht, was schön und groß ist. […]“²¹⁴

Wenn die Polenepisode später als ausschlaggebend für Antons Erfolg herausgestellt wird, so wird die moralische Normativität der Aufstiegsnarration folglich um eine poetologische Dimension erweitert: Belohnt wird die Einsicht in die Poesiefähigkeit der Handelswelt, die den Protagonisten als Sprachrohr des Verklärungsprogramms ausweist. Dass Antons Aufstiegsweg nicht nur ein bürgerliches Wertearsenal konfirmiert, sondern zugleich das idealrealistische Verklärungspostulat einlöst, lässt eine Vernetzung von poetologischen und ideologischen Normsetzungen sichtbar werden, die sich auf ähnliche Weise in der zeitgenössischen Franklin-Rezeption abzeichnet. Gerade Franklin wird im biographischen Diskurs der Jahrhundertmitte mit einem ästhetischen Ideal in Bezug gesetzt, das zeitgleich von den Grenzboten-Herausge-

 Freytag: Soll und Haben, S. 850.  Rakow, S. 253.  Freytag: Soll und Haben, S. 327.

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

bern propagiert worden ist. Wenn Friedrich Christoph Schlosser in seiner 1855 erschienenen Weltgeschichte für das deutsche Volk Franklin als „Mann des Volkes“ zelebriert, der „das reelle Leben niemals aus den Augen verlor“²¹⁵ und sich in seinen Schriften stets an der Maxime der Nützlichkeit orientiert habe, so schreibt er ein Kernpostulat des Programmatischen Realismus fort. Julian Schmidts Geschichte der Romantik (1848) hatte der „abstracten Poesie“²¹⁶ eine am bürgerlichen Tätigkeits- und Nützlichkeitsideal orientierte Wirklichkeitsnähe entgegengestellt: Das edle und schöne Sein ist nur im Thun wirklich, das substantiell Vortreffliche ist zugleich der Träger bestimmter Zwecke. Das dichterische Leben dagegen, wie es nun gefasst wurde, ist ein halber Schlummer, wo das Gemüth gleich der Äolsharfe sich der Harmonie der Welt hingiebt und sie in sich ertönen lässt, ohne sie durch Erkenntnis und Begriff zu zerreißen, ohne sie durch Tendenzen und Zwecke zu binden. Die höchste Aufgabe der Kunst, durch den Schein das Bild einer höhern Wirklichkeit zu geben, wird verkehrt, wenn man in diesen Schein die Totalität des Lebens hineinzieht, wenn dieses Ideal das Schöne und Gute der Wirklichkeit nur aussaugt, ohne auf das Wirkliche zurückzuwirken.²¹⁷

Freytags Roman reproduziert die Kritik an „romantischen Höhenflügen“²¹⁸ durch mehrere Elemente.²¹⁹ Anspielungen auf das romantische Naturverständnis und Anachronisierungen der französischen Romantik, deren Werke das Lektürekorpus der Baronin ausmachen, sagen dem romantischen Ästhetizismus den Kampf an; Wildheitssemantik und geschlechtsbezogene Umcodierungen lassen das Idealbild Lenores in ein Bild unbürgerlicher Dekadenz umschlagen.²²⁰ Letzten Endes erschließt sich die „Quelle einer eigentümlichen Poesie“²²¹ nicht in der romantischen und aristokratischen Welt, sondern im Handelshaus Schröters.

 Friedrich Christoph Schlosser: Weltgeschichte für das deutsche Volk. Bd. 17: Geschichte der neueren Zeit. Frankfurt a. M.: Verlag der Expedition von Schlosser’s Weltgeschichte, 1855. S. 83.  Schmidt: Geschichte der Romantik, S. 369.  Schmidt: Geschichte der Romantik, S. 327 f.  Lars Korten: Poietischer Realismus. Zur Novelle der Jahre 1848 – 1888. Stifter, Keller, Meyer, Storm. Tübingen: Niemeyer, 2009. S. 44.  Die Stellungnahme des Romans zur Romantik ist indes weit differenzierter, als es zunächst den Anschein hat. Irmtraud Hnilica hat herausgestellt, dass die Position des Romans keineswegs nahtlos in der romantikkritischen Haltung aufgeht, die die Realismusprogrammatik der Jahrhundertmitte dominiert. Indem der Roman die poetische Kunstsphäre in der entprosaisierten Wirtschaftswelt verortet und das bürgerliche Kaufmannswesen bewusst romantisiert, leiste er einen poetologischen Beitrag zum Poesie-Prosa-Problem und suggeriere zugleich die Möglichkeit einer Aussöhnung zwischen romantischem und realistischem Erzählprogramm. Vgl. Irmtraud Hnilica: Im Zauberkreis der großen Waage. Die Romantisierung des bürgerlichen Kaufmanns in Gustav Freytags Soll und Haben. Heidelberg: Synchron, 2012. S. 11– 17.  Vgl. dazu Grunert, S. 134– 152.  Freytag: Soll und Haben, S. 60.

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Der romantikkritische Subtext, der sich auch auf Raumstrukturen und intertextuelle Bezugslinien erstreckt,²²² wird durch das Narrationsmuster des Aufstiegs verfestigt. Antons Aufstieg vom Lehrling zum Handelskompagnon vollzieht sich zugleich als „unaufhaltsame[r] Aufstieg aus romantischen Gefährdungen zum realistischen Bürger“²²³. Die Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen, bestehen in Wünschen, Projektionen und Imaginationen, die ihn von der Sphäre des Ökonomisch-Bürgerlichen und damit auch von der Sphäre des Realismus entfremden.²²⁴ Mit dieser poetologischen krypto-histoire nimmt der Roman abermals eine Vernetzung von meritokratischen und ästhetischen Wertsetzungen vor, die sich zeitgleich in der deutschsprachigen Franklin-Rezeption abzeichnet. 1849 hatte Karl Krug den amerikanischen Aufsteiger zum Vertreter einer pragmatischen Lebensphilosophie deklariert, die sich aus den Sphären des Idealismus in die konkrete Wirklichkeit begibt: Je mehr wir aus den idealen Träumen herabsteigen auf die schöne Erde, in die Wirklichkeit […]; je mehr die Philosophie sich dem Leben zuwendet, je höher wird das Ansehen Franklin’s steigen, weil er dann erst richtig aufgefaßt wird.²²⁵

Es ist eine ähnliche Botschaft, die die Aufstiegsnarration bei Freytag transportiert, und die die Programmatik der Grenzboten durchzieht: Anstatt sich unter Berufung auf das Poetische von der Wirklichkeit abzuwenden, habe der Dichter und Bürger die ,Poesie‘ als immanenten Teil der ,Prosa‘ zu begreifen. Wie eng der Konnex zwischen dem selfmade-Narrativ und dem idealrealistischen Synthese-Ideal ist, zeigt sich darin, dass er fast zwanzig Jahre später auch in Begriffsbestimmungen des Selfmademans einfließt. Berthold Auerbach sieht im Konzept des Selfmademans den Ausdruck einer exemplarischen Synthese zwischen idealistischer und pragmatischer Anschauung: Die englische Sprache hat […] einen eigenartigen Substanzbegriff gebildet in der Bezeichnung selfmade man, wobei sofort dem Phantastischen des Idealismus die Schwerkraft des Praktischen einverleibt ist.²²⁶

 Die Dissertation von Hnilica hat in ihrer eingehenden Analyse der Romantikbezüge des Romans die Raumkonfigurationen, die dieser entwirft, poetologisch kontextualisiert und über eine intertextuelle Lektüre den Rekurs des Romans auf literarische Texte der Romantik herausgestellt. Vgl. Hnilica 2012.  Gerhard Plumpe: Roman. In: McInnes, Edward; Plumpe, Gerhard (Hrsg.): Bürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848 – 1890. München: Hanser, 1996, S. 529 – 689, hier S. 567.  Vgl. Plumpe: Roman, S. 565 – 567.  Krug, S. 127 f.  Auerbach: Vorwort, S. 1.

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Die Einverleibung des Praktischen ins Ideale bildet das idealrealistische Kernanliegen, das als poetologisches telos die Handlungsstruktur realistischer Texte determiniert und von dem die metasemiotischen Modellbildungen und referenziellen Kippbewegungen des Realismus ihren Ausgang nehmen. Folgt man ClausMichael Ort, so spiegelt sich bereits im Titel von Freytags Roman das realistische Ideal synthetischer Zeichenbildung. Das ,Soll‘, in dem sich eine Fixierung auf ein absentes Ideal manifestiert, verbindet sich mit einem ,Haben‘, das auf eine Realitätsdeckung und externe Referenzialisierbarkeit verweist.²²⁷ Intratextuell manifestiert sich dieses Synthese-Ideal in einer poetologischen Entwicklungsgeschichte, in deren Verlauf die als romantisch (und aristokratisch) konnotierte Ungedecktheit der Zeichen einer idealrealistischen (Meta‐)Semiose weicht.²²⁸ Angezogen von den Sphären einer autotelischen Phantastik, verliert sich die Figur zunächst in einer realitätsflüchtigen Imagination. Der Hiatus von Ideal und Wirklichkeit artikuliert sich dabei in einer räumlichen Distanzmarkierung: Die zierlich geformten Blumenbeete in dem geschorenen Samt des Rasens, die bunten Gruppen der Glashauspflanzen, der fröhliche Schmuck […], das alles sah ihm in dem reinen Lichte und der Ruhe des Sonnentages aus wie ein Bild aus fernem Lande. Der glückliche Jüngling geriet in ein so träumerisches Entzücken, dass er sich in den Schatten eines großen Fliederstrauches am Wege setzte und, hinter dem Busch verborgen, lange Zeit auf das anmutige Bild hinstarrte.²²⁹

Während die romantisch-aristokratische Welt den Protagonisten ins Verborgene rückt und ihm als „Bild aus fernem Lande“ anmutet, erzeugt die „Poesie des Geschäftes“²³⁰ den Eindruck eines unmittelbaren Eingebundenseins und einer

 Vgl. Claus-Michael Ort: ,Stoffwechsel‘ und ,Druckausgleich‘. Raabes „Stopfkuchen“ und die ,Diätetik‘ des Erzählens im späten Realismus. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 44 (2003), S. 21– 43, hier S. 34.  Bereits Peter C. Pohl hat darauf verwiesen, dass Freytags Roman in seinem oppositionellen Anschluss an das Erzählmodell des Bildungsromans romantische Bestrebungen zu einer niedrigen Bildungsstufe degradiert. Vgl. Peter C. Pohl: Romantik als Bildungsstufe. Ästhetische Differenzierung und kollektive Lebensformung in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 41 (2016), Heft 2, S. 304– 320, hier S. 305. In der ökonomisch-bürgerlichen Welt, die der Roman verklärend darstellt, müssen romantische Denklinien überwunden werden, damit die Sozialisation gelingen kann. Eine ähnliche Beobachtung macht Christine Achinger: Parallel zu Antons Desillusionierung werde in einem grundlegenderen Sinne die allmähliche Abkehr von einer romantischen Weltsicht hin zu einem vorgeblich realistischen Welt- und Selbstbezug gestaltet sowie ein „tätige[s] Sicheinlassen auf die bürgerliche Existenz.“ Achinger: Gespaltene Moderne, S. 97.  Freytag: Soll und Haben, S. 13.  Freytag: Soll und Haben, S. 327.

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weltumspannenden Verbundenheit, wie die berühmte Metapher des Gewebes illustriert: Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die sich von einem Menschen zu dem anderen, über Land und Meer, aus einem Weltteil in den anderen spinnen. Sie hängen sich an jeden einzelnen und verbinden ihn mit der ganzen Welt.²³¹

Die Gewebemetapher steht nicht nur wegen ihrer poetologischen Konnotation in einem engen Bezug zur idealrealistischen Semiose. Das Gewebe metaphorisiert zugleich ein Modell metonymischer und damit kontiguitätsbasierter Zeichenproduktion, in dem ein einzelnes Element als pars pro toto für ein Ganzes steht. Vor allem der illustrierende Teil von Antons Rede beruht auf einer deiktischen Metonymisierung, die durch das Gewebebild metaphorisch untermauert wird: „Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Waage setze, so knüpfe ich einen unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauernburschen, der sie zum Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so sehe ich auf der einen Seite den Malaien kauern, der ihn zubereitet und einpackt, und auf der anderen Seite ein altes Mütterchen aus unserer Vorstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.“²³²

Die Rede des Protagonisten demonstriert an dieser Stelle die Prinzipien einer idealrealistischen Semiose, die sich nicht in referenzlosen Imaginationen verfährt, sondern an diegetisch präsenten Realitätsobjekten orientiert bleibt. Dadurch, dass die Gewebemetapher die metonymische Semantisierung durch eine nicht-kontige, auf Similarität beruhende Bildlichkeit veranschaulicht, erscheint das vorgeführte Semiosemodell zugleich als Beispiel für eine idealrealistische Synthese: Die Zeichenbildung selbst nivelliert die Differenz von mimetisch motivierter und deferenzialisierter Signifikation, indem sie das Prinzip kontiger Semiose figural versprachlicht. Dass die Erzählung einen Übergang von wirklichkeitsflüchtiger Idealbildung zur metonymischen Realitätsbezogenheit schildert, zeigt sich auch in einer Erzählsequenz, die den zuvor beschriebenen Zustand romantischer Traumverlorenheit umkehrt.²³³ Sowohl die ikonographische Semantik als auch die Traum-

 Freytag: Soll und Haben, S. 239.  Freytag: Soll und Haben, S. 239 f.  Auf eine andere Manifestationsform der immanenten Poetik des Romans weist Peter C. Pohl hin. Wie Pohl herausstellt, wird der Protagonist sukzessive mit mimetischen und damit signifikatsgedeckten Zeichenpraktiken vertraut. Im Kontor erhält er durch das Kopieren von Geschäftsbriefen Einsicht in stilistische und sprachliche Normen des Geschäftsbetriebs, wohingegen

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und Weltsemantik werden wieder aufgegriffen, sodass die entsprechenden Erzählpassagen in unmittelbare Relation zueinander gesetzt werden können. Diese Korrespondenz wird jedoch durch das Semantisierungsmodell, das die spätere Passage vorführt, in ein Kontrastverhältnis überführt. In diesem stehen sich Realitätsgebundenheit und -ferne, Realismus und Romantik sowie Bürger*innentum und Aristokratie gegenüber. War dem Protagonisten die Adelswelt als „ein Bild aus fernem Lande“ erschienen, das in unerreichbare Ferne gerückt ist, so verschafft ihm die Warenwelt eine analoge „Freude an der fremden Welt“, die jedoch durch die materielle Präsenz der Waren gedeckt ist. Während ihn das aristokratisch-romantische Milieu den Abstand zwischen Realem und Idealem empfinden lässt, erscheinen ihm in der Handelssphäre das Ferne und Absente durch die Waren vergegenwärtigt: Anton stand noch stundenlang […] neugierig und verwundert in der alten Halle, die Gurte der alten Wölbung und die Pfeiler an der Wand verwandelten sich ihm in großblättrige Palmen, das Summen und Geräusch auf der Straße erschien ihm wie das entfernte Rauschen der See, die er nur aus seinen Träumen kannte […]. Diese Freude an der fremden Welt, in welche er so gefahrlos eingekehrt war, verließ ihn seit dem Tage nicht mehr. Wenn er sich die Mühe gab, die Eigentümlichkeiten der vielen Waren zu verstehen, so versuchte er auch durch Lektüre deutliche Bilder von der Landschaft zu bekommen, aus welcher sie herkamen, und von den Menschen, die sie gesammelt hatten.²³⁴

Der romantischen Wirklichkeitsentrückung wird an dieser Stelle ein Gegenbild vorgehalten. Die produzierten Zeichen sind nicht mehr auf ein entrücktes und absentes Ideal fixiert, sondern beziehen sich auf vorgefundene Objekte der umgebenden Realität. Das „träumerische Entzücken“, das den Protagonisten zuvor in ein isoliertes Abseits gedrängt hatte, kehrt sich um: Die Träume, in die ihn die Warenwelt versetzt, gehen zwar der visuellen Wahrnehmung voraus, finden jedoch in der idealisierten Dingmaterialität diegetisch reale Korrelate. Das Meeresrauschen etwa ist ihm aus Träumen bekannt, bevor es die Warenwelt präsent werden lässt. Das telos realistischer Semiotik wird damit als erreicht markiert: Das transzendente Ideal separiert sich nicht mehr von der Wirklichkeit, sondern wird von dieser eingeholt, sodass sich, mit Auerbach gesprochen, ein phantastischungebundener Idealismus die „Schwerkraft des Praktischen“ einverleiben kann. er in seiner Freizeit das Schloss der Familie Rothsattel aus dem Gedächtnis heraus zu zeichnen versucht. Im Gegensatz zu Veitel Itzig, dessen unlautere Geschäftspraktiken selbstreferenziell verlaufen, lerne folglich Anton Wohlfart „Kulturtechniken, die der Wiedergabe des Vorgefundenen dienen und ihn derart aus der Selbstbezüglichkeit retten.“ Antons bürgerlicher Subjektivationsprozess fällt so mit Praktiken der Wiederholung zusammen, die als Beweise von Geradlinigkeit und Integrität einer ethnischen Codierung unterstehen. Vgl. Pohl, S. 314 f., Zitat auf S. 315.  Freytag: Soll und Haben, S. 61.

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Da das verklärungsästhetische Syntheseprojekt in diesem Sinne gelingt, scheint es nur konsequent, dass der Roman dem Erzählmuster des Aufstiegs folgt. Es zeigt sich hier eine Vernetzung von poetologischer Reflexivität und Handlungsbildung, die für das realistische Erzählsystem charakteristisch ist. Das semiotische Grunddilemma des Realismus, das sich aus der Inkompatibilität von metonymischer und metaphorischer Zeichenproduktion ergibt, wird durch Figurationen des Scheiterns oder Gelingens in die Handlungsebene transponiert. Realistische Handlungstopoi wie Aufstieg, Untergang, Versagen und Erfolg erfüllen insofern stets eine Doppelfunktion: Nicht nur markieren sie das Erreichen oder Misslingen von Figurenambitionen und -projekten – etwa im moralischen und ökonomischen Sinne –, sondern sie beziehen sich in resignativer oder triumphaler Form auf die Umsetzung des semiotischen Synthese-Ideals. Die poetologische Bedeutungsdimension der Aufstiegserzählung zeigt sich noch in einer anderen Hinsicht. Wenn die zu Erzählbeginn lancierte Bandmetapher in der ehelichen Verbindung wieder auftaucht, auf die eingangs erwähnte Zucker- und Kaffeekiste gegen Ende wieder Bezug genommen wird, oder die Polenreise im späteren Erzählverlauf wieder zum Thema wird, so bildet sich eine Wiederholungsstruktur heraus, die sich als Ausdruck einer Metacodierung lesen lässt.²³⁵ Das wiederholte Auftreten bettet die einzelnen Motive in einen Zusammenhang ein. Die Kiste Zucker und Kaffee, die Antons Affinität zur Handelswelt geweckt hat, erweist sich als Sendung seiner späteren Ehefrau, die nach eigener Aussage an seinem Leben von jeher „ein kleines Anrecht“²³⁶ hatte und dies noch mit seinem Vater vereinbart hat; der Eintritt in das „Arcanum“²³⁷ der Firma wird

 Der Begriff ,Metacode‘ bezeichnet in diesem Zusammenhang ein Konzept, Ideal oder Vorstellungsprodukt, das als Ausgangspunkt narrativer Sinnstiftung fungiert. Als Beispiele lassen sich Natur, Liebe und Kunst anführen. Wie die Realismusforschung im Anschluss an Hans Vilmar Geppert mehrfach nachgewiesen hat, lässt sich das realistische Kardinalziel, die Verklärung, als Metacodierung beschreiben: Anvisiert wird ein „symbolisch-phänomenologische[s] Durchsichtigmachen des Wesenszusammenhangs.“ Moritz Baßler: Metaphern des Realismus – realistische Metaphern. Wilhelm Raabes Die Innerste. In: Specht, Benjamin (Hrsg.): Epoche und Metapher. Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit. Berlin/Boston: de Gruyter, 2014. S. 219 – 231, hier S. 225. Dieses Ziel, das sich als poetologisches telos realistischer Texte lesen lässt, bleibe jedoch uneingelöst, da ein übergeordneter Metacode fehle und stattdessen verschiedene Codes durchgespielt werden, die sich in ihrer Simultaneität gegenseitig unterlaufen. Vgl. ebd. sowie Moritz Baßler: Deutsche Erzählprosa. 1850 – 1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin: Schmidt, 2015. S. 33 – 90. Zu den Erscheinungsformen realistischer Metacodierung vgl. außerdem Baßler: Gegen die Wand, S. 433 f. sowie Ort: Zeichen und Zeit.  Freytag: Soll und Haben, S. 848.  Charbon, S. 139.

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als Vorhaben herausgestellt, das Schröter seit der Polenreise vorgeschwebt hat und zu dessen Realisierung es nur noch der Lossagung Antons von den romantisch-aristokratischen Verlockungen bedurfte. Da insofern sämtliche Vor- und Rückbezüge auf dasselbe telos, Antons Subjektwerdung als Wirtschaftsbürger, abgestimmt sind, zeichnet sich eine Einheitsstruktur ab, die das auf Handlungsebene vermittelte Erfolgsmodell in die Textebene projiziert. Gelungen ist in diesem Sinne nicht nur die wirtschaftsbürgerliche Subjektivation des Protagonisten, sondern das verklärungsästhetische Projekt des Textes, das durch einen stabilen Metacode realisiert wird. Das im Aufstiegssujet verankerte Erfolgscredo wird auf discours-Ebene operativ, wo es eine spezifische Variante realistischer Bedeutungsproduktion zutage treten lässt: Semantische Rekurrenzen in Soll und Haben zielen nicht auf ein vermeintlich realismustypisches „Verbrauchen von Codes“²³⁸, sondern sind darauf angelegt, die Stabilität eines Metacodes sicherzustellen. Sieht man in Freytags Roman ein literarisches Gründungsmoment des Bürgerlichen Realismus, so müsste folglich eine Schlüsselthese zum realistischen Verfahrensarsenal relativiert werden. Dass sich realistische Erzählkonfigurationen einem absolut und normativ gesetzten kulturellen Code entziehen, mag auf einen spezifischen und dominanten Strang innerhalb der realistischen Erzähltradition, angeführt von Keller, Raabe und Fontane, zutreffen, in Freytags Soll und Haben zeigt sich jedoch das Gegenteil. Der realistische Weg, wie ihn Freytags Roman einschlägt, zielt nicht auf eine semiotische Aporie und Komplexität, sondern ist vielmehr darauf angelegt, Sinndisseminationen auszutilgen. Auch die verbreitete These der Realismusforschung, die favorisierte Lösung des realistischen Semioseproblems bestehe in Figurationen der Entsagung,²³⁹ lässt sich vor dem Hintergrund von Soll und Haben erweitern. Als Mittel der poetischen clôture steht dem realistischen Erzählsystem nicht nur die Entsagung zur Verfügung, die das Projekt der Verklärung als unabschließbar und gescheitert markiert, sondern der Aufstieg, der ebenso wie die Entsagung nicht allein aus diegetischen Begebenheiten heraus zu erklären ist, sondern auf die semiotische Aporie des realistischen Programms zurückzuführen ist. Da das Aufstiegssujet das realistische Ideal der Sinntotalität als eingelöst markiert, bildet es einen Gegenpol zum Motiv der Entsagung. Aufstieg und Entsagung verhalten sich jedoch nicht nur kontrastiv zueinander. Vielmehr konturiert sich mit dem Aufstiegssujet ein Korrelat zur Entsagungsfigur, die sich gleichermaßen in den Erzählprozess einlagert. In Freytags  Hans Vilmar Geppert: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen: Niemeyer, 1994. S. 126 – 128.  Vgl. Baßler: Figurationen der Entsagung.

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Roman markiert die Entsagung nicht das Scheitern des Verklärungsprojekts, sondern eine sukzessive Metacodierung, wie sie das verklärungsästhetische Erzählprogramm vorsieht. Metacodierung, Entsagungsfigur und Aufstiegsteleologie gehen bei Freytag Hand in Hand. Wenn die Erzählteleologie auf Antons Identifikation mit dem bürgerlichen Handelshaus hin ausgerichtet ist, so nährt sie einen ökonomischen Metacode, der mit einer kategorischen Vereinnahmung anderer potenzieller Sinnträger, allen voran Liebe und Natur, einhergeht. Bereits das erste Erzählsegment verlagert romantische Motive in die Sphäre des Ökonomischen, wenn es heißt, Antons Vater bewahre die Briefe der Firma Schröter auf „wie die drei Liebesbriefe seiner Frau“²⁴⁰. Im weiteren Handlungsverlauf spiegelt sich die ökonomische Domestizierung des Romantischen in den Erzählsegmenten um Lenore, was auch aus gendertheoretischer Perspektive von Bedeutung ist. Als „Naturkind“²⁴¹, das sich der bürgerlichen Ordnung entzieht, gefährdet Lenore nicht nur den Aufstiegsweg des Protagonisten, sondern das poetologisch-ideologische Sinnzentrum des Textes: Die Ausschließlichkeit des Metacodes wird durch romantisch konnotierte Alternativcodes relativiert. Der Roman behebt diese ,Störmomente‘ durch Umsemantisierungen, die Lenore als „wild“²⁴² und „unweiblich“²⁴³ darstellen und so die Metacodes der romantischen Liebe und Natur, die sich in ihr verschränken, ihrer Idealität berauben. Ebendiese Idealität wird stattdessen auf die Warenwelt projiziert, in der die „poetischen Träume“²⁴⁴ des Protagonisten erfüllt werden.²⁴⁵ Die Metacodierung der ökonomisch-bürgerlichen Welt als Alleingarantin poetischer Verklärungsfähigkeit vollzieht sich somit über eine Überschreibungslogik, hinter der sich die topische Entsagungsfigur verbirgt. Vor allem das Erzählende finalisiert nicht nur die diegetisch-semiotische Ordnungskonstruktion, sondern entlässt den Protagonisten zugleich in einen Zustand der Entsagung: Die Eheschließung mit Sabine Schröter, dem Gegenpol Lenores, signalisiert eine beiderseitige Absage an die romantische Liebe zugunsten der Stabilität einer bürgerlichen Ordnung. Zumindest für Anton ist diese Absage das

 Freytag: Soll und Haben, S. 8.  Achinger: Gespaltene Moderne, S. 341.  Freytag: Soll und Haben, S. 557.  Freytag: Soll und Haben, S. 557.  Freytag: Soll und Haben, S. 851.  Lothar Schneider spricht von einer „Diätetik des Begehrens“, die Soll und Haben postuliere und durch die Sozialisation des Protagonisten veranschauliche. Vgl. Lothar Schneider: ,Das Gurgeln des Brüllfrosches‘: Zur Regelung des Begehrens in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Fuchs, Anne; Strümper-Krobb, Sabine (Hrsg.): Sentimente, Gefühle, Empfindungen. Zur Geschichte und Literatur des Affektiven von 1770 bis heute. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. S. 121– 134, hier S. 121.

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Zeichen einer erfolgreichen Verdrängung.²⁴⁶ Noch in ihrer vorgeblichen Wildheit erscheint Lenore ihm „hinreißend schön“²⁴⁷, doch gelingt es dem Protagonisten, das „eigene Begehren zu zensieren“²⁴⁸ und so den bürgerlichen Normenkomplex – den Lenore außer Kraft gesetzt hatte – abzusichern. Durch diese Verdrängungs- und Entsagungsfigur gerät das propagierte ideologisch-poetologische Programm konnotativ ins Wanken. Das Bekenntnis zur bürgerlichen Ordnung erweist sich als Produkt einer Verzichtserklärung und wird ebenso wie das idealrealistische Semantisierungsmodell mit einer Spur des Defizitären belegt. Diese Defizität wird durch die semantischen Verschiebungen, Umcodierungen und Analogisierungen, die sich in dem Roman abzeichnen, invisibilisiert. Korrespondenzen zwischen Anfangs- und Endzustand sowie zwischen Vater und Sohn weisen die Entwicklung des Protagonisten zum entsagenden Bürger als zielgerichteten Fortschrittsprozess aus. Während Antons Vater die Verbindung zum Handelshaus nur als „unscheinbares, leichtes Band“²⁴⁹ möglich ist, wird sie seinem Sohn zu einem „Leitseil, wodurch sein ganzes Leben Richtung [erhält]“²⁵⁰, was der ,Bund fürs Leben‘, den er mit Sabine Schröter eingeht, plakatiert. Die Entsagung wird gleich zu Beginn als erstrebenswert markiert und legt dem Handlungsverlauf ein übergeordnetes telos zugrunde, das durch den am Ende eintretenden Aufstiegserfolg eingelöst wird. So wird die axiologische Ambivalenz, die durch die Vereinnahmungs- und Negationslogik entsteht, mittels einer finalen Motivierung eingedämmt. Dass der Roman die Geschichte Anton Wohlfarts als Geschichte eines Aufstiegs auserzählt, liefert somit das narrative Äquivalent zu einem Erfolgscredo, das sich primär auf einer semiotischen Erzählebene manifestiert. Das Aufstiegssujet wird zum Artikulationsmedium einer Erfolgsorientierung, die sich auf das idealrealistische Verklärungsprojekt bezieht und in deren Rahmen die Erzählung ihre semantischen Störfaktoren und Brüche überdeckt. Ebenso wie die semantische und die semiotische Struktur wird die formale Ebene von einem Erfolgscredo bestimmt. Dem ökonomischen Erfolg des Protagonisten korrespondiert eine ökonomische Komposition, die der präsentierten histoire den Eindruck poetischer Geschlossenheit und teleologischer Struktur verleiht. Wie schon Fontane in seiner Soll-und-Haben-Rezension bemerkt hat, erscheinen die erzählten Ereignisse als motiviert und funktional bestimmbar:     

Vgl. Achinger: Gespaltene Moderne, S. 267 f. Freytag: Soll und Haben, S. 625. Achinger: Gespaltene Moderne, S. 268. Freytag: Soll und Haben, S. 8. Freytag: Soll und Haben, S. 8.

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Da wird im ersten Bande kein Nagel eingeschlagen, an dem im dritten Bande nicht irgend etwas, sei es ein Rock oder ein Mensch aufgehängt würde, und der blaue Oelfarbentopf, mit dem Karl Sturm die Leiterwagen anstreicht, hat seine spätere Bedeutung.²⁵¹

Durch die zu Recht bemerkte Erzählteleologie wird der ökonomiebezogene Propositionsgehalt, den die Aufstiegsnarration vermittelt, auf discours-Ebene gespiegelt: Teleologie und Ordnung statt Offenheit und Kontingenz, verlautbaren Erzählgeschehen und -diskurs im Einklang. Diese Kontingenzreduktion wirft auf die Traditionseinschreibungen des Romans ein neues Licht. Wenn der dargestellten bürgerlichen Ökonomie das kontingenzaffine Moment abgeht, so scheint auch der Anschluss an die Tradition des Bildungsromans fragwürdig.²⁵² Hatten die klassischen Bildungsromane die kontingente, selbstreferenzielle und offene Gestalt ökonomischer Prozesse formal gespiegelt und mit der „autopoietischen Aussteuerung subjektiver Bildungsvorgänge“²⁵³ vernetzt, so legt Freytags Roman die erzählte Ökonomie auf eine strukturell gespiegelte Geschlossenheit und Zielgerichtetheit fest.²⁵⁴ Einmal mehr deutet sich hier an, was sich mit dem Um Theodor Fontane: Rezension über Gustav Freytag, „Soll und Haben“ 1855. In: Steinecke, Hartmut (Hrsg.): Romantheorie und Romankritik in Deutschland. Die Entwicklung des Gattungsverständnisses von der Scott-Rezeption bis zum programmatischen Realismus. Bd. 2, Quellen. Stuttgart: Metzler, 1976. S. 249 – 253, hier S. 252.  Wie Pohl herausgestellt hat, gehen Einbildungskraft, Zufall und Unbestimmtheit, deren Gestaltung die romantische Ökonomie kennzeichne, als konstitutive Elemente in die Formästhetik des Bildungsromans ein. Wenn Freytags Roman, wie Pohl im Anschluss an Anja Lemke feststellt, die Autopoiesis von Ökonomie und Subjektivität negiert, so bricht er folglich auf einer formästhetischen Ebene mit den Paradigmen des Bildungsromans. Dieser Bruch führe schließlich zu einer kategorischen „Verweigerung formaler Möglichkeiten“. Freytags Roman widersetze sich formalen Elementen des Bildungsromans, in denen sich gemeinhin die Kontingenz und Zufälligkeit männlicher Identitätsbildung artikuliert hatten: Polyphonie, Illusionsbrüche und Gattungshybridisierung. Vgl. Pohl, S. 305 – 313, Zitat auf S. 306.  Pohl, S. 313.  Bereits Anja Lemke hat darauf hingewiesen, dass sich Soll und Haben dezidiert von einer romantischen Ökonomie, wie sie Joseph Vogl in Kalkül und Leidenschaft beschrieben hat, abgrenzt. Die romantisch konnotierte „Ökonomie der unendlichen Zeichenzirkulation“ werde dabei jedoch nicht einfach negiert, sondern zum Gegenstand eines ethnisierten Kontrastverfahrens. Während anhand der bürgerlich-deutschen Kaufmannsfiguren ein „Programm der Restabilisierung und Geschlossenheit“ genährt werde, werde die sowohl aus poetologischer als auch aus ethischer Sicht verurteilte Selbstreferenzialität mit dem kapitalzentrierten Wirtschaften assoziiert, das Veitel Itzig mit dem Baron von Rothsattel verbindet. In der antisemitisch modellierten Sphäre der Kreditwirtschaft werde die Geldzirkulation von materiellen Referenzen entkoppelt und in den Bereich des Selbstreferenziellen, Immateriellen und Spekulativen verschoben. Die bürgerliche Wirtschaftssphäre dagegen setze auf einen stabilen Kreislauf von Ware und Geld. Vgl. Lemke, S. 259. Einmal mehr zeigt sich hier, wie sich das semiotische Geschlossenheitsideal des Romans an dessen immanenten Ökonomiediskurs rückbinden lässt. Konstruierte Gegensätze von Selbst-

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schlag vom Bildungs- zum Aufstiegsroman, der im Realismus seinen Lauf nimmt, strukturell verändert. Während dem Bildungsroman eine ,romantische Ökonomie‘²⁵⁵ eingeschrieben ist, die in episodenhaften und ateleologischen Strukturmomenten einmündet, wirkt die realistische Ökonomie des Aufstiegsromans der Kontingenzevokation durch eine einsinnige Teleologie und Kausalität entgegen. Diese verschaffen dem auf Darstellungsebene präsentierten Erfolgsmodell ein strukturelles Pendant. Der Erfolg des Protagonisten spiegelt sich in einem suggerierten formalen Gelingen, das sich auf den verklärungsästhetischen Erwartungshorizont bezieht. Nach Auffassung der Grenzboten-Realisten nämlich ist es die geschlossene und einheitliche Komposition, die eine realistische Mimesis in eine idealistische Poiesis überführt, eine Herrschaft des Gesetzes „über die Willkür“²⁵⁶ signalisiert und so die Defizität des Mediums durch eine evozierte ,Formschönheit‘ ausgleicht: „Die Aufgabe der Kunst ist die Harmonie“²⁵⁷, lautet die programmatische Maxime Julian Schmidts. In Freytags Roman wird die geforderte Harmonie nicht nur über eine Teleologisierung erzeugt, sondern über eine adaptiv anmutende Verfahrensstrategie. Wie schon zeitgenössische Rezensenten bemerkt haben, zeichnet sich die Handlungsstruktur durch eine dramenähnliche Komposition aus.²⁵⁸ Parallel zum Haupthandlungsstrang um Anton Wohlfart, der nach einer Reihe krisenhafter Situationen sein Glück findet, stehen tragödienhaft erscheinende Erzählstränge um den Freiherrn von Rothsattel und Veitel Itzig. Beide Figuren erfahren durch ihre jeweilige temporale und ökonomische hamartia – im Falle Itzigs die radikale Gegenwartsbezogenheit und das Profitdenken, im Falle des Freiherrn das Überzeitlichkeitsdenken und Spekulieren – einen „Umschlag vom Glück ins Un-

und Fremdreferenz, Offenheit und Geschlossenheit, Dynamik und Stabilität, sind in diesem Sinne nicht nur poetologisch codiert als Opposition von romantischen und realistischen Erzähllinien, sondern ökonomisch kontextualisierbar als Gegensatz von kreditbasierter und tauschzyklischer Wertschöpfung.  Vgl. zu diesem Begriff Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 255 – 288 sowie den eigens diesem Thema gewidmeten Aufsatz von Joseph Vogl: Romantische Ökonomie. Regierung und Regulation um 1800. In: Balint, Iuditha; Zilles, Sebastian (Hrsg.): Literarische Ökonomik. Paderborn: Fink, 2014. S. 69 – 84.  Julian Schmidt: Vorwort zum neuen Semester. In: Die Grenzboten. Jg. 11, Bd. III (1852), S. 1– 9, hier S. 2.  Julian Schmidt: Studien zur Geschichte der französischen Romantik. In: Die Grenzboten. Jg. 8, Bd. IV (1840), S. 401– 410, hier S. 410.  Schon Fontane hat eine „Verschmelzung dreier Dramen“ konstatiert, in der die Ursache für die gelungene Komposition des Romans begründet liege. Vgl. Fontane: Rezension, S. 252. Vgl. zur dramenzentrierten Lesart des Romans Nathali Jückstock-Kießling: Ich-Erzählen. Anmerkungen zu Wilhelm Raabes Realismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2004. S. 124.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

213

glück“²⁵⁹. In seiner Autobiographie hat Freytag selbst die Struktur des Romans mit dem Aufbau eines Dramas, wie Freytag ihn in der Technik des Dramas (1863) beschreibt, verglichen:²⁶⁰ In Soll und Haben sind die gelungene Schurkerei Itzigs, der Ruin des Freiherrn und Ehrenthals, und die Trennung Antons aus dem Geschäft der Höhepunkt des Romans, und die Rückkehr Antons in das Geschäft mit allem, was daraus erfolgt, die Katastrophe. Bei der Beschaffenheit des Stoffes, welcher eine breite Ausführung der zweiten Hälfte nothwendig machte, nahm der Verfasser sich die Freiheit, die Umkehr in zwei Bücher zu scheiden, dadurch hat die Erzählung sechs Theile erhalten, nothwendig wäre nur die Fünfzahl.²⁶¹

Die Zuschreibung einer dramenanalogen Struktur fügt sich in die Reihe feldstrategischer Positionierungen von Soll und Haben ein, die Freytag und Schmidt vor und nach dem Erscheinen des Romans in ihren programmatischen und theoretischen Schriften vorgenommen haben.²⁶² Nichtsdestotrotz lässt sich auch auf intratextueller Ebene eine Bezugslinie zur Dramenform feststellen. Durch das Aufstiegssujet werden Kompositionsprinzipien des Dramas nicht nur strukturell in den Erzähldiskurs eingelagert, sondern in die semantisch-narrative Ebene projiziert. Den einleitenden Erzählpassagen, die den Protagonisten „im Anfange eines neuen Lebens“²⁶³ schildern, folgen klimaktisch strukturierte Erzähleinheiten im Handelshaus Schröter, die dem Moment „aufsteigender Handlung“²⁶⁴ entsprechen. Auch die „fallende Handlung“²⁶⁵ wird gleichsam verbaliter in die Narrationsstruktur übersetzt: Die Hinwendung zu der im Untergang begriffenen romantisch-feudalen Welt lässt die Aufstiegsnarration pausieren und den Protagonisten sowohl materiell als auch ideell hinter seine bisherigen Errungenschaften im bürgerlichen Handelshaus zurückfallen. Dagegen bringt die am Ende eintretende Eheschließung mit Sabine nicht nur eine dramenanaloge Lösung, sondern besiegelt seinen Aufstieg. Mit der Adaption konventioneller Dramenelemente macht sich der Text ein Formprinzip zu eigen, das die nachmärzliche Romantheorie zum Inbegriff verklärungsästhetischer Poetizität erklärt hatte. Wenn sich der Roman kompositionstechnisch dem Drama nähert, so korrespondiert er einer Form, die nach der

 Fontane: Rezension, S. 251.  Vgl. Jückstock-Kießling, S. 124.  Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben. In: Gesammelte Werke, Gustav Freytag. Bd. 1. Leipzig: Hirzel, 1896. S. 179 f.  Vgl. dazu Böttcher: Die Poesie des Prosaischen.  Freytag: Soll und Haben, S. 11.  Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Leipzig: Hirzel, 1863. S. 68.  Freytag: Technik des Dramas, S. 152.

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

Auffassung Freytags auf exemplarische Weise „die Einzelheiten der dargestellten Begebenheiten in vernünftigen innern Zusammenhang setzt“²⁶⁶ und ein „Verständniß des großen Weltzusammenhanges“²⁶⁷ bekundet. So lässt sich die dramenaffine Gestaltung als ein Mittel sehen, der Forderung nach einer verfahrenstechnisch evozierten Idealität gerecht zu werden, die das idealrealistische Programm – ausgehend von einem Nexus zwischen dramatischer Komposition, Poetizität und ,Formschönheit‘ – postuliert. Auch die Strukturebene lässt sich also in einen Bezug zum Aufstiegssujet setzen: Das Gelingen, das die Aufstiegserzählung darstellt, spiegelt sich in einer Erzählstruktur, die das zentrale Ziel des realistischen Programms, die Verklärung, als gelungen ausweist. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine der Grundvoraussetzungen festhalten, unter denen sich die Konturierung des Aufstiegssujets im realistischen Erzählsystem vollzieht. Die realistische Aufstiegserzählung erweist sich als Konstituens und Produkt einer strategischen Allianz von Romankritik und -produktion. Zugespitzt ließe sich sagen, dass die Aufstiegsnarration in Soll und Haben in einer Analogie zwischen diegetischem Geschehen und produktionsbezogenen Faktoren mündet: Ebenso wie der Aufstieg des Protagonisten aus einer Internalisierung der an ihn gestellten Anforderungen folgt, zielt das Erzählsystem des Romans auf eine Konvergenz mit Forderungen der Romankritik, um einen poetologischen Problemhorizont, die Dichotomie von Poesie und Prosa, zu beheben und auf diese Weise einen vorrangigen Platz im Kanon zu erhalten.²⁶⁸ Indem der Roman das Verklärungsprojekt als gelungen ausweist, kann er sich „als Ausdruck wie Ermöglichungsraum neuer Positionierungen“²⁶⁹ innerhalb eines literarischen Felds gerieren, dessen Problemhorizont er – ähnlich wie die Grenzboten – zu erkennen und zu überwinden vorgibt. Freytags Roman lässt nicht nur die poetologische Codierung der Aufstiegsnarration und ihre systeminternen Konstitutionsbedingungen hervortreten. Er führt zugleich die Kontrast- und Ausschlusslogiken vor Augen, über die sich der Selfmademan konfiguriert. Im Laufe des Romans treten mehrere Figuren in Erscheinung, die als Gegenpole zum Protagonisten fungieren und durch diese Kontrastfunktion die Erzählkerne des selfmade-Narrativs verfestigen. Mit dem Freiherrn etwa tritt eine Figur in Erscheinung, die in ihrer Gegenwartsverweigerung und ihrer ökonomischen Unproduktivität ex negativo vorführt, was das

   

Freytag: Technik des Dramas, S. 74. Freytag: Technik des Dramas, S. 74. Vgl. Böttcher: Die Poesie des Prosaischen. Böttcher: Die Poesie des Prosaischen, S. 167.

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

215

selfmade-Sujet nahelegt. Noch stärker allerdings bekundet sich der Kontrast zur jüdischen Figur Veitel Itzig. Im Gegensatz zu Anton Wohlfart, der sein Leben durch „eigene Tätigkeit […] zu erhalten“²⁷⁰ sucht und im Laufe des Lebens lernt, welch „hohen Wert ein sicheres, geformtes und gesundes Leben in selbständiger Tätigkeit habe“²⁷¹, wendet sich Veitel Itzig dubiosen Geschäftspraktiken zu. Sein ,Emporkommen‘ ist dementsprechend nicht mit einer Eingliederung in eine bürgerliche Ordnung verbunden, wie es bei Anton der Fall ist, sondern mit einer bewussten Absetzung von der bürgerlichen Sphäre, die ihn sowieso nie als ihr vollwertiges Mitglied anerkannt hat. Das Geschäft mit dem mysteriösen „Fremden“²⁷², der ihn lehrt, „das Gesetz zum eignen Vorteil zu benutzen“²⁷³, stellt zugleich einen Racheakt gegen die deutsch-bürgerliche Welt dar: Er dachte in diesem Augenblick an seine alte Mutter in Ostrau, ein ehrliches Weib, wie sie ihre goldene Kette verkauft hatte, um ihm sechs Dukaten in die Ledertasche zu nähen; er sah sie vor sich, wie sie ihn beim Abschiede mit Tränen gebenscht hatte und zu ihm gesagt: „Veitel, es ist eine arge Welt, verdiene dir ehrlich dein Brot,Veitel!“ – […] Auch an die fünfzig Taler dachte er, wie viel Mühe ihm gekostet hatte, sie im Schacher zu erwerben, wie oft er darum gelaufen war, wie oft man ihn geschmäht, ja als Überlästigen mit Schlägen bedroht hatte. Als ihm der letzte Gedanke durch die Seele flog, riß er heftig die Brieftasche aus der Jacke, warf sie auf den Tisch […] und rief mit blitzenden Augen: „Hier ist Geld!“²⁷⁴

Der bewusste Bruch mit moralisch-bürgerlichen Normen macht Itzig zum Inbegriff des modernen bindungslosen Subjekts, dessen radikales Selbstinteresse sämtliche Verpflichtungen und Werte außer Kraft setzt und dessen Geldstreben keinerlei Skrupel oder Grenzen kennt. In seiner Rolle als Aufsteiger korrespondiert Itzig folglich nicht der bürgerlichen Idolfigur Franklin, sondern dem Typus des jüdischen Parvenüs, wie ihn Hannah Arendt in ihrer Biographie über Rahel Varnhagen konzeptualisiert hat. Der Parvenü versucht, aus seinem Pariastatus herauszubrechen, was ihm nur durch eine Aufgabe identitätsstiftender Merkmale und Wahrheitsansprüche gelingen kann. Paradigmatisch bringt der Parvenü laut Arendt die tragische Aporie jüdischer Existenz zum Ausdruck, die gesellschaftliche und soziale Anerkennung mit dem Preis des Identitäts- und Integritätsverlusts bezahlen muss.²⁷⁵ Der Weg des Parvenüs bestehe darin,

 Freytag: Soll und Haben, S. 143.  Freytag: Soll und Haben, S. 752.  Freytag: Soll und Haben, S. 109.  Freytag: Soll und Haben, S. 110.  Freytag: Soll und Haben, S. 111.  „Der Preis, der vom Paria gefordert wird, wenn er Parvenu werden will, ist immer zu hoch und betrifft immer die menschlichsten Dinge, die, aus denen sein Leben allein bestand“, heißt es

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

alles Natürliche zu opfern, alle Wahrheit zu verdecken, alle Liebe zu mißbrauchen, alle Leidenschaft nicht nur zu unterdrücken, sondern schlimmer, zum Mittel des Aufstiegs zu machen.²⁷⁶

Indem Freytags Roman ein ebensolches Parvenütum schildert, schafft er ein Gegenbild zum bürgerlichen Aufstiegstypus, dem der jüdische Emporkömmling auch in seiner poetologischen Implikation entgegensteht.²⁷⁷ Als Parvenü nämlich steht Veitel Itzig für einen Wahrnehmungsmodus, der dem von Anton Wohlfart vertretenen Verklärungsanspruch diametral entgegengesetzt ist. Der Parvenü, so Arendt, bezahlt den Ausgang aus dem Pariastatus damit, „daß er endgültig unfähig wird, Allgemeines zu erfassen, Zusammenhänge zu erkennen, sich für anderes als für seine eigene Person zu interessieren.“²⁷⁸ Die Fähigkeit zur verklärenden Weltwahrnehmung, die auf eine kognitive Synthetisierung von ,Poesie‘ und ,Prosa‘ hinausläuft und aus dem kontingenten Einzelnen einen allgemeinen Sinn extrahiert, bleibt dem Parvenü folglich verwehrt. Allein dem bürgerlichen, auf Franklin abgestimmten Aufsteiger gelingt nach dieser Logik der verklärende Tiefenblick, den die Grenzboten-Realisten programmatisch fordern. Wie die poetologische Erzählebene werden die intertextuellen Bezugslinien des Romans durch die Konstruktion des Parvenüs erhärtet. Als jüdische Figur, die vom Paria zum Parvenü wird, ist Veitel Itzig Teil einer intertextuell konkretisierbaren Figurengenealogie. Eine der prätextuellen Vorlagen, die sich in den Erzählstrang um Itzig einschreiben, bildet Karl B. Sessas antisemitische Posse Unser Verkehr, die Julian Schmidt in seinem 1848 erschienenen Aufsatz Theater-Juden thematisiert hat.²⁷⁹ Der episodisch strukturierte Einakter weist mehrere Elemente auf, die sich – in freilich differenzierterer Form – auch in Soll und Haben finden.²⁸⁰ in Hannah Arendt [1957]: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik. München: Piper, 2018. S. 222.  Arendt, S. 218.  Zum Zusammenhang von ethnischer, sozialer und poetologischer Codierung in Freytags Roman vgl. Achinger: „Prosa der Verhältnisse“ und Poesie der Ware, S. 68.  Arendt, S. 224.  Vgl. Mark H. Gelber: Antisemitismus, literarischer Antisemitismus und die Konstellation der bösen Juden in Gustav Freytags Soll und Haben. In: Krobb, Florian (Hrsg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 285 – 300, hier S. 290 – 299.  Unter dem Titel Die Judenschule wurde das Stück bereits 1813 in Breslau aufgeführt, doch wurde aufgrund der jüd*innenfeindlichen Diffamierungen nach kurzer Zeit ein Aufführungsverbot erteilt. Zwei Jahre später wurde die Posse unter dem aus Zensurgründen veränderten Titel Unser Verkehr im Königlichen Schauspielhaus Berlin uraufgeführt; es folgten weitere Inszenierungen in Braunschweig, Bremen, Hamburg und anderen Städten. Vgl. Matthias Richter: Die

1.2 Der Aufsteiger als normativer Typus und Verklärungsmedium (Freytag)

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Bei Sessa wird der Typus des jüdischen Emporkömmlings zum Bezugspunkt parodistischer Erzählmuster und antisemitischer Stereotype. „Ich will doch werden raich ‒ bald ‒ in kurzer Zeit“²⁸¹ lautet die Maxime des Protagonisten Jakob Hirsch, die immer wieder reformuliert wird: „Ich känn doch aach werden ä reicher Mann“²⁸², „Ich will machen äne Fortüne“²⁸³. Es ist dasselbe Ziel, das Veitel Itzig verfolgt und ihn vom Protagonisten abgrenzt. Ex negativo bekundet sich hier ein zentrales Merkmal des realistischen Selfmademans, das ihn vom konstruierten jüdischen Emporkömmling ebenso wie von den fiktiven Selfmademen späterer Epochen unterscheidet. Anstatt sich den Gelderwerb zum Ziel zu setzen, wird der im Realismus konstruierte Selfmademan allein aus idealen Beweggründen heraus ökonomisch tätig. Dem realistischen Selfmademan liegt damit ebenjene Differenzsetzung zugrunde, die kurze Zeit später Wilhelm Heinrich Riehl vornimmt.²⁸⁴ In seiner Abhandlung Die deutsche Arbeit (1861) zieht Riehl eine Grenze zwischen einem „modernen Materialismus“, dem die Arbeit als bloßes Mittel zum Gelderwerb dient, und einer „Arbeit, welche in aufopferungsfreudiger Begeisterung um des idealen Erfolges willen unternommen wird“²⁸⁵. Freytags Roman, der diese Differenzsetzung über eine Gegenüberstellung von jüdischem Emporkömmling und Selfmademan zum Ausdruck bringt, nimmt damit eine antisemitische Aufsplittung des Aufstiegsschemas vor, die eng mit seinem Ideal der ,deutschen Arbeit‘ verbunden ist. Was den Selfmademan auszeichnet, geht dem jüdischen Emporkömmling ab. Dem Sinn für Arbeit als „moralischem Imperativ“ steht ein Verständnis von Arbeit als Erwerbsmittel entgegen; der Sinn für den poetischen Gehalt von Arbeit kollidiert mit einer egozentrischen Indienstnahme von Arbeit als Schlüssel zur persönlichen Bereicherung.²⁸⁶ Durch das Bild des jüdischen Emporkömmlings externalisiert und personifiziert die Erzählung also, was die

Sprache jüdischer Figuren in der deutschen Literatur (1750 – 1933). Studien zu Form und Funktion. Göttingen: Wallstein, 1995. S. 155 sowie Horst Denkler: „Lauter Juden“. Zum Rollenspektrum der Juden-Figuren im populären Bühnendrama der Metternichschen Restaurationsperiode (1815 – 1848). In: Horch, Hans Otto; Denkler, Horst (Hrsg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen: Niemeyer, 1988. S. 149 – 163, hier S. 157.  Karl B. Sessa [1813]: Unser Verkehr. Eine Posse in einem Aufzuge. 7. Auflage. Berlin: L. Oehmigle’s Verlag, 1863. S. 11.  Sessa, S. 31.  Sessa, S. 25.  Auf die Parallele zu Riehl hat bereits Christine Achinger hingewiesen; vgl. Achinger: Antisemitismus und „Deutsche Arbeit“, S. 369.  Wilhelm Heinrich Riehl: Die deutsche Arbeit. Stuttgart: Cotta’scher Verlag, 1861. S. 8.  Vgl. Achinger: Antisemitismus und „Deutsche Arbeit“, S. 368.

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1 Metapoetik und bürgerliche Selbstbeschreibung

Aufstiegsnarration im Bild der ,deutschen Arbeit‘ verklärend auszugleichen sucht: kapitalistische Egozentrik und Entfremdung, Abstraktion und Ökonomisierung.²⁸⁷

 Vgl. Achinger: Antisemitismus und „Deutsche Arbeit“, S. 368.

2 Literarische Repliken Wie der Blick auf Soll und Haben gezeigt hat, manifestieren sich im realistischen selfmade-Sujet neben bürgerlichen Subjektivationsnormen poetologische Ideale. Das realistische Aufstiegsschema lässt sich als Verfahren beschreiben, das auf verschiedenen Ebenen das Verklärungsprogramm einlöst: auf semantisch-narrativer Ebene, sofern der Aufstieg eine Harmonie von Individuum und Außenwelt nahelegt, auf erzähldiskursiver Ebene, wo das Aufstiegsschema eine Teleologisierung des Geschehens anstößt, und auf semiotischer Ebene, wo das Gelingen einer Metacodierung markiert wird. In der unmittelbaren Folgezeit sind mehrere Erzählungen erschienen, die den Konnex von Aufstiegssujet und Verklärungsästhetik ausbauen und sich dabei jeweils unterschiedlich zum realistischen Erzählprogramm positionieren. Das Spektrum reicht von emphatischen Transformationen, wie es in Berthold Auerbachs Dorfgeschichte Barfüßele (1856) der Fall ist, über desillusionistische Durchbrechungen, wie es in Gottfried Kellers Novelle Pankraz, der Schmoller (1856) geschieht, bis hin zu parodistischen Entstellungen, wofür Reinhold Solgers Roman Anton in Amerika (1862) exemplarisch ist. Anhand dieser drei Erzählungen, um die es im Folgenden gehen wird, lässt sich eine der zentralen Funktionen, die dem Typus des Selfmademans im realistischen Erzählsystem zukommt, näher bestimmen. Wie gezeigt werden soll, avanciert das selfmade-Sujet im Laufe der 1850er und 60er Jahre zu einem Problematisierungsmedium des idealrealistischen Erzählprogramms. Die verklärende Funktion wird auf verschiedene Weisen zum Gegenstand der Reflexion, deren Ausgangspunkt bestimmte, meist modernekritische Gegenwartsbilanzen bilden. Von den Defiziten der ,neuen Zeit‘ wird auf eine Wirklichkeitsferne oder Unzeitgemäßheit der Verklärungsdoktrin geschlossen, sodass die poetologische Codierung zu einer zeitdiagnostischen Wertung gerinnt. Noch deutlicher tritt diese temporale Dimension in Romanen hervor, in denen das selfmade-Sujet mit zeitpanoramatischen Erzählstrukturen korreliert. In Fanny Lewalds Von Geschlecht zu Geschlecht (1864 – 1866) und Friedrich Spielhagens Hammer und Amboß (1869) tragen Aufstiegs- und Untergangsszenarien dazu bei, dass sich ein narrativer Schnitt durch die Synchronzusammenhänge der jeweiligen Zeit ergibt. Das selfmade-Sujet öffnet sich für eine zeitgeschichtliche Erzählform, die nicht das einzelne Individuum, sondern die sich verändernden Verhältnisse der Zeit in den Fokus rückt, womit eine zentrale Etappe im Umbruchsprozess vom Bildungs- zum Aufstiegsroman erreicht ist. Diese zeitbezogene Reflexionsfunktion tritt auch in Romanen der 1870er und 80er Jahre hervor, doch verändert sich, wie anhand von Wilhelmine von Hillerns Aus eigener Kraft

https://doi.org/10.1515/9783110766134-007

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2 Literarische Repliken

(1870) und Fanny Lewalds Die Familie Darner (1887) gezeigt werden soll, die Art und Weise der narrativen Zeitbilanz.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger) Dass die in Soll und Haben angelegte poetologische Ebene des selfmade-Sujets in der Folgezeit neu dimensioniert wird, zeigt sich besonders deutlich in einer Erzählung, die ein Jahr nach Freytags Roman erschienen ist. Die Dorfgeschichte Barfüßele (1856) von Berthold Auerbach, der ein Jahr zuvor eine Rezension zu Soll und Haben verfasst hat,¹ reaktualisiert zunächst dem Anschein nach das Verklärungspotenzial der Aufstiegsnarration. Die poetische clôture-Funktion des Aufstiegssujets, das Individuum und Außenwelt als versöhnt erscheinen lässt, bildet das abschließende Element einer Synthesepoetik, die die Subjektivität der Handlungsträgerin und die Elementarkräfte der Natur in einer organischen Einheit aufgehen lässt. Immer wieder fallen Inneres und Äußeres zusammen: Tag auf Tag lebte Amrei so dahin, stundenlang konnte sie träumerisch zusehen, wie der Schatten vom Gezweige des Holzbirnenbaums sich von dem Winde auf der Erde bewegte, dass die dunkeln Punkte wie Ameisen durcheinanderkrochen; dann starrte sie wieder auf eine feststehende Wolkenbank, die am Himmel glänzte, oder auf jagende flüchtige Wolken, die einander fortschoben. Und wie draußen im weiten Raum, so standen und jagten, stiegen und zerflossen auch in der Seele des Kindes allerlei Wolkenbilder, unfaßlich und nur vom Augenblick Dasein und Gestalt empfangend. Wer aber weiß, wie die Wolkenbildungen draußen in der Weite und im engen Herzensraum zerfließen und sich wandeln?²

Das Synthese-Ideal, das sich an dieser Stelle abzeichnet, wird durch das Aufstiegsschema narrativ bekräftigt. Auf einer raumsemantischen Ebene lässt das Aufstiegssujet die Dichotomie von Innen und Außen etappenweise verfließen.³ Der Erzählbeginn schildert die Protagonistin Amrei vor ihrem verschlossenen Elternhaus und positioniert sie damit dezidiert in einer Außenposition. Die erste Stufe des Aufstiegswegs, die Arbeit als Gänsemagd, führt die Figur auf Weideflächen abseits des Dorfes, während die höhere Magdposition ihr Zugang zu den

 Vgl. Auerbach: Soll und Haben.  Berthold Auerbach [1856]: Barfüßele. In: Berthold Auerbach’s Gesammelte Schriften. Bd. 9. Stuttgart/Augsburg: Cotta’scher Verlag, 1858. S. 58.  Vgl. Bettina Wild: Topologie des ländlichen Raums. Berthold Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten und ihre Bedeutung für die Literatur des Realismus. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011. S. 174 und 300.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

221

Stallräumen und der Küche verschafft, bis sie als „neues Aschenputtel“⁴ in den Ballsaal geführt wird und schließlich – als Ehefrau des reichen Hofbauern – in das großbäuerliche Herrenhaus aufgenommen wird. Über das Narrationsmuster des Aufstiegs, dessen räumliche Konkretisation die „Grenzräume zwischen Innen und Außen“⁵ aufhebt, wird folglich eine mythisch anmutende Erlebnisform gespiegelt, wodurch sich die etablierten Verweisungslinien der Aufstiegsnarration verschieben: Der nationalökonomische Bezugshorizont, der die Aufstiegsnarration in Soll und Haben bestimmt hatte, weicht einem weltanschaulichen Erzählkontext. Zu Recht hat ein zeitgenössischer Rezensent auf die pantheistische „Bewußtseynsform“⁶ und den spinozistischen „Grundton der Auerbach’schen Dorfgeschichten“⁷ hingewiesen. In Barfüßele sind es vor allem Vernetzungen von Himmelskörper, Menschenwelt und Tierwelt, die ein pantheistisches Einheitserleben nahelegen und dabei an die idealistische Identitätsphilosophie – die Auerbach schon durch den Besuch von Schellings Münchener Vorlesungen bekannt war – anschließen. Vermittelt wird das Einheitsideal durch präsentische Formulierungen in der zweiten Person Singular, die auditive und visuelle Wahrnehmungsakte deiktisch zur Schau stellen: Und schau, der Abendstern der bei Sonnenuntergang entfernt und tief unter dem Mond stand, steht jetzt nahe und über ihm, und je mehr man ihn ansieht, je mehr glänzt er. Spürt er wohl den Blick eines Menschen? Jetzt still, horch, wie die Nachtigall schlägt – das ist ein Gesang, so tief, so weit; ist es denn nur ein einziger Vogel?⁸

Im Vergleich zu den vorherigen Aufstiegserzählungen zeigt sich in Barfüßele noch eine weitere signifikante Verschiebung. Anstelle des typisierten ,Mannes eigner Kraft‘ ist es bei Auerbach eine weibliche Figur, die sich der Maxime der „Selbstverantwortlichkeit“⁹ verschreibt, und, wie es Julian Schmidt in seiner Rezension zu Barfüßele formuliert, zur „Schöpferin ihres Schicksals“¹⁰ avanciert. Unweigerlich drängt sich hier der Eindruck auf, dass eine zentrale Funktionsebene des selfmade-Sujets, die narrative Konstruktion von Männlichkeit, in Auerbachs

 Der Entwurf der Dorfgeschichte trägt den Titel „Barfüßele, das neue Aschenputtel“. Vgl. Wild, S. 291.  Wild, S. 174.  O.V.: Berthold Auerbachs gesammelte Schriften. Zweite Gesammtausgabe. In: Beilage zu Nr. 106 der Allgemeinen Zeitung, 15. April 1864. S. 1717.  O.V.: Berthold Auerbachs gesammelte Schriften, S. 1717.  Auerbach: Barfüßele, S. 148.  Auerbach: Barfüßele, S. 28.  Julian Schmidt: Barfüßele von Berthold Auerbach. In: Literatur-Blatt des Deutschen Kunstblattes, 08.01. 1857. S. 1– 3, hier S. 2.

222

2 Literarische Repliken

Dorfgeschichte umgekehrt wird. Einer als weiblich markierten Figur werden Gestaltungsmacht und Selbstverantwortlichkeit zugeschrieben, eine als weiblich markierte Figur wird zur Protagonistin eines Erzählmusters, in dem sich gemeinhin die Kategorie ,Männlichkeit‘ diskursiviert. Schon zu Erzählbeginn wird deutlich, dass der Konnex von selfmade-Narrativ und Männlichkeit bei Auerbach brüchig wird. Die Landfriedbäuerin prognostiziert das zukünftige Glück der Protagonistin und wendet dabei ein Argument an, das sich in den sammelbiographischen und ratgeberischen Schriften des ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – den programmatischen Verfechtern männlicher Subjektbilder – wiederfinden wird: „In der Jugend Noth ertragen lernen, das thut gut, wer noch etwas Rechtes geworden ist, hat in der Jugend Schweres erfahren müssen“¹¹. Neben der Landfriedbäuerin ist es die durchgängig als „schwarze Marann“ bezeichnete Pflegemutter der Protagonistin, die ihr die Grundsätze einer Selbsthilfe-Ideologie indoktriniert und dabei Emersons Ideal der Self-Reliance zu reformulieren scheint:¹² Es giebt kein Glück und kein Unglück. Jeder kann sich Alles selber machen wenn er sich recht kennt und die andern Menschen auch, aber nur unter Einem Beding: er muß allein bleiben. Allein! Allein! Sonst hilft’s nicht.¹³

Hatten die Aufstiegserzählungen Gotthelfs, Freytags und Kellers die herkömmlichen Rollenbilder fortgeschrieben, so zeigt sich in Barfüßele eine Umkehrung derselben. Das Ideal des selbst erarbeiteten Aufstiegs wird auf die weibliche Protagonistin projiziert, der ebenjene selbstverantwortliche Lebensführung gelingt, an der ihr Bruder scheitert: „Drum muß man sich nur auf sich selbst verlassen“, war ihr innerer Wahlspruch, und statt sich niederdrücken zu lassen von Hindernissen, wurde sie dadurch nur immer schnellkräftiger.¹⁴

Das Konzept des Selfmademans, das hier vom Dispositiv der Männlichkeit entkoppelt scheint, wird jedoch noch einer weiteren Transformation unterzogen, wodurch das subversive Potenzial Abstriche erfährt. Effizientes wirtschaftliches Handeln, das bei Gotthelf und Keller den Aufstieg bedingt hatte, spielt in Bar-

 Auerbach: Barfüßele, S. 13.  Vgl. Ralph Waldo Emerson [1841]: Self-Reliance. In: Ferguson, Alfred R. et al. (Hrsg.): The Collected Works of Ralph Waldo Emerson. Volume II. Essays: First Series. Harvard University Press, 1971. S. 25 – 52.  Auerbach: Barfüßele, S. 77.  Auerbach: Barfüßele, S. 110 f.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

223

füßele kaum eine Rolle. Auch der Zeitindex des Aufstiegsschemas ändert sich. Während die vorherigen Erzählungen mit der Konstruktion bürgerlicher Aufsteiger unterschiedlich konnotierte Gegenwartsbilder entworfen hatten, wird die Protagonistin in Barfüßele außerhalb des Zeitgeschehens situiert. Die Figur ist keine Repräsentantin einer idealisierten oder diskreditierten ökonomischen Moderne, sondern wird mit einer vormodernen Mentalität assoziiert. Dies zeigt sich zum einen in ihrem vorwissenschaftlichen Naturverständnis, zum anderen in ihrem vehementen Hinwegsetzen über Gesetze. Dem Gemeinderat, der Amreis Bruder das Heimatrecht entzieht und seine Ausweisung beschließt, hält die Figur das Walten einer höheren Gesetzlichkeit, die genealogisch-familiale Bindung, entgegen: „Man kann Niemand ausweisen aus dem Ort, wo seine Eltern begraben sind, da ist er mehr als daheim; und wenn’s tausend und tausendmal da in den Büchern steht (sie deutete auf die gebundenen Regierungsblätter) und anders stehen mag, es geht doch nicht und Ihr könnet nicht.“¹⁵

Obgleich die Figur in ihrem bürgerlichen Arbeitsethos und meritokratischen Credo zentrale Eigenschaften des realistischen Selfmademans aufweist, kehrt ihre Darstellung folglich Kernelemente des selfmade-Sujets um. Suggeriert wird kein Anbruch einer ,neuen Zeit‘, in der sich das moderne Subjekt von genealogischen Bindungen befreit, sondern das Fortwirken einer temporalen Relationalität, in der das Regime der Vergangenheit von der Zukunft unbehelligt bleibt. Forciert wird diese Vergangenheitsbezogenheit durch das mythische Denken, das der Figur zugeschrieben wird und durch die figurative Sprache der Erzählinstanz gespiegelt wird: Aus dem Gewitter wird ein „wilde[r] Kampf am Himmel“¹⁶; die umgebende Natur wird anthropomorphisiert: „Die Berge, der Wald, die Felder, Alles sieht aus wie ein Menschenantlitz, das sich ausgeweint hat und nun hellglänzend in Freude strahlt.“¹⁷ Der Vergangenheitsindex der Aufsteigerin bildet auch den Kern einer Erzählpassage, in der die Dorfgeschichte ihr eigenes Leitsujet anachronisiert. Zunächst bekundet Amrei der „schwarzen Marann“ gegenüber eine Vorahnung ihres zukünftigen Lebenswegs. Dabei lässt die Figur ein Bewusstsein für die eigene Erzählkonstruktivität zutage treten: „Ihr habt mir ja viel hundert Geschichten erzählt wie eine Gänsehirtin Königin geworden ist“.¹⁸ Der weitere Handlungs-

   

Auerbach: Barfüßele, S. 168 f. Auerbach: Barfüßele, S. 55. Auerbach: Barfüßele, S. 54 f. Auerbach: Barfüßele, S. 49.

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verlauf, in dem die Gänsehirtin Amrei zur Großbäuerin aufsteigt, folgt damit einem Schema, das die Figur selbst als topisches Erzählprodukt ausgewiesen hat und das von ihrer Gesprächspartnerin als unzeitgemäß bezeichnet worden ist: „Das war in alten Zeiten. Aber wer weiß, du bist noch von der alten Welt; manchmal ist mir’s gar nicht, als wärst du ein Kind, wer weiß, du alte Seele, vielleicht geschieht dir noch ein Wunder.“¹⁹

Der soziale Aufstieg wird hier als Ereignis markiert, das quer zur gegenwärtigen Wirklichkeit steht. Neben dem Gegenwartsindex des Aufstiegssujets löst sich damit sein normativer Wirkungsanspruch auf. Die Titulierung als „Wunder“ evoziert eine Einmaligkeit und Unnachahmlichkeit, die dem Modellanspruch der Aufstiegsnarration entgegenstehen. Hatten die Romane Gotthelfs und Freytags im Anschluss an Franklin ihre fiktiven Aufsteiger als Normträger präsentiert, deren Maximen von der Leser*innenschaft imitiert werden sollen, so weist Auerbachs Erzählung den Aufstieg als außergewöhnliche Begebenheit aus, die den Gesetzen der Gegenwart widerspricht und so zu einem „Wunder“ wird. Vor diesem Hintergrund scheint es nur konsequent, dass die Erzählung ihre diegetische Zeitlichkeit immer wieder ambivalent artikuliert. In einem retrospektiven und metaleptischen Bericht der Erzählinstanz lässt eine zeitdeiktische Wendung die diegetische Vergangenheit mit der Gegenwart von Erzählinstanz und Leser*in imaginär amalgamieren: „Und jeden Morgen gingen die Kinder nach dem elterlichen Haus, klopften an und spielten dort am Weiher, wie wir sie heute sehen.“²⁰ Die Engführung der Zeitebenen, die sich auf Handlungsebene in der Wiederholung einer als anachronistisch markierten Geschichte spiegelt, suggeriert eine Wiederkunft des Immergleichen, die den Erzählkosmos mit einer zyklischen Zeitstruktur durchsetzt. Verstärkt wird diese mythische Temporalität durch die Entbehrlichkeit von Uhren, die klischeehafterweise die „schwarze Marann“ durch ein intuitives Zeitverständnis ersetzt. Die markierte Zyklizität ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie die Diskurslogik des Progressiven, die dem Erzählmuster des Aufstiegs gemeinhin inhäriert, kategorisch umkehrt, was auch aus Genderperspektive von Bedeutung ist. Die Aufstiegsgeschichte einer als weiblich markierten Figur birgt kein gegenwartsdiagnostisches Fortschrittsnarrativ in sich, sondern suggeriert vielmehr eine zyklische Kontinuität und tilgt die Differenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft aus. Diese Differenznivellierung zeigt sich auch auf erzähldiskursiver Ebene. Immer wieder geht der präteritale Erzählmodus ins Präsens über. Mit dieser Zeit Auerbach: Barfüßele, S. 49.  Auerbach: Barfüßele, S. 8.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

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ebenenverschmelzung löst der Text das verklärungsästhetische Postulat einer die Zeitgrenzen transgredierenden Gegenwartsschau ein, das Auerbach in seiner programmatischen Abhandlung Schrift und Volk (1846) aufgestellt hatte. Unter Rückbezug auf Schiller fordert Auerbach „Philosophen und Dichter“ dazu auf, eine „Fern- und Uebersicht“ einzunehmen, „von der aus sie das Gegenwärtige wie ein Vergangenes und Fernes schauen“, um „unbehindert von den tausend Einzelheiten“ einen „allgemeinen […] Gedanken“ offenbaren zu können.²¹ Das Gebot einer „Versöhnung von Idealismus und Realismus“²² koppelt sich bei Auerbach an ein Postulat der Vereinigung von Gegenwartsbezug und Überzeitlichkeit: Der ideale Volksdichter ist ein „Verkünder des Ewigen in seiner endlichen Erscheinung“²³. In der Erzählung wird diese geforderte Synthese des Überzeitlichen und Gegenwärtigen insbesondere durch die Einbindung von Volksliedern erzeugt. Unter anderem enthält der Text einen Abdruck der von Herder geprägten dreistrophigen Fassung von „Wenn ich ein Vöglein wär’“²⁴, die durch eine Kontinuitätsevokation in den Erzählverlauf eingepasst wird: Es war wunderbar, wie jetzt alle Lieder auf Barfüßele gesetzt waren, und wie viel Tausend haben sich diese schon aus der Seele gesungen und wie viel Tausende werden sie sich noch aus der Seele singen. Ihr, die ihr euch sehnt und endlich ein Herz umschlungen haltet, ihr haltet damit umschlungen das Lieben aller derer, die je waren und sein werden.²⁵

Abgesehen von den Volksliedern sind es Märchenreferenzen, die das ,Volkstümliche‘²⁶ und damit verbunden auch das markierte ,Ungegenwärtige‘ der Aufstiegsnarration bedingen. Elemente des Märchenhaften durchziehen die Erzählung:²⁷ Figurenzeichnung und Handlungsgang spielen auf Aschenputtel, Die Gänsemagd und Die Gänsehirtin am Brunnen an; mit der Selbstinszenierung als „Salzgräfin“ stellt sich Amrei in die Nachfolge der Protagonistin aus Prinzessin

 Berthold Auerbach: Schrift und Volk. Grundzüge der volksthümlichen Literatur, angeschlossen an eine Charakteristik J.P. Hebel’s. Leipzig: Brockhaus, 1846. S. 24.  Auerbach: Schrift und Volk, S. 117 f.  Auerbach: Schrift und Volk, S. 25.  Auerbach: Barfüßele, S. 159.  Auerbach: Barfüßele, S. 159.  Vgl. zu Auerbachs Programm der Volksliteratur Michael Knoche: Volksliteratur und Volksschriftenvereine im Vormärz. Literaturtheoretische und institutionelle Aspekte einer literarischen Bewegung. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986), S. 1– 130, hier S. 88 – 91.  Vgl. dazu Wild, S. 291– 300 und Jesko Reiling: Des bestsellers grâce aux citations de contes? Les romans à succès de Berthold Auerbach et d’Eugenie Marlitt et leurs pré-textes issus de la poésie populaire. In: Revue de l’institut des langues et cultures d’Europe, Amérique, Afrique, Asie et Australie. Bd. 10: Le conte: d’un art à l’autre. UGA Éditions, 2014.

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Mäusehaut; durch ihre Rätselaufgaben wird sie mit der Prinzessin aus dem Märchen Vom klugen Schneiderlein assoziiert. Hinzu kommen eine Reihe motivischer Märchenallusionen, etwa durch die verschlossene Tür und das Beerensammeln, sowie Zitate aus Tischlein deck dich und Dornröschen. Auch stilistisch nähert sich die Erzählung der Märchenform: Aus den Bäumen werden bemantelte Riesen,²⁸ und auch die märchentypische Phrasenhaftigkeit findet Eingang in den Erzähldiskurs, wenn es heißt: Es war am Sonntag vor Allerseelen, als die Kinder wiederum vor dem verschlossenen Elternhaus spielten – sie waren wie an den Ort gebannt – da kam die Landfriedbäuerin den Hochdorfer Weg herein.²⁹

Auerbach selbst hat die Erzählung als „eine Art Aschenbrödel mit realistischer Motivierung“³⁰ bezeichnet, was einmal mehr die genderdiskursive Imprägnierung der Aufstiegsnarration vor Augen führt. Während mit dem Selfmademan ein Prototyp des modernen Wirtschaftsbürgers modelliert wird, ist die weibliche Aufstiegsfigur, wie sie bei Auerbach in Erscheinung tritt, eine volkstümliche Märchenheldin, auch wenn ihr Aufstieg auf eine analoge Apotheose der „bürgerliche[n] Arbeits- und Pflichtenethik“³¹ hinausläuft, die Gotthelf und Freytag lanciert hatten. Die märchenhafte Überformung des selfmade-Topos birgt jedoch nicht nur eine geschlechtsbezogene Diskurslogik, sondern eine poetologische Funktion in sich. Durch die Märchenpoetik wird die bei Freytag angelegte Problemlösungsfunktion des Aufstiegssujets suspendiert. In Soll und Haben hatte die Aufstiegsnarration sowohl dem idealrealistischen Synthesebegehren als auch der Forderung nach Gegenwartsbezüglichkeit Genüge getan. Diese Kopplung von evozierter Poetizität und Zeitbezogenheit wird durch den märchenhaften Duktus, der das selfmade-Sujet bei Auerbach bestimmt, unterbunden. Konstruiert wird eine märchenhafte Welt, die als „idyllische Sozialutopie“³² ihren Bezug zur Gegenwart ex negativo herstellt. Mit dieser negierten Gegenwärtigkeit befolgt die Dorfgeschichte abermals eine Devise, die Auerbach in Schrift und Volk formuliert. Die Aufgabe der Poesie bestehe darin, „das freie Individuum wieder in seinem Zu-

 Vgl. Auerbach: Barfüßele, S. 148.  Auerbach: Barfüßele, S. 9 f.  Berthold Auerbach: Brief an Heinrich Koenig vom 11.09.1856. In: Ermisch, Hubert (Hrsg.): Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde. Bd. 40. Dresden: Wilhelm u. Bertha v. Baensch Stiftung, 1919. S. 369 – 379, hier S. 379.  Reiling, S. 3.  Reiling, S. 4.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

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sammenhange mit Welt- und Menschenleben aufzuzeigen“, ohne dass diese „ideelle Construction“ an die Verhältnisse der gegenwärtigen Wirklichkeit angepasst werden müsste: Welche Wendungen daraus für das wirkliche Leben hervorgehen werden, wie die freien Vereine u.s.w. Einzelwille und Einzelinteresse mit dem Gesammten versöhnen mögen, das liegt außerhalb des poetischen Bereichs.³³

Mit der Betonung einer Getrenntheit der Sphären distanziert sich Auerbach von einem Schlüsselpostulat des idealrealistischen Erzählprogramms, das Soll und Haben literarisch propagiert hatte. Bei Auerbach ergibt sich eine realistische Gegenwartsreferenz dadurch, dass die verklärte Idealhaftigkeit als ein außerhalb der Realität stehendes Idealkonstrukt markiert wird und nicht – wie es die Grenzboten-Herausgeber gefordert hatten – als immanenter Teil der dargebotenen Realität in Erscheinung tritt. Eine solche Differenzmarkierung zeigt sich in Barfüßele. Stilistische Charakteristika des Märchens wie Anthropomorphisierungen und Prosopopöien, die die verklärende Metapoetik in Barfüßele bestimmen, werden in einer Reihe von Passagen nicht im Präteritum, sondern im Präsens dargeboten, stechen somit aus dem übrigen Erzähldiskurs hervor und werden als Konstituenten einer separaten diegetischen Sphäre markiert. An anderen Stellen sind es rhetorische Überformungen, die die Differenz von Ideal und Wirklichkeit apostrophieren. Das Märchenhafte wird als Produkt poetisierender Zeichenbildungen enthüllt. Eine Reihe von Hendiadyoin – etwa im Satz „die Frau war […] Tag und Nacht in Freud und Leid zu allem bei der Hand“³⁴ –, Epiphrasen („und weinten laut und wollten heim“³⁵) und Hyperbata („worauf er dann jämmerlich schrie und bald darauf ward er still“³⁶) lenken das Augenmerk auf die rhetorische Konstruktivität der Fiktionswelt. Ähnliches zeigt sich in der Figurenrede Amreis, die auf einer parallelistisch rhythmisierten Sprachgestaltung aufruht, wenn es etwa heißt: „Die geben gut warm, die sind was werth, da ist viel Kien drin, das brennt wie eine Kerze“³⁷. Die Rhetorizitätsmarkierung kulminiert in einem Bericht der Erzählinstanz, der vom heterodiegetischen Modus in die zweite Person Singular übergeht und in quasi-lyrischer Toposhaftigkeit den Frühlingsanbruch feiert:

    

Auerbach: Schrift und Volk, S. 173 f. Auerbach: Barfüßele, S. 5. Auerbach: Barfüßele, S. 6. Auerbach: Barfüßele, S. 6. Auerbach: Barfüßele, S. 3.

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Wenn der Frühling anbricht über der Erde, du kannst nicht fassen all das tausendfältige Keimen und Sprossen auf dem Grund, all das Singen und Jubeln auf den Zweigen in den Lüften. […] Und wenn der Frühling anbricht in einem Menschengemüthe, wenn die ganze Welt sich aufthut, vor ihm, in ihm, du kannst die tausend Stimmen, die es umfließen, das tausendfältige Knospen auf dem Grunde und wie es immer weiter gedeiht, nicht fassen und festhalten. Du weißt nur noch, daß es singt, daß es sproßt. […] Da ist der Wiesenzaun beim Holzbirnenbaum, die Schlehen blühen früh auf und werden nur selten zeitig.³⁸

Neben der strophenartigen Wiederholung des Auftaktmotivs sind es vor allem Wortwiederholungen und Lautäquivalenzen (fassen – sprossen, Frühling – Gemüthe, Wiesenzaun – Birnenbaum, blühen – früh), die in ihrer poetischen Funktionalität und Selbstreferenz die Zeichenhaftigkeit der diegetischen Idealwelt zutage treten lassen. Die idealhafte Totalität, die der exkurshaft anmutende Frühlingshymnus evoziert, wird als Element einer artifiziell erzeugten Sphäre des Poetischen markiert. Was die zeitgenössische Kritik als Zeichen eines Manierismus diskreditiert hatte,³⁹ erweist sich damit als Produkt einer Differenzmarkierung zwischen poetisch-idealem Sollzustand und außersprachlich-gegenwärtigem Istzustand, durch die die Erzählung dem Auerbach’schen Verklärungsprogramm Rechnung trägt. Ein ähnliches Verfahren zeigt sich auf semantisch-narrativer Ebene. Ein Wahrnehmungsbericht, in dem die Grenzen von narrativer Rede und Figurenrede fließend sind, setzt Ideal und Wirklichkeit in Opposition zueinander. Zunächst schildert die Erzählinstanz ein romantisch konnotiertes Schwelgen im „Reich der Träume“⁴⁰, in dem das imaginäre Sehen der Figur die „Schranken, die das beengte Leben der Wirklichkeit setzt“⁴¹, transzendiert. Der interne Fokalisierungsmodus, der die Entgrenzungserfahrung der Protagonistin beschreibt, geht unvermittelt in eine präsentische und du-perspektivierte Nullfokalisierung über, in der sich die Erzählinstanz den poetisierenden Blick der Figur zu eigen macht und ihn im Sinne des idealrealistischen Syntheseprogramms auf Objekte der diegetischen Gegenwart projiziert: Das Gewohnte wird zum Wunder, das Wunder wird zum Alltäglichen. Horch! Wie der Kukuck ruft! Das ist das lebendige Echo des Waldes, das sich selbst ruft und antwortet; und jetzt sitzt der Vogel über dir im Holzbirnenbaum, darfst aber nicht aufschauen, sonst fliegt er fort. Wie

 Auerbach: Barfüßele, S. 58 f.  Vgl. hierzu Stefan Born: Realismus oder Manierismus? Über den Maßstab der Kritik an den Auerbach’schen Dorfgeschichten im bürgerlichen Realismus. In: Mellmann, Katja; Reiling, Jesko (Hrsg.): Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885. Berlin/ Boston: de Gruyter, 2016. S. 275 – 293.  Auerbach: Barfüßele, S. 52.  Auerbach: Barfüßele, S. 52.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

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er so laut ruft, so unermüdlich! Wie weit das tönt, wie weit man das hört! […] Setz dich auf den Baum, ahme ihm nach, man hört dich nicht so weit als den faustgroßen Vogel. Still, vielleicht ist es doch ein verzauberter Prinz und plötzlich fängt er an zu reden.⁴²

Die daran anschließende Erzählsequenz nimmt wieder die Perspektive Amreis auf, die die evozierte Akustizität ex post als Illusion herausstellt. Die Dichotomie von imaginiertem Ideal und diegetischer Realität wird dabei verfestigt und melancholisch reflektiert: Ja, gieb du mir nur Räthsel auf, laß mich nur besinnen, ich finde schon die Auflösung und dann erlöse ich dich, und wir ziehen in dein goldenes Schloß und nehmen die schwarze Marann’ und den Dami mit und der Dami heiratet die Prinzessin, deine Schwester; und wir lassen der schwarzen Marann’ ihren Johannes in der ganzen Welt suchen und wer ihn findet, kriegt ein Königreich. Ach, warum ist denn das Alles nicht wahr? und warum hat man denn das Alles ausgedacht, wenn es nicht wahr ist?⁴³

Bezeichnenderweise ist es an dieser Stelle nicht das ,Reale‘ oder ,Wirkliche‘, das dem Märchen abgesprochen wird, sondern das ,Wahre‘. Implizit setzt der Text eine Differenz zwischen Realitätsnähe und Wahrheitsgehalt. Für die verklärende clôture der Erzählung ist diese Differenzsetzung zentral. Die Aussage Amreis, die den wahren Kern des Märchens in Zweifel gestellt hatte, wird durch den Erzählverlauf selbst widerlegt. Geschildert wird – in moderaterem Rahmen – ebenjener märchenhafte Ausgang, den Amrei zuvor imaginiert hatte, wobei rückblickend ein direkter Bezug zur melancholisch-resignativen Imaginationsszene hergestellt wird: „Ach, was hab’ ich da auf dem Holderwasen für Träume gehabt, daß der Kukuk vielleicht ein verzauberter Prinz sei, […] und jetzt bin ich Salzgräfin geworden.“⁴⁴ Mit der retrospektiven Referenz auf die desillusionistische Traumpassage wird zugleich an die Erzählsequenz erinnert, in der sich eine unterschwellige Differenz zwischen dem ,Realen‘ und dem ,Wahren‘ abgezeichnet hatte, was der märchenhaften Aufstiegsnarration und der dezidierten Ausblendung der Gegenwart eine poetologische Legitimation verschafft: Das erzählte Geschehen folgt nicht den Gesetzen einer gegenwärtigen außersprachlichen Realität, sondern entbirgt eine oberhalb der Realität stehende ,Wahrheit‘. Eine ähnliche Aussage wird durch ein metasemiotisch lesbares Handlungselement vermittelt. Durch die Namensidentität mehrerer Zentralfiguren ergeben sich Konstellationen, die der Erzählwelt eine übergeordnete sprachliche Gesetzlichkeit unterstellen. Der Landfriedbauer, der seinen Sohn mit Amrei, „des

 Auerbach: Barfüßele, S. 52.  Auerbach: Barfüßele, S. 53.  Auerbach: Barfüßele, S. 217.

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Schmalzgrafen Tochter“⁴⁵, verheiraten wollte, erhält mit der Protagonistin tatsächlich eine Amrei als Schwiegertochter; die Pflegemutter der Protagonistin, die ihren verstorbenen Sohn Johannes zurückerwartet, nimmt stattdessen den ebenfalls Johannes benannten Bräutigam Amreis in Empfang. Namen erweisen sich als substitutive Konstituenten und Wertäquivalente der diegetischen Realität, was die Differenz von res und verba simulativ in eine Einheit überführt und die erzählte Welt, in der verabsolutierte und gleichsam naturalisierte Zeichen als Realitätsdeterminanten figurieren, als poetisch gestiftete Ordnung markiert. Der Konnex von selfmade-Narrativ und Verklärungsästhetik wird folglich in Barfüßele fortgeführt, doch signifikant modifiziert. Die Aufstiegsnarration ist Teil eines Erzählsystems, das Ideal und Wirklichkeit nicht als identisch, sondern als verschieden markiert. Anstatt das Verklärungspostulat einzulösen, deckt die Erzählung den illusorischen Charakter der verklärungsästhetischen Erzählprämissen auf. Der selbstreferenzielle Bezugskontext des selfmade-Narrativs wird damit beibehalten, doch in eine desillusionistische Richtung gelenkt. Diese anti-idealistische Wendung zeichnet sich um die Jahrhundertmitte in mehreren Erzählungen ab, die ausgehend von der poetologischen Funktionsebene des Selfmademans vielfältige Geschichten und Erzählmodelle generieren. Eine besondere Bedeutung dabei kommt Gottfried Kellers Novelle Pankraz, der Schmoller (1856) zu. Der Typus des Selfmademans wird bei Keller zum Bezugspunkt einer Desillusionierung, die über das Verklärungsprogramm hinausgehend die durch das selfmade-Narrativ vermittelten männlich-bürgerlichen Subjektivationsnormen ins Visier nimmt. Da die Novelle in ihrer kritischen Perspektive auf die vom Selfmademan verkörperten Normen zentrale Elemente der Vaterepisode in Der grüne Heinrich fortführt und gleichzeitig neue Akzente setzt, lohnt eine genauere Betrachtung. Die extradiegetische Handlung der Novelle, die mit der sozialen Notlage der Familie des Protagonisten einsetzt, steckt den Rahmen einer Aufstiegsnarration. Nach seinem Aufenthalt in Afrika und Indien kehrt der vaterlose und in finanziell prekären Verhältnissen aufgewachsene Pankraz zurück als „ein gemachter Mann und General“⁴⁶. In unmittelbarem Bezug zum Aufstiegssujet steht wie bei Gotthelf das Schema der conversio, das sich mit einer geschlechtscodierten Figuration des Parasitären verbindet⁴⁷: Unaufhörlich müssen Schwester und Mutter anfangs

 Auerbach: Barfüßele, S. 177.  Gottfried Keller: Pankraz, der Schmoller [1856]. In: Gottfried Keller. Werke in drei Bänden. Bd. III: Die Leute von Seldwyla. München: Winkler, o.J. S. 11– 63, hier S. 22.  Vgl. Bauer: Ökonomische Menschen, S. 320 f.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

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spinnen, damit der Protagonist „desto mehr zu essen bekäme“⁴⁸. Im Kreis der Familie reproduziert sich also, was die Lebenswelt Seldwylas, den Schauplatz des Müßiggangs und Parasitentums, im Allgemeinen auszeichnet.⁴⁹ Die parasitäre Einseitigkeit wird schließlich durch die Schwester des Protagonisten angegriffen, womit sich der ökonomische Kreislauf, den die ausschließliche Konsumhaltung des Protagonisten durchbrochen hatte, wieder einstellt: Das Parasitäre wird aus dem familiären Kreis – dem gesellschaftlichen Mikrokosmos – verdrängt.⁵⁰ Nach dem Außerkraftsetzen der einseitigen Gabenlogik bleibt Pankraz verschwunden. Dass die dergestalt vollzogene Verdrängung des Parasitären einer Herstellung von Ordnung gleichkommt, zeigt sich in der grotesken Rückkehrszene, die durch die Mutter fokalisiert wird. Der Protagonist wird mit einer Reihe von exotischen Tieren assoziiert, womit das von Pankraz verkörperte Parasitentum demonstrativ als das Andere der ökonomisch-bürgerlichen Ordnung ausgewiesen wird. Die Botschaft, die sich hier einschreibt, weist auf das kafkasche Verwandlungsszenario voraus: In den Augen der Wirt*innen verliert der Parasit seine humane Identität. Im Gegensatz zu Gregor Samsa jedoch durchläuft Pankraz keine Verwandlung vom Familienernährer zum Parasiten, sondern metamorphisiert sich in die umgekehrte Richtung: Bei seiner Rückkehr kann er seinen ehemaligen Wirt*innen ein luxuriöses Festessen anbieten. Diese Transformation geht mit einem weiteren Wandel einher: Pankraz, dessen anfängliches Schmollen eine radikale Kommunikationsverweigerung signalisiert hatte,⁵¹ tritt nun als Erzähler in Erscheinung. Das Nützlichkeitsethos, zu dem Pankraz dem Anschein nach bekehrt worden ist, wird dabei in einen poetologischen Kontext eingebunden, der die intradiegetisch dargestellte Wandlung Pankraz‘ auf Ebene der Extradiegese spiegelt. Zunächst erzählt Pankraz eine klischeebehaftete Liebesgeschichte. Diese wird ähnlich wie sein Parasitentum durch Esther unterbrochen:

 Keller: Pankraz, S. 13.  Vgl. Johannes F. Lehmann: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg i. Br.: Rombach, 2012. S. 338 – 342.  Es bietet sich an dieser Stelle an, den Parasiten mit Michel Serres als (Stör‐)Funktion zu bezeichnen, die trotz ihrer permanenten Verdrängung immer wiederkehrt und auf die sich eine zirkulär verlaufende Kraft des Ausschließens richtet. Zirkulär verläuft der Ausschlussmechanismus insofern, als er nach der Verdrängung des Parasiten seine Wirkungskraft verliert, bis diese erneut entfaltet werden kann (bzw. muss): „Le parasite est bien ce refoulé, ce chassé qui revient toujour: voyez les rats, voyez le lièvre. […] Expulsez-le, il retourne en ce lieu, inévitable. Sans doute, je trouve là une définition forte de la fonction parasitaire. Elle est inéluctable et comme nécessaire. La force qui l’exclut se renverse aussi-tôt pour la ramener. Ce qu’on refoule est toujours là.“ Michel Serres: Le Parasite. Paris: Grasset, 1980. S. 107.  Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1997. S. 482.

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2 Literarische Repliken

Da in diesem Augenblick das schlafende Estherchen, das immer einen Unfug machen mußte, träumte, es falle eine Treppe hinunter, und demgemäß auf seinem Stuhle ein plötzliches Geräusch erregte, blickte der erzählende Pankrazius endlich auf und bemerkte, daß seine Zuhörerinnen schliefen.⁵²

Dass mit dieser Störung eine ähnliche Ordnungskonstitution einhergeht, wie sie sich auf intradiegetischer Ebene vollzieht, zeigt sich in der plötzlichen Gewahrwerdung Pankraz’, dass er „eigentlich nichts als eine Liebesgeschichte“⁵³ erzählt hat. Das ökonomische Wertdenken greift auf die Wertung ästhetischer Erzählgehalte über: Die Liebesgeschichte, die keinen Gebrauchswert in sich birgt, wird zunächst unterbunden, dann von Pankraz selbst als defizitär erkannt. Der zweite intradiegetische Einschub dagegen geht ohne Unterbrechungen vonstatten, was sich auf die veränderte Bezugsrichtung der erzählten Geschichte zurückführen lässt. Erzählt wird die Geschichte einer Selbstzivilisierung, die moralische und explikative Zwecke in sich vereint: Die Zuhörerinnen erfahren, wie es zur Bekehrung des einstigen Taugenichts gekommen ist. Der Protagonist, der sich zu einem „nützliche[n] Mann“⁵⁴ entwickelt hat, passt sich somit auch erzählerisch an das herrschende prodesse-Prinzip an. So scheint es nur konsequent, dass er den aufgenommenen Faden der Liebesgeschichte nicht weiterführt, sondern auf einen moralisierenden Lehrsatz herunterbricht: „Die Moral von der Geschichte sei einfach, daß er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei.“⁵⁵ Während sich die Intradiegese das Bekehrungsmodell zu eigen macht, setzt die Rahmenhandlung bei einem Erzählmuster an, dem eine gegenteilige Logik innewohnt. Erzählt wird eine Heimkehrgeschichte, die in ihrer temporalen Logik sowohl dem Bekehrungssujet als auch der Aufstiegsnarration entgegenläuft. Während das selfmade-Narrativ eine Überwindung von Herkunftslinien evoziert, thematisiert die Heimkehrergeschichte das gelingende oder scheiternde Wiederanknüpfen an diese, und während der Selfmademan genealogisch-familiäre Bindungen durchbricht, wird der Heimkehrer von diesen eingeholt.⁵⁶ Schon in dieser Vernetzung von Aufstiegs-, Bekehrungs- und Heimkehrgeschichte deutet sich die desillusionistische Perspektive der Erzählung an. Auf Bekehrung und Aufstieg, die Figuren der Überwindung, Loslösung und Veränderung anzitieren,  Keller: Pankraz, S. 58.  Keller: Pankraz, S. 58.  Keller: Pankraz, S. 63.  Keller: Pankraz, S. 63.  Eine geschlechtergerechte Sprache wäre auch in diesem Kontext fehlleitend, da das Reisemotiv – und damit auch die Heimkehrthematik – in konventionellen Erzähltraditionen mit Männlichkeit assoziiert worden ist.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

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folgt die Rückkehr, die Konnotationen des Zyklischen und Regressiven in sich birgt.⁵⁷ Dass der Text neben der Aufstiegs- und Bekehrungsgeschichte eine Heimkehrgeschichte erzählt, ist noch aus einem zweiten Grund bemerkenswert. Wie Eva Eßlinger herausgestellt hat, ist in der realistischen Erzählprosa mit dem Motiv der Heimkehr eine spezifische Umakzentuierung verbunden. Während das antike Epos und noch die romantische Literatur den Aufbruch oder den Verlauf einer abenteuerlichen Reise fokussiert hatten, rücke das realistische Erzählen das Ende einer Reise und die Rolle des Reisenden als Heimkehrer ins Zentrum.⁵⁸ Resultat sei eine Abkehr von einem Grundprinzip des Erzählens. Wenn das Reisen ein Erzählsujet par excellence darstellt, insofern es das Überschreiten einer Grenze indiziert, so werde diese Sujethaftigkeit im Realismus eingedämmt. Das liminale Moment der Reise, das für ihre Sujethaftigkeit konstitutiv ist, werde im Realismus verknappt oder ausgespart. Ein prägendes Merkmal realistischer Heimkehrererzählungen sei insofern die Ausdifferenzierung von Reisen und Erzählen. Anstatt vom Reisen zu erzählen und so dem klassischen Erzählmuster zu folgen, tendieren realistische Erzählungen zu einer Beobachtung der zweiten Ordnung: Nicht die Reise, sondern das Erzählen von einer Reise trete ins Zentrum.⁵⁹ Gerade anhand von Pankraz, der Schmoller wird deutlich, dass dieses Erzählen mitnichten problemlos verläuft. Die Kommunikation zwischen dem fiktiven Erzähler und seinen Zuhörerinnen scheitert. Grund dafür ist das Rezeptionsverhalten weiblicher Figuren, die zu Störfaktoren in der Selbsterzählung des männlichen Protagonisten werden und somit ihrer Rolle als passive Rezipientinnen nicht gerecht werden. Sowohl die Mutter als auch die Schwester des Protagonisten schlafen bei der Erzählung ein und lassen den Reisebericht zu einem resonanzlos bleibenden Monolog werden.⁶⁰ Auf einer Metaebene spiegelt

 Geschürt werden diese Konnotationen durch die Kommentare der Erzählinstanz, die in höhnischem Ton anmerkt, wie wenig sich Pankraz seit dem Verlassen der Heimat verändert hat: Der Rückkehrer verweilt „so lange im Bette wie einst, als er der faule und unnütze Pankräzlein gewesen, so daß ihn die Mutter wie ehedem wecken mußte“. Keller: Pankraz, S. 58.  Eva Eßlinger: Anabasis. Anmerkungen zu Gottfried Kellers Legionärsnovelle Pankraz, der Schmoller. In: Neumann, Michael; Twellmann, Marcus; Post, Anna-Maria; Schneider, Florian (Hrsg.): Modernisierung und Reserve. Zur Aktualität des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler, 2017. S. 118 – 137, hier S. 122.  Vgl. Eßlinger, S. 122 f.  Das satirische Potenzial der Szene steigert sich durch die intertextuelle Bezugsebene, die ihr zugrunde liegt. Mit der Schilderung einer männlichen Selbsterzählung, bei deren Rezeption die Zuhörerinnen einschlafen, bildet Pankraz, der Schmoller das Anfangsszenario aus Goethes Wilhelm Meister nach: Während der Protagonist von seiner Kindheit berichtet, schläft Mariane ein. Kellers Novelle schließt damit an eine Erzählung an, die die diskursive Selbstkonstitution des

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diese ungewollte Rezeptionsverweigerung, was auf Handlungsebene zum Ausdruck kommt: das Misslingen männlicher Selbsterzählungen. Bereits die extradiegetische Ausgangssituation lässt ein geschlechtscodiertes Narrationsmuster anklingen, das durch den satirischen Modus der Erzählung brüchig wird. Ohne Vater wächst der Protagonist in einem ausschließlich weiblich geprägten Umfeld heran, dem er schon in seiner Kindheit mit Abneigung begegnet:⁶¹ [N]och ehe das Bürschchen sieben Jahre alt gewesen, hatte es schon angefangen sich ihren [d.i. der Mutter] Liebkosungen zu entziehen, und […] sich gehütet, seine Mutter auch nur mit der Hand zu berühren […].⁶²

Die eigentümliche Introvertiertheit des Protagonisten und seine im Schmollen ausgedrückte Verweigerungshaltung gewinnen an dieser Stelle eine geschlechtliche Dimension. Die Unzufriedenheit des Protagonisten bezieht sich auch und vor allem auf die Beschaffenheit einer weiblich codierten Umwelt, die den Prozess männlicher Subjektwerdung zunichte macht, indem sie die Einlösung geschlechtsspezifischer Erwartungen erschwert:⁶³ Anstatt den Protagonisten zu ökonomisch produktiver Tätigkeit anzuleiten, akzeptiert sie sein demonstratives Nichtstun, und anstatt ihm eine Versorger*innenrolle zuzuschreiben, befördert sie zunächst sein Parasitentum. Schon an dieser Stelle wird das bürgerliche Männlichkeitsmodell in ein satirisches Licht gerückt: Anscheinend bedarf es eines Anreizes durch weibliche Figuren, damit die männlich-bürgerliche Subjektivation gelingen kann. Der satirische Zug verstärkt sich dadurch, dass die Erzählung ein tradiertes Element literarischer Männlichkeitserzählungen reproduziert. Der Protagonist verlässt sein familiäres Umfeld und wird damit dem Anschein nach zu einem klassischen Bildungssubjekt, das von einer bestehenden Ordnung in einen Zustand der Liminalität und Transition übertritt.⁶⁴ Im Falle Pankraz’ stellt dieser

Mannes als „narzißtische, als selbstzentrierte (männliche) Konstruktion“ (Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre, S. 36) markiert, in deren Verlauf die zwischengeschlechtliche Kommunikation scheitert. Auf diese Wilhelm-Meister-Anspielung hat bereits Eßlinger verwiesen (vgl. Eßlinger, S. 134).  Vgl. Voß, S. 295.  Keller: Pankraz, S. 20.  Vgl. Voß, S. 296.  Folgt man Brigitte Kohn, so schildert Goethes Wilhelm Meister, der modellbildende Bildungsroman, die „Kulturinitiation eines männlichen Individuums als Initiation in eine Zeichenordnung.“ Brigitte Kohn: „Denn wer die Weiber haßt, wie kann der leben?“ Die Weiblichkeitskonzeption in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ im Kontext von Sprach- und Ausdruckstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Würzburg: Königshausen & Neumann,

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Übergang jedoch keinen Akt der Emanzipation dar, sondern die Trotzreaktion eines infantilen ,Taugenichts‘, dem die Vorrechte des Parasiten verweigert werden: Esther, die „den ganzen Tag gesponnen“⁶⁵ hat, beansprucht die Mahlzeit des Protagonisten, der seine Kräfte in willkürlichen Kampfaktionen verbraucht hat, für sich. Was der Bildungsroman als Ausgangspunkt der Mannwerdung und Emanzipation präsentiert, erscheint folglich bei Keller als pubertärer Akt, in dem der idiosynkratische Starrsinn eines Müßiggängers eskaliert. Es ist indes nicht nur das autonomiezentrierte Männlichkeitsmodell, das die Erzählung satirisch überzeichnet. Auch das Bild soldatischer Männlichkeit, das Schlüsselelement moderner Maskulinitätskonstrukte, wird zum Gegenstand satirischer Entlarvung. Dass der Protagonist nach dem Bruch mit seiner Heimatwelt eine militärische Laufbahn einschlägt, wird in der Erzählung als konsequente Entwicklung präsentiert: Schon in seiner Kindheit hatte Pankraz einen „strengen Sinn für militärische Regelmäßigkeit“⁶⁶ gehegt und die kämpferische Konfrontation gesucht. Wenn also der ältere Pankraz zum erfolgreichen Soldaten wird, so erscheint diese Einlösung männlicher Subjektnormen als Fortführung eines Verhaltens, das ein eigenwilliger Adoleszent an den Tag gelegt hatte. Moderne Männlichkeit, so lässt sich schließen, ist vorgeprägt in ziellosen und aggressionsgeleiteten Selbstbehauptungsakten, die jeglicher Sinnhaftigkeit entbehren.⁶⁷ Über die satirischen Effekte, die die Kategorie ,Männlichkeit‘ ihrer Normativität entheben, schließt der genderdiskursive Subtext der Erzählung an Paradigmen der Krise und des Scheiterns an. Wie spielt nun das selfmade-Sujet, das Fortschritt und Gelingen evoziert, in diese Paradigmen hinein? Für die ambivalente Sinngenese der Novelle spielt das selfmade-Sujet eine eigentümliche Rolle. Die spezifische Idiosynkrasie des Protagonisten, das Schmollen, steht in enger Verbindung zu den Erzählkernen des selfmade-Narrativs. Wie Johannes F. Lehmann herausgestellt hat, bezieht sich Pankraz’ Schmollen und das dahinter verborgene „Syndrom aus Zorn, Wut, Groll und Bitterkeit“⁶⁸ auf das Seldwyler System, das in seiner transökonomischen Lebens(un‐)wirklichkeit die Mobilisierungsmöglichkeit der eigenen Kraft einschränkt.⁶⁹ Das Schmollen rührt daher, dass die Figur in der sie umgebenden Sozialwelt keine Möglichkeit sieht, ihre Kraftressourcen auszuschöpfen. Im Rahmen dieser Reflexion über die Divergenz

2001. S. 12. Eine eingehende Analyse des Initiationsschemas liefert Michael Neumann in seiner Studie Roman und Ritus. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Frankfurt a. M.: Klostermann, 1992.  Keller: Pankraz, S. 15.  Keller: Pankraz, S. 13.  Vgl. Eßlinger, S. 130 f.  Lehmann: Im Abgrund der Wut, S. 354.  Vgl. Lehmann: Im Abgrund der Wut, S. 342– 344.

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von individuellem Kräftepotenzial und den Verhältnissen der Außenwelt wird das selfmade-Narrativ ex negativo aufgerufen. In Seldwyla, wo es keine „widerständige Wirklichkeit gibt, an der überhaupt die Erfahrung der eigenen Kräfte zu machen wäre“⁷⁰, scheint die Subjektwerdung als Selfmademan, die immer auch einen Akt der Mannwerdung signalisiert, ausgeschlossen. Erst nachdem Pankraz die weiblich geprägte Welt von Seldwyla, die seinem Streben nach Kraftentfaltung enge Grenzen setzt, verlassen hat, wird er dem Anschein nach zu einem ausgeglichenen Subjekt, das sich nicht mehr in Verweigerungsgesten oder Kompensationsakte flüchten muss⁷¹ und schließlich auch das Schmollen überwindet. Der Typus des Selfmademans wird damit zum Protagonisten einer Normalisierungsgeschichte, die prima facie einer stereotypisierten genderdiskursiven Logik untersteht. Indem die Erzählung in ihrer „Metareflexion über das Verhältnis von Zorn, Wut und Wirklichkeit“⁷² das Fehlen äußerer Widerstände als Frustrationsund Unmutsquelle einer männlichen Figur inszeniert, bestätigt sie eine herkömmliche Männlichkeitserzählung: Das männliche Subjekt überwindet Widerstände, schöpft seine Kraftressourcen aus und hegt als aktives und arbeitswilliges Individuum eine Aversion gegen den Müßiggang.⁷³ Mit dieser Normalitätskonstruktion, die die Ideale einer materialistischen Anthropologie fortschreibt, scheint die Novelle nicht weit entfernt von Gotthelfs Roman Uli, der Knecht zu sein. Wie Jörg Schönert herausgestellt hat, erzählt auch Kellers Novelle die „Geschichte einer Disziplinierung, der Zurichtung eines ,nützlichen Mannes‘, wie ihn die Arbeitswelt der Moderne benötigt“⁷⁴.Was jedoch Pankraz, der Schmoller von Uli, der Knecht unterscheidet, ist die Perspektive auf das vorgeführte Subjektivationsmodell. Während Gotthelfs Roman affirmativ am Bild des Selfmademans mitschreibt, erhebt Kellers Novelle das im Selfmademan veranschaulichte Wertearsenal auf eine reflexive Ebene und lässt die affirmative Wertung umschlagen.⁷⁵ Dass der Selfmademan bei Keller keineswegs als positive

 Lehmann: Im Abgrund der Wut, S. 342.  Wie Lehmann herausgestellt hat, suchen sich die unkanalisierten Energien des Protagonisten ein Ventil, was seine Schlachtphantasien und die Lust an Prügeleien erklärt. Vgl. Lehmann: Im Abgrund der Wut, S. 342– 344.  Lehmann: Im Abgrund der Wut, S. 337.  Vgl. Lehmann: Im Abgrund der Wut, S. 355.  Jörg Schönert: Die ,bürgerlichen Tugenden‘ auf dem Prüfstand der Literatur. Zu Gottfried Kellers Der grüne Heinrich, Die Leute von Seldwyla und Martin Salander. In: Huber, Martin et al. (Hrsg.): Bildung und Konfession. Tübingen: Niemeyer, 1996. S. 39 – 52, hier S. 47.  Christian Müller weist darauf hin, dass es bis zuletzt unklar bleibt, inwiefern in Kellers Novelle ein „Modell der Selbstgewinnung oder eines der Selbstentfremdung“ geboten wird. Christian Müller: Subjektkonstituierung in einer kontingenten Welt. Erfahrungen zweier Afrika-Heimkehrer

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Norm gesetzt wird, zeigt sich insbesondere in den mythologischen Bezugslinien der Novelle.⁷⁶ Fast durchgängig spielt die Erzählung auf einen (Anti‐)Helden der griechischen Antike an. Wie der für seine Kraft und Stärke berühmte Herakles kämpft Pankraz gegen einen Löwen, den er schließlich bezwingt, wie Herakles verliebt er sich in eine Frau, die ihn schließlich erniedrigt, und wie Herakles agiert er als Kolonisator und vermeintlicher Kulturstifter:⁷⁷ Nach seiner Rückkehr aus Indien und Afrika, wo er an kolonialen Machtausübungen beteiligt war, führt der ehemalige Parasit Wachskerzen mit sich und firmiert als prometheischer Zivilisationsurheber, der seine Familie mit Licht beschert. Mit Pankraz tritt damit ein zweiter Herakles in Erscheinung, den schon sein Name als Inkarnation heroischer Männlichkeit ausweist: Der Name ,Pankraz‘ bedeutet übersetzt „Allesbeherrscher“⁷⁸. Durch die mythologischen Verweise wird die Kraftdimension (griech. Kratos: Kraft, Macht), die für das selfmade-Narrativ zentral ist, ihrer positiven Konnotation enthoben. Hinter der Kraft des Herakles verbirgt sich eine Wut, die sich in unkontrollierten Gewaltakten entlädt und eine Raserei im Sinne des furorBegriffs anstößt. In tobsüchtigen Wut- und Wahnanfällen erschlägt Herakles Familienmitglieder, Freunde und Gefährten.⁷⁹ Gerade die mythologische Bezugsebene lenkt folglich das Augenmerk auf die Ambivalenz, die dem Paradigma der Kraft zu eigen ist und Pankraz’ Entwicklungsgang bestimmt. Ähnlich wie Herakles wird Pankraz nicht nur als Lichtbringer à la Prometheus, sondern als gewaltgeneigter Allmachtsphantast präsentiert: Ganze Schlachtheere sieht der Protagonist „in Blut und Feuer“ untergehen.⁸⁰ Dass die Figur den Parasitismus überwindet und die eigene Kraft mobilisiert, entspricht den bürgerlich-männlichen Erwartungshorizonten und ist zugleich eine Manifestation zerstörerischer Affekte, in denen der furor des Herakles ein Nachleben findet: Auch Pankraz’ Entwicklung zum vorbildlichen Bürger birgt eine Reihe von Gewaltakten in sich.⁸¹ In seinem Bericht schildert er, wie er sich dazu entschließt, am englischen Kampf mit „indischen Völkern“ teilzunehmen, der „nachher ziemlich blutig für sie ausfiel“⁸², wie er „als ein neugestählter Schmoller aus Indien nach Afrika [ging] zu – Gottfried Kellers „Pankraz, der Schmoller“ und Wilhelm Raabes „Abu Telfan“. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 43 (2002), S. 82– 110, hier S. 82 f.  Vgl. zu den Herakles-Anspielungen der Erzählung Eßlinger, S. 131– 133.  Vgl. Dorothee Kimmich: Herakles. Heldenposen und Narrenpossen. Stationen eines Männermythos? In: Erhart,Walter; Herrmann, Britta: Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1997. S. 173 – 191, hier S. 181.  Eßlinger, S. 131.  Vgl. Kimmich, S. 174.  Keller: Pankraz, S. 12.  Vgl. Eßlinger, S. 129 – 132.  Keller: Pankraz, S. 44.

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den Franzosen, um dort den Burnusträgern […] die Köpfe zu zerbläuen“⁸³ – ein Gewaltakt, der die Beförderung zum Oberst zur Folge hat –, und wie er sich als Mitglied der französisch-afrikanischen Armee in Algier „mit den Kabylen herumschlug“⁸⁴. Dass Pankraz’ Aufstiegs- und Bekehrungsgeschichte zugleich ein „Panorama kolonialer Gewalt“⁸⁵ entfaltet, forciert die entlarvende Tendenz der Novelle. Wie das Erzählmuster des Aufstiegs und das Schema der conversio basiert das Kolonialisierungsnarrativ auf einer Fortschrittslogik, deren gewaltbezogenen Unterbau die Novelle offenlegt. Was das Kolonialisierungsnarrativ als Kulturalisierung ausweist, ist ein gewaltsames Ausleben aggressiver Energien und Machtansprüche. Das Ideologem des Fortschritts, in dem sich Aufstiegs-, Bekehrungs- und Kolonialisierungsnarrativ treffen, wird damit ins Gegenteil verkehrt. Kehrseiten von proklamiertem Fortschritt und suggerierter Kulturalisierung sind Gewalt und Machtausübung. Die Parallelen zu Herakles, die die Destruktivität der Kräfteaktivierung offenlegen, rücken nicht nur Pankraz’ zurückgelegte Entwicklung in ein negatives Licht. Sie bergen zugleich ein antizipatorisches Potenzial in sich, das die desillusionistische Tendenz der Novelle steigert. Wenn Pankraz ein Erbe Herakles’ ist, so steht seine Rückkehr zur Familie unter keinem guten Stern. Auch Herakles ist ein Heimkehrer gewesen, doch hatte die Rückkehr fatale Folgen für seine Familie. Wie der Übersetzer einer 1851 erschienenen Euripides-Ausgabe resümiert, stellt Der rasende Herakles dar, wie der Protagonist „seine in großer Bedrängniß schwebende Familie zuerst durch seine Zurückkunft vom Tode errettet, dann aber im Wahnsinn selbst tödtet.“⁸⁶ Indem Kellers Novelle diese Geschichte, die vom Wahnsinnigwerden eines einstigen Kulturstifters erzählt, aufgreift, legt sie die dialektische Logik des bürgerlich-modernen Selbstverständnisses offen. Zugleich setzt sie ein poetologisches Statement. Mit der Herakles-Figur lässt Kellers Novelle ein Tabuthema des Realismus anklingen: den Wahnsinn. Gerade die EuripidesÜbersetzungen geraten um die Jahrhundertmitte in einen Legitimationszwang, der der vermeintlichen Unpoetizität des Stoffs geschuldet ist. In einer 1849 erschienenen Übersetzung wird dieses Problem direkt angesprochen, bevor auf die Darstellungswürdigkeit des Mythos eingegangen wird:

 Keller: Pankraz, S. 59.  Keller: Pankraz, S. 58.  Eßlinger, S. 129.  Euripides: Der rasende Herakles. In: Osiander, Christian Nathanael v.; Schwab, Gustav (Hrsg.): Euripides Werke. Metrisch übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Gustav Ludwig. Bd. 13. Stuttgart: Metzler, 1851. S. 1387.

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Um nun zuerst von der Darlegung der Fabel zu sprechen, so ist der Inhalt des Stücks ganz einfach dieser, daß Herakles in einem plötzlichen Anfall von Raserei Weib und Kinder erschlägt. Diese That an sich ist nicht allein nicht tragisch, sondern auch nicht dramatisch, sie ist gar nicht zur Dichtung geeignet. Dichterische Motive sind unzertrennlich von dem Zusammentreffen verschiedenartiger Beweggründe: ein Anfall von Tollheit aber schließt sowohl in seinem Anheben als auch in seiner Erscheinung und seinen Wirkungen alle Beweggründe aus. […] Die Raserei ist eine Krankheit: Beobachtung und Schilderung von Krankheiten aber hat zwar ein wissenschaftliches aber kein poetisches Interesse.⁸⁷

Wenn Kellers Novelle auf eine Figur anspielt, die wahnsinnig ist, so vollzieht sie genau das, was der Euripides-Übersetzer im Anschluss an seine Bemerkungen zu legitimieren gesucht hat: den radikalen Bruch mit der Verklärungsästhetik. Parallel zu diesem Bruch wird die Fortschrittserzählung, die sich in das Kolonialisierungs-, Bekehrungs- und Aufstiegsnarrativ einlagert, vollends ad absurdum geführt. Der vorbildliche Bürger, dessen vermeintlich kulturstiftende Wirksamkeit schon die Gewaltthematik Lügen straft, wird durch den Wahnsinn einmal mehr mit dem ausgeschlossenen ,Anderen‘ der bürgerlichen Ordnung korreliert. Aus der mythologischen Bezugsebene ergibt sich folglich ein satirischer Effekt, der den entlarvenden Duktus der Novelle kulminieren lässt: Der kraftstrotzende Jüngling, der dem bürgerlichen Normenhorizont und den geschlechtscodierten Erwartungen gerecht zu werden sucht, durchläuft bei seinem Subjektivationsprozess dieselben Stationen wie ein gewalttätiger Wahnsinniger. Was kolonialistisch imprägnierte, bürgerliche Selbsterzählungen als das ,Andere‘ der eigenen Ordnung inszeniert hatten, tritt bei Keller als inhärenter Teil des Eigenen hervor. Anstatt die Dichotomien von Fortschritt und Niedergang, Kultur und Barbarei, Zivilisation und Wildheit zu bestätigen, zeigt die Erzählung die Einheit der jeweiligen Pole auf, wodurch die Logiken der bürgerlichen Selbsterzählung und des kolonialistischen Diskurses dementiert werden. Durch die Herakles-Bezüge wird darüber hinaus die dichotomische Logik des Genderdiskurses suspendiert. Wie Dorothee Kimmich gezeigt hat, offenbart sich gerade am Herakles-Mythos besonders deutlich, „daß ein ,Unbehagen an der Kultur‘ (Freud) sich zugleich und sogar in zunehmendem Maße als ,Unbehagen der Geschlechter‘ (Judith Butler) artikuliert.“⁸⁸ Tradierte Binarismen, die Kellers Novelle im dekonstruktivistischen Modus der Satire aufgreift, unterstehen Kimmich zufolge im Herakles-Mythos einer Geschlechtscodierung:

 Johann Adam Hartung: Euripides’ rasender Herakles. Griechisch mit metrischer Übersetzung und prüfenden und erklärenden Anmerkungen. Leipzig: Wilhelm Engelmann, 1849. S. 5 f.  Kimmich, S. 187.

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Auseinandersetzung und Kampf mit den dunklen Seiten der Natur, Bewältigung oder Aufhebung dieser Natur, Sieg über sie oder Erlösung von ihr – all dies wird in den Spielformen des Mythos nicht nur als Konfrontation von Licht und Finsternis, als Kampf der westlichen Zivilisation gegen die Barbarei des Orients, als Kultivierung der Natur durch menschliche Arbeit inszeniert, sondern vor allem auch als ,Kampf‘ eines männlichen gegen ein weibliches Prinzip dargestellt.⁸⁹

Was den Herakles-Mythos als Manifestation herkömmlicher Binarismen erscheinen lässt, erweist sich als Ausdruck einer genderdiskursiven Subversion. In seinem „Kampf gegen das weibliche Prinzip“ kann sich der Protagonist keineswegs als Held beweisen. Als Sklave der lydischen Königin Omphale – an die Kellers Novelle durch die Figur der Lydia erinnert – wird Herakles zu einer symbolischen Effemination gedrängt: Der Kriegsheld muss die Kleider und den Schmuck der Königin tragen, während diese seine Keule und sein Löwenfell erhält, und wird mit den klassischen Insignien einer konstruierten Weiblichkeit ausgestattet: Spindel und Faden.⁹⁰ In diesem rollenverkehrenden Verhältnis zu Omphale wird der Träger herkulischer Männlichkeit zum „Spiegelbild einer verweichlichten und verweiblichten Kultur“⁹¹, deren konstitutive Grenzlinien verfließen: Die emphatisch vorgeführte Männlichkeit wird von ihrem ausgeschlossenen Anderen eingeholt. Angesichts des Bruches, den tradierte Zuschreibungen im Herakles-Mythos erfahren, erscheinen die intertextuellen Verweisungen in Kellers Novelle nur konsequent. Das gendersubversive Potenzial der Erzählung, die schon durch die Bezüge zwischen Intra- und Extradiegese etablierte Männlichkeitsmodelle dementiert, verschärft sich durch die Anspielungen auf Herakles, dessen Janusköpfigkeit binaristische Logiken außer Kraft setzt. Es ist nicht nur der Herakles-Mythos, dessen Einbezug etablierte Vorstellungen von Männlichkeit und Kraft satirisch funktionalisiert. Intertextuelle Verweisungslinien durchziehen die Erzählung und besetzen die dargestellte Lebenswirklichkeit bürgerlicher Subjekte mit einer pejorativen Konnotation. Bereits der Erzähleinstieg lässt die umwertende Tendenz der Novelle und die damit verbundene Desillusionierung zum Ausdruck kommen. Rückblickend resümiert die Erzählinstanz die Lebensgeschichte des verstorbenen Vaters, die sich in auffallender Nähe zur Geschichte Rudolf Lees bewegt:

 Kimmich, S. 175.  Vgl. Kimmich, S. 176.  Kimmich, S. 179.

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[V]ielmehr fühlte er eine so starke Sehnsucht, ein ordentlicher und fester Mann zu sein, daß ihn der herrschende Ton, dem er als junger Mensch nicht entgehen konnte, angriff, und als seine Glanzzeit vorübergegangen und er der Sitte gemäß abtreten mußte von dem Schauplatze der Taten, da erschien ihm alles wie ein wüster Traum und wie ein Betrug um das Leben, und er bekam davon die Auszehrung und starb unverweilt. Er hinterließ seiner Witwe ein kleines baufälliges Häuschen, einen Kartoffelacker vor dem Tore und zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter.⁹²

Wie Rudolf Lee das „thätige Leben“ zum tödlichen Verhängnis wurde, ist für Pankraz’ Vater der „Schauplatze der Taten“ mit dem Tod korreliert. Damit wird die Selbstdisziplinierung des Protagonisten, der gegen Ende zum „nützliche[n] Mann“ avanciert und seiner „Tüchtigkeit […] wegen geachtet und beliebt“⁹³ wird, von vornherein mit der Signatur des Destruktiven belegt. Der Erzähleinstieg setzt nicht nur Tat und Leben in Opposition, sondern revitalisiert durch die Metaphern des Traumes und des Glanzes – der an die „glänzenden Augen“⁹⁴ Rudolf Lees erinnert – die angestammte Differenz zwischen dem Realen und dem Idealen, die auch im weiteren Erzählverlauf als Leitopposition fungiert. Vor allem die Glanzmetapher wird in poetologisch lesbaren Passagen im Handlungsstrang um Pankraz immer wieder eingestreut: Bei seinen Zeichnungen betrachtet er das „glänzende Goldblatt, in welchem sich die Sonne brach“⁹⁵; die Sterne erscheinen ihm als „glänzende Geschöpfe“⁹⁶, der Sonnenuntergang als „glänzende und pomphafte Begebenheit“⁹⁷. Mit der Isotopie des Glanzes und der darin eingelagerten Polarität von Wirklichkeit und Ideal geht die Bekehrungs- und Aufstiegsgeschichte in einer imaginationskritischen Reflexion auf, die in ihrem Konnex zur Vaterepisode eine resignative Negativbotschaft vermittelt: Weder die idealisierende Imagination, in deren Sphären sich Pankraz verliert, noch die Hinwendung zur praktischen Realitätssphäre bilden das telos der Novelle. Mit dieser doppelten Absage schließt der Roman ex negativo an das idealrealistische Syntheseprogramm der Grenzboten an, das Soll und Haben literarisch umgesetzt und propagiert hatte. Durch den ironischen Duktus der Novelle wird jedoch sowohl das poetologische als auch das „ideologische Projekt“⁹⁸ des Realismus in Zweifel gezogen. Die Differenz zu

 Keller: Pankraz, S. 11.  Keller: Pankraz, S. 63.  Keller: Der grüne Heinrich, S. 120.  Keller: Pankraz, S. 12.  Keller: Pankraz, S. 25.  Keller: Pankraz, S. 12.  Gerhard Plumpe: Die Praxis des Erzählens als Realität des Imaginären. Gottfried Kellers Novelle „Pankraz der Schmoller“. In: Kolkenbrock-Netz, Jutta; Plumpe, Gerhard; Schrimpf, Hans

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Soll und Haben ist kaum zu übersehen. Während Freytags Roman die Entsagungslogik, die mit der Integration in die bürgerliche Ordnung einhergeht, durch Teleologisierungen und Umcodierungen verdeckt hatte, kleidet Kellers Erzählung die Verzichtserklärungen des Protagonisten in eine plastische Bildsprache ein. Pankraz’ Bekehrung zum „nützlichen Mann“ ist das Resultat einer brutalen Tötung des Löwen und damit die Auslöschung eines triebgesteuerten Lebens, das als „zäh und wild“⁹⁹ erscheint. In symbolischer Form legt die Novelle folglich das Zerstörerische offen, das dem Normalisierungsprimat innewohnt. In diametralem Gegensatz zu Soll und Haben schildert Kellers Novelle einen Subjektivations- und Mannwerdungsprozess, der nicht zur idealen Ganzheit führt, sondern in einer Selbstzerstörung mündet. In seiner Erzählung präsentiert Pankraz den „wilden Burschen“¹⁰⁰ als sein Spiegelbild: Der Blick des Löwen habe ihm die eigene Marotte, das Schmollen, vor Augen geführt. Mit der Tötung des Löwen vernichtet Pankraz folglich zugleich sein alter ego. ¹⁰¹ Mit dem symbolischen anagnorisis-Moment forciert die Erzählung ein weiteres Mal ihre entlarvende Verfahrensweise. Die diskurslogischen Leitprinzipien moderner Selbst- und Fremdbeschreibungen ‒ Dichotomisierung, Projektion und Ausschluss ‒ werden offengelegt: Als Repräsentant des modernen Kulturmenschen erkennt Pankraz im Löwen – dem Repräsentanten des Wilden, Gefahrvollen und Tierischen – einen Teil seiner selbst, das er zu bekämpfen hat. „Das wilde Andere im Tier ist das wilde Andere der modernen bürgerlichen Zivilisation – das Andere der Vernunft“¹⁰², schreibt Christian Müller mit Blick auf Pankraz’ Selbstbezwingung. Mit der Zerstörung dieses ,Anderen‘ ist der Prozess bürgerlicher Sozialisation vollendet und ein personales Leitbild hergestellt, das für die Jahrhundertmitte typisch ist. Als Figur, die mit dem Löwen ihre immanente Wildheit domestiziert, ihre Aggressionsbereitschaft in kontrollierte Bahnen lenkt, mit der Lossagung von ihrer Geliebten die erotische Leidenschaftlichkeit überwindet und mit dem Schmollen einen gesteigerten Subjektivismus hinter sich lässt, korrespondiert Pankraz dem Bild des „gezähmten Subjekts“, dem Schlüsselelement eines „sich in der nachgoethezeitlichen Literatur formierenden spezifisch bürgerlichen Wertsystems“¹⁰³. Dass diese Selbstbezähmung nicht mit einer klassischidealistischen Syntheseleistung analogisiert wird, wie es bei Soll und Haben der

Joachim (Hrsg.): Wege der Literaturwissenschaft. Bonn: Bouvier, 1985. S. 163 – 173, hier S. 172 und 173.  Keller: Pankraz, S. 62.  Keller: Pankraz, S. 59.  Vgl. Müller, S. 97 f.  Müller, S. 98. Hervorhebung im Original.  Lukas, S. 227.

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Fall ist, sondern ein „unmenschliches Blutbad“¹⁰⁴ verursacht, lässt den poetologischen Subtext der Erzählung endgültig umschlagen. Anstatt dem realismustypischen Harmonisierungsanspruch nachzukommen, setzt Kellers Novelle auf einen unverklärten Realismus. Die etablierte poetologische Bedeutungsdimension des selfmade-Sujets kehrt sich damit um: Bei Keller ist die Aufstiegsnarration nicht an eine Verklärung gekoppelt, sondern tendiert vielmehr zu einer Aufdeckung dessen, was die Verklärungsästhetik zu beschönigen sucht. Der Tendenz zur Transparentmachung korrespondiert eine gleichermaßen poetologisch angelegte Differenzmarkierung. Die Aufstiegsnarration setzt keine verklärungsästhetische Harmonie-Evokation in Gang, die das Ideale und Reale zur Deckung bringt, sondern markiert vielmehr die Unvereinbarkeit der beiden Sphären. Der erste Teil der extradiegetischen Handlung präsentiert den Protagonisten als Produzent entreferenzialisierter Zeichen, die in ihrer willkürlichen Figuralität an die „kolossale Kritzelei“ von Heinrich Lee erinnern. Pankraz’ Notizbuch ist gefüllt „mit allerlei Linien, Figuren und aufgereihten Punkten“¹⁰⁵. In einer anschließenden Erzählsequenz wird der aus Soll und Haben bekannte Tiefenblick, der das Poetische im Prosaischen entbirgt, umgekehrt und mit satirischem Entlarvungsgestus als groteske frame-Kollision herausgestellt. Die Betrachtung des Sonnenuntergangs stellt für Pankraz dar, „was für die Kaufleute der Mittag auf der Börse“¹⁰⁶ ist. Auch beim Anblick der Sterne wird die poetische Idealität von einer ,prosaischen‘ Semantisierung überlagert: In einem dichten kühlen Buchenwäldchen legte ich mich hin und schlief bis zur Abenddämmerung; dann sprang ich auf, ging aus dem Wäldchen hervor und guckte am Himmel hin und her, an welchem die Sterne hervorzutreten begannen. Die Stellung der Sterne gehörte auch zu den wenigen Dingen, die ich während meines Müßigganges gemerkt, und da ich darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit gefunden, so hatte sie mir immer wohlgefallen, und zwar um so mehr als diese glänzenden Geschöpfe solche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine Portion Kartoffelsuppe zu üben schienen, sondern damit nur taten, was sie nicht lassen konnten, wie zu ihrem Vergnügen, und dabei wohl bestanden.¹⁰⁷

Während an dieser Stelle eine entpoetisierende Auslegung das Idealhafte verfremdet, ist es in der Beziehungsgeschichte zwischen Pankraz und Lydia der realitätsblinde Blick, der die Differenz von Ideal und Wirklichkeit hervorhebt. Die „müßige Traumseligkeit“, in die sich die Existenz der Figur aufzulösen droht, schlägt immer wieder in einen Verdruss ob der „leibhafte[n] Gegenwart“ zurück,

   

Kaiser, S. 291. Keller: Pankraz, S. 12. Keller: Pankraz, S. 12. Keller: Pankraz, S. 25.

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die dem Protagonisten durch den Abgleich mit seinen „wuchernden Träumen“ erst recht defizitär erscheint.¹⁰⁸ Kulminationspunkt der Desillusionierung bilden die Shakespeare-Referenzen.¹⁰⁹ Dem Dramenwerk Shakespeares wird ebenjener Idealrealismus zugeschrieben, den die Verfechter der Verklärungsästhetik einfordern: Shakespeares Werk präsentiere eine „Welt des Ganzen und Gelungenen“¹¹⁰. In seiner rückblickenden, extradiegetisch angesiedelten Erzählfunktion entlarvt der Protagonist diese postulierte Totalität als Täuschung. Die Ganzheitssuggestion führe Leser*innen in die Irre, da das literarisch präsentierte „wesentliche Leben“¹¹¹ keinen Realitätsbezug mehr aufweise. Die poetologische Referenz wird hier zum Medium einer polemischen gegenwartskritischen Verlusterzählung: Ach, es ist schön in der Welt, aber nur niemals da wo wir eben sind, oder dann wann wir leben. Es gibt noch verwegene schlimme Weiber genug, aber ohne den schönen Nachtwandel der Lady Macbeth und das bange Reiben der kleinen Hand. […] Unsere Shylocks möchten uns wohl das Fleisch ausschneiden, aber sie werden nun und nimmer eine Barauslage zu diesem Behuf wagen, und unsere Kaufleute von Venedig geraten nicht wegen eines lustigen Habenichts von Freund in Gefahr, sondern wegen einfältigen Aktienschwindels […].¹¹²

Shakespeares Typenkosmos firmiert an dieser Stelle als Folie einer Gegenwartsbilanz und literarischen Programmbekundung: Anstatt das Postulat der Verklärung fortzuschreiben, plädiert die Figur für eine als zeitgemäß ausgewiesene Poetik der Enthüllung. Diesem desillusionierten und realitätszentrierten Blick des erzählenden Ichs gehen jedoch die traumverlorenen Imaginationen des intradiegetischen Ichs voraus. Vor allem der zweite Teil der Binnengeschichte, die Erzählung um den Löwen, liest sich als demonstrative Absage gegen eine romantisch konnotierte Wirklichkeitsflucht, die dem Protagonisten zum lebensbedrohlichen Verhängnis wird:¹¹³ Das Schwelgen in zerstreuten Phantasien führt zum unbedachten Ablegen des Gewehrs, durch das die Figur dem Löwen wehrlos ausgesetzt ist. Während es in der einleitenden Erzählpassage um den Vater der

 Keller: Pankraz, S. 44.  Vgl. dazu Rakow, S. 151 f.  Keller: Pankraz, S. 41.  Keller: Pankraz, S. 41.  Keller: Pankraz, S. 41 f.  Jost Bomers liest die Erzählung als programmatischen „Anti-Taugenichts“, der Kritik an der überspannten Metaphysik des romantisch-idealistischen Weltbildes übt. Vgl. Jost Bomers: Realismus versus Romantik. Kellers „Pankraz“ als realistischer „Anti-Taugenichts“. In: Wirkendes Wort 43/2 (1993), S. 197– 212.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

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„Schauplatz der Taten“ war, der letztendlich zum Tod geführt hatte, ist es nun also die Sphäre der realitätsflüchtigen Imagination, die als lebensbedrohlich erscheint. Der schlussendliche Angriff auf den Löwen erweist sich damit auch als Kampf gegen die ungedeckte Zeichenbildung, wodurch der Aufstiegs- und Bekehrungsnarration ein ähnlicher Propositionskern eingeschrieben wird, der Freytags Soll und Haben zugrunde liegt: Damit die bürgerliche Subjektivation gelingen kann, müssen realitätsflüchtige Imaginationen überwunden werden. Diese Überwindung wird in Kellers Erzählung jedoch nicht als konfliktfreier Prozess geschildert, sondern erscheint durch die symbolische Engführung mit der Tötung des Löwen als agonaler Bezwingungsakt. Auch stellt die Erzählung keine Kompensationsmöglichkeit der verlorenen Idealität in Aussicht, wie es in Freytags Roman durch die proklamierte Poesie des Ökonomischen geschieht, sondern die ,Entzauberung‘ bleibt unentschädigt. Die Signatur des Progressiven, die den Erzählmustern der Bekehrung und des Aufstiegs inhäriert, schlägt um. Kellers Novelle ist nicht die einzige Erzählung, die den Selfmademan für eine idealismuskritische Demontage funktionalisiert und dabei eine zeitdiagnostische Erzählebene mit einer poetologischen verschränkt. Eine ähnliche Desillusionspoetik zeichnet sich sechs Jahre später in Reinhard Solgers Roman Anton in Amerika (1862) ab. Auch Solgers Roman hält dem Verklärungsdogma ein Programm des unverklärten Realismus entgegen.¹¹⁴ Bezugspunkt dieser poetologischen Programmbekundung ist Freytags Soll und Haben. Waren Pankraz, der Schmoller und Barfüßele durch das selfmade-Ideal und dessen poetologische Erzählgehalte mit Soll und Haben verbunden gewesen, so wird diese Referenzialität in Anton in Amerika intertextuell konkretisierbar. Der Untertitel annonciert den Roman programmatisch als „Seitenstück zu Freytag’s ,Soll und Haben‘“. Bezeichnenderweise wird vor allem das selfmade-Narrativ zum Gegenstand der Parodie. Schon die Vorrede erteilt der Aufstiegsideologie spöttisch eine Absage, indem sie Anton Wohlfart als Inbegriff des bürgerlichen Opportunismus markiert und das Aufstiegssujet, das den Kaufmannsroman zu einer der „lehrreichsten Lebensbeschreibungen für die Jugend“¹¹⁵ mache, als Trivialerzählung ausweist:

 Zu Solgers Replik auf die Verklärungsästhetik vgl. Arne Koch: Realismusdefinitionen im interkulturellen Dialog: Freytags Soll und Haben und Reinhold Solgers Anton in Amerika (1862). In: Krobb, Florian (Hrsg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 153 – 169.  Reinhold Solger: Anton in Amerika. Seitenstück zu Freytag’s „Soll und Haben“. Aus dem deutsch-amerikanischen Leben. Bd. 1. Bromberg: Roskowski, 1862. S. 7.

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2 Literarische Repliken

Denn man kann aus dem Beispiele dieses Ehrenmannes, der rein mit Nichts angefangen hat, so recht deutlich ersehen, daß, wenn Einer ordentlich und fleißig ist, gegen seinen vorgesetzten Principal den schuldigen Respect stets in Obacht nimmt, sich mit dessen Familie gut stellt und sich überhaupt höflich und artig gegen Jedermann aufführt, wie es einem jungen Menschen geziemt, daß er dann nicht besorgt zu sein braucht, sondern es wird ihm schon gut gehen.¹¹⁶

Die didaktische Wirkungsintention, die Freytags Aufstiegserzählung mit den zeitgenössischen Franklin-Biographien verbindet, wird bei Solger zum Gegenstand einer parodistisch geäußerten Kritik, die sich gegen die im Aufstiegsschema dargebotene Normalisierung des Subjekts richtet. In einem Handlungsresümee mokiert sich die Erzählinstanz über das konformistische Verhalten, das Anton Wohlfart an den Tag legt: Herr Anton Wohlfahrt, der jetzt so ungeheuer reich und angesehen ist, hat, wie gesagt, mit Nichts angefangen. Er war der Sohn eines bloßen Subalternbeamten und wurde von Herrn Traugott Schröter, dem großen Kaufmann in Breslau, aus purer Gnade als Lehrling ins Geschäft genommen. Aber er nahm sich den Wahlspruch: „Ehrlich währt am längsten“; und so wurde er, was er jetzt ist. Das kommt, weil er gute Grundsätze hatte und dachte: „Der grade Weg ist der beste“!¹¹⁷

Die Redewendungen, die Freytags Protagonisten in den Mund gelegt werden, stellen ihn einmal mehr als linientreuen Antihelden dar, der beharrsam die Dogmen der bürgerlichen Gesellschaft befolgt. Diese konformistische Mentalität hat sich der Erzählinstanz zufolge schließlich auch im politischen (Nicht‐)Handeln in der 1848er-Revolution niedergeschlagen. Die Normalisierungskritik geht hier in eine politisch motivierte Kritik über: In Anton Wohlfart sieht die Erzählinstanz den Repräsentanten eines konservativen Bürger*innentums, das in seinem Opportunismus das Scheitern der demokratisch-liberalen Bewegungen mitverantwortet habe. Das im Aufstiegsnarrativ artikulierte Versöhnungscredo wird also weniger unter ästhetischen als unter politischen Gesichtspunkten kritisch inspiziert. Ähnliches gilt für den verklärungsästhetischen Tiefenblick, den Solgers Roman parodistisch entstellt. Anton in Amerika schildert die Amerika-Erlebnisse von Antonio Wohlfart, dem fingierten Sohn des Freytag’schen Romanprotagonisten, der „mehr Fink als Anton“¹¹⁸ ist und den die „Poesie des Kaffees und Syrups“¹¹⁹ unberührt lässt. Die kontingenztilgende Wesensschau, die die Dichotomie von    

Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 7. Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 8. Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 12. Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 14.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

247

,Poesie‘ und ,Prosa‘ überwinden sollte und sich in Freytags Roman mit einer Poetik des Globalen verbunden hatte,¹²⁰ wird durch eine politische Perspektivierung ihrer Idealität beraubt. Hatte die kaufmännische Tätigkeit für Anton Wohlfart einen „Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien […] und dem jungen Bauernburschen“¹²¹ auf der anderen Seite des Ozeans gesponnen, so deckt die Geschichte Antonio Wohlfarts mit grotesker Drastik die politischen Untergründe der erdumspannenden Produktionskette auf: Nur einmal – er war gerade auf Ferienbesuch zu Hause – als in einem Fasse, welches nicht laufen wollte, ein todtes Negerkind als Hinderniß entdeckt wurde, flammte ihm eine poetische Ahnung im Zusammenhange mit seines Vaters Geschäftsleben auf.¹²²

Anton Wohlfarts imaginäre Interaktion „mit der ganzen Welt“¹²³ schlägt hier in ein skurriles Gegenbild um. Die interkulturellen Handelsbeziehungen, die Anton Wohlfart die „Poesie des Geschäftes“ vor Augen geführt hatten, werden als amoralische Verhältnisse einer globalisierten Moderne demaskiert. Der weitere Erzählverlauf behält diese Entlarvungstendenz bei und konturiert sich so als kritische Replik auf das in Soll und Haben angelegte selfmade-Narrativ. In seiner Kritik am bürgerlichen Selfmademan invertiert der Roman sämtliche propositionalen und strukturellen Elemente, die sich bei Freytag mit der Poetik des Aufstiegs verbunden hatten. Neben dem Ideal der Welttotalität wird das Fortschrittsnarrativ bei Solger parodistisch durchkreuzt. Die Vorstellung vom Kaufmann als kulturellem Wertschöpfer, die sich in ein spielerisches Wortgefecht zwischen dem Protagonisten und seinem Freund Wilhelmi einlagert, wird durch die ironische Zuspitzung der Figurenrede sowie den offenkundigen Kontrast zwischen dem Gesprächsinhalt und der erzählten Realität ad absurdum geführt. Während das ironische Gespräch die „Handelsbarone“ als „Heerführer des triumphirenden Geistes“ imaginiert, die die „alten Fesseln der Völkerbarbarei“ sprengen,¹²⁴ reproduziert der Handlungsverlauf das modernekritische Verfallsnarrativ. Plakativ werden die Analogie von Kultur und Wirtschaft durchbrochen und das Stereotyp der amerikanischen Kulturlosigkeit aufgerufen. Im Salon der

 Vgl. hierzu Patrick Ramponi: Orte des Globalen. Zur Poetik der Globalisierung in der Literatur des deutschsprachigen Realismus (Freytag, Raabe, Fontane). In: Kittstein, Ulrich; Kugler, Stefani (Hrsg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2007. S. 17– 59.  Freytag: Soll und Haben, S. 240.  Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 14.  Freytag: Soll und Haben, S. 239.  Reinhold Solger: Anton in Amerika. Zweiter Theil. New York: Steiger, 1872. S. 95 f.

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2 Literarische Repliken

Dawsons werden ausgestellte Kunstwerke auf ihre Marktpreise reduziert und antike Skulpturen wegen der Nacktheit der modellierten Gestalten beschaut; aus dem vermeintlich geregelten Rechtswesen wird eine von „wilde[m], mörderische[m] Gellen“¹²⁵ begleitete Lynchjustiz, die die Vorstellung eines Kulturfortschritts zu Grabe trägt. Wie das fortschrittsgläubige Modernenarrativ wird die verklärungsästhetische Poetisierung unterbunden. Freytags Bild einer „Zauberin Poesie“, die „überall das Treiben der Erdgebornen“ beherrscht,¹²⁶ stellt der Protagonist bei Solger eine untilgbare Prosaität entgegen: „Unsere Zeit ist für die Kunst verloren, weil wir das Symbolische planmäßig aus unserem Leben entfernen.Wo die Gewohnheit des Symbols im Volksleben fehlt, da fehlt ihm eben das Bedürfnis der Kunst. Ich glaube an die schönen Künste in unseren Tagen nicht.“¹²⁷

Die desillusionierte Zeitbilanz des Protagonisten legt die poetologische Prämisse offen, von der die Erzählung ihren Ausgang nimmt. Dass der Roman die Verklärungsnorm aufgibt, erscheint als Mittel einer unverfälschten Bezugnahme auf die zeitgenössische Gegenwart, in der das Symbolhafte keinen Manifestationsort mehr besitzt. Das Postulat einer entzauberten Moderne wird bei Solger folglich nicht, wie es bei Freytag der Fall gewesen war, negiert und überschrieben, sondern bestätigt, was sich auch auf die discours-Ebene auswirkt. In Absetzung vom Prinzip der verklärenden Metacodierung wird Solgers Roman über weite Strecken von einem fotografischen Blick bestimmt, der Züge einer kontingenzmarkierenden naturalistischen Poetik trägt. Der Protagonist fungiert dabei als Vorführmedium einer Ästhetik, die dem idealrealistischen Durchschauungsvermögen die Prinzipien der description, observation und documentation entgegensetzt. Die Figur Annie Dawson etwa, die im inspizierenden Blick des Protagonisten als „interessante Erscheinung“¹²⁸ hervortritt, dient als Anlass einer Beobachtungsdokumentation, die hier nur auszugsweise zitiert werden kann: Der Aufenthalt gab ihm Gelegenheit, eine Bettlerin in’s Auge zu fassen, die […] hinter einer gekappten Pyramide von Bausteinen kauerte […]. Antonio ließ ein Fünfcentstück in die vorgestreckte Hand fallen und bemerkte dabei, dass die Hand schön und der Arm gerundet war. Diese Entdeckung leitete sein Auge nach dem Gesicht hin. […] Indeß ließ sich die zarte Contour der bleichen, doch vollen Wange nicht hinter dem überhängenden Scheitel verbergen, noch auch war dieser selbst so gänzlich unter das Tuch geschlagen, um eine kräftige,

   

Solger, Anton in Amerika, Bd. 2, S. 150. Freytag: Soll und Haben, S. 8. Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 213. Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 31.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

249

gutgeartete, vollkommen durchgebildete Organisation des Schädels dem ethnologischen Blicke unseres Freundes zu entziehen.¹²⁹

Die naturalistisch konnotierte Beobachtung bildet das Zentrum einer poetologischen Erzählung, die ihren Kulminationspunkt in einer Gerichtsszene findet. Der amerikanische Staatsanwalt sieht in der segmenthaften und analytischen Perspektive des angeklagten Protagonisten einen Ausdruck moralischer Indifferenz, der den Mordverdacht verstärke: „[E]in Mensch, der mit dem anatomischen Secirmesser der Wißbegierde an seinen Schöpfer herantritt […], ein solcher Mensch wird sich schwerlich scheuen, mit seinem Messer an ein blos menschliches Wesen heranzutreten.“¹³⁰

Deutlich zeigt sich hier die Skepsis am naturalistischen Beobachtungs- und Dokumentationsprogramm, die zugleich ein poetologisches Statement in sich birgt. Der unverklärte Realismus wird als einzig legitimer, da wirklichkeitsadäquater Erzählstil markiert, der sich jedoch zunächst gegen den Absolutheitsanspruch der Verklärungsdoktrin behaupten muss. In seiner Abkehr von der Verklärungsästhetik und dem Bruch mit dem Fortschrittsnarrativ konterkariert Solgers Roman Elemente, die für Freytags Aufstiegspoetik konstitutiv gewesen sind. In Anbetracht dieser sowohl explizit als auch implizit ausgetragenen Kritik am bürgerlichen Aufstiegsnarrativ scheint es nur konsequent, dass der Roman an die Stelle des arbeitsamen Selfmademans einen regelrechten Antihelden setzt. Bezeichnenderweise ist sich Antonio Wohlfart seiner Rolle als Gegenpol zu Freytags bürgerlichem Aufsteiger selbst gewahr: „Ich fürchte, die moderne deutsche Dichtkunst, welche das Volk bei seiner Arbeit aufsucht, würde ein unwürdiges Subject an mir finden“¹³¹, deklariert die Figur an einer Stelle. Der parodistischen Karikatur von Freytags Protagonisten entspricht eine strukturelle Gestaltung, die in offenkundigem Kontrast zur Erzählstruktur von Soll und Haben steht und einmal mehr das an die Aufstiegsnarration gekoppelte Verklärungsdogma ad absurdum führt. An die Stelle des kohärenzstiftenden und teleologisierten Syntagmas, das die Aufstiegsnarration bei Freytag profiliert, treten episodisch angeordnete und heterogene Narrationsmuster, die die Handlung immer wieder in eine neue Richtung lenken. Aus dem Reisebericht, mit dem der zweite Teil beginnt, entwickelt sich eine Abenteuerserie, in der Antonio Wohlfart als Bärentöter in Erscheinung tritt, und es bahnt

 Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 30.  Solger: Anton in Amerika, Bd. 2, S. 112.  Solger: Anton in Amerika, Bd. 2, S. 94.

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2 Literarische Repliken

sich die Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten und Mary Dawson an, die jedoch erst gegen Erzählende fortgeführt wird; den Hauptteil bildet stattdessen eine Kriminalerzählung – der Mord an Annie Dawson –, die schließlich in eine Rechtsfallgeschichte übergeht. Hinzu kommt eine Reihe exkursartiger Einzelepisoden, die von den zahlreichen Nebenfiguren des Romans getragen werden. Kohärenz wird bei Solger folglich weniger über ein teleologisches Prinzip erzeugt als über eine konsequent beibehaltene parodistische Intertextualität, deren stetiger Bezugspunkt der Typus des Selfmademans ist. Wie der Handlungsstrang um Antonio Wohlfart ziehen die Nebenstränge der Erzählung eine Verbindungslinie zwischen dem selfmade-Sujet und dem Verklärungsprogramm der Grenzboten. So wird etwa der Aufstiegsweg einer Astrologin auf die parodierte idealrealistische Erzählpoetik bezogen: Leser, sie hatte mit Nichts angefangen! ihr ganzes Leben war eine Verherrlichung des Geistes der Industrie, aus welchem die moderne Poesie ihre höchsten Inspirationen schöpft.¹³²

Dass es eine weibliche Figur ist, die als Verkörperung des bürgerlich-realistischen Programms inszeniert wird, steigert den parodistischen Impetus der Erzählung, die nicht nur die verklärungsästhetische Anschlussfähigkeit, sondern auch die männlichkeitszentrierte Normativität des Selfmademans unterminiert. Der typisierte ,Mann eigner Kraft‘, wie ihn Soll und Haben präsentiert, kann durch eine weibliche Figur ersetzt werden, in der sich die bürgerliche Rationalität zu einer schelm*innenhaften Skrupellosigkeit pervertiert: Sie war mäßig, sparsam, geschäftskundig, zuverlässig für ihre Kunden; kein jüdischer Wucherer beschwindelte sie um die Früchte ihres Fleißes; umgekehrt wäre die Aussicht viel wahrscheinlicher gewesen […]; das Gewissen beunruhigte sie nicht, da sie keines hatte.¹³³

Der Typus des Selfmademans, den Soll und Haben zum Träger des bürgerlichen Tugendkanons stilisiert hatte, wird als Erbe einer pikaresken Antiheldin dargestellt, die in illegale und amoralische Machenschaften verwickelt ist.¹³⁴ Immer wieder wird die Figur mit dem Freytag’schen Protagonisten parallelisiert:

 Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 148. Hervorhebung im Original.  Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 147.  Die Figur stellt ihr Haus für Liebesaffären und Prostitution zur Verfügung und entgeht einer gerichtlichen Verfolgung durch Bestechungen sowie durch Verbindungen zur privilegierten Gesellschaftsschicht, die einer Kompromittierung vorzubeugen sucht.

2.1 Poetologische Positionierungen (Auerbach, Keller, Solger)

251

Kurz, wenn es Antonio dem Vater für seine Pflichttreue an der polnischen Grenze schon wohl erging, so ging es Madame Pustell für die ihrige an den Küsten des atlantischen Oceans noch viel besser.¹³⁵

Dass der Roman den bürgerlichen Selfmademan mit einer moralisch indifferenten Profitjägerin vergleicht, parodiert nicht nur die exemplarische Funktion, die dem Aufsteiger in Soll und Haben zugeschrieben wird, sondern verkehrt zugleich dessen poetologische Dimension ins Gegenteil. Der Beruf als Wahrsagerin lässt das bei Freytag propagierte Zeichenmodell umschlagen. War der Aufstieg Anton Wohlfarts durch die Lossagung von arbiträren Imaginationen bedingt gewesen, so ist es die Fiktionsbildung, durch die die pikareske Aufsteigerin bei Solger reüssiert. Die ebenso poetologisch wie moralisch codierte Botschaft der Erzählinstanz, die das Aufstiegsgeschehen bei Freytag umrahmt – „ein jeder achte wohl darauf, welche Träume er im heimlichsten Winkel seiner Seele hegt“¹³⁶ –, wird im „Seitenstück“ zum Gegenstand der Parodie und Inversion. Die Aufstiegsfigur bei Solger steigt nicht von einer ungedeckten Fiktionsbildung auf eine realitätsgebundene Semiose um, sondern führt die Ausblendung der Wirklichkeit allererst herbei: Es sind die Prophezeiungen und Ratschläge der Astrologin, die den Dandy Augustus Dawson zu kostspieligen Liaisons veranlassen, bei denen er sich immer weiter verschuldet, bis er zum Mittäter in einem Mordanschlag wird.¹³⁷ Das Paradigma des Selfmademans wird also in das pikaresk anmutende „Schurkenpanorama“¹³⁸ eingepasst, das der Roman entwirft. Neben der Wahrsagerin tritt eine zweite Figur in Erscheinung, in der sich das Konzept des Selfmademans realisiert. In weniger als zwei Jahren steigt der Zeitungsjunge Paddy O’Shea zu einem vermögenden Börsenmagnaten auf, was die Erzählinstanz emphatisch kommentiert: „Es war wunderbar an dem jungen Burschen zu beobachten, […] in wie kurzer Zeit sich aus einen [sic] kleinen Straßenjungen ein großer Börsenmann machen läßt.“¹³⁹ Der Roman, der sich so ausgiebig über Anton Wohlfarts Aufstiegsweg mokiert, schreibt also zugleich am Bild Amerikas als Land des Selfmademans mit, das in den späten 1850er und 1860er Jahren auch in Deutschland zunehmend an Popularität gewinnt. 1858 ist eine Abhandlung unter dem Titel Der Geschäftsmann in Amerika. Wie er seyn und was er wissen muß, um in allen Geschäftszweigen mit Vortheil zu arbeiten erschienen, die sich im Untertitel als Handbuch für Alle, die vorwärts wollen ausgibt

    

Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 147. Freytag: Soll und Haben, S. 8. Vgl. Koch, S. 164. Matthias Bauer: Der Schelmenroman. Stuttgart: Metzler, 1994. S. 12. Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 191.

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2 Literarische Repliken

und den Typus des Selfmademans einer statistischen Betrachtung unterzieht.Von den aufgelisteten 1060 in New York lebenden Männern seien 112 aufzufinden, die „arm anfingen“ und sich allein durch „Redlichkeit, Fleiß und Tüchtigkeit“ zu „Unabhängigkeit und Reichthum emporschwangen“¹⁴⁰. Es ist dasselbe Bild Amerikas als Schauplatz einer modernetypischen Mobilität und Chancengleichheit, das amerikanische Sammelbiographien seit den 1840er Jahren propagiert hatten und das 1840 durch Alexis de Toqueville auch in Frankreich prominent geworden ist. Bei Toqueville wird das Streben nach Aufstieg als zentrales Kennzeichen ,des Amerikaners‘ dargestellt: [L]’envie de s’élever naît à la fois dans tous les cœurs; chaque homme veut sortir de sa place. L’ambition est le sentiment universel.¹⁴¹

In diesem allgegenwärtigen Aufstiegsstreben sieht Toqueville den Grund für eine allgemeine Unbeständigkeit, die das amerikanische Gesellschaftsleben kennzeichne. Durch die Durchlässigkeit der Sozialschichten komme es zu stetigen Wechselfällen im Leben, sodass von Kontinuität und Vorhersehbarkeit kaum die Rede sein könne: [D]ans cette vaste confusion de tous les hommes et de toutes les règles, les citoyens s’élèvent et tombent avec une rapidité inouïe, et la puissance passe si vite de mains en mains, que nul ne doit désespérer de la saisir à son tour.¹⁴²

Solgers Roman reproduziert die verbreitete Vorstellung einer amerikatypischen Kontingenz durch das Bild des Selfmademans. Dass aus Paddy O’Shea, dem „kleine[n] Gamin“, in sechzehn Monaten ein über der „City“ thronender „olympischer Zeus“ wird, der „mit allen Mitteln souverainer Macht ausgerüstet“ ist,¹⁴³ verstärkt das Bild der Wechselhaftigkeit, das der Roman von der amerikanischen Moderne entwirft. Die Aufstiegskarriere Paddy O’Sheas bildet in diesem Sinne das Komplement zum rasanten Fall des Millionärs Dawson, der binnen kurzer Zeit sein Vermögen verliert. Auch der Protagonist ist einem stetigen Wechsel von Erfolgen und Fehlschlägen ausgesetzt, was der dargestellten Wirtschaftswelt den Eindruck einer undurchschaubaren Dynamik verleiht. Einmal mehr zeigt sich hier der oppositionelle Impetus, der dem selfmade-Narrativ bei Solger zugrunde liegt.

 Edwin Troxell Freedley: Der Geschäftsmann in Amerika. Bd. 1. New York: Friedrich Gerhard, 1858. S. 254.  Alexis de Toqueville: De la Démocratie en Amérique. Deuxième Partie. Tome 1. Brüssel: Société Belge de Librairie, 1840. S. 166.  Toqueville, S. 164 f.  Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 203 f.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

253

Im Gegensatz zu Soll und Haben setzt Solgers Roman den Typus des Selfmademans nicht für eine Verklärung der ökonomischen Moderne ein, sondern für eine Kontrafaktur des verklärungsästhetischen Erzählprogramms.¹⁴⁴ Angetrieben wird die Demontage des Verklärungspostulats durch einen Vorwurf, den bereits Freytags Roman integriert hatte: die Kritik an einer Zeichenbildung, die keine Deckung in der Realität besitzt. Solgers Roman nun codiert diese ungedeckte Semiose nicht poetologisch, indem er sie mit einer romantischen Ästhetik assoziiert, sondern ökonomisch. Immer wieder nimmt der Roman auf wirtschaftliche Ereignisse der zeitgenössischen Gegenwart Bezug, die als Konsequenzen ungedeckter Vorgriffe und Täuschungen markiert werden. An einer Stelle ist es die Wirtschaftskrise von 1857, die kommentiert wird: Die Zinsen standen im besten Falle in keinem Verhältniß zu dem Preise, zu welchen der Schwindel die Shares in die Höhe getrieben hatte. Als daher die Eisenbahnobligationen das Signal zum Rückfall gegeben hatten, folgten alle andern nach. Die Folge war, daß der Markt überschwemmt und baar Geld in dem Maaße gesuchter wurde. Als es aber erst zu dem Punkte gediehen war, zeigte sich’s plötzlich, daß die ganze Gesellschaft auf Credit gelebt hatte, daß, bei der Leichtigkeit des Erwerbs, jeder sich die Reichthümer, die ihm der nächste Tag erst noch bringen sollte, schon den Tag vorher hatte escomptiren lassen und daß Actien, Banknoten,Wechsel,Werthschreibungen – alles Andre eher zu haben war, als baares Geld.¹⁴⁵

Deutlich zeigt sich hier die Verbindungslinie zwischen der Metapoetik, die der Roman im Rahmen seiner Parodie des selfmade-Narrativs entfaltet, und seiner Gegenwartskritik. Das Festhalten an einer der Realität entgegenstehenden Fiktionswelt, das Soll und Haben zum Vorwurf gemacht wird, reproduziert sich in der diegetischen Wirtschaftswelt, der dieselbe Illusionsbildung vorgehalten wird: „Indem aller Credit plötzlich aufhörte, hörte plötzlich Alles auf, denn Alles war Credit gewesen.“¹⁴⁶ Wenn der Roman einem Programm des unverklärten Realismus das Wort redet, so widersetzt er sich folglich nicht nur dem idealrealistischen Programm, wie es Soll und Haben propagiert, sondern bezieht sich zugleich auf ökonomische Entwicklungen der Zeit.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen) Wie sich gezeigt hat, geht das Narrationsmuster des Aufstiegs in der realistischen Erzählliteratur mit einer poetologischen Programmbekundung und Gegenwarts-

 Vgl. Koch, S. 161 f.  Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 161.  Solger: Anton in Amerika, Bd. 1, S. 162.

254

2 Literarische Repliken

bilanz einher. Diese zweite Funktion gewinnt in mehreren Romanen der 1860er und 1870er Jahre neue Dimensionen. Der Selfmademan wird zum Medium historischer und zeitpanoramatischer Modellierungen. Die Imaginationsgeschichte des Selfmademans schlägt dabei eine Richtung ein, die im realistischen Erzählsystem an vielen Stellen zu beobachten ist: Inszeniert und problematisiert werden Bezüge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Temporale Reflexionsmomente bestimmen zwar seit der Sattelzeit den grand récit ,Moderne‘, doch lässt sich spätestens für die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine neue Reflexionsebene aufzeigen. Befragt man exemplarische Romane dieser Zeit auf temporale Konstruktionsweisen, so fällt eine Metaebene ins Auge, die vor allem historische Romane bestimmt. Die Herauslösung der Gegenwart aus dem Einflusshorizont der Vergangenheit – die seit Koselleck als Signum der Sattelzeit gilt – wird in den Geschichtsromanen selbst historisiert. Freytags groß angelegter historischer Roman Die Ahnen (1872– 1880) etwa macht nicht nur generationenübergreifende Verkettungen thematisch, sondern schildert zugleich das zunehmende Problematischwerden genealogischer Kontinuitätslinien. Neben der nationalpolitisch motivierten Vergangenheitskonstruktion steht die Vorstellung eines abklingenden Einflusses der Ahn*innen zugunsten der Gestaltungsmacht der neuen Generation: Was wir uns selbst gewinnen an Freude und Leid durch eigenes Wagen und eigene Werke, das ist doch immer der beste Inhalt unseres Lebens, ihn schafft sich jeder Lebende neu. Und je länger das Leben einer Nation in den Jahrhunderten läuft, um so geringer wird die zwingende Macht, welche durch die Thaten der Ahnen auf das Schicksal der Enkel ausgeübt wird, desto stärker aber die Einwirkung des ganzen Volkes auf den Einzelnen und größer die Freiheit, mit welcher der Mann sich selbst Glück und Unglück zu bereiten vermag.¹⁴⁷

Durch das selfmade-Narrativ, das an dieser Stelle aufgerufen wird, markiert der Roman einen historischen Umschlagspunkt: An die Stelle der Determination durch die Vergangenheit tritt eine Zukunftsoffenheit, die das männliche Individuum dazu ermächtigt und verpflichtet, die Jetztzeit und Zukunft nach eigenen Wünschen zu gestalten.¹⁴⁸ Eine solche Gestaltbarkeit steht am titelgebenden

 Gustav Freytag: Aus einer kleinen Stadt; Schluss der Ahnen. Leipzig: Hirzel, 1896. S. 399 f.  Bereits am Ende von Ingraban wird, dies hat Claus-Michael Ort herausgestellt, das Verhältnis von Vergangenheitsbindung und Zukunftsoffenheit zum Thema gemacht. Ein Kommentar der Erzählinstanz legt eine paradox anmutende Verbindung nahe: „Länger wurde die Kette der Ahnen, welche jeden Einzelnen an die Vergangenheit band, größer sein Erbe, das er von der alten Zeit erhielt, und stärkere Lichter und Schatten fielen aus den Thaten der Vorfahren in sein Leben. Aber wundervoll wuchs dem Enkel zugleich mit dem Zwange, den die alte Zeit auf ihn legte, auch die eigne Freiheit und schöpferische Kraft.“ Gustav Freytag [1872]: Die Ahnen. Erste Abtheilung:

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

255

Schluss der Ahnen, dessen diegetische Zeit das neunzehnte Jahrhundert ist und immer mehr der Entstehungszeit des Romans angenähert wird. Vergangenheitsunabhängigkeit und Zukunftsoffenheit, so die Suggestion, sind erst dem neunzehnten Jahrhundert – dem Zeitalter des Bürger*innentums – erfahrbar, wohingegen frühere Jahrhunderte von einer Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestimmt werden. Freytags Roman ist nicht der erste, der über das selfmade-Sujet eine Historisierung temporaler Bezugslinien vornimmt. Schon der umfassende Geschichtsroman Von Geschlecht zu Geschlecht (1864 – 1866) von Fanny Lewald verhandelt die im selfmade-Narrativ versinnbildlichte Zeitlichkeit aus einer diachronen Perspektive und lässt dabei – wie im Folgenden zu zeigen ist – sowohl einige Konstanten als auch Verschiebungen in den semantischen Besetzungen des Selfmademans zutage treten. In Erscheinung tritt ein prototypischer Aufsteiger. Paul Tremann, der uneheliche und verstoßene Sohn des Freiherrn von Richten, wächst nach dem Suizid seiner Mutter bei einer jüdischen Beamt*innenfamilie auf und avanciert im Laufe des Romans zum Leiter eines erfolgreichen Geschäftshauses sowie zum Besitzer eines ehemals aristokratischen Anwesens. Mit der Gegenüberstellung von Aristokratie und Bürger*innentum und der damit verbundenen Parallelsetzung von Aufstiegs- und Untergangsszenarien schließt der Roman offenkundig an Freytags Soll und Haben an.¹⁴⁹ In Lewalds postum veröffentlichtem Tagebuch Gefühltes und Gedachtes findet sich eine direkte Stellungnahme zu Freytags Roman: Ich erinnere mich, dass Freytags vortreffliches Genrebild „Soll und Haben“ mir nicht tief genug angelegt zu sein und den Adel nicht gerecht genug, den Kaufmann nicht groß genug zu schildern schien – und daß ich dachte, diese Gegensätze müsse man in ihrer historischen Bedeutung einander gegenüberstellen – in ihrem Nieder- und Emporsteigen historisch behandeln […].¹⁵⁰

Ingo und Ingraban. Leipzig: Hirzel, 1873. S. 513 f. Wie Ort bemerkt hat, besteht das „Wunder“, das die Erzählinstanz an dieser Stelle postuliert, in einer harmonischen Balance von genealogischgeschichtlicher Bindung und autonomem Handeln, womit das Konfliktverhältnis von historischer Heteronomie und individueller Autonomie aufgelöst wird. Vgl. Claus-Michael Ort: Roman des ,Nebeneinander‘ – Roman des ,Nacheinander‘. Kohärenzprobleme im Geschichtsroman des 19. Jahrhunderts und ihr Funktionswandel. In: Titzmann, Michael (Hrsg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Berlin: de Gruyter, 2002. S. 347– 375, hier S. 361 f.  Fanny Lewald kannte Soll und Haben, wie ihr Tagebucheintrag demonstriert, und war zudem mit Freytag selbst bekannt, dem sie die Fortsetzung ihrer Lebensgeschichte gewidmet hat. Vgl. Gabriele Schneider: Vom Zeitroman zum „stylisierten“ Roman: Die Erzählerin Fanny Lewald. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1993. S. 273.  Fanny Lewald: Gefühltes und Gedachtes (1838 – 1888). Hg. von Ludwig Geiger. Dresden/ Leipzig: Heinrich Minden, 1900. S. 156.

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2 Literarische Repliken

Der geschilderte Rezeptionseindruck lässt die veränderten Prämissen deutlich werden, unter denen der Anschluss an Freytags Roman bei Lewald erfolgt. Es ist nicht mehr die poetologische Erzählebene von Soll und Haben, auf die die Aufstiegsnarration Bezug nimmt, sondern die temporale histoire, die Von Geschlecht zu Geschlecht zu korrigieren sucht. Das Erzählprojekt besteht in einer Gegenüberstellung von aristokratischem Untergang und bürgerlichem Emporstieg und in einer historischen Kontextualisierung dieser Prozesse. Schon in den einzelnen Bandtiteln kündigt sich ein zeitdiagnostischer Erzählschwerpunkt an. Während der erste Band, Der Freiherr, im aristokratischen Milieu lokalisiert ist, wendet sich der zweite Band, Der Emporkömmling, verstärkt der bürgerlichen Welt zu. Der übergeordnete Titel, der mit der Homonymie des Lexems ,Geschlecht‘ spielt, bezieht sich in doppelter Hinsicht auf den Erzählverlauf: Zum einen entfaltet sich die Handlung des Romans über eine Kette von tragisch endenden Liebesverhältnissen und scheiternden Konventionsehen und macht damit die Konfrontation der Geschlechter zum Grundthema. Zum anderen bildet sich auf einer historischen Erzählebene, auf der anhand repräsentativ stehender Einzelfiguren der Aufstieg und Untergang gesellschaftlicher Stände geschildert wird, eine generationelle histoire heraus. Die Wendung „von Geschlecht zu Geschlecht“ ist hier auf einen gesellschaftlichen Übergangsprozess bezogen, in dessen Verlauf ein adliges Geschlecht, das Haus von Richten, zugrunde geht und der Emporkömmling Paul Tremann ein neues, bürgerliches Geschlecht begründet. Das selfmade-Sujet, das Lewalds Roman durch den titelgebenden Begriff ,Emporkömmling‘ aufruft,¹⁵¹ steht folglich auch hier im Zeichen einer bürgerlich ideologisierten Gegenwartserzählung. Aufstiegsnarration, Zäsurmarkierung und bürgerliches Pathos gehen bei Lewald wie bei Freytag Hand in Hand und entfalten in ihrer Verschränkung ein topisches Modernenarrativ: Das Emporkommen Paul Tremanns steht metonymisch für das Emporkommen des Bürger*innentums, das wiederum als Anbruch eines neuen Zeitalters markiert wird. Im Laufe der Handlung tritt eine Vielzahl von Figuren verschiedener Stände in Erscheinung, die als Handlungsträger*innen einzelner miteinander verknüpfter Erzählstränge firmieren. Wenn schon dieser synchrone Schnitt durch eine historische Gesellschaft in einem breit gefächerten Figurenarsenal mündet, so steigert sich die Handlungs- und Figurenfülle durch eine im zweiten Band erzeugte Diachronität. Die Ereignisketten des ersten Bandes werden durch den Fortsetzungsband, der die zweite Generation in den Vordergrund rückt, erweitert. So

 Der Begriff ,Emporkömmling‘ ist angesichts seiner konnotativen Nähe zum Begriff des Parvenüs vom Selfmademan abzugrenzen. Indes werden die Begriffe in einigen Texten – wofür Lewalds Romane exemplarisch sind – synonym verwendet.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

257

profiliert sich in der Erzählung ein epochales und soziales Panorama, das einen Zeitraum von 30 – 40 Jahren porträtiert.¹⁵² Der Roman lässt sich somit als historischer Gesellschaftsroman bezeichnen, der anhand von Figuren unterschiedlicher Stände und Schichten Synchronzusammenhänge bestimmter Zeitabschnitte herstellt. Gleichzeitig trifft die Einordnung als Familienroman zu, da sämtliche Handlungsträger*innen in ein generationelles Kontinuum eingebunden werden. Diese Verschränkung von diachroner und synchroner Erzählachse ist vor allem in puncto temporaler Konstruktionen von Bedeutung. Sie lässt das einzelne Subjekt zum einen als Teil genealogischer Bindungen erscheinen, zum anderen als Akteur*in innerhalb synchron verlaufender sozialer Zusammenhänge. Beide Bezugsrichtungen nun werden ähnlich wie bei Freytag mit unterschiedlichen Schichten korreliert und mit unterschiedlichen Wertakzenten versehen. Während der Freiherr eine genealogische Verkettung anvisiert, definiert sich Paul Tremann über die Synchronzusammenhänge seiner bürgerlichen Zeit – ein Selbstverständnis, das durch die Wir-Rhetorik seiner Rede als bürgerliches Kollektivverständnis markiert wird: Wir haben keinen Rang, keine äußeren Anerkennungen, als diejenigen, welche das Urtheil unserer Standesgenossen und Mitbürger uns zu Theil werden läßt […].¹⁵³

Dass es Paul Tremann im Gegensatz zum Freiherrn gelingt, eine legitime Nachkomm*innenschaft zu stiften, macht die temporale Dimension seines bürgerlichen Selbstverständnisses zum Gegenstand einer temporalen Wertung: Die von Paul Tremann vertretene Gegenwartsemphase erscheint als zukunftsfähig, wohingegen das Genealogiedenken des Freiherrn als Signum der Vergangenheit inszeniert wird. Deutlich zeigen sich hier die Anschlüsse an Freytags Kaufmannsroman, der eine ähnliche Temporalisierung zeitlicher Wahrnehmungsmodelle vorgenommen hat. Indes nimmt Lewalds Roman eine Neujustierung vor. Diese hängt mit seiner historischen Erzählebene zusammen. Dargestellt wird die Zeit der napoleonischen Kriege, die der Roman als Ausgangspunkt der bürgerlichen Emanzipation markiert. Das Paradigma der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird damit auf eine vergangene Epoche projiziert, wodurch sich die anachronisierende Stoßrichtung verstärkt: Das genealogiezentrierte Zeitbewusstsein der Adelswelt, das die Untergangserzählung als anachronistisch markiert, mutet durch den historischen Modus der Erzählung als doppelt unzeitgemäß an.

 Vgl. Schneider, S. 294.  Fanny Lewald: Von Geschlecht zu Geschlecht. Zweite Abtheilung: Der Emporkömmling. Bd. 5. Berlin: Otto Janke, 1866. S. 44.

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2 Literarische Repliken

Dass Lewalds Roman eine vergangenheitsorientierte Zeiterfahrung als aristokratisch und anachronistisch inszeniert, ist umso bemerkenswerter, als seine eigene Erzählanlage auf eine Vergangenheitskonstruktion hin ausgerichtet ist. Historisch reflektierende und referenzialitätsbeanspruchende Erzählpassagen, in denen die heterodiegetische Erzählinstanz Geschehnisse des napoleonischen Zeitalters Revue passieren lässt, eröffnen einen Großteil der Ereignisketten. Sämtliche Figurenschicksale werden als Elemente eines kollektiv erfahrbaren historischen Geschehens markiert und so in eine homogenisierende Makro-histoire integriert. Der damit verbundene Vergangenheitsbezug stimmt die Erzählanlage prima facie auf ebenjene Zeitwahrnehmung ab, die auf Handlungsebene als unbürgerlich und unzeitgemäß markiert wird. Nichtsdestotrotz widersprechen sich die temporalen Logiken von Handlungs- und Strukturebene nur scheinbar. Den archimedischen Punkt der historischen Erzählung bildet nicht die Vergangenheit, sondern die Gegenwart. Das Revuepassieren geschichtlicher Wendemarken dient einer identitätspolitischen Bewusstseinsbildung, die um die Paradigmen der ,Nation‘ und des ,Deutschtums‘ kreist, was die Konstruktion der Vergangenheit als Ausdruck eines gegenwarts- und zukunftsorientierten Engagements erscheinen lässt. Es zeigt sich hier eine zeittypische Funktionsbesetzung der historischen Erzählform: Im Medium des historischen Romans soll der Prozess nationaler Identitätsstiftung vorangetrieben werden.¹⁵⁴ Die vergangene Zeit soll, wie es Gustav Freytag 1868 konstatiert, „nach dem Maßstabe der eigenen Zeit und Cultur“¹⁵⁵ gestaltet werden. Mit dieser gegenwartsemphatischen Funktionsbestimmung von Geschichte, die sich in Lewalds Roman exemplarisch abzeichnet, überlagern sich in der referenziellen Anlage des Textes zwei Tendenzen. Die historische Bezugsebene wird zum Vehikel der „codierte[n] Kommunikationsofferte“¹⁵⁶ des Politischen. Besonders deutlich zeigt sich die Verschränkung von Vergangenheitskonstitution und identitätspolitischer Mobilisierung im patriotischen Pathos der Erzählung:

 Vgl. Jan-Arne Sohns: An der Kette der Ahnen. Geschichtsreflexion im deutschsprachigen historischen Roman 1870 – 1880. Berlin: de Gruyter, 2004. S. 1 sowie Gesa von Essen: Die Rückgewinnung der Geschichte in Gustav Freytags ,Ahnen‘-Galerie. In: Essen, Gesa von; Turk, Horst (Hrsg.): Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität. Göttingen: Wallstein, 2000. S. 162– 186, hier S. 165.  Gustav Freytag: Hermann Baumgartens, Geschichte von Spanien. In: Die Grenzboten. Jg. 27, Bd. 2 (1868), S. 68 – 72, hier S. 69.  Ingo Stöckmann: Die Politik der Literatur. Zur politischen Beobachtung der historischen Avantgarden. In: Plumpe, Gerhard; Werber, Niels (Hrsg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1995. S. 101– 134, hier S. 102.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

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In Blut und Thränen, unter dem Drucke der Fremdherrschaft, in der willkürlich über ihm verhängten Zersplitterung, in der Knechtschaft und in den Banden Napoleon’s war Deutschland frei geworden von jener französischen Sclaverei, zu welcher es sich so lange selbst verdammt hatte […]. Der deutsche Geist war zum Selbstgefühl erwacht, an dem Hasse gegen den Uebermuth der fremden Vergewaltiger hatte sich die lange niedergehaltene Liebe für die Muttersprache und für das gemeinsame Vaterland entzündet.¹⁵⁷

Während der politisierte historiographische Modus die Differenz zu Soll und Haben steigert, verstärkt sich durch ein Element der Handlungsebene die Affinität des Romans zu seinem Prätext. Die erzählte Welt teilt sich auf in ein effizient wirtschaftendes Bürger*innentum und eine misswirtschaftende oder ökonomisch untätige Aristokratie; Ausnahmen bilden lediglich die (männlichen) Vertreter des Klerus. Über weite Strecken reproduziert die Erzählung also die Normsetzungsund Ausschlussstrategien von Soll und Haben. Gleichzeitig jedoch nimmt Lewalds Roman eine Kontrafaktur bürgerlicher Selbstbeschreibungsmuster vor. Freytags Roman verfestigt bekanntlich seine Apotheose auf das Bürger*innentum über ein Abgrenzungssystem, das sich nicht nur gegen die Aristokratie, sondern auch und vor allem gegen das Jüd*innentum richtet.Von diesem Antisemitismus grenzt sich Lewalds Roman ab. Paul Tremann, der Träger bürgerlicher Normen, wird zwar nicht als jüdisch dargestellt, doch ist er als Adoptivsohn Teil einer jüdischen Familie, in die er gegen Romanende auch einheiratet. Eine mit dem Jüd*innentum assoziierte Figur wird folglich nicht als Bedrohung eines moralisch höher stehenden Bürger*innentums inszeniert, wie es bei Freytag der Fall ist, sondern als Inkarnation bürgerlicher Ideale. Es ist Paul Tremann, der den Anbruch eines bürgerlichen Zeitalters ausruft: Und ich lebe der sichern Hoffnung: von uns Allen, die wir heute hier in meinem Hause beisammen sind, soll keiner je danach verlangen, etwas Anderes zu sein, als ein unbescholtener, unabhängiger Mann, ein nützlicher Bürger seines Vaterlandes! Darauf laßt uns anstoßen, daß ein starker, freier Bürgersinn auch unter unsern Kindern und Kindeskindern mächtig sein und daß er die Freiheit, deren wir nach allen Seiten noch bedürfen, heraufführen helfen möge über unser Volk und über die ganze Welt!¹⁵⁸

Dass Lewalds Roman eine mit dem Jüd*innentum verbundene Figur als Sprachrohr bürgerlicher Normen in Erscheinung treten lässt, markiert einen Bruch mit den spätestens durch Soll und Haben etablierten Ausschlussmechanismen. Für Lewalds Erzählwerk ist diese Replik auf antisemitische Beschreibungen indes

 Fanny Lewald: Von Geschlecht zu Geschlecht. Zweite Abtheilung: Der Emporkömmling. Bd. 1. Berlin: Otto Janke, 1866. S. 5.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 1, S. 294.

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nicht neu. Lewald, die selbst aus einer jüdischen Familie stammt und besonders während der Hep-Hep-Unruhen mit antisemitischen Anfeindungen konfrontiert gewesen ist, hat schon mit ihrem Tendenzroman Jenny (1843) antisemitischen ‒ und geschlechtsbezogenen ‒ Diskreditierungen den Kampf angesagt und einen Appell für „vorurteilsfreie Menschlichkeit und Liberalität“¹⁵⁹ lanciert. Obgleich Von Geschlecht zu Geschlecht die antisemitische Fiktionsbildung, die Soll und Haben bestimmt, kontrapunktiert, fließen in den Handlungsverlauf tradierte Stereotype ein. Gerade das selfmade-Sujet steht bei Lewald im Zeichen einer Stereotypisierung, auch wenn diese einer affirmativen Codierung untersteht. Dem Aufstieg Paul Tremanns geht eine Bindungslosigkeit voraus, die der Text melodramatisch hervorhebt: Er hatte nichts, nicht Vater, nicht Mutter und nicht Heimath! Nichts war sein eigen als die Schande, die mit ihm geboren war […]. Sein Name war das Einzige, das ihm gehörte. Er hatte nichts, nichts auf der Welt, als diesen seinen Namen, den sollte man ihm nicht nehmen, nur den Namen nicht!¹⁶⁰

Deutlich zeigt sich hier, wie die diskontinuitätszentrierte Temporalität des selfmade-Narrativs im Stereotypenarsenal des ,Jüdischen‘ aufgeht. Als Figur, die von Vergangenheitsbindungen isoliert ist und die eigene Normativität in der Gegenwart begründen muss, korrespondiert Paul Tremann nicht nur dem Bild des Selfmademans, sondern der Vorstellung vom entwurzelten und heimatlosen Juden, der sich keinem kulturellen oder geographischen Raum angehörig fühlt. Diese Nichtidentifikation ist umso bemerkenswerter, als sie dem strukturell vermittelten Propositionskern des Romans entgegenläuft. Der Roman, der in seiner historisch-politischen Erzählform eine nationale Identitätsstiftung zu befördern sucht, macht einen Repräsentanten nationaler Bindungslosigkeit zum Sprachrohr seines Normenhorizonts. Mit dem Aufsteiger Paul Tremann reproduziert der Roman nicht nur in affirmativer Form ein Stereotypenarsenal des ,Jüdischen‘. Er schließt zugleich – wiederum affirmativ – an ein stereotypbeladenes Amerikabild an. Nach dem Verstoß durch seinen Vater emigriert Paul Tremann in die Vereinigten Staaten, wo er vom mittellosen Ladendiener zum erfolgreichen Geschäftsführer aufsteigt. Erst nach dem Aufstiegserfolg kehrt der Emporkömmling nach Europa zurück, wo er sich zunächst selbständig macht, dann zum Partner und schließlich zum Leiter des jüdischen Unternehmens Flies avanciert. Der amerikanisch konnotierte

 Florian Krobb: Selbstdarstellungen. Untersuchungen zur deutsch-jüdischen Erzählliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2000. S. 129.  Fanny Lewald: Von Geschlecht zu Geschlecht. Bd. 3. Berlin: Otto Janke, 1864. S. 66.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

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Selfmademan wird folglich nicht mehr als Errungenschaft des deutschen Wirtschaftslebens herausgestellt, sondern als ausschließliche Erscheinung der ,neuen Welt‘. Über den Typus des Selfmademans vollzieht sich eine Gegenüberstellung der ,alten‘ und der ,neuen‘ Welt, womit sich ein Deutungsmuster bekundet, das in der Folgezeit textsortenübergreifend zirkuliert. Berthold Auerbach etwa, den eine persönliche Bekanntschaft mit Lewald verbindet, hat 1872 ein biographisches Porträt verfasst, in dem der Selfmademan ebenfalls als Ausgangspunkt einer Kontrastierung zwischen dem europäischen und amerikanischen Entwicklungsstand dient. Der bei Lewald aufscheinende Konnex zwischen Jüd*innentum, Amerika und dem Selfmademan wird dabei übernommen. „Der Jude ist eine Erscheinung des self-made man in ganz eigenthümlicher Erkennbarkeit“¹⁶¹, schreibt Auerbach, und fügt dieser Prämisse eine weitere hinzu: Als Selfmademan füge sich der porträtierte jüdische Schauspieler in eine „Kategorie“ ein, die sich in Amerika „am schärfsten und entschiedensten“ entwickelt habe.¹⁶² Bei Lewald findet sich eine ähnliche Codierung des selfmade-Narrativs, das Vorstellungen jüdischer Bindungslosigkeit und amerikanischer Vergangenheitsunabhängigkeit zusammenführt. Affirmativ schreibt der Roman an der Vorstellung einer jüdischen ,Wurzellosigkeit‘ mit, die er als Ausweg aus der Engstirnigkeit und Rigidität der ,alten Welt‘ erscheinen lässt. Paul Tremann, den der Verstoß durch den Vater „seines Namens, seiner Heimath, seines Erbes“¹⁶³ beraubt, ist „frei von dem Ballast angeerbter Vorurtheile“¹⁶⁴ und durch den Aufenthalt in Amerika durch eine „Schule der Duldsamkeit für jede Art von religiöser Ueberzeugung“¹⁶⁵ gegangen. Verbunden mit der als amerikanisch und als jüdisch markierten Vergangenheitsunabhängigkeit ist eine temporale Semantisierung, die die modernediagnostische Erzählebene fundamentiert. In seiner familialen und nationalen Bindungslosigkeit wird Paul Tremann zur Figuration einer Moderne, die die retrograden Zwänge der ,alten Welt‘ hinter sich gelassen hat. Der antigenealogische Erzählkern steigert sich dadurch, dass die Aufstiegsgeschichte das paradigmatische Beispiel einer gescheiterten Filiation liefert. Als illegitimer Sohn, der aus der familialen communitas verstoßen wird, verkörpert Paul Tremann das modernetypische Bild des an sich selbst verwiesenen Subjekts, für das Herkunft und Vergangenheit keine Orientierungspunkte bieten können. Dieser zukunftsfokus-

 Berthold Auerbach: Bogumil Dawison. Ein Gedenkblatt. In: Rodenberg, Julius (Hrsg.): Der Salon für Literatur, Kunst und Gesellschaft. Bd. X. Leipzig: Payne, 1872. 1– 11, hier S. 6.  Auerbach: Bogumil Dawison, S. 6.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 2, S. 118.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 2, S. 182.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 2, S. 183.

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2 Literarische Repliken

sierte Gegenwartsindex, der für das selfmade-Narrativ konstitutiv ist, wird in der Erzählung mit dem Ideal der Freiheit korreliert. Besonders deutlich zeigt sich dies in den Differenzmarkierungen zwischen der Vergangenheitsunabhängigkeit des Selfmademans und der aristokratischen Traditionsgebundenheit: Das Schloß sah wie ein riesiges Grabmal aus; es machte ihm einen melancholischen Eindruck. Er hatte einst die glücklichen Kinder beneidet, die hinter den goldenen Fenstern dieses Schlosses spielen würden. Heute beneidete er die Besitzer dieses Schlosses nicht mehr, heute fühlte er kein Verlangen mehr, sein Loos gegen das des jungen Freiherrn zu vertauschen. Ihr Stern war im Sinken, der seine stieg empor, und er hatte sie nicht mit sich fortzutragen durch das Leben, die Herz und Sinn verengenden Ueberlieferungen, die hemmenden und herabziehenden Vorurtheile dieses Hauses; er konnte frei und ungehindert seiner Einsicht, seiner Ueberzeugung und seinem Bedürfen folgen. Er freute sich, daß keine Verpflichtung irgend einer Art ihn an die Vergangenheit knüpfte; sein Alleinstehen dünkte ihn ein Glück.¹⁶⁶

Zwar ist die temporale Reflexionsfunktion, die sich hier abzeichnet, dem Figurentypus des Selfmademans generell zu eigen, doch kommt in Lewalds Roman eine neue Dimension hinzu. Die historische Erzählachse projiziert das Gegenwartsbewusstsein der Figur auf eine vergangene Zeit und nimmt somit eine Historisierung der dargestellten Zeitwahrnehmung vor. Die Verbindungslinie, die zwischen dem selfmade-Sujet und dem sattelzeittypischen Gegenwartsbegriff besteht, wird durch die historische Fiktionsbildung offengelegt. Das Verständnis der eigenen Zeit als vergangenheitsunabhängiger Möglichkeitshorizont wird als Errungenschaft des napoleonischen Zeitalters markiert. Die an den Selfmademan gekoppelte Zeitlichkeit wird damit aus einer historisierenden Metaperspektive heraus verhandelt. Indem die Erzählung die vom Selfmademan verkörperte Zukunftsoffenheit von einer anachronisierten Vergangenheitsabhängigkeit abgrenzt, macht sie thematisch, was in der Forschung als temporalitätsbezogener Umbruchsprozess der Sattelzeit beschrieben wird: Konsistenzlinien verlaufen nicht mehr von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft in die Gegenwart.¹⁶⁷ Ähnlich wie später Freytags Die Ahnen liefert Von Geschlecht zu Geschlecht folglich eine Art Metakommentar zur historischen Zeitwahrnehmung: Inszeniert und historisch kontextualisiert wird ein Übergang von einem aristokratisch-gentilizistischen Kontinuitätsdenken zu einer vorgeblich bürgerlichen Zeiterfahrung, die Gegenwart und Zukunft anstelle der Vergangenheit privilegiert und durch die ethnisch aufgeladene Figurenzeichnung zum einen als jüdisch, zum anderen als amerikanisch konnotiert wird.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 2, S. 128 f.  Vgl. Oesterle: „Es ist an der Zeit!“, S. 104.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

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Verbunden mit dieser zeitbezogenen und metaperspektivischen Reflexionsebene ist ein Beschreibungsschema, das in einem archetypischen Modernenarrativ verankert ist: In der ,neuen Zeit‘, in der ständisch-feudale Gesellschaftsstrukturen allmählich ihre Geltungskraft einbüßen, gehen tradierte genealogische und soziale Bindungen verloren. Mit diesem Bindungsverlust gehen die Figuren auf unterschiedliche Weise um. Während der Selfmademan in der genealogischen Ungebundenheit die Möglichkeit erkennt, gestaltend in die Verhältnisse des eigenen Lebens und der umgebenden Sozialwelt einzugreifen, wird dem Aristokraten Renatus die Zukunftsoffenheit zur Last. Illustriert wird das Unbehagen an der Diskontinuität durch eine plakative Symbolsprache. Die Bäume der Schlossallee werden gefällt, was Renatus als Sinnbild für die eigene Entwurzelungsgefahr auslegt: Die Bäume, die konnte man niederschlagen und entwurzeln lassen, wenn die Noth es heischte, wie sein Vater es gethan hatte. Sich selbst zu entwurzeln, sich loszureißen von seiner eigentlichen Heimath, das war noch etwas Anderes, und ehe Renatus sich dazu entschloß, mußte seine Lage schlimmer sein, als er sie jetzt vor Augen hatte […].¹⁶⁸

Mit dem Eindruck der Entwurzelung, den die leitmotivisch eingeblendete Baumsemantik hervorruft, schreibt der Roman am herkömmlichen Bild der Kontingenzerfahrung mit, das im Laufe der Erzählung zum Leitthema avanciert. Der Verlust tradierter Bindungen wird zum verbindenden Element zwischen den einzelnen Figuren. Der uneheliche Sohn Paul Tremann befindet sich in derselben Lage wie die Herzogin von Duras, die ebenso wie der Marquis durch die Umwälzungen in Frankreich ins Exil getrieben und auf dem Hof der Familie von Arten „als eine Flüchtige, als eine Heimathlose“¹⁶⁹ aufgenommen wird. Der Aristokrat Renatus teilt die Entwurzelungserfahrung des Bediensteten Adam Steinerts, was die Erzählung durch den Einbezug desselben Bildkomplexes hervorhebt. Adam Steinert, der ebenso wie Paul Tremann durch den Freiherrn von Arten vom Hof verstoßen wird, sieht sein Schicksal in einer entwurzelten Pflanze versinnbildlicht: Wie es so da lag, breit und stattlich unter den mächtigen Bäumen, das gute, alte Haus, so hatte sein Urgroßvater es erbaut. Die Bäume aber waren weit älter. Ueber diese Treppe war sein Vater als Bräutigam mit seiner Mutter eingezogen, über diese Treppe hatten sie Vater und Mutter zur letzten Rast getragen. […] Alle seine Erinnerungen knüpften sich an diesen Fleck Erde, an dieses alte Haus; alle seine Hoffnungen hatte er im Geiste damit in Verbindung gesetzt, und es that ihm im Herzen weh, als eben, da er vor seiner Thüre anlangte, der

 Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 4, S. 67.  Fanny Lewald: Von Geschlecht zu Geschlecht. Bd. 1. Berlin: Otto Janke, 1864. S. 268.

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Gärtner ein überschüssiges Gesträuch entwurzelte und über den Zaun hinauswarf. Entwurzelt! murmelte er unwillkürlich, und es lief ihm kalt durch die starken Glieder.¹⁷⁰

Auch im Falle Adams erfährt das an dieser Stelle melancholisch kolorierte Bild der Entwurzelung eine positive Umsemantisierung. Nach dem Ausschluss aus dem genealogischen Kontinuum erzielt Adam einen steilen Aufstieg und fügt sich damit ebenso wie der Protagonist Paul Tremann in das Paradigma des Selfmademans ein. Der Konnex zwischen dem Selfmademan und der erzählten Moderne nimmt bei Lewald jedoch noch eine weitere Dimension an, die auf der doppelten temporalen Referenzialität des Modernenarrativs aufruht. Der Selfmademan, der sich von den Zwängen der Vergangenheit befreit, repräsentiert damit eine temporale Haltung, die in der Erzählung als Gegenstand einer temporalen Wertung dient. Nach der Erzähllogik des Romans ist es die Zukunftsorientiertheit des Selfmademans, die seine Modernität fundiert, wohingegen die Vergangenheitsgebundenheit der aristokratischen Figuren selbst anachronistisch ist. Die Aufstiegsteleologie ist insofern ähnlich wie bei Freytag in doppelter Hinsicht auf einen modernediagnostischen Bezugshorizont abgestimmt: Die Aufstiege Adams und Paul Tremanns markieren eine Emanzipation von der Vergangenheit und zugleich den Durchbruch einer ,neuen Zeit‘, in der die Abhängigkeit von der Vergangenheit obsolet geworden ist. Wie das Sujet des Untergangs fungiert folglich die Aufstiegsnarration als temporalitätszentriertes Wertungsmedium einer temporalen Haltung: Die rückwärtsschauende Aristokratie gehört der Vergangenheit an, die zukunftsoffenen Selfmademen sind die Träger der Zukunft. Nicht umsonst münden Untergangs- und Aufstiegssujet in Szenarien der Zukunftsnegation und -begründung ein. Als Hauptträger der diegetischen Gegenwart verbleiben gegen Ende Adam Steinert – der schon durch seinen Vornamen sowie den Namen seiner Schwester Eva als Menschheitsbegründer inszeniert wird – sowie der inzwischen verheiratete und Vater gewordene Paul Tremann. Alle adligen Figuren dagegen erleiden im Laufe der Erzählung den Tod. Damit fällt der Handlungsverlauf ein kategorisches „Verdammungsurtheil“¹⁷¹, das durch Tremanns Rede auch explizit in den Erzähldiskurs eingebunden wird. Lanciert wird dieselbe darwinistisch anmutende Prämisse, die Kaufmann Schröter vertreten hatte und die auf einem bürgerlich ideologisierten Appell zur Zeitgemäßheit aufruht: Wer sich dem bürgerlichen Arbeitsethos verweigert, entzieht sich den Erfordernissen der Gegenwart und ,muss‘ untergehen:

 Fanny Lewald: Von Geschlecht zu Geschlecht. Bd. 2. Berlin: Otto Janke, 1864. S. 253.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 3, S. 288.

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[W]ie sollten Menschen, die sich für eine besondere Abart halten, sich verständig in die der großen Gesammtheit gemeinsamen Bedingungen der Gegenwart zu schicken wissen? […] Alles und Jedes hat nur einen zeitweisen Bestand, eine zeitweise Möglichkeit des Bestehens. So gewiß als die fortschreitende Kultur die gemeinschädlichen Thiere in die Einöden zurückdrängen und endlich ausrotten muß und wird, so gewiss muß und wird die fortschreitende Bildung, die in dem Leisten und Schaffen den höchsten Beruf des Menschen, und in der Freiheit und Genuß bereitenden Arbeit ihre höchste Ehre erkennt, über alle die Geschlechter hinweggehen, die ohne Nutzen für die Gesammtheit leben. Was werthlos für das Allgemeine ist, muß untergehen […].¹⁷²

Mit der Diskreditierung des Unbürgerlichen als auszuschaltende Bedrohung wird aus der Idee der Zeitgemäßheit eine rigorose Subjektivationsnorm: Nur wer sich den Verhältnissen der Jetztzeit anpasst und das bürgerliche Arbeitsethos internalisiert, erwirbt sich ein Recht auf Leben, was die poetischen Sanktionierungen des Romans – die Tode adliger Figuren und die Gemeinschaftsgründung der Emporkömmlinge – narrativ bestätigen. Die Orientierung am bürgerlichen Normenhorizont, wie sie der Typus des Selfmademans vornimmt, wird damit zum Akt des Konformierens mit der Gegenwart. Es zeigt sich hier eine Argumentationslinie, die ihre Wurzeln im achtzehnten Jahrhundert hat und, wie Johannes F. Lehmann gezeigt hat, veränderungszentrierte Zeitbilanzen mit normalisierenden Normsetzungen engführt: Mit der veränderten Zeit konform zu gehen impliziert die Abwehr einer Gefahr; ein Nonkonformismus mit der eigenen Zeit wird im Rahmen dieses Denkens – und schon vor Darwin und seiner evolutionsbiologischen Anpassungslogik der Survival of the Fittest – imaginär mit dem Tod bestraft.¹⁷³

Lewalds Roman, der einer solchen Logik folgt und das ausbleibende Konformgehen mit der Zeit drastisch sanktioniert, nimmt dabei abermals eine temporalitätsbezogene Metaperspektive ein. Die diachrone Erzählachse korreliert den Punkt, an dem die Frage nach der Konformität mit der Gegenwart zur „Frage des Lebens und des Überlebens“¹⁷⁴ wird, mit dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Erst zu dieser Zeit, so die Suggestion, wird die Anpassung an die Verhältnisse der jeweiligen Jetztzeit unausweichlich notwendig. Eine Selbstisolation von den Synchronzusammenhängen der Gegenwart, wie sie der Freiherr vornimmt, ist

 Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 3, S. 287 f.  Johannes F. Lehmann: ,Die Verhältnisse haben sich nun mal geändert.‘ Zeit als Konformierer. In: Güsken, Jessica et al. (Hrsg.): Konformieren. Festschrift für Michael Niehaus. Heidelberg: Synchron, 2019. S. 287– 298, hier S. 294.  Lehmann: ,Die Verhältnisse haben sich nun mal geändert.‘, S. 295.

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nicht mehr zulässig – die ,neue Zeit‘ gehört dem Bürger*innentum, das mit der ,neuen Zeit‘ mitgeht und insofern selbstperformativ den Anbruch der Moderne proklamiert. Dass Lewalds Roman am Bild der zeitlichen Anpassungsnotwendigkeit mitschreibt, verstärkt die Nähe zu Freytags Roman, der ein ähnliches Bild des unentrinnbaren Synchronisationszwangs entwirft und dieses durch die Rede des Kaufmanns Schröter explizit macht.¹⁷⁵ Paul Tremanns Fehde gegen die aristokratische Nonkonformität liegt noch eine weitere Verbindungslinie zu Schröters Apotheose auf das Bürger*innentum zugrunde. Wie der Verweis auf die „fortschreitende Kultur“ andeutet, firmiert Tremann ebenso wie Schröter als Sprachrohr einer nationalökonomischen Argumentationsfigur, die auf einer Äquivalenzsetzung von ökonomischer Modernisierung und kulturellem Fortschritt gründet. Die Korrelation von Ökonomie und Kultur wird jedoch bei Lewald nuanciert. Fortschritt der Kultur bedeutet hier vor allem ein Erwerb von Freiheit, wobei ein liberalistisch perspektivierter Arbeitsbegriff zum Tragen kommt. Wenn Paul Tremann vom Wert der „Freiheit bereitenden Arbeit“ spricht, so führt er ein Argument an, das zeitgleich auch in der Nationalökonomie zirkuliert.¹⁷⁶ Der Konnex von Arbeit, Freiheit und Gemeinschaft findet sich unter anderem in der 1875 erschienenen Abhandlung Bau und Leben des socialen Körpers von Albert Schäffle wieder, in der es heißt: Positive höhere Freiheit entsteht, indem der Berufsarbeiter der Civilisation – vom letzten Arbeiter bis zum Staatsoberhaupt – einen sittlich inhaltsvollen und würdigen Kreis der Thätigkeit erlangt, in welchem er als sociales Wesen dem Gesammtorganismus dadurch dient, daß er sein individuelles Wesen entfaltet.¹⁷⁷

Die Annahme einer Konvergenz von Ökonomie und Freiheit prägt die Theoriebildung der Nationalökonomie.¹⁷⁸ Auch Karl Knies zieht in der zweiten Auflage seiner Abhandlung Die politische Ökonomie vom Standpunkt der geschichtlichen Methode (1883) eine Verbindung von ökonomischem Liberalismus und individueller Freiheit: Es ist aber doch gewiss ebenso wahr, dass auch die in den neueren Jahrhunderten auf Begründung, Festigung und Erweiterung individueller Freiheitsrechte gerichtete Ideenströmung sich folgenreich auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens erwiesen hat. Die öffentliche

 Vgl. Kapitel 1.1 im ersten Teil der vorliegenden Studie.  Vgl. dazu Brock, S. 27– 30.  Albert Schäffle: Bau und Leben des socialen Körpers. Bd. 1. Allgemeiner Theil. Tübingen: Verlag der Laupp’schen Buchhandlung, 1875. S. 199.  Vgl. Brock, S. 27– 30.

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Freiheit wird dann wohl dem Einzelnen gleichbedeutend mit der Herrschaft seiner wirtschaftlichen Interessen. Man verwirft auch die Schranken, welche zum wirtschaftlichen Wohle des Ganzen dem Einzelnwillen gezogen sind. Nirgends kann sich der Individualismus durchgreifender genüge thun, als in dem Gebiete des Privateigentums; […] darum wird der Erwerb von Sachgütern zur Lebensaufgabe der Menge, der Egoismus die mächtige Triebfeder zu den gewaltigsten Kraftanstrengungen.¹⁷⁹

Die Auffassung, die Freiheit des Einzelnen hänge von der Realisierungsmöglichkeit ökonomischer Interessen ab und kopple sich an das verbürgte Eigentumsrecht, wird in Lewalds Roman mehrfach dargestellt. Eine Reihe von männlichen Figuren positioniert sich im Laufe der Handlung zum liberalistischen Wert von privatem Eigentum: Renatus gelangt zur Einsicht, „daß unabhängiger Besitz Freiheit verleihe“¹⁸⁰; Paul Tremann verweist auf den „Besitz als bewegende Kraft, als Grundlage aller Civilisation und Freiheit“¹⁸¹. Die Figurenrede wird damit wie in Soll und Haben zur Artikulationsfläche nationalökonomischer Theoreme, was auch aus einer autor*innenzentrierten Genderperspektive bemerkenswert ist: Der Roman einer Autorin schreibt sich in ein Diskursfeld ein, das bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein ausschließlich von männlichen Autoren dominiert wird. Nicht nur die Korrelation von Erwerb, Freiheit und Eigentum setzt den Typus des Selfmademans in einen Bezug zu Theoremen der Nationalökonomie. Auch das kontrovers diskutierte ökonomische Egoismusprinzip wird durch affirmative Kommentare der Erzählinstanz auf den Selfmademan Paul Tremann projiziert. Gezielt verschafft sich die Figur einen „Ueberblick“ darüber, wie und wo der Vortheil Aller, Vortheil für den Einzelnen verspricht, und wie der Einzelne es anzufangen habe, der Gesammtheit zu dienen, indem er seinen eigenen Vortheil und Nutzen wahrnimmt.¹⁸²

Durch die Figurenzeichnung nimmt der Roman folglich Bezug zu einer Kerndebatte der Nationalökonomie, die auf die Eigennutztheorie von Adam Smith zu-

 Karl Knies: Die politische Oekonomie vom geschichtlichen Standpuncte. Braunschweig: Schwetschke & Sohn, 1883. S. 124. Eine ähnliche Verbindungslinie von Eigentum und Freiheit hatte bereits 1858 Wilhelm Roscher gezogen: „Wie sich die Arbeit der Menschen nur unter Voraussetzung persönlicher Freiheit zu ihrer vollen wirthschaftlichen Bedeutung entwickeln kann, so das Kapital mit seiner productiven Kraft nur unter Voraussetzung freien Privateigenthums. Wer möchte sparen, d. h. also dem gegenwärtigen Genusse entsagen, wenn er des zukünftigen Genusses nicht sicher wäre?“ Wilhelm Roscher: Die Grundlagen der Nationalökonomie. Stuttgart/ Augsburg: Cotta’scher Verlag, 1858. S. 133.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 1, S. 163.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 2, S. 138.  Lewald: Der Emporkömmling, Bd. 2, S. 177 f.

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rückgeht und die Relation von Ökonomie und Moral verhandelt.¹⁸³ Das dabei diskutierte Theorem einer Vereinbarkeit von individuellen und allgemeinen Interessen wird in Lewalds Roman auch strukturell gespiegelt: Wie Soll und Haben lässt der Roman seinen individualzentrierten Erzählfokus in einer Breitenperspektive aufgehen und integriert die Schicksale einzelner fiktiver Figuren in ein allgemeines historisches Zeitpanorama. Im Hinblick auf die funktionalen Dimensionen, die das selfmade-Narrativ bei Lewald in sich birgt, lässt sich Folgendes festhalten: Der Typus des Selfmademans ist bei Lewald Teil eines modernediagnostischen Erzählgefüges, das im Einklang mit nationalökonomischen Anschauungen und temporalitätszentrierten bürgerlichen Normen ein synchrones und diachrones Gesellschaftspanorama modelliert. Diese Funktionsebenen sind für das realistische selfmade-Sujet charakteristisch. Neue Akzentsetzungen und Ausgestaltungen finden sich in der Folgezeit unter anderem in dem 1869 erschienenen Roman Hammer und Amboß von Friedrich Spielhagen, der sich gleichsam metaperspektivisch mit realistischen Darstellungsprämissen auseinandersetzt. Der Erzählverlauf scheint in Verbindung mit dem selfmade-Narrativ zunächst bekannte Muster zu bespielen. Als moderner Karl Moor bricht Spielhagens Protagonist Georg Hartwig aus der bürgerlich-väterlichen Welt aus, versucht, auf einem in kriminelle Machenschaften verwickelten Rittergut seinen Freiheitsdrang auszuleben, wird nach seiner Inhaftierung mit aufklärerisch-humanistischem Gedankengut vertraut, bis er schließlich durch technisches Geschick und Arbeitseifer ein erfolgreicher Unternehmer wird. Ähnlich wie Soll und Haben schreibt sich Spielhagens Roman folglich in Erzähllinien des achtzehnten Jahrhunderts ein, denen er durch die Aufstiegsnarration ein Fortleben zu bieten scheint. Diese Traditionsanschlüsse erfolgen jedoch – wie nachfolgend zu zeigen ist – aus einer Metaperspektive heraus, die etablierte Erzählmodelle und darin eingelagerte Subjektivationsideale anachronisiert. Thematisch steht Spielhagens Roman im Zeichen eines kraftzentrierten Normenhorizonts, der für das selfmade-Sujet konstitutiv ist. Inszeniert und problematisiert wird die Mobilisierung der eigenen Kraft, die Spielhagens Roman

 Die in The Wealth of Nations (1776) dargelegte Argumentation ist im nationalökonomischen Diskurs seit der Jahrhundertmitte vor allem durch Bruno Hildebrand und Albert Schäffle diskutiert worden. Vgl. Bruno Hildebrand: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Literarische Anstalt, 1848. S. 31 f. sowie Albert Schäffle: Das gesellschaftliche System der menschlichen Wirthschaft. Bd. 1, 3. Auflage. Tübingen: Laupp’sche Buchhandlung, 1873. S. 380. Zur Kritik des Egoismusprinzips, auch bei Hildebrand und Schäffle, vgl. Brock, S. 49 – 56.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

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genau wie seine Vorgänger als Zeichen eines zeitlichen Konformgehens und einer männlichen Identitätsbildung markiert. Die Stationen, die der Protagonist durchläuft, führen ihn immer mehr zu einem Zustand hin, in dem er seine Kräfte durch produktive Arbeit aktiviert und sich als Selfmademan sui generis behaupten kann. Diese Subjektivation als Selfmademan steht am Ende eines Handlungsverlaufs, der dem klassischen Dreiphasenschema folgt und dabei verschiedene Milieus abdeckt. So führt die Transitionsphase den Protagonisten zunächst in ein aristokratisches Milieu, das ihm ebenjene Freiheit bietet, die ihm die väterlichbürgerliche Welt versagt hatte. Den Gegenpol zur aristokratischen Welt bildet die heterotopisch anmutende Gefängniswelt. Als „pädagogische Provinz“¹⁸⁴ lässt diese den Protagonisten erstmalig „die Tendenz und das Maaß [seiner] Kräfte klar werden“¹⁸⁵ und animiert ihn zur produktiven Tätigkeit. Ausschöpfen kann er seine Fähigkeiten und Kräfte schließlich in der industriellen Welt einer Fabrik, wo er für seine Kräfteaktivierung auch materiell belohnt wird. Mit dieser Aufstiegsteleologie scheint der Roman das klassische Bild des tätigkeitsbedürftigen Subjekts aufzugreifen, das im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert unter anderem von Paul Henry Thiry d’Holbach propagiert worden ist: „[I]l faut désirer, agir, travailler pour être heureux; tel est l’ordre d’une nature dont la vie est dans l’action“¹⁸⁶, heißt es in Holbachs Système de la Nature (1770).¹⁸⁷ Der Satz liest sich wie die Schlusspointe von Hammer und Amboß, wo jedoch das Entwicklungsnarrativ dem kraftzentrierten Subjektivationsideal eine prozesshafte Dimension hinzufügt. Der ,Mann eigner Kraft‘ wird als Produkt eines langwierigen und konfliktbeladenen Entwicklungsprozesses herausgestellt. Dieser Prozess wird in der Erzählung selbst dekonstruiert. Sämtliche Räume, die der Protagonist bei seinem Entwicklungsgang durchwandert, erscheinen als irreale Gegenwelten, die sich über die Abgrenzung von anderen, zuvor durchwanderten Räumen konfigurieren. Der Turm der Zehrenburg wird als Gegenpol zur bürgerlichen Sphäre konstruiert, wohingegen das Gefängnis in seiner Künstlichkeit und eingeschränkten Freiheit den Gegenpol zur grenzenlos erscheinenden Naturwelt der Zehrenburg bildet. Die Subjektivation als Selfmademan steht damit am Ende einer Entwicklung, die sich in surreal anmutenden Alternativwelten vollzieht. Zu dieser Konstruktivitätsmarkierung trägt auch der autodiegetische Erzählmodus bei. Immer wieder tritt in den zeitraffenden Retrospektiven die zeitliche Distanz zwischen erzählendem und

 Paul Jackson: Bürgerliche Arbeit und Romanwirklichkeit. Studien zur Berufsproblematik in Romanen des deutschen Realismus. Frankfurt a. M.: R.G. Fischer, 1981. S. 244.  Friedrich Spielhagen [1869]: Hammer und Amboß. München: Wilhelm Heyne, 1975. S. 264.  Paul Henry Thiry d’Holbach: Systême de la Nature, ou Des Loix du Monde Physique et du Monde Moral. Bd. I. London: O.V., 1770. S. 326 f.  Vgl. hierzu Lehmann: Leidenschaft und Sexualität, S. 181 f.

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erzähltem Ich hervor. Der zurückgelegte Aufstiegsweg erscheint als Erinnerungsprodukt einer nostalgisch verklärenden Erzählinstanz: Liegt doch in unserer Erinnerung auf denjenigen Perioden unseres Lebens, in denen wir mit ganz besonderem Eifer vorwärts strebten, das hellste Licht, und ich war jetzt allewege ein Streber, und da war kein Tag, der mich nicht eine oder die andere Sprosse höher gebracht hätte auf der steilen Leiter. Bald war es ein technischer Handgriff, den ich meinen Mitgesellen abgesehen hatte, bald eine neue einfachere Formel, die ich selbst herausgerechnet; und immer das köstliche Gefühl des Steigens, des Vorwärtskommens und der erhöhten Kraft; das wohlthuende Bewußtsein, die Last auf den Schultern könne noch viel schwerer werden und man brauche doch nicht zu fürchten, daß man unter ihr zusammenbreche.¹⁸⁸

Die Vorstellung maximierbarer Kräfte tritt an dieser Stelle als Ideal hervor, das der Protagonist bei einer romantisierenden Erinnerung auf seinen Lebensweg projiziert. In einem selbstreflexiven Gestus legt die Erzählung folglich den Konstruktcharakter offen, der dem kraftzentrierten Verweisungshorizont des selfmade-Sujets innewohnt: Erst der verklärende Rückblick stimmt einen Lebensausschnitt auf das selfmade-Sujet ab. Während die selbstinszenatorischen Rückblicke die Heranbildung zum tätigen Subjekt ins Zentrum rücken und unterschwellig ,irrealisieren‘, zeigt sich auf struktureller Ebene ein anderer Erzählfokus. Die makrostrukturelle Anlage lässt sich in Bezug zu einem Darstellungsanspruch setzen, den Spielhagen in seinen Beiträgen zur Theorie und Technik des Romans (1883) theoretisch formuliert hat. Mit pseudo-wissenschaftlichem Elan fordert Spielhagen eine „ästhetische Totalperspektive“¹⁸⁹, aus der hervorgeht, daß es sich gar nicht um den Menschen handelt, wie er sich als Individuum darstellt, sondern vielmehr um die Menschheit, um den weitesten Überblick über die menschlichen

 Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 413. Bezeichnenderweise finden sich ähnliche Formulierungen ein halbes Jahrhundert später in der Ratgeberliteratur, dem paradigmatischen Genre der Selbstkonstitution und Mobilisierung, wieder. So heißt es beispielsweise in Richard Zoozmanns populärem Ratgeber Weg und Wille zum Erfolg (1927): „Der Erfolg ist eine Leiter, die uns, wenn wir die erste Sprosse betreten haben, zu einem höheren, dankens- und lobenswerteren Streben führt; der Erfolg giebt uns im Steigen, statt zu ermüden, K r a f t , erfüllt uns, oben angelangt, mit dem Gefühl irdischen Glückes im edelsten Sinne und gewährt uns die volle Genugtuung, das Richtige gewollt und es allen Hindernissen zum Trotz in frischem fröhlichem Kampfe der Kräfte des Geistes und Körpers erreicht zu haben.“ Zoozmann, S. 15. Hervorhebung im Original.  Agethen, S. 142.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

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Verhältnisse, um den tiefsten Einblick in die Gesetze, welche das Menschenleben regieren, welche das Menschenleben zu einem Kosmos machen.¹⁹⁰

Folgt man Spielhagens theoretischen Ausführungen, so soll der Einzelne nicht in seinen individuellen Entwicklungen, sondern in seinen „sozio-ökonomischen Vernetzungen“¹⁹¹ präsentiert werden. Das poetische Kardinalziel bestehe darin, die zunehmend atomisierte Lebens- und Sozialwelt in ihrer „epische[n] Totalität“¹⁹² zu erfassen. Wenn diese Totalität eine primär quantitativ bemessene Kategorie darstellt,¹⁹³ so lässt sich ein Bogen spannen von Spielhagens romantheoretischen Forderungen zur panoramatischen Erzählform von Hammer und Amboß. Die Konstruktion verschiedener Figurengruppen, die repräsentativ für gesellschaftliche Schichten stehen, lässt sich in Bezug zum Darstellungsziel setzen, eine „Breite und Weite der Weltübersicht“¹⁹⁴ zu erzeugen. Eine solche Weltübersicht birgt sowohl eine synchrone als auch eine diachrone Dimension in sich. Die einzelnen Figurengruppen, die stellvertretend für Gesellschaftsstände stehen und je verschiedene Wirtschaftspraktiken repräsentieren, werden durch zeitsymbolisch besetzte Raumtopoi und das chronologische Nacheinander, das die Geschichte Georg Hartwigs strukturiert, mit historischen Entwicklungsstufen in Verbindung gebracht. Die erste Station markiert die aristokratische Welt als anachronistisch: Auf der Zehrenburg begegnen dem Protagonisten ein „trauriges Bild von Verwüstung und Verödung“, „[u]eberall Schutt und Staub und Spinngewebe“ und „wehmütige Zeugen dahingeschwundenen Glanzes“¹⁹⁵. Grund für den Verfall sind unproduktive und illegitime Wirtschaftsweisen: Während die „Felder brach liegen und die Scheunen zerfallen“¹⁹⁶, erhält sich die Zehrenburg durch Schmuggel.¹⁹⁷ Die zweite Stufe bildet die profitorientierte und ausbeutende Spekulationswirtschaft des großkapitalistischen Bürger*innentums, repräsentiert durch den Kommerzienrat. Dass dieser ebenso wie der Aristokrat von Zehren

 Friedrich Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans. Leipzig: Staackmann, 1883. S. 67.  Agethen, S. 142.  Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, S. 67.  Vgl. Agethen, S. 142.  Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, S. 264.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 47.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 120.  Diese dargestellte Unproduktivität und Misswirtschaft wird ähnlich wie in Soll und Haben mit einer nationalökonomisch vorprogrammierten Barbarisierung verbunden. Der Herr der Zehrenburg, der die Modernisierungsversuche des Protagonisten entschieden ablehnt, wird konsequent als ,der Wilde‘ bezeichnet, der unkultivierte Hof als ein dem Untergang geweihtes Relikt „aus grauer Vorzeit“ (Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 486) markiert.

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seinem Leben ein Ende setzt, schließt auch den Repräsentanten spekulativer Wirtschaftspraktiken programmatisch aus der erzählten Jetztzeit aus. Die erzählte ,neue Zeit‘ gehört „dynamisch bürgerlichen Wirtschaftskapitänen“¹⁹⁸ wie dem Unternehmer Georg Hartwig. Ihren symbolischen Ausdruck findet diese bürgerlich ideologisierte Moderneerzählung in einer wendepunkthaften Flutszene. Durch sie nimmt der Roman vorweg, was in einer Reihe von Texten der 1870er und 1880er Jahre – von Wilhelmine von Hillerns Aus eigener Kraft (1870) über den Schimmelreiter (1888) bis hin zu Elisabeth Werners Die Alpenfee (1888) – als Schlüsselelement emphatischer Modernebilder dient. Wie Lynne Tatlock herausgestellt hat, setzen sich die Romane durch Themen wie Überflutung, Wasserbau und Landgewinnung symbolisch mit dem Entstehen eines modernen deutschen Nationalstaats auseinander und reflektieren die durch die Reichsgründung beschleunigte Modernisierung.¹⁹⁹ Durch die Flutthematik erfahre das heroisierte männliche Subjekt eine Neubestimmung, die es ihm ermöglicht, „aus dem Schatten der modrigen Sumpfgebiete in den Dienst der Staats- und Nationenbildung zu treten.“²⁰⁰ Diese politische Dimension tritt bei Spielhagen evident zutage. Im Rückbezug auf Goethes Faust II führt Spielhagens Roman die Sturmflut mit einem Zerfall der diegetischen Ordnung zusammen.²⁰¹ Pathetisch dechiffriert die Erzählinstanz die Sturmflut als „Untergang aller Form, ja selbst aller Farbe, das Chaos, das hereinbrach, die Welt der Menschen zu verschlingen.“²⁰² Während der Fluttopos bei Goethe das Ideal eines harmonisch geordneten Gemeinwesens in Zerstörung umschlagen lässt,²⁰³ zielt Spielhagens Roman auf eine utopische Modellhaftigkeit: Der Kampf gegen die „zwecklose Kraft unbändiger Elemente“²⁰⁴  Keith Bullivant: Der deutsche Gesellschaftsroman des neunzehnten Jahrhunderts. In: Knobloch, Hans-Jörg; Koopmann, Helmut (Hrsg.): Das verschlafene 19. Jahrhundert? Zur deutschen Literatur zwischen Klassik und Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann. S. 43 – 52, hier S. 47.  Vgl. Tatlock, S. 120.  Tatlock, S. 100.  Auch Faust II hatte einen symbolischen Konnex zwischen der Flut und den sozialen Bewegungen hergestellt, wenn Faust das flutende Meer als Zeichen aufständischer Bedrohungen liest – „Und das verdroß mich; wie der Übermut/ Den Freien Geist, der alle Rechte schätzt,/ Durch leidenschaftlich aufgeregtes Blut/ Ins Mißbehagen des Gefühls versetzt“ (10202 ff.) – und Mephisto die anarchistischen Zustände über eine Flutsemantik beschreibt: „Die Woge stand und rollte dann zurück“ (10207). Vgl. dazu Thomas Zabka: Faust II – Das Klassische und das Romantische. Goethes ,Eingriff in die neueste Literatur‘. Tübingen: Niemeyer, 1993. S. 263. Zu den Faust-Zitaten vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Der Tragödie zweiter Teil. In: Trunz, Erich (Hrsg.): Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil, Urfaust. München: Beck, 1996. S. 308.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 345.  Vgl. Zabka, S. 263.  Goethe: Faust II, S. 309.

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wird zum Gründungsmoment einer durch Arbeit vereinten sozialen communitas. Ordnungsdestruktion und Liminalitätsemphase gehen in einem utopischen Erneuerungspathos auf, das die isotopische Opposition von Ordnung und Chaos mit der Leitdichotomie Gegenwart vs. Vergangenheit überschreibt. Was die Flutszene in figuraler Form eröffnet, wird durch das Aufstiegssujet auf narrativer Ebene gespiegelt. Durch den Aufstiegsweg des Protagonisten wird nicht nur die Vorstellung einer fortschrittsbringenden Veränderungsdynamik aufgegriffen, sondern auch der utopische Erzählmodus fortgeführt. Der Aufstieg vollzieht sich weniger gemäß den „Bedingungen der sozio-ökonomischen Wirklichkeit“²⁰⁵ als nach dem Gesetz poetischer Gerechtigkeit, das den moralisch handelnden Helden am Ende belohnt. Aufstieg und beruflicher Erfolg werden von dem Protagonisten – so die Selbsterzählung der Figur – rein aus einer messianischen Gesinnung heraus anvisiert: Es wäre doch ein schönes Ding, hier Herr zu sein und drüben in der Fabrik und in seinen anderen Fabriken und Comptoirs! Tausenden und Tausenden ein Glücksbringer, ein Heiland sein zu können […]!²⁰⁶

Durch den am Ende eintretenden Aufstiegserfolg kann der Protagonist seine Wirkungsziele umsetzen. Emphatisch visioniert der Text den Auftakt einer Zeit der „gegenseitigen Hilfsbereitschaft, der Brüderlichkeit, der Gemeinschaft aller menschlichen Interessen“²⁰⁷, die durch das philanthropische Verhalten einer ausgesöhnten Arbeiter*innen- und Unternehmerschaft eingeläutet wird. Angesichts dieser utopischen Vision scheint die Kritik der Brüder Hart, die Hammer und Amboß eine realitätsflüchtige „Hyperromantik“²⁰⁸ vorwerfen, durchaus berechtigt. Nichtsdestotrotz wird diese Lesart dem Roman nur teilweise gerecht. Die modellierte Idealwelt, die vom „Ideengut des philosophischen Idealismus und der klassischen Dichtung“²⁰⁹ beherrscht wird, wird mit deutlichen Zeichen der Irrealität durchsetzt. Dies geschieht in erster Linie über Reflexionen, die den Erzähldiskurs zu einem Artikulationsraum sozialkritischer Thesen machen. Exemplarisch dafür sind die Reden des Gefängnisdirektors, die das im Aufstiegssujet

 Rolf Geissler: Verspielte Realitätserkenntnis. Zum Problem der objektiven Darstellung in Friedrich Spielhagens Hammer und Amboß. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), S. 497– 510, hier S. 507.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 482.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 633.  Julius Hart und Heinrich Hart: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart, S. 59.  Geissler, S. 501.

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veranschaulichte Gesellschaftsbild verbalisieren. Das titelgebende Bild vom Hammer und Amboss, das Goethes Kophtischem Lied entlehnt ist („Du mußt steigen oder sinken/ […] Leiden oder triumphieren/ Amboß oder Hammer sein“²¹⁰), wird als allgemeines Tiefengesetz expliziert, das sämtliche Sozialstrukturen durchdringt und zu den immer gleichen Machtkonstellationen führt:²¹¹

 Johann Wolfgang von Goethe: Kophtische Lieder. In: Schiller, Friedrich (Hrsg.): Musen-Almanach für das Jahr 1796. 1. Auflage. Neustrelitz: Michaelis, 1796. S. 89.  Das Bild vom Hammer und Amboss ist noch in anderen Hinsichten aufschlussreich. Mit der Hammer-und-Amboss-Metaphorik ist eine „Herr-Knecht-Polarität“ (Senne und Hesse, S. 84) benannt, die den Ausgangspunkt der Aufstiegsnarration bildet: Evoziert wird eine soziale Realität, die von Hierarchien und Machtverhältnissen beherrscht wird. Die Position des Einzelnen innerhalb dieser Hierarchien hängt – so der Erzählkern des selfmade-Narrativs – nicht von seiner Herkunft ab, sondern von der Kräfteaktivierung. Durch Arbeit und Leistung kann sich der Einzelne aus einer Amboss-Position befreien. Das Bild vom Hammer und Amboss wird somit durch die Aufstiegsnarration in eine lineare und kausale Handlungsfolge übersetzt. Diese spiegelt, was im frühen zwanzigsten Jahrhundert eine Reihe von Erfolgsratgebern unter Einbezug derselben Metaphorik fordern. Paul Lechlers Ratgeber Geschäftserfolg und Lebenserfolg (1918) beispielsweise bindet die Redensart vom Hammer und Amboss in einen imperativischen Beratungsdiskurs ein, der dem Leser den Weg zum Aufstieg zu weisen verspricht: „Mit voller Tatkraft müssen wir in dem allgemeinen Wettstreit unseren Platz erobern, müssen lernen und streben, um nicht von anderen überholt und auf die Seite gedrückt zu werden.Wer nicht Amboß sein will, muß Hammer sein. Und nun, wer wollte nicht in der Welt, in die er gestellt ist, Tüchtiges leisten, einen guten Namen sich schaffen und zu einer angesehenen Stellung sich emporarbeiten?“ Paul Lechler: Geschäftserfolg und Lebenserfolg. 5., neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/Berlin: Deutsche Verlagsanstalt, 1918. S. 19 f. Noch 1938 findet sich dasselbe Bild in Heinrich Helmels Ratgeber Der bejahende Mensch: „Laß Tat nun auch werden, was im nachfolgenden in den Lehrbriefen zu dir spricht, es geht um die lebendige Entscheidung, ob du Amboß sein willst oder Hammer, ob du in der Lebensverneinung oder -bejahung stehen und leben willst. Klar muß es dir werden, ob ,du‘ das Werk schmieden willst, oder ob auf dir geschmiedet werden soll! Wähle! Wählst du Amboß, wirst du Schläge über dich ergehen lassen müssen, arbeitest du dich zum Hammer, so wirst du selber schwingen.“ Heinrich Helmel [1938]: Der bejahende Mensch. Selbsterziehung zur positiven Lebensgestaltung. Praktische Lehrbriefe mit Bildern und Zeichnungen. IV. Auflage. BüdingenGettenbach: Lebensweiser-Verlag, 1957. S. 26. Obgleich die Erfolgsratgeber eine ähnliche Metaphorik aufrufen und ein ähnliches Gesellschafts- und Sozialbild konstruieren wie Spielhagens Roman, gibt es einen signifikanten Unterschied. Wenn die Ratgeber zum Überwinden einer ,Amboss‘-Position durch Kraftmobilisierung aufrufen, so weisen sie die Polarität zwischen Machthabern (Hammer) und Untertanen (Amboss) als Ausdruck einer darwinistischen Gesetzlichkeit aus: Der Stärkere setzt sich unweigerlich durch. Gesellschaftliche und soziale Hierarchien werden darwinistisch plausibilisiert und damit als naturgegeben und notwendig ausgewiesen. Spielhagens Roman setzt bei einer ähnlichen Logik an, legitimiert jedoch die erzielte ,Hammer‘Position des Protagonisten über dessen humanistische Gesinnung. Als Fabrikleiter wird es dem Protagonisten möglich, das sozialreformative Programm, das von Zehren zur Bekämpfung der Herr-und-Knecht-Polarität entworfen hatte, in die diegetische Realität zu überführen. Am Ende des Romans steht folglich nicht die darwinistisch plausibilisierte Macht des Stärkeren, sondern

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Unser Herrscherthum, unsere Adels-Institutionen, unsere religiösen Verhältnisse, unsere Beamtenwirthschaft, unsere Heereseinrichtungen, unsere Arbeiterzustände – überall das kaum versteckte, grundbarbarische Verhältniß zwischen Herrn und Sclaven, zwischen der dominirenden und der unterdrückten Kaste; überall die bange Wahl, ob wir Hammer sein wollen oder Amboß.²¹²

Reflexionen über Machtstrukturen durchziehen den Roman, der weite Strecken seines Erzähldiskurses über die Vermittlung sozialkritischer Positionen konturiert und dadurch seinen realistischen Darstellungsanspruch immer mehr auf einen Beobachtungsmodus zweiter Ordnung abstimmt. Anstelle der erzählten Realität tritt deren theoretisch-reflexive Modellierung in den Fokus. Unterschwellig formuliert der Roman damit eine Absage an realistische Erzählprämissen: Die moderne Wirklichkeit – so die Suggestion – ist nicht mehr in ihrem empirischen Sosein zu erfassen, sondern über die Formen ihrer Konstruktion. Ein ähnlicher Konstruktivismus bestimmt die zeitdiagnostische Erzählebene. Hinter dem verzeitlichten Gesellschaftspanorama verbirgt sich ein poetologisch lesbares Entwicklungsnarrativ. Die verschiedenen Gesellschaftsgruppen und die ihnen zugeordneten Zeitformen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden mit literarischen Konfigurationen assoziiert. Aus dem Gesellschafts- und Epochentableau wird ein Panorama unterschiedlicher Stilrichtungen, sodass sich mehrere Wertungs- und Bezugsrichtungen überlagern. Durch die Engführung von Poetologie und Zeitbilanz positioniert sich der Text gleichzeitig zur Adelswelt und zur Romantik, zum Bürger*innentum und Realismus, und reproduziert damit die aus Soll und Haben bekannten Assoziationen. Die erste Einheit dieses Epochenporträts bildet die Romantik, die auch Spielhagens Roman auf die Aristokratie projiziert. Das wiederholt aufgegriffene Traummotiv, Anspielungen auf Eichendorffs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts, auf die der Protagonist auf der Zehrenburg stößt, sowie auf Kleists Prinz von Homburg – ein aufgefundener Handschuh gehört der ,Prinzessin‘ Konstanze, in die sich der Protagonist verliebt – führen die Kritik am Adel mit einer parodistischen Zersetzung romantischer Erzähltopoi zusammen. Der gegenwartsflüchtige Charakter, der der Adelswelt und der Romantik zugeschrieben wird, verstärkt sich durch den klischierten Einbezug von Motiven des Abenteuerromans und der phantastischen Literatur. Ausgelöst wird die Reise zur Burg durch die „Begegnung mit dem geheimnißvollen Fremden“²¹³, Malte von

eine sozialutopische Harmonie: Die Interessen von Arbeiter*innenschaft und Unternehmer werden durch das philanthropische Verhalten des Letzteren in Einklang gebracht.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 260.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 38.

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Zehren, der dem Protagonisten als „das vollkommene Ideal eines Ritters und Helden“²¹⁴ erscheint. Zuvor gibt es eine mysteriöse Warnung durch eine weibliche Figur („Fahren Sie nicht mit“²¹⁵). Die Reise erfolgt bei Gewitter und bei Nacht auf einem Boot und lässt den Protagonisten an einem „großen, dunkeln Gebäude“²¹⁶ ankommen. In die Beschreibung der Burgruinen, in der es dem Protagonisten „ganz wunderlich zu Muthe ward“²¹⁷, fließen die typischen Phantastizitätssignale ein: Der Schlafsaal ist mit Porträts ausgestattet, „die gespenstergleich in den dunkeln Hintergrund, aus dem sie einst hervorgeglänzt hatten, zurückzuweichen schienen“²¹⁸, und wird umgeben von „grüne[r] Wildniß“²¹⁹, in der es überall „todt und still“²²⁰ ist. Es tauchen eine Falltür und ein unterirdischer Raum auf und eine Liebesgeschichte zwischen dem Protagonisten und der adligen Hoftochter, die ihm zunächst als „fremdartige […] zigeunerhafte Erscheinung“²²¹ gegenübertritt und in ihm den Entschluss auslöst, ihr Retter zu werden und „alle Drachen der Welt für sie todt [zu] schlagen“²²². Die Häufung phantastischer Motive entlarvt nicht nur die Adelswelt als wirklichkeitsferne Scheinwelt, sondern lässt auf geradezu hyperbolische Weise die Artifizialität des Geschehens hervortreten. An die Stelle der realistischen und illusionsbildenden Weltkonstruktion tritt die parodistische Instrumentalisierung eines phantastischen Motivkatalogs, womit der realistische Darstellungsanspruch durchkreuzt wird: Die diegetische Welt wird als Produkt literaturhistorisch und generisch vorgeprägter Konventionen herausgestellt. An anderen Stellen sind es Elemente einer klassischen Ästhetik, die als Determinanten des Erzählgehalts markiert werden. Proleptische Verweise lassen den bildungsromantypischen Handlungsverlauf als eine notwendige Abfolge feststehender Erzähleinheiten erscheinen und lenken das Augenmerk auf das ästhetische Regelarsenal, dem Erzählsujet und Konstruktionsart unterliegen. In der Figurenrede Ernst von Zehrens beispielsweise wird ein Erzählende antizipiert, das in seiner harmonisierenden Funktion einen Grundkonflikt des Bildungsromans anzugehen scheint: Der Protagonist werde lernen, welch „großer Segen […] eine

        

Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 107. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 41. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 44. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 48. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 47. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 49. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 55. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 51. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 52 f.

2.2 Gesellschafts- und Zeitpanoramen (Lewald, Spielhagen)

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mechanische Beschäftigung ist“²²³, sodass sich der Weg des Lebens, den er dunkel vor sich sehe, erhellen werde.²²⁴ Indem der Roman die gattungsspezifischen Konventionen vergegenwärtigt, in deren Zeichen sich das Erzählgeschehen entwickelt, verstärkt er seine Absage an realistische Erzählansprüche. Nicht außerliterarische Gegebenheiten, sondern ästhetische Regularitäten und Darstellungsmuster bestimmen den Erzählinhalt, dessen suggerierte „epische Objektivität“²²⁵ damit kategorisch aufgekündigt wird.²²⁶ In dieser Abkehr vom mimetischen Darstellungsanspruch treffen sich der poetologische und der utopische Modus des Romans. Dass der Schlussteil des Romans in der modernen Industriewelt angesiedelt ist und die sozioökonomische Fabrikrealität dennoch ausblendet,²²⁷ lässt sich sowohl auf die Abkehr vom Primat realistischer Wirklichkeitsdarstellung als auch auf die utopische Zeitbilanz zurückführen, deren normativer Impetus schon zeitgenössischen Rezensenten ins Auge gefallen ist. Wie die Brüder Hart bemerkt haben, fokussiert der Roman keine Abbildung des Wirklichen, sondern eine Modellierung des Möglichen: „Statt aus dem Leben zu schöpfen, statt das zu erzählen, was ist, outrirt Spielhagen lieber seine Phantasie in die Richtung dessen, was sein soll und sein könnte.“²²⁸

 Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 206.  Vgl. Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 229.  Zu Spielhagens Objektivitätsbegriff vgl. Geissler 1978 und René Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750 – 1950. Bd. 3: Das späte 19. Jahrhundert. Berlin/New York: de Gruyter, 1977. S. 290.  Die realismuskritische Erzähltendenz, die im hervorgehobenen Primat der Darstellungsmittel vor dem Dargestellten anklingt, bekundet sich stellenweise auch in Spielhagens theoretischen Äußerungen zum realistischen Objektivitätsanspruch. In Finder und Erfinder wird der mimetischen Wirklichkeitsnähe die Eigengesetzlichkeit der Kunst entgegengehalten. Sowohl für Realisten als auch für Idealisten bilde die Kunst ein „von Natur toto genere Verschiedenes“, das „nicht Wirklichkeit ist, nicht Wirklichkeit sein will, sondern nur ein Bild der Wirklichkeit, die Erregung eines Phantasiescheines der Wirklichkeit in dem Hörer oder Beschauer.“ Friedrich Spielhagen: Finder und Erfinder: Erinnerungen aus meinem Leben. Bd. 2. Leipzig: Staackmann, 1890. S. 214 f.  Rainer Schröder spricht von einer utopisch angelegten Scheinrealität, durch die der Roman die Ängste vor der sozioökonomischen Moderne banne. Vgl. Rainer Schröder: Hegels Rechtsphilosophie im realistischen Roman. Zu Hammer und Amboß von Friedrich Spielhagen. In: Schönert, Jörg (Hrsg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen: Niemeyer, 1991. S. 413 – 428, hier S. 417.  Heinrich Hart und Julius Hart: Friedrich Spielhagen und der deutsche Roman der Gegenwart, S. 61.

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2 Literarische Repliken

Im Zwischenfeld von sozialer Utopie und poetologischem Statement bewegt sich auch das selfmade-Narrativ. Über den Selfmademan entwirft der Roman eine Wirtschaftswelt, in welcher Fleiß, Moral und Disziplin belohnt werden. Die damit einhergehende Komplexitätsreduktion zeugt jedoch weniger von einer anvisierten und ,verfehlten‘ Gegenwartsnähe als von einem Erzählsystem, in dem utopische Zeitbilanzen und poetologische Aussagen verschmelzen. Nicht die wirklichkeitsgetreue Abbildung zeitgenössischer Sozialverhältnisse, sondern die Visionierung einer idealen Gegenwelt bildet das telos der Fiktionsbildung, und nicht die realistische Realitätskonstruktion, sondern die Exponierung der fiktionsbildenden Darbietungsgesetze bestimmt die Darstellung. Letzteres zeigt sich wie in den vorherigen Passagen in Momenten der Antizipation. Der gegen Ende erzielte Aufstieg wird schon vor seinem tatsächlichen Eintreten verkündet: „Du wirst ‒ ja Du wirst immer ein Arbeiter, aber nicht immer ein Schmied bleiben und ein Gesell; Du wirst ein Meister werden, ein großer Meister in Deiner Kunst.“²²⁹ An anderer Stelle sagt die weibliche Zentralfigur den Endzustand voraus, der im letzten Teil des Romans beschrieben wird: Mir ist, als sähe ich jene trümmerhaften Steinhaufen schon zu stattlichen Gebäuden emporwachsen, und sähe das Feuer aus den hohen Schloten sprühen, und diese jetzt leeren Räume von thätigen, fleißigen Arbeitern belebt, sähe dieses Häuschen zu einer hübschen Villa ausgebaut, und Dich selbst hier schalten und walten als Herr und Meister.²³⁰

Indem der Roman das telos seines Handlungsgangs offenlegt und den Aufstiegserfolg als selbstverständlich eintretendes Ereignis markiert, löst er das selfmade-Narrativ von seinem realistischen Referenzanspruch. Das Aufstiegssujet wird als Form herausgestellt, die einem Fundus vorgefertigter Muster entspringt: der Doktrin poetischer Gerechtigkeit, der Erwartung eines happy ending, dem Kausalnexus von Arbeit und Erfolg, den zeitgenössische Biographien und Sozialtheorien postulieren, und dem Harmonisierungsdogma des Entwicklungsromans. Das Postulat einer objektiven Erzählform, das Spielhagens theoretische Schriften durchzieht, wird in Hammer und Amboß folglich allenfalls bedingt realisiert. Immer wieder tritt die Fiktionswelt als Erzählprodukt hervor, was den theoretisch geäußerten Objektivitätsanspruch relativiert und letzten Endes ad absurdum führt.

 Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 412.  Spielhagen: Hammer und Amboß, S. 414.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald) Wenn das Aufstiegssujet ,bürgerliches‘ Handeln narrativ belohnt, während die Untergangserzählung ,unbürgerliche‘ Figuren aus der diegetischen Gegenwart ausschließt, dann geht mit der temporalen Axiologisierung beider Narrationsmodelle immer auch eine Konstruktion von Normalität einher. Es zeigt sich hier ein Schlüsselelement des realistischen Erzählsystems, das seine modellbildende Ausgestaltung in Soll und Haben gefunden hat und sowohl durch Spielhagens Hammer und Amboß als auch durch Lewalds Von Geschlecht zu Geschlecht fortgeführt worden ist: Verbunden mit der zeitdiagnostischen Erzählebene, die sich mit den Aufstiegs- und Untergangsszenarien einstellt, sind narrative Polarisierungen und Ausschlüsse. Dem Aufstieg und Leben des Selfmademans stehen der Untergang und Tod aristokratischer Figuren gegenüber. Dass die damit einhergehende Normalisierung gerade für Soll und Haben eine strukturbildende Funktion einnimmt, ist in der Realismusforschung unlängst herausgestellt worden.²³¹ Was dabei jedoch nicht betrachtet worden ist, sind die Resonanzeffekte, die die „verklärte Normalität“²³² in der realistischen Erzähltradition erzeugt hat. In mehreren gründerzeitlichen Romanen werden die bei Soll und Haben angelegten Normalisierungsstrategien kritisch reflektiert und aufgebrochen. Ein Beispiel dafür ist Wilhelmine von Hillerns Roman Aus eigener Kraft (1870), der mit etablierten Beschreibungsmustern bricht und dabei eine neue Funktionsdimension des selfmade-Sujets hervortreten lässt: Der Typus des Selfmademans wird zum Träger eines fortschrittsoptimistischen Modernenarrativs, das konventionelle Ausschlussstrategien unterläuft und die realismustypische Normalitätskultur brüchig werden lässt.

 Vgl. Plumpe: Roman, S. 568 f. sowie Benno Wagner: Verklärte Normalität. Gustav Freytags Soll und Haben und der Ursprung des ,Deutschen Sonderwegs‘. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30 (2005), Heft 2, S. 14– 37. Auch Michael Gamper liest Freytags Roman als „Versuch […], durch Abgrenzung gegen Randpositionen und Extreme verschiedener Art eine gesicherte gesellschaftliche Mittellage zu etablieren, in der sich das Bürgertum mit seinen zentralen Tugenden Arbeitsamkeit, Fleiß, Ordnung und Disziplin einrichtete.“ Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765 – 1930. München: Fink, 2007. S. 344. Durch diese Erzählintention grenze sich Soll und Haben von der Tradition des Bildungsromans ab. Bildung werde in der Erzählung herabgestuft zur „Adaptierung des Subjekts an eine kontinuierliche Mittelmäßigkeit“, die durch die Identifikationslenkung des Romans auch den Leser*innen nahegelegt werde. Vgl. Gamper: Masse lesen, Masse schreiben, S. 348.  Vgl. Wagner: Verklärte Normalität.

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2 Literarische Repliken

Wie seine Vorgängerromane entfaltet von Hillerns Roman weite Strecken seiner Handlung vor der Kontrastfolie von Soll und Haben. Besonders deutlich wird dieser Bezug in der Rede einer Kaufmannsfigur, die Antons Apotheose auf die globalisierte Handelswelt nachbildet: „O, es kann nichts Schöneres geben, als der Erde so unmittelbar ihre Früchte abzugewinnen, die ersten Lebensbedürfnisse der Menschen zu beschaffen und auszusenden in andere Weltteile, wo die Natur spärlicher gibt und die Menschen begierig auf das warten, was wir ihnen von unserem Überfluß schicken. Ich mußte wenigstens bei jeder guten Ernte an die armen Leute in Europa denken, wie sie sich freuen werden, wenn Kaffee und Zucker wieder abschlagen und wie ihnen das gut geratene Produkt schmecken wird.“²³³

Der Roman, der hier auf eine Schlüsselstelle von Soll und Haben anspielt – die prosaische Welt wird als poesiefähig markiert –, setzt sich von dieser zugleich programmatisch ab. Während Anton aus der Sicht des deutschen Kaufmanns von der „Kolonistentochter in Brasilien“²³⁴ gesprochen hatte, nimmt von Hillerns Kaufmann, der in seiner Vergangenheit bezeichnenderweise als Kolonialwarenhändler in Brasilien tätig war, eine Außenperspektive auf Europa ein. Perspektivwechsel und Inversionen dieser Art durchziehen den Erzähldiskurs. Auch auf poetologischer Ebene signalisiert der Roman eine Absetzung vom realistischen Erzählprogramm. Der Protagonist wird zur Demonstrationsfigur eines Wahrnehmungsmodus, der das vermeintlich Unwesentliche in den Fokus rückt, das Besondere anstelle des Allgemeinen anvisiert und den verklärungsästhetischen Tiefenblick durch einen mikroskopischen Blick auf das Detail ersetzt. Schon als Kind eignet sich die Figur eine auf das Periphere und Marginale gerichtete Perspektive an, die die realismustypische „Poetik des selektiven Blicks“²³⁵ konterkariert: Gewöhnt, nur immer zu Boden zu blicken, hatte er sich mit der Mutter Erde besonders vertraut gemacht und sah da, was vielleicht kein anderes Kind sieht. […] Er hatte gelernt zu beobachten, er hatte dadurch Sinn für das Kleinste und Unscheinbarste bekommen, er verstand früh eine Bedeutung darin.²³⁶

 Wilhelmine von Hillern: Aus eigener Kraft. Bd. 1. Leipzig: Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G.m.b.H., 1873. S. 95 f.  Freytag: Soll und Haben, S. 240.  Gerhard Plumpe: Technik als Problem des bürgerlichen Realismus. In: Salewski, Michael; Stölken-Fitschgen, Ilona (Hrsg.): Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner, 1994. S. 42– 59, hier S. 57.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 2.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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Wie der Protagonist tendiert der Erzähldiskurs auf Brüche in der etablierten Wahrnehmungskultur. Tradierte Ausschlussmechanismen und Hierarchisierungen werden aufgerufen und zugleich verworfen. Neben den Schicksalen von „Kraftgenie[s]“²³⁷, Industriemagnaten und Aristokrat*innen schildert der Roman die aufsteigenden Lebenswege von Figuren, die das realistische „NormalitätsDispositiv“²³⁸ gemeinhin an die Peripherie seiner erzählten Welten drängt. Protagonisten des selfmade-Narrativs bei von Hillern sind Figuren, denen eine Behinderung oder ein Schwarz-Sein zugeschrieben wird. Zwar werden dabei herkömmliche Normalitätskonstrukte fortgeschrieben, doch kehrt der Roman ihre normativen Besetzungen um. Konstruierte Devianzen werden durch ihre Einbindung in das Narrationsmuster des Aufstiegs in eine teleologische und fortschrittsorientierte Diskurslogik implementiert und mit einer affirmativen Konnotation versehen. Die Erzählung setzt sich damit nicht nur von normativen Normalitätskonstrukten ab, sondern vermittelt zugleich das Bild einer meritokratischen Gesellschaft. Dass der als sinnesbehindert dargestellte Joseph als erfolgreicher Maler reüssiert, der die Aussicht hat, ein „reicher und berühmter Mann [zu] werden“²³⁹, der gehbehinderte Alfred zum heldenhaft verehrten Mediziner aufsteigt, und der durchgängig als „Neger“ und „Mohr“ bezeichnete Frank sich nach einem landwirtschaftlichen Studium „zu einer allbekannten und beliebten Persönlichkeit empor[]arbeitet“²⁴⁰, lässt die erzählte Welt als Gesellschaft erscheinen, in der jedem männlichen Individuum unabhängig von Geburt und körperlicher Beschaffenheit eine Entfaltung der Persönlichkeit gewährt wird. Die Demontage normativer Zuschreibungen schließt auch eine kritische Antwort auf das realismustypische Adelsbild mit ein. Hatten die Romane Freytags, Lewalds und Spielhagens die Aristokratie als zukunftsunfähige Gesellschaftsklasse dargestellt, die sich den Anforderungen des bürgerlichen Zeitalters entzieht, so kehrt von Hillerns Roman dieses Beschreibungsmuster um. Das selfmade-Narrativ koppelt sich auch und vor allem an eine aristokratische Figur. Der Protagonist Alfred von Salten tritt als Sprachrohr einer Maxime in Erscheinung, die an das von Riehl verkündete bürgerliche Selbstverständnis anschließt:²⁴¹ „[D]as ist nur eine

 von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 110.  In terminologischer Anleihe an Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. 4. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. S. 201.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 86.  Wilhelmine von Hillern: Aus eigener Kraft. Bd. II. Leipzig: Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger G.m.b.H., 1873. S. 56.  In seiner Studie Die bürgerliche Gesellschaft (1851) hatte Riehl die Primatisierung der Erwerbsfähigkeit anstelle von Erbschaft und Besitz als Kennzeichen moderner Bürgerlichkeit dar-

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2 Literarische Repliken

Ehre, was wir uns s e l b s t erwerben“²⁴², postuliert die Figur. Freilich wird auch von Hillerns Roman von einer bekannten Polarisierung bestimmt. Dem „zwecklos und eintönig dahinschleichenden Leben“ der aristokratischen Familie von Salten wird das „tätige[], weitverzweigte[] Dasein“ einer Kaufmannsfamilie entgegengestellt.²⁴³ Die Aufstiegsgeschichte Alfreds jedoch, der am Ende explizit als „self-made man“²⁴⁴ bezeichnet wird, durchkreuzt die Dichotomie. In Abgrenzung von seinem aristokratischen Umfeld und im Unterschied zu den aristokratischen Figuren der Vorgängerromane orientiert sich Alfred an einem bürgerlichen Wertekanon und damit an den vorgeblichen Erfordernissen des modernen Zeitalters: Er war sich im vergleichenden Hinblick auf Alles, was sich seiner jungen Seele in dem eigenen und dem Leben der Nachbarn bot, bewußt geworden, daß Arbeit der Hebel ist, der Alles in Bewegung setzt; er hatte erkannt, daß es heutzutage keine Bedeutung mehr gibt als die der Leistungsfähigkeit […].²⁴⁵

Deutlich zeigt sich hier die Transformation, die das Konzept des Selfmademans bei von Hillern erfährt. Der Selfmademan wird auch hier als Subjektivierungsnorm gesetzt, doch seiner bürgerlichen Exklusivität enthoben. Das Erbringen von Leistungen wird zum Akt der Synchronisation, den bei von Hillern auch die Aristokratie erbringt. So stammt auch Alfreds Erzieher Feldheim aus einer adligen Familie, löst sich jedoch von „alle[n] hemmenden Standesrücksichten“²⁴⁶ und avanciert zum exemplarischen ,Mann eigner Kraft‘: Er hörte auf, Freiherr zu sein, um ein freier Herr zu werden, der sich nicht mühsam auf den dürren Pfaden einer Familientradition weiter schleppte, sondern sich seinen Weg selbst bahnte und sein Geschick selbst schuf aus dem vollen Leben der Gegenwart heraus.²⁴⁷

Hatten die vorherigen Romane den Aristokraten als Gegenpol zum Selfmademan markiert, so schildert von Hillerns Roman eine bewusste Annäherung der Aristokratie an den vom Selfmademan verkörperten bürgerlichen Normenhorizont und dessen zukunftsorientiertes Gegenwartsbewusstsein. Diese Subjektivation als Selfmademan wird mit einer antigenealogischen Nobilitätsauffassung zu-

gestellt: „Das beste bürgerliche Erbe ist die Kraft und die gegebene äußere Möglichkeit Reichthum zu erwerben, nicht der feste Besitz.“ Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft, S. 196.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 132. Hervorhebung im Original.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 105.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 265.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 110.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 22.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 22.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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sammengeführt. Wenn Feldheim seinem Zögling Alfred einen „Schatz an Geist und Seelenadel“²⁴⁸ zuspricht, so beruft er sich auf das meritokratische nobilitasKonzept, das den Adel nicht als ererbtes, sondern als erworbenes Gut betrachtet. Die Bezugslinie zwischen dem Selfmademan und homo novus wird damit sichtbar gemacht. In einem rückblickenden Bericht betont Alfred, seine nobilitas nicht ererbt, sondern erworben zu haben: [I]ch fand eine innere Genugthuung darin, mich in die Reihen derer zu stellen, die sich ihr Brod und ihren Ruhm erringen müssen ohne die Stütze einer Protektion oder eines Privilegiums, und ihnen zu sagen: ‚Seht, ich will nichts vor euch voraus haben, will arbeiten wie ihr und keinen anderen Weg zu meinen Zielen einschlagen, als den, der auch Euch offen steht, den dornenvollen Pfad der Mühe.‘ […] Ich habe mir die bevorzugte Stellung im Schweiße meines Angesichts erworben, welche mir meine Geburt mühelos angewiesen hätte […].²⁴⁹

Wenn das aristokratische Genealogiedenken einer als modern markierten Zeitgesinnung widerspricht, so führt der Roman durch den Bezug zu einem tradierten nobilitas-Konzept ein Lösungsmodell vor: Der Adel kann und soll dem als Norm gesetzten Ideal des Selfmademans entsprechen, da die nobilitas nicht genealogisch, sondern meritokratisch aufzufassen sei. Der Selfmademan wird so zum Träger eines nobilitas-Ideals, das als Alternativmodell zur nobilitas hereditaria der im Untergang begriffenen Aristokratie die Pforte zum bürgerlich-modernen Zeitalter öffnen soll. Dies zeigt auch Alfreds Gespräch mit dem König. Mit der Absolutsetzung des eigenen Verdienstes inszeniert sich der Protagonist als Nachfolger und Träger des römisch-antik geprägten Ideals der selbst erworbenen nobilitas: „Majestät, ich bin das Kind einer Zeit, die kein Recht gelten läßt, als das des eigenen Verdienstes.“ „Sie sind Demokrat,“ sagte der König. „Im Gegentheil, Majestät, ich bin Aristokrat durch und durch; aber ich bekenne mich zu einer Aristokratie, es ist die des Geistes.“²⁵⁰

Deutlich bekundet sich hier das Synthese-Ideal, das die Ausgestaltung des selfmade-Narrativs bei von Hillern bestimmt. Weder spricht der Roman der aristokratischen Gesellschaft die Zukunftsfähigkeit ab, wie es in den vorherigen Erzählungen der Fall gewesen war, noch weicht er von bürgerlichen Gesellschaftsund Subjektidealen ab. Stattdessen postuliert er eine genuine Verbindung zwi-

 von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 21.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 175.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 176. Hervorhebung im Original.

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schen dem Adel und dem Prinzip der Meritokratie. An die Stelle der Fehde zwischen bürgerlichem Selfmademan und Adel tritt eine vorgeblich kulturhistorisch verbürgte Personalunion, die den Adel nicht aus der bürgerlichen communitas ausschließt, sondern als deren elementaren Träger präsentiert. Die Neuakzentuierung, die das selfmade-Narrativ bei von Hillern erfährt, umfasst noch eine weitere Dimension. Hatten sich die Aufstiegsfiguren der früheren Romane meist aus Verhältnissen materieller oder sozialer Prekarität befreit, so ist es bei von Hillern die als defizitär markierte Körperlichkeit, die vom Selfmademan überwunden wird. Eine Schlüsselstelle in diesem Zusammenhang ist die Beschreibung Alfreds durch den bürgerlichen Kaufmann: Dieser Mensch ist alles, was er ist, durch sich selbst geworden; er hat die Vorurteile seines Standes abgestreift, hat seine Kränklichkeit überwunden und durch Willensstärke und ohne jede andere Hülfe das Unglaublichste vollbracht. Er ist im wahren Sinne des Wortes ein selfmade man.²⁵¹

Mit der voluntaristischen Körpervorstellung, die sich hier abzeichnet, wird das selfmade-Sujet an eine Denktradition angeschlossen, die im neunzehnten Jahrhundert durch eine Reihe von populärmedizinischen Schriften geprägt worden ist. Der Gedanke, dass physische Beschaffenheiten, die der Kraftbetätigung entgegenstehen, durch voluntaristische und kognitive Kräfte überwunden werden können, wurde maßgeblich durch Ernst von Feuchtersleben popularisiert.²⁵² In seiner Schrift Zur Diätetik der Seele, die 1838 erschienen ist und 50 Auflagen erlebte,²⁵³ legt von Feuchtersleben die Wirksamkeit einer geistigen Kraft nahe, die es vermag, körperliche Behinderungen und Krankheiten abzuwehren. Das modernetypische Bild männlicher Gestaltungsmacht gewinnt damit neue Dimensionen. Nicht nur das eigene Leben, sondern der eigene Körper wird konzipiert als etwas, das es zu beherrschen gilt und dessen Defizite überwunden werden können. Imaginiert wird ein leistungsfähiges Individuum, das durch Willenskraft und die „Macht des Geistes“²⁵⁴ nicht nur die Kontrolle über die Zukunft hat, sondern souverän über den eigenen Körper verfügt. Die Selbstverantwortung, die das selfmade-Narrativ nahelegt, erstreckt sich somit vom Sozialstatus und von ökonomischen Verhältnissen auf die Beschaffenheit des Körpers, der je nach (Wil von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 265.  Vgl. dazu Senne und Hesse, S. 71 f. sowie Karin S. Wozonig: Psychosomatik und Literatur. Ernst von Feuchtersleben zur Diätetik der Seele. In: Frank, Gustav; Podewski, Madleen (Hrsg.): Wissenskulturen des Vormärz. Bielefeld: Aisthesis, 2012. S. 289 – 313.  Vgl. Senne und Hesse, S. 72.  Ernst von Feuchtersleben [1838]: Zur Diätetik der Seele. 8. Auflage. Wien: Carl Gerold, 1851. S. 11.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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lens‐)Kraftaufwand ,gesund‘ oder ,krank‘, ,normal‘ oder ,behindert‘ ist: „[W]ir wollen nicht bloß Gefühle bemeistern, sondern wo möglich das Erkranken selbst“²⁵⁵, schreibt von Feuchtersleben. Den Kern dieses diätetischen Kontrollideals bildet die Vorstellung eines steigerbaren Kraftpotenzials, das den Einzelnen in einen schier unbegrenzten Machtstatus versetzt.²⁵⁶ Zugleich leiten sich aus dieser kraftzentrierten Machtvorstellung Normsetzungen ab, die das männliche Subjekt auf ein tradiertes Tugendarsenal verpflichten. Wie Karin S. Wozonig herausgestellt hat, steht die Vorstellung körperlicher Regeneration oder Ertüchtigung qua Willenskraft im Zeichen eines bürgerlich ideologisierten Disziplinierungskonzepts, das die männliche Subjektivation als Folge von Selbstkontrolle, Entsagung und Mäßigung betrachtet.²⁵⁷ Welche Popularität die diätetische Subjektvorstellung im neunzehnten Jahrhundert besitzt, zeigt sich unter anderem darin, dass bis in die späten 1880er Jahre hinein eine Reihe von Abhandlungen die von Feuchtersleben aufgestellten Thesen aufgegriffen und erweitert haben.²⁵⁸ Dass sich auch von Hillerns Roman in dieser diätetischen Denktradition verorten lässt, geht vor allem aus den Krafterzählungen hervor, die der Text entfaltet. Die Differenz von Kraft und Schwäche bildet eine der Leitoppositionen des Romans und steht in enger Verbindung zu den Dichotomien von Gesundheit und Krankheit sowie Normalität und Devianz. Alfred leidet zu Erzählbeginn an Rachitis, Atembeschwerden, einer unterentwickelten Muskulatur, Sehbeeinträchtigung und Gehbehinderung, seine spätere Schwiegermutter wird durch ein Trauma gelähmt, dem Maler Joseph fehlt die Nase. Daneben treten Figuren in Erscheinung, die angesichts ihrer körperlichen Krafthypertrophie das andere Extrem verkörpern. Die Jugendfreundin und spätere Ehefrau des Protagonisten, Anna Hösli, sucht zu sämtlichen Gelegenheiten die „Kraft ihrer jungen Muskeln“²⁵⁹ zu erproben, ihr Bruder Heiri bietet ein „Bild blühender Jugend“²⁶⁰, Frank erscheint als „Urbild aller Heldenkraft und Kühn-

 von Feuchtersleben, S. 4.  Bei von Feuchtersleben heißt es an einer Stelle: „Was ist denn das Leben selbst, als die sich behauptende Kraft des Individuums, das Begegnende einem inneren Gesetze zu unterwerfen […]?“ von Feuchtersleben, S. 14.  Vgl. Wozonig, S. 302.  Vgl. Carl Wilhelm Ideler: Die allgemeine Diätetik für Gebildete. Halle: Schwetschke & Sohn, 1846; Friedrich Kirchner: Diätetik des Geistes. Eine Anleitung zur Selbsterziehung. Berlin: Brachvogel & Boas, 1886; Friedrich Scholz: Die Diätetik des Geistes. Leipzig: Mayer, 1887. Für eine genauere Betrachtung dieser diätetischen Denklinie vgl. Wozonig sowie Senne und Hesse, S. 71– 73.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 110.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 93.

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heit“²⁶¹, der Aristokrat Viktor als „athletische Persönlichkeit“²⁶² und „junger Titan“²⁶³. Das Eigentümliche des Handlungsgangs besteht nun darin, dass er die anfangs verteilten Gesundheits- und Kraftverhältnisse umkehrt. Heiri stirbt durch einen Unfall, Frank verliert seine Körperkraft durch eine Infektion, Viktor zieht sich im Krieg eine Verletzung zu. Dagegen können die anfangs kranken und ,behinderten‘ Figuren zum einen durch medizinische Eingriffe, zum anderen durch voluntaristische und geistige Kraftaufwendung ihre Mobilitätseinschränkungen beheben. Emphatisch zelebriert die Erzählung den Triumph der Willensund Geisteskraft über die Natur des Körpers: Kein Schlaf kam mehr in seine [d.i. Alfreds] Augen, es war, als habe er zwanzig Hände, und wenn auch der gebrechliche Leib unter dem starken Willen erzitterte und erbebte wie eine zu schwache Maschine unter der Vollkraft gespannten Dampfes, die Kraft seines Geistes riß ihn immer wieder mit sich fort.²⁶⁴

Mit der Umkehr eingangs konstruierter Kraftzuordnungen gehen die Dichotomien Gesundheit vs. Krankheit und Kraft vs. Schwäche in einem übergeordneten Differenzsystem auf, das die gesamte Erzählstruktur auf das selfmade-Narrativ abstimmt. Der natürlichen wird die menschliche Wirkungsmacht entgegengestellt, der fremden Kraft die eigene, der Kontingenz die Steuerung. Nicht nur die Aufstiegsnarrationen des Romans, auch die tragischen Wendungen, die die Erzählstränge um die Nicht-Aufsteiger bestimmen, fußen auf diesen Differenzsetzungen, die für das selfmade-Sujet konstitutiv sind. Die Gesundheit und Kraft von Heiri, Viktor und Frank entspringen der kontingenten Bestimmung der Natur und der zufälligen Macht des Schicksals und werden durch ebenso kontingente und zufällige Ereignisse – Unfälle und Infektionen – wieder eingebüßt. Im Falle Alfreds und Josephs dagegen bilden Gesundheit und Kraft keine naturgegebenen und damit kontingenten Eigenschaften, sondern menschliche Errungenschaften. Die Defizite des Körpers werden durch menschliches Können nivelliert. Joseph erhält durch eine medizinische Behandlung die Nase, die ihm die Natur versagt hat, Alfred unterzieht sich einer Operation, die seine Gehbehinderung heilt. So wird dem Walten der Natur und des Schicksals die Wirkungsmacht menschlicher Kraft

   

von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 144. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 170. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 101. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 153.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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entgegengestellt, womit der normalisierende Text des Romans dem antideterministischen Verweisungshorizont des Selfmademans angenähert wird.²⁶⁵ Die an die Differenz von Natur und Mensch gekoppelte Dichotomie von Körper und Geist bestimmt auch die zeitdiagnostische Erzählebene. Schon zu Beginn weist Feldheim den Siegeszug der Geistesmacht über die Körperkraft als Signum der Moderne aus: „[N]icht die M u s k e l – der Geist macht den Mann! Wir leben in einer Welt, wo eine andere Kraft herrscht als die des Leibes, wo auch der Krüppel sich seinen Platz unter Heroen erobern kann. […] Der Geist will sich immer unabhängiger vom Stoff zu machen suchen, er will nicht mit ihm untergehen. Blicke zurück, mein Kind, in die früheren Zeiten, wo rohe Gewalt der Hebel war, der alles in Bewegung setzte, und du wirst mit Staunen den Fortschritt erkennen, den das menschliche Geschlecht schon gemacht.“²⁶⁶

Der Körper-Geist-Dualismus wird hier in eine teleologische Moderneerzählung eingeschrieben, die über das selfmade-Sujet eine fortschrittsoptimistische Zäsur setzt. Der Willkür und Irrationalität einer Vormoderne, in der das Schicksal des Einzelnen von seiner körperlichen Kraft abhängt, stellt Feldheims Rede die Ordnung der vernunftgesteuerten Moderne entgegen: „Wärst du ein paar Jahrhunderte früher geboren, […] du wärst, ein ohnmächtiges verachtetes Geschöpf, umhergeschleudert worden zwischen den räuberischen Fäusten deiner ritterlichen Vetterschaft. Und jetzt, jetzt darfst du deines schwachen Körpers spotten, denn du kannst dich durch die Kraft deines Geistes, sei es in der Wissenschaft, sei es in der Industrie oder in der Politik, zu einer Macht erheben. Ist diese Welt, in welcher der Gedanke eine solche Herrschaft über die Materie ausübt, eine schlechtere geworden?“²⁶⁷

Die fortschrittsoptimistische laudatio auf die Moderne, die den weiteren Erzählverlauf antizipiert, schließt an ein Beschreibungsmuster an, das seine Wurzeln in den Adelsdebatten des späten achtzehnten Jahrhunderts hat. In seinen 1795 erschienenen Historischen und politischen Betrachtungen über den Adel stellt Friedrich Schmidt die These auf, daß jene Zeiten Gottlob! längst vorüber sind, wo der Adel auf den bloßen Zufall stolz, der ihm edle und verdienstvolle Vorfahren gab, ohne eigenes Verdienst zu besitzen, und darnach zu streben, durch Trägheit, rohe Sitten und Unwissenheit seinen Stand entehrte und herab-

 Bereits Lynne Tatlock hat darauf hingewiesen, dass in von Hillerns Roman der Geist über die Natur ebenso wie über politisch-wirtschaftliche Missstände siegt. Vgl. Tatlock, S. 102.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 26. Hervorhebung im Original.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 26 f.

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würdigte, sich selbst erniedrigte und so die Achtung der niedern Stände, die ihm gebührte, in Haß und Geringschätzung verwandelte.²⁶⁸

Ähnlich wie die Rede Feldheims geht Schmidts Invektive gegen die Adelsschicht früherer Gesellschaften in eine Zeitdiagnose über, die die Legitimität der herrschenden Adelsschicht begründen soll: Verdienstlosigkeit und ungerechtfertigter Ahn*innenstolz werden als Elemente der Vergangenheit markiert. Dagegen wird die positive Norm des Aristokraten, der sich an der Maxime des Verdienstes orientiert, als aktuelles Faktum ausgewiesen: [N]ützliche und ruhmvolle Dienste, die er dem Staat als besoldeter Diener desselben, in öffentlichen Aemtern und vorzüglich im Kriegswesen, oder als Wortsprecher seiner Mitbürger in den Versammlungen der Landstände, oder als Güterbesitzer durch eignen Anbau seines Landes leistet, verschaffen ihm Verdienste und innern ächten Werth, welcher ihn derjenigen Achtung würdig macht, die er von Andern zu fordern berechtigt ist.²⁶⁹

Dass von Hillerns Roman eine ähnliche Verbindung von Fortschrittserzählung und Adelsapologie entwirft, ist auch aus Gattungsperspektive aufschlussreich. Dadurch, dass der Text seine histoire als Artikulations- und Nachweisfläche einer Grundannahme konfiguriert, trägt er Züge eines Thesenromans. Die Behauptung, in der Moderne könne sich jeder Einzelne kraft seines Geistes zu einer einflussreichen Stellung hocharbeiten, wird im Handlungsverlauf nachgewiesen. Der Protagonist, der die „Höhen des Denkens und Wissens“²⁷⁰ zu erklimmen sucht, durchläuft eine medizinische Karriere, nimmt schließlich eine Schlüsselstellung bei der Kolonialisierung der Masuren ein und avanciert immer mehr zu einer einflussreichen Persönlichkeit. In einer Leser*innen-Ansprache macht er das meritokratische und fortschrittsoptimistische Kernpostulat der histoire noch einmal explizit und bestätigt es im Rückblick auf seinen Lebensweg: Ja, er [d.i. Feldheim] hatte recht: daß ich, der Krüppel, mir diesen Ruhm erringen konnte, […] den Strahl der Liebe und Achtung leuchten sehe, der nur H e l d e n lohnt, ich danke es mit gerührtem Herzen dem Fortschritt unseres denkenden Jahrhunderts! So seid getrost, Ihr alle, die, wie ich, geschmachtet hinter den Schranken, welche eine stiefmütterliche Laune der Natur oder das Vorurteil der Menschen euch gesteckt: die Arena des G e i s t e s ist aufgethan, jeder ist zum Kampfe zugelassen und jeder kann siegen aus eigener Kraft!²⁷¹

 Friedrich Georg August Schmidt: Historische und politische Betrachtungen über den Adel im Allgemeinen und vorzüglich in Rücksicht auf Teutschland. Zweyter Theil. Leipzig: Christian Friedrich Solbrig, 1795. S. 78.  Schmidt: Historische und politische Betrachtungen über den Adel, S. 78 f.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 50.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 274. Hervorhebung im Original.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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Die Berufung auf die eigene Kraft bindet das selfmade-Sujet ein weiteres Mal expressis verbis in den Erzähldiskurs ein und verdeutlicht den gegenwartsdiagnostischen Funktionskern des Figurentypus. Der Selfmademan steht im Zeichen einer fortschrittsemphatischen Zeitbilanz, die sich von einem antigenealogischen und antideterministischen Kontingenzbegriff herleitet. Flankiert wird diese Fortschrittserzählung von einer offenkundig geschlechtscodierten Erzählebene. Obgleich die Erzählung an einem stereotypisierten Genderdiskurs teilhat, deutet sich in ihr eine Demontage zeitgenössischer Maskulinitätsmodelle an. Männlichkeit wird in der Erzählung nicht als Korrelat physischer Kraft markiert, sondern als Produkt einer selbstbestimmten Lebensführung, die auch und vor allem von körperlich deformierten Außenseitern der Gesellschaft erzielt wird. So ist der „wahre Manneswert“²⁷² in der Erzählung ausschließlich dem Selfmademan Alfred zu eigen. Dagegen wird dem Kraftheroen Viktor, dessen „männliche Überlegenheit“²⁷³ Alfred zunächst bewundert hatte, im Laufe der Erzählung die Männlichkeit abgesprochen. Der Figur, die trotz ihrer kraftvollen physis daran scheitert, sich eine „ehrenvolle Stellung zu schaffen aus eigener Kraft“²⁷⁴, wird durch Anna Hösli eine defizitäre Männlichkeit vorgehalten: [D]u bist bei all’ Deiner Stärke ein schwacher abhängiger Charakter voll Menschenfurcht und kleinlicher Rücksichten, und ich sehe jetzt, daß man ein Riese sein kann, ohne doch ein Mann zu sein!²⁷⁵

Die geschlechtliche Codierung der Handlungsträger schlägt damit um: Ein „Mannesgeist“²⁷⁶ wird nicht Viktor, sondern der zunächst ,behinderten‘ Figur Alfred zugesprochen. Während der Handlungsstrang um Alfred und Viktor eine Neudefinition von Männlichkeit in Angriff nimmt, zielt die Episode um den Maler Joseph auf eine Problematisierung genderdiskursiver Normalisierungen und Machtverhältnisse. Männlichkeit bildet auch hier das Leitkonzept, das sich in eine metaphorische Semantik einlagert. Wie sich in einem Rückblick herausstellt, hatte in der Vergangenheit die körperliche Devianz der Figur, das Fehlen der Nase, eine Dehumanisierung ausgelöst: „Wie er jetzt reden kann!“ riefen die Leute, die gar nicht aus ihrem Erstaunen herauskamen. Denn der unglückliche Mensch hatte früher nur unverständlich lallen können, weil ihm die

    

von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 270. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 101. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 116. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 117. Hervorhebung im Original. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 167.

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2 Literarische Repliken

Nase fehlte und der Luftstrom, ohne sich formen zu lassen, durch die fast dreieckige Öffnung ging. Deshalb hatten sie ihn auch Alle für eine Art Halbsimpel gehalten und ihn nicht besser behandelt als ein Tier, eher schlechter, denn das Tier brachte ihnen Nutzen, aber die elende Mißgeburt war der Gemeinde nur lästig und zu nichts brauchbar als zum Viehhüten.²⁷⁷

Dass es die metaphorisch besetzte Nase ist, deren Fehlen zum Stigma wird und mit einer sprachlichen Artikulationsunfähigkeit – einem Symbol der unverschuldeten Unmündigkeit – einhergeht, legt der Erzählung eine genderbezogene krypto-histoire zugrunde. Die Heilungs- und Aufstiegsgeschichte Josephs liest sich ebenso wie die Aufstiegsgeschichte Alfreds als Geschichte einer Mannwerdung. Wenn ein „assoziative[r] Zusammenhang zwischen Nase und dem Organ der Männlichkeit“²⁷⁸ besteht, so vollzieht sich mit dem Erhalt der Nase ein Akt männlicher Subjektivierung. Dass die Figur erst nach ihrer ‒ künstlichen ‒ Mannwerdung als Mensch wahrgenommen wird und fähig ist, zu sprechen, lässt eine geschlechtsreflexive Ebene zutage treten, die die Mechanismen hegemonialer Männlichkeit adressiert: Nur wer als (weißer) ,Mann‘ anerkannt wird, wird als Mensch wahrgenommen und von anderen gehört. Die Episode um Joseph führt in ihrer metaphorischen Bildsprache jedoch nicht nur den genderreflexiven Text fort, sondern ruft noch einen weiteren Bedeutungscode auf. Schon mit dem Namen des Protagonisten spielt die Erzählung auf die Josefsgeschichte an. Die Bezüge reichen noch weiter. Auch von Hillerns Joseph wird aus einer familialen Gemeinschaft verstoßen und bei seiner Rückkehr nicht erkannt. Der Außenseiter des Dorfes, dem der Protagonist einen beruflichen Aufstieg in Aussicht stellt, erscheint damit als Erbe des biblischen Josefs, der nach seiner Verstoßung ebenfalls eine erfolgreiche Karriere durchläuft: Der als Sklave verkaufte Sohn Jakobs avanciert zum Herrscher über ganz Ägypten (Gen 45,8). Die Anspielungen auf die biblische Geschichte verstärken den antigenealogischen Impetus, der dem Roman zugrunde liegt. Josefs Vorzugsstellung den älteren Brüdern gegenüber legitimiert sich nicht durch Herkunft, sondern beruht auf einer göttlichen Erwählung (Gen 45,7– 9).²⁷⁹ Eines der Resultate dieser providentia ist nicht nur das private Glück des Aufsteigers, sondern die Rettung seiner Familie. Eine ähnliche Funktion als Wohltäter wird dem Joseph in von Hillerns Roman zugesprochen: Josephs Mutter werde durch die einstige Rückkehr des Sohnes ein

 von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 73.  Kay Himberg: Phantasmen der Nase. Literarische Anthropologie eines hervorstechenden Organs. In: Benthien, Claudia; Wulf, Christoph (Hrsg.): Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Reinbek: Rowohlt, 2001. S. 84– 103, hier S. 86.  Vgl. Rüdiger Lux: Ein Baum des Lebens. Studien zur Weisheit und Theologie im Alten Testament. Tübingen: Mohr Siebeck, 2017. S. 174.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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„großes Glück erblühen“, in der heimatlichen Dorfgesellschaft werde er „Gutes wie Böses vergelten“, prognostiziert der Protagonist.²⁸⁰ Die Erzählung adaptiert indes nicht nur Elemente der alttestamentarischen Geschichte, sondern stellt zugleich ihren intertextuellen Nexus zu den Evangelien heraus. Durch die Bezeichnung Josephs als „wiedergeborene[r] Sohn[]“²⁸¹ erscheint der Selfmademan als Christusfiguration. Der Roman lässt damit eine Verbindungslinie zwischen der Josefs- und Jesusgeschichte sichtbar werden, die in der Bibelexegese mehrfach herausgestellt worden ist.²⁸² Es zeigt sich dabei auch ein referenzieller Konnex zwischen der Episode um Joseph und dem zentralen Handlungsstrang um Alfred, der gleichermaßen von messianischen Stilisierungen und Christus-Allusionen durchzogen wird. Alfred widmet sein Leben den „Armen und Elenden“²⁸³ und will für „die ganze Menschheit […] leben und wirken“²⁸⁴. Auch konkrete Einzelhandlungen lassen sich auf neutestamentarische Texte beziehen. Die Heilung Franks etwa, der wegen Ansteckungsgefahr gemieden worden ist, lässt sich in Bezug zur Wundererzählung von der Heilung eines Aussätzigen setzen. Dass Alfred dem ehemals artikulationsunfähigen Joseph das Sprechen ermöglicht, lässt die matthäische Geschichte von der Heilung eines Stummen (Mt 9,32– 34) anklingen, während die Tätigkeit im Blindeninstitut an die markinische Bartimäus-Perikope und die Geschichte der Blindenheilung aus dem Johannesevangelium erinnert. Wenn die Erzählung das meritokratisch ideologisierte selfmade-Narrativ aufruft, so steht dieses folglich in einem christlichen Verweisungskontext. Das Verdienst, das der Selfmademan erbringt, bezieht sich weniger auf ökonomische Leistungen als auf ein christlich-philanthropisches Wirken. Die Erzählung bewegt sich auch hier in oppositioneller Tendenz zu einem Leitparadigma des neunzehnten Jahrhunderts. Mit dem Verdienstideal und seiner religiösen Untermauerung lanciert der Roman ein Gegenmodell zum Konzept der Leistung, das im neunzehnten Jahrhundert einen semantischen und konzeptuellen Wandel durchläuft: Der Begriff der Leistung wird von einem moralischen Verweisungskontext entkoppelt, in Anlehnung an die physikalische Definition von Leistung als Quotient aus Arbeit und Zeit als singularisierte, empirisch messbare Größe gedacht und an

 von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 86.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 75.  Vgl. beispielsweise Jürgen Ebach: Josef und Josef. Literarische und hermeneutische Reflexionen zu Verbindungen zwischen Genesis 37– 50 und Matthäus 1– 2. Stuttgart: Kohlhammer, 2009.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 118.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 141.

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2 Literarische Repliken

Steigerungsimperative gekoppelt.²⁸⁵ Diesem auf Quantifizierbarkeit zielenden Leistungskonzept, das sich kurz nach dem Erscheinen des Romans auch in konkreten Praktiken niederschlägt – man denke an Angelo Mossos Ergographen²⁸⁶ –, hält der Roman ein christliches Verdienstideal entgegen, das zugleich das bürgerliche Verdienstethos der Aufklärung revitalisiert. Folgenreiche Paradigmenwechsel des neunzehnten Jahrhunderts, die sich im Bedeutungswandel des Leistungsbegriffs niederschlagen, werden damit invertiert. Programmatisch verlagert die Erzählung den Akzent von der Kraft auf die Tugend, von der physis auf die virtus. Mit diesen Verschiebungen spannt der Text einen Bogen von der biblischen Referenzebene der Erzählstränge um Joseph und Alfred zum Fortschritts- und Modernenarrativ, das die Rede Feldheims thesenhaft dargeboten hatte. Fortschrittsoptimismus, Moderneerzählung und christliches Verdienstideal gehen bei von Hillern Hand in Hand. Wie der religiöse Subtext macht eine Kolonialisierungsgeschichte den Typus des Selfmademans zum Träger eines Fortschrittsnarrativs. Adaptiert wird ein Motivkomplex, der für die Subgattung des Kolonialromans charakteristisch ist.²⁸⁷ Der Protagonist reist auf seine Güter in den Masuren, um für die „sittliche und materielle Hebung“ eines „grenzenlos verkommene[n] Volksschlag[s]“ zu sorgen, „Halbmenschen [zu] zivilisieren“ und den erstarrten Entwicklungsprozess voranzutreiben.²⁸⁸ Es ist dasselbe Bild des ,Wilden Ostens‘, das Freytags Roman in seinen Polenepisoden transportiert hatte.²⁸⁹ Wie Soll und Haben arbeitet von Hillerns Roman stereotypisierte Vorstellungen vom Wilden Westen Amerikas in eine Imagination der polnischen Landschaft ein und schließt damit an Beschreibungslinien an, die ihre Wurzeln in der vormärzlichen Diskussion der „polnischen Frage“ haben.²⁹⁰ Die Nähe zu Soll und Haben steigert sich dadurch, dass auch bei von Hillern die Kolonialisierung nicht in Übersee stattfindet, sondern in einem geographisch relativ nahe gelegenen Gebiet. Der Roman mobilisiert damit eine populäre Stra Vgl. Nina Verheyen: Die Erfindung der Leistung. München: Hanser, 2018. S. 20 sowie S. 130 – 138.  Vgl. Verheyen, S. 137 f.  Vgl. dazu Kristin Kopp: „Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern“: Soll und Haben als Kolonialroman. In: Krobb, Florian (Hrsg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Freytags kontroversem Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 225 – 237, hier S. 226. Vgl. außerdem Kristin Kopp: Germany’s Wild East. Constructing Poland as Colonial Space. University of Michigan Press, 2012. S. 29 – 56.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 178.  Vgl. Kopp: „Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern“, S. 228 – 230.  Vgl. Kopp: „Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern“, S. 228.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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tegie des othering: Anstelle der räumlichen Entfernung wird eine zeitliche Distanz insinuiert. Durch eine temporale Argumentationsfigur wird das zu kolonialisierende Gebiet zum Raum des Anderen. Dem hohen Entwicklungsstand Deutschlands wird ein als defizitär markierter Anfangszustand entgegengestellt, den die Erzählung auf das masurische Gebiet projiziert.²⁹¹ Verweise auf mythische Gestalten setzen einen voraufklärerischen Aberglauben an die Stelle der modernen Rationalität und inszenieren die Region als Relikt aus vormodernen Zeiten: Unter den überhängenden Zweigen gleitet lautlos der Nachen des Fischers am Ufer hin und in das Netz, das er auswirft, sind Haare vom Haupte einer Jungfrau eingestrickt, denn diese sind gut gegen jeden Zauber und ziehen die Fische an. Hier im Schatten des Waldes am stillen Haasznensee birgt sich noch die Waldhexe und der Werwolf, hier hausen die vertriebenen Götter Percunos, Potrimbus und die strenge Lauma, die darauf acht gibt, daß der Faden des Fischernetzes nicht am Donnerstage gesponnen sei […].²⁹²

Die Bezüge zur baltischen Mythologie verschärfen auf doppelte Weise die Differenzmarkierung zwischen dem Eigenen und Fremden und untermauern das daran gekoppelte nationalistische Fortschrittsnarrativ. Die Mythisierung setzt nicht nur eine temporale und epistemische Grenze zwischen der als vormodern markierten Masurenregion und einer rationalisierten Moderne. Die aufgezählten mythischen Wesen verkörpern zugleich Naturkräfte, denen die vorherige, in Deutschland situierte Handlung den Triumph der menschlichen Kraft entgegengesetzt hatte. Lauma verkörpert in der baltischen Mythologie das Schicksal, das im leitmotivisch aufgerufenen selfmade-Narrativ entmachtet wird. Potrimbus ist der Gott des fließenden Wassers, Perkons ein Himmels- und Gewittergott. In einer Ereigniskette um eine in Gefahr ausartende Bootsfahrt und die Rettung Annas durch Viktor, der „mit eisernem Arme“ die „wilde Flut“ bezwingt,²⁹³ unterliegen beide Naturkräfte der Kraft des menschlichen Körpers. So wird im Bild der masurischen Mythengläubigkeit ein kolonial gefärbtes und modernediagnostisches Fortschrittsnarrativ konkretisiert, das über stereotype Fremdheitskonstruktionen am Paradigma des Selfmademans mitschreibt. Die Abgrenzung vom masurischen ,Naturvolk‘ verstärkt den Modernitätsindex der Figuren deutscher Herkunft, die

 Charakteristisch dafür ist die folgende Textstelle: „Wir blicken so gern zurück in die graue Vorzeit, wo der Mensch noch mühsam mit dem Urstoff um sein Bestehen rang, […] um desto besser zu ermessen, welch ungeheuren Fortschritt wir gemacht – aber wir brauchen nicht so weit zu schweifen, wir dürfen uns nur umschauen in solch einem entlegenen Winkel des eigenen Vaterlandes, wenn er von einem Mißwachs heimgesucht ist […]!“ von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 203.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 203 f.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 103.

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sich auf die eigene Kraft verlassen, anstatt sich vom Walten der Naturkräfte bestimmen zu lassen. Das Konzept des Selfmademans wird damit zum Medium einer nationalidentitären Selbstdefinition, die eine koloniale Dichotomie zwischen der deutschen Fortschrittlichkeit und masurischen Vormodernität setzt. Forciert wird diese Differenzbildung über Hell-Dunkel-Kontraste, Lichtsymboliken und Grenzmarkierungen. Dem Gutshof, wo das vermeintlich fortschrittsbringende Wirken Alfreds für Licht sorgt, steht die Finsternis der noch unkolonisierten Gebiete gegenüber. Ein ähnliches Kontrastverfahren wird durch eine Negationsrhetorik in Gang gesetzt, wobei sich eine stilistische Parallele zu Soll und Haben abzeichnet. In Freytags Roman heißt es über das noch nicht kolonisierte Gebiet: „Kein Haus war zu sehen an der Straße, kein Wanderer und kein Fuhrwerk“²⁹⁴. Von Hillerns Roman adaptiert die negative Rhetorik, wenn es heißt: Kein schriller Pfiff einer Lokomotive schreckt den Raben aus der eingeschneiten Furche auf, kein hochbepackter Güterwagen weckt mit seinem Knarren das Gebell eines Hundes auf dem einsamen Gehöft des „Eigenkätners“.²⁹⁵

Die Negationsrhetorik insinuiert dem Gebiet eine Andershaftigkeit und Vormodernität, die durch das Kolonialisierungsnarrativ als Übergangszustand markiert werden. Durch das zivilisationsfördernde Wirken der Kolonisatoren wird der vormoderne Mangelzustand überwunden, dem Entwicklungszustand der deutschen Moderne angenähert und das Kolonialgebiet aus seinem Erstarrungszustand befreit – so die Suggestion. Der koloniale Text des Romans bildet damit ein strukturelles Komplement zum selfmade-Narrativ. Wie dieses kreist die Kolonisierungsgeschichte um einen „Zustand des Mangels“²⁹⁶, der eine Überwindung und optimierende Lenkung zu verlangen scheint. Während es im selfmade-Narrativ die eigene Biographie ist, die optimiert, gestaltet und gesteuert wird, ist es im Kolonialisierungsnarrativ die Landschaft, die als optimier-, gestalt- und steuerbare tabula rasa markiert wird. Das Zusammenspiel beider Narrative macht den Roman zu einer paradigmatischen Apotheose auf die Moderne. Das im Selfmademan artikulierte Bild der lebensweltlichen Kontingenz verbindet sich mit kolonialistischen Potenzialitätsidealen: In der Moderne – so die Verheißung – kann jedes männliche Individuum nicht nur zum Macher seines Schicksals avancieren, sondern zum Mitgestalter seiner Lebenswelt.

 Freytag: Soll und Haben, S. 499.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 201.  Kopp: „Ich stehe jetzt hier als einer von den Eroberern“, S. 231.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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Eine ähnliche Vernetzung zeigt sich in der Emanzipations- und Aufstiegsgeschichte Franks, die das selfmade-Sujet ebenfalls in eine kolonial gefärbte Dichotomie von Barbarei und Zivilisation einpasst. Das Fortschrittsnarrativ, das die Kolonialisierungsepisode organisiert, wird in der Geschichte Franks symbolisch ausagiert. Franks Aufstieg wird durch ein besonderes Talent begünstigt: Er war in seiner Art ein Genie für die Anlage und Anordnung von Gärten. Darin entfaltete er einen Geschmack und eine Geschicklichkeit, welche die Aufmerksamkeit der Verschönerungsbehörden auf ihn lenkte, und ihn, das niedrigste Mitglied der menschlichen Gesellschaft, in wenig Jahren zu einem angesehenen und tüchtigen Bürger machte.²⁹⁷

Der Einbezug des Gartensymbols im Kontext der Emanzipationsgeschichte eines Schwarzen Sklaven ist für das ambivalente Erzählprinzip des Romans symptomatisch. Eine kolonialistisch imprägnierte Kultivierungsidee wird aufgerufen und zugleich unterminiert.²⁹⁸ Durch das Gartensymbol wird der im kolonialen Diskurs infantilisierte, barbarisierte und stigmatisierte Typus des Schwarzen Mannes zum Repräsentanten menschlicher Naturbeherrschung und so zum Träger eines aufklärerisch geprägten Fortschrittsnarrativs. Die zuvor noch als „Tiermensch“²⁹⁹ bezeichnete Figur, der die Erzählung eine „wilde Natur“³⁰⁰ zugeschrieben hatte, reüssiert nun durch Kulturalisierungspraktiken, die darauf zielen, das „Bedrohliche, Unbekannte und Geheimnisvolle auszuschließen, die ursprüngliche Natur zu zähmen“³⁰¹ und ihre „wilde […] Zeugungskraft in den Bahnen des Nützlichen und Schönen zu kanalisieren“³⁰². Damit folgt die Geschichte um Frank derselben Logik wie die Haupthandlung um Alfred. Wie die Kolonisierungsgeschichte wurzelt das Gartensymbol im Narrativ des Fortschritts, das durch die Projektion auf gesellschaftlich marginalisierte Figuren Exklusionsverfahren unterläuft und zugleich asymmetrische Oppositionsbildungen reproduziert. Ebenso wie Alfred wird Frank zum Initiator eines Transformationsprozesses, der Ordnung statt Chaos, Rationalität statt Sinnlichkeit und Kultur anstelle von Natur propagiert. Das subversive Potenzial der Erzählung liegt also nicht in der Demontage topi-

 von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 2, S. 56 f.  Schon in einer vorherigen Rettungsszene waren hierarchische Relationen über eine binarische Raumsymbolik invertiert worden: Die versammelte Dorfgesellschaft hatte von unten auf den oben stehenden Bediensteten geblickt (vgl. von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 180 – 185).  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 181.  von Hillern: Aus eigener Kraft, Bd. 1, S. 216.  Christina Waldeyer: Homo hortulanus. Die Sinnzuschreibungen in privaten Hausgartengestaltungen. Wiesbaden: Springer, 2016. S. 39.  Birgit Wagner: Gärten und Utopien. Köln: Böhlau, 1985. S. 7.

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scher Dichotomien, sondern in der Durchkreuzung von Zuschreibungen, durch die jene Dualismen macht- und identitätspolitisch funktionalisiert werden.³⁰³ Mit von Hillerns Aus eigener Kraft ist eine spezifische Variante des realistischen selfmade-Sujets in den Vordergrund gerückt. Ermächtigung und Fortschrittscredo gehen bei von Hillern nicht mit Ausschluss und Normalisierung einher, sondern mit einer Suspension konventioneller Zuschreibungen: Vorstellungen vom lebensunfähigen Aristokraten werden ebenso wie die Bilder vom behinderten Subjekt und Schwarzen Barbaren programmatisch durchkreuzt. In der realistischen Erzähltradition des Selfmademans bildet Aus eigener Kraft damit einen Sonderfall. In der Regel gründet sich das realistische selfmade-Narrativ auf herkömmlichen Zuschreibungen und Polarisierungen. Der typisierte Selfmademan, wie ihn der Realismus konstruiert, ist bürgerlich, deutsch, christlich und männlich, und fügt sich damit in die genderisierte und ethnisierte Logik des Fortschritts- und Modernenarrativs ein. 1887 ist mit Fanny Lewalds Die Familie Darner ein weiterer Roman erschienen, der über das selfmade-Sujet zeitgenössische Projektionen kritisch reflektiert und umkehrt. Verfahrenstechnisch schlägt Die Familie Darner jedoch eine andere Richtung als von Hillerns Roman ein. Auch die Inhalte der utopisch angelegten Fortschrittsdiagnosen ändern sich. Die Familie Darner ist wie Von Geschlecht zu Geschlecht ein historischer Roman, der eine geschichtliche Epoche zum Zweck der nationalen Identitätsstiftung vergegenwärtigt. Wie die vorwortartige Widmung verkündet, zentriert sich die Handlung um Zeiten, „in denen […] jene Saat gestreut worden, aus welcher endlich das deutsche Reich erwachsen ist.“³⁰⁴ Gemeint ist die Zeit der napoleonischen Kriege, deren Umwälzungen und Folgen jede der Figuren im Laufe der Erzählung zu spüren bekommt. Diese Zeit wird zum einen dadurch vergegenwärtigt, dass zeitraffende Berichte der Erzählinstanz historische Wendemarken schlaglichtartig Revue passieren lassen. Zum anderen hängt die Konstruktion von Geschichte mit einem Verfahren der Personalisierung zusam-

 Es zeigt sich hier ebenjene Differenz von Normativität und Normalität, die Jürgen Link theoretisch konzeptualisiert hat. Wie Link herausstellt, haben sich die Diskurskomplexe des Normativen und des Normalen seit dem achtzehnten Jahrhundert ausdifferenziert. Neben dem Komplex des Normativen, der um die „sanktionsbewehrte binäre Erfüllungsnorm: ja oder nein“ kreise, stehe der Komplex des Normalen, der sich aus statistischen Modellbildungen erschließe. Vgl. Link, S. 33 f., Zitat auf S. 34. Bezogen auf von Hillerns Aus eigener Kraft ließe sich sagen, dass der Roman durch seine Konstruktion körperlicher Behinderungen und Krankheiten zwar Normalitätsvorstellungen reproduziert, dabei jedoch die Normativität, die in diese Normalitätsvorstellungen häufig hineinspielt, unterläuft.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, Widmung an Großherzog Karl Alexander von Sachsen.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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men, das auch das selfmade-Narrativ codiert. Metonymisch vergegenwärtigt der Aufstiegsweg Lorenz Darners, der gleich zu Beginn als „selbstgemachte[r] Mann“³⁰⁵ bezeichnet wird, historische Ereignisse. Illustriert wird die Entwicklung des Bürger*innentums von der Französischen Revolution bis zur zeitgenössischen Gegenwart. So steht am Anfang der rückblickend erzählten Geschichte ein gewaltsamer Akt der Befreiung aus dem Zustand der Unterdrückung. Diese erste Etappe des Aufstiegswegs wird symbolisch mit dem kollektivgeschichtlichen Ereignis der Französischen Revolution kurzgeschlossen.³⁰⁶ Der als Höriger geborene Lorenz Darner widersetzt sich der Gewaltausübung seines aristokratischen Leibherrn und wird zum Bluttäter aus Notwehr:³⁰⁷ Die Niedrigkeit, in der er geboren, die Stellung, zu der er sich empor gebracht, waren sein Stolz. Daß er im Kampfe Mann gegen Mann, auf das Aeußerste gereizt und mißhandelt, seinen Gegner erschlagen, war nicht seine Absicht, sondern ein Unglück bei einer That der Nothwendigkeit gewesen, die ihn zu seinem Heile hinausgeschleudert aus der Knechtschaft in die Freiheit, auf die Bahn, die, wie hart und schwer er sie zu durchmessen gehabt, doch die ihm gemäße gewesen war.³⁰⁸

Auf den emanzipativen Totschlag und die Flucht folgen ein Einstieg in das freibeuterisch ausgeübte Handelsleben, schließlich eine Etablierung im Geschäftsleben, ein stetig wachsender geschäftlicher Erfolg und die Gründung und Leitung

 Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 8.  Vgl. Christina Ujma: Bürgertum, Nation und Außenseiter in Freytags Soll und Haben und Fanny Lewalds Die Familie Darner. In: Krobb, Florian (Hrsg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005. S. 171– 186, hier S. 176.  Es klingt an dieser Stelle eine Parallele zu Ernst Willkomms Sozialroman Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes (1845) an. Auch bei Willkomm wirft ein Handlungsträger zunächst Rätsel auf, bevor sich herausstellt, dass er früher ein Leibeigener gewesen ist und in seiner Vergangenheit strukturelle Ungerechtigkeit und Gewalt erfahren hat. Gerade die Verbindungslinie zu Willkomm markiert jedoch in Lewalds Roman eine programmatische Neuausrichtung des Sozialromans.Während Jan Sloboda in Weisse Sclaven zurückkehrt, um „Gerechtigkeit zu fordern oder Rache zu üben“ (Ernst Willkomm: Weisse Sclaven oder die Leiden des Volkes. Erster Theil. Leipzig: Kollmann, 1845. S. 39), und der Roman die mit der Leibeigenschaft verbundenen Machtstrukturen mit den Verhältnissen moderner Fabriken kurzschließt, wird Lorenz Darner durch eine allmähliche Besinnung und Kompromissbereitschaft aller Beteiligten zum Mitbegründer einer versöhnten Gemeinschaft. In dieser finden sich nicht Fabrikherren und Arbeiter, sondern Aristokrat*innen und Bürger*innen, Christ*innen und Jüd*innen harmonisch zusammen. Erzählgrundlagen, die dem vor- und nachmärzlichen Fabrikroman entstammen, werden folglich an bürgerliche Gesellschaftsvisionen des Deutschen Reiches angepasst, wobei das Gemeinschafts- und Versöhnungsideal strukturell beibehalten, doch inhaltlich neu justiert wird.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 227.

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2 Literarische Repliken

global vernetzter Unternehmungen, die die Figur zur Millionärin machen und ihr auch politische Verantwortung einbringen: Der reüssierte Bürger wird in den Stadtrat aufgenommen. Deutlich zeigt sich hier der Zusammenhang zwischen Metonymisierung, Zeitdeixis und selfmade-Narrativ:³⁰⁹ Die Profilierung des Selfmademans fällt zusammen mit dem Nachvollzug epochaler Ereignisse.³¹⁰ Reflektiert werden die Aufhebung der Leibeigenschaft und die Selbstermächtigung des Bürger*innentums. Wenn der Sohn des Aufsteigers, Frank Darner, darauf hinweist, dass sich sein Vater „aus Niedrigkeit zu einem Kaufmann ersten Ranges emporgeschwungen“³¹¹ und ein „großes Vermögen aus dem Nichts geschaffen“³¹² hat, so ruft er in Verbindung mit dem selfmade-Narrativ ein sozialgeschichtliches Beschreibungsmuster auf. Erzählt wird eine Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte des Bürger*innentums. Diese wird durch das selfmade-Sujet als Geschichte einer Emanzipation erzählt. Der Selfmademan wird zum Prototyp des autonomen Individuums, das seine Identität unabhängig von Herkunft und Geburt definiert: Was kümmerte die Leute, woher er gekommen, was er ursprünglich gewesen? Er war da; er war Lorenz Darner, der Chef des großen Handelshauses. Sie hatten ihn für denjenigen zu nehmen, der er war […]!³¹³

Wie die Gegenwartsemphase wird die Kraftvorstellung, die mit dem selfmadeNarrativ einhergeht, zum Bezugspunkt einer historischen Erzählung. Das Ideal der Kraftmobilisierung wird nicht nur anhand von Lorenz Darner ausagiert,

 Diese Korrelation ist auch in Lewalds Erzählwerk kein neues Element. Schon die 1846 erschienene Novelle Der dritte Stand. Novellistisches Zeitbild. In: Fanny Lewald: Gesammelte Novellen. Berlin: Louis Gerschel, 1862 setzt den Typus des Selfmademans für eine bürgerlich ideologisierte Modellierung von Geschichte ein. Mit dem Fabrikbesitzer Wallbach tritt auch in der Novelle ein „Emporkömmling“ (Lewald: Der dritte Stand, S. 29) in Erscheinung, dessen Aufstiegsgeschichte den Gegenstand einer retrospektiv und autodiegetisch erzählten Binnengeschichte bildet. Wallbach beginnt ebenso wie Darner als Höriger, lehnt sich gegen Gewaltausübung auf, durchläuft entbehrungsvolle Zeiten im Kampf ums Überleben und avanciert schließlich zum Leiter eines erfolgreichen Textilunternehmens mit 1000 Beschäftigten. Mit dieser Überwindung von Standesgrenzen spiegelt die intradiegetisch angesiedelte Aufstiegsgeschichte den sozialutopischen Gehalt der Rahmenerzählung. Diese nämlich zielt genauso wie die Rahmengeschichte in Die Familie Darner auf eine Versöhnung von Bürger*innentum und Aristokratie, signalisiert durch standesübergreifende Eheschließungen.  Eine ähnliche Beobachtung macht Christina Ujma: In der Figur Lorenz Darners stelle Lewald „die Geschichte des Kaufmannsstandes im Zeitraffer dar, von den freibeuterischen Anfängen zur politischen Verantwortung fürs Gemeinwohl.“ Ujma, S. 180.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 114.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 114.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 173.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

299

sondern an die Geschichte einer historischen Figur gekoppelt. Emphatisch verweist Darner auf „die Kraft und de[n] Wille[n]“, die das „Emporkommen“ Napoleons begründet haben.³¹⁴ Ausgehend vom Aufstieg Napoleons entwickelt die Figur eine kraftzentrierte Theorie des Selfmademans, die durch die metonymische Ebene als Theorie der bürgerlichen Emanzipation lesbar wird: „[J]ede lebendige Kraft, einmal vorhanden, verlangt sich zu entfalten in angemessener Bethätigung. Da die seine in den Verhältnissen, in denen sie entstanden war, sich weder entfalten noch genugthun konnte, mußte sie sich aus ihnen befreien. Je mehr sie sich eingeengt und gedrückt fand, um so gewaltsamer und höher mußte sie naturgemäß steigen, um so fortreißender und vernichtender mußte sie für alles werden, was sich ihr nicht durch Unterordnung nutzbar machte, was sich ihr widersetzte. Das ist das Geheimniß all der einzelnen Menschen, die sich aus Niedrigkeit erhoben und Erfolgreiches geschaffen haben.“³¹⁵

Im Laufe der Erzählung wird aus der historischen Erzählebene, in die das selfmade-Sujet eingelagert ist, eine Zukunftsmodellierung. Ausgangspunkt dieses Übergangs ist ein Entwicklungsnarrativ. Die ersten Bände präsentieren Darner als autokratischen pater familias, der seine Macht beständig auszudehnen sucht, für den Schutz von Haus und Familie verantwortlich ist (Verteidigung gegen angreifende Truppen) und autoritär über weibliche Figuren herrscht (Zwangsheirat seiner Tochter Dolores). Im dritten Band kommt es zu einer Veränderung. Durch ein Gespräch mit seinem Sohn gelangt Darner zu der Einsicht, dass seine autoritäre Machtausübung auf Dauer keine Zukunft haben kann, da sie ebenjenes Unterdrückungsprinzip reproduziert, aus dem er sich selbst – als hörig Geborener – befreit hat. Der einstige Autokrat tendiert nun auf das Schaffen jedes Einzelnen an seinem Platze zu einem Zusammenwirken Aller; auf möglichst freie Entwicklung der Anlagen jedes Einzelnen für eine gemeinsame Bethätigung.³¹⁶

Hatte der retrospektiv aufgerufene selfmade-Topos die Entwicklung des Bürger*innentums von der Unmündigkeit zur Machtausübung versinnbildlicht und den Umbruch von der feudalen zur bürgerlichen Ordnung zum Thema gemacht, so projektiert folglich die auf die diegetische Gegenwart bezogene Figurenzeichnung einen Wandel von der Autokratie zur Demokratie. Die Familie Darner wird zum pars pro toto einer historischen Gesellschaft, deren autoritäre Herrschafts-

 Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 112.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 112 f.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 3, S. 98.

300

2 Literarische Repliken

form einer demokratischen Struktur weicht. Die metonymische Funktion Darners und seiner Familie wird an einer Stelle explizit offengelegt: Er hatte in dem Bewußtsein seiner Kraft und seines redlichen Willens die berechtigte Gewalt des Einzelnen, des Vaters, des Familiengründers innerhalb seiner Familie überschätzt. ‒ In der Zeit, in welcher die Völker in Masse sich zu erheben begannen aus eigener Machtvollkommenheit, gegen die Willkür, konnte es nicht fehlen, daß in der Familie im Kleinen sich das Gleiche wiederholte.³¹⁷

In der visionierten politischen communitas ist also für die „Gewalt des Einzelnen“ kein Platz. Erzähltechnisch verschmelzen an dieser Stelle verschiedene Zeitkategorien. Der historische Bezugsmodus entäußert sich in einer politischen Utopie, die den zukunftsgerichteten Standpunkt der modellierten historischen Zeit mit der zukunftsgerichteten Perspektive der Realzeit vereint. Diese Verschränkung von historischer Projektion und Zukunftsmodellierung wird im weiteren Erzählverlauf ausgebaut und kulminiert in den am Ende eintretenden Eheschließungen. Projektiert werden die Verschmelzung von Bürger*innentum und Adel (Ehe zwischen Dolores Darner und dem Baron Eberhard), von bürgerlichen und militärischen Interessen (Verlobung von Virginie Darner und dem Major) sowie eine Integration des Jüd*innentums in die bürgerliche Gesellschaft (Heirat von John Kollmann und Flora Lindheim). Dieser Versöhnungsutopie geht bezeichnenderweise eine weitere Entwicklung des Protagonisten voraus: Während Darner zunächst das „rasche Emporkommen“ jüdischer Kaufleute, allen voran der Rothschild-Dynastie, mit Skepsis betrachtet und eine „Abneigung gegen den fremden Volksstamm“ hegt,³¹⁸ entschließt er sich im dritten Band zum Kampf gegen „ein Vorurtheil, das den Frieden und die Eintracht störte zwischen Mitbürgern derselben Stadt“³¹⁹. Parallel zur Integration des Jüd*innentums visioniert der Roman eine Emanzipation weiblicher Figuren. Während der zweite Band durch die Leidensgeschichte von Dolores Kritik am patriarchalischen Machtsystem übt, stellt der dritte Band anhand von Virginie Darner eine emanzipatorische Ermächtigung in Aussicht. Das selfmade-Narrativ wird dabei in einen genderpolitischen Kontext gestellt. Zunächst erscheint die Selbstkonstitution als Selfmademan als ein ausschließlich männliches Privileg: Die Fürstin beneidet „jeden Mann […], der aus sich selber etwas machen und werden konnte“³²⁰. Gegen Ende jedoch wird auch

   

Lewald: Die Familie Darner, Bd. 3, S. 41. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 3, S. 179. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 3, S. 181. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 3, S. 158.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

301

Virginie eine freie Gestaltung des eigenen Lebens zugestanden: Die an Virginie gerichtete Aussage Darners „Du sollst Deines Glückes Schmied sein“³²¹ setzt das im Sprichwort verankerte selfmade-Ideal für einen emanzipatorischen Ermächtigungsakt ein und löst es so von seiner männlichen Vereinnahmung. Dass diese Ermächtigung nicht von Virginie selbst, sondern von Darner ausgeht, der das Leitmotto des Selfmademans versprachlicht, lässt die Moderatheit zutage treten, mit der die Erzählung politische Revisionsansprüche formuliert. Gesellschaftliche und soziale Wandlungen wie Frauenemanzipation, jüdische Emanzipation und die Nivellierung von Standesgrenzen gehen nicht aus revolutionären Aufbegehrungen der marginalisierten Gruppen hervor, sondern aus der allmählichen Einsicht der Machtinhaber. Ein solcher Vernunftoptimismus spiegelt sich auch im dargestellten Verhältnis von Aristokratie und Bürger*innentum, das in einer gegenseitigen Annäherung und schlussendlichen Aussöhnung besteht. Der Repräsentant des Adels tritt ebenso wie der bürgerliche Selfmademan als lernfähige und anpassungsbereite Figur in Erscheinung. Besonders deutlich zeigt sich dies in einem philosophischen Gespräch zwischen Darner und dem Baron.Während Darner in der Wirkung „des in That umgesetzten kaufmännischen Kredites“ den Machtfaktor sieht, der sämtliche Erscheinungen determiniere und als allmächtiger Weltgeist walte, beruft sich der Baron auf die Wirkungsmacht der Sprache, die die Macht des Geldes überbiete. Dieser philosophische Zwist wird im Laufe der Erzählung friedlich gelöst. Beide Figuren kommen zu der Einsicht, dass die Lösung in einer kompromisshaften Verbindung beider Anschauungen liegt: [W]ährend Darner sich zu der Einsicht gedrängt fand, daß noch andere Kräfte im Leben in Betracht zu ziehen seien, als nur die Macht des Kapitals, hatte Eberhard die freiheitgebende Kraft des Geldes für den Einzelnen in höchstem Grade schätzen lernen, so daß er und die Darners in ihren Ansichten einander viel näher gekommen, als es je zu erwarten gewesen war.³²²

Der Versöhnungsimpuls, der sich hier abzeichnet, bildet den Ausgangspunkt für eine sozialutopische histoire, die die herkömmlichen Ausschlussstrategien der Aufstiegsnarration konterkariert. Das Aufstiegssujet wird vom Untergangssujet entkoppelt. Auch die Aristokratie hat in der erzählten Welt eine Überlebenschance, da sie Einsicht in die ökonomischen Verhältnisse der Zeit gewinnt und sich von den Fesseln der Vergangenheit befreit.

 Lewald: Die Familie Darner, Bd. 3, S. 171.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 2, S. 157.

302

2 Literarische Repliken

Die Harmonisierungsbestrebungen des Romans markieren ebenso wie seine Absage an patriarchale und antisemitische Denkmuster einen Bruch in der realistischen Imaginationsgeschichte des Selfmademans. Die Familie Darner kehrt narrative Ausschlüsse in programmatische Integrationserzählungen um und entfaltet sich damit nicht nur als Gegenentwurf zu Lewalds früherem Roman Von Geschlecht zu Geschlecht, sondern als Kontrafaktur zu dessen Prätext. Dem auf Exklusivität und Homogenität bedachten Gesellschaftsmodell von Soll und Haben stellt Lewalds Roman eine inklusive communitas entgegen, in der standesbezogene, ethnische sowie geschlechtsbezogene Hierarchien an Geltungsmacht verlieren.³²³ Waren die Konventionsbrüche Lenores durch die Missbilligung vonseiten Antons in ein negatives Licht gerückt worden, so stellt Lewalds Roman Emanzipationsbestrebungen als gesellschaftliches telos dar. Jüdische Figuren erfahren keine sprachliche Stigmatisierung, sondern sprechen Hochdeutsch wie die übrigen Figuren und werden nicht durch Todesszenen aus der diegetischen Gegenwart ausgeschlossen, sondern in eine bürgerliche (Reproduktions‐)Gemeinschaft integriert. Zwar sind diese Verschiebungen in erster Linie auf den politischen Gehalt des Romans zurückzuführen, doch wohnt ihnen zugleich eine erzähllogische Funktion inne. Dadurch, dass die Erzählung ihre Vergangenheitskonstruktion mit gesellschaftspolitischen Statements verbindet, die auch von der Entstehungszeit des Romans her als zukunftsbezogen und utopisch gelten können, behebt sie eine Aporie, die sich aus dem Verhältnis von Erzählanlage und Erzählinhalt ergibt. Die Handlung des Romans ist in einer historischen Zeit situiert; die Rückschau auf die Vergangenheit dominiert den gesamten Erzähldiskurs. Damit bekundet sich eine Vergangenheitsgebundenheit, die auf Handlungsebene verurteilt wird. Vor allem der Baron sieht seine Freiheit durch die Bindung an die Vergangenheit beschränkt und kann sich nur allmählich von der retrograden Last befreien: „[D]ie Schranken, in die wir mit jenen erhebenden Erinnerungen aus der Vergangenheit, hineingeboren sind, sind nur zu oft unübersteiglich für uns, und halten uns in ihrem Bann.“³²⁴

 Auch Christina Ujma liest Die Familie Darner als „Gegenentwurf zu Freytags Soll und Haben“ und verweist auf die gegensätzlichen Gesellschaftsbilder beider Erzählungen: Den antisemitischen Abgrenzungsbemühungen von Freytags Roman stehen die Inklusionsansprüche von Lewalds Roman gegenüber, dessen konstruierte Außenseiter*innenfiguren schließlich in die erzählte Sozialwelt aufgenommen werden. Vgl. Ujma, S. 172– 182, Zitat auf S. 172.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 2, S. 86.

2.3 Integrationen und Versöhnungen (von Hillern, Lewald)

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Dem herkömmlichen Polarisierungsmuster prima facie folgend, stellt die Erzählung der aristokratischen Vergangenheitsabhängigkeit und Unfreiheit den Zukunftsoptimismus des Bürger*innentums gegenüber: Dort fast überall ein klagendes Rückblicken auf die letzten Zeiten und ein sorgenvolles und meist vertrauensloses Vorwärtsschauen. Hier die […] energische Zuversicht, daß Verlorenes zu ersetzen, daß mit dem festen Willen und mit Anwendung der rechten Mittel auch zu erreichen sein müsse, was man von der Zukunft für sich wünsche.³²⁵

Trotz der kontrastiven Rhetorik ist es auch im Falle der Vergangenheits- und Zukunftsschau kein Entweder-Oder, das die Erzählung propagiert, sondern ein aussöhnender Mittelweg. Ein Gespräch über eine Ahn*innengalerie formuliert das Ideal einer Verschmelzung von rückwärtsschauender und zukunftsgerichteter Gesinnung. Diese Verschmelzung bringt zugleich die vom Baron repräsentierte genealogische Kontinuität und die im Selfmademan personifizierte Selbstreferenz zu einer harmonischen Synthese. Der Sohn des Selfmademans, Frank Darner, will Vergangenheitsverwurzelung und Zukunftsoffenheit vereint wissen: „Ich denke mir es angenehm, große, weitreichende, mit der Geschichte seines Geschlechtes und Landes zusammenhängende Erinnerungen zu besitzen. Ich werde einmal allen Grund haben, meinen Kindern mit Stolz von ihrem Großvater zu sprechen; doch sollte mich’s nicht kränken, könnte ich für sie und mit ihnen weiter zurückblicken in eine lange Vergangenheit und auf gute und vorangegangene Angehörige. In der Vergangenheit wurzeln, sein eigener Herr sein in der Gegenwart und eine freie Zukunft vor sich haben – das ist’s!“³²⁶

Dem Synthesepostulat geht eine Auslegung der Bilder als „Träger und Zeichen der Vergangenheit“³²⁷ voraus, womit der Roman, der seinerseits eine vergangene Zeit diskursiviert, das Konstitutionsprinzip seiner histoire thematisch macht. Das in der Rede angesprochene Ideal einer Verbindung von Zukunfts- und Vergangenheitsbezug wird nun erzähldiskursiv gespiegelt: Die historische Erzählform verbindet sich mit einem utopischen Modus, der aus der Rückschau auf die Vergangenheit ein Zukunftsmodell generiert. Die strukturelle Spiegelung dargebotener Prämissen, die sich hier abzeichnet, bildet ein Kernprinzip des Erzähldiskurses. An einer Stelle betont Darner die Perspektivgebundenheit der Weltwahrnehmung: „Das Leben und die Welt sehen sich von verschiedenen Standpunkten sehr verschieden an.“³²⁸ Ebendiese Diver-

   

Lewald: Die Familie Darner, Bd. 2, S. 29. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 2, S. 85. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 2, S. 85. Lewald: Die Familie Darner, Bd. 1, S. 118.

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2 Literarische Repliken

genz der Perspektiven schreibt sich in den Erzähldiskurs ein, der die diegetische Welt über ein Nebeneinander von divergenten sozialen Stimmen und Idiomen präsentiert.³²⁹ Die Figurenrede des Majors etwa, der seiner Geliebten ein „militärisches Genie“³³⁰ zuspricht, zeichnet sich durch eine militärische Semantik aus, wohingegen die Sprache des Barons ein schwärmerisches Pathos durchzieht: „[D]er Tag wird kommen und sein Morgenroth dämmert schon in vielen Herzen auf, der dieser Tyrannei ein Ende macht.“³³¹ Mit der sprachlichen Diversifikation evoziert der Erzähldiskurs trotz der Dominanz der erzählerischen Reflexionen und der Auktorialität der Erzählinstanz eine Polyphonie, die dem sozialutopischen Erzählprojekt des Romans, der Modellierung einer pluralistischen communitas, Rückhalt bietet. Ausgehend von einem Spiegelungsprinzip lanciert der Text insofern Plädoyers für Pluralität, Aussöhnung und Gleichberechtigung.

 Eine ähnliche Beobachtung macht Schneider (vgl. Schneider, S. 276).  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 3, S. 19.  Lewald: Die Familie Darner, Bd. 2, S. 141.

3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans Zwischen dem Realismus und der klassischen Moderne liegt bekanntlich ein Programmhorizont, der in seiner „Logik von Transformation und Überarbeitung“ eine „immanente […] Modernität“¹ in sich birgt: der Naturalismus. In seinem „Generalaffekt gegen das Geschichtliche und Kulturelle“² scheint das naturalistische Erzählsystem prädestiniert dazu, dem Typus des Selfmademans ein Fortleben zu bieten. Wenn der Selfmademan ein Reflexionsmedium der Zeitkategorie ,Gegenwart‘ darstellt, so fügt er sich passgenau in die temporale Erzählebene des naturalistischen Beschreibungssystems ein. Wie Ingo Stöckmann gezeigt hat, erhebt der Naturalismus „einen Anspruch auf literarische Gegenwärtigkeit, der eine neue, tief in das Temporalbewusstsein der Moderne hineinreichende Zeiterfahrung artikuliert“³. Diese Zeiterfahrung manifestiert sich vornehmlich in Figuren des Transitorischen und Ephemeren, die die zahlreichen Moderne-Manifeste des Naturalismus durchziehen und in eindringlichen Forderungen nach Vergangenheitsemanzipation und Zukunftsoffenheit münden. Im Moderne-Manifest von Heinrich Hart heißt es: Das geschichtlich Gewordene ist immer halb im Unrecht, weil es eine Stufe bedeutet, die der Vergangenheit angehört; auf einer Stufe soll man jedoch nicht länger Halt machen, als Zeit nöthig ist, eine weitere zu hauen.⁴

Es zeigen sich hier ebenjene temporalen Wertakzente, die für das selfmade-Sujet prägend sind. Postuliert werden eine temporale Synchronisation und ein dynamisches Mitgehen mit der Jetztzeit, wohingegen Traditionsbeharrung und Vergangenheitsverhaftung abgelehnt werden. Wie die temporalen Positionierungen spannen die zeitdiagnostischen Proklamationen naturalistischer Manifeste einen Bogen zum selfmade-Sujet. „[W]er in den Geist der Geschichte eindringt“, so Eugen Wolff in Die jüngste deutsche Litteraturströmung und das Princip der Moderne (1888), „findet nirgends Still-

 Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 492.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 217.  Ingo Stöckmann: Gegenwarten 1900. In: Brokoff, Jürgen; Geitner, Ursula; Stüssel, Kerstin (Hrsg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Göttingen:V&R unipress, 2016. S. 169 – 193, hier S. 170.  Heinrich Hart: Die Moderne. In: Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. Jg. 4 (1890/1891), S. 148 – 159, hier S. 148. https://doi.org/10.1515/9783110766134-008

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

stand, lernt überall Vorwärtsschreiten“⁵. Folgt man den zeitdiagnostischen Ausführungen Leo Bergs in Die Romantik der Moderne (1891), so gehört das für den Selfmademan charakteristische Sehnen nach und Arbeiten an einer besseren Zukunft zu den Eigentümlichkeiten der Moderne: Denn nichts ist gross wie diese Sehnsucht, dieses unbändige Hinausstürmen, Drängen und Hineintappen in’s Weite, dieses stille und entschlossene Erwarten erträumten Glücks, dies Umstürzen und Bessern-Wollen, dieses Umhertappen und Erwachen, dieses Sich-Recken und Sehnen, dieses tiefe Ahnen von Besserem und Grösserem, das da kommen soll und kommen muss. Ja, diese grosse Sehnsucht, dieses Harren und Wünschen, es gibt unserer Zeit ihr Gepräge und ihre Grösse.⁶

In naturalistischen Programmbekundungen werden also zentrale Propositionskerne des selfmade-Sujets revitalisiert. Berufungen auf den Eigenwert der Gegenwart, die Abkehr von Herkunftssphären und die fortschrittsoptimistische Zukunftserwartung lassen das selfmade-Narrativ als Schlüsselelement naturalistischer Modernitätsproklamationen erscheinen. Was für die naturalistischen Programmschriften gilt, zeigt sich in ähnlicher Weise in literarischen Erzählungen. Der Aufstieg bildet einen Kernbaustein des naturalistischen Erzählsystems, das auf Basis dieses Narrationsmusters teils vitalistische, teils darwinistische Polarisierungen von alter und neuer Zeit vornimmt. In Conrad Albertis 1888 erschienenem Roman Wer ist der Stärkere? beispielsweise wird über das Erzählmuster des Aufstiegs der Triumph des Neuen über das Alte zelebriert. Das Streben nach Aufstieg und Erfolg ist dabei nicht mehr das Kennzeichen einer einzelnen Figur, wie es im Realismus zumeist der Fall gewesen war, sondern das Signum einer großstädtischen Moderne, deren energetische Strahlkraft das voluntaristische Bestreben sämtlicher ihrer Bewohner*innen widerspiegelt:⁷ Ueberall, wohin er blickte, Bewegung, Leben, rüstiges Vorwärtsstreben, überall der Kampf des eindringenden besseren Neuen gegen das staubig und unbrauchbar gewordene Alte! Da rissen geschäftig hin- und herrennende Arbeiter die Planken und Pfähle der alten, schmalen Cavalierbrücke nieder und senkten mächtige Steinquadern zum Bau einer neuen, bequemen Verbindung hinab ins Wasser – dort erhoben sich im hellen, einladenden Gelb die gewaltigen Kuppeln der neuen Kaiser-Wilhelmstraße, mächtig aufstrebend, steinerne Wahrzeichen der rastlos neuer Größe, neuer Schönheit zustrebenden Stadt. […] Jeder suchte hier

 Wolff, S. 8.  Leo Berg [1891]: Die Romantik der Moderne. In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971. S. 77– 82, hier S. 77.  Vgl. hierzu Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 75 – 78.

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Erfolge, jeder jagte dem Glück nach, jeder kämpfte sich in anhaltendem Streben empor […]. Ueberall siegte die Kraft, der Muth, die Ausdauer, die Emsigkeit […].Welch eine wunderbare, gewaltige Stadt, welch ein Kämpfen, Streben, Arbeiten allenthalben! Nur hier konnte wahres Verdienst, echte Kraft sich emporringen, zu der Stelle, die ihr gebührte!⁸

Exemplarisch bekunden sich an dieser Stelle die Neuakzentuierungen, die das naturalistische Erzählsystem im Hinblick auf das selfmade-Sujet vornimmt. Zunächst einmal zeigt sich eine Überlagerung von Aufstiegsnarrativ, Zeitdeixis und Raumsymbolik. Wenn von aufstrebenden und sich erhebenden Straßenkuppeln die Rede ist, so lagert sich der Aufstiegstopos in Semantiken ein, die den Anbruch der ,neuen Zeit‘ räumlich versinnbildlichen und dabei das Erzählmuster der schöpferischen Zerstörung fortschreiben. Das Aufstiegsnarrativ wird in die raumsemantische Beschreibungsebene projiziert und so zu einer metacodierenden Erzähldeterminante: Sämtliche Erscheinungen des Stadtbilds werden auf ein und dieselbe Gesetzlichkeit, das Durchsetzen der Kraft, zurückgeführt.Verbunden mit dem selfmade-Sujet ist also eine totalitätsevokative Metacodierung, die in einem darwinistischen Verweisungskontext steht. Darwinistisch ist diese Metacodierung, weil sie den Aufstieg als Beleg für ein survival of the fittest deutet, totalitätsevokativ, da diese Deutung über eine Engführung von Raumsemantik und Handlungsebene verläuft: Der als Tiefenstruktur insinuierte ,Kampf ums Dasein‘ avanciert zum topoisierten Metacode, den das Aufstiegssujet ‒ „notfalls an der Phänomenwelt vorbei“⁹ ‒ sowohl in die Ebene der Raumsemantik als auch in die Handlungsebene einlagert. Dass die naturalistische Erzählliteratur das selfmade-Narrativ fortschreibt, mag indes paradox anmuten. Zwar ergeben sich aus der zäsurzentrierten Zeitlichkeit des Selfmademans offenkundige Anschlussstellen für naturalistische Erzähltopoi, doch besteht gleichzeitig ein eklatanter Hiatus zwischen den Propositionskernen des selfmade-Narrativs und den Leitlinien des naturalistischen Erzählprogramms. Was der Selfmademan symbolisiert, ist ein Hinwegsetzen über das Herkunftsmilieu, ein Bruch mit genealogischen Linien sowie die Möglichkeit, die eigene Normativität aus sich selbst heraus zu schöpfen. In dieser antigenealogischen Verweisungsebene unterläuft das selfmade-Narrativ Schlüsselkategorien des naturalistischen Erzähldispositivs. An die Stelle des Milieu-Einflusses setzt das selfmade-Sujet die Wirkungsmacht individueller Kräfte, an die Stelle der erblichen Determination die Gestaltbarkeit der Zukunft, an die Stelle der Herkunft

 Conrad Alberti: Wer ist der Stärkere? Ein sozialer Roman aus dem modernen Berlin. Bd. 2. Leipzig: Wilhelm Friedrich, 1888. S. 3 ff.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 77.

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die Leistung. Die oppositionelle Tendenz, die dem selfmade-Narrativ auf diese Weise innewohnt, zeigt sich am deutlichsten, wenn man die Kernaussagen der Milieu- und Vererbungstheorie in Erinnerung ruft. Die naturalistische Milieuästhetik, die wesentliche Impulse durch Hippolyte Taines Histoire de la littérature anglaise (1863) erfahren hat, operiert bekanntlich in „genetische[n] Kategorien, die ein Arsenal an kulturell, sozial und physikalisch ,Mitgegebenem‘ umfassen“¹⁰ und dabei drei Determinationsgrößen bestimmen: race, milieu und moment. ¹¹ Bei Taine heißt es: Ce qu’on appelle la race, ce sont des dispositions innées et héréditaires que l’homme apporte avec lui à la lumière, et qui ordinairement sont jointes à des différences marquées dans le tempérament et dans la structure du corps. […] Lorsqu’on a ainsi constaté la structure intérieure d’une race, il faut considérer le milieu dans lequel elle vit. Car l’homme n’est pas seul dans le monde; la nature l’enveloppe et les autres hommes l’entourent; sur le pli primitif et permanent viennent s’étaler les plis accidentels et secondaires, et les circonstances physiques ou sociales dérangent ou complètent le naturel qui leur est livré. […] Il y a pourtant un troisième ordre de causes; car avec les forces du dedans et du dehors, il y a l’œuvre qu’elles ont déjà faite ensemble, et cette œuvre elle-même contribue à produire celle qui suit. Outre l’impulsion permanente et le milieu donné, il y a la vitesse acquise. Quand le caractère national et les circonstances environnantes opèrent, ils n’opèrent point sur une table rase, mais une table où des empreintes sont déjà marquées. Selon qu’on prend la table à un moment ou à un autre, l’empreinte est différente; et cela suffit pour que l’effet total soit différent.¹²

In diesem Determinationsdenken ist das selfmade-Narrativ allenfalls ex negativo präsent. Die Emanzipation von den Einflussmächten ,Herkunft‘ und ,Vergangenheit‘ bildet das Gegenteil dessen, was die Milieutheorie in den Fokus rückt. Nicht der Gestaltungsmacht des männlichen Subjekts gilt das milieutheoretische Erzählinteresse, sondern den determinierenden Bedingungen, denen der oder die Einzelne unterliegt. Dargestellt werden soll, „wie sehr und in welcher Weise Abstammung, Natur […] die Charakterentwicklung eines Menschen beeinflussen“¹³, heißt es 1890 bei Conrad Alberti.¹⁴ Externe Einflussfaktoren bilden den Kerngegenstand der positivistisch ausgerichteten Poetik, die dem selbstreferen-

 Ingo Stöckmann: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart: Metzler, 2011. S. 33.  Vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 33.  Hippolyte Taine: Histoire de la littérature Anglaise. Tome Première. Paris: Hachette, 1866. S. XXIII ‒ XXX.  Conrad Alberti: Natur und Kunst. Beiträge zur Untersuchung ihres gegenseitigen Verhältnisses. Leipzig: Wilhelm Friedrich, 1890. S. 57.  Vgl. dazu Stöckmann: Naturalismus, S. 33.

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ziellen ,aus sich selbst heraus‘ ein ,Außen‘ gegenüberstellt. Über das Erkenntnisfeld ,Milieu‘ schreibt Alberti: Denn das Milieu beruht zunächst, auf seiner einfachsten Stufe, darauf, den Menschen aus dem zu erklären, was außer ihm ist. Sein Wesen wird nicht als angeboren, ursprünglich aufgefasst, sondern bedingt durch seine Abstammung, das Land, in dem er lebt, seine Erziehung, die sozialen Verhältnisse, in denen er aufwächst, die ersten Eindrücke der Natur auf ihn, seine hauptsächliche Beschäftigung, seinen Umgang, die Anschauungen seiner Zeit.¹⁵

Vor dem Hintergrund solcher Determinationsemphasen wirkt die Annahme eines naturalistischen selfmade-Sujets fehlleitend. Für den Typus des Selfmademans scheint im naturalistischen Erzählsystem kein Platz zu sein. Ein ähnlicher Eindruck mag sich einstellen, wenn man ein weiteres Leitkonzept des Naturalismus, die Vererbung, in den Blick nimmt. Die naturalismustypische Zentrierung auf den Problemfall ,Erbschaft‘, der sich prominent in Zolas Rougon-Macquart-Zyklus bekundet, beruht bekanntlich auf epistemischen Verschiebungen, die sich im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts europaweit vollziehen. Vor allem im Kontext der französischen Physiologie bildet sich Vererbung als biologisch fundiertes Konzept heraus.¹⁶ An dieses schließen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wirkmächtige Degenerations- und Entartungstheorien an,¹⁷ sodass die Vererbung zu einer Schlüsselkategorie im grand récit ,Moderne‘ avanciert. Mit diesen Entwicklungen profiliert sich ein epistemisches Feld, das die Darstellung des Selfmademans auszuschließen scheint. Die Einflusskraft genealogisch-hereditärer Linien, die durch den Selfmademan angefochten wird, bildet den Ausgangspunkt vielgestaltiger und meist modernediagnostisch angelegter Wissensgenerierungen, von denen die naturalistischen Poetiken ihr positivistisches Erzählprogramm herleiten. Auf epistemisch-struktureller Ebene wird also die Idee, sich selbst ,aus dem Nichts heraus‘ erschaffen zu können, negiert. In seinem Milieufokus und ausgeprägten Biologismus verankert das naturalistische Erzählsystem das einzelne Subjekt fest in seinen Herkünften, von denen es sich niemals wirklich befreien kann. Ebenso aufschlussreich wie repräsentativ ist die Aussage der Kammerherrin Alving in Ibsens Gespenster (1881):¹⁸

 Alberti: Natur und Kunst, S. 54 f.  Vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 114.  Vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 114.  Vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 114 sowie Stefan Willer: Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne. Paderborn: Fink, 2014. S. 151.

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Doch mir scheint fast, wir alle sind Gespenster, Pastor Manders. Nicht nur, was wir von Vater und Mutter geerbt haben, geht wie ein Spuk in uns um – nein, alles mögliche, was man früher einmal gedacht und geglaubt hat und was längst tot und abgestorben ist. Es ist nicht mehr lebendig in uns, aber es haftet uns immer noch an, und wir können es nicht loswerden. […] Mir scheint, es muß überall im ganzen Lande geradezu wimmeln von Gespenstern.¹⁹

Die leitmotivisch aufgerufene und titelgebende Gespenstersemantik, die eine abgründige Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart verbildlicht, steht im Zeichen eines hereditären frames, der für den tragisch-deterministischen Handlungsverlauf konstitutiv ist. Obgleich sich Frau Alving bemüht, die Kontinuitätslinie zu unterbrechen, werden sie und ihr Sohn von der Vergangenheit und dem fatalen Erbe eingeholt. Auch wenn die milieu- und erbschaftstheoretischen Grundlagen des Naturalismus dem Glauben an den Selfmademan entgegenstehen, tritt er in der naturalistischen Literatur immer wieder und gattungsübergreifend in Erscheinung. Er durchwandert nicht nur die Romanreihen Albertis und Max Kretzers, sondern findet sich auch in mehreren naturalistischen Dramen. In Max Halbes Drama Ein Emporkömmling (1889) beispielsweise steht ein rachsüchtiger Aufsteiger exemplarisch für die Unaufhaltsamkeit moralischer Verfallsprozesse, die von der Großstadt auf das Land übergreifen und die vermeintlich heile Welt zerstören. Hermann Sudermanns 1889 uraufgeführtes Schauspiel Die Ehre vernetzt den labilen gesellschaftlich-sozialen Status des Aufsteigers, der auf kein genealogisches Kontinuum zurückblicken kann, mit dem Problem anachronistisch gewordener Ehrkonzepte und macht so in doppelter Hinsicht den „sozialen Abgrund einer ratlos gewordenen Moderne“²⁰ thematisch. Offenbar schreibt also das naturalistische Erzählsystem das selfmade-Sujet fort. Dieses Fortschreiben vollzieht sich jedoch unter völlig anderen Voraussetzungen und Vorzeichen, als es im Realismus der Fall gewesen war. Naturalistische Aufstiegsfiguren treten als parvenühafte und profitorientierte Karrieristen in Erscheinung und bilden Kristallisationsflächen all dessen, was darwinistische, kapitalismuskritische und kulturpessimistische Beschreibungsmuster auf die imaginierte Moderne projizieren. Mit dem Siegeszug des naturalistischen Erzählsystems vollzieht sich folglich nicht nur auf Verfahrensebene ein signifikanter Funktionswandel des selfmade-Narrativs, sondern auch die herkömmlichen Codierungen des Figurentypus werden auf fundamentale Weise transformiert.

 Henrik Ibsen [1881]: Gespenster. Ein Familiendrama in drei Akten. Aus dem Norwegischen übertragen von Hans Egon Gerlach. Stuttgart: Reclam, 1992. S. 41 f.  Ingo Stöckmann: Ausgemünztes Verhalten. Naturalismus und Moderne in Hermann Sudermanns „Die Ehre“. In: Zeitschrift für Germanistik, Bd. 14, Nr. 3 (2004), S. 491– 505, hier S. 499.

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Im Folgenden werden die verschiedenen Umcodierungen, die der Selfmademan im Naturalismus erfährt, näher beleuchtet und auf ihre erzähldiskursiven Implikationen hin befragt. Bezugspunkt der Ausführungen bilden die Romane Meister Timpe (1888) und Der Mann ohne Gewissen (1905) von Max Kretzer sowie Curt Grottewitz’ Roman Eine Siegernatur (1892). Diese Romane bieten sich zum einen deshalb an, weil sich an ihnen die zentrale verfahrenstechnische Funktionsebene des naturalistischen selfmade-Sujets, die metacodierende Totalitätsevokation, demonstrieren lässt. Zum anderen lässt sich anhand dieser drei Romane das weite Spektrum der Konnotationen und Funktionen aufzeigen, die der naturalistische Figurentypus besitzt. Während Meister Timpe über den Aufsteiger die Zerstörung oikonomisch-paternaler Kontinuität betrauert, wird er in Siegernatur zum Sinnbild einer triumphal gefeierten Moderne, die von einer kraftvoll erstarkten ,Neumenschheit‘ regiert wird. Dieser vermeintlich antidekadente ,neue Mensch‘ wird schließlich in Der Mann ohne Gewissen zum Bezugspunkt einer Kritik, in deren Rahmen sämtliche Züge des Selfmademans als Ausdruck einer modernetypischen Degeneration, Vermessenheit und Amoralität diskreditiert werden. Die spezifischen Umcodierungen machen den Naturalismus zu einem zentralen Umschlagspunkt in der literarischen Imaginationsgeschichte des Selfmademans. Dieser Umschlag hat auch eine gattungsbezogene Komponente. Eine Siegernatur und Der Mann ohne Gewissen machen den Selfmademan zum Träger einer Erzählstruktur, die nur noch ansatzweise an das Modell des Bildungsromans erinnert. Naturalistische Romane, die „das angestammte Bildungsprogramm durch Projekte des sozialen Aufstiegs ersetzen“²¹, stellen damit die entscheidenden Weichen für die Herausbildung des Aufstiegsromans als Subgattung. Diese subgattungsgeschichtliche Entwicklung kulminiert um die Jahrhundertwende. Unter dem Eindruck ökonomischer Transformationen bildet sich eine Gruppe von Texten heraus, denen das Aufstiegssujet als Erzählfundament dient. Als exemplarische Aufstiegsromane der Zeit um 1900 werden in diesem Kapitel neben Heinrich Manns Im Schlaraffenland (1900) zwei Romane in den Blick genommen, die über das Aufstiegsschema je spezifische Perspektiven auf die kapitalistische Moderne werfen: Karl Weiss’ Roman Reich Werden! (1894), der schon im Titel den Handlungsgang verlautbart, und Robert Saudeks Roman Dämon Berlin (1907), in dem das Ressentiment gegen die Moderne durch eine ebenfalls im Titel angekündigte Dämonisierung ausgetragen wird.

 Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 78.

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3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz) Für die Neudefinitionen, die der Typus des Selfmademans im Naturalismus erfährt, ist in mehreren Hinsichten Max Kretzers Roman Meister Timpe (1888) symptomatisch. Parallel zum Aufstieg Friedrich Urbans, der schon durch seinen Nachnamen mit einer großstädtischen Moderne assoziiert wird, steht der Untergang des Hauses Timpe, den dessen Oberhaupt als tragische Notwendigkeit ausweist: „Gehe ich zugrunde, so werde ich das als eine Nothwendigkeit der Ordnung dieser Welt betrachten“²², erklärt der Titelheld. Die von Timpe angenommene Weltordnung basiert auf einem survival of the fittest, wobei der Stärkere derjenige ist, der wie Urban auf neue Produktionsweisen – insbesondere Massenproduktion – setzt und bewährte Wege hinter sich lässt. Wer dagegen wie die Familie Timpe an Traditionen festhält und sich insofern dem zentralen Gesetz der Moderne, der Veränderungsdynamik, entgegenstellt, der ist dem Untergang geweiht. Vom Untergang ausgenommen ist die Sohnfigur Franz Timpe, die wie Urban von einer Aufstiegsambition geleitet wird. Ausgehend von einem Generationenkonflikt, dem topischen Motiv zur Darstellung zeitlicher „Hiatus-Erfahrungen“²³, proklamiert die Erzählung folglich einen Widerstreit von paternal begründeter Kontinuität und Diskontinuität. Die familialen Spannungen, die die Erzählung illustriert, markieren den Aufstieg Franz Timpes als Verschuldung an der kontinuitätsstiftenden communitas:²⁴ Um in eine höhere Gesellschaftssphäre einzutreten, verlässt Franz Timpe sein Elternhaus und tritt zum ,Feind‘ über, dem florierenden Unternehmen Urbans, dem er durch das Stehlen väterlicher Fabrikate zum Gewinn verhilft. In einem zentralen Handlungsstrang erzählt der Roman also die Geschichte einer von „sozialer Scham“²⁵ erfüllten Sohnfigur, die ihrer Herkunftssphäre den Rücken kehrt und deren Untergang mitverschuldet. Der Aufsteiger wird zum prototypischen „Agenten der Losreißung“²⁶, der die bürgerliche Filiation zum Scheitern bringt und die Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kaltblütig durchbricht. Bewertet wird diese zäsurhafte Zeitlichkeit unter dem herkömmlichen Erzählparadigma: dem Durchbruch der Moderne. In

 Max Kretzer: Meister Timpe. Berlin: Fischer, 1888. S. 170.  Reinhart Koselleck und Christian Meier: Fortschritt. In: Brunner, Otto; Conze, Werner; Koselleck, Reinhart (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart: Klett-Cotta, 1975. S. 351– 423, hier S. 392.  Vgl. zum Verschuldungsmotiv Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 311.  Vgl. zur Affektkategorie ,soziale Scham‘ („la honte sociale“) Jaquet, S. 165 – 182.  Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2014. S. 24.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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nostalgischer Diktion werden das Streben nach Aufstieg, der dadurch ausgedrückte Affekt sozialer Scham und Bruch mit paternalen Linien als Zeichen der ,neuen Zeit‘ und ihrer Laster dargestellt: Und trotzdem lobte Ulrich Gottfried Timpe die alte Zeit, denn inmitten von Armuth und Elend, die damals eben so vorhanden waren wie heute […], hatte sein Handwerk geblüht, wurde es in Ehren gehalten, galt die Schlichtheit des Mannes noch etwas, bestrebte sich nicht der Sohn des Meisters das Arbeitsgewand des Vaters zu verachten, um über seine Verhältnisse hinaus zu wollen.²⁷

Obgleich der Roman in Verbindung mit dem hybris-Motiv bekannte Muster der modernisierungskritischen Verlusterzählung aufruft, derzufolge familiale Bindungen am Luxusbegehren, Distanzethos²⁸ und gesellschaftlichen Ehrgeiz zerbrechen, zeigt sich in der Erzählung eine unterschwellige Modifikation des angestammten Narrationsmusters. Das Verschuldungsmotiv wird auch auf Meister Timpe, das vermeintliche Opfer des Romans, übertragen.²⁹ Es ist Johannes Timpe, der den Aufstieg des Sohnes in die Wege leitet: Und als eines Tages […] Johannes Timpe der Werkstätte ganz allein vorstand, er das Schicksal seines Vaters tagtäglich vor Augen hatte ‒ wurde umsomehr der Wunsch in ihm rege, seinem einzigen Kinde Erziehung und Bildung zu Theil werden zu lassen, die ihm die Fähigkeiten zu geben vermöchten, eine bessere soziale Stellung einzunehmen und sich mit weniger saurem Schweiß durchs Leben zu schlagen.³⁰

Es ist also nicht nur die Sohnfigur, die das Kontinuum durchbricht, sondern der Vater. Indem Franz Timpe die traditionsbehaftete Haus- und Produktionsgemeinschaft verlässt, führt er gleichsam aus, was der Vater vorgesehen hatte. Die damit verbundene Relativierung der Beschreibungsmuster steigert sich dadurch, dass der Vaterfigur ebenjenes Aufstiegsmotiv zugeschrieben wird, das später bei Franz Timpe und Friedrich Urban zutage tritt und dem Anschein nach den Untergang des Hauses Timpe verursacht. Auch Timpe strebt nach einer Expansion  Kretzer: Meister Timpe, S. 13.  Das Distanzethos gehört Jaquet zufolge zu den Kennzeichen des Klassenübergängers, der einen inneren Abstand zu seiner Herkunftsfamilie und seinem sozialen Ausgangsmilieu verspürt. Mit dem sozialen Aufstieg, der meist mit einer räumlichen Übersiedlung einhergeht, wird dieser Abstand ein äußerer. Durch die ambivalente Position im Zwischenraum von Herkunfts- und Ankunftsmilieu verdoppelt er sich zudem: Weder fühlt sich der Klassenübergänger seinem familialen und sozialen Ausgangsmilieu zugehörig, noch gehört er von Anfang an dem Ankunftsmilieu an, in das er zunächst sozial, symbolisch und habituell integriert werden muss.Vgl. Jaquet, S. 143.  Vgl. dazu Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 310.  Kretzer: Meister Timpe, S. 15.

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des Unternehmens und plant eine kaufmännische Betriebsführung, die die traditionalistische Handwerksgemeinschaft modernisieren soll: Mit diesem Fleckchen Erde hatte Johannes Timpe seine besonderen Pläne, über die er nur zu gern mit seinem Sohne sprach. Da schwirrten die Worte: „Anbauen… Kleine Fabrik errichten… Das Geschäft kaufmännisch betreiben… Seinen Sohn zum Kompagnon machen… Neues Vorderhaus errichten…“ durch die Luft, so daß Franz seinem Vater mit dem größten Interesse zuhörte, denn man schilderte ihm das Element, in dem er sich einst zu bewegen gedachte.³¹

Der modernediagnostische Verschuldungsmythos der Erzählung wird an dieser Stelle brüchig. Aufstiegsstreben und Modernisierung sind keine von außen kommenden Bedrohungen des oikos, sondern in ihm selbst und seiner vermeintlich heilen Vergangenheit angelegt. An die Stelle der Differenzsetzung von vormoderner Integrität via Genealogie und moderner Verschuldung qua Genealogiebruch rückt eine Vernetzung. Verschuldung und Genealogie fallen zusammen, sodass die modernediagnostische histoire als „Akkumulation von Schuld erkennbar wird.“³² Wie sehr das Schuldmotiv den Text durchdringt, zeigt sich auch in den Genesis-Referenzen. Anspielungen auf den Sündenfall reproduzieren nicht nur den geschichtsphilosophischen Unterbau des Metanarrativs ,Moderne‘, sondern auch dessen Symbolsprache. Die Aufstiegsfiguren werden zu Medien einer Dichotomisierung zwischen dem Paradies der Vormoderne und dem ,Sündenfall Moderne‘: Franz Timpe wird eine „Vorliebe für verbotene Früchte“³³ attribuiert, während Urban als Zerstörer eines paradiesischen Gartens erscheint, über den sich in unerbittlicher Destruktionskraft der „Dampf des Eisenrosses“³⁴ wälzt. Deutlich zeigt sich hier, wie tradierte Besetzungen des Aufstiegssujets im naturalistischen Erzählsystem umschlagen. Aus der fortschrittsoptimistischen Gewinnerzählung, die sich im Realismus an das selfmade-Narrativ gekoppelt hatte, wird eine antimoderne Verlustgeschichte. Die zeitdiagnostische Bezugsebene, die sich dabei abzeichnet, wird durch die generationelle histoire veranschaulicht. Ausdrücklich werden die männlichen Vertreter der jeweiligen Generationen je verschiedenen historischen Zeitabschnitten zugeordnet. Der Großvater fungiert als Repräsentant der „längst vergangene[n] Epoche“³⁵ der Befreiungskriege und Folgezeit, Johannes Timpe verkörpert die Zeit der 48er-Revolution, der Sohn Franz Timpe die Gründerzeit. Der     

Kretzer: Meister Timpe, S. 20. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 311. Hervorhebung im Original. Kretzer: Meister Timpe, S. 40. Kretzer: Meister Timpe, S. 176. Kretzer: Meister Timpe, S. 11 und 21.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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topischen Korrelation von Lebensalter und Zeitform folgend, (de‐)allegorisiert die Erzählinstanz die drei Figuren als Verkörperungen dreier Zeitkategorien: „Der Greis stellte die Vergangenheit vor, der Mann die Gegenwart und der Jüngling die Zukunft.“³⁶ Konturiert wird also ein Generationenpanorama, dessen temporale Semantisierung mit einer deiktischen Entschlüsselung einhergeht. In der Transparentmachung allegorischer Bedeutungen bekundet sich ein selbstexegetisches Verfahren,³⁷ das für den Erzähldiskurs prägend ist. Semantische Ambiguitäten, die mit tropisch-figuralen Verfahren einhergehen, werden durch erzählerische Dechiffrierungen eingedämmt, sodass die Deutungsoffenheit der figuralen Sprache unterbunden wird. Mit dieser betonten Luzidität reproduziert die Erzählung auf sprachlicher Ebene einen zentralen Propositionskern der histoire. Die Pointe der Moderneerzählung nämlich besteht in einer Kritik am Bruch mit der „Naivität“ und „biderbe[n] Geradheit“ der Vätergenerationen, an deren Stelle eine gegenwartstypische Herrschaft des „Schein[s] über das Sein“ rücke.³⁸ Mit dieser beklagten Divergenz von inszenierter und realer Erscheinung setzt der Roman ex negativo eine Einheit von Repräsentanz und Identität als positive Norm. Diese Norm wird durch die Selbstauslegung der Erzählung semiotisch eingelöst und veranschaulicht. Das in allegorische Figurationen eingekleidete Referenzobjekt wird erzählerisch entschlüsselt und so zum Demonstrationsmedium des eingeforderten und der Vergangenheit zugeschriebenen Ganzheitszustands, in dem es keine substitutiven Akte und Sinnambiguitäten gibt. Eine ähnliche Verschränkung von Symbolsprache und Dechiffrierung zeigt sich in der zeitdiagnostisch angelegten Raumsemantik des Romans, deren metaphorische Dimension suggestiv entschlüsselt wird: Was dort fiel, war das alte Berlin, der stete Anblick seiner Kindheit, der Märchenduft seiner Knabenjahre. Und jeder Spatenstich, jeder Axthieb und Hammerschlag bereitete seinem Herzen eine Wunde, die ihm brennende Schmerzen verursachte.³⁹

Durch eine figurative Raumsemantik wird auch das Aufstiegssujet an einen plastischen und betont luziden Sprachgestus gekoppelt. Metonymisch spiegelt der konstruierte Raum den dargestellten Aufstieg. Die Aufstiegsfigur wird zur Urheberin, Repräsentantin und Allegorie der „neue[n] Welt“, die wie Urban selbst

 Kretzer: Meister Timpe, S. 21.  Stöckmann spricht von einer „innere[n] Hermeneutik“, in deren Verlauf der Erzähler „das, was erzählt werden soll, als sein unmittelbares Signifikat auftreten lässt“. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 264.  Kretzer: Meister Timpe, S. 21.  Kretzer: Meister Timpe, S. 72.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

„immer gewaltiger und kühner emporstrebt[]“⁴⁰. Ein durch Johannes Timpe fokalisierter Wahrnehmungsbericht führt den „gesellschaftliche[n] Größenwahn“⁴¹ der Figuren mit einer räumlich-temporalen Prozessualität zusammen: Immer höher und höher türmte der Riesenschlot sich von Tag zu Tag auf, und als die Gerüstabnahme beendet war und Timpe zum ersten Mal die steinerne Riesensäule klar und scharf zum Horizont sich abheben sah und mit weit hintenübergebeugtem Haupte zu dem Blitzableiter emporblickte, der sie krönte, erschien sie ihm nun doppelt so hoch, als er anfänglich angenommen hatte.⁴²

Folge dieser Korrelation von Raum und Handlung ist eine tautologische Rekursivität. Die Vorstellung vom Anbruch einer ,neuen Zeit‘, die die Raumsemantik transportiert, wird im Aufstieg Urbans und Franz Timpes und dem parallel laufenden Untergang der Vätergeneration(en) personifiziert und damit auf doppelte Weise – raumsemantisch und sujethaft – in den Erzähldiskurs eingespeist. Es lässt sich hier ein Bogen spannen zu einer Kernfunktion, die das Aufstiegssujet im realistischen Erzählsystem erfüllt hatte. Die Aufstiegsnarration in Meister Timpe setzt ähnlich wie in Soll und Haben eine Metacodierung in Gang, die einem zeitdiagnostischen Funktionshorizont untersteht: Sämtliche Erzählelemente werden durch das Aufstiegssujet auf ein konkretes Signifikat abgestimmt, das ein Charakteristikum der ,neuen Zeit‘ benennen soll. Während es in Soll und Haben die Subjektivation als wirtschaftender Bürger ist, die als Metacode fungiert, macht Meister Timpe den Aufstieg selbst zum Ausgangspunkt der narrativen Sinnbildung. Der Konnex zwischen der raumsemantischen Ebene und dem Aufstiegssujet verfestigt sich durch Anthropomorphisierungen, wenn es etwa heißt, dass die „alles überragenden“ Fabrikschornsteine „dunkel und schweigsam zum Himmel starrten“⁴³, oder wenn Aufstiegs-, Alters- und Zeitsemantiken in die räumlichen Beschreibungen einfließen: Ein mehrstöckiges Gebäude überragt die „vorväterlichen Wohnstätten“ wie ein „schlank gewachsener Jüngling zusammengeschrumpfte Greise“ und verkündet so den „Segen der neuen Zeit“⁴⁴. Das Pendant zu diesen Personifikationen bilden Analogisierungen von Raum und Handlung. Wie sein Bewohner Timpe wird das Haus zum „alte[n] Sonderling, der der Neuerung trotzt“⁴⁵, und erscheint den Betrachter*innen als „Unikum, das die

     

Kretzer: Meister Timpe, S. 175. Kretzer: Meister Timpe, S. 108. Kretzer: Meister Timpe, S. 128. Kretzer: Meister Timpe, S. 70. Kretzer: Meister Timpe, S. 3. Kretzer: Meister Timpe, S. 164.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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Lächerlichkeit geradezu herausforderte“⁴⁶. Der Untergang des Hauses und der Verfall der Figur korrelieren und lassen die Grenze von Innen- und Außenwelt verfließen.⁴⁷ Gegen Ende, wenn Timpes Verfall besiegelt wird, ist das Haus eine „Trümmerstätte“ mit „durchlöcherte[r] Wand“⁴⁸. Die aktanzielle Narrativität, die die räumlichen Szenarien durchdringt, steigert sich durch eine raumsemantische Manifestation darwinistischer Gedanken. Agonale Semantiken transponieren den naturalistischen Daseinskampftopos, der durch die Aufstiegs- und Untergangsszenarien auf Handlungsebene ausagiert wird, in die räumliche Konstruktionsebene und lassen den darwinistischen Bezugsrahmen der histoire unmittelbar präsent werden. Dabei wird auch der Verlust des ,ganzen Hauses‘ expressis verbis vorgeführt: Das Getöse der Dampfmaschine kam ihm dann wie das dumpfe Aechzen hundert zu Tode getroffener Männer vor; und das leise Zittern des Erdbodens wie das Nahen einer verderbenbringenden Gewalt, die dereinst das ganze Haus verschlingen würde.⁴⁹

In dem dramatisch proklamierten Ende des ,ganzen Hauses‘ kündigt sich ein spezifisches Funktionspotenzial an, das dem Erzählschema des Aufstiegs in Kretzers Roman zukommt. Der soziale Aufstieg konsolidiert nicht die oikonomische communitas, wie es im Realismus der Fall gewesen war, sondern begründet deren Untergang. Die Grenzen, die für das oikonomische System konstitutiv sind, werden durch die Aufstiegsfiguren etappenweise durchkreuzt und destabilisiert. Zunächst lässt eine „klaffende Oeffnung“⁵⁰ in der Mauer, die das Haus der Timpes vom Grundstück Urbans abgrenzt, die Sphäre der Moderne symbolisch in die Welt des oikos einbrechen. Als Eindringling übertritt Urban die Grenze zur „verschlossene[n] Welt“⁵¹: „Wenn Sie erlauben, überschreite ich die feindliche Grenze.“ Bevor noch der verlegene Meister Timpe ein zuvorkommendes „Bitte, bitte recht sehr,“ ganz zu Ende bringen konnte, hatte Herr Ferdinand Friedrich Urban sich bereits mit der größten Rücksicht auf seinen Zylinderhut durch die Oeffnung gezwängt und mit einem Sprunge die Beete überschritten.⁵²

 Kretzer: Meister Timpe, S. 245.  Zur Entgrenzung von Innen- und Außenraum vgl. Christof Forderer: Die Großstadt im Roman. Berliner Großstadtdarstellungen zwischen Naturalismus und Moderne. Wiesbaden: Springer, 1992. S. 216.  Kretzer: Meister Timpe, S. 326. Vgl. dazu Forderer, S. 216.  Kretzer: Meister Timpe, S. 157 f.  Kretzer: Meister Timpe, S. 48.  Kretzer: Meister Timpe, S. 127.  Kretzer: Meister Timpe, S. 38 f.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

Neben Urban figuriert Franz Timpe als ordnungszerstörender Grenzgänger. Auch der ausdrücklich als „Ueberläufer“⁵³ titulierte Franz Timpe verschafft sich durch das Mauerloch Zugang zum benachbarten Grundstück und verlässt damit die „abgeschlossene Idylle“⁵⁴ des häuslich-familiären Raums, was im weiteren Erzählverlauf durch die topographische Lokalisierbarkeit der Aufstiegsnarration forciert wird:⁵⁵ Dem Eintritt in den benachbarten Garten folgen der Zugang in das Interieur der Urbans, der Auszug aus dem Elternhaus und schließlich die Übersiedlung in den vom Handlungsschauplatz (der Gegend um die Holzmarktstraße) weiter entfernten Stadtteil Friedrichshagen. Die in der Aufstiegsfigur versinnbildlichte Diskontinuität wird damit raumsemantisch zementiert. Die Unterschiede zur realistischen Aufstiegsnarration gehen noch weiter. Indem Kretzers Roman den Aufstieg mit einer Verschuldung korreliert, führt er die Analogie von Wirtschaft und Kultur, die die realistischen Aufstiegserzählungen im Einklang mit der Nationalökonomie vorgenommen hatten, ad absurdum. Besonders deutlich bekundet sich dieser Bruch mit der tradierten Metonymisierungsstrategie in einem Demontageverfahren. Franz Timpe wird die aus der realistischen Literatur und nationalökonomischen Theorie bekannte Vorstellung vom Kaufmann als Kulturstifter in den Mund gelegt: „Wir“ Kaufleute sind die eigentlichen Macher – Pardon, wenn ich mich zu sehr geschäftsmäßig ausgedrückt habe – ich wollte sagen, die einzigen Erlöser der bedrängten Menschheit. „Wir“ bauen mit unserem Gelde Leuchtthürme, Paläste, ganze Städte, „wir“ geben der Armuth Brod, „wir“ verhelfen den Bürgern zum Wohlstande, an „uns“ wenden sich Könige und Kaiser, wenn sie in Noth sind und Geld gebrauchen.⁵⁶

Die Messianisierung wirtschaftlichen Handelns dient an dieser Stelle als Gegenstand einer parodistischen Inversion. In der Erzählwelt von Meister Timpe setzt die Gestaltungsmacht des Kaufmanns keine Kulturalisierung in Gang, sondern verursacht unwiderrufliche Zertrümmerungen. Der pathetische Sprecher Franz Timpe figuriert nicht als Erlöser, sondern als Zerstörer, dem die Schuld am Tod des Großvaters gegeben wird. Auch im Falle Urbans führt das unternehmerische Handeln nicht zu einer Kulturalisierung, sondern wirkt dieser entgegen. Mit antisemitischem Unterton kehrt die Erzählung das Banausentum des Industriellen

 Kretzer: Meister Timpe, S. 54.  Kretzer: Meister Timpe, S. 27.  Vgl. dazu das Kapitel „Verdrängungsopfer des Fortschritts in der Holzmarktstraße. Max Kretzers Meister Timpe (1888)“ in Hinrich C. Seeba: Berliner Adressen. Soziale Topographie und urbaner Realismus bei Theodor Fontane, Paul Lindau, Max Kretzer und Georg Hermann. Berlin/ Boston: de Gruyter, 2018. S. 89 – 118.  Kretzer: Meister Timpe, S. 56.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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mit der „lange[n], spitze[n] Nase“⁵⁷ hervor, dessen betonte Kulturlosigkeit sich auch sprachlich artikuliert. Der Rede Urbans wird ein semantischer Mehrwert abgesprochen, was den auf die Moderne projizierten Sinnverlust rhetorisch illustriert. Spöttisch weist die Erzählinstanz auf Urbans „Vorliebe für Anwendungen von Interjektionen“⁵⁸ hin, die sich auch in der phrasenhaft durchzogenen und interjektiven Rede der Figur niederschlägt. Neben dem Kulturalisierungsnarrativ wird die Verklärungsästhetik, die dem realistischen Aufstiegssujet zugrunde gelegen hatte, unterbunden. Ein parodistisch angelegter Dialog zwischen Franz Timpe und seiner späteren Ehefrau macht den Aufsteiger ausdrücklich zum Repräsentanten „prosaische[r] Anschauungen“⁵⁹, denen seine Gesprächspartnerin zum Vorwurf macht, „daß aus reiner Spekulation alle Poesie verschwinden soll“⁶⁰. Mit der tadelnden Aussage „Weil die Bäume nicht rechnen können, sollen sie fallen“⁶¹ lässt die Figur die Rede Sabine Schröters anklingen, die der materialistischen Wertdoktrin Finks mit den Worten begegnet war „O es ist traurig, das Leben in ein solches Rechenexempel aufzulösen.“⁶² An anderen Stellen ist es eine gleichermaßen intertextuell erzeugte Inversion, durch die der Roman das Ende der Verklärungsästhetik markiert und die kulturkritische Modernenarration in eine poetologische Verlusterzählung überführt. Der idealrealistische Tiefenblick, den Soll und Haben vorgeführt und propagiert hatte, wird in Meister Timpe symbolisch zu Grabe getragen. Zu Erzählbeginn verfügen die Timpes über eine „Warte“⁶³: Ein Auslug in der Dachluke verschafft ihnen einen panoramatischen Überblick über die Umgebung. Diese Totalitätsperspektive geht im weiteren Erzählverlauf verloren. In einem erneuten Gestus immanenter Selbstauslegung lässt der Roman Timpe als Beobachter des Totalitätsverlusts auftreten, den die Erzählung raumsemantisch andeutet: „Die großen Fabriken sind der Ruin des Handwerks, nur sie ganz allein,“ begann er. „Es wird eines Tages keine Handwerker mehr geben, nur noch Arbeiter. Und das wird der Untergang des Staates und des gesunden Bürgerthums sein. Wenn das Haus seine Hauptstütze verliert, bricht es in sich zusammen. […] Der eine fertigt jahraus, jahrein diesen Theil an und der Andere jenen, aber Keiner hat eine Ahnung vom Ganzen. […].“⁶⁴

       

Kretzer: Meister Timpe, S. 38. Kretzer: Meister Timpe, S. 62. Kretzer: Meister Timpe, S. 64. Kretzer: Meister Timpe, S. 59. Kretzer: Meister Timpe, S. 59. Freytag: Soll und Haben, S. 269. Kretzer: Meister Timpe, S. 25. Kretzer: Meister Timpe, S. 145.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

Das idealrealistische Ganzheitsideal wird hier in eine Verlustgeschichte eingewoben, die poetologische und zeitdiagnostische Deutungsschemata verbindet und damit die referenzielle Doppelausrichtung der realistischen Aufstiegsnarration in das naturalistische Erzählsystem überführt. Der Verlust, den der Roman betrauert, ist ein zweifacher: Neben den Klagen über den Niedergang des ,ganzen Hauses‘ und den Zerfall stabilitätsgewährender Kontinuitäten steht eine Lamentation über die verlustig gegangene Tragbarkeit poetischer Ideale. Den Ausgangspunkt der Verlusterzählungen bildet eine in das Aufstiegssujet eingelagerte Wirtschaftsanthropologie, die die im Realismus evozierte Doktrin poetischer Gerechtigkeit negiert. Der Aufstiegserfolg in Meister Timpe vergilt nicht die moralische Integrität der kaufmännischen Akteure, sondern ihr effizientes Wirtschaften. Detailliert beschreibt die Erzählinstanz das „Geheimniß der Fabrikationsweise“⁶⁵, das Urbans rasanten Aufstieg begründet und an die Produktionsund Vertriebspraktiken des Warenhausleiters in Au Bonheur des Dames (1883) erinnert: Er ging darauf aus, die kleinen Konkurrenten durch alle nur erlaubten Mittel todt zu machen. […] Er stellte seinen Abnehmern die möglichst besten Bedingungen, und selbst solche Arbeiten, deren Herstellung ihm ebenso theuer kam wie den kleinen Fabrikanten, lieferte er den Kunden billiger als diese, wenn auch der Profit ein ganz geringer war. Er ging dabei von dem Grundsatz aus, daß der Verlust an dem einen Fabrikat durch den dreifachen Gewinn am anderen gedeckt werden müsse. Es lag ihm hauptsächlich daran, die Abnehmer an sich zu fesseln, seine Fabrik zum Monopol für den ganzen Bedarf zu machen. […] „Die Masse muß es bringen“, sagte er sich.⁶⁶

Bezeichnenderweise wurden dieselben Wirtschaftspraktiken, die die fiktive Figur Friedrich Urban zum Einsatz bringt, im frühen zwanzigsten Jahrhundert von Werner Sombart theoretisch reflektiert. In seiner 1913 erschienenen Abhandlung Der Bourgeois, die der Untertitel als Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen präsentiert, hält Sombart schlagwortartig die Kennzeichen der kapitalistischen Wirtschaftsweise fest: „Steigerung der Produktion – Lieferung immer größerer Mengen von Gütern zu den billigsten Preisen – riesige Absatzziffern – riesige Verkehrsziffern […].“⁶⁷ Sombarts weitere Ausführungen zu den Merkmalen der kapitalistischen Wirtschaft lesen sich wie eine Rekapitulation dessen, was Meister Timpe literarisch ausgestaltet. So schließt etwa Sombarts Annahme eines „starke[n] Interesse[s] am Neuen, das in den modernen Menschen lebt und sie

 Kretzer: Meister Timpe, S. 185.  Kretzer: Meister Timpe, S. 154 f.  Werner Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. München/Leipzig: Duncker & Humblot, 1913. S. 221.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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immer wieder Neues erstreben und aufsuchen läßt“⁶⁸, an das Bild einer gesteigerten Sensationslust an, das sich in Kretzers Roman an die Figurenzeichnung Urbans koppelt: Er wußte, daß das Publikum stets das Neue liebte. So war er denn rastlos in dem Bestreben, seine Kunden von Zeit zu Zeit mit irgendeiner ,Nouveauté‘ zu überraschen, die er entweder nach ausländischem Muster hergestellt oder selbst verfertigt hatte.⁶⁹

Die Parallelen zwischen den Unternehmerzeichnungen Sombarts und Kretzers sind vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie den neuen wirtschaftsanthropologischen Bezugsrahmen sichtbar machen, der die Aufstiegsnarration im Naturalismus fundiert. Protagonist der naturalistischen Aufstiegsnarration ist kein bürgerlicher Kaufmann, der es durch Integrität und Leistung zum Erfolg bringt, sondern ein kapitalistischer Unternehmer, der sich bei seinem Wirtschaften an die Regeln des modernen Zeitregimes anpasst. Indem Kretzers Roman die Aufstiegsnarration auf ein temporalitätszentriertes Unternehmerbild abstimmt und mit einer Fehde gegen die moralisch verworfene Moderne verbindet, setzt er in der deutschen Imaginationsgeschichte des Selfmademans naturalismustypische Akzente. Diese naturalistische Neucodierung nimmt in der Folgezeit neue Dimensionen an. Als Beispiel lässt sich Curt Grottewitz’ Roman Eine Siegernatur (1892) anführen. Der moralische Bezugshorizont, der den selfmade-Topos in Meister Timpe gesteuert hatte, wird bei Grottewitz suspendiert. Verankert im darwinistischen Verweisungshorizont der Zeit, zelebriert die Aufstiegserzählung in Eine Siegernatur den Triumph des ,Starken‘ über den ,Schwachen‘, wobei eine Nähe zu zeitgenössischen Evolutionstheorien kaum zu übersehen ist. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Grottewitz mit Alexander Tille, dem prominenten Propagator sozialdarwinistischer Ideologeme,⁷⁰ bekannt gewesen ist. 1890 haben beide die gemeinsam verfasste Schrift Sonnenaufgang! Die Zukunftsbahn der Neuen Dichtung veröffentlicht. Die darin aufgestellte Forderung nach einer „positiven Ethik […], die stählt und hebt und zur Gesundung führt an Leib und Geist“⁷¹, lässt sich in Bezug zu Grottewitz’ Roman setzen. Sein Handlungsträger ist ein prototypischer Aufsteiger, der vom Knecht zum Leiter eines Gutshofs avanciert und dabei von einem „stolze[n]

   

Sombart: Der Bourgeois, S. 225. Kretzer: Meister Timpe, S. 155. Vgl. zu Tilles Evolutionstheorie Kapitel 2.3 im ersten Teil der vorliegenden Studie. Grottewitz und Lauenstein, S. 31.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

Kraftbewußtsein und vibrirende[n] Lebensgefühl“⁷² geleitet wird. Zurückgeführt wird die soziale Grenztransgression auf eine Hostilität zwischen den herrschenden und dienenden Schichten des agrikulturellen Milieus: Aber im Grunde waren sie ihm verhaßt, diese Bauern, die die Kraft des Gesindes aussaugten und sich von dessen Blute nährten, die nicht klüger waren als die Knechte, und die doch die Macht in den Händen hatten, diejenigen, die nicht reich geboren waren, zu knechten, lebenslang zu knechten.⁷³

In seinem Hass auf die vampirisierte Oberschicht erinnert Franz Bohle an den Aufsteiger Julien Sorel aus Stendhals Le Rouge et le Noir (1830) und an den Protagonisten aus Max Halbes Drama Ein Emporkömmling (1889), das drei Jahre vor dem Roman erschienen ist und bei einer ähnlich agonalen Relationsdarstellung ansetzt.⁷⁴ Auch eine Nähe zu Meister Timpe fällt ins Auge. Wie Urban bricht der Protagonist bei Grottewitz mit überlieferten Produktionsweisen und führt auf dem Gutshof, an dem sich sein Aufstieg vollzieht, grundlegende Modernisierungen durch: Franz hatte das Prinzip der modernen Wirtschaftsweise bald erkannt. Es kam darauf an, auf der einen Seite die immer höhere Löhne fordernden Arbeiter entbehrlicher und deshalb gefügiger zu machen und auf der anderen Seite durch Massenherstellung die Produktion billiger und dadurch absatzfähiger zu gestalten. […] [M]an würde staunen, wie er höher und höher stieg und aus der alten ländlichen Patriarchenwirtschaft eine moderne rationelle Produktion schuf, die ein ganz neues Aussehen hatte.⁷⁵

Bezeichnenderweise hat Grottewitz zwei Jahre vor dem Erscheinen von Eine Siegernatur den beschriebenen Prozess der wirtschaftlich-technischen Modernisierung zum Kerngegenstand einer zukünftigen, von Dekadenz bereinigten Literatur erklärt: Ein Dichter der Zukunft wird einen jungen Bauernsohn schildern, der, mit moderner Bildung vertraut, die Errungenschaften der neuzeitlichen Maschinentechnik seinen Agrikulturzwe-

 Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 219.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 50.  Vgl. Max Halbe: Ein Emporkömmling. Sociales Trauerspiel in 4 Aufzügen. Berlin: Fischer, 1889. Auch Halbes Drama ist im agrikulturellen Milieu situiert, wo sich der Bauer Gottfried Kuhn vom mittellosen Knecht zum reichen Großbauern hochgearbeitet hat. Das Rachemotiv setzt hier jedoch später ein. Auf der Spitze des Erfolgs angelangt, sucht sich Kuhn an Figuren, die ihm vor dem Aufstieg sozial überlegen waren, für einstige Demütigungen zu rächen.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 113 f.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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cken dienstbar macht und in den finsteren Gässchen eines schmutzigen Dorfes das Licht der städtischen Kultur verbreitet.⁷⁶

Unschwer lässt sich in dieser Aussage ein Verweis auf den kurze Zeit später erschienenen Roman erkennen. Das Verbreiten von Licht wird in Eine Siegernatur sogar wörtlich dargestellt: Eine vom Protagonisten beschaffte Petroleumlampe soll dem Gutshof Licht bringen. Der Aufsteiger figuriert damit als Lichtstifter, was hinsichtlich erzählerischer Resonanzeffekte von Bedeutung ist. Das Motiv der Lichtbringung lässt den aufstrebenden homo oeconomicus als Fortschritts- und Kulturträger erscheinen, womit der Roman ebenjene Analogie von Wirtschaft, Fortschritt und Kultur proklamiert, die sich in realistischen Aufstiegserzählungen abgezeichnet hat. Zugleich verstärkt sich die Verbindungslinie zu den evolutionstheoretischen Abhandlungen des späten neunzehnten Jahrhunderts, die ebenfalls das survival of the fittest als Triebfeder des Fortschritts deuten.Vor allem für Herbert Spencer ist die Verknüpfung von Fortschritts- und Kampfmotiv theorieleitend.⁷⁷ Auch bei Ernst Haeckel, den Grottewitz nachweislich rezipiert hat,⁷⁸ gehen ,Daseinskampf‘ und Fortschritt Hand in Hand: Dasselbe Gesetz des Fortschritts finden wir dann weiterhin in der historischen Entwickelung des Menschengeschlechts überall wirksam. Ganz natürlich! Denn auch in den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen sind es wieder dieselben Principien, der Kampf um das Dasein und die natürliche Züchtung, welche die Völker unwiderstehlich vorwärts treiben und stufenweise zu höherer Cultur emporheben.⁷⁹

 Curt Grottewitz [1890]: Wie kann sich die moderne Literaturrichtung weiterentwickeln? In: Wunberg, Gotthart (Hrsg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971. S. 58 – 62, hier S. 61.  Vgl. Vogt, S. 109. Vgl. außerdem Peter-Ulrich Merz-Benz: Soziologie und Sozialwissenschaften. In: Sarasin, Philipp; Sommer, Marianne (Hrsg.): Evolution. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: Springer, 2010. S. 313 – 326, hier S. 314.  Vgl. Peter Morris-Keitel: Of No Commercial Value: The Green Hero Curt Grottewitz (1866 – 1905). In: Brockmann, Stephen; Steakley, James: Heroes and Heroism in German Culture. Amsterdam/New York: Rodopi, 2001. S. 39 – 62, hier S. 44. In einem 1897 erschienenen Aufsatz nimmt Grottewitz ausdrücklich auf Haeckel Bezug. In Haeckels naturwissenschaftlichen ,Erkenntnissen‘ sieht Grottewitz den Ausgangspunkt für eine Korrektur der nietzscheanischen Herrenmoral-Lehre. Vgl. Curt Grottewitz: Nietzsches Herrenmoral und die Naturwissenschaft. In: Magazin für die Literatur des Auslandes. Jg. 66 (1897), S. 1519 – 1524. Diese Perspektive hat Grottewitz kurze Zeit später revidiert: „Es fragt sich aber, ob man überhaupt aus der Naturwissenschaft Folgerungen für die Ethik und Politik ziehen kann“, heißt es in einem 1901 erschienenen Aufsatz. Vgl. Curt Grottewitz: Socialistisches aus der Natur. In: Socialistische Monatshefte, 1901. S. 615 – 621, hier S. 615.  Ernst Haeckel: Ueber die Entwickelungstheorie Darwin’s. Vortrag gehalten am 19. September 1863 in der ersten allgemeinen Sitzung der 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

In Grottewitz’ Roman wird das darwinistische Fortschrittscredo auf mehreren Erzählebenen veranschaulicht.⁸⁰ Nicht nur einzelne Motive wie die Lichtbringung assoziieren die Modernisierung und den ökonomischen ,Kampf ums Dasein‘ mit Fortschritt und Kulturalisierung. Das Aufstiegsschema selbst bringt die Vorstellung eines stufenweisen Emporhebens „zu höherer Cultur“ strukturell zur Anschauung. Aufstieg ist dabei immer in einem doppelten Sinne zu verstehen: als ,Emporkommen‘ des Protagonisten, der sich selber ,vorwärts‘ bringt, und als Aufstieg moderner Lebens- und Produktionsverhältnisse. Die Metonymisierung von Figurentypus und Moderne steigert sich durch eine spezifische Erzählstrategie. Affinitätsmarkierungen und Anthropomorphisierungen stiften Verbindungen zwischen dem Selfmademan und der Maschine, dem topischen Modernitätssymbol des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Maschinen, die „gehorsam und pflichtgetreu ihre Arbeit verrichteten“⁸¹, erwecken im Protagonisten ein „Gefühl der Teilnahme“⁸², das die Erzählung in einem analogisierenden Wahrnehmungsbericht veranschaulicht. Ein Nacheinander von somatischer Affizierung, visueller Reizerfassung, auditiver Wahrnehmung und assoziativer Sinnzuschreibung suggeriert eine ganzheitliche Identifikation der Figur mit der maschinisierten Außensphäre:⁸³ Und manchmal war es ihm wie ein Prickeln und Jucken in den Adern, und dann sah er Dampf aus den Kesseln steigen und hörte Räder rasseln und Treibriemen schwirren, und die ganze Zeit schien ihm wie verkörpert in einer großen mächtigen Maschine, in der ein Rad das andere trieb und jeder Teil auf den anderen angewiesen war, und alles, das Kleine wie das Große zusammenhielt und zusammenstand in nerviger, welterobernder Arbeit.⁸⁴

zu Stettin. In: Ders.: Gesammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Entwickelungslehre. Oxford: James Parker & Co, 1878. S. 1– 28, hier S. 24 f.  Vom darwinistischen Gedankengut, das den Roman durchzieht, hat sich Grottewitz später entschieden distanziert. „Nach meiner Ansicht ist Darwins Lehre im wesentlichen unrichtig und im ganzen übertrieben“, heißt es in einem 1901 erschienenen Aufsatz. Vgl. Grottewitz: Socialistisches aus der Natur, S. 615. Gerade dem Topos des ,Daseinskampfes‘ widerspricht Grottewitz: „Die Concurrenz, der Kampf aller gegen alle, der massenhafte Untergang von weniger geeigneten Individuen, das Aussterben ungezählter Abarten, alles das giebt es in der Natur gar nicht oder doch nur in so beschränktem Masse, dass man von einem darwinistischen Princip der Naturentwickelung gar nicht reden kann.“ Vgl. Grottewitz: Socialistisches aus der Natur, S. 618.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 115.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 115.  Zur semantischen Verschränkung von Mensch und Maschine in Grottewitz’ Roman vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 115.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 115 f.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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Der unmittelbare Verweis auf die moderne Zeit lässt die Symbolfunktion der Maschine transparent werden. Derartige Entschlüsselungen sind für Grottewitz’ Roman charakteristisch. An die Stelle symbolischer Einkleidungen und narrativer Transkriptionen treten unverhüllte Sinnaufzeigungen. Besonders deutlich zeigt sich dies gegen Ende der Erzählung. Entfaltet wird eine deiktisch dechiffrierte „Allegorie der Moderne“⁸⁵, die über symbolisch beladene Sinneseindrücke den vorhergehenden Handlungsverlauf Revue passieren lässt und ihn ins allgemeine Zeitgeschehen generalisiert: Und dann warf Franz stolz seine Blicke über die Ebene. Ringsum auf den Fluren standen die Mähder und die Mähderinnen und mühten sich ab mit ihren unvollkommenen Werkzeugen, Herr zu werden der ungezählten Millionen von Halmen. […] Und das schneidende Klingen der Sensen und das Rascheln der Sicheln vermischte sich mit dem lauten Klirren der Maschine. Es war, als wenn sich ein Kampf entspänne zwischen diesen Tönen und als wenn die alten Gerätschaften verstummen müßten vor diesem ungewohnten Klirren der Maschine.Wie der Vorbote einer neuen, anders gearteten Zeit leuchtete die rote Maschine herüber über die Ebene.⁸⁶

Abermals dient an dieser Stelle die Maschine als Mittel einer modernitätsemphatischen Totalitätsevokation. Im fokalisierten Blick der Erzählinstanz wird der von der Maschine beherrschte Raum zum Ausdrucksträger dessen, was der Roman auf Handlungsebene permanent zum Ausdruck bringt: der Triumph des Neuen gegenüber dem Alten. Wechselseitig bespiegeln sich folglich die räumliche descriptio und die handlungsbildende narratio. Es zeigt sich hier eine reziproke Hermeneutik, die auch das Narrationsmuster des Aufstiegs bestimmt. Was dem Protagonisten über das Aufstiegsschema zugeschrieben wird, spiegelt sich in der ihn umgebenden Natur: Still und vornehm lagen die Bauerngüter da, als wenn sie sich ihrer Macht bewußt wären, zahllose Stoppelfelder dehnten sich aus und gaben Kunde von dem Reichtum, der aus ihnen hervorgegangen war, und der Rauch, der hier und da aus den Schornsteinen der Häuser stieg, erzählte von Glück und wohlgenährtem Behagen.⁸⁷

Der Erzählgehalt des Aufstiegssujets reproduziert sich an dieser Stelle in der Raumsemantik, sodass der Eindruck einer semantischen Geschlossenheit entsteht. Eine ähnliche Einheitssuggestion schlägt sich auf struktureller Ebene nieder. Eine kraft- und körpersemantische Überformung des Geschehens abstrahiert

 Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 115.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 220 f.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 46.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

die Handlungsträger*innen zu „Korrelate[n] in einer Grammatik der Kräfte“⁸⁸, deren narrative Darstellung eine rein illustrative Funktion erfüllt. Sämtliche Figuren sind auf einer Skala angesiedelt, die von krankhafter Schwäche – vertreten durch die Schwägerin des Protagonisten – bis hin zu einer unerschöpflichen Kraftkapazität – repräsentiert durch den Aufsteiger Franz Bohle – reicht. Eine elementare Anziehungskraft besteht zwischen den Figuren, die über vergleichbare Kraftkapazitäten verfügen, wie dem Protagonisten und der Großmagd Marie: [E]r empfand auch etwas wie eine unbewußte Hinneigung zu ihr, eine unter der Asche glimmernde Leidenschaft für sie, weil sie so stark und lebenszäh war wie er selber.⁸⁹

Die Relation zwischen dem Protagonisten und seiner zweiten, körperlich schwachen Ehefrau dagegen ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt: Er [d.i. Franz] konnte im ganzen die Kranken nicht ausstehen, alles Ungesunde, Welke, Kraftlose war ihm sehr zuwider, und er mied sie, so oft der Rheumatismus bei ihr wieder ausbrach.⁹⁰

Im Erzählfokus stehen folglich keine fiktiven Individuen, sondern Kraftvorstellungen, als deren Figurationen die Handlungsträger*innen in Erscheinung treten.⁹¹ Konstruiert wird eine Fiktionswelt, die über reine Kraftrelationen bestimmt wird. An die Stelle interagierender Subjekte tritt eine Selbstbewegung energetischer Entitäten, sodass sich die Erzählung als direkte Anschaulichwerdung ihrer Präsuppositionen gerieren kann.⁹² Die Differenz von Handlungs- und Bedeutungsebene wird in diesem Sinne simulativ aufgehoben. Den Ausgangspunkt für diese einheits- und kraftemphatische Erzählkonfiguration bilden elementarisierte Körperbilder. Die Isotopie des Körpers, die die Handlungsträger*innen als Äquivalente einer skalierbaren Kraft markiert, verstärkt den Eindruck der Unmittelbarkeit, durch den der Erzähldiskurs die eigene Medialität negiert. Zugleich setzen die kraftzentrierten Körperbilder eine Entpsychologisierung in Gang, die die einförmige Motivationsstruktur der Aufstiegsnarration bedingt. Sämtliche Ereignisse in der erzählten Welt gehen aus der Aufstiegsambition des Protagonisten hervor. Diese Aufstiegsambition wird in einen unmittelbaren Bezug zu seinem Kraftpotenzial gesetzt. Mit seiner „energischen Arbeit und seinem rastlosen Thun und Streben“ folgt der Protagonist dem Trieb, seiner „urwüchsige[n]     

Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 114. Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 9. Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 103. Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 112 f. Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 115.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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Natur […] einen Ausgang zu verschaffen“⁹³. Weitere Motive werden ebenso wie innere Konflikte ausgeblendet. Es zeigt sich hier abermals eine Verbindungslinie zur Programmschrift Sonnenaufgang, die sämtliche Eigenschaften auf das Walten eines elementaren Krafttriebs zurückführt: In dem Menschen giebt es wie in jedem Wesen der höheren Tierwelt nicht vier und nicht acht Grundtriebe, sondern zwei. Und diese sind der Trieb der Kraftbethätigung und der Geschlechtstrieb. Selbsterhaltung, Gattungserhaltung sind Ziele, Zwecke. Selbstsucht, Ehrgeiz, Stolz sind nur Modifikationen des Triebes der Kraftbethätigung.⁹⁴

Dass die biologistisch plausibilisierte Vorstellung eines natürlichen Triebs zur Kraftbetätigung in Eine Siegernatur illustriert wird, lässt einen zentralen Aspekt der Neucodierung hervortreten, die der Selfmademan im naturalistischen Erzählsystem erfährt. Hatte sich das realistische selfmade-Narrativ vornehmlich über soziale Relationen und deren temporale Semantisierungen konfiguriert, insofern der zukunftsorientierte Bürger mit dem vergangenheitsverhafteten Aristokraten kontrastiert worden war, so basiert die naturalistische Aufstiegs- und Untergangsdynamik auf einer Differenzsetzung von Kraft und Schwäche, an die sich die Dichotomien von Fortschritt und Degeneration, Gesundheit und Krankheit sowie Leben und Tod koppeln. Im Zeichen dieser Polarisierungen rückt an die Stelle sozialer Stereotype eine thermodynamische Referenzialität, die die herkömmlichen Verbindungs- und Kontrastlinien des Selfmademans verschiebt. Gegenpol des Selfmademans ist nicht mehr der Aristokrat, dem die Zukunftsoffenheit des Bürgers abgeht, sondern der Kranke und Schwache, dem es an Kraftressourcen mangelt und der so den behaupteten Erfordernissen der Zeit nicht gerecht zu werden vermag. Der Gedanke eines notwendigen Konformgehens mit der Zeit wird folglich fortgeschrieben, doch verschieben sich die Zuschreibungen: Ob das zeitliche Konformgehen gelingt, hängt nicht mehr vom sozialen Status ab, sondern von der Beschaffenheit des Körpers. Dass die Selbstbehauptung des Stärkeren nicht nur als Notwendigkeit, sondern zugleich als Schlüssel zum Fortschritt ausgewiesen wird, lässt die folgenreiche Stoßrichtung erkennbar werden, die das selfmade-Narrativ im Naturalismus einschlägt. Von dem Gedanken, dass ein allgemeiner Fortschritt von einer kraftvollen männlichen Subjektivität getragen wird, führt nur ein kleiner Schritt zu der Vorstellung, dass diejenigen, die der körper- und kraftbezogenen Subjektivationsnorm nicht gerecht werden, den Fortschritt behindern und – führt man die euthanastische Argumentationslinie zu Ende – ,ausgeschaltet‘ werden  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 196.  Lauenstein und Grottewitz, S. 36.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

,müssen‘. Dieser Gedanke hat eine lange Tradition: Schon 1770 plädiert Paul Henry Thiry d’Holbach in seinem Système de la Nature für eine Selbstausschaltung desjenigen, dessen gesellschaftliche ,Nützlichkeit‘ verloren gegangen ist:⁹⁵ „[…] Qu’il renonce à la société, au bonheur de laquelle il ne peut plus travailler.“⁹⁶ Im neunzehnten Jahrhundert ist es unter anderem Eugen Dühring, der in seinem Cursus der Philosophie (1875) Veredelungs- und Eliminationsgedanken zusammenführt:⁹⁷ Neben dem Streben nach „Vervollkommnung des menschlichen Typus“ und der damit verbundenen „positive[n] Fürsorge für die edleren Combinationen“ müssen Dühring zufolge „zerstörende[] Mächte“ walten, die die „Fortexistenz“ der „ungünstigen Mischungsgebilde“ verhindern.⁹⁸ Der Gedanke, dass nicht nur Züchtungsprogramme, sondern kategorische Ausschaltungen für eine ersehnte gesellschaftliche Regeneration vonnöten seien, wurde bekanntlich auch durch Nietzsche populär. In dessen nachgelassenen Fragmenten heißt es: Die Gesellschaft, als Großmandatar des Lebens, hat jedes verfehlte Leben vor dem Leben selber zu verantworten, – sie hat es auch zu büßen: folglich soll sie es verhindern. Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen: sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maßregeln, Freiheitsentziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft halten. – Das Bibel-Verbot „du sollst nicht tödten!“ ist eine Naivetät im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: „ihr sollt nicht zeugen!“ … Das Leben selbst erkennt keine Solidarität, kein „gleiches Recht“ zwischen gesunden und entartenden Theilen eines Organismus an: letztere muß man ausschneiden – oder das Ganze geht zu Grunde. – Mitleiden mit den décadents, gleiche Rechte auch für die Mißrathenen – das wäre die tiefste Unmoralität, das wäre die Widernatur selbst als Moral!⁹⁹

Dass Grottewitz die darwinistischen und euthanastischen Ideologeme teilt, zeigt sich unter anderem in einer Passage aus Sonnenaufgang, die die Schlagworte

 Vgl. Johannes F. Lehmann: Zorn, Rache, Recht. Zum Bedingungsverhältnis zwischen Affektund Straftheorie (von der Aufklärung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts). In: Bergengruen, Maximilian; Borgards, Roland (Hrsg.): Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Göttingen: Wallstein, 2009. S. 177– 226, hier S. 224.  Vgl. Holbach, S. 302.  Vgl. Lehmann: Zorn, Rache, Recht, S. 224 f.  Eugen Dühring: Cursus der Philosophie als streng wissenschaftlicher Weltanschauung und Lebensgestaltung. Leipzig: Erich Koschny, 1875. S. 244 f.  Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente. Anfang 1888 bis Anfang Januar 1889. In: Colli, Giorgio; Montinari, Mazzino (Hrsg.): Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Achte Abteilung, Bd. 3. Berlin/New York: de Gruyter, 1972. S. 409 f.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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einer ausdrücklich an Nietzsche anschließenden Denkrichtung zusammenfasst und in ihren aufgerufenen Semantiken präfaschistische Züge trägt:¹⁰⁰ Für die beginnende Entwicklungsära ist die Losung: „Kraftfülle“, „gesundes Rassetum“, „Stärkebehagen“; „Weltfreude“: Wir haben mit der „Sklavenmoral“ (Nietzsche), mit den „Sklaventugenden“: Geduld, Demut, Bettelstolz, „Weltverlästerung“ gebrochen, wir haben uns die Herrentugenden Streitlust, „Rassestolz“; „Glanzfreude“, „Weltlust“ angewöhnt. Wir haben ein freudiges, energisches „Veredelungsstreben“, wir wollen alles „weiterentwickeln“; „fortbilden“; besonders aber die Menschheit „rassetüchtig“, „rasseedel“ machen.¹⁰¹

Wie bei Nietzsche wird der Entwicklungs- und Steigerungsgedanke bei Grottewitz und Tille mit einer negativen Eugenik korreliert. Postuliert wird eine Denkweise, die allem, was die Kraftmobilisierung einschränkt, den Kampf ansagt: Die naturwissenschaftliche Erkenntnis giebt uns ein sicheres Mittel in die Hand zur Kritik der bisherigen Ideale. Zeigt sich, daß ein Ideal die Erlahmung der Lebensfülle, Lebensfreude, des Kraftbewußtseins und der Schaffensfähigkeit zur Folge hat, dann hinweg damit!¹⁰²

Die ,Ideale‘, deren Abschaffung Grottewitz und Tille verlangen, beziehen sich unter anderem auf das Christ*innentum sowie den Humanismus und damit auf jene Denkweisen, gegen die sich später auch die nationalsozialistischen Euthanasie-Propagatoren gewendet haben.¹⁰³ Erstrebt wird eine Anachronisierung bürgerlich-christlicher Moralvorstellungen zugunsten eines als zeitgemäß etikettierten „biologischen Humanismus“¹⁰⁴. Dieser setzt nicht auf christlich-humanistische Werte der Fürsorge und Nächstenliebe, die – so der nietzscheanische und faschistoide Argumentationsgang – die gesellschaftliche Degeneration verursacht haben, sondern auf das absolute Führungsrecht der ,Gesunden‘ und ,Starken‘.¹⁰⁵ Dass sich auch Eine Siegernatur einer nietzscheanischen Kraftideologie verpflichtet, zeigt sich vor allem im Selbstbild der als körperlich schwach und chronisch krank dargestellten zweiten Ehefrau des Protagonisten:

 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass sich Grottewitz einige Jahre später von Nietzsche distanziert hat. Vgl. Grottewitz: Nietzsches Herrenmoral und die Naturwissenschaft.  Lauenstein und Grottewitz, S. 63.  Lauenstein und Grottewitz, S. 35.  Vgl. dazu den Abschnitt „Handeln in Übereinstimmung mit den Natur- und Lebensgesetzen: Die rassenethische Begründung von Eugenik und Euthanasie“ in Wolfgang Bialas: Nationalsozialistische Ethik und Moral. Konzepte, Probleme, offene Fragen. In: Bialas, Wolfgang; Fritze, Lothar (Hrsg.): Ideologie und Moral im Nationalsozialismus. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. S. 24– 63, hier S. 37– 45.  Bialas, S. 32. Hervorhebung im Original.  Vgl. Bialas, S. 41 f.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

Ihr war, als wäre sie eine Ausgestoßene. […] Sie war eine Unglückliche, von der Natur Mißhandelte, sie war ausgeschlossen von den Freuden des Lebens, eine Ueberflüssige, die zum Tode bestimmt ist und untergehen muß ohne Erben.¹⁰⁶

Die Verschränkung von Aufstiegs- und Untergangssujet, die schon das realistische Erzählsystem geprägt hatte, signalisiert folglich bei Grottewitz ein faschistoides Nebeneinander von positiver und negativer Eugenik: Neben den Glauben an das uneingeschränkte Selbstbehauptungsrecht des ,Stärkeren‘, signalisiert durch den Aufstieg des Protagonisten, tritt der Gedanke einer notwendigen Eliminierung der ,Kranken‘ und ,Behinderten‘, illustriert durch den als Notwendigkeit ausgewiesenen Tod seiner Ehefrau. Die kategorischen Sanktionierungen der Erzählung verdeutlichen, wie sehr der Roman einem Erzählprogramm das Wort redet, das sich von vorgängigen Strömungen des Naturalismus absetzt und unter dem Schlagwort des ,Neu-Idealismus‘¹⁰⁷ darwinistische und nietzscheanische Ideologeme literarisch produktiv zu machen sucht. Dieses Programm wurde in den 1890er Jahren nicht nur von Grottewitz selbst, sondern auch von Moritz Carrière und Michael Georg Conrad propagiert. Letzterer hatte 1892 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Gesellschaft, einem zentralen Publikationsorgan des Naturalismus, ein Preis-

 Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 217.  Für einen solchen ,Neu-Idealismus‘ trat Grottewitz seit Beginn der 1890er ein. Vgl. Manfred Brauneck und Christine Müller: Abgrenzungen und Resümees. In: Dies. (Hrsg.): Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880 – 1900. Stuttgart: Metzler, 1987. S. 397– 444, hier S. 443. Unter der postulierten neu-idealistischen Ästhetik versteht Grottewitz, wie er in einem 1892 veröffentlichten Kurzessay definiert, eine Kunstrichtung, die sich im Namen der Neuheit und Schönheit kategorisch gegen Tradition, Epigonalität und Überlieferung wendet: „[I]ch verstehe unter Neu-Idealismus jedes Streben, das nicht mehr negativ das Alte bekämpft, sondern positiv, auf Grund neuer Ideale neue positive künstlerische Gefühle, die neuen Schönheiten der beginnenden Weltära, zu schaffen sucht.“ Curt Grottewitz: O.T. In: Ders. (Hrsg.): Die Zukunft der deutschen Litteratur im Urteil unserer Dichter und Denker. Eine Enquête. Berlin: Hochsprung, 1892. S. 122 – 126, hier S. 121. Programmatisch dargelegt wurden die Forderungen und Prämissen des ,Neu-Idealismus‘ in einem ein Jahr zuvor erschienenen Manifest unter dem Titel Die zehn Artikel des Neu-Idealismus (1890/91). In diesem postuliert Grottewitz das Eintreten für eine „neue Weltanschauung“, die die „auf gesunde physische und geistige Weiterentwickelung der Menschenfamilie abzielenden Ideale“ emphatisch absorbiert und so die Regeneration der dekadenten Gegenwart(sliteratur) befördert. Vgl. Curt Grottewitz: Die zehn Artikel des Neu-Idealismus. In: Der Zeitgenosse. Berliner Monatshefte für Leben, Kritik und Dichtung der Gegenwart (1890/91), S. 152– 157, hier S. 152 f.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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ausschreiben annonciert:¹⁰⁸ Prämiert wurden Vorschläge zur Heranbildung eines „erziehungswürdigen Geschlecht[s] […], das den großen Aufgaben der Zukunft gewachsen ist und […] über das Dekadenzelend der Gegenwart in eine gesündere, freudigere Lebensepoche hinüberleitet“.¹⁰⁹ Aus der verbreiteten Angstvision der Zeit, der Dekadenz, ergibt sich folglich eine Regenerationsidee, der eine offenkundige literarische Anschlussfähigkeit innewohnt. Der Anbruch eines von ,gesunder‘ Kraft und Vitalität bestimmten Zeitalters gilt seit den 1890er Jahren als Kerngegenstand einer vornehmlich als Desiderat markierten literarischen Moderne. Moritz Carrière beispielsweise stellt in seinem Bekenntnis der Moderne (1891) die Zentrierung auf zum ,Daseinskampf‘ gerüstete Figuren als Signum einer neuen und ,gesunden‘ Literatur heraus: […] die verlotterten, erblich belasteten, verkümmerten Existenzen werden Gestalten Platz machen, welche sich im Kampf ums Dasein behaupten und sich und die Menschheit zu schöneren Formen des Lebens hinanführen. […] Die neue Poesie wird also wohl wieder die originale Triebkraft auch der Menschen, auch der Charaktere betonen, und ihre Ideale in sich selbstbestimmenden, selbstbehauptenden Persönlichkeiten gewinnen, welche mit Horaz und nach Aristippos sagen: Mihi res, non me rebus submittere conor.¹¹⁰

In Grottewitz’ Roman, der schon im Titel die Siegesthematik verkündet, wird dieses poetologisch-anthropologische Postulat eins zu eins realisiert. Ganz im Sinne des propagierten neu-idealistischen Subjektideals stellt die Aufstiegsnarration den Protagonisten als vitalen, willensstarken und gesunden Tathelden dar, der sein Kraftpotenzial zur produktiven Arbeit aktiviert und als Selfmademan keinerlei erblich bedingte Einschränkungen kennt. Setzt man dieses Subjektbild in Bezug zu den erzählprogrammatischen Äußerungen der Zeit, so zeichnet sich innerhalb der faschistoiden Krafterzählung des Romans eine poetologische Funktionsebene ab. Mit seiner energetischen Disposition, die allem ,Krankhaften‘ den Rücken kehrt, wird der Protagonist zum Träger einer Gesundheitsnorm, die Grottewitz in seinem zwei Jahre zuvor erschienenen Kurzessay zum Fundament einer „moderne[n] Literaturrichtung“¹¹¹ deklariert hatte. Die Austilgung des

 Vgl. hierzu Jana Vijayakumaran: Aufstieg statt Untergang? Zur Poetik des ,gesunden‘ Menschen bei Johannes Schlaf und Rudolf Herzog. In: Navratil, Michael et al. (Hrsg.): Gesundheit erzählen. Ästhetik – Performanz – Ideologie. Berlin/Boston: de Gruyter, 2021. S. 53 – 74.  Michael Georg Conrad: Neues Preisausschreiben. In: Die Gesellschaft. Monatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik. 1. Quartal, Jg. 1892, S. 816.  Moritz Carrière [1891]: Ein Bekenntnis der „Moderne“. In: Wunberg, Gotthart: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. Frankfurt a. M.: Athenäum, 1971. S. 88 – 93, hier S. 90.  Grottewitz: Wie kann sich die moderne Literaturrichtung weiterentwickeln, S. 58.

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,Schwachen‘ und ,Kranken‘ durch das ,Starke‘ und ,Gesunde‘, die der Aufstieg der „gesunde[n], kräftige[n] Natur“¹¹² Franz Bohles vorführt, wird im Essay als Aufgabe der Literatur herausgestellt: Die „negativen, krankhaften Ideen der Übergangszeit“, die sich in Themen wie Verfall und Untergang manifestieren, sollen überwunden werden, Symptome des „Schwächlichen, Weichlichen, Krankhaften“, die Grottewitz zufolge in der dekadenten Gegenwartsliteratur zutage treten, einer „gesunden Lebenskraft“ weichen.¹¹³ Vor diesem Hintergrund lässt sich die Aufstiegsnarration, die Eine Siegernatur entfaltet, als Ausdruck eines doppelten Statements lesen. Wie der imaginierten Moderne ein Triumph der Kraft prognostiziert wird, wird dem literarischen System eine Überwindung defizitärer Verhältnisse in Aussicht gestellt. Die Strukturlogik der Aufstiegsnarration wird damit sowohl in einem poetologischen als auch in einem modernediagnostischen Sinne wirksam: Der Ausgang aus einem defizitären Anfangszustand bezieht sich zum einen auf die Moderne, die sich ihrer Dekadenz entledigen soll, zum anderen auf die Literatur, die ihre als ,krankhaft‘ empfundene Stoßrichtung hinter sich lassen soll. In diesem Zusammenspiel von poetologischer und modernediagnostischer Verweisungsdimension ergibt sich eine Verlaufsform, die für die verfahrenstechnischen Neuakzentuierungen des selfmade-Sujets im naturalistischen Erzählsystem zentral ist. War das realistische selfmade-Sujet mit einer markanten Erzählteleologie einhergegangen, so stößt das naturalistisch umcodierte Erzählmuster in seiner thermodynamischen Referenzialität eine antiteleologische Dynamik an. Der diegetische Kosmos wird zur Kampffläche, auf der die Erzählung die sowohl poetologisch als auch kulturkritisch begründete Fehde gegen das imaginierte Dekadententum austrägt. Der darwinistische frame wird dabei immer wieder von Neuem durchgespielt. In sämtlichen Handlungselementen wiederholt sich der vom Aufstiegsschema indizierte Sieg des ,Stärkeren‘ über den ,Schwächeren‘, was den Handlungsverlauf als permanente Abfolge von Kollisionen verschiedener Kraftpotenziale erscheinen lässt. Folge ist eine kategorische Ausschließlichkeit. Der darwinistische Bezugsrahmen wird zum Metacode, der alternative Deutungsmuster, allen voran den moralischen Code, programmatisch austilgt. Diese naturalismustypische Metacodierung ermöglicht es dem Roman, eine regelrechte Vergewaltigung als Durchbruch einer antidekadenten und damit poetologisch legitimierten Energieentladung auszuerzählen: Da faßte Franz in plötzlichem überschwellenden Kraftgefühl Marie an, und diese, ermattet von der Hitze und Anstrengung des Tages und von Bewunderung vor der Macht des Groß-

 Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 213.  Grottewitz: Wie kann sich die moderne Literaturrichtung weiterentwickeln, S. 60 f.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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knechtes erfaßt, wehrte sich nicht. […] Die Luft war dick, und vom Mittag her zog eine dicke, schwarze Wolke. Marie zuckte zusammen unter der feurigen Umarmung des Großknechts. Sie warf erschlafft ihren Kopf hintenüber und schloß wie in seliger Ermattung die Augenlider. Seine Leidenschaft entfesselte sich mehr und mehr. Stürmisch, blind, unwiderstehlich tobte in ihm das plötzlich zur Flamme auflodernde Feuer der Neigung, die ihn halb unbewußt mit diesem Weibe vereinte.¹¹⁴

Eingewoben in den darwinistischen Metacode, erscheint der gewaltsame Kraftausbruch als Zeichen einer natürlichen Gesetzlichkeit. Der Eindruck einer Naturnotwendigkeit steigert sich durch Wahrnehmungsberichte, die triebgesteuerte Handlungen als evolutionär bedingte Phänomene essenzialisieren. Der biologistische und lebensideologische Verweisungshorizont ist dabei kaum zu übersehen.¹¹⁵ Hatte sich die Figur zuvor mit maschinellen Konstrukten identifiziert, so ist es nun die umgebende waldliche Naturwelt, die ihr zum Spiegelbild der eigenen ,Siegernatur‘ wird. Der Anblick der Bäume verleitet die Figur zu einer darwinistisch codierten Selbstauslegung, die den zurückgelegten Aufstiegsweg als Ausdruck einer evolutionistischen Prozessualität ausweist: Und dann sah er hinüber über die Fluren nach den Waldungen des Grundes. Dort zogen starke kräftige Bäume sich hin in langer Reihe. Wieviel Zeit und Kraft sie gebraucht haben mochten, um diese Höhe und Stärke zu erreichen! Aber sie hatten sich hindurchgerungen durch die Härten der Witterung, durch die Dürre des Sommers und die Kälte des Winters, durch Sturm und Regen, und sie hatten die anderen Pflanzen unterdrückt, die ihnen Licht und Nahrung zu rauben drohten. Sie waren groß, weil sie stark und kriegerisch waren, und sie schämten sich ihrer Stärke nicht und folgten ohne Bedenken dem rücksichtslosen Lebenstriebe, der in sie gelegt war.¹¹⁶

In diesem biologistisch legitimierten Triumph des ,Stärkeren‘ bekundet sich auf exemplarische Weise die Neucodierung des Metanarrativs ,Moderne‘ im Sinne eines gegen die Dekadenz gerichteten Erzählprogramms: Imaginiert wird eine Moderne, die im Einklang mit den Gesetzen der Natur starke und ,lebensfähige‘ Subjekte in Erscheinung treten lässt. Das Bild des kraftvoll erstarkten Subjekts, das sich im ,Kampf ums Dasein‘ unbarmherzig durchsetzt, bestimmt die Imaginationsgeschichte des Selfmademans

 Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 14.  Auch von dieser biologistischen Denkweise hat sich Grottewitz einige Zeit später distanziert. In seinem 1901 erschienenen Aufsatz stellt Grottewitz den Ausgangspunkt biologistischen Denkens infrage: „Kann das Verhalten der Tiere, die Biologie anderer Lebewesen für den Menschen massgebend sein?“ Grottewitz: Socialistisches aus der Natur, S. 615.  Grottewitz: Eine Siegernatur, S. 219 f.

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bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein. Noch 1905 ist mit Max Kretzers Der Mann ohne Gewissen ein Roman erschienen, der das selfmade-Sujet über naturalismustypische Codierungen auserzählt. Diese Codierungen werden bei Kretzer jedoch aus einer Metaperspektive heraus betrachtet. Hatte Eine Siegernatur im Einklang mit der darwinistischen und lebensideologischen Evolutionstheorie das Durchsetzen des ,Stärkeren‘ als fortschrittsermöglichende Naturnotwendigkeit markiert, so konfrontiert Der Mann ohne Gewissen die biologistische Perspektive mit einer moralischen Haltung. Gleich zu Beginn bringt ein Dialog zwischen dem aufstiegsambitionierten Protagonisten August Gläser und dem genügsam denkenden Dolinsky das Spannungsverhältnis zwischen biologistischer und moralischer Perspektive zur Geltung. Auf der einen Seite steht die darwinistische Weltsicht Gläsers. Wie Franz Bohle agiert Gläser als „rücksichtslose[r] Selbstsüchtling[]“¹¹⁷, der sich vehement einsetzt für das Recht des ,Stärkeren‘, sich durch Willenskraft zu behaupten. Wie die Erzählinstanz bei Grottewitz lässt die Figur diese Selbstbehauptung als Naturnotwendigkeit erscheinen: „Schon die Natur gab dem Stärkeren das Recht, seine Kräfte auszunutzen.“¹¹⁸ Dieser darwinistischen Haltung wird durch eine moralisch argumentierende Replik Dolinskys das Prinzip der Verantwortung entgegengestellt. Im weiteren Verlauf werden beide Anschauungsweisen, das darwinistische Durchsetzungscredo und der moralische Idealismus, auf ihre Geltungskraft hin befragt. Der Roman macht damit einen Konflikt zum Gegenstand, den Conrad Alberti in seiner programmatischen Schrift Natur und Kunst (1890) zum thematischen Signum der naturalistischen Moderne deklariert hat: Dieser Widerstreit zwischen dem natürlichen, unwiderstehlichen Selbsterhaltungstrieb und der Erkenntnis der Grenzen der individuellen Rechte und Pflichten, das Existenzrecht eines anderen nicht zu verletzen, ist vielleicht der würdigste Gegenstand der modernen Poesie.¹¹⁹

Der von Alberti beschriebene Widerstreit wird in Kretzers Roman noch mit einem anderen Konflikt verbunden, der für das naturalistische selfmade-Sujet konstitutiv ist: die Polarität von Autonomie und Determination. Als exemplarischer Selfmademan regiert der Protagonist zunächst nicht nur über die ihn umgebende Wirtschafts- und Sozialwelt, sondern über sein eigenes Leben. Triumphal wähnt sich Gläser als „starke[r] Schicksalsbezwinger“¹²⁰, der die eigene Biographie steuern und beherrschen kann:

   

Max Kretzer [1905]: Der Mann ohne Gewissen. Berlin: Paul Franke, o.J. S. 247. Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 21. Alberti: Natur und Kunst, S. 217. Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 114.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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„Sehen Sie, der Mensch kann alles, wenn er nur will. […] Am Kampf mit den Verhältnissen gehen die meisten zugrunde. Aber stärker als diese dunklen Mächte zu sein – das ist die Kunst!“¹²¹

Angesichts des rasanten Aufstiegs, den die Figur erzielt, scheint ihr Autonomiecredo zunächst berechtigt. Der Protagonist, der sich im erzählten ,Kampf ums Dasein‘ zu behaupten sucht, setzt sich hinweg über die Gesetze der Moral und avanciert auf diese Weise vom mittellosen Neuankömmling in Berlin zum Millionär und Mittelpunkt der Großstadt. Sein Aufstiegsweg nimmt jedoch ein böses Ende. Auf den Aufstieg folgt der Fall, den der Tod seines Sohnes und schließlich sein eigener Tod besiegeln. Mit diesem tragödienhaften Ende wird das Gestaltbarkeitscredo, das der Typus des Selfmademans versinnbildlicht, ebenso wie seine darwinistische Berufung auf das Recht des Stärkeren als fatale hybris inszeniert. Der Selfmademan wird zum Bezugspunkt einer Warnerzählung, die dem rigorosen Durchsetzen der Willenskraft sowie dem skrupellosen Streben nach Aufstieg mit einer naturalismustypischen Größenwahn- und Egoismuskritik begegnet. Vor der narrativen Sanktionierung des Protagonisten steht indes sein unaufhaltsamer Erfolgsweg. Dieser geht mit einer beständigen Ausdehnung des Machtbereichs einher. Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angelangt, steht August Gläser „hinter den Kulissen, leitete alles und steckte den Gewinn ein, der geradezu riesig war“¹²². In dieser Machterzählung manifestiert sich ein Subjekt- und Städtebild, das sich in einen eigentümlichen, kontrastiv anmutenden Bezug zur Großstadtsoziologie Georg Simmels – einer klassischen Folie naturalistischer Großstadtromane – setzen lässt. In ihrem unablässigen Streben nach Aufstieg und Macht und der beständigen Ausdehnung ihres Wirkungsraums signalisiert die Figur ein Hinwegsetzen über die von Simmel konstatierte „überwältigende Fülle krystallisierten unpersönlich gewordenen Geistes“¹²³, die der Soziologe in der großstädtischen Volksmenge verkörpert sieht. Auch die von Simmel beobachtete „Atrophie der individuellen durch die Hypertrophie der objektiven Kultur“¹²⁴ wird durch die Gestaltungsmacht des Selfmademans als überwunden markiert. Dem ,Mann ohne Gewissen‘ tritt die Großstadt als tabula rasa gegenüber, die er nach seinem Willen gestalten und beherrschen kann. Der Protagonist

 Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 146 f.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 83.  Georg Simmel [1903]: Die Großstädte und das Geistesleben. In: Kramme, Rüdiger et al. (Hrsg.): Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901– 1908. Bd. 1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995. S. 116 – 131, hier S. 130.  Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 130.

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beteiligt sich an der Gründung einer Bank, initiiert den Bau einer Bahnstrecke und begründet eine Landhausstadt, in der er sich wie ein „König in einem selbstgegründeten Reich“¹²⁵ niederlässt. Was Kretzers Roman schildert, ist folglich das Gegenteil dessen, was die zeitgenössische Soziologie postuliert.¹²⁶ An die Stelle des soziologischen ,Sentimentalismus‘¹²⁷ tritt eine Gestaltbarkeitsfiktion, die zunächst durch das selfmade-Sujet bestätigt wird. Obgleich der Roman damit ein Veto gegen soziologische Objektivierungsdiagnosen einlegt, kann von einer moderneaffirmativen Gewinnerzählung keineswegs die Rede sein. Der Typus des Selfmademans wird bei Kretzer zum Signum einer dämonisierten Moderne, die in den Händen größenwahnsinniger Subjekte liegt und dadurch erst recht zum unbeherrschbaren Kontingenzraum avanciert. Verbunden mit der Kritik an einem hybriden Größenwahn steht folglich eine kapitalismuskritische Moderneer-

 Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 225.  Vor allem die an Hegels Entzweiungstheorem anschließenden Perspektiven der aufkommenden Soziologie stehen der Vorstellung einer gestalt- und formbaren Sozialwelt, die sich über das Handeln einzelner (männlicher) Akteure konstituiert, entgegen. Das zeitgleich in der Unternehmertheorie zirkulierende Bild der handlungsmächtigen ,großen Individuen’, die den Weltlauf steuern, erscheint aus Perspektive der zeitgenössischen Soziologie anachronistisch. Nicht nur Simmels vielzitierter Essay beruht auf einer hegelianisch anmutenden Objektivierungsdiagnose. Verlustgeschichten, die die gesellschaftliche Moderne unter dem Eindruck schwindender Handlungsmacht beschreiben, sind in der Zeit um 1900 vielfach anzutreffen. So hebt zum Beispiel Karl Bücher in seiner Abhandlung Die wirtschaftlichen Kartelle (1895) hervor, dass Kartellbildungen und Aktiengesellschaften die Handlungsmacht des Unternehmers einschränken und einem selbständigen Unternehmertum entgegenstehen: „Es scheint fast, als läge etwas im Wesen der Kartelle, das starke Individualitäten ausschließt. Denn wo solche sind, da wollen sie sich auch auswirken, da wollen sie zu besonderer Geltung gelangen, und das verträgt die Organisation des Kartells nicht. Sie fordert Unterordnung, Beugung des persönlichen Beliebens unter den Gesamtzweck.“ Karl Bücher: Die wirtschaftlichen Kartelle. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik. Leipzig: Duncker & Humblot, 1895. S. 138 – 157, hier S. 147. Das hier zum Ausdruck kommende soziologische Entmachtungstheorem scheint wie eine Folie, die sich in Kretzers Roman ex negativo einschreibt. Der Mann ohne Gewissen lässt einen Prototyp ebenjener „starken Individualitäten“ in Erscheinung treten, deren Untergang die zeitgenössische Soziologie postuliert. Richard Woldt etwa bindet noch 1911 die Vorstellung eines handlungs- und wirkmächtigen Einzelunternehmers in eine Verlusterzählung ein, indem er konstatiert: „Der moderne Kapitalismus tritt immer mehr in das Stadium der Gesellschaftsbetriebe. Der Einzelunternehmer als Firmenträger verschwindet vom Schauplatz. […] Der moderne Gesellschaftsbetrieb ist ein Massenkörper, selbst bis in den höchsten Verwaltungsstellen ist eine mehr oder minder fein verästelte Lohnarbeit organisiert worden. Der persönliche Unternehmer hat seine historische Mission erfüllt, er wird als Arbeitskraft für den Gesamtbetrieb entbehrlich, er wird abgestoßen.“ Richard Woldt: Ludwig Pohle, Der Unternehmerstand [Rezension]. In: Die Neue Zeit. Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. Bd. 2, Heft 49 (1911), S. 834.  Vgl. zur Kategorie des ,Sentimentalismus‘ Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 272.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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zählung, die eine vehemente Machtkritik lanciert. Ihr Träger ist ein skrupellos wirtschaftender Selfmademan, der als Connaisseur der großstädtischen Gegenwart in Erscheinung tritt. Anhand von Zeitungen eignet sich Gläser ein Wissen von aktuellen großstädtischen Vorgängen an – ein Wissen, das seinen Aufstieg wesentlich mitbedingt. Illustriert wird diese Gegenwarts- und Großstadtexpertise über ein naturalismustypisches Erzählverfahren. Das Vertrautwerden mit den Verhältnissen der Gegenwart vollzieht sich durch eine bewusste, synästhetisch veranschaulichte Durchschreitung des berlinischen Raums: Man durchfuhr die Leipziger Straße, die glänzendste Verkehrsader Berlins, die aus dem Herzen der Stadt hinein in den vornehmen Westen führte. Gläser blickte eifrig nach rechts und links; er trank förmlich mit den Augen, um sich heimlich zu berauschen an diesem großen Getriebe, das ihn aufnehmen sollte in seine Mitte.¹²⁸

Der soziale Vorstoß von unten nach oben, der das Aufstiegssujet definiert, koppelt sich folglich an einen Übergang von der Peripherie ins Zentrum, wobei sich eine zweifach auslegbare Einverleibung der Moderne abzeichnet. Zum einen ist es die Figur, die sich durch ihre bewusste Wahrnehmung den städtischen Raum zu eigen macht. Zum anderen ist es die Stadt, die von dem Selfmademan Besitz nimmt, womit sich in der Erzählung eine ähnlich dämonisierende Subjekt-AußenweltRelationierung konturiert, wie sie zwei Jahre später Robert Saudeks Roman Dämon Berlin (1907) entfaltet. Bei Kretzer indes steht die Großstadtschilderung noch im Zeichen naturalismustypischer Erzählkategorien. Das Gesetz der Großstadt ist das des ,Daseinskampfes‘. Der prosopopöisch vergegenwärtigte berlinische Raum tritt der Figur als Proklamator ihrer eigenen Maximen entgegen: Wie es in die Luft klang, das Großstadtgetöse, mit seinen tausend Tönen aus tausend verschiedenen Noten, die sich schließlich in dem Riesenorchester doch zu einem erhabenen Ganzen fanden, mit dem Leitmotiv: ,Kämpfe, kämpfe! Lebe, lebe! Genieße, genieße!‘¹²⁹

Der Konnex von Figurenbewusstsein und Raumdarstellung, der sich hier abzeichnet, verstärkt sich durch Symbolrekurrenzen, die eine metonymische Korrespondenz von Figur und Raum erzeugen. So reproduziert etwa die Beschreibung des sich immer weiter ausdehnenden Steinkolosses, der „gleich einer ungeheuren Spinne“ seine „Fänge“ ausstreckt,¹³⁰ die Monsterisierung des Protagonisten, der

 Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 57.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 54.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 58.

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seinen Wirkungsraum taxiert „wie eine Spinne, die das Opfer bereits verstrickt hat“¹³¹. Dieses naturalismustypische Spiegelungsprinzip schlägt sich in einer Reihe von Erzählelementen nieder, die suggestiv den Metacode ,Daseinskampf‘ verlautbaren. Von strukturbildender Bedeutung dabei ist die Raummetaphorik, die das Aufstiegssujet auf eine darwinistische Gesetzlichkeit hin generalisierbar macht. Das typisierte Charakterbild des Protagonisten wird mit einer Stadttopik enggeführt, die propositional und funktional mit der darwinistischen Codierung konvergiert.¹³² Der Aufstieg, der Gläsers Machtbereich immer weiter ausdehnt, wird mit einer Ausdehnung des großstädtischen Raumes korreliert: Berlin war mächtig gewachsen seit dem Tage, wo er eingezogen war, um mit unredlich erworbenem Gelde seinen Fischzug zu beginnen. Das steinerne Meer hatte sich nach allen Seiten gedehnt und mit seinen Häuserwogen immer verzehrender das flache Land bespült. Und neue, glänzende Kämme wiegten sich in seinem Reiche, stolz aufstrebend zum blauen Himmel.¹³³

Deutlich zeigt sich an dieser Stelle die metacodierende Funktion des Aufstiegssujets, die mit seiner darwinistischen Verweisungslinie und seinem zeitdiagnostischen Darstellungsanspruch zusammenhängt und einen Kernbaustein des naturalistischen Erzählsystems ersichtlich werden lässt. In seinem darwinistischen Weltbild und temporalen Bezugshorizont deklariert der Naturalismus Aufstiegsphänomene und deren Kehrseite, den Absturz, zum Signum der Moderne. Das Aufstiegssujet avanciert zum Mittel einer semantischen Äquivalenzbildung, die sämtliche Elemente der konstruierten Phänomenwelt und sämtliche Erzählebenen des Textes auf ein und denselben zeitdiagnostischen Propositionsgehalt hin homogenisiert. Es ist dieselbe zeitdiagnostisch funktionalisierte Nivellierung, die sich bei der Aufstiegssemantik in Albertis Wer ist der Stärkere? eingestellt hatte: „Nichts gibt es daher im Blick des Erzählers, was sich nicht als Manifestation des modernen Lebensgesetzes identifizieren ließe.“¹³⁴ Bei Kretzer erfolgt diese Nivellierung vornehmlich über die transponierte Figurenrede. Es ist die Wahrnehmung der Figur, die als Ursprungsort der darwinistischen Sinnkonstitution markiert wird. Die Allegorisierung des großstädtischen Milieus im Sinne des darwinistischen Weltbilds wird damit als Medium der Selbstauslegung herausgestellt:  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 149.  Vgl. zur Konvergenz von Großstadtdarstellung und ,Daseinskampf‘ Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 82.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 312.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 77.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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[S]teinernes Meer! Das war die richtige Bezeichnung, wie Gläser sich bei dieser ersten Durchquerung Berlins gestand. Zwar hatte er kein Wasser unter sich, zwar saß er auf keinem Schiff, aber er thronte auf schwankem Fahrzeuge, vernahm das unaufhörliche Branden und sah die gefährlichen Riffe auf beiden Seiten. Und war es nicht dasselbe wie auf empörten Meereswogen, dieses Auf und Nieder des Daseins, das die einen zerschellen ließ, die andern reich beladen ans Ziel führte?¹³⁵

Es zeigt sich hier eine Erzähltaktik, die für das Grundthema des Romans, den Konflikt von Darwinismus und Moral, bedeutsam ist. Die figurale Perspektivierung der Passage lässt den ,Kampf ums Dasein‘ als Wahrnehmungsprodukt erscheinen, das von der Selbst- und Weltdeutung des Protagonisten herrührt. Nicht die Erzählinstanz, sondern der Protagonist ist für die darwinistische Semantisierung verantwortlich. Unterschwellig werden ,Daseinskampf‘, survival of the fittest und Durchsetzungsgebot als Zuschreibungsprodukte markiert, wodurch die darwinistische Metacodierung brüchig wird. Dieses Brüchigwerden wird im weiteren Erzählverlauf radikalisiert. Mit dem tragödienhaften Ende des Romans wird das vom Selfmademan verkörperte Denksystem im wahrsten Sinne des Wortes zu Grabe getragen, womit dem Topos des ,Daseinskampfes‘ eine alternative Gesetzlichkeit entgegengestellt wird: An die Stelle der darwinistischen Metacodierung tritt die poetische Gerechtigkeitsdoktrin. Nicht der ,Kampf ums Dasein‘ regiert die diegetische Welt, wie es der Protagonist angenommen hatte, sondern eine moralische Gesetzlichkeit. Damit spannt das Erzählende einen Bogen zum Einstiegsszenario: Der Umschlag vom Glück ins Unglück bringt die Entscheidung im Kampf der Prinzipien, den eingangs der Dialog zwischen Gläser und Dolinsky ausgetragen hatte. Der Gegensatz zwischen moralischem und darwinistischem Denksystem wird nun von einem übergeordneten textuellen Standpunkt aus verhandelt. Dieser Standpunkt lenkt auch den Propositionsgehalt des selfmade-Narrativs in eine ambivalente Richtung. Wenn das darwinistische Credo des Protagonisten und seine moralische Indifferenz am Ende bestraft werden, so tritt anstelle der Autonomie des männlichen Subjekts die Abhängigkeit von transzendenten Mächten in den Vordergrund. Fast scheint es so, als gehe die Kampfansage gegen den Darwinismus mit einer unterschwelligen Rückkehr hinter die neuzeitliche Autonomie-Idee einher. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Kommentare der Erzählinstanz, die dem Gestaltbarkeitsanspruch des Protagonisten und seinem Glauben an das Recht des Stärkeren das Bild poetischer Gerechtigkeit entgegensetzen. Aus einer mystisch anmutenden Perspektive heraus kritisiert die Erzählinstanz die „Gleichgültigkeit

 Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 54.

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des Alltagsmenschen, der an übersinnliche Dinge nicht glaubt“¹³⁶, und entlarvt die rationale Weltbetrachtung des Protagonisten als naive Selbstverblendung: Es gab nur Zufälle und keine Wunder für ihn, und wenn ihr [d.i. Anna Schimans] Vorhersagen eingetroffen war, so hatte sich nur eins jener vielen Rechenexempel bestätigt, die man einfach hinwarf, ohne jemals an die Möglichkeit einer Lösung zu denken. Das kannte er als pfiffiger Kaufmann am besten. Damit tröstete er sich, weil er den Blick in die tiefen Geheimnisse dieser Welt scheute. Denn wehe, wenn er den Schleier davonrisse und dahinter thronend die göttliche Bestimmung erblickte, die ihm zuriefe: „Es gibt einen Ausgleich, denn alles ist weise eingerichtet. Böses wird mit Bösem vergolten, Gutes mit Gutem.“¹³⁷

Mit der Suggestion einer gerechtigkeitserzeugenden Tiefenordnung wird der Propositionsgehalt des selfmade-Sujets umgekehrt und für eine Demontage naturalistischer Erzähldeterminanten funktionalisiert. Der im Selfmademan veranschaulichten Kontingenz von Welt und Leben wird eine göttliche providentia gegenübergestellt, dem Prinzip des ,Daseinskampfes‘ eine moralisch fundierte Gerechtigkeitsordnung. Dass sich diese Suspension des darwinistischen Erzählparadigmas über eine Wendung ins Mystische vollzieht, zeigt sich in der phantastisch anmutenden Korrelation von Erzählanfang und -ende. Ein in der Eingangsszene geschilderter Traum des Protagonisten, in dem er „an dem Kreuze eines entsetzlich hohen Kirchturms“ hängt, bis er „die Kraft verlor und in die fürchterliche Tiefe stürzte“¹³⁸, wird in der Schlussszene diegetische Realität und erhält so den Status einer orakelhaften Offenbarung. Wie der Traum symbolisch prophezeit hatte, folgt auf die voluntaristische Verausgabung die entropische Erstarrung, auf den rasanten Emporstieg der Absturz, auf die erzielte Höhe des Lebens der Tod. Diese Realwerdung des Prognostizierten geht mit einer doppelten Verschiebung eingangs konstruierter Zeichenfunktionen einher. Erstens durchkreuzt die Konvergenz von Traum und Realität die Differenz von referenzieller und arbiträrer Zeichenproduktion. Der im Traum produzierten und damit ungedeckten Signifikantensprache wird, indem sich ihr symbolischer Sinngehalt realisiert, eine mimetische Referenzfunktion zuteil. Eine ähnlich inverse Zeichenrelation zeigt sich im Motiv des Fluches, das die Erzählung an einer Stelle aufruft: Die eingangs ausgesprochene Verfluchung, die dem Protagonisten eine fremdgehende Ehefrau und ein monströses Kind wünscht, tritt ein. Auch die Signifikant-Signifikat-Relation kehrt

 Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 228.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 229.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 5.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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sich damit in einem mystisch-phantastischen Sinne um: Den diegetisch realen Erscheinungen geht ihre sprachliche Evokation voraus. Neben den Differenzen von Arbitrarität und Referenzialität, Signifikant und Signifikat verfließen zweitens die Grenzen von Konnotation und Denotation. Durch die diegetische Realitätsebene wird die Sprache des Traumes symbolisch. Der Traum erweist sich als symbolische Vorausdeutung auf den Aufstieg, Fall und letztendlichen Tod der Figur. Diese symbolische Funktion wird jedoch von einer denotativen Sinndimension überlagert. Die in der Traumszene verwendeten Zeichen – das Kreuz und der Kirchturm – tauchen im Erzählverlauf als Elemente der Handlungsebene auf. Ein Kirchturm begegnet der Figur, wenn sie die Großstadt durchschreitet, ein Kreuz hängt der Kette ihrer Verlobten an und wird zum Gegenstand eines Schwurs, mit dem Gläser seiner Verlobten Treue gelobt. Konnotation und Denotation verschmelzen damit ebenso wie Traum und Realität zu einer Einheit. Mit der Abkehr vom darwinistischen Sinnzuschreibungsmuster geht somit ein Zerfall erzählkonstitutiver Grenzziehungen einher. Das Hinwegsetzen über das darwinistische Kampfcredo destabilisiert nicht nur den Metacode der Erzählung, sondern ihre ontologischen und semiotischen Differenzsetzungen. Vor dem Hintergrund der semiotischen Umbrüche, die sich im Verlauf der Handlung vollziehen, lässt sich die oppositionelle Tendenz des Romans näher beschreiben. Im Gegensatz zu Kretzers früherem Roman Meister Timpe und zu Grottewitz’ Eine Siegernatur lässt Der Mann ohne Gewissen anstelle des ,Daseinskampfes‘ die Gerechtigkeit als übergeordnetes Gesetz erscheinen. Der naturalismustypische Biologismus weicht einer Moralvorstellung, die nicht im Triumph des Stärkeren, sondern im Fall des Bösen das Walten einer universalen Gesetzlichkeit erkennt. Obgleich Kretzers Roman insofern eine Absage an das naturalistische Erzähldispositiv lanciert, steht er unter dem Einfluss von Paradigmen, die im Naturalismus ihre prägende Ausgestaltung gefunden haben. Auf einen naturalismustypischen Verweisungshorizont weist vor allem die Degenerationserzählung hin, die der Roman entfaltet. Immer wieder wird der Protagonist über eine bestialisierende Bildsprache beschrieben.¹³⁹ Gläser, dem ein „Raubtierkopf“¹⁴⁰ und „Vogelgesicht“¹⁴¹ attestiert werden, bildet damit eine Projektionsfläche modernefeindlicher Atavismusvorstellungen. Kulminationspunkt dieser Degenerationserzählung ist das pathologisierende Körperbild, das im Hinblick

 Es zeigt sich hier abermals ein Einfluss Zolas auf Kretzers Texte. Hatte sich Meister Timpe in seiner Raum- und Handlungskonstruktion an Au Bonheur des Dames angelehnt, so sind es im Mann ohne Gewissen Elemente aus La Curée und La bête humaine, die adaptiert werden.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 237.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 237.

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auf den Sohn des Protagonisten entworfen wird. Viktor Gläser, der nurmehr als „Wesen mit […] tierischen Lauten“¹⁴² in Erscheinung tritt, bleibt die Fähigkeit sprachlicher Artikulation versagt. Der zum „verkörperte[n] Stumpfsinn“¹⁴³ degradierte Sohn, dem die Erzählung nur ein kurzes Leben zuteil werden lässt, wird zum Protagonisten einer Degenerationserzählung, die sich in einer dehumanisierenden Stigmatisierung des Körpers äußert. Es ist die deformierte physis der Figur, die der erzählten Degeneration der Moderne symbolischen Ausdruck verleiht: „Die Muskeln waren lappig, Kraft war in Schwammigkeit umgesetzt, ein Häufchen menschlichen Elends kroch am Boden herum und äugte blöde in die Welt.“¹⁴⁴ Dass es der Sohn des willensstarken Selfmademans ist, den die Erzählung als Träger einer degenerierten Moderne inszeniert, setzt ein deutliches Statement in puncto Normalität und Degeneration: Nicht der Mangel, sondern ein Zuviel an Willenskraft gilt in der Erzählung als pathologisches Defizit. Der Unterschied zu Grottewitz’ Roman liegt auf der Hand. Hatte dieser die hypertrophe Kraft des Aufsteigers als Schlüssel zu einer gesunden und insofern zukunftsfähigen Moderne inszeniert, so lässt sie Der Mann ohne Gewissen als Degenerationssymptom erscheinen.¹⁴⁵ Durch die Degenerationserzählung löst sich auch der Konnex von Aufstieg und Fortschritt, den Eine Siegernatur durch das Lichtbringungsmotiv angedeutet hatte, auf. In Kretzers Roman ist der Typus des Aufsteigers alles andere als ein Fortschritts- und Kulturträger. Dies geht nicht nur aus der animalisierenden Bildsprache hervor, sondern auch aus dem Rachemotiv und der Triebthematik des Romans. Ein trivialpsychologischer Kommentar der Erzählinstanz führt das Aufstiegsstreben des Protagonisten, das die alleinige Triebfeder seiner Handlungen darstellt, auf Rachegelüste und eine materialistische Triebgesteuertheit zurück:

 Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 228.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 275.  Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 224.  Damit wird auch Grottewitz’ Antidekadenzprogramm eine Absage erteilt. In seinem Kurzessay hatte Grottewitz’ eine Zentrierung um ,Ausnahme-Individuen‘ gefordert: „Der Realismus neigte dazu, den Typus irgendeiner Gesellschaftsklasse, irgendeines Zustandes zu schildern. Der Typus von etwas ist immer das Durchschnittliche, das Mittelmäßige, das Gewöhnliche. Die Zukunftsdichtung – ich nenne sie Entwicklungsdichtung – wird alles das zum Gegenstande nehmen, was über den Typus hinausgeht, was sich höher entwickelt als der Durchschnitt, was für die Zukunft maßgebend ist und was dem Durchschnitt als Ideal vorgestellt werden kann.“ Grottewitz: Wie kann sich die moderne Literaturrichtung weiterentwickeln, S. 61. Kretzers Roman setzt den vermeintlich antidekadenten Ausnahmetypus nicht für die literarische Begründung einer regenerierten und zukunftsfähigen Moderne ein, wie es Grottewitz vorschwebt, sondern als Projektionsfläche pathologisierender Dekadenz- und Degenerationsbilanzen.

3.1 Naturalistische Metacodierungen (Kretzer, Grottewitz)

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Der große Zug in ihm trieb ihn immer aufs neue zur Menschenverachtung. In solchen Augenblicken beherrschte ihn dann die Erinnerung an seine ärmliche Jugend, und da er leibliche Not jetzt nicht mehr kannte, peinigte ihn der Hunger nach unermeßlichem Besitz, wie mit seelischen Geißelhieben, die er gern erdulden wollte, um sie zehnfach diesem kriechenden, zweibeinigen Gewürm weiterzugeben. Das war die Rache, die ihm allein Befriedigung gab.¹⁴⁶

Ausgangspunkt des Aufstiegsstrebens ist folglich ein doppelter Rückfall hinter die vorgeblichen Errungenschaften der Moderne. Während die Triebhaftigkeit das Bild des vernunftgesteuerten Subjekts negiert, verweist das Rachemotiv auf ein archaisches System, das im grand récit ,Moderne‘ gemeinhin als überwunden gilt. Auch der Zeitindex des Selfmademans wird durch das Rachemotiv modifiziert. Der Selfmademan, wie ihn Kretzers Roman präsentiert, steht nicht für eine Entwertung der Vergangenheit zugunsten einer zukunftsoffenen Gegenwart, sondern für eine vergangenheitsbezogene Zeitwahrnehmung: Ein Verlangen nach Rache zu haben bedeutet, gedanklich auf ein Geschehnis der Vergangenheit fokussiert zu sein. Vor dem Hintergrund von Kretzers Der Mann ohne Gewissen und seinen naturalistischen Vorläuferromanen lässt sich die eingangs geäußerte These fundamentaler Neucodierungen des selfmade-Narrativs im naturalistischen Erzählsystem bestätigen. Vom realistischen Selfmademan ist der naturalistische Aufsteigertypus weit entfernt. Hinter dem naturalistischen selfmade-Sujet verbirgt sich die ikarisch-faustisch konnotierte Idee des unersättlichen Individuums, das nach immer mehr strebt und das in allen drei Romanen als Sinnbild einer ,neuen Zeit‘ fungiert. Während Grottewitz’ Roman diese ,neue Zeit‘ emphatisch begrüßt, betrauert Meister Timpe das vorgebliche Ende einer alten Ära. In Der Mann ohne Gewissen wiederum erscheint der Aufsteiger als Signum einer von Größenwahn und Dekadenz befallenen Moderne, die in ihrer hybriden Anmaßung die Gesetze der Moral durchbricht. Die Vorstellung der Moderne als tabula rasa, in der sich der Einzelne ausschließlich an sich selbst verwiesen sieht und sich auf keine Vorgegebenheiten stützen kann, wird bei Grottewitz zum Fundament vitalistischer Modernezelebrierungen, bei Kretzer zum Ausgangspunkt von Größenwahn- und Egoismusdiagnosen. Auch das Bild der zukunftsoffenen Moderne, in der die Vergangenheit an Einflusskraft verloren hat, wird in den drei Romanen von verschiedenen Standpunkten aus aufgegriffen. Es lagert sich in retrofiktionale Verlusterzählungen ein (Meister Timpe), in lebensideologische Triumpherzählungen (Siegernatur) und moralisch fundierte Degenerationserzählungen (Der Mann ohne

 Kretzer: Der Mann ohne Gewissen, S. 213.

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Gewissen). Der Typus des Selfmademans, so lässt sich schließen, erfährt im Naturalismus funktionale und konnotative Neubesetzungen, an denen sich sowohl verfahrenstechnische als auch semantisch-narrative Determinanten des naturalistischen Erzählsystems ‒ von der metacodierenden Totalitätsevokation bis hin zur Bilanz der ,neuen Zeit‘ ‒ ablesen lassen.

3.2 Kritiken der ökonomischen Moderne (Karlweis, Heinrich Mann, Saudek) Der Naturalismus hat nicht nur den im Realismus etablierten Konnotationen des Selfmademans ein Ende bereitet. Auch die Stellung des Figurentypus innerhalb des Textgefüges ist eine andere, als es im Realismus der Fall gewesen war. Grottewitz’ Eine Siegernatur und Kretzers Der Mann ohne Gewissen setzen den Typus des Aufsteigers als Zentralfigur, deren einsinniges Ziel, der Aufstieg, Handlungsgang und Erzählstruktur festlegt. Noch vehementer als es realistische Romane getan hatten, ersetzen also naturalistische Romane das Bildungssujet durch das ökonomiezentrierte Aufstiegssujet, das die „Teleologie des romanhaften Erzählens“¹⁴⁷ schlechthin verändert. Figuren, die allein vom Streben nach Aufstieg und Erfolg geleitet werden, kennen keine Selbstfindungsbestrebungen, können oder müssen nicht mit den prosaischen Verhältnissen der Außenwelt versöhnt werden und brauchen keine Mentor*innen, die sie bei der Suche nach Selbstverwirklichung begleiten.Wonach der typisierte Aufsteiger trachtet, ist der soziale Aufstieg und ökonomische Erfolg, was er erstrebt, ist die Macht über die Sozialwelt, und was er braucht und findet, sind allenfalls Gatekeeper*innen, die seinen Aufstiegsweg befördern. Der damit verbundene und schon im Realismus angebahnte Umbruch vom Bildungs- zum Aufstiegsroman verdeutlicht die spezifische literarische Implikationskraft, die der Selfmademan im ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert besitzt. Dass es die Zeit um 1900 ist, in der das literarische Potenzial des Figurentypus neu dimensioniert wird, hängt mit vielfältigen Entwicklungen zusammen, die sich um diese Zeit vollziehen und die literarische Imaginationsgeschichte des Selfmademans prägen. Als Figur, die durch unternehmerischen Erfolg ihre Lebensumstände grundlegend verändert und dabei den ökonomisch-technischen Fortschritt vorantreibt, spiegelt der Selfmademan Zeiterfahrungen, die für die Jahrhundertwende prägend sind. Diskursübergreifend ist die Rede von einem rapiden Aufstieg, den die deutsche Wirtschaft seit dem

 Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 78.

3.2 Kritiken der ökonomischen Moderne (Karlweis, Heinrich Mann, Saudek)

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ausgehenden neunzehnten Jahrhundert infolge technischer und ökonomischer Modernisierungen erzielt habe. In einer 1913 erschienenen nationalökonomischen Abhandlung zieht Karl Helfferich eine Bilanz zur deutschen Wirtschaftsentwicklung seit 1888.¹⁴⁸ Postuliert wird ein tiefgreifender Wandel im Sinne einer Aufwärtsentwicklung, die aus einer produktiven Kraftmobilisierung resultiere. Im Rahmen disziplinierter Arbeit und befördert durch wissenschaftlich-praktische Errungenschaften haben sich Helfferich zufolge die Gütererzeugung und der Güterverkehr gesteigert, Deutschlands wirtschaftliche Weltstellung gefestigt und die Vermögensverhältnisse wesentlich verbessert, was eine Steigerung der gesamten Lebenshaltung zur Folge gehabt habe. Als eine „in gesundem Wachstum fortschreitende[] Bevölkerung“ habe sich das deutsche ,Volk‘ auf eine historisch bisher nie erreichte Stufe „emporgearbeitet“.¹⁴⁹ Für die Zeitstimmung der Jahrhundertwende ist Helfferichs Zeitbilanz exemplarisch, weil sich in ihr das ubiquitär anzutreffende Aufstiegs-, Steigerungsund Fortschrittscredo artikuliert. Zugleich führt sie die ambivalente Haltung vor Augen, aus der heraus der allgemein empfundene Fortschrittsprozess beobachtet wird. Auf die enthusiastische Darstellung des deutschen Aufstiegswegs folgen moralisch ausgerichtete Mahnworte, durch die der Fortschrittsoptimismus einen Dämpfer erhält: Wer die Geschichte der Völker kennt, der weiss, dass jeder grosse Aufstieg neue und schwere Probleme schafft und Keime in sich trägt, die seinen eigenen Wurzeln gefährlich werden. Selbst dem oberflächlichsten Beschauer unserer Zeit drängen sich Erscheinungen auf, die nicht danach angetan sind, eine geruhsame Befriedigung aufkommen zu lassen. Die grossen Verschiebungen im inneren Aufbau unseres Volkskörpers – im Verhältnis von Stadt und Land, in der beruflichen und sozialen Gliederung, in den Vermögensverhältnissen – haben Spannungszustände erzeugt, die in der gärenden Unrast unserer Zeit auf allen Gebieten des Gemeinschaftslebens zutage treten. Während unsere Nation als Ganzes in wirtschaftlicher Kraftentfaltung das Höchste leistet, sehen wir die Grundlagen der sittlichen und körperlichen Gesundheit großer Volksteile durch eben diese Entwicklung bedroht, sehen wir das einheitliche Zusammenwirken, das uns gross gemacht, durch Klassenkampf und Klassenhass gefährdet, sehen wir vielfach an Stelle der zähen Arbeit schlaffes Wohlleben, an Stelle der strengen Sparsamkeit sinnlose Verschwendung und herausfordernden Luxus, an Stelle der Opferbereitschaft und Pflichterfüllung Begehrlichkeit und Genusssucht.¹⁵⁰

Die Länge des Zitats legitimiert sich dadurch, dass es die Zeitkritik ersichtlich werden lässt, die um die Jahrhundertwende auch dem Aufstiegsroman sein Ge-

 Vgl. Herbert, S. 25 f.  Karl Helfferich: Deutschlands Volkswohlstand 1888 – 1913. Berlin: Georg Stilke, 1913. S. 124.  Helfferich, S. 125 f.

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präge gibt. Die dialektische Perspektive auf den Aufstieg, die neben Fortschritt und Verbesserung auch Verfall und Dekadenz wahrnimmt, wird zum Leitcharakteristikum des Aufstiegsromans. Ausagiert wird diese Dialektik nach wie vor im Aufstiegsweg eines männlichen Protagonisten, der den angenommenen Entwicklungsgang der deutschen Gesellschaft metonymisch spiegelt. Dass dieser Aufstiegsweg immer häufiger in einem Fall mündet, offenbart die Zweifel an der zeittypischen Fortschrittsnarration – Zweifel, die Helfferichs Mahnworte paradigmatisch verlautbaren. Helfferichs Forderung, nicht nur den ökonomischtechnischen Fortschritt voranzutreiben, sondern gleichzeitig auf eine harmonische Balance der „sittlichen, geistigen und wirtschaftlichen Kräfte“¹⁵¹ hinzuarbeiten, bringt einen signifikanten Denkumschlag zum Ausdruck, der sich bereits in den naturalistischen Romanen Kretzers bekundet hatte. Hatte noch der Realismus in Übereinstimmung mit der Nationalökonomie an eine Korrelation von wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung geglaubt und dieses im achtzehnten Jahrhundert wurzelnde Synthesedenken durch das selfmade-Narrativ veranschaulicht,¹⁵² so wird nun ein gegenläufiger Zusammenhang postuliert: Je fortgeschrittener die Wirtschaft, desto verfallener die Moral – so die Botschaft der um 1900 erschienenen Aufstiegsromane. Helfferich blickt indes mit einem gemäßigten Optimismus in die Zukunft und lässt seine mahnenden Worte in einem mobilisierenden Appell ausklingen: Es gelte, „die sittliche und geistige Weiterbildung des deutschen Volkes im Einklang zu halten mit den glänzenden Fortschritten unserer Wirtschafts- und Wohlstandsentwicklung.“¹⁵³ Wenn dieser Einklang erreicht ist, sei der „Zuwachs an materiellem Wohlstand“¹⁵⁴ zugleich ein Aufstieg im kulturellen Sinne. In den meisten Aufstiegsromanen der Jahrhundertwende scheint eine solche Vereinigung von Wirtschaft und Kultur ausgeschlossen. Mit unverhohlener Aversion schildern die Romane rasante Aufstiegswege, in deren Zeichen moralische Normenhorizonte einem skrupellosen Profitdenken, dekadenten Luxusschwelgen oder hybriden Machtstreben zum Opfer fallen. Der Selfmademan wird zum Medium einer Kampfansage gegen den Kapitalismus und die ökonomiezentrierte hybris der Moderne.

 Helfferich, S. 127.  Angelegt ist der Gedanke, dass dem technisch-ökonomischen Fortschritt ein sittlicher Fortschritt entspreche, bereits in Condorcets Esquisse d’un Tableau historique des progrès de l’esprit humain von 1793. Die Vorstellung, dass die Zukunft neue Entdeckungen in Wissenschaft und Technik bringe, verbindet sich bei Condorcet mit dem Gedanken einer sittlich-moralischen Vervollkommnung des Menschen in der Zukunft. Vgl. hierzu Hölscher, S. 64.  Helfferich, S. 126 f.  Helfferich, S. 127.

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Ein exemplarisches Beispiel für diese modernisierungsfeindliche Betrachtung ist Carl Karlweis’ (Pseud., eigentlich: Karl Weiss) 1894 erschienener Roman Reich werden!, der eine deutliche Anbindung an naturalismustypische Erzählkategorien erkennbar werden lässt.¹⁵⁵ Gleich zu Beginn verweist der Roman auf das ihm zugrunde liegende Programm, das sich an das sozialkritische Darstellungsanliegen des Naturalismus anlehnt: Der moderne Dichter habe sich den marginalisierten Existenzräumen der Gegenwart zuzuwenden. Emphatisch bestimmt die Erzählinstanz Schauplatz und Stoff, an denen sich ein „bürgerliches Trauerspiel der Gegenwart“¹⁵⁶ zu orientieren habe: Geschildert werden solle der alltägliche ,Daseinskampf‘ und das damit verbundene „Ringen mit der alten Erbfeindin Not“, die mit „gierigen Armen nach ihren Opfern“ Ausschau halte.¹⁵⁷ Diese immanente Poetik des Romans deckt sich mit dem anschließenden Handlungsverlauf jedoch nur zum Teil. Im Vordergrund der Handlung steht nicht die Prekarität zeitgenössischer Arbeits- und Lebensverhältnisse, sondern im Gegenteil der Ausbruch aus der sozialen Not und der Weg zu einem millionenschweren Reichtum. Entfaltet wird ein ebenso banaler wie suggestiver Plot, dessen Träger an den Protagonisten aus Zolas L’Argent (1890/1891) erinnert. Von einem „brennende[n] Durst nach Geld und Macht“ ergriffen, verlässt Georg Bruckner seinen Angestelltenposten, dessen Lohn nur knapp für die Versorgung der Familie ausgereicht hatte, und steigt in das Börsengeschäft ein, wo es der „Mann der ehrgeizigen Pläne und Hoffnungen“ nach kurzer Zeit zu einem Vermögen bringt.¹⁵⁸ Dem Aufstiegserfolg des Protagonisten gehen folglich keine Phasen ,produktiver‘ Tätigkeit voraus, wie es im Realismus der Fall war, und keine Momente kämpferischen Sich-Durchsetzens qua Kraftausschöpfung, wie es naturalistische Romane suggeriert hatten, sondern kühne Börsenspekulationen und ludisch-kalkülhafte Eingriffe in Gegenwart und Zukunft. Mit dieser Assoziation von Selfmademan und Spekulant nimmt auch der temporale Index des Figurentypus neue Dimensionen an. Die diskontinuitätszentrierte Zeitlichkeit, die das selfmade-Sujet charakterisiert, wird in der Spekulationsthematik gespiegelt. Was

 Diese Anbindung an naturalistische Erzählprämissen ist bereits Zeitgenoss*innen ins Auge gefallen. In einer in den Grenzboten erschienenen Rezension des Romans wird auf die unverklärte Gegenwartsbeobachtung hingewiesen, die Reich werden! im Einklang mit der naturalistischen Programmatik vornehme: „Die nüchterne Beobachtung, die scharfe Wiedergabe der Alltäglichkeit mit ihrem Staub und Schmutz, mit ihren häßlichsten Zügen, bezeugt auch in diesem Roman die Einwirkungen der naturalistischen Theorien.“ O.V.: Vom Romanmarkt und der Novellenbörse. In: Die Grenzboten. Jg. 53, 4. Vierteljahr (1894), S. 461– 472, hier S. 470.  Karlweis: Reich werden! Ein Wiener Roman. Stuttgart: Adolf Bonz & Comp., 1894. S. 3.  Karlweis, S. 2 f.  Karlweis, S. 62.

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die Börse kennzeichnet, ist eine dezidierte Zukunftsorientierung, in deren Zeichen eine radikale Kontingenz monetär nutzbar gemacht wird.¹⁵⁹ Gewinnträchtig werden Spekulationen durch die kalkulierte Differenz zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Werten.¹⁶⁰ Zentral für das Spekulieren ist demnach die Wahrnehmung eines zeitlichen Hiatus und einer potenziell lukrativen Zukunftskontingenz: Als wesentliches Merkmal spekulativer Tätigkeit tritt damit die Risikoübernahme in den Mittelpunkt der Betrachtung. Diese Übernahme des Risikos, das in den möglichen Abweichungen zwischen erwarteten und später realisierten Preisen besteht, ist die eigentliche Grundlage für die Gewinnerzielungsmöglichkeiten. Die Chancen hierzu ergeben sich wiederum aus dem Tatbestand, daß andere Marktteilnehmer bereit sind, einen Preis dafür zu bezahlen, aus der Unsicherheit der Zukunft resultierende Risiken an andere – in diesem Fall an die Spekulanten – weitergeben zu können.¹⁶¹

Neben den temporalen Bezügen stechen die Motive der Figur hervor, die von denen bürgerlich-realistischer und naturalistischer Aufsteiger verschieden sind. Während realistische Figuren von einem bürgerlichen Arbeitsethos und einem Drang nach Kraftmobilisierung angetrieben waren, naturalistische Aufstiegsfiguren ihren darwinistischen Durchsetzungsanspruch ausgelebt hatten, bildet bei Karlweis das Streben nach Reichtum den Motor aller Handlungen. Die schon im Titel angekündigte materialistische Ambition des Handlungsträgers wird von diesem immer wieder ausdrücklich zur Schau gestellt: Ich will wirklich reich werden, weißt du, was das heißt? Tausende von Gulden hinwerfen können für eine Laune, ein Nichts, wenn’s mir gerade Spaß macht. Und über Hunderttausend, über eine Million verfügen mit einem einzigen Federstrich! […] Reich sein, heißt so viel Geld haben, daß man es gar nicht mehr achtet, daß es aufhört, Zweck zu sein, daß es nur Mittel wird, Mittel um in der Welt zu gelten, um seinen Feinden den Fuß auf den Nacken zu setzen, um die Hüte von den Köpfen fliegen zu sehen, wo man hinkommt, um bewundert zu werden, bewundert und gefürchtet.¹⁶²

 Vgl. Franziska Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch. Ökonomie, Judentum und Weiblichkeit bei Theodor Fontane, Heinrich Mann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler und Émile Zola. Bielefeld: Aisthesis, 2009, S. 15 sowie Urs Stäheli: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007. S. 79 f. Stäheli zufolge arbeitet die Spekulation „mit zukünftigen Möglichkeiten“ und werde so zu einer „Kunst der Zukunft“ (Stäheli, S. 79 f., Hervorhebung im Original).  Vgl. Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 15.  Helmut Hochgesand: Spekulation. In: Albers, Willi et al. (Hrsg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Bd. 7: Sozialismus bis Technischer Fortschritt. Stuttgart: Fischer; Tübingen: Mohr; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1977. S. 170 – 177, hier S. 170.  Karlweis, S. 80.

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Das autotelische Geldstreben, das die Teleologie des Romans auf ein ökonomisches Surplus herunterbricht, kehrt den tradierten nationalidentitären Verweisungshorizont des Selfmademans um. In seinem unverhohlenen Materialismus steht der Protagonist für eine Gesinnung, die nationalistische Beschreibungsschemata des neunzehnten Jahrhunderts wahlweise auf das Jüd*innentum oder auf das amerikanische Wirtschaftsleben projiziert hatten. Antisemitische Diskreditierungen bleiben bei Karlweis, der selbst jüdischer Abstammung war, aus, doch lässt sich eine unterschwellige Nähe zur antiamerikanischen Beschreibungslinie beobachten. Obgleich der Roman keine ausdrücklichen Stereotypisierungen vornimmt, lässt er sich diskursgeschichtlich in eine weit verbreitete Deutungstradition des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts einordnen, die Amerika, Kapitalismus und Moderne synonymisiert. Indem Karlweis’ Roman den Selfmademan zum Bezugspunkt einer antikapitalistischen Modernekritik macht, nähert er sich einer Reihe von populärethnographischen Studien der Zeit, in denen antikapitalistische und antiamerikanische Perspektiven korrelieren. Hermann Paasche etwa macht in seinen Kultur- und Reiseskizzen (1894) dem Selfmademan eine exzessive Kapitalakkumulation zum Vorwurf. Der Erfolg des Aufsteigers gründe sich auf „egoistischer Ausnutzung, Ausbeutung, skrupelloser Unterdrückung aller Kleineren und Schwächeren“. Exemplarisch stehe der Selfmademan für die unablässige Vermögensmaximierung im „Land der Großbetriebe“, in dem sich jeder durch „rücksichtslose Spekulationen“ und „gewagte Unternehmungen, die hart an das Strafgesetzbuch streifen“, bereichern könne.¹⁶³ Es sind dieselben antikapitalistischen Beschreibungsschemata, die Karlweis im figurativen Paradigma des Selfmademans verankert. Bei Paasche wie bei Karlweis firmiert der Selfmademan als Inbegriff dessen, was Paul Dehn zehn Jahre später als Zeichen einer „Amerikanisierung“ bezeichnet: „das unablässige, ausschließliche und rücksichtslose Trachten nach Erwerb, Reichtum und Einfluß.“¹⁶⁴ Zwar hatten schon die naturalistischen Romane ähnliche Vorstellungen vom profitgierigen Aufsteiger vermittelt, doch sind die Erzählvoraussetzungen bei Karlweis anders gelagert. Suggeriert wird kein evolutionstheoretisch begründetes Durchsetzen des Stärkeren, sondern die Übernahme einer kapitalistischen Mentalität, die – so das Angstphantasma der Jahrhundertwende – zunehmend die ,alte Welt‘ Europas infiziert. Exotisierende Elemente markieren den Aufstiegsweg des Protagonisten als unbürgerlich und fremd. Sein Einstiegskapital erhält Bruckner durch die Hebung und Bergung eines südungarischen Kohlenschatzes,  Hermann Paasche: Kultur- und Reiseskizzen aus Nord- und Mittel-Amerika. Magdeburg: Verlag von Albert Rathke, 1894. S. 44.  Paul Dehn: Weltwirtschaftliche Neubildungen. Berlin: Allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1904. S. 239.

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der ähnlich wie der von Mephisto verheißene Goldschatz und das von Alberich begehrte Rheingold unter der Erde gelegen hatte und damit von vornherein Konnotationen des Abenteuerlichen und Dämonischen aufweist. Die Diskreditierung des Selfmademans, die sich in diesen Verfremdungen andeutet, steigert sich durch den Einbezug eines Betrugsmotivs. Entdeckt worden ist der Kohlenflöz durch Bruckners Freund Litz, aus dessen Fund und Geschäftsidee der Protagonist Profit schlägt. Aufstieg und Erfolg des Selfmademans gründen sich folglich auf Vertrauensbruch und unlauterem Kapitalerwerb, sodass der Roman eine schon aus Meister Timpe bekannte Engführung von Moderne und Verschuldung vornimmt. Hier wie da geht der Aufstiegsweg, der für den Durchbruch der Moderne steht, mit einer Aufgabe moralischer Maximen einher. Während in Kretzers Roman die oikonomisch-familiale communitas zugrunde geht, sind es bei Karlweis Freundschaft und Ehe, die durch das Aufstiegs- und Geldstreben in Gefahr geraten. Nicht nur Bruckners Freund wird durch den Selfmademan betrogen. An der Spitze der Gesellschaft angelangt, beginnt der Protagonist eine Affäre mit der reichen Ehefrau seines Kompagnons. In dieser Verschränkung von Aufstiegs- und Betrugsmotiv bekundet sich ein temporaler Metacode, der für die histoire-Bildung bestimmend ist. Angesichts ihrer zeitlichen Konnotation erscheinen Aufstiegssujet und Ehebruchsmotiv als erzähllogisch verschränkte Korrelate.¹⁶⁵ Da sich der Aufsteiger von genealogischen Vorgegebenheiten lossagt und die Determinationskraft der Vergangenheit durchbricht, scheint es nur konsequent, dass auch das Treueversprechen für ihn nicht bindend ist. Dass der Protagonist noch dazu das Vertrauen seines Freundes missbraucht, verstärkt den temporalen Subtext, von dem die moralische Diskreditierung des Selfmademans ihren Ausgang nimmt: Aus dem Diskontinuitätscredo des Selfmademans wird eine radikale Bindungslosigkeit, die einmündet in Treue- und Vertrauensbruch. Das Ehebruchsmotiv forciert nicht nur die temporale Erzählebene, die das selfmade-Narrativ bestimmt, sondern untersteht zugleich einer geschlechtsspezifischen Codierung. Der verbreiteten Korrelation von Spekulation und Weiblichkeit folgend, präsentiert der Roman die weibliche Verführerin als Seelenverwandte des Selfmademans. Wie dieser ist Magda Reinwaldt von einer „Lust am Gelde“¹⁶⁶ ergriffen: O, sprechen Sie zu mir wie zu einem Manne, zu einem Geschäftsmanne, wenn Sie wollen. Ich schrecke vor Ziffern nicht zurück. Eine Spekulation, die recht keck und gewagt ist, hat für mich einen prickelnden Reiz, der mich entzückt. So verstehe, so liebe ich das Geschäft […].

 Eine ähnliche Korrelation zeichnet sich bereits in den Aufstiegserzählungen der Spätaufklärung ab; vgl. dazu Vijayakumaran: Im Spiegel der Figur.  Karlweis, S. 129.

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Sie wollen reich werden, – all Ihr Denken und Wünschen geht darauf auf… versuchen Sie nicht, es zu leugnen. Wozu auch? Ich denke darüber ja wie Sie. Was ist entsetzlicher als die Armut, was begehrenswerter als Geld, ‒ freilich viel Geld, Millionen und Millionen!¹⁶⁷

Der Geschlechtercode, der in der Rede anklingt, wird durch eine Polarisierungsstrategie verschärft. Der defeminisierten Geldfetischistin, die sich mit den Interessen eines Geschäftsmanns identifiziert und sich bezeichnenderweise der Mutterrolle entzieht,¹⁶⁸ wird die betrogene Ehefrau des Protagonisten gegenübergestellt. Im Gegensatz zu Magda Reinwaldt erfüllt Lina Bruckner durch ihre passionierte Besorgung des Haushalts und ihre Fürsorge für die Familie das traditionelle Ideal von Weiblichkeit und firmiert dabei als Sprachrohr einer antikapitalistischen Denkweise, die auf das Geldstreben ihres Ehemanns mit Unverständnis reagiert: Er wollte noch mehr Geld verdienen, noch reicher werden? Warum? Wozu? Sie begriff es nicht, obgleich sie fortwährend darüber nachgrübelte. Wenn man keine Sorgen hat, essen und trinken kann, was gut und teuer ist, die besten Kleider für sich und die besten Lehrer für die Kinder bezahlen kann,‒ wozu dann noch arbeiten, sich abquälen? Sie hatte keinen Wunsch, der durch Geld zu erfüllen war, beneidete keinen, der mehr Geld besaß.¹⁶⁹

Durch die kontrastive Raumsemantik des Romans wird die Polarität zwischen den beiden weiblichen Figuren auf die Binarismen von Armut und Reichtum, Luxus und Mäßigkeit, Bürgerlichkeit und Dekadenz abgestimmt. Die prunkvoll ausgestattete „Villa Magda“¹⁷⁰, die eine „Welt von Glanz und Pracht“¹⁷¹ beherbergt, bildet den Gegenpol zu der dürftig eingerichteten, beengten Wohnung Linas. Ausgehend von dieser Kluft zwischen den Milieus entfaltet der Roman eine raumsemantisch ausagierte Moderneerzählung. Lina Bruckners Aversion gegen das ,Drüben‘, das für eine Sphäre des Luxus und der Dekadenz steht, macht sie zu einer Hüterin des bürgerlichen Normsystems, das immer mehr bedroht und schließlich zerstört wird. Schon die erste Visite vonseiten Magdas destabilisiert

 Karlweis, S. 129.  Dies lässt sich der folgenden Passage entnehmen: „Das Kind, ein unschönes, schwarzhaariges Mädchen, mit rotgeränderten Augen und kränklichem Ausdruck des mageren Gesichtchens, hing schlaftrunken im Arm der Mutter, die sichtlich nur wenig daran gewöhnt war, ihr Töchterchen selbst herumzutragen, denn sie hielt es höchst ungeschickt an den dünnen Ärmchen fest, so daß das Kindermädchen von Zeit zu Zeit die zappelnden Beine der angsterfüllten Kleinen zur Ruhe bringen mußte, sonst wäre das Kind schon an der Schwelle kopfüber zu Boden gestürzt.“ Karlweis, S. 55.  Karlweis, S. 276.  Karlweis, S. 33.  Karlweis, S. 81.

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die Grenzen der bürgerlichen Häuslichkeit, die im weiteren Erzählverlauf immer prekärer werden und durch den Aufstiegsweg des Protagonisten vollends verfließen. Der Weg in die oberen Gesellschaftssphären führt den Handlungsträger immer weiter aus der bürgerlichen Welt heraus und nähert ihn der Villa Magda an. Zu Erzählbeginn steht der Protagonist noch der äußeren Hausfassade gegenüber, deren Anblick den somatisch affizierenden Wunsch nach Reichtum verstärkt: „Reich werden! Reich! So reich wie dieser Reinwaldt! Heiß und kalt rieselte es ihm über den Rücken.“¹⁷² Der weitere Verlauf koppelt die Aufstiegsteleologie an einen ähnlichen Integrationsprozess, wie ihn Kretzers Roman präsentiert hatte. Zunächst gelangt die Figur in den Innenraum, dann bezieht sie ein benachbartes Haus, dessen Garten an den der weiblichen Verführerin grenzt, bis sie schließlich nach dem erzwungenen Auszug der Reinwaldts in deren Villa übersiedeln kann. Dieses Überschreiten von Grenzen, das dem Aufstiegssujet eine räumliche Evidenz verleiht, wird in der Erzählung mit einem negativen Wertakzent versehen. Durch Lina fokalisierte Erzählpassagen belegen das mit dem Aufstieg verbundene Projekt der Grenztransgression mit Konnotationen des Bedrohlichen. Aus dem Aufstiegsweg wird eine Emigration in ein verfremdetes ,Drüben‘, die Welt des Reichtums und der Opulenz: Daß der Kompagnon des Hauses Reinwaldt nicht in der kleinen Hofwohnung auf dem Ottakringer Marktplatz bleiben konnte, sah sie ein. Aber es fiel ihr doch schwer aufs Herz, wenn sie der Zukunft dachte, die dunkel und ungewiß vor ihr lag. Es war ihr zu Mute wie einem Auswanderer, der die Heimat verlassen soll. Drüben sei alles viel schöner als daheim, versichert man ihm, das Leben bequemer und reichlicher… Ja, aber es ist – drüben, es ist nicht der Boden, auf dem er zu stehen gewohnt ist, es ist das Fremde, das Ungewisse, das Schreckliche.¹⁷³

Auch an dieser Stelle wird das Aufstiegssujet zum Ausgangspunkt einer ethnischen Codierung, die auf einer Differenzsetzung zwischen dem Eigenen und Fremden aufruht. Dass der Selfmademan die bürgerliche Welt verlässt, kommt nach der deiktischen Symbolsprache des Textes einem Aufbruch in die Fremde gleich, womit die Erzählung die tradierte Verschränkung von Luxus und ,dem Fremden‘, Bürgerlichkeit und ,dem Eigenen‘ übernimmt. Dass es der Selfmademan ist, der für die Seite des Fremden einsteht, verdeutlicht abermals, wie die herkömmliche Codierung des Figurentypus umschlägt. Auch die im Realismus etablierte Idolfunktion des Figurentypus, die schon die naturalistischen Romane ad absurdum geführt hatten, löst sich bei Karlweis endgültig auf. Der Selfmade-

 Karlweis, S. 32.  Karlweis, S. 133.

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man ist nicht mehr das zur Nachahmung empfohlene wirtschaftsbürgerliche Idealsubjekt, sondern der Repräsentant dessen, was die ,heile Welt‘ zerstört: Luxusdenken, Profitgier, moralische Skrupellosigkeit und Egoismus. An die Stelle der Aufstiegsideologie und Kontingenzaffirmation, die der Selfmademan verkörpert, setzt der Roman das Ideal der Genügsamkeit, das der weiblichen Figur Lina und dem betrogenen Freund Litz in den Mund gelegt wird: „Der Glücklichste sei allzeit derjenige, der sich mit den gegebenen Verhältnissen abzufinden wisse.“¹⁷⁴ Propagiert wird also das Gegenteil dessen, was der Selfmademan repräsentiert. Der Aufstieg des Selfmademans dient nicht mehr einer subjektivationsbezogenen Normsetzung und einer laudatio auf die ökonomische Moderne, sondern als Warnung vor den Folgen eines rastlosen Strebens nach Aufstieg und Geld. In diesem Zusammenhang revitalisiert der Roman ein Schema, das schon in den realistischen Romanen die Aufstiegsnarration flankiert hatte, bei Karlweis jedoch umgekehrt wird: Mit dem Aufstieg geht eine conversio einher. Gegen Ende des Romans lernt Georg Bruckner das familiär-private Glück zu schätzen, das seine Ehefrau zu Erzählbeginn emphatisch propagiert hatte. Aus dem Selfmademan wird ein tragischer Antiheld, der, verblendet durch die Ideologie des Aufstiegs und die Gier nach Geld, die „paradiesische Stille und Wohligkeit“ des häuslichen Familienlebens verkennt: Ja, jetzt fühlte er es: das war das Glück, das echte. Und daran war er vorbeigestürmt auf seiner wahnwitzigen Jagd nach dem Reichtum. Nun sah er klar, – nun, da es zu spät war…¹⁷⁵

Obgleich sich die schematisierte Moderneerzählung des Romans primär auf semantisch-narrativer Ebene entfaltet, wird auch die strukturelle Anlage von ihr bestimmt. Die modernetypische Kontingenzerfahrung spiegelt sich in einer zunehmenden Entteleologisierung des Geschehens. Die eindimensionale Motivationsstruktur der Aufstiegsnarration, die sämtliche Geschehnisse auf das Streben nach Aufstieg und Geld zurückführt, wird durch ein weiteres Erzählsujet in eine zirkuläre Verlaufsform überführt, in der das einmal erreichte telos immer wieder revidiert wird. Wie Eine Siegernatur und Der Mann ohne Gewissen verbindet Karlweis’ Roman das Motiv des Aufstiegs mit dem Motiv der Rache, das die Aufstiegsteleologie verstärkt und zugleich unterminiert. Auf der einen Seite bildet die Rache die Initialzündung des Aufstiegs. Es ist das Rachemotiv, das den Wunsch nach Reichtum allererst auslöst. Die degradierende Behandlung, die der Protagonist in seiner Stellung als unterbezahlter Angestellter erfährt, sowie der Ein-

 Karlweis, S. 18 f.  Karlweis, S. 308.

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druck der Verachtung vonseiten des reichen Bankiers Reinwaldt, seinem einstigen Jugendfreund, erfüllen die Figur mit „ohnmächtige[m] Zorn“ und dem Verlangen, „irgend eine Rache […] zu nehmen.“¹⁷⁶ Auf der anderen Seite geht das Rachemotiv mit einer Demontage der aufstiegsteleologischen Verlaufsform einher. Der Erzähltopos der Rache manifestiert sich in einer zyklisch-paradigmatischen Erzählform, die der vom Aufstiegssujet angestoßenen Syntagmatisierung entgegenwirkt und eine strukturelle Oszillation zur Folge hat.¹⁷⁷ Die progressionsemphatische und teleologische Erzähllogik des Aufstiegsschemas geht durch die Anbindung an das Motiv der Rache in einer klimaktischen Zirkularität auf. Der initiale Racheakt des Protagonisten, der den Aufstiegsweg in Gang setzt, löst eine Kette aufeinander folgender Racheakte aus, die einen fortwährenden Wechsel von Aufstiegs- und Untergangsszenarien zur Folge haben und auf diese Weise sämtliche Ereignisse auf eine intransitive Wiederholungslogik abstimmen. Der Protagonist, der sich durch den Aufstieg an seinem einstigen Vorgesetzten und an der Oberschicht schlechthin zu rächen sucht, wird nach dem erzielten Aufstieg selbst zum Opfer eines Racheakts: Seine Ehefrau entdeckt die Affäre, durch die sich der Protagonist parvenühaft den Weg in die Oberschicht gebahnt hat, und provoziert die Rivalin durch einen verbalen Affront, der wiederum bei Magda Reinwaldt unweigerliche Rachegelüste auslöst: „Ihre Rache! Sie wollte nur ihre Rache haben, ‒ an etwas andres vermochte sie nicht zu denken.“¹⁷⁸ Der Racheakt der Figur besteht in einer Intrige gegen Bruckner, dessen geschäftliche Pläne vereitelt werden, was einen Racheakt vonseiten Bruckners zur Folge hat. Gezielte Angriffe auf das Bankhaus Reinwaldts auf dem Börsenmarkt führen zur Insolvenz des Unternehmens und zwingen Reinwaldt und seine Ehefrau zum Auszug aus ihrer Villa. Dieser im Ökonomischen ausgetragene Privatkonflikt mündet schließlich in einem kollektiven und stellvertretenden Rachezug, der den Börsenmarkt zum Schauplatz einer archaischen Agonalität macht. Erzürnt über den Ruin eines alteingesessenen Bankhauses durch den „Emporkömmling“¹⁷⁹, entsteht eine Allianz traditionsreicher Firmen, die Bruckners Unternehmen den Kampf ansagen. Es entspinnt sich ein „Ringen“ zwischen den „Vertreter[n] der alten Firmen“¹⁸⁰ und der neu gegründeten Firma des Selfmademans, das mit einer Niederlage Bruckners endet und auch ihn zum

 Karlweis, S. 31.  Zur paradigmatischen und syntagmatischen Erzählorganisation vgl. Rainer Warning: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 (2001), S. 176 – 209.  Karlweis, S. 217.  Karlweis, S. 269.  Karlweis, S. 299.

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Auszug aus der Villa Reinwaldt zwingt. Dem Aufstieg folgt also der Fall, wodurch das Sujet der Rache die Aufstiegsteleologie überlagert. Der letzte Racheakt führt den stellvertretenden Kampf der Börsenmächte wieder in die private Ebene zurück. Der einstige Freund und Mitbewohner des Protagonisten, Litz, erfährt von Bruckners Betrug an seiner Frau und an ihm selbst, kommt zu dem Schluss, dass seine „Mission die Rache ist“¹⁸¹, und ermordet den gefallenen Aufsteiger im Zweikampf. Die Serie von Rachezügen setzt auf struktureller Ebene ein doppeltes Statement gegen die kapitalistische Moderne. Zum einen unterbindet die zirkuläre Logik des Rachesujets jedwede Suggestion von Progressivität. In der ökonomischen Moderne, die über die erzählte Welt hereingebrochen ist, gibt es keine Fortschritte, sondern nur ein perpetuelles Wiederholen und Fortführen von Handlungsmustern, die schließlich im Untergang aller Beteiligten münden. Zum anderen signalisiert der Siegeszug des Rachesujets über das Aufstiegstelos eine konservativ gefärbte Absage an die vom Selfmademan verkörperte Moderne. Der Aufstiegsweg des Selfmademans besteht in der Transgression einer sozialen Grenze und markiert damit eine vorgeblich modernetypische Dynamik, die bestehende Ordnungen zerfallen lässt. Das Rachesujet dagegen wirkt dem Paradigma der Grenz- und Ordnungstransgression durch eine Äquivalenzlogik entgegen: Rache zielt auf Ausgleich und die Wiederinstandsetzung der destabilisierten Ursprungsordnung. Aus der Verschränkung von Aufstiegs- und Rachemotiv ergibt sich also ein Wechselspiel zweier Strukturprinzipien, die auf verschiedenen Zeitlogiken aufruhen. Während das telos des Aufstiegs auf das Überwinden eines Anfangszustands zielt, stellt die Tauschlogik des Rachesujets die anfängliche Ordnung wieder her, was bei Karlweis in einem Rahmungsprinzip zum Ausdruck kommt: Das Ende der Erzählung führt den Protagonisten wieder zum anfänglichen Handlungsort zurück, womit auch das räumliche Entwicklungsnarrativ, über das sich die Aufstiegsgeschichte konfiguriert hatte, widerrufen wird. Dass die Aufstiegserzählung mit dem Tod ihres Handlungsträgers schließt, verdeutlicht einmal mehr die Neubewertung des Selfmademans. Gewaltsam wird der Repräsentant der Moderne aus der diegetischen Welt ausgeschlossen. Nicht die Aufstiegsnarration, sondern das Sujet der Rache bringt bei Karlweis die poetische clôture. Postuliert wird die Wiederherstellung einer Ordnung, die auf Stabilität und Mäßigkeit aufruht und die der Selfmademan in seiner Profitsucht und Mobilitätsemphase außer Kraft gesetzt hatte. Aus dem Rachemord am skrupellosen Aufsteiger erwächst damit ein antimodernistisches Statement.

 Karlweis, S. 342.

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Ressentiments gegen die entfesselte Moderne sind für die Imaginationsgeschichte des Selfmademans im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert prägend, was umso bemerkenswerter ist, wenn man die literarischen Anfänge des Figurentypus in Erinnerung ruft. Der Selfmademan, mit dem der Bürgerliche Realismus ein Franklin’sches Arbeitsethos, produktive Kraftmobilisierung und Fortschritt im Sinne einer Kulturalisierung assoziiert hatte, wird nun zum Medium einer Modernekritik, die mit dem Spekulant*innentum den Niedergang produktiver Arbeit betrauert und durch das Rachemotiv am Narrativ der Degeneration mitschreibt. Diese modernekritische Erzählebene erfährt in der Folgezeit neue Dimensionen. Bezugnahmen auf ökonomische und soziale Wandlungsprozesse machen den Aufstiegsroman zur Kristallisationsfläche „wettbewerbliche[r] Topoi“¹⁸², die sich, wie Sandra Richter herausgestellt hat, um 1900 herausbilden und sich in spezifischen Handlungsmustern, Themen und Motiven niederschlagen: Es geht um Unterschichten, die durch ökonomischen Erfolg aufsteigen wollen, um das postnietzscheanische Ideal des Übermenschen, den sozialen survival of the fittest, die wachsenden Großstädte, den Einfluss der Medien, der Parteien, um Macht und Ausbeutung, Herrschaft und Genuss, internationale Expansion und nationale Macht.¹⁸³

Aufgerufen wird dieser Themen- und Motivkatalog auch im Aufstiegsroman meist über ressentimentbeladene Stereotypisierungen. Karlweis’ Roman, in dem antisemitische Projektionen ausbleiben und ein Antiamerikanismus lediglich implizit und konnotativ anklingt, bildet damit eher die Ausnahme als die Regel. Die meisten Aufstiegsromane der Jahrhundertwende ‒ allen voran die kanonisch gewordenen ‒ entfalten ihre modernisierungskritische Bezugsebene über eine dezidiert antisemitische oder antiamerikanische Zuschreibungslogik. Ein exemplarisches Beispiel dafür ist Heinrich Manns Roman Im Schlaraffenland (1900), dessen ausgeprägter Antisemitismus in der Forschung wiederholt herausgestellt worden ist.¹⁸⁴ Als Aufstiegsroman lässt sich der Text deshalb bezeichnen, weil er

 Sandra Richter: Wirtschaftliches Wissen in der Literatur um 1900 und die Tragfähigkeit ökonomischer Interpretationsansätze. In: Köppe, Tilmann (Hrsg.): Literatur und Wissen: Theoretisch-methodische Zugänge. Berlin: de Gruyter, 2011. S. 214– 238, hier S. 220.  Richter, S. 220.  Vgl. Carina Baganz: Im Schlaraffenland (Roman von Heinrich Mann, 1900). In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst. Berlin: de Gruyter, 2015. S. 177– 179 sowie Franziska Schößler: Luxusdinge: Antisemitismus und Antikapitalismus in Heinrich Manns Roman Im Schlaraffenland. In: Eming, Jutta et al. (Hrsg.): Fremde – Luxus – Räume. Konzeptionen von Luxus in Vormoderne und Moderne. Berlin: Frank & Timme, 2015. S. 189 – 208. Vgl. außerdem Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 68 – 75 sowie Rolf Thiede: Stereotypen vom Juden: Die frühen

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die grotesk überzogenen Plots der Liebes- und Kriminalgeschichte in die rahmensetzende Struktur der Aufstiegsnarration einlagert. Diese schließt den Roman auf makrostruktureller Ebene an die Erzählform des Märchens an, auf das auch mehrere Elemente der Darstellungsebene anspielen: das Leitmotiv des Schlaraffenlands, das sich als dekadentes Schlemmer*innenparadies entpuppt, und die Figurenzeichnung, die den Aufsteiger Andreas Zumsee als modernen Hans im Glück erscheinen lässt.¹⁸⁵ Ausgehend von diesem Märchenszenario entsteht ein satirisch-groteskes Panorama der gründerzeitlichen Gesellschaft, deren Kerninstitutionen und Erscheinungen – Börse, Banken, Geldelite und Proletariat – als Gegenstände einer „Milieustudie“¹⁸⁶ fungieren. Transportiert wird das handlungsbildende Wissen über Spekulationen, Medien und die Mechanismen des ökonomischen Wettbewerbs über einen unverhohlenen Antisemitismus. Neben dem Stereotyp des jüdischen Emporkömmlings, das sich mit dem Bild jüdischer Unproduktivität und Luxusgier verbindet, stehen antisemitische Pathologisierungen: Türkheimer, der durch Börsenspekulationen einen gigantischen Reichtum erzielt hat und diesen für ein dekadentes Luxusschwelgen einsetzt, leidet an Hautausschlag und Diabetes und somit an Bluterkrankungen, die im antisemitischen Medizindiskurs der Zeit als typisch jüdisch gelten.¹⁸⁷ Seine Herrschaft über kollaborierende Institutionen, seine Allmachtsstellung im Schlaraffenland und sein kolossaler Reichtum lassen ihn als Repräsentanten ebenjener ,Unternehmerbourgeoisie‘ erscheinen, die Gustav Schmoller vier Jahre später anprangert. Über den Unternehmer heißt es bei Schmoller: Er lebt in dem Gefühl, daß ihm die heutige Welt gehöre, daß er mit seinem Gelde wenn nicht alles, so doch sehr viel erreichen könne. Wenn man von Bourgeoisie spricht, so meint man die unschönen, harten, materialistischen Züge der Klasse, die Neigung zu rücksichts- und skrupelloser Gewinnjagd, die Tendenz, Staatsmaschine, Parlament, Börse und Presse nur als Mittel des Geldmachens anzusehen, event. zu erkaufen.¹⁸⁸

Schriften von Heinrich und Thomas Mann. Zum antisemitischen Diskurs der Moderne und dem Versuch seiner Überwindung. Berlin: Metropol, 1998. S. 101– 126.  Vgl. hierzu das Kapitel „Aufstieg und Fall des Hans im Glück. Bourgeois-Satire. Heinrich Mann: „Im Schlaraffenland.“ Ein Roman unter feinen Leuten (1900). In: Hinck, Walter: Romanchronik des 20. Jahrhunderts. Eine bewegte Zeit im Spiegel der Literatur. Köln: DuMont, 2006. S. 15 – 22.  Richter, S. 221.  Vgl. Baganz, S. 179.  Gustav Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 2. München: Duncker & Humblot, 1904. S. 532.

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Manns Erzählung literarisiert dieses Charakterbild des Unternehmers, koppelt es an das Stereotyp des jüdischen Aufsteigers und lässt das von ihm beherrschte Schlaraffenland als Signum gründerzeitlicher Dekadenz erscheinen. Fast die gesamte Gesellschaft setzt sich aus geld- und luxussüchtigen jüdischen ,Neureichen‘ zusammen, die das Schlaraffenland zum Schauplatz eines entfesselten Kapitalismus machen: „Aus dem Traum von der reichsten und glücklichsten aller Welten wird ein Albtraum, eine wettbewerbliche Welt, in der jeder gegen jeden kämpft.“¹⁸⁹ Mit Andreas Zumsee kommt in dem darwinistischen Szenario eine Figur ins Spiel, die in ihrer Einfalt und anfänglichen Unvertrautheit mit den sie umgebenden Verhältnissen die typischen Züge eines Protagonisten satirischer Romane trägt. Durch die Affäre mit der Bankiersgattin Adelheid Türkheimer verschafft sich der anfangs mittellose Student Zugang zum Schlaraffenland. Auf seinen „unaufhaltsamen Aufstieg“¹⁹⁰ folgt jedoch ein ebenso unaufhaltsamer Fall, der ähnlich wie bei Karlweis auf einem Rachemotiv aufruht. Nachdem sich Zumsee an der Geldelite gerächt hat, rächt sich diese an Zumsee und seiner Geliebten Agnes, die schließlich beide aus dem Schlaraffenland verstoßen werden. Der sich hier abzeichnende Konnex von Aufstiegs-, Ehebruchs- und Rachemotiv verbindet den Roman nicht nur mit Karlweis’ Reich werden!, sondern mit den Gesellschaftsromanen des französischen Realismus und Naturalismus. In seinen lukrativen Beziehungen zu weiblichen Figuren, die seinen Aufstieg ermöglichen, erinnert der Protagonist unter anderem an Lucien Chardon aus Balzacs Illusions perdues (1837– 1843) und Georges Duroy aus Guy de Maupassants Bel Ami (1885), dem zentralen Prätext des Romans.¹⁹¹ Kaum zu übersehen sind auch die Bezüge zu Zolas L’Argent und dessen Vorgängerband. Wie L’Argent spiegelt Heinrich Manns Roman durch rasante Aufstiegs- und Fallgeschichten die Diskontinuität und Kontingenz der Börse,¹⁹² wie La Curée (1871) korreliert er Spekulant*innentum, Parvenümilieu und Dekadenz. Der intertextuelle Anschluss an die französischen Gesellschaftsromane mag darauf schließen lassen, dass es bei Mann nicht der Typus des Selfmademans,  Richter, S. 221.  Hinck, S. 16.  Für eine eingehendere Betrachtung der intertextuellen Verbindung des Romans zu Bel Ami vgl. Ulrich Weisstein: Bel-Ami im Schlaraffenland. Eine Studie über Heinrich Manns Roman „Im Schlaraffenland“. In: Wolff, Rudolf (Hrsg.): Heinrich Mann. Werk und Wirkung. Bonn: Bouvier, 1984. S. 77– 93 sowie Ariane Martin: Bel ami als Modepuppe. Männliche Maskerade als kulturkritische Figuration in Heinrich Manns Gesellschaftssatire Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten (1900). In: Nübel, Birgit; Fleig, Anne (Hrsg.): Figurationen der Moderne. Mode, Pornographie und Sport. München: Fink, 2011. S. 69 – 82.  Auf die Parallelen zu L’Argent, Illusions perdues und Bel Ami hat bereits Sandra Richter hingewiesen; vgl. Richter, S. 225.

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sondern der des Parvenüs ist, dessen Imaginationsgeschichte der Aufstiegsroman fortschreibt. Gleichwohl ist das selfmade-Sujet auch für Manns Roman von zentraler Bedeutung. Die im Selfmademan artikulierten Ideale produktiver Arbeit und konsequenter Kraftmobilisierung bilden die positiven Gegennormen, die in der Satire auf den Parvenü ex negativo aufgerufen werden. Wie Matthias Agethen herausgestellt hat, besteht der „zentrale satirische Sinn des Romans […] darin, dass Zumsee aufsteigt und Erfolg hat, ganz ohne etwas dafür zu tun.“¹⁹³ Ein satirischer Kommentar der Erzählinstanz bringt es auf den Punkt: „Früher hatte er ,geochst‘, ohne an etwas zu denken, jetzt tat er nichts und war dabei von hohem Ehrgeiz beseelt.“¹⁹⁴ Verstärkt wird das satirische Potenzial dadurch, dass sich Zumsee selbst als Selfmademan ausweist und als Sprachrohr Franklin’scher Tugenden auftritt: „Mit viel, viel Arbeit könne es jeder so weit bringen wie er selbst. Man müsse sparsam, nüchtern und praktisch sein […].“¹⁹⁵ Aufgerufen wird das selfmade-Narrativ also im Modus satirischer Negativierung. Was Zumsee auszeichnet und zum Erfolg führt, sind Unproduktivität und Arbeitsscheu (sein verkündeter Roman wird nie geschrieben) und damit ebenjene Eigenschaften, die dem selfmade-Narrativ zufolge unweigerlich zum Untergang führen. In der „quasi-aristokratische[n] ,Ökonomie‘“¹⁹⁶ des Schlaraffenlands indes ist das unproduktive Wesen der Figur weder ein Erfolgshindernis noch eine Seltenheit. Die schon im Titel annoncierte Untätigkeit bildet das Charakteristikum der als jüdisch markierten Schlaraffenlandgesellschaft, die nicht im Produzieren, sondern im Konsumieren ihren Sinn findet:¹⁹⁷ Die Leute dort tun sicher den ganzen Tag gar nichts.Was sie Geschäfte machen nennen, weiß ich nicht, aber es nimmt gewiß nicht viel Zeit in Anspruch […]. Man langt eben zu, wie im Schlaraffenland.¹⁹⁸

Kritisch verhandelt werden kann dieses System logischerweise nur dann, wenn ein positives Gegenbild besteht, von dem die satirisch überformte Realität radikal abweicht. Vom Franklin’schen Tugendkatalog ist die Erzählung damit weniger entfernt, als es zunächst den Anschein hat. Er schreibt sich ex negativo in die Schilderungen orgiastischer Exzesse ein, die vor dem Hintergrund der „temper-

 Agethen, S. 320.  Heinrich Mann [1900]: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten. Berlin: Aufbau Verlag, 1968. S. 12.  Mann: Im Schlaraffenland, S. 316.  Agethen, S. 321.  Vgl. Agethen, S. 319.  Mann: Im Schlaraffenland, S. 84.

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ance“-Tugend lasterhaft erscheinen, in die Beschreibungen des Luxusschwelgens, dessen Gegennorm die von Franklin postulierte „frugality“ ist, in die auf das Börsen- und Zeitungsmilieu bezogene Betrugserzählung, die das Ausbleiben der „sincerity“-Tugend thematisch macht, und fundiert vor allem die Figurenzeichnung sämtlicher Schlaraffenlandbewohner*innen, die in ihrer unverhohlenen Unproduktivität zu Gegenspieler*innen der Franklin’schen „industry“-Tugend avancieren. Wenn sich Manns Roman, wie Richter konstatiert, auch als ein „Lehrbuch in Sachen gesellschaftlichen Aufstiegs“¹⁹⁹ lesen lässt, so handelt es sich folglich um ein Lehrbuch mit zwei Seiten: Während auf der einen Seite im Modus satirisch-grotesker Überspitzung dargestellt wird, auf welche Weise in der großstädtischen Moderne ein Emporkommen vonstatten gehen kann und was dafür benötigt wird – eine Beobachtungsgabe, Beziehungen zu Finanzmagnaten und deren Gattinnen sowie ein Talent für Selbstpräsentation – wird auf der anderen Seite ex negativo vorgeführt, wie ein Aufstiegsweg sein könnte und sein sollte: ein Weg der Arbeit, der zu Leistung und Verdienst führt und im Zeichen Franklin’scher Tugenden steht. Mit der implizit aufgerufenen Gegennorm des Selfmademans und dem darin transportierten Bild des produktiv arbeitenden Wirtschaftsbürgers scheint der Roman an ein topisches Selbstbeschreibungsmuster der Moderne anzuschließen: die Vorstellung, dass ein einstig vorherrschendes Arbeitsethos von einer ausufernden Spekulationslust verdrängt worden sei. Bemerkenswert an Manns Roman ist nun, dass er – ähnlich wie schon Kellers Der grüne Heinrich – die Konstruktivität dieses Modernenarrativs hervorhebt. Wann immer nämlich von produktiv arbeitenden (männlichen) Bürgern die Rede ist, geht es nicht nur um eine vormoderne Vergangenheit, sondern um Erzählungen, Imaginationen und Mutmaßungen.²⁰⁰ Ein Kommentar der Erzählinstanz zu Pimbusch beispielsweise nimmt nicht nur überspitzt auf das dekadente Wesen der beschriebenen Figur Bezug, sondern entlarvt zugleich das Bild der bürgerlich tätigen Vätergeneration als Produkt einer Erzählung, wenn es heißt „Nur seine mächtigen Kiefer, die beim Sprechen gefräßig auf- und zuklappten […], erzählten noch von den starken Erwerbsinstinkten seiner Väter.“²⁰¹ Eine ähnliche Konstruktivitätsmarkierung stellt sich ein, wenn die Rede der Erzählinstanz die Vorstellung einer väterlich-vormodernen Bürgerlichkeit im Konjunktiv aufruft.²⁰² Dies ist unter anderem in einer Passage der Fall, in der die Geldaffinität Zumsees mit der Arbeitsamkeit seines

   

Richter, S. 225. Vgl. Agethen, S. 327– 329. Mann: Im Schlaraffenland, S. 92 f. Vgl. hierzu Agethen, S. 327. Vgl. Agethen, S. 327 f.

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Vaters analogisiert wird. In einem satirischen und „gegen-realistische[n]“²⁰³ Erzählgestus wird der bürgerliche Normkomplex als Imaginationsprodukt des geldliebenden Aufsteigers hervorgehoben: Er vergrub das Gesicht in die Hände und stöhnte hinter seinem verlorenen Gelde her. Er hatte es geradeso liebgehabt, als klebte derselbe Schweiß daran wie an den Groschen seines Vaters, des Winzers, der seine Rebstöcke wie Säuglinge pflegte und froh war, wenn sie alle sieben Jahre einmal gut trugen.²⁰⁴

Wie durch die Modalisierung ersichtlich wird, nimmt die Moderne-Imagination bei Mann eine deutlich stärkere Reflexivität an, als es bei Karlweis der Fall gewesen war. Im Gegensatz zu Manns Roman lässt nämlich Reich werden! durch die Charakterisierung Lina Bruckners keinen Zweifel daran, dass konträr zu der entfesselten Moderne ein bürgerlicher Geist waltet, der vom Geld-, Luxus- und Aufstiegsstreben unberührt ist. Was nichtsdestotrotz beide Romane vereint, ist die Aversion gegen die dekadente Mentalität der Gründerzeit, für die beide Erzählungen den Aufsteiger als Sinnbild setzen. Auf die Eigenschaften dieses Typus, seine Ziele und Motive, richtet sich das hauptsächliche Erzählinteresse beider Texte, die insofern zeitgeschichtliche und anthropologische Zugriffe verbinden. Nicht die ökonomisch-sozialen Verhältnisse werden als Merkmale der ,neuen Zeit‘ hervorgehoben, sondern Wesenszüge des modernen Menschen. Sandra Richter konstatiert: Es geht um einen bestimmten Menschentypus, der sich in allen sozialen Milieus findet, ein hohes Wissen über diese Milieus akkumuliert und es manipulativ einsetzt: um den Typus des nihilistischen Egoisten, eine radikale Version des homo oeconomicus – mit künstlerischen Neigungen und exzentrischen Vorlieben. Mit anderen nihilistischen Egoisten konkurriert er um dieselben Güter: um maximalen Genuss, maximalen Erfolg, maximales Lebensglück.²⁰⁵

Bezogen auf die Subgattung des Aufstiegsromans lässt sich Folgendes festhalten: Kernmerkmal des Aufstiegsromans, wie er sich um 1900 profiliert, ist eine wirtschaftsanthropologische Bezugsebene, die einem modernediagnostischen Funktionshorizont untersteht. Über das Charakterbild des wirtschaftenden Menschentypus, der mit dem bürgerlichen Kaufmann nicht mehr viel gemein hat, werden ethnifizierte Bilder der ökonomischen Moderne produziert und Determinanten der Gegenwart bestimmt.

 Agethen, S. 328.  Mann: Im Schlaraffenland, S. 237.  Richter, S. 221.

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Bei Mann und Karlweis steht dieser imaginierte neue Menschentypus noch im Zeichen von naturalistisch geprägten Erzählkategorien – Dekadenz, Daseinskampf und Degeneration. Mit dem zunehmenden Ausklingen des Naturalismus verändert sich die literarische Wirtschaftsanthropologie des Aufstiegsromans und damit auch das Verfahrensarsenal, das ihn bestimmt. Auch kommen mit der von Amerika ausgehenden Trustbildung, dem expandierenden Kartellwesen und den damit verbundenen Monopolisierungstendenzen neue Formen der Unternehmensorganisation hinzu, auf die der Aufstiegsroman – meist im Zeichen kapitalismuskritischer Beschreibungsmuster – reagiert. Um diese Veränderungen nachzuzeichnen, bietet sich ein Blick auf Robert Saudeks 1907 erschienenen Roman Dämon Berlin an. Auch Saudeks Roman ist an einem zentralen Schauplatz der Moderne angesiedelt: dem Warenhaus, an dem, wie Uwe Lindemann gezeigt hat, um 1900 die Bedingungen und Perspektiven moderner Kultur verhandelt werden.²⁰⁶ In Dämon Berlin wird ein fiktiver Warenhauskonzern in Berlin zum Schauplatz eines rasanten Aufstiegs. Binnen Kurzem avanciert der Protagonist Hans Mühlbrecht vom Angestellten einer Plakatdruckerei zum Leiter des Warenhauskonzerns. Bedingt wird dieser Aufstieg zum einen durch den Einsatz moderner Betriebsführungsmethoden,²⁰⁷ zum anderen durch eine hohe Sensibilität für marktwirtschaftliche Entwicklungen und ökonomische Zusammenhänge. Diese Sensibilität ermöglicht es ihm, an den „Schaltstellen von Kapital (Banken), Spekulation (Börse) und Konsum (Warenhaus) nicht nur finanziellen, sondern symbolischen Kredit, sprich Vertrauen zu gewinnen“²⁰⁸ und die Interaktionsmöglichkeiten der verschiedenen Instanzen – Banken, Börse, Massenmedien und Warenhaus – zum Zweck der eigenen Machtausdehnung auszuloten. Der Durchbruch gelingt ihm schließlich durch die Position als Treuhänder des Brüggemann’schen Warenhauskonzerns. Thematisch wendet sich der Roman damit der Unternehmensform des Trustes zu, die seit der Jahrhundertwende einen Gegenstand modernekritischer Debatten bildet. Seinen Konnex zum Erzählprodukt ,Moderne‘ erhält der Trust vor allem dadurch, dass er mit den Zeitfiguren der Diskontinuität und Kontingenz verknüpft ist. Lindemann zufolge ist der Trust „unsichtbar in Bezug auf sein zukünftiges Handeln“²⁰⁹. Dem Paternalismus des neunzehnten Jahrhunderts, dessen Kernprinzip die genealogisch fundierte Kontinuität ist, stehe der Trust diametral entgegen:

   

Vgl. Uwe Lindemann: Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne. Köln: Böhlau, 2015. Vgl. Lindemann: Das Warenhaus, S. 290. Lindemann: Das Warenhaus, S. 290. Lindemann: Das Warenhaus, S. 294.

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Während […] der Paternalismus die Konventionalität, Arbitrarität und Temporalität der modernen Ökonomie einzugrenzen versucht, steht der Trust schon auf organisatorischer Ebene für die Entfaltung dieser Prinzipien.²¹⁰

Es sind dieselben temporalen Dimensionen, die die zeitgenössischen Debatten um die Börse und das Warenhaus bestimmen und im Typus des Selfmademans personifiziert werden. Wenn Saudeks Roman den Treuhänder als Selfmademan erscheinen lässt, macht er folglich auf doppelte Weise die kontingenzzentrierte Zeitlichkeit thematisch, über die sich der grand récit ,Moderne‘ konturiert. Plakativ verkörpert der Selfmademan bei Saudek ein Zeitbewusstsein, das auf Zukunftsoffenheit anstelle von Vergangenheitsbezogenheit setzt. Bezeichnenderweise bleibt die Vergangenheit der Figur unerzählt und wird dezidiert als Leerstelle markiert: Er wußte, daß Brüggemann nach dem Menschen in ihm fragte, daß er mehr von seinem Wesen, seinen Gedanken, seinen Empfindungen wissen wollte, daß ihn seine innere Vergangenheit fesselte, aber er hatte keine andere innnere [sic] Vergangenheit, als das in ihm erwachte und maßlos emporgewucherte Gelüste, Menschen zu lernen, Menschen zu verstehen, Menschen auswendig zu kennen, so restlos, so ganz, daß man mit ihnen spielen konnte […].²¹¹

Der Kernaspekt des selfmade-Narrativs, die Emanzipation von genealogischen Linien, kommt hier radikal zur Geltung und bildet das Fundament der dämonisierten Macht des Aufsteigers. Dadurch, dass die Figur von jedweden Bindungen der Vergangenheit befreit ist, kann sie zur Mitgestalterin von Gegenwart und Zukunft avancieren und ihre Ambitionen ungehemmt umsetzen. Der Modernitätsindex, der dem Protagonisten durch die evozierte Vergangenheitslosigkeit zuteil wird, verstärkt sich durch das Einfließen zeitdiagnostischer Beschreibungsschemata. Indem die Erzählung die Vergangenheitslosigkeit eines Aufsteigers mit der Vorgeschichte eines aristokratische Züge tragenden Kaufmanns kontrastiert, ruft sie einen ethnifizierten Darstellungstopos auf, der seine Wurzeln in den zeitgenössischen Amerikadebatten hat. Vier Jahre vor dem Erscheinen des Romans hat Wilhelm von Polenz in einem Reisebericht über Amerika die Zeitgesinnung, die der Selfmademan versinnbildlicht, auf die amerikanische Gesellschaft projiziert:

 Lindemann: Das Warenhaus, S. 294.  Robert Saudek [1907]: Dämon Berlin. Berlin: Concordia Deutsche Verlagsanstalt, o. J. S. 93.

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Pietät für das Vergangene kann man bei einer Menschenklasse nicht suchen, die so ganz in der Gegenwart lebt, und deren Blick dabei durchaus in die Zukunft gerichtet ist.²¹²

Saudeks Roman, der diese Zeitgesinnung ausdrücklich zum Thema macht, schließt damit zugleich an einen kriseologisch besetzten Themenkomplex an, der für die Zeit um 1900 prägend ist: das Problem der kohärenten männlichen Identität. Vom kontingenzzentrierten Zeitbewusstsein, das der Selfmademan repräsentiert, wird auf eine personale (Nicht‐)Identität geschlossen, wobei der tradierte Konnex von Erinnerung und Identität erkennbar wird: Mit dem Vergangenheitsbezug geht auch die stabile Identität verloren. An die Stelle eines konstant bleibenden Persönlichkeitskerns tritt das Rollenspiel: „Und er befahl dem Reservemann, den er in sich hatte, dem harmlosen Plauderer, für ihn zu sprechen und die Pause auszufüllen, die er zu seiner Sammlung brauchte.“²¹³ Es zeigt sich hier eine ähnliche Assoziation von Aufsteiger und Rollenspieler, die Im Schlaraffenland entfaltet. Auch Manns Roman lässt das opportunistische Rollenspiel als Schlüssel zum Aufstieg erscheinen. Es ist Zumsees strategische Selbstpräsentation als frommer Katholik, die ihm das Protektorat durch Adelheid Türkheimer und die damit verbundenen finanziellen Vorteile einbringt. Sowohl in Manns Roman als auch in Dämon Berlin steht folglich der Selfmademan für eine Moderne, die im Sinne der geläufigen Verlusterzählung als Ort der Theatralität markiert wird. Dass diese Modernekritik über das selfmade-Sujet ausgehandelt wird, ist dem antigenealogischen Erzählkern der Figur geschuldet. Aufsteiger, die mit ihrem Herkunftsmilieu brechen, verlieren dadurch ihre identitären Bindungen und sind durch diese Bindungslosigkeit in der Lage, die eigene Identität situationsabhängig zu gestalten. Diese selbstreferenziell verlaufende Subjektivation wird in den Texten als Ausdruck eines ökonomisierten Selbst- und Weltbezugs markiert: Wenn Zumsee und Mühlbrecht Gegenwart und Zukunft anstelle von Vergangenheit privilegieren, so geschieht dies, um finanziell zu reüssieren. Aus der vergangenheitsunabhängigen Identitätsbildung qua Selbstreferenz wird Kapital geschlagen. Einmal mehr steht der Selfmademan in diesem Sinne der Börse nahe. Auch die Spekulation verbindet Zukunftsorientiertheit und Selbstreferenzialität zum Zweck der Kapitalvermehrung. Ausgangspunkt der spekulativen Maximierung von Profit ist das „gegenseitige Antizipieren der Spekulanten, durch das eine eigene spekulative Welt entsteht.“²¹⁴ Da die Preise von fluktuierenden

 Wilhelm von Polenz: Das Land der Zukunft. Berlin: Fontane & Co, 1905. S. 117.  Saudek, S. 93 f.  Stäheli, S. 109.

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Angeboten und Nachfragen abhängen, wird die Börse zu einem paradigmatischen „Ort […] selbstreferenzieller Geldfixierung“²¹⁵. Dass Im Schlaraffenland und Dämon Berlin diesen Konnex von Temporalität und Selbstreferenz thematisch machen und ihn mit dem Wesen des Selfmademans assoziieren, verdeutlicht, wie eng beide Aufstiegsromane mit der nationalökonomischen Theoriebildung verbunden sind. Was beide Romane anhand des Selfmademans veranschaulichen, wird zeitgleich in den Werttheorien der Nationalökonomie verhandelt.²¹⁶ Spätestens mit Georg Simmels Philosophie des Geldes (1900) und der sich darin abzeichnenden Akzentverschiebung vom Substanzwert zum Funktionswert gewinnt eine wertrelativistische Position Kontur, in deren Zeichen die von Simmel behauptete „Charakterlosigkeit“²¹⁷ als Kernmerkmal des Geldes beschrieben wird.²¹⁸ Fortan symbolisiert das Geld keinen substanziellen Inhalt mehr, sondern sein Wert wird als relational, funktional und fiktional konstituierte Größe gedacht.²¹⁹ Für diese Absage an die Substanztheorie liefern die Aufstiegsfiguren in Dämon Berlin und Im Schlaraffenland literarische Veranschaulichungen. Zumsee und Mühlbrecht, die sich durch strategische und ökonomisch motivierte Selbstpräsentationen auszeichnen, werden so zu Inkarnationen einer selbstreferenziell begründeten (Nicht‐)Identität, die der werttheoretisch bestimmten Logik des Geldes folgt. In Saudeks Roman geht die Assoziation von Selbstreferenz, Temporalität und Theatralität, die das selfmade-Sujet an das Theatralisierungstheorem des frühen zwanzigsten Jahrhunderts anschließt, noch mit einer weiteren Verweisungslinie einher. Die Vergangenheitsunabhängigkeit des Aufsteigers wird nicht nur mit der

 Franziska Schößler: Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Palast der Projekte. In: Schößler, Franziska; Bähr, Christine (Hrsg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld: transcript, 2009. S. 93 – 114, hier S. 96.  Zur Parallele zwischen Im Schlaraffenland und Simmels Philosophie des Geldes vgl. Agethen, S. 318 sowie Erhard Schütz: Heinrich Manns Im Schlaraffenland und Georg Simmel. In: Berbig, Roland et al. (Hrsg.): Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium. Berlin: de Gruyter, 2011. S. 421– 430.  Georg Simmel: Philosophie des Geldes. Leipzig: Duncker & Humblot, 1900. S. 198.  Vgl. dazu Anna Kinder: Geldströme. Ökonomie im Romanwerk Thomas Manns. Berlin/ Boston: de Gruyter, 2013. S. 13 – 15 sowie Otthein Rammstedt: Wert, Geld und Individualität. In: Ders. (Hrsg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. S. 27– 41.  Franziska Schößler spricht von einer „Fiktionalisierung des Ökonomischen“, die sich in der Zeit um 1900 vollziehe und auch in literarischen Texten reflektiert werde.Vgl. Franziska Schößler: Der Börsendiskurs im ausgehenden 19. Jahrhundert: Fiktion und Stigma. In: Künzel, Christine; Hempel, Dirk (Hrsg.): Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 2011. S. 165 – 180, hier S. 169.

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selbstreferenziellen Logik des Geldes korreliert, sondern mit der originären Schaffenskraft des Genies. Es zeigt sich hier eine ähnliche Vernetzung zwischen den Paradigmen des Selfmademans und des Genies, wie sie Berthold Auerbach schon 1872 in seinem Schauspieler-Porträt vorgenommen hat. Unter Rückbezug auf das Genie-Ideal des Sturm und Drang hatte Auerbach das ästhetische und epistemische Potenzial der vermeintlichen Traditionslosigkeit, die der amerikanischen sowie der jüdischen Kultur unterstellt wird, hervorgehoben. Die Nichtgebundenheit an Traditionen bildet laut Auerbach die Grundvoraussetzung für ein innovatives Schaffen: In jedem Menschenleben, das neue Bahnen sucht und sich von der Tradition frei macht oder von derselben frei geblieben ist, kann man etwas von jener weltentdeckenden Zuversicht des Columbus und von jener die Weltbewegung neu fassenden Erkenntnis des Copernicus finden. […] Gegenüber aller geschichtlichen Vergangenheit ist im höchsten idealen, wie im beschlossenen concreten Sinn das durchweg Neue, das wir haben: der self-made-man.²²⁰

Saudeks Roman stellt den Selfmademan zwar nicht als „Weltentdecker“ im Sinne Auerbachs dar, doch zieht auch er eine Verbindung zwischen Vergangenheitsautonomie und Kreativität. Parallelen zu L’Argent, wo der Aufsteiger ausdrücklich als „poète de l’argent“²²¹ bezeichnet wird, oder zu Au Bonheur des Dames, wo Octave Mouret als poetisch-imaginativ begabter Dichter in Erscheinung tritt, sind dabei kaum zu übersehen. Wie Aristide Saccard, der sich von seinen Zukunftsphantasien ekstatisch berauschen lässt, figuriert der aufstiegsambitionierte Reklamefachmann bei Saudek als impulsiver Visionär; und wie Saccard und Mouret lässt sich Mühlbrecht von einer demiurgischen Gestaltungswut lenken: Ruckweise arbeitete sein Kopf, sprang von einer Möglichkeit zu ihrem Gegensatz, sah eine wilde Flucht von Zerrbildern vorbeiziehen, schloß zusammen, warf auseinander, zeichnete in rasendem Furioso wilde Linien in der Luft und zerriß mit hastiger Wut die illusorischen Skizzen, die in der nächtlichen Novemberluft auf Armweite vor seinem Auge vorwärtseilten. Er stürzte festgefügte Häusergruppen, pflanzte Villen an ihre Stelle, zerpflückte auch ihre Linien und ließ Fabriken, Brauereien, Gießereien an ihrer Stätte entstehen. Immer neue Bilder jagten vor ihm einher. Aber nichts hielt er fest, immer wieder fuhr er mit der Hand durch die Luft, als ob er die äffenden Zerrbilder wegwischen wollte.²²²

Die Unstetigkeit der Imaginationen und Bilder, die die Figur produziert, fügt der Moderneerzählung eine zusätzliche Dimension hinzu: Die erzählte Welt der Mo-

 Auerbach: Bogumil Dawison, S. 5.  Émile Zola: L’Argent. Paris: Charpentier, 1891. S. 266.  Saudek, S. 17.

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derne ist nicht das Produkt organischer Transformationen, sondern das Erzeugnis eines autotelischen Wahrnehmungs- und Zeichenexzesses. Es ist indes nicht nur die Produktion imaginärer Bilder, die den Typus des Selfmademans in einen imaginationszentrierten Bezugsrahmen einbindet. Hans Mühlbrecht tritt zum einen als Visionär, zum anderen als Erzähler in Erscheinung. Mehrere kurze Binnenerzählungen profilieren den Protagonisten als Erzählexperten, dessen fingierte Geschichten unterschiedlichen Zwecken dienen. Die Schlüsselfiktion von der Schiffsreise, die den Zuhörerinnen ihr eigenes Verhalten vor Augen führen soll, erfüllt eine didaktische Funktion; eine elegische Paradiesgeschichte soll Brüggemann mit Nostalgie erfüllen. Der Roman adaptiert damit eine herkömmliche Analogisierung, die eine Korrespondenz von ökonomischen und fiktionalen Praktiken behauptet: Um zum Verkauf zu animieren, muss ein imaginativer Mehrwert erzeugt werden. Für diese Fiktionsbildung ist Mühlbrecht, der auch privat als Erzähler reüssiert, prädestiniert. Die Geschichten, die er erzählt, folgen denselben Regeln wie seine Reklamestrategien: Das zweifache Erzählen einer Geschichte wird zurückgewiesen, es verfließen die Grenzen von Realität und Fiktion – „Erlebnisse sind immer wahr und immer erlogen“²²³, postuliert die Figur an einer Stelle –, und es werden eskapistische Bedürfnisse weiblicher Figuren gedeckt, die nach exotischen Phantasmen verlangen: Mühlbrechts Verlobte (und spätere Ehefrau) Trude und ihre Mutter fordern ihn zum Erzählen seiner fingierten „orientalische[n] Erlebnisse“²²⁴ auf und wünschen sich „etwas furchtbar Abentheuerliches“²²⁵. Ziel dieser Geschichten ist eine genderisierte Machtausübung. Durch das kalkulierte Erzählen wird der „Puppenspieler“²²⁶ Mühlbrecht zum Herrscher über Affekte, Bedürfnisse und Phantasien. Dies betrifft nicht nur die Zuhörerinnen seiner Erzählungen, sondern auch die Konsumentinnen der durch Mühlbrecht promoteten Produkte. Die Imaginationsarbeit fungiert als Schlüssel zum Aufstieg und zur Macht. Je mehr es dem Protagonisten gelingt, die Kundinnen in den Bann der Waren und ihrer Imaginationswerte zu ziehen, desto größer ist logischerweise der Umsatz des von ihm geleiteten Konzerns. Die Aufstiegsnarration steht damit ganz im Zeichen eines machtbezogenen Massentheorems, das durch Gustave Le Bons Psychologie des Foules (1895) popularisiert worden ist: „Connaître l’art d’impressionner l’imagination des foules c’est connaître l’art de les gouverner“²²⁷, postuliert Le Bons.

    

Saudek, S. 42. Saudek, S. 34. Saudek, S. 35. Saudek, S. 35. Gustave Le Bon: Psychologie des Foules. Paris: Felix Alcan, 1895. S. 59.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

Was den Handlungsträger bei Saudek indes auszeichnet, ist nicht nur eine kunstaffine Imaginationspraktik und Erzählkompetenz, die ihm beim Projekt des Machterwerbs zugutekommt. In ihren imaginären Zukunftsentwürfen orientiert sich die Figur an einer konkreten ästhetischen Prämisse. Beim Anblick der Warenhausfassade bekundet Mühlbrecht schlaglichtartig eine Kunstauffassung, die Züge impressionistischer Ästhetik trägt: „Farbenflächen, Lichtfluten und architektonische Linien wirken, sonst nichts. Das Figurale ist tot.“²²⁸ Mit dieser Auffassung wird die Figur zum Sprachrohr einer Visualitätsästhetik, die sich um äußere Formationen – Farben, Linien und Umrisse – als Kernobjekte ästhetischer Wahrnehmung zentriert. Auch in diesem Zusammenhang reproduziert der Roman das Bild einer Analogie von Ökonomie und Ästhetik. Die impressionistische Wirkungsästhetik wird als Medium und Produkt kommerzieller Praktiken geschildert. Die optische Wirkung der Farb- und Formkonfigurationen ist Teil strategischer Kalkulationen. Ökonomische und künstlerische Praktiken korrespondieren, wie die Erzählung durch eine selbstreferenziell anmutende Verfahrensstrategie artikuliert: Über einen impressionismustypischen Stilduktus wird die visualitätszentrierte aisthesis, die innerhalb der Diegese kommerziellen Zwecken dient, erzähldiskursiv gespiegelt und somit im Medium der Literatur reproduziert. In einer Beschreibung, die eine Blumenstraußbindung schildert, lassen evidentielle Farbsemantiken den Handlungsgang pausieren: Erst ein Streifen tiefdunklen Grüns, dann beide Ecken, die sich auf fest gefügten Draht anschlossen und neue tiefdunkle Gewinde zu beiden Seiten. Ein heller saftiger Ton frischen Farrens, der verwebte Rand eines einzelnen Blattes klatschroten Mohns, der als verwischter Blutstropfen auf mattem Grunde, wie verglühende Sinnesbrunst klang. Und überall verwebte Rosenblätter, von zartgehauchten Tönen zu grellrot flammenden Malen, und zwischen dem Samt altklug blickender Stiefmütterchen duftschwangere Einzelblüten von Flieder und wieder Blut und ein Streuregen von Vergissmeinnicht, eine verlorene kleine Vogelbeere, eine früh unter hundert schlafenden Sommerblüten verkümmerte Frucht des Waldes und weiß aufleuchtenden Jasmin und flammende Rosenblätter, ein violetter Ton, ein gelbes Sternchen, ein Gänseblümchen und Blutstropfen halb verborgen zwischen Reseda von schwermütig bannendem Atem und Farren und Efeugewinde als Schluß, als Rahmen.²²⁹

Die optische Reizwirkung, auf die Mühlbrechts Verkaufspraktiken zielen, wird an dieser Stelle rhetorisch simuliert und als Poetizitätsprodukt herausgestellt. Was Mühlbrechts Reklame anvisiert, schlägt sich in tropischen Konstruktionen und Wortfiguren nieder. Wiederholungen (tiefdunkel, Blutstropfen, verwebt, flammend, Farren), syndetische Akkumulationen (Atem und Farren und Efeugewin-

 Saudek, S. 14.  Saudek, S. 32.

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de), Synästhesien (klingender Mohn), Anthropomorphisierungen (altklug blickende Stiefmütterchen, schlafende Sommerblüten), Katachresen (verglühende Sinnesbrunst, schwermütig bannender Atem), die Häufung von Partizipialattributen sowie der elliptische und enumerative Stil dynamisieren die imaginative Rezeption und tendieren auf ebenjene Bild- und Reizüberflutung, die in der erzählten Welt Mühlbrechts Reklamestrategien erzeugen. Mit den semantischen Veruneindeutigungen und Sinnaufschiebungen realisiert sich im Erzähldiskurs zudem jenes Prinzip, das Mühlbrecht in einem Gespräch mit seiner Ehefrau Trude als Maxime seiner Reklamepraktiken präsentiert und das einmal mehr die Anbindung des Textes an die antisubstanzialistische Geldtheorie Simmels vor Augen führt: „Der Materialwert ist gleichgültig, die Wirkung ist alles.“²³⁰ Der Erzähldiskurs implementiert diese Prämisse, indem er aus seinem Material, der Sprache, keinen semantischen Wert generiert, sondern arbiträre Bilderketten produziert, die auf Suggestivwirkung anstelle hermeneutischer Fixierung zielen. Abgesehen von der Analogisierung von Ökonomie und Kunst birgt die farbsemantische evidentia noch ein weiteres Funktionspotenzial in sich. Mit der suggerierten Farbenfülle setzt sich die Erzählung von einer metaphorischen Beschreibungslinie ab, die über die Farblosigkeit die differenztilgenden und abstrahierenden Tendenzen der ökonomischen Moderne kritisiert. Simmel spricht in seinem Essay Die Großstädte und das Geistesleben (1903) von einer „Entfärbung der Dinge durch die Äquivalenz mit dem Gelde“²³¹. Die Farblosigkeit fungiert als Zeichen eines Verlusts jedweder Idiosynkrasien und Differenzen durch die äquivalenzstiftende Funktion des Geldes: [I]ndem das Geld, mit seiner Farblosigkeit und Indifferenz, sich zum Generalnenner aller Werte aufwirft, wird es der fürchterlichste Nivellierer, es höhlt den Kern der Dinge, ihre Eigenart, ihren spezifischen Wert, ihre Unvergleichbarkeit rettungslos aus.²³²

Literarisch popularisiert wurden die Metaphern der Farblosigkeit und Entfärbung durch Zolas Au Bonheur des Dames, der als „Urtext der Warenhausliteratur“²³³ Saudek gewiss nicht unbekannt gewesen ist. Die visuellen Warenarrangements Mourets entwerfen eine „Warenlandschaft in Weiß“²³⁴, in der sich der Einzelge Saudek, S. 31.  Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 122.  Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, S. 121 f.  Uwe Lindemann: Im Bann der Auslagen. Literatur und Warenhauskultur um 1900. In: Schmitz-Emans, Monika; Lehnert, Gertrud (Hrsg.): Visual Culture. Heidelberg: Synchron, 2008. S. 197– 212, hier S. 198. Hervorhebung im Original.  Franziska Schößler: Rausch der Dinge: Literarische Warenhäuser. In: Scholz, Susanne; Vedder, Ulrike (Hrsg.): Handbuch Literatur und materielle Kultur. Berlin/Boston: de Gruyter, 2018.

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genstand simulativ seines Gebrauchswerts entledigt und in einem differenzlosen Einheitsgebilde entäußert. Bei Saudek kehrt sich diese Entdifferenzierung um.²³⁵ Das Blumenarrangement zielt nicht auf eine Nivellierung der Unterschiede, sondern auf eine Nuancierung derselben. Dass diese Nuancierung mit rhetorisch produzierten Sinnaufschiebungen und hermeneutischen Störpotenzialen einhergeht, lenkt das farbsemantisch artikulierte Modernebild in eine andere Richtung, als es bei Simmel und in der Zola’schen Schaufenstersequenz der Fall ist. An die Stelle der Äquivalenz tritt die Fülle, die jedoch in ihrer sinnaufschiebenden Tendenz ebenjenen Verlust eines externen Referentenbezugs markiert, den Simmels Geldphilosophie thematisch macht. Im Gegensatz zu Simmel jedoch führt Saudeks Roman den Zeichenselbstbezug nicht auf die Funktionsweise des Geldes zurück, sondern auf die visualitätszentrierte, als kunstaffin markierte Gestaltungsstrategie eines Reklamefachmanns, die der Erzähldiskurs semiotisch spiegelt. In ihrer intrikaten (Selbst‐)Reflexivität führt die Erzählsequenz um die Blumenstraußbindung eine poetologische krypto-histoire fort, die einen konstitutiven Teil der Aufstiegsnarration darstellt und sich in mehreren Erzählelementen niederschlägt. Zentral in diesem Zusammenhang ist die Rolle des Aufsteigers als Zeichenleser. Mühlbrechts Erfolge werden durch seine semiotische Expertise bedingt. Diese beweist er nicht nur in den am Rande erzählten Geschichten, sondern in Dechiffrierungen und Semantisierungen, die einer ostentativen Gendercodierung unterstehen. Gegenstand der Lesbarkeit, die immer auch einen Akt der Aneignung signalisiert, sind in erster Linie weibliche Figuren. Ein Machtspiel mit der Tänzerin Nina Petrowna etwa wird durch eine Zeichenexegese initiiert: „Nina Petrowna will gleich einer Hetäre locken, will Angst hervorrufen und mit Opfern spielen. […] Sehen Sie daraufhin diese langen Diamantohrringe an. In der Art, wie sie sie trägt, liegt ein orientalischer Zug, ein Herabdrücken des Frauenpreises auf materielle Werte, ein Feilhalten teurer, kostbarer Ware.“²³⁶

S. 281– 288, hier S. 285. Vgl. auch Juliane Vogel: Mehlströme/Mahlströme. Weißeinbrüche in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Ullrich, Wolfgang; Vogel, Juliane (Hrsg.): Weiß. Frankfurt a. M.: Fischer, 2003. S. 167– 192, hier S. 185.  Auch bei Saudek gibt es eine Stelle, an der Farbverlust zum Thema wird. Bei einer Inspektion des Warenhauses untersucht Mühlbrecht an einigen Produkten die Echtheit der Farbe und beobachtet bei einem Stoffgewebe, wie sich die Farben auflösen (Saudek, S. 174). Die durch die Farbsetzung produzierten Differenzen erscheinen damit als künstlich, unstet und betrügerisch, was sich als symbolische Kritik an Massenproduktion und Kommerzialisierung lesen lässt.  Saudek, S. 144.

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Die Semantisierung erscheint hier als Zusammenspiel von interpretierendem und interpretiertem Subjekt: Nina Petrowna selbst wird eine strategisch eingesetzte semiotische Kompetenz zugeschrieben, was die empfundene Ebenbürtigkeit der Figuren – und die dadurch ausgelöste Affäre – begründet. Wie Mühlbrechts Machterwerb mit hermeneutischen Aneignungen zusammenhängt, wird sein Niedergang mit dem Verlust der Dechiffrierungsfähigkeit korreliert: Er sah die schon zu so früher Abendstunde leuchtenden Lichtkugeln durch das Land glänzen, sah den leisen Nebelschleier, der um die Kugeln lagerte und die schwirrenden Insekten, die nach der Flamme strebten. Er sah dies alles, aber es wirkte auf ihn wie schwer zu enträtselnde, geheimnisvolle Zeichen einer fremden Traumwelt.²³⁷

Ausgelöst wird das Nachlassen der hermeneutischen Omnipotenz durch das Kernmerkmal des Aufsteigers: die Rastlosigkeit. In seiner „innere[n] Unruhe“²³⁸ und „Unrast“²³⁹ wird dem Protagonisten die Außenwelt zum Enigma. Die metasemiotische Erzählebene geht in eine Überbürdungsgeschichte über und vernetzt dabei eine entropisch anmutende Verlaufsform mit dem Motiv der hybris: Mühlbrechts Weg zur Macht vollzieht sich über eine hybride Mobilisierung hermeneutisch-semiotischer Kräfte, die sich selbst verausgaben und schlussendlich erschöpfen. Poetologisch lesbar ist nicht nur die Metasemiotik der Verausgabungsgeschichte, die der Roman entfaltet. Wie seine realistischen Vorläuferromane lagert der Roman in die Aufstiegserzählung eine literarische Wertungsebene ein, die Poetologie und Zeitbilanz zusammenführt: Etablierte literarische Paradigmen werden auf ihre Gegenwartsbezogenheit hin befragt. Gegenstand der Wertung ist bei Saudek vor allem das darwinistisch inspirierte Narrationsmuster des Naturalismus. Was dem naturalistischen Erzählsystem als elementare Gesetzlichkeit gegolten hatte, wird in Saudeks Roman nicht als Metacode aufgerufen, sondern als zirkulierende Erzählung offengelegt und im Rahmen eines analeptischen Einschubs, der Figuren- und Erzählstimme zusammenfließen lässt, vermittelt: Stetig, in ununterbrochener Kette der Geschehnisse war das Geschäft größer, war ein Faktor im Leben Berlins geworden, war der Gegenstand des Stolzes jedes einzelnen Bewohners der Millionenstadt, der faszinierende Anziehungspunkt für den Fremden, das Objekt, auf den

 Saudek, S. 247.  Saudek, S. 246.  Saudek, S. 246.

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die kleinen Geschäftsleute ihren Fluch sprachen, die Lebenslüge all der schwachen, lebensunfähigen Individuen, die seine Größe als Ursache ihrer Kleinheit sahen.²⁴⁰

Dass die Erzählung einen populären Erzähltopos parenthetisch einschiebt, setzt ein poetologisches Statement: Der Kausalnexus vom aufsteigenden Warenhaus und untergehenden „kleinen Geschäftsleuten“, der für Au Bonheur des Dames erzählleitend gewesen ist, hat sein Funktionspotenzial als narrativer Kernbaustein verloren und kann nur noch als retrospektiv eingeblendetes, ergänzendes Erzählelement aufgerufen werden. Neben dem ,Kampf ums Dasein‘ verabschiedet der Roman ein weiteres Erzählmuster. Ein eingeschobener Rückblick stattet den Warenhausinhaber Brüggemann mit einer Vorgeschichte aus, die auf einem herkömmlichen KünstlerBürger-Konflikt fußt. Brüggemann, der noch in der diegetischen Jetztzeit den Wunsch hegt, „jener Er selbst zu werden, den er immer mehr in sich werden fühlte und der er nicht sein durfte“²⁴¹, steht damit im Zeichen einer Erzähltradition, die Saudeks Roman anachronisiert. Gekoppelt an eine Nebenfigur und retrospektiv eingebunden, erscheint der bildungsromantypische Künstler-Bürger-Konflikt als marginalisiertes Residuum einer abgeschlossenen Vergangenheit. Repräsentant der Moderne ist nach der Erzähllogik des Romans nicht das nach Selbstverwirklichung strebende Subjekt, sondern der Typus des Aufsteigers, den der Text als Gegenpol zu Brüggemann darstellt und mit einem deutlichen Modernitätsindex versieht: Wenn die Erzählung durch Mühlbrecht fokalisiert, so ist der Erzählfokus auf die diegetische Jetztzeit gerichtet, die keine Präfigurationen kennt. Weder hat Mühlbrecht identitäre Konflikte auszuhandeln, noch wird er in genealogische Zusammenhänge eingebettet. Träger der Handlung ist also eine Figur, für die ausschließlich Gegenwart und Zukunft zählen. Dass der Protagonist in Saudeks Roman alles andere als ein Bildungssubjekt darstellt, zeigt sich auch in seinem anfänglichen Verhältnis zur diegetischen Außenwelt. Die erzählte Realität tritt der demiurgischen Geniefigur als Realisationsraum subjektiver Vorstellungen entgegen. Gleich zu Erzählbeginn projektiert die Figur – die an dieser Stelle wieder einmal Saccard und Mouret ähnelt – eine tiefgreifende Umgestaltung der Großstadt: Der kleine, schüchterne Mensch […] hatte sich in einen von seinen Ideen begeisterten Mann gewandelt, der durch Berlins Straßen raste und den weiten Plan durchkreuzte, auf dem er die Schlachten für seine Idee schlagen, den er verwandeln und zu einer imposanten Apotheose auf das Symbol vorwärtsstürzenden Lebens türmen wollte. […] Ihm schien, daß er allein

 Saudek, S. 77 f.  Saudek, S. 83.

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wach war und in Gedanken die Zukunftswelt schuf, die Welt mit ihren lebendigen, sich im ewigen Lauf überstürzenden Sensationen, die den Menschen die Sinne wachrütteln und sie zu neuer Arbeit wecken sollte.²⁴²

Mit dem Bild der Außenwelt als aneignungsbereite tabula rasa, deren Strukturen erst durch die Handlungsinitiative des Protagonisten hervorgebracht werden, setzt der Roman bei einem Zustand an, der in der Romantheorie seit Hegel als Voraussetzung der „wahre[n] Selbständigkeit“²⁴³ gilt. Mühlbrecht steht zu Beginn mit der erzählten Außenwelt in ungebrochener Beziehung und bildet damit den Gegenpol zum klassischen Bildungssubjekt, wie es geschichtsphilosophisch perspektivierte Gattungsmodelle imaginieren. Der Protagonist kann als gestaltende Kraft auf die diegetische Welt einwirken, kennt keine Spaltung zwischen Innen- und Außenwelt und hat sich nicht den ,prosaischen Verhältnissenʻ zu beugen. Mit dieser Synthese-Evokation wird die temporale Konnotation der Figur in eine ambivalente Richtung gelenkt. Einerseits wird die Figur durch ihre Gestaltungsmacht mit Eigenschaften ausgestattet, die das tradierte Verlustnarrativ auf die Vergangenheit projiziert. Andererseits zementiert ebendiese Demontage ,sentimentalischer‘ Beschreibungsmuster den Konnex zwischen dem Protagonisten und dem grand récit ,Moderne‘. Dass der Protagonist immer mehr Handlungsmacht gewinnt, steht im Zeichen einer modernisierungskritischen und antikapitalistischen Beschreibungslinie, die „das Schreckgespenst einer in nur wenigen Händen liegenden Macht des Kapitals skizziert“²⁴⁴. Der machtambitionierte und anonym agierende Protagonist, der dank seines Ehrgeizes und seiner Imaginationskraft zum unsichtbaren Herrscher über die erzählte Welt avanciert, korrespondiert eins zu eins dem Bild, das Wilhelm von Polenz in seiner AmerikaAbhandlung zeichnet: Der Wille zur Macht beherrscht jeden normalen Yankee. […] Die grossartigsten Organisationen, kühnsten Pläne, feinsten Schachzüge, würdig grosser Diplomaten, gehen von Leuten ohne Rang, Titel und öffentliche Stellung aus, von jenen mit praktischer Phantasie begabten Persönlichkeiten, die fast unbemerkt im Hintergrunde auf irgend einem Feldherrnhügel halten und die Heere nach ihrem Winke schwenken und eingreifen lassen, mit Menschen operieren, als seien es Zahlen, und die Kapitalien hin und herwerfen, verteilen und zusammenziehen, wie gut einexerzierte Bataillone. Für unsere zahme europäische Anschauungsweise haben solche Erscheinungen etwas gigantisch-dämonisches.²⁴⁵

 Saudek, S. 14.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik. Hg. von Heinrich Gustav Hotho. Bd. 10/1. Berlin: Duncker & Humblot, 1835. S. 231.  Lindemann: Das Warenhaus, S. 291.  von Polenz, S. 118 f.

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Saudeks Roman eignet sich dieses Bild nicht nur dadurch an, dass er sämtliche der von Polenz benannten Eigenschaften auf den Protagonisten projiziert. Das „Gigantisch-Dämonische“, von dem in Polenz’ Bericht die Rede ist, ruft ein Bildfeld auf, das Saudeks Roman leitmotivisch anzitiert. Nach und nach mutiert das Geniehafte zum Dämonischen, das einer geschlechtsbezogenen Diskurslogik folgt. Die geordnete Welt der als weiblich markierten Figuren wird durch den dämonisch-hostilen Eindringling gestört. Fokalisierungswechsel rücken den Aufsteiger in das Blickfeld einer weiblichen Perspektive, in der er als dämonische Bedrohung erscheint: Unsichtbare Hände walteten im Raume und spannen lautlos Gewebe um sie und von irgendher lugte ein Blick, der sie bannte. Sie fühlte, wie sie bebte. Eine Gewalt, die sie ringsum ahnte, bannte sie und zwang sie, daß sie zusammenkauerte und reglos und nur bebend blieb, wie das Opfer, das eine Schlange mit dem Blicke fesselt. Und nun sah sie den fremden Blick wirklich, sah Hans, der sich leise in die Wohnung geschlichen hatte und im Türrahmen stand.²⁴⁶

Die Bedrohungssemantik dieser Passage lässt die Vorstellung vom Selfmademan, die in der Gestalt Mühlbrechts zum Ausdruck kommt, in einem affektiv besetzten Modernebild der Zeit aufgehen. Der Protagonist, der schon in seiner Vergangenheitslosigkeit und demiurgischen Kraft das zeittypische Unbehagen an der entfesselten Moderne sichtbar werden lässt, wird durch seine Machtbesessenheit und Bedrohlichkeit einmal mehr zur Figuration einer perhorreszierten ,neuen Welt‘. Die Dämonisierung der Figur reproduziert nicht nur diskursübergreifend zirkulierende Rhetoriken, sondern birgt ein erzähllogisches Funktionspotenzial in sich, das mit dem anti-idealistischen Impetus des Romans zusammenhängt. Telos der Erzählung ist weder die Sichtbarmachung eines Tiefengesetzes, wie es der Topos vom ,Kampf ums Dasein‘ anvisiert, noch die Aufzeigung oder Negation einer Versöhnbarkeit von Ich und Welt, wie es der Bildungsroman in Angriff nimmt. Spuren des idealrealistischen Erzählprogramms werden demonstrativ ausgetilgt. Die Verklärung der erzählten Welt weicht einer Verfremdung. Vor diesem Hintergrund scheint es nur konsequent, dass eine dämonisierende Metaphorik den Handlungsgang beschließt. An die Stelle der auktorialen Sinnaufladung, die in der poetisch-realistischen Verfahrenstradition das erzählte Geschehen im Nachhinein metacodiert,²⁴⁷ tritt die Negation eines übergeordneten Sinnprinzips:

 Saudek, S. 253.  Vgl. hierzu Christian Rakow: Auf dem Weg in die Marotte. Wilhelm Raabes Else von der Tanne, Villa Schönow, Stopfkuchen und die Tücken der Metonymisierung im Poetischen Realismus. In: Baßler, Moritz (Hrsg.): Entsagung und Routines. Aporien des Spätrealismus und Ver-

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Was war es doch, das ihn ewig und unruhvoll von Ort zu Ort, von Arbeit zu Arbeit, von Plan zu Plan, von Idee zu Idee hetzte, was ihm keinen Frieden gönnte und Gewalt über ihn gewann? Berlin war es. Dieses gigantische Ungeheuer war es, das um ihn her tobte, in tausend Lärmen bebte, zehntausend Dinge an ihm vorbeirasen ließ, in hunderttausend Farbenreflexen strahlte und in einer Million von Lichtern weißgelbe Fluten breitete. Berlin war es, über das sich ein Dämon gelagert hatte, ein Dämon, der ihn aus jeder Ecke anglotzte, der in den Fratzen der waren- und modewütenden Menschen zu ihm sprach, der ihm den Atem benahm und ihn erbarmungslos zu Tode hetzte.²⁴⁸

Formulierungen, die im ersten Kapitel die Ideenbesessenheit des Protagonisten akzentuiert hatten, werden in der zitierten Passage wiederholt, was das erzählte Geschehen mit einer Spur des Tragischen belegt und einen zentralen Propositionskern des selfmade-Sujets ex post relativiert. Das Handeln des Protagonisten erweist sich als von vornherein determiniert und ist insofern bar jeglicher Gestaltungsmacht und Selbstbestimmung. Die Suggestion einer dämonischen Kraft, die die Ideenbesessenheit der Figur erst entfacht, ihren Willen und ihre Taten steuert, verstärkt das Bild der unausweichlichen Determiniertheit. Im zurückgelegten Aufstiegsweg erkennt der Protagonist nun eine unbeeinflussbare Geschehensfolge – ein „Schicksal, das in ihm selbst ruhte und dem er nicht entgehen konnte“²⁴⁹. Mit dem Bild des Dämons, der die Großstadt befallen und den Protagonisten heimgesucht hat, kleidet der Roman seine Kapitalismuskritik in eine suggestive Metaphorik ein, die zugleich den poetologischen Subtext der Erzählung forciert. Aufgefasst als subjektives Phänomen, verkörpert der Dämon das Beherrschtsein von einer Idee und steht somit für einen monomanisch anmutenden Wahrnehmungsmodus, der dem ästhetischen Ideal der Exemplarität entgegensteht. Die Funktion des Dämons ist insofern nicht nur eine zeitdiagnostische, sondern eine poetologische, was abermals die Ebenen der Zeitbilanz und Poetologie zusammenführt. Der schon im Naturalismus angedeutete Bruch in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans tritt dabei in radikaler Form zutage. Die Dämonensemantik, die als Zeichen einer radikalen Subjektivität und eines verfremdeten Wirklichkeitsverhältnisses fungiert, markiert eine Absage an die Verklärungsnorm. Ansprüche auf symbolische Repräsentanz und Allgemeingültigkeit, die das realistische Erzählprogramm bestimmt hatten, weichen rein partikularen Perspektiven. Anstelle des harmonischen Bezugs zur Außenwelt steht die einseitige Subjektivität, anstelle der aneignungsbereiten Realität eine hostile Außenwelt. fahren der frühen Moderne. Berlin: de Gruyter, 2013. S. 25 – 47, hier S. 25. Vgl. darüber hinaus Baßler: Zeichen auf der Kippe, S. 12 f.  Saudek, S. 323 f.  Saudek, S. 324.

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3 Der Naturalismus und die Genese des Aufstiegsromans

Die Abkehr vom Verklärungsideal greift schließlich auch auf die discoursEbene über. Am Ende des Aufstiegswegs steht ein „aus arbeitsmäßiger Überlastung und sexueller Impotenz resultierende[r] Wahn“²⁵⁰ des Protagonisten. Den unentrinnbaren Zwangsgedanken des Aufsteigers entsprechend wird der Romanschluss von einer Reihe von Wiederholungen durchzogen sowie von einer parallelistischen und parataktisch strukturierten Syntax, die das gedankliche Kreisen um das Immergleiche spiegelt. Strophenartig strukturierte Erzählsequenzen und ein rhythmisierter Stil, der kehrreimartig den Tagesumsatz einblendet, versprachlichen die monomanische Obsession des Protagonisten: Da… was war das? Deutlich sah er vor sich im Dunkeln die siebenziffrige Zahl einer Summe. Er biß sich auf die Lippen, er wollte nicht hinsehen, aber er las: 2746000. […] Er schlug sich vor den Kopf, er riß sich an den Haaren, aber er wurde die Ziffer nicht los. Immer wieder las er, oder stammelte gar, was wußte er, immer wieder sah er nur die Summe: 2746000. Er stürzte hin zu dem Lager, auf dem er ihren Leib wußte […], durch den Atem ihres Leibes dachte und sah und fühlte er nur die eine Zahl: 2746000.²⁵¹

Mit der auch stilistisch markierten Besessenheit des Protagonisten schlägt die Erzählung offenkundig einen antirealistischen Weg ein. Als Ausdruck radikaler Subjektivität und Devianz gehört der Wahnsinn zu den Sujets, die das Verklärungsprogramm ausgeklammert hatte.²⁵² Als exemplarisch kann die Äußerung Julian Schmidts gelten, der dem Wahnsinn das Recht auf Literarisierung abspricht: Die Darstellung des Wahnsinns ist eine unkünstlerische Aufgabe, denn der Wahnsinn, als die Negativität des Geistes, folgt keinem geistigen Gesetz; die Willkür hat einen unermeßlichen Spielraum, und die hervorzurufenden Stimmungen contrastiren so gewaltsam mit einander, daß ein lebendiger Eindruck nicht möglich ist. […] Der Wahnsinn als solcher gehört in das Gebiet der Pathologie, und hat ebenso wenig das Recht, poetisch behandelt zu werden, als das Lazareth und die Folter.²⁵³

 Lindemann: Das Warenhaus, S. 292.  Saudek, S. 336.  Zur Diskussion um die Darstellungslegitimität von Wahnsinn im Realismus vgl. Thomas Anz: Das Poetische und das Pathologische. Umwertungskriterien im programmatischen Realismus. In: Titzmann, Michael (Hrsg.): Zwischen Goethezeit und Realismus. Tübingen: Niemeyer, 2002. S. 393 – 408.  Julian Schmidt: Georg Büchner. In: Die Grenzboten. Jg. 10, Bd. I (1851), S. 121– 128, hier S. 122.

3.2 Kritiken der ökonomischen Moderne (Karlweis, Heinrich Mann, Saudek)

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Wenn Saudeks Roman gegen Ende den Wahnsinn zum Thema macht, so nimmt er folglich einen Bruch mit dem Verklärungsanspruch vor, der sich auch in der Dämonenmetaphorik abzeichnet. Der intern fokalisierte Modus überführt die auf narrativer Ebene vorgeführte Partikularität der Figur in den Erzähldiskurs, sodass diese, mit Baßler gesprochen, Züge einer „idiosynkratischen Routine“²⁵⁴ annimmt. Die im Selfmademan verkörperte und bei Saudek negativ bewertete Loslösung von der Vergangenheit wird damit auch auf discours-Ebene produktiv in einer Verfahrensweise, die stellenweise die tradierten Bahnen der realistischen Erzählpoetik verlässt.

 Zum Begriff der „Routine“ vgl. Baßler: Zeichen auf der Kippe, S. 15 sowie Baßler: Deutsche Erzählprosa, S. 115 – 120.

4 Perspektiven auf die neue Welt Die bisherigen Entwicklungslinien des deutschsprachigen Aufstiegsromans kennzeichnen diesen als Romantypus, der seinen Erzählgehalt vornehmlich aus wirtschaftsanthropologischen Zeitbilanzen schöpft. In den 1910er Jahren koppelt sich diese wirtschaftsanthropologische Bezugsebene wieder an eine thermodynamische Referenzialität, die dem Aufstiegsroman seit seiner zentralen Prägung im Naturalismus innegewohnt hatte. Die im Naturalismus dominant gesetzten Paradigmen der Kraft und physischen Gesundheit entfalten dabei neue Strahlkraft im Kontext von Romanen, die das selfmade-Narrativ an das kriseologische und kulturkritische Denken der Jahrhundertwende anschließen. Selfmademan und Aufstiegsroman werden zu Kristallisationsflächen subjektivationsbezogener Angstvisionen und Ideale, die seit dem neunzehnten Jahrhundert textsortenübergreifend zirkulieren und sich aus dem Narrativ der Dekadenz herleiten. Mobilisiert wird ein Beschreibungsarsenal, das sich auf der asymmetrischen Leitdifferenz von Gesundheit und Krankheit gründet und seit dem neunzehnten Jahrhundert auch literarische Wertungspraktiken bestimmt.¹ Wenn Max Nordau in seiner 1883 veröffentlichten Essaysammlung Paradoxe die zeitgenössische Literatur als eine „Sammlung von Krankengeschichten“² bezeichnet, so betrachtet er den „Inhalt der poetischen Literatur“³ unter einem normativen Blickwinkel, der in einer programmatischen Weisung an zeitgenössische Schriftsteller*innen mündet: die Aufgabe, „statt des Buches vom kranken das Buch vom gesunden Menschen zu schreiben“⁴. Der Aufstiegsroman des frühen zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich in die Reihe der Romane stellen, die dieser Forderung gerecht zu werden suchen. Welche Akzentsetzungen sich dabei ergeben, soll im Folgenden anhand von Gustav Frenssens Roman Klaus Hinrich Baas (1909) und Johannes Schlafs Roman Aufstieg (1911) gezeigt werden. Analog zu nationalökonomischen Unternehmertheorien und in gleichzeitiger Abgrenzung von diesen tendiert Klaus Hinrich Baas auf eine Entkriseologisierung der Moderne, die der Roman als Schauplatz einer urwüchsigen Kraft und Ganzheit inszeniert. Auch in Aufstieg geht es um eine Bewältigung der Moderne, doch setzt Schlafs Erzählung bei völlig anderen epistemischen Prämissen an: Der Schlüssel zur Regeneration ist bei Schlaf ein monistisches Totalitätsdenken.

   

Vgl. hierzu Vijayakumaran: Aufstieg statt Untergang. Max Nordau: Paradoxe. Leipzig: Elischer, 1896. S. 230. Nordau: Paradoxe, S. 226. Nordau: Paradoxe, S. 239.

https://doi.org/10.1515/9783110766134-009

4 Perspektiven auf die neue Welt

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Neben der Kontextualisierbarkeit des Aufstiegsromans im kulturkritischweltanschaulichen Denken des frühen zwanzigsten Jahrhunderts lassen beide Erzählungen verfahrenstechnische Transformationen ersichtlich werden. Bei Frenssen besteht diese Transformation vor allem in einer Tendenz zur Revitalisierung: Das Verklärungsdogma wird bei Frenssen wieder in eine reflexive Ebene erhoben. Die temporale Konstruktionsfunktion des Selfmademans verbindet sich mit einer poetologischen Referenzbildung, sodass sich erneut die Konvergenz von Zeitbilanz und Poetologie einstellt, die die Aufstiegspoetik in der realistischen Literatur der 1850er und 60er Jahre bestimmt hatte. Parallel zu dieser Reaktivierung realistischer Beschreibungsmuster zeigt sich indes, und dafür ist der Aufstiegsroman von Schlaf repräsentativ, eine gegenläufige Tendenz: Der Aufstiegsroman öffnet sich zu einer idiosynkratischen und damit genuin modernen Erzählform.⁵ Diese Modernisierung des Erzählens zeichnet sich auch in einem weiteren Roman ab, der in diesem Kapitel in den Blick genommen wird: Bernhard Kellermanns Der Tunnel (1913). Obgleich es sich bei dem Text um keinen Aufstiegsroman im engeren Sinne handelt, ist er für die Imaginationsgeschichte des Selfmademans aus zwei Gründen zentral. Zum einen tritt in ihm auf exemplarische Weise die Anbindung des Selfmademans an den Imaginationskomplex ,Amerika‘ hervor. Wie Kellermanns Roman verdeutlicht, wird die temporale Erzählebene des selfmade-Narrativs im frühen zwanzigsten Jahrhundert mit Stereotypen korreliert, die den Typus des Selfmademans in den breit geführten Diskurs um die ,Amerikanisierung‘ einbinden. Zum anderen gewinnt die kraftund männlichkeitszentrierte Erzählebene in Kellermanns kurz vor dem Ersten Weltkrieg erschienenem Roman neue Dimensionen. Das Charakterbild, das anhand des Selfmademans Mac Allan und seiner Arbeiter entworfen wird, weist auf die literarische Anthropologie der Neuen Sachlichkeit voraus und auf die kraftzentrierten Männlichkeitsideale faschistischer Diskurse, grenzt sich von diesen jedoch durch eine eminent reflexive und metaperspektivische Funktionsdimension ab. Unverhohlen ideologische Züge nimmt die Darstellung des Selfmademans dagegen in Rudolf Herzogs Roman Die Stoltenkamps und ihre Frauen (1917) an, dessen abschließende Analyse das Ziel verfolgt, die Transformation des selfmade-Narrativs zur Zeit des Ersten Weltkriegs zu erkunden.

 Idiosynkratisch sind laut Baßler die ,Routines‘, die die literarische Moderne um 1900 strukturieren und von der metacodierenden Erzählpraxis des Verklärungsrealismus unterscheiden. Vgl. Baßler: Zeichen auf der Kippe, S. 13 – 21.

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4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf) Gustav Frenssens Roman Klaus Hinrich Baas (1909) ist ein prototypischer Aufstiegsroman, der kurz nach seinem Erscheinen und seiner Übersetzung ins Englische auch als „story of a self-made man“⁶ annonciert und untertitelt worden ist. Durch „praktische[n] Geist“⁷ und „Arbeitsgier“⁸ vom mittellosen Lehrling zum reichen Handelspionier aufgestiegen, blickt der Titelheld gegen Ende mit Stolz auf seinen Aufstiegsweg zurück. Zugleich schaut er mit einem Steigerungsbestreben in die Zukunft: Er, Klaus Baas, hatte sich alles aus eigener Kraft erworben! „Wie weit habe ich es gebracht! Und ich werde es noch weiter bringen! Das Vermögen muß noch wachsen; und damit der Kredit; und damit die Macht!“⁹

Das Bild des nach Steigerung trachtenden Unternehmers ist für die Imaginationsgeschichte des Selfmademans seit dem Naturalismus prägend, erfährt jedoch in Frenssens Roman neue Akzente. Dies geht schon aus seiner makrostrukturellen Anlage hervor. An die Stelle einer kohärenten histoire tritt eine Kette einzelner Ereignisse und Episoden. Der Aufstiegsweg führt den Protagonisten von Ort zu Ort, lässt ihn eine Reihe von beruflichen Positionen durchwandern und konfrontiert ihn mit immer neuen Figuren – insgesamt rund 100 –, die als Träger*innen aneinandergereihter Kurzepisoden fungieren. Den damit verbundenen „Episodenwucherungen“¹⁰, die schon der zeitgenössischen Kritik ins Auge gefallen sind, wird nun auf zwei verschiedene Weisen Einhalt geboten. Zum einen setzt das Aufstiegsschema eine Syntagmatisierung in Gang, die die eingedämmte Erzählteleologie wiederherstellt. Zum anderen zeigt sich innerhalb der Einzelepisoden und -ereignisse eine Wiederholungs- und Steigerungslogik, die nicht nur Kohärenz stiftet, sondern die klimaktische Diskurslogik der Aufstiegsnarration forciert. Anfangs erzählte Ereignisse werden im späteren Erzählverlauf durch analoge, aber weiter dimensionierte Geschehnisse gespiegelt. Den Versuchen des jungen Klaus Baas, 76 Mark zur Schuldentilgung aufzutreiben, korrespondieren die Anläufe, 146000 Mark zur Firmensicherung zu ergattern; dem Tod des Vaters,  Vgl. die 1911 erschienene Übersetzung des Romans von Esther Everett Lape und Elizabeth Fisher Read: Gustav Frenssen: Klaus Hinrich Baas. The story of a self-made man. New York: The Macmillan Company, 1911.  Gustav Frenssen: Klaus Hinrich Baas. Berlin: Grote’sche Verlagsbuchhandlung, 1909. S. 215.  Frenssen, S. 215.  Frenssen, S. 524.  Hanns Martin Elster: Gustav Frenssen. In: Westermanns Monatshefte. Bd. 115, Jg. 58, Teil 1 (1913), S. 227– 232, hier S. 231.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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der ihn zum frühen Eintritt ins Berufsleben zwingt, korrespondiert der Tod des Freundes Arthur Eschen, der den Protagonisten zum Einstieg in das Thauler’sche Unternehmen bewegt. Der Erzähldiskurs konstituiert sich folglich über ein Zusammenspiel verschiedener Strukturprinzipien: Syntagmatizität und Episodenhaftigkeit verbinden sich ebenso wie Linearität und Digression. Nicht nur die Erzählstruktur grenzt Frenssens Roman von den zuvor erschienenen Aufstiegserzählungen ab. Allein die Tatsache, dass Klaus Hinrich Baas seinen Protagonisten über sämtliche Phasen des Lebens hinweg begleitet, lässt ihn aus der Reihe früherer Aufstiegsromane herausfallen. Die Romane Saudeks, Manns und Karlweis sowie die naturalistischen Aufstiegsromane hatten stets einen bestimmten Ausschnitt aus dem Leben des Aufsteigers dargestellt – den Zeitabschnitt, in dem sich sein Aufstieg und Fall vollziehen, – und dabei meist im Erwachsenenalter angesetzt, sodass die Kindheit und das Heranwachsen des Protagonisten Leerstellen geblieben waren. Paternale Kontinuitäten, genealogische Vorgegebenheiten und familiale Bindungen hatten für die Figuren keine Relevanz, sodass es nur konsequent erscheint, dass eine Genealogisierung ausgeblieben war. Frenssens Roman dagegen weitet die Aufstiegsgeschichte zur Lebensgeschichte aus und schildert dabei die klassischen Stationen männlicher Lebensläufe, von der Kindheit, Schulzeit und dem Wehrdienst über die Lehrlingszeit, berufliche Etablierung und Familiengründung. Obgleich auch Klaus Baas als Selfmademan ein Außerkraftsetzen der Vergangenheit als Determinationsinstanz signalisiert, widmet sich die Erzählung in demselben Maße seiner Kindheit, in dem sie seinen Aufstieg schildert. Und obgleich die Selbstreferenz, die für das selfmade-Sujet konstitutiv ist, beibehalten wird, verortet die Erzählung ihren Handlungsträger immer wieder im Kontext der Familie und nimmt Bezug auf das Leben seiner Eltern und die Schicksale seiner Geschwister. Deutlich stärker als die zuvor erschienenen Aufstiegsromane lenkt also Frenssens Erzählung das Augenmerk auf den Selfmademan als Individuum. Dieser Individualfokus geht nun keineswegs mit einer Aufgabe der zeitgeschichtlichen Erzählebene einher. Im Gegenteil: Dass sich der Roman auf den Lebensweg einer Einzelfigur konzentriert, lässt sich auf seinen zeitdiagnostischen Erzählanspruch zurückführen. Wie die zuvor erschienenen Aufstiegsromane korreliert Frenssens Roman das Narrationsmuster des Aufstiegs mit dem Metanarrativ ,Moderne‘, als deren personifizierter Inbegriff der Aufsteiger erscheint. Dass es bei Frenssen ein Unternehmer ist, dessen Charakterporträt als Medium der Zeitbilanz fungiert, lässt die Nähe des Romans zur Nationalökonomie ersichtlich werden. Auch diese beschreibt Entstehungsbedingungen und Kennzeichen der ökonomischen Moderne über eine (wirtschafts‐)anthropologische Perspektive. Der Sozialtypus des Unternehmers wird zum Protagonisten einer evolutionistisch angelegten Erzählung, die den Beginn der Moderne als Heraus-

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4 Perspektiven auf die neue Welt

bildung eines „modernen Wirtschaftsmenschen“¹¹ ausgestaltet. Karl Lamprecht etwa sieht im modernen Unternehmer den historischen Endpunkt einer Jahrhunderte übergreifenden Entwicklung, in deren Verlauf der ,Geist‘ der Vormoderne dem modernen kapitalistischen Wirtschaftsgeist gewichen sei: Diese Seele, dieser Geist ist etwas Neues, das der Art einer früheren Zeit fast im Sinne eines vollen Kontrastes entgegensteht, ist das eigentliche Kennzeichen der Gegenwart, und in reißender Schnelligkeit hat sich dieser Geist im Laufe etwa der zwei letzten Menschenalter und völlig erst mit der letzten Generation entwickelt.¹²

Ähnlich wie Lamprecht spricht auch Sombart von einem grundlegenden Wandel im wirtschaftlichen Denken. Das Aufkommen einer neuen ökonomischen Mentalität habe einen neuen Menschentypus begründet und den Übergang von der Vormoderne zur kapitalistischen Moderne bedingt. Eine Analyse des ,Zeitgeists‘ könne nur über eine Analyse dieses neuen Menschentypus angestellt werden: Wie der Geist unserer Zeit geworden ist und wie er sich heute gestaltet, will dieses Buch zu schildern versuchen, indem es eine Genesis des repräsentativen Trägers dieses Geistes: des Bourgeois, gibt.¹³

Jener neue Geist sei im Wesentlichen ein ,Unternehmergeist‘, den Sombart über Charakteristika beschreibt, die der Aufstiegsroman seit dem späten neunzehnten Jahrhundert als Kernmerkmale des Selfmademans etabliert hat: Macht- und Erfolgsstreben, Arbeitsdrang, Willenskraft und Rastlosigkeit.¹⁴ Die Nähe zwischen Frenssens Roman und der Unternehmertheorie zeigt sich auch in der insinuierten Referenzialisierbarkeit und Typenhaftigkeit des Selfmademans. Wie Sombarts Abhandlung lässt Frenssens Roman den Unternehmer und Selfmademan als Typus erscheinen, der dem Wirtschaftsleben sein Gepräge gibt. Klaus Baas füge sich ein in die Reihe von Männern, die in jenen Jahren und bis heute in unserm aufstrebenden Volk so zahlreich sind, die, von unten herauf durch arbeitsgierigen Willen hochgekommen, weit im Lande die Webstühle sausen und die Hämmer schlagen machen, Arbeit und Geld ins Land schaffen, ihrem unbändigen Arbeitsdrang, ihrem leidenschaftlichen Trieb, Pläne zu ersinnen und mit zäher, heimlicher Klugheit auszuführen, Macht und Ansehen zu gewinnen […].¹⁵

    

Vgl. Sombart: Der Bourgeois. Lamprecht, S. 242. Sombart: Der Bourgeois, S. III. Vgl. Sombart: Der Bourgeois, S. 223 f. Frenssen, S. 524 f.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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Ausdrücklich wird also die fiktive Figur Klaus Baas als Repräsentantin eines realiter anzutreffenden Typus markiert. Schon der zeitgenössischen Kritik ist die Typizität der Figur ins Auge gefallen. So schreibt Wilhelm Alberts in seiner 1922 erschienenen Frenssen-Studie: Es ist wieder eine im höchsten Grade typische Gestalt: der Mensch der Tat, der „self-mademan“, der Mensch, dessen Tätigkeits- und Unternehmungstrieb immer mehr ins Große,Weite geht, ja zum Maßlosen, Unermesslichen drängt. Dadurch wird diese Gestalt zum Symbol des modernen Menschen überhaupt, zu dem speziell der Deutsche durch den Eintritt in die weltwirtschaftliche Ära innerhalb kurzer Zeit sich gewandelt hat.¹⁶

Die Vorstellung eines modernetypischen Subjekts bildet in Frenssens Roman den Ausgangspunkt für eine Neukonzeptualisierung des Aufsteigertypus. Der Selfmademan, wie ihn Frenssens Roman präsentiert, ist nicht nur deshalb eine Figuration des ,neuen Menschen‘, da er in seinem ökonomiebezogenen Steigerungsdenken Merkmale aufweist, die um 1900 als genuin modern gelten.¹⁷ Auch und vor allem fungiert er als ,neuer Mensch‘ in einem umfassenderen, lebensreformerisch geprägten Sinne. Das neue Menschentum, das Frenssens Roman schildert, verbindet die Vorstellung eines kapitalistischen Unternehmergeists mit Subjektivationsidealen aus der Dekadenzkritik. Erzählleitend sind Differenzierungen zwischen Gesundheit und Krankheit, Vitalität und Dekadenz, normaler und pathologischer Disposition. Diese Differenzen werden bei Frenssen aufgerufen, ohne dass eine temporale Kategorisierung vorgenommen wird. Anstatt einer vermeintlich pathologischen Moderne das Bild einer gesunden Vormoderne gegenüberzustellen, markiert der Roman Gesundheit und Vitalität als Eigenschaften, denen der Durchbruch der Moderne ein Fortleben bereitet. Angedeutet wird dies über genealogische Verweisungen. Der Protagonist wird als Abkömmling eines Bauerngeschlechts dargestellt, der in seinem unternehmerischen Wirtschaften die Tugenden der Vorfahren weiterträgt: Der frische Mann […] von altem Bauerngeschlecht, in welchem Arbeitslust und Zuverlässigkeit immer die ersten der Tugenden waren, […] brachte neues Wollen und Planen in das etwas zage und unsicher betriebene Geschäft, an dem er nun Teilhaber war.¹⁸

 Wilhelm Alberts: Gustav Frenssen. Ein Dichter unserer Zeit. Berlin: Grote’sche Verlagsbuchhandlung, 1922. S. 122.  Vgl. in diesem Zusammenhang Sombarts Ausführungen zum Thema „Der Bourgeois einst und jetzt“ (Sombart: Der Bourgeois, S. 194– 240).  Frenssen, S. 506.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

Deutlich zeigt sich hier die Transformation, die das selfmade-Sujet bei Frenssen erfährt. Zwar artikuliert auch Klaus Baas durch den Bruch mit seiner paternalen Herkunftssphäre einen Gegenwartsbegriff, der sich an die Zukunft anstelle der Vergangenheit koppelt. Die genealogische Bezugsebene jedoch verortet den Selfmademan in einem Kontinuum und stabilisiert die Achse diachroner Bindungen. Vermittelt wird dieses Kontinuitätscredo auch durch die Selbstbeschreibung der Figur, die ihre unternehmerischen Aufstiegs- und Machtambitionen im Zeichen genealogischer Sukzessivität betrachtet: Ich bin geworden, was mein Name sagt: ein Baas d. h. ein Brotherr. Mein Vorfahr war es wohl zwischen Weizenfeldern; ich bin es im Kaufmannskontor.¹⁹

Dass der Selfmademan von einem Genealogiedenken geleitet wird, lässt das Synthese-Ideal sichtbar werden, das die modernisierungsgeschichtliche Erzählebene bei Frenssen bestimmt. Träger der erzählten Moderne ist nicht der dämonisierte Antiheld, der mit der Vergangenheit bricht, sondern ein Aufsteigertypus, der genealogisches Bewusstsein und Innovationsdenken in sich vereint. Mit dieser Synthese wird der kriseologische Duktus, der den grand récit ,Moderne‘ gemeinhin bestimmt, konterkariert. An die Stelle der Bindungslosigkeit setzt Frenssens Roman die genealogische Verwurzelung, sodass modernisierungskritische Beschreibungsmuster einen ihrer narrativen Kernbausteine einbüßen.²⁰ Was der Protagonist verkörpert, ist die Vorstellung eines neuen Menschentums, das mit der Bindungslosigkeit auch die Dekadenzsymptome hinter sich gelassen hat. Zu diesem ,neuen Menschen‘ wird Klaus Baas insbesondere durch sein Verhältnis zur erzählten Außenwelt. Immer wieder lässt der Roman in die Figurenzeichnung Ideale der Naturnähe, Gesundheit und Simplizität einfließen: Im „starke[n] sinnliche[n] Begehren“²¹ der Figur spiegelt sich die lebensreformerische Idee einer von gesellschaftlichen Zwängen befreiten Sexualität, in ihrer ländlichen Herkunft die Vorstellung einer Naturverbundenheit, in ihrer Übersiedlung nach Hamburg das stereotypisierte Bild „eines gesunden niederdeut-

 Frenssen, S. 581.  Gerade der durch den Selfmademan vollzogene Bruch mit Bindungen hatte in den zuvor erschienenen Aufstiegsromanen als Ausgangspunkt einer Kritik an der Moderne gedient. Das bindungslose Subjekt der Moderne hatte den Gegenstand einer antiamerikanischen Dämonisierung (Saudek), einer antisemitischen Pathologisierung (Heinrich Mann) und antikapitalistischen Verschuldungserzählung (Karlweis) gebildet. Derartige Verfremdungen und Diskreditierungen bleiben bei Frenssen aus.  Frenssen, S. 506.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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schen Menschenschlages“²², das durch Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) popularisiert worden ist.²³ Dadurch, dass der Protagonist sowohl der Stadt als auch dem Land zugeordnet wird, korrespondiert er einem anthropologischen Ideal, das zehn Jahre zuvor Arthur Dix in einer nationalökonomischen Abhandlung formuliert hat: Das Band mit der Natur, das der Großstadtmensch sehr zu seinem Schaden gelöst hat, muß wieder geknüpft werden, es muß eine neue Rasse geschaffen werden, die die geistige Regsamkeit des Städters mit der Gesundheit des Landsmanns verbindet – eine kunstfähige Rasse.²⁴

Die lebensreformerische Tendenz, die in Dix’ Ausführungen anklingt – vor allem, wenn der Nationalökonom ein „Geschlecht von Vollnaturen“²⁵ visioniert – schlägt sich in Frenssens Roman nicht nur auf semantisch-narrativer Ebene nieder, sondern spiegelt sich auch in seiner sprachlichen Gestaltungsform. Parataktisch strukturierte und polysyndetisch aneinandergereihte Satzfügungen erzeugen Eindrücke von Monotonie, Lakonizität und Einfachheit, die die narrativ vermittelte Normsetzung bekräftigen. Evoziert werden Solidität und ein Verzicht auf ornamentale Überformungen, sodass der Sprachgestus der Erzählinstanz mit der Persönlichkeit des Handlungsträgers in Einklang gebracht wird. Diese simulative Angleichung von discours- und histoire-Ebene erstreckt sich auch auf Satzanfänge. Auffallend viele Sätze beginnen mit den Konjunktionen „dann“, „und“ sowie „und dann“, die zugleich als Nebensatzkonnektoren fungieren und so eine einmal evozierte Abgeschlossenheit immer wieder aufbrechen. Diese beständige Relativierung syntaktischer clôture – die in sprachlicher Form auf das offene Ende der Erzählung vorausweist – lässt sich in Bezug zu Propositionskernen des selfmade-Sujets setzen. Wie die genealogische Kontextualisierung der Figur ein Anknüpfen an die Vergangenheit versinnbildlicht, während sein Aufstiegsweg eine Veränderlichkeit signalisiert, changiert die Sprache der Erzählung zwischen Kontinuitäts- und Diskontinuitätsevokation. Die Häufung konjunktionaler Fügungen suggeriert ebenso wie die parataktische Syntax und Reihungsstruktur unentwegte Anschlüsse zwischen vorausgehenden und folgenden Sätzen, wohingegen die Brüche in der syntaktischen Geschlossenheit die jeweiligen Sätze aus dem Einflusshorizont der vorigen Wortfolgen herauslösen.

 Dieter Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit. Tübingen: Niemeyer, 1992. S. 146.  Vgl. Julius Langbehn: Rembrandt als Erzieher. Leipzig: Hirschfeld, 1890. S. 38.  Arthur Dix: Die Wurzeln der Wirtschaft. Leipzig: Freund & Wittig, 1899. S. 226.  Dix, S. 219.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

Es ist indes nicht nur der temporale Verweisungshorizont des Selfmademans, der durch die konjunktionalen Satzanfänge sprachlich untermauert wird. Auch das Ideal der Naturverbundenheit, das sich in der Figurenzeichnung niederschlägt, wird auf sprachlicher Ebene konsolidiert. Durch die satzeinleitenden Konjunktionen bildet sich ein paternalistisch intonierter Sprachgestus heraus, der Lautlichkeit und Oralität evoziert und so den Modus schriftlicher Verlautbarung simulativ überlagert:²⁶ Er trat im Lauf des Jahres in die Warenabteilung über, und lernte unterscheiden zwischen guten, geringen und schlechten Qualitäten in allerlei Manufakturwaren, und bekam ein Gefühl für die Preise von bunten Gummibällen bis zu verwegenen Bronzestatuetten, und drang mit Erfolg in die Geschmacksrichtung jener fremden Völker, und stand, da der Quartiersmann erkrankte, fünf Tage lang im harten Ostwind und Frost in guter Haltung mit spärlichen ruhigen Worten im Grasbrookhafen im Schuppen 71, an dem er vor zwei Jahren so oft vorbeigefahren war, und überwachte die Verladung der Warenballen. Und als das Jahr sich zu Ende neigte und Karl Eschen fortging, konnte er wirklich Suse Garbens in einem großen Brief schreiben, daß er nun an dessen Platz stände. Und er stand da sicher und überlegte, wie jener getan hatte, und trug das Debit und Kredit in das große grau gebundene Buch, in dem vorne noch immer nach der alten Kaufmannsweise das „Mit Gott“ stand.²⁷

Die Suggestion oraler Verlautbarung führt die Ebenen der histoire und des discours propositional zusammen.Wenn das Gesprochene, wie Derrida behauptet, in einer mit Platon einsetzenden phonozentrischen Denktradition mit Naturaffinität, Ursprünglichkeit und Authentizität assoziiert worden ist, so fließen in die discours-Ebene ebenjene lebensreformerischen Neumenschvisionen ein, die die Figurenzeichnung bestimmen. Die Vorstellung einer gesunden Naturwüchsigkeit, die durch die ländliche Herkunft des Protagonisten angedeutet wird, wird damit sprachlich manifest in einem Erzählmodus, in dem der zeittypische Vorbehalt gegen die Arbitrarität und Abstraktion von Sprache anklingt. Mit der Oralität fingiert Klaus Hinrich Baas einen Modus, der fast zeitgleich von Saussure als Signum einer ursprünglichen und substanzhaften Kommunikationsform beschrieben worden ist. In ihrer Lautlichkeit bildet die Stimme Saussure zufolge das

 Bereits Uwe-K. Ketelsen hat darauf hingewiesen, dass Frenssens Erzählungen auf ein Vorlesen hin angelegt sind, durch das sie aus ihrer „toten Schriftlichkeit in die lebendige Mündlichkeit befreit wurden.“ Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Frenssens Werk und die deutsche Literatur der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts. Zuordnungen, Parallelen, Abgrenzungen. In: Dohnke, Kay; Stein, Dietrich (Hrsg.): Gustav Frenssen in seiner Zeit. Von der Massenliteratur im Kaiserreich zur Massenideologie im NS-Staat. Heide: Westholsteinische Verlagsanstalt Boyens & Co, 1997. S. 152– 181, hier S. 169.  Frenssen, S. 192.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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„natürliche und allein wirkliche Band“²⁸ zwischen Zeichen und Bezeichnetem und wird so zu einem präsenzmetaphysisch aufgeladenen Phantasma: Ausgehend von der Vorstellung einer natürlichen und unmittelbaren Bezeichnung qua Stimme wird eine „absolute Nähe der Stimme zum Sein“ postuliert.²⁹ Frenssens Roman, der die Naturverbundenheit seines Protagonisten über eine evozierte Oralität diskursiviert, lässt einen ähnlich phonozentrischen Denkhorizont aufscheinen und verlautbart damit auf discours-Ebene die Oppositionen, die für die kulturkritischen Selbstbeschreibungen der Moderne zentral sind: Präsenz statt Absenz, Identität statt Differenz. Angesichts dieser Normsetzungen mag es nahe liegen, Frenssens Roman im Kontext der literarischen Lebensreformbewegung zu betrachten. Von deren ,gegenmoderner‘ Stoßrichtung jedoch ist die Erzählung, die das Ideal der Naturnähe auf einen modernen Unternehmertypus projiziert, weit entfernt. Als Opposition innerhalb der Opposition greift Frenssens Roman die „antimoderne Verweigerung“³⁰ der Lebensreform- und Heimatkunstbewegung auf, ohne deren antiindustriellen Romantizismus zu teilen. Eine Tendenz zum retrofiktionalen ,Sentimentalismus‘, die für den grand récit ,Moderne‘ charakteristisch ist, schlägt sich zwar im Erzählstil nieder, nicht aber auf Handlungsebene.³¹ Dort deutet sich zunächst ein positiver Blick auf die Moderne an. Dies zeigt sich vor allem in der dichotomischen Raumsemantik, die das selfmade-Narrativ mitkonstituiert. Die sozial codierte Oben-unten-Differenz, die der Protagonist durchkreuzt, koppelt sich bei Frenssen – wie in den meisten Aufstiegsromanen der Jahrhundertwende – an eine Opposition von Zentrum und Peripherie und mobilisiert damit eine Leitdifferenz des Modernisierungsdiskurses. Durch seine aufsteigende Lebensbahn entfernt sich der Protagonist immer weiter vom ländlichen Raum. Der Aufstiegsweg führt den Protagonisten von seinem ländlich gelegenen Elternhaus

 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. von Charles Bally und Albert Sechehaye, übersetzt von Herman Lommel. Berlin: de Gruyter, 1967. S. 30.  Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Aus dem Französischen von Hans-Jörg Rheinberg und Hanns Zischler. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1974. S. 25.  Ulrike Haß: Vom Aufstand der Landschaft gegen Berlin. Von der Heimatlosigkeit des Geistes und der Literatur. In: Weyergraf, Bernd (Hrsg.): Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 9: Literatur der Weimarer Republik 1918 – 1933. München: Hanser, 1998. S. 340 – 371, hier S. 340 ff.  Uwe-K. Ketelsen weist darauf hin, dass Frenssens Texte auf die vielbeklagten Krisenerfahrungen der Moderne in erster Linie „mit einem ästhetischen Gestus: mit Reden, mit Zu-Spruch“ reagieren. Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Literatur und Drittes Reich. Schernfeld: SH-Verlag, 1992. S. 158. Vor allem im Erfolgsroman Jörn Uhl (1901) ziele eine kolloquiale Sprachgestaltung darauf ab, der mit der Urbanisierung verbundenen Entfremdungserfahrung ein sprachlich-ästhetisches Remedium zu bieten. Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Völkisch-nationale und nationalsozialistische Literatur in Deutschland 1890 – 1945. Stuttgart: Metzler, 1976. S. 42.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

nach Hamburg, das die Erzählung als Manifestationsraum vitaler Energien inszeniert: Die Karren rollen klirrend über die eisenbeschlagenen Bohlen, die Deckswinden stoßen in ihren Kammrädern, die Kettenschlingen fallen klirrend gegen die Lukenwand; vom Wasser her kommt ein Wühlen und Rauschen und Stoßen, und Pfeifen und Zischen von Dampf. An aufgestellten Pfählen stehen die Namen der Hafenplätze von Cherbourg bis Hongkong. Man hat ein Gefühl, als habe man an diesem Ort die ganze Welt an der Leine.³²

Abermals werden an dieser Stelle das Gesagte und das Sagen in Einklang gebracht: Doppellaute („Karren rollen klirrend“, „Kettenschlingen fallen klirrend“), Wiederholungen („klirrend“, „stoßen“), syndetische Reihungen („Wühlen und Rauschen und Stoßen“), ein parallelistisch strukturiertes und punktuell präsentisches Erzählen, in dem Figuren- und Erzählstimme ineinanderfließen, erzeugen jene Dynamik, durch die die erzählte Moderne den Protagonisten in ihren Bann zieht. Die Modernität, die der hanseatischen Welt auf diese Weise zugeschrieben wird, wird durch das Aufstiegssujet und dessen zugrunde liegende Raumsemantik prima facie mit einer affirmativen Konnotation belegt. Während der Weg zum Erfolg im städtischen Milieu stattfindet, werden Rückschläge außerhalb Hamburgs und an unspezifisch gehaltenen Orten platziert, etwa in einer Kleinstadt an der Nordsee, wo der Protagonist in die explizit als „dekadent[]“³³ bezeichnete Familie Ruhland einheiratet, oder in „Hinterindien“³⁴, in das ihn seine Unternehmungen zeitweilig versetzen. Nichtsdestotrotz sind die Wertsetzungen der Erzählung ambivalent. Etappenweise lagert sich in das Aufstiegssujet eine metasemiotische Erzählebene ein, die der Modernitätsemphase entgegenläuft. Die Stationen dieser Erzählung folgen einem schon in Soll und Haben konturierten Schema. Am Anfang steht die Exponierung ungedeckter Zeichenbildungen. Ob es das Kindheitsspiel ist, in dem sich der Protagonist als russischer Kaiser geriert, sein Auftreten als Erzähler, dessen hochstaplerische Geschichten als faktische Begebenheiten rezipiert werden, oder die „Bilder aus der Zukunft“³⁵, die ihn zuweilen überkommen – mehrere Ereignisse der Jugendgeschichte entfalten sich über eine Zeichenbildung, in der die extern motivierte Referenzialität einer Autonomie der Zeichen weicht. Der erste Baustein der Aufstiegsnarration, die Konstruktion eines defizitären Anfangszustands, greift folglich den poetologischen Problemtopos des Realismus auf. Immer wieder markieren einzelne Erzählelemente die Differenz von Poesie    

Frenssen, S. 581. Frenssen, S. 364. Frenssen, S. 278. Frenssen, S. 75.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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und Prosa und den Hiatus zwischen diegetischer Realität und Fiktion. Exemplarisch dafür ist das Spiel zwischen dem Protagonisten und seiner Schwester Lotte. Vorgeführt wird ein Modell kontrafaktischen Sehens, in dem sich das verklärungsästhetische Ideal der Tiefenschau ins Extrem steigert. An die Stelle des poetisierenden Realitätsbezugs tritt eine fingierte Visualität: Von der gegenüberliegenden himmelhohen schwarzen Hauswand wurde der untere Teil durch einen schwachen Lichtschimmer vom Torweg her ein wenig erleuchtet; man sah da weichen Tauschnee in langsamen losen Flocken hinuntergleiten. Sonst sah man nichts. Wenn sie da eine Weile gestanden hatten, sagte sie leise: „Ich sehe, ich sehe!“ Er sagte ebenso leise: „Was siehst du?“ Sie starrte, den Kopf gegen die Scheiben gedrückt, mit großen Augen hinaus und sagte: „Ich sehe alle Jungs, die laufen Schlittschuh.. sie laufen.. wart mal.. ja, jetzt kann ich es ganz deutlich sehen.. sie laufen auf dem Süderstrom und sind bald bei der Brücke am Schafweg..“³⁶

Was die Jugendgeschichte neben der Divergenz von Ideal und Wirklichkeit hervortreten lässt, ist folglich das durch diesen Hiatus ausgelöste Scheitern realitätsgedeckter Poetisierung. Der verklärungsästhetische Problemhorizont, der sich hier abzeichnet, nimmt mit dem Fortschreiten der Aufstiegsnarration zusätzliche Dimensionen an. Durch ihren Aufstiegsweg kann die Figur den anfänglichen Mangelzustand überwinden. Das Poetisch-Ideale, das sie in ihrer Jugendzeit entbehrt hat, wird nun diegetische Realität. Markiert wird diese Transformation durch einen punktuellen Umbruch in der sprachlichen Gestaltung. In einer Episode, in der die Figur der Sphäre des Prosaischen entfliehen kann, wird der lakonische Stil der Erzählung durchbrochen. Bezeichnenderweise handelt es sich um eine kolonialistisch ideologisierte Episode, die eine auf Wilhelm Hackländers Handel und Wandel (1850) zurückgehende Analogisierung von Idealem und Exotischem sichtbar werden lässt.³⁷ Schon durch ihren Tempuswechsel markiert die entsprechende Erzählpassage eine punktuelle Zäsur, die sich durch den Stilumbruch verschärft. Die Wiederholungsstruktur, die ansonsten die erzählte Prosaität syntaktisch spiegelt, wird nun zum Konstituens poetischer Funktionalität. Chiastische Verschränkungen, rekursive Komparativkonstruktionen und eine anaphorisch-parallelistische Syntax projizieren das Äquivalenzprinzip in die syntagmatische Erzählebene: Wie schimmert über Colombo die Nacht! Wie funkeln die Sterne am tiefblauen, blanken Himmel! Schwarz steht am Ufer der riesige Wald; die weißen Häuser scheinen herüber. Aber

 Frenssen, S. 42 f.  Vgl. dazu Rakow, S. 234.

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weißer sind die Brecher, die weithin über die Mole fliegen; und heller als die Sterne glänzen die Signale auf, die die englischen Kriegsschiffe einander senden.³⁸

Der angedeutete Übergang von der Prosaität zur Poetizität setzt nicht nur einen punktuellen Durchbruch der poetischen Funktion in Gang, sondern eine sukzessive Umkehr der eingangs konstruierten Zeichenrelationen. Den ungedeckten Zeichen, die die arbiträren Semiosen der Figur produziert hatten, werden diegetisch reale Korrelate beigegeben, womit das Vorgängigkeitsverhältnis von Referent und Zeichen umschlägt. Das Reiseerlebnis, das dem Protagonisten zunächst durch Lektüre und damit imaginativ erfahrbar wird, verwirklicht sich in der späteren Überseereise. Der selbstreferenziellen Semiose wird also ex post ein Repräsentationspotenzial zuteil, sodass sich die Differenz von mimetisch motivierter und arbiträrer Zeichenbildung auflöst. Auf den ersten Blick erfüllt das selfmade-Sujet bei Frenssen folglich eine schon aus Soll und Haben bekannte Problemlösungsfunktion: Der Aufstieg des Protagonisten bringt Poesie und Prosa zur Deckung und verwandelt die ungedeckte Zeichenbildung in eine realitätsbezogene Referenzialität, womit das verklärungsästhetische telos als erreicht erscheint. Im Gegensatz zu Freytags Roman, der mit dieser vermeintlichen Versöhnung schließt, führt jedoch Frenssens Roman die Aufstiegsgeschichte und die damit verbundene Metapoetik noch eine Stufe weiter. Die idealrealistische Synthese wird wieder aufgebrochen. Der Protagonist, der das imaginierte Ideal zur diegetischen Realität zu transformieren sucht, kann dies nur erreichen, indem er der poetischen Sphäre den Rücken kehrt und sich rückhaltlos an den Prinzipien der Arbeit und Leistung orientiert. Aus der Entprosaisierung wird eine Entpoetisierung. Gegen Ende muss sich der Protagonist eingestehen, dass die Aufstiegskarriere seinem Leben „das Breite, das Schöne, das Spielige“³⁹ geraubt hat. Was wie eine Gewinnerzählung angemutet hatte, erweist sich als metapoetisch ausagierte Verlusterzählung, der ein kapitalismuskritisches Beschreibungsmuster zugrunde liegt: Kritisiert wird eine einseitige Fixierung auf die Arbeit. Die modernisierungsemphatische Beschreibungsebene der Erzählung wird damit durch ein ästhetisches Gegenargument relativiert und in eine Verlustbilanz umgemünzt: Die Verhältnisse der kapitalistischen Moderne bringen das idealrealistische Syntheseprojekt zum Scheitern. Klaus Baas wird zum Repräsentanten einer Zeit, „da die Industrie gewaltig zunahm und die Menschen […] in eine härtere Wirklichkeit warf, die ihre Augen schärfer und nüchterner machte.“⁴⁰ Das poetologi-

 Frenssen, S. 293.  Frenssen, S. 542.  Frenssen, S. 156.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

391

sche telos der Erzählung, die Synthese, wird durch den erzielten Aufstieg folglich nicht erreicht, sondern als ein noch zu realisierendes Desiderat markiert. Ein melancholisch intonierter Bericht der Erzählinstanz schildert am Ende die Besinnung des Protagonisten, der den entbehrten Verklärungsblick allmählich zurückgewinnt: Er sah in Sinnen auf, und sah über das Wasser, das in perlmutterblankem Blau fein in kleinen Wellen ging und weiterhin von vielen Lichtern goldig glitterte; dahinter auf dem Jungfernstieg, vor den dunkelgrauen mächtigen Hausmauern, schimmerten und funkelten tausend Lichter, in Haufen, in Reihen hingeworfen, stehend, gleitend; über den Häusern stand der Himmel im helleren Blau. Er hatte das Bild so oft schon gesehen und hatte so wenig darauf geachtet. Es war eigen schön… es war sehr schön! Es war schade, daß er nie Zeit gehabt hatte, auf so etwas zu achten […]. Es war eigen schön, so einmal hier zu stehen, so wie wohl ein Maler oder ein Poet vor solchem Bilde steht, so ganz ruhevoll, ohne Urteil, die Dinge und ihre Schönheit spielen zu lassen.⁴¹

Deutlich zeigt sich in dieser Beschreibung das Echo einer idealrealistischen Ästhetik. Der Typus des Selfmademans ist nach wie vor der Träger eines Verklärungsprogramms, doch bringt sein Aufstieg das Begehren nach Poetisierung und Synthese nur halb zur Deckung. Die Angleichung von Ideal und Wirklichkeit wird nur in Aussicht gestellt, nicht aber in der diegetischen Gegenwart realisiert. Die Positionierung zum Verklärungsprogramm fällt skeptisch aus: Folgt man der zunehmend desillusionistischen Erzähllogik, so geht zunächst die Defizität des diegetisch Realen mit einem Schwelgen in der Sphäre des Idealhaften einher, dessen Realwerdung schließlich das Ideal austilgt und die Synthese beider Pole auf die Zukunft verschiebt. Eine analoge Stufenlogik und eine ähnliche Skepsis gegenüber dem Verklärungspostulat spiegeln sich in der literarischen Sozialisationsgeschichte des Protagonisten. Der enthusiastischen Lektüre „hohe[r] Poesien“⁴² – genannt werden neben Homer und Sophokles Goethe und Schiller – folgt das Bedürfnis nach „Erkenntnis und Wissen der nüchternen Wirklichkeit“⁴³, das durch Lebens- und Reisebeschreibungen, naturwissenschaftliche und nationalökonomische Schriften befriedigt wird, bevor am Ende eine erneute, nun gereifte Hinwendung zu den „edelsten Bücher[n] aller Zeiten“⁴⁴ in Aussicht gestellt wird. Über eine topische Symbolik wird jene letzte Etappe, die das Poetische und das Prosaische zur Deckung bringen soll, auf die diegetische Zukunft projiziert: Der Protagonist geht auf

   

Frenssen, S. 531 f. Frenssen, S. 358. Frenssen, S. 358. Frenssen, S. 582.

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eine Schiffsreise, womit der Roman endet. Das telos der Synthese bleibt damit uneingelöst. Mit dieser poetologischen Desillusionierung kehrt sich die affirmative Konnotation, die der Figur prima facie anhaftet, um. Folge ist eine axiologische Ambivalenz, die die Unbefriedigtheit eines zeitgenössischen Kritikers erklären mag: Es bleibt ein unerfreulich Ungelöstes übrig, die Frage nämlich, ob dieser Baas es wert war, ihm durch eine ganze Entwicklung hin zu folgen, wenn er im Laufe dieser Entwicklung schließlich nichts geworden ist als ein strebsamer und erfolgreicher Kaufmann.⁴⁵

Was rund 50 Jahre zuvor Soll und Haben zum Bestseller gemacht hat, wird also Klaus Hinrich Baas als Problempunkt vorgehalten. Dem Aufstiegsweg eines kaufmännischen Unternehmers wird die Erzählwürdigkeit abgesprochen. Dass die Kritik zu Frenssens Roman eine gänzlich andere Richtung einschlägt als die Freytag-Rezeption, ist angesichts der gegenläufigen zeitdiagnostischen und poetologischen Statements beider Texte nicht verwunderlich. Klaus Hinrich Baas bewertet den Durchbruch der Moderne ambivalent, lässt Zweifel daran aufkommen, ob der Aufstieg einem happy ending gleichkommt, und lässt das in Soll und Haben dargelegte Bild vom Kaufmann als poeta vates als Täuschung erscheinen. Letzteres zeigt sich vor allem in der Skepsis, mit der die Erzählinstanz die Verklärungskompetenz des Protagonisten betrachtet: „Es war ihm, als wenn seine Augen tiefer in die Dinge hinein sähen und gar viel buntere Farben und Leben erkennten.“⁴⁶ Der konjunktivische Modus entlarvt den poetisierenden Tiefenblick, über den Klaus Baas zu verfügen glaubt und der Anton Wohlfart charakterisiert hatte, als Produkt einer irrtümlichen Selbstzuschreibung, bevor die Poetisierbarkeit der Prosa durch den weiteren Erzählverlauf gänzlich infrage gestellt wird. Vor dem Hintergrund von Frenssens Roman lassen sich zwei zentrale Tendenzen festhalten, die die Subgattung des Aufstiegsromans und die Imaginationsgeschichte des Selfmademans im frühen zwanzigsten Jahrhundert bestimmen. Neben der Reaktivierung verklärungsästhetisch imprägnierter Narrationsmuster zeichnet sich ein modifizierender Anschluss an lebensreformerische Subjektivationsnormen und die damit verbundenen Ideale der Naturverbundenheit, Gesundheit und Vitalität ab. Diese letzte Tendenz, die auf der Vision eines neuen, antidekadenten Menschentums aufruht, nimmt zwei Jahre später neue Dimen-

 Heinrich Spiero: Deutsche Romane. In: Die Grenzboten. Jg. 69, 1. Vierteljahr (1910), S. 54– 61, hier S. 55 f.  Frenssen, S. 266.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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sionen an. Johannes Schlafs Roman Aufstieg (1911) lässt den Selfmademan als Träger einer Moderne erscheinen, in der die Dekadenzsymptome der Vergangenheit in eine ,gesunde‘ Vitalität umschlagen. Das Narrationsmuster des Aufstiegs wird bei Schlaf in den Kontext einer monistisch-evolutionistischen Spekulation gestellt und über Figuren der Umwertung und Erneuerung diskursiviert.⁴⁷ Literaturgeschichtlich ist der Roman damit als spätes Zeugnis eines weltanschaulich ausgerichteten Naturalismus einzuordnen. Zu dessen Signaturen gehört, wie Ingo Stöckmann gezeigt hat, eine Neujustierung thermodynamisch fundierter Erzählmuster, die aus ihrem pathologisierenden Beschreibungskontext herausgelöst und in eine evolutionistische „Erneuerungsmythologie“ überführt werden.⁴⁸ Diese Neukonzeptualisierung lässt aus dem Imaginationskomplex der Dekadenz einen „Mythos erneuernder Individuation“⁴⁹ hervorgehen. In welchem Ausmaß gerade Schlaf an einer evolutionistischen mythopoiesis partizipiert hat, zeigt sich vor allem in seiner programmatisch ausgerichteten Maeterlinck-Monographie, die fünf Jahre vor Aufstieg erschienen ist.⁵⁰ Die Dekadenzerzählung zukunftsoptimistisch umdeutend,⁵¹ sieht Schlaf in den „Depressionen der naturalistischen Übergangsperiode“ die Keimzelle für die Herausbildung eines „neuen europäischen Menschentypes“⁵². In diesem Typus lebt das ausdifferenzierte psychophysische Vermögen, das naturalistische Dramen- und Romanprotagonist*innen ausgezeichnet hatte, fort, doch hat er mit den willensschwachen und nervösen Persönlichkeiten der naturalistischen Dekadenzliteratur nicht viel gemein: Diese anämen, hysterischen, überfeinen und übersensiblen, in einem steten Fiebertraum und einer furchtbaren Schrecknispsychose taumelnden Schemen, die – homme machinal! – so völlig ohnmächtig die Puppen eines rätselhaften dunklen Schicksals zu sein scheinen; diese unglückselige, geängstete, überfeine, abstrakte, unpersönliche und wesenlose Schattenmenschheit, in ich weiß nicht welcher dunkeln, viertdimensionalen Sphäre: wie, wenn sie, ähnlich wie seither ihr Dichter, aus diesen asphodelischen Dämmerungen […] eines

 Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 437 f.  Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 439. Vgl. darüber hinaus Ingo Stöckmann: Psychophysisches Erzählen. Der Wille und die Schreibweise der Nerven bei Hermann Conradi. In: Bergengruen, Maximilian; Müller-Wille, Klaus; Pross, Caroline (Hrsg.): Neurasthenie. Die Krankheit der Moderne und die moderne Literatur. Freiburg i. Br.: Rombach, 2010. S. 289 – 312, hier S. 310 f.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 438.  Vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 438.  Vgl. zu dieser Umdeutung Caroline Pross: Dekadenz. Studien zu einer großen Erzählung der frühen Moderne. Göttingen: Wallstein, 2013. S. 205 – 208.  Johannes Schlaf: Maurice Maeterlinck. In: Brandes, Georg (Hrsg.): Die Literatur. Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen. Bd. 22. Berlin: Bard/Marquardt, 1906. S. 16.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

Tages hervorginge, als eine neue, befreite, feinere und differenziertere, selbstsichere Menschheit?⁵³

Der Typus des ,neuen Menschen‘, dessen Heraufkunft Schlafs Maeterlinck-Monographie emphatisch visioniert, bildet in Aufstieg das thematisch-ideelle Zentrum. ,Aufstieg‘ bezieht sich in diesem Sinne auf den Anbruch einer neuen Ära und die Heraufkunft eines neuen – männlichen – Geschlechts, das die angenommenen degenerativen Dekadenzsymptome zugunsten eines konfliktfreien Selbst- und Weltbezugs überwindet.⁵⁴ Betrachtet man die narrative Anlage des Romans, so wird man leicht das Kernmerkmal eines Aufstiegsromans erkennen. Das Aufstiegssujet, das schon im Titel benannt wird, dient der Erzählung als Handlungsfundament. Valentin Ott, der anfangs mittellose Protagonist, avanciert im Laufe der Erzählung zum erfolgreichen Großindustriellen. Die Figur, die das Ziel verfolgt, „es zu was zu bringen“⁵⁵, hegt eine Affinität für moderne Maschinen, realisiert schließlich ihr Berufsziel ,Unternehmer‘, und kann gegen Ende von sich sagen, durch „eigene Tüchtigkeit und Arbeitskraft“⁵⁶ zu Millionen gekommen zu sein. In einem Essay hat Schlaf den „aufsteigenden Lebensweg“ des Protagonisten sowie sein vitalistisches Profil pointiert zusammengefasst: Anfangs Sozialdemokrat und schlichter Handwerksbursch, dann aber und eigentlich in Wahrheit mit Entschiedenheit der selbständige Eigene, eine tüchtige, fröhliche, gesunde, wirklich in die Welt passende, außerordentlich praktische und geistig regsame Natur, schwingt er sich vom „Walzbruder“ bis zum mehrfachen Millionär und zur gutbürgerlichen Existenz auf.⁵⁷

Der Verweis auf die gesunde Natur der Figur und ihr konfliktfreies Verhältnis zur Welt lässt den normalistischen Bezugsrahmen sichtbar werden, der dem Aufstiegssujet zugrunde liegt und den Selfmademan auf die Leitopposition von Gesundheit und Krankheit abstimmt.⁵⁸ Schon die zwischen 1900 und 1903 erschienene Romantrilogie Schlafs hatte sich dem Erzählziel der Gesundheit ver-

 Schlaf: Maurice Maeterlinck, S. 16 f.  Vgl. Gaston Scheidweiler: Gestaltung und Überwindung der Dekadenz bei Johannes Schlaf. Eine Interpretation seines Romanwerks. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1990. S. 178.  Johannes Schlaf: Aufstieg. Berlin: Hans Bondy, 1911. S. 66.  Schlaf: Aufstieg, S. 602.  Johannes Schlaf: Das Problem des Aussenseiters. Eine Selbstanzeige. In: Der Merker. Österreichische Zeitschrift für Musik und Theater. Jg. 6, Teil IV. Oktober‒Dezember 1915. S. 689 – 700, hier S. 697.  Zu Schlafs Gesundheitspoetik vgl. Vijayakumaran: Aufstieg statt Untergang.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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schrieben und einen Transformationsprozess vom dekadenten Neurastheniker zum gesunden Kraft- und Tathelden geschildert.⁵⁹ Aufstieg führt das gesundheitszentrierte Erzählanliegen, das den grand récit der Dekadenz reperspektiviert,⁶⁰ fort, setzt es jedoch auf eine andere Weise um. Der Weg zur Gesundheit wird in dem Roman über eine kontrastive Figurenkonstellation entfaltet, in der dem Typus des Selfmademans eine Schlüsselrolle zukommt. Valentin Ott, der seinem Vornamen gemäß durch eine „wirklich gesunde […] Natur“⁶¹ besticht, wird zum messianischen Heilsbringer, der einen „heilsame[n] Einfluß“⁶² auf sein von Dekadenz gezeichnetes Umfeld ausübt. Durch seine vitale Natur bringt der Protagonist sämtliche kranken und labilen Figuren um ihn herum zur Heilung, sodass sein ,gesundes‘ Wesen eine gleichsam kontagiöse Strahlkraft entfaltet. Bereits in diesem Gesundheitsideal deutet sich eine Vorstellung an, die für den gesamten Erzählverlauf zentral ist und ein fundierendes Element von Schlafs Erzählwerk generell bildet: der monistische Gedanke, dass der Einzelne durch seine Einbindung in das kosmische Ganze eine „Verbindung zu allen anderen Wesen der Natur“⁶³ unterhalte. Deutlich zeigt sich hier der neue Kontext, in den Schlafs Roman den Typus des Selfmademans stellt. Das selfmade-Sujet wird zum Artikulationsmedium eines Naturalismuskonzepts, das den Anspruch auf sozialkritische Wirklichkeitsbezüge aufgibt zugunsten eines weltanschaulichen Erzählprimats.⁶⁴ Den sozialen Darstellungsansprüchen und der Kollektivemphase des konsequenten Milieunaturalismus begegnet der Roman mit einer programmatischen Rehabilitierung des Individuums, das zum Schauplatz entwicklungsteleologischer Verlaufsformen wird.⁶⁵ Eine solche Renaissance des Individuums  Vgl. Pross, S. 206 f. sowie Vijayakumaran: Aufstieg statt Untergang.  Vgl. Pross, S. 208.  Schlaf: Aufstieg, S. 75.  Schlaf: Aufstieg, S. 55.  Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit, S. 183.  Der Roman Aufstieg partizipiert damit an einer weltanschaulichen Grundlegung des Naturalismus, die Schlaf auch theoretisch forciert hat. In einem 1906 erschienenen Aufsatz hat Schlaf eine konsequent naturalistische Stilrichtung, die die sozialkritischen Tendenzen der engagierten Vormärzliteratur und des Jungen Deutschland fortführt, mit einer monistisch-religiösen Ausrichtung konfrontiert, die an frühromantische Naturspekulationen anschließt. Angesichts seiner naturphilosophischen Veranlagung sei der ,neue‘ Naturalismus dazu „disponiert, alle Romantik zu erfüllen und ihr zu ihrem letzten und wundersamen Sieg zu verhelfen.“ Vgl. Johannes Schlaf: Das neue Drama. In: Die Schaubühne. 2. Jg., Bd. 1, Nr. 9 (1906), S. 241– 245, Zitat auf S. 244. Zu Schlafs (Neu‐)Bestimmung des Naturalismus vgl. Dieter Kafitz: Naturalismus als Weltanschauung. Zur Kunstauffassung von Johannes Schlaf. In: Leroy, Robert; Pastor, Eckart (Hrsg.): Deutsche Dichtung um 1890. Beiträge zu einer Literatur im Umbruch. Bern: Peter Lang, 1991. S. 75 – 94, hier S. 76.  Vgl. Stöckmann: Naturalismus, S. 169.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

wird zwar auch in Schlafs anderen Romanen visioniert, doch nimmt Aufstieg eine Veränderung vor. Während etwa der Roman Peter Boies Freite (1903) seinen Titelhelden zum Vermittlungsmedium der monistischen Weltanschauung macht,⁶⁶ entkoppelt Aufstieg die naturphilosophische Perspektive von der Erzählung um Valentin Ott und seinen Aufstiegsweg. Die Figur, die sich „mehr für praktische, auch nationalökonomische Sachen“⁶⁷ interessiert, zeichnet sich durch eine dezidiert pragmatische Anschauung aus: Was bei anderen Kunst, Poesie, Wissenschaft oder Religion anregt, das […] regte in ihm jede Art moderner Eisenbauten und Maschinen an. Und wie mit dem religiösen Grundempfinden alle Triebfedern und Richtungen unseres Handelns in innigster Verbindung stehen, so entsprangen auch alle Willensrichtungen und etwaigen Zukunftspläne Otts unmittelbar gerade aus der Beziehung, die ihn mit allen praktischen modernen Betriebsangelegenheiten verband.⁶⁸

Schlafs Roman, der histoire und discours auf eine monistische Naturästhetik abstimmt, macht also einen Repräsentanten der ökonomisch-technischen Moderne zu seinem Handlungsträger. Die Folge ist eine strukturelle Spaltung im Erzähldiskurs. Dem narrativen Modus, in dem der Aufstieg Valentin Otts geschildert wird, steht ein in separaten Kapiteln entfalteter reflexiver Modus gegenüber, der anhand von hypotypotisch-evidentiellen Beschreibungen die monistische These vom „übergreifenden organischen Zusammenhang allen Lebens“⁶⁹ illustriert. Schon in der Erzählperspektive deutet sich ein Bruch zwischen beiden Gestaltungsmodi an. Während die aufstiegsteleologische histoire durch eine nullfokalisierte und heterodiegetische Erzählinstanz präsentiert wird, dominiert in den Reflexionseinheiten ein Ich-Modus, der stellenweise in einen konjunktivischen Modus der zweiten Person Singular übergeht. In diesen Sequenzen zeigt sich zugleich das modernistische Potenzial, das dem monistischen Denkhorizont um 1900 innewohnt. Passagen, die sich der weltanschaulichen Gedankenartikulation widmen, brechen das realistische Verfahrensarsenal zugunsten einer idiosynkratischen Erzählform auf. Das plötzliche Umschlagen in die Ich-Perspektive, die durch die Du-Form wiederum Anstriche einer indirekten Auktorialität erhält, lenkt das Augenmerk vom vermittelten Propositionsgehalt auf die Modalität dieser Vermittlung. Auch das ambivalente Wirkungspotenzial des ,Dus‘, das sich als Äquivalent zu einem kollektiven ,man‘ lesen lässt, profiliert eine spezifische Form  Vgl. Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit, S. 145 – 147.  Schlaf: Aufstieg, S. 53.  Schlaf: Aufstieg, S. 118 f.  Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit, S. 147.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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narrativer Idiosynkrasie: Position und persona der Ich-Instanz, von der ein DuModus zwangsläufig auszugehen hat, bleiben unmarkiert und durchsetzen den Erzähldiskurs mit Leerstellen. Da sich das ,Du‘ auch als Ausdruck einer Leser*innenansprache lesen lässt, deutet sich in den entsprechenden Passagen zugleich ein metaleptischer Bruch an, der dem automatisierten „Übergang von der Text- zur Darstellungsebene“⁷⁰ entgegenwirkt. Seinen diskursiven Rückhalt findet dieser tentative Bruch mit dem tradierten realistischen Verfahrenshorizont im monistischen Verkettungsdenken. Wenn der von Schlaf vermittelte Monismus die Differenzsetzung von Individuum und Außenwelt außer Kraft setzt, so scheint es nur konsequent, dass der Erzähldiskurs stellenweise auf eindeutige Positionsmarkierungen verzichtet. Die Diskrepanz zwischen traditionell erzählten Passagen, die eine kohärente histoire-Bildung zur Folge haben, und den idiosynkratischen ,Routines‘ des Textes, die auf eine Vermittlung monistischer Gedanken zielen, zeigt sich noch in weiteren Gestaltungselementen. Im Gegensatz zu den narrativen Texteinheiten werden die weltanschaulichen Reflexionen über eine präsentische Erzählform vermittelt und durch Farbsemantiken in eine impressionistische Gestaltungsart überführt. Während der übrige Erzähldiskurs mit dem Aufstiegsweg des Protagonisten eine linear fortschreitende histoire konfiguriert, zielen die exkursartig anmutenden Beschreibungen auf die Demonstration einer weltanschaulichen aisthesis. Besonders deutlich zeigt sich dies in der evidentiellen Beschreibung eines Tümpels: Und besonders sind da ein paar Stellen am Rande, die Dir mit ihrem magischen Schwarz einen seltsam ziehenden Schwindel verursachen würden, wenn Du länger auf sie niederblicktest. ‒ Würde aber die Sonne auf sie niederstrahlen, so würde das purpurne Dunkel überaus klar und durchsichtig sein, und es würde mit seinen bernsteingoldenen Strahlen und Fäden Dir in das staunende Herz lachen. Auch allerlei Blasen und köstliche Schnüre von winzigen Bläschen würdest Du dann demantfein, zart und traumhaft aufquillen sehen. Und Du würdest an den Stengeln und Schäften all der wunderlichen stillen Wasserpflanzen was alles für Getier erkennen. Ebenholzschwarze, kleine, dicke Würmchen, Insekten, kleine gewundene Muscheln und was alles für wundersame Kleinwelt sonst noch. Oder Du würdest große braune Frösche mit schwefelgelben Streifen in der Tiefe schwimmen sehen oder dicke, braune, warzige Kröten mit ihren trägen Bewegungen.⁷¹

Der konsequente Konjunktivismus forciert ebenso wie der Du-Modus das didaktische und persuasive Wirkungspotenzial dieser Passage. Vorgeführt wird ein

 Baßler: Deutsche Erzählprosa, S. 29.  Schlaf: Aufstieg, S. 97.

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Naturblick, der ähnlich wie die realistische Wesensschau als ästhetisches telos markiert wird. In Analogie zu den Naturbeschreibungen steht eine Großstadtbeschreibung, die ebenfalls auf ein separates Kapitel ausgelagert wird, einer homodiegetischen Erzählform folgt und der monistischen Ästhetik gemäß auf eine „initiationsartige Didaktik des Sehens und des Blickes“⁷² zielt. In enumerativen Bildketten, präsentischer Dynamik und emphatischen Exklamativsätzen schildert die Erzählinstanz das „lebenpulsende Wesen“⁷³ der Großstadt. Ein fortwährend eingeblendetes „Näher“ verleiht den Beschreibungen den Eindruck fotografischer Evidenz. Simuliert werden eine panoramatische Auslotung des erzählerischen Blickfelds sowie ein Heranzoomen und Ausleuchten einzelner Gegenstände: Näher! Näher! Näher! Näher! – Fühle den so eigenartigen Eindruck, übersieh ihn nicht, beachte ihn wohl und laß dich von seiner tieferen und eigentlichsten Mitteilung ganz durchdringen: sieh, wie mit einem Mal das Bild dieser Landschaft, das, was du so Landschaft nennst, sich verändert! – Welch’ Herzklopfen, welche seltsame Erregung es gibt, jetzt immer mehr von verschiedenen Seiten her solche Schienenwege in Erscheinung treten, nach einander herankommen, hier und da sich kreuzen und verzweigen zu sehen, je mehr diesem wundersamen, machtvollen, lebenpulsenden Wesen entgegen!⁷⁴

Mit dem punktuellen Übergang in einen Imperativmodus, der eine imaginäre Beobachtungsinstanz zur Eindrucksaufnahme animiert, geht die fotografiesimulatorische Rhetorik in eine wahrnehmungsbezogene Didaxis über. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Modernitätsemphase des Romans Kontur. Der Schauplatz der Moderne, an dem Georg Simmel sein Entzweiungstheorem demonstriert hatte, wird zur Projektionsfläche monistischer Einheitsvorstellungen. Den soziologischen Fragmentaritätserzählungen setzt die Erzählinstanz das Bild einer universalen Verbundenheit entgegen: Das Auftauchen dieser vereinzelten grauen oder graurötlichen gelbgrauen viereckigen Steingebäude im Gelände; von Fabriken, Wohnhäusern, Schuppen. – Oder was könnten sie wohl sonst sein? Knoten, Konduktoren der Kraft eines und des gleichen organisch menschlichen Nervengeflechtes, organisch menschlicher Muskulatur? Sage nur so! Du sprichst das genau richtige aus!⁷⁵

 Ingo Stöckmann: Im Allsein der Texte. Zur darwinistisch-monistischen Genese der literarischen Moderne um 1900. In: Scientia Poetica 9 (2005), S. 263 – 291, hier S. 282.  Schlaf: Aufstieg, S. 295.  Schlaf: Aufstieg, S. 294 f.  Schlaf: Aufstieg, S. 295.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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Durch die Alliterationen wird die monistische Vorstellung der Allverbundenheit auf einer phonetischen Ebene wirksam. Es zeigt sich hier ein typisches Gestaltungselement monistischer Ästhetik: Die weltanschaulich motivierte Zusammenhangsstiftung vollzieht sich über eine lautliche Konnexitätssuggestion.⁷⁶ Neben der phonetischen Darstellung zeigt sich noch eine weitere Diskursivierungsform der suggerierten Allverbundenheit. Analogisierende Beschreibungen, in denen Technik- und Körpersemantik konvergieren, binden die monistische Totalitätsvorstellung in eine amplifikatorische Bildkette ein, die einzelne Detaildarstellungen immer weiter nuanciert. Totalität wird hier rhetorisch über eine Zeichenfülle und enumeratio simuliert, die Einheit von Individuum und Außenwelt über eine pars-pro-toto-Logik: Ich sehe und lebe da genau die geheimnisvolle Struktur irgend eines Nervenfadens meines eigenen Körpers, wie ich hier in diesem Eisenbahn-Coupé sitze; erlebe sie mit diesem regelmäßig abgesteckten, eisernen Schienenweg und seiner Richtung, seiner grauen Kies- und Steinfüllung, mit den Stationen, den Telegraphenstangen und den lang hingezogenen Streifen ihrer Drähte, mit den vorüberhuschenden kleinen Wärterhäusern, den beiden Strängen, den kleinen Zwischenlücken zwischen ihren einzelnen Gliedern, mit den Eisenstangen, die die Schienen zusammenhalten, den verschwärzten Eichenbohlen, auf denen sie ruhen, den Schrauben und Nieten, den Weichen und ihren Hebeln, den grell tönenden Signalglocken, den Lichtsignalen mit ihren bald hoch bald tief gereckten Hebelarmen auf den hochragenden Eisenpfählen, mit dem metallischen Geklirr und Gerüttel des Waggons; ich weiß, daß dies alles bis ins kleinste und genaueste der Struktur meines eigenen, organischen Nervensystems angepaßt ist und ihr entsprechen muß.⁷⁷

Was an dieser Stelle deutlich wird, ist die subjektivistische Grundierung des Einheitstheorems. Präsentiert wird keine objektive Materialität, sondern eine prozessualisierte Bewusstseinsform. Auf die visuelle Erfahrung – „ich sehe“ – folgt die ganzheitliche Wahrnehmung – „ich erlebe“ –, bis die reflexive Einsicht eintritt („ich weiß“). In diesem Zusammenhang tritt abermals das modernistische Potenzial monistischer Ästhetik hervor. Das Aufzählungsprinzip lässt anklingen, was sich mit Moritz Baßler als ,Textureffekt‘ bezeichnen lässt: Ins Zentrum tritt „das sprachliche Material in seiner spezifischen Verknüpfung“⁷⁸. Verstärkt wird das modernistische Potenzial durch die betonte Subjektivität, deren persona wiederum unmarkiert bleibt und die in ihrem präsentischen Wahrnehmungsbericht Effekte diskursiver Idiosynkrasie erzeugt. Allein die Tatsache, dass die narratio an dieser Stelle einer Wahrnehmungsbeschreibung

 Vgl. dazu Stöckmann: Im Allsein der Texte, S. 283.  Schlaf: Aufstieg, S. 294.  Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Tübingen: Niemeyer, 1994. S. 13.

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weicht, lässt auf ein modernistisches Schreibprogramm schließen, das seinen Unterbau durch einen monistischen Denkhorizont erhält. Ein ähnlicher Effekt geht aus den kosmologischen Spekulationen hervor, die den Handlungsgang ebenfalls pausieren lassen und eine thesenhafte descriptio an die Stelle der narratio setzen. Im Unterschied zu den Natur- und Großstadtbeschreibungen jedoch wird die spekulative Kosmopoiesis nicht in ein gesondertes Kapitel ausgelagert, sondern an eine der Figuren gekoppelt. Die entsprechende Textstelle geriert sich als Abdruck eines astronomischen Aufsatzes, der den Titel „Ueber die Unendlichkeit des kosmischen Raumes“⁷⁹ trägt und der weiblichen porte-parole-Figur des Romans zugeschrieben wird. Dargelegt werden im Kern dieselben weltanschaulich überformten Kosmogoniegedanken, die Schlaf ein Jahr zuvor in Das absolute Individuum skizziert hatte und die in seiner 1919 publizierten Abhandlung Die Erde – nicht die Sonne. Das geozentrische Weltbild sowie dem acht Jahre später erschienenen Opus Magnum Kosmos und kosmischer Umlauf (1927) elaboriert werden.⁸⁰ Parallel zum sozialen Aufstieg Otts ergibt sich folglich ein Nebeneinander von kosmogonischen, naturphilosophischen und monistischen Betrachtungen. Kaum zu übersehen ist an dieser Stelle das Syntheseprojekt, das der Roman verfolgt. Dem monistisch plausibilisierten Fortschrittsnarrativ gemäß zielt die Erzählung auf eine diskursive Synthese von organisch-evolutionistischen Einheitsgedanken und der sozioökonomischen Moderne, die der Aufstieg Otts metonymisch figuriert. Angesichts der Brüche im Erzähldiskurs jedoch scheint dieses Syntheseprojekt gescheitert. Nun werden die Stilbrüche durch zwei Erzählstrategien, die das modernistische Kolorit des Textes noch einmal verstärken, relativiert. Die erste dieser Strategien besteht in einem Einbinden monologartiger Rede, die den Protagonisten selbst als unbewussten Repräsentanten der monistischen Allverbundenheitsidee in Erscheinung treten lässt. Der Gedanke, dass der Mensch „psychophysisch unmittelbar“ seine „organische Einbindung in die Evolutionsvorgänge der Natur“⁸¹ empfinde, artikuliert sich in elliptisch gebrochenen, impulsiven Wortströmen – „Instinktäußerungen“⁸², heißt es in der Erzählung ‒, die in ihrer stilistischen Gestaltung eine Brücke zu den Reflexionsmomenten schlagen. Parallelismen, assonantische und anaphorische Repetitionen verschaffen dem Verbundenheitsideal ein lautlich-syntaktisches Äquivalent:

 Schlaf: Aufstieg, S. 141.  Vgl. Johannes Schlaf: Das absolute Individuum und die Vollendung der Religion. Berlin: Oesterheld & Co, 1910 sowie Johannes Schlaf: Kosmos und kosmischer Umlauf. Die geozentrische Lösung des kosmischen Problems. Weimar: Literarisches Institut Doetsch, 1927.  Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit, S. 183.  Schlaf: Aufstieg, S. 58.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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„Das riecht nach Frühling? Nun was? Daß die Blasen platzen! Daß alles nur so platzt und spritzt und splittert! ‒ Frühlingsozon! […] Ist schön? Ist frisch? Ist gesund? ‒ Möchte ich könnte raus jetzt? Laufen, laufen, mich durchweichen lassen bis auf die Haut! Was ist grau? Was ist Platzregen? Was ist kalt? Was ist unbehaglich? Belästigt mich was: rück ich drauf los! Bin ihm gut! Lache! Was will’s machen? Was will’s mir tun? Halloh! ‒ Die Erde, die Knospen, das Gras: wie das säuft, säuft, säuft! Bis zum Platzen sich vollsäuft!“⁸³

Der modernistische Verfahrenshorizont, der sich in den weltanschaulichen Reflexionen des Romans abgezeichnet hat, greift hier auf die Darstellungsebene über. Die Umschaltung von der semantischen auf die phonetische Sinnkonstitution macht die parole der Figur zum Manifestationsraum entarbitrarisierter Zeichen, die ihre eigene Materialität exponieren.⁸⁴ In der sprachlichen Idiosynkrasie der Äußerungen sowie den semantischen Brüchen bekundet sich zugleich ein Sprachgestus, der seine werkbiographischen Wurzeln in Schlafs ,intimen Dramen‘ hat.⁸⁵ Eine pseudopsychologische „Topologie der Innerlichkeit“⁸⁶ entfaltend, veranschaulicht Schlafs Dialogtechnik eine Form der Subjektivation, deren Fundament die sprachliche Selbstartikulierung ist. Erst mit der intuitiv gesprochenen Rede setzt ein Prozess der „metapsychologischen Individuation“ ein, in dem die Sprechinstanz zu ihrer „Triebwirklichkeit“ hinfindet.⁸⁷ Diese Legierung von Subjektivationsprozess und sprachlicher Verlautbarung verbindet Schlafs ,intime Dramen‘ mit seinem Aufstiegsroman, der hierdurch die um 1900 aufkommenden Innovationen der dramatischen Dialogtechnik fortführt. Dass Aufstieg dabei auch den monistischen Bezugsrahmen des dramatischen Sprachgestus reproduziert, zeigt sich in einer Redesequenz, in der sich die Figur über das Verhältnis von Ich und Welt auslässt. Erneut kommt es zu einem assoziativen Wortstrom, den Interjektionen, Aufzählungen und sprunghafte Exklamationen als instinktiv markieren: „Aber hier bin ich, Ich! Und da ist die Welt! Die ganze Welt! Hier von meinen Füßen aus die ganze Erdkugel! Mit Europa, Asien, Afrika, Amerika und Australien: mit dem Nordpol und

 Schlaf: Aufstieg, S. 58 f.  Vgl. zur Materialität der Selbstreferenz Simon: Was genau heißt: ,Projektion des Äquivalenzprinzips?‘, S. 131 f. Zu dem von Schlaf proklamierten Inhaltspathos und dessen Unterlaufung durch die Verfahrensweisen monistischer Ästhetik vgl. Stöckmann: Im Allsein der Texte.  Zu Schlafs „intimen Dramen“ und ihrer diskurshistorischen Kontextualisierbarkeit vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 423 – 439 sowie Ingo Stöckmann: Das innere Jenseits des Dialogs. Zur Poetik der Willensschwäche im intimen Drama um 1900 (Gerhart Hauptmann, Johannes Schlaf). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007), S. 584– 617.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 430.  Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 435.

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Südpol; mit allen Ozeanen, Meeren, Seen, Strömen, Flüssen, Bächen, Wiesengräben und Pfützen! Da sind die Alpen und die anderen Gebirge; das lange Rückgrat von Nord- und Südamerika! Na, und so, und so! Sahara, Gobi, Tundra, Kalahari, und was weiß ich? ‒ Na was? Hier bin ich, und da ist alles! Dicht bei mir! Bis unter meinen Stiefsohlen! Ringsum! ‒ Drüberher! Nehmen? Fressen? Schlingen? Wird’s alle? Wird’s alle?“⁸⁸

Wie die Protagonist*innen der ,intimen Dramen‘ durchläuft also der Handlungsträger in Aufstieg einen Prozess der metapsychologischen Subjektwerdung, der mit einem Prozess sprachlicher Verlautbarung zusammenfällt. Das telos dieses Subjektivationsprozesses wird durch die monistische Weltsicht bestimmt. Erzielt werden eine vitalistische Inbezugsetzung des Ichs zur Welt und eine identifikatorische Erfahrbarkeit der umgebenden Natur. Dass der typisierte Selfmademan als Sprachrohr dieser monistisch kolorierten Selbst- und Weltkonstitution fungiert, lässt die anti-elegische Wende sichtbar werden, die der grand récit ,Moderne‘ bei Schlaf erfährt. Es ist der technikaffine, kapitalistisch denkende, an einer Stelle als „Yankee“⁸⁹ bezeichnete Selfmademan, dem die „Ich und Welt umfassende Lebenseinheit“⁹⁰ gelingt. Über eine Vernetzung von Aufstiegsnarration und monistischer Ästhetik zeichnet der Roman das Bild einer Moderne, in der industrielle und technische Entwicklungen und die Renaissance des ,ganzen Menschen‘ Hand in Hand gehen. Es ist jedoch nicht nur die Figurenrede, die den Protagonisten auf ein monistisches Weltbild abstimmt und so den Hiatus von Reflexions- und Handlungsebene relativiert. Trotz seiner strukturellen Absonderung vom monistischen Reflexionsmodus bekräftigt das Aufstiegssujet das weltanschauliche Erzählanliegen des Romans. Das Narrationsmuster des Aufstiegs und die monistischevolutionistische Spekulation folgen derselben temporalen Denkfigur. Die entwicklungsteleologische Diskurslogik der Aufstiegsnarration korrespondiert mit der monistischen Annahme eines „organischen Kontinuum[s]“⁹¹, in das sämtliche natürlichen Phänomene eingewoben sind, und durchsetzt den Roman mit derselben klimaktischen Verlaufslogik, auf der Schlafs Evolutionsphilosophie aufruht: Postuliert wird, wie es in Schlafs philosophischem Hauptwerk heißt, ein „absolutes Individuum“, das „in einheitlich vorrückender polarer Metastase“ seine „absolute Eigenschaftlichkeit“ entfaltet.⁹² Wie Dieter Kafitz vermerkt hat,

 Schlaf: Aufstieg, S. 59 f.  Schlaf: Aufstieg, S. 43.  Lothar Jegensdorf: Die spekulative Deutung und poetische Darstellung der Natur im Werk von Johannes Schlaf. Bochum: Dissertation (masch.), 1969. S. 68.  Stöckmann: Im Allsein der Texte, S. 266.  Schlaf: Das absolute Individuum, S. 174.

4.1 Wege aus der Dekadenz (Frenssen, Schlaf)

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vollzieht sich diese teleologische Evolution zum ,absoluten Individuum‘ in einem Stufenprozess: Die nächst höhere evolutionäre Stufe entfaltet sich aus der vorausgehenden durch die in dieser als motorisches Prinzip des Fortschritts einbeschlossene „Elite“.⁹³

Was das Aufstiegssujet auf Handlungsebene ausagiert, entspricht folglich auf struktureller Ebene dem Grundgedanken der monistischen Philosophie, dem textexternen frame des Romans. Mit dieser Korrespondenz wird die Ebene der ,epistemischen Transzendentalien‘⁹⁴ mit der Strukturebene zusammengeführt. Wenn nämlich die entelechische Logik, die der Aufstiegsnarration zugrunde liegt, ihrem textexternen frame, der monistisch-evolutionistischen Weltanschauung, selbst inhärent ist, so lässt das Aufstiegssujet die Grenzen von intratextueller Zeichenebene und transzendenter Signifikatebene imaginär verfließen. Durch die Progressionslogik des Aufstiegssujets kann die Erzählung somit die Differenz von Text und Kontext simulativ überwinden und sich als unmittelbare Präsenzwerdung weltanschaulicher Theoreme gerieren. Auch der Steigerungsgedanke, der das Narrationsmuster des Aufstiegs und den Typus des Selfmademans definiert, findet sich in Schlafs philosophischer Abhandlung, in der es heißt: Die verwirrende Ungewissheit der Erscheinung […] als eine absolut verlässliche und unverlierbare, stufenweis organisch in sich gegliederte und geordnete Wesenheit und Einheit zu erkennen, zu wissen, aufrecht zu erhalten und sein Leben immer wieder zu der absoluten Gelassenheit, Selbstsicherheit und Vollkommenheit dieser Wesenheit und Einheit zu steigern und zu vollenden, das ist Trieb, Streben, Ziel und zugleich Sein und Wesenheit der Menschheit und des einzelnen Menschen.⁹⁵

Was Aufstieg über das selfmade-Narrativ zum Ausdruck bringt, spiegelt also auf struktureller Ebene die evolutionistischen Theoreme, von denen Schlaf in seiner philosophischen Schrift ausgeht. Folge ist eine evozierte Totalität, wie sie schon aus Grottewitz’ Eine Siegernatur bekannt ist: Mit der strukturellen Kongruenz von transzendenter Präsupposition und narrativer Form kann der Roman seine transkriptive Medialität verdecken und das monistische Identitätsbegehren auf discours-Ebene einlösen. Verstärkt wird diese imaginäre Synthese durch die harmonisierende Tendenz der Aufstiegsnarration. Schon Soll und Haben hatte das Aufstiegssujet als Korrektiv zu einer als typisch für den Bildungsroman geltenden Polarität von Ich und Welt gedient. Diese Versöhnungstendenz wird in Schlafs

 Kafitz: Johannes Schlaf – Weltanschauliche Totalität und Wirklichkeitsblindheit, S. 182.  Zum Begriff der ,Transzendentalie‘ vgl. Stöckmann: Der Wille zum Willen, S. 21 f.  Schlaf: Das absolute Individuum, S. 6.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

Roman fortgeführt und mit dem monistischen Einheitsgedanken vernetzt. Im Strukturmodell der Aufstiegsnarration stehen sich Individuum und Außenwelt nicht als entzweite Kräfte gegenüber, sondern treten in eine produktive Wechselbeziehung. Der Selfmademan kann über die eigene Biographie verfügen und dabei gestaltend in seine umgebende Sozialwelt eingreifen. Im Aufstieg Otts bekundet sich folglich dieselbe antidualistische Prämisse, auf der die monistische Weltanschauung fußt. Programmatisch heißt es in Das absolute Individuum, dass auch das Individuum Mensch und der sogenannte Kosmos sich nicht wie zwei selbständige Entitäten gegenüberstehen, sondern dass ein organischer Zusammenhang und also Einheit zwischen ihnen bestehen muss.⁹⁶

Es zeichnen sich in dem Roman also zwei Erzähltaktiken ab, die den Hiatus zwischen Reflexion und Handlung nivellieren. Zum einen spannt die Figurenrede durch ihre phonetischen Äquivalenzmomente einen Bogen zum monistischen Einheitsideal, das sie in einer modernistischen Sprachform präsentiert. Zum anderen spiegelt die Aufstiegsnarration durch ihre Harmonie erzeugende Tendenz und ihre teleologische Verlaufsform den philosophischen Propositionskern des Romans auf Struktur- und Handlungsebene wider. Trotz der Interferenzen zwischen Reflexions- und Handlungsebene wird das Projekt einer Vernetzung von Moderneerzählung und monistischer Weltanschauung nur bedingt realisiert. So augenfällig die Bezüge zwischen Aufstiegsnarration und monistischer Ästhetik auch sind, so offenkundig ist der Bruch, der sich durch den alternierenden Erzählduktus auftut. Da die Naturspekulationen und Einheitsemphasen erzähltechnisch und strukturell aus der histoire-Bildung des Aufstiegssujets ausgegliedert sind, kommt es trotz der Angleichungen zu einer Spaltung im Erzähldiskurs. Plausibilisiert wird diese ungetilgte Differenz erst durch den Nachtrag des Romans. Das letzte Kapitel, das zeitlich zehn Jahre später einsetzt, führt mit Georg Klinghammer eine Figur ein, deren Selbsterzählung die zuvor vermittelten Gedanken um lebensreformerische Ideen ergänzt. Der außerhalb der Gesellschaft lebende ,Naturmensch‘ erweitert die Aufstiegsgeschichte um eine zusätzliche Etappe. Mit kerygmatischem Pathos konstatiert die Figur: „Mein Aufstieg ist vollbracht. Ich bin auf dem Gipfel der Dinge; im Herzen der Einigkeit. Ich bin der Inbegriff und das Herz der Ewigkeit.“⁹⁷

 Schlaf: Das absolute Individuum, S. 117.  Schlaf: Aufstieg, S. 591.

4.2 Amerika als Spiegelbild (Kellermann)

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Hatte schon die Aufstiegserzählung Otts durch dessen heilbringende Wirkung auf das kranke Umfeld einen soteriologischen Code bedient, so ist in der Figurenrede Klinghammers eine religiöse Codierung kaum zu übersehen. Begriffe wie „Auferstehung“⁹⁸, „Erlösung“⁹⁹ und „ewige[s] Leben“¹⁰⁰ durchziehen den Bericht über seinen ,neumenschlichen‘ Lebenswandel und verweisen auf den übergeordneten Stellenwert, der dem Lebensreformer attestiert wird. Wenn der Protagonist am Ende anmerkt, Klinghammer sei auf einer höheren Stufe angelangt als er selbst („Der ist weiter als wir“¹⁰¹) und die amerikanischen Selfmademen – „sogar weiter als Gould, Rockefeller und Vanderbilt“¹⁰² –, so verdeutlicht dies die Wendung, die die Aufstiegserzählung gegen Ende nimmt. Das als gesund markierte kapitalistische Unternehmertum des Protagonisten erweist sich zwar als Vorstufe zum neuen Menschentum, doch reicht – mit Schlaf gesprochen – die „organische Metastase der Gattung Mensch“¹⁰³ über den unternehmerischen Aufstiegsweg hinaus. Ihren Endpunkt findet sie erst in der lebensreformerischen Daseinsweise Klinghammers, der in der Erzählung „die vollendete Einheit von Körper und Seele und ihre erreichte Genesung und Vollkommenheit“¹⁰⁴ verkörpert.

4.2 Amerika als Spiegelbild (Kellermann) Im Typus des Selfmademans, so lässt sich bis hierher festhalten, verdichten sich um 1900 vielfältige Deutungsmuster der Moderne. Über den Selfmademan verhandelt der Aufstiegsroman ökonomische Entwicklungslinien und vorgebliche anthropologische Transformationen, die teils im Zeichen antikapitalistischer Kritik beschrieben werden, teils im Kontext lebensreformerischer Ideale betrachtet werden. Durch seinen temporalen Verweisungshorizont ist der Figurentypus auch auf einer strukturellen Ebene fest verankert in den Selbstbeschreibungsmustern der Moderne. In den 1910er Jahren werden die Zeitkategorien der Diskontinuität und Zukunftsoffenheit, die der Selfmademan verkörpert, zu Ausgangspunkten einer forcierten nationalidentitären Codierung, die die modernediagnostische Funktionsebene des selfmade-Narrativs neu akzentuiert. Die Loslösung von der Vergangenheit zugunsten einer zukunftsoffenen Gegenwart wird

 Schlaf: Aufstieg, S. 595.  Schlaf: Aufstieg, S. 595.  Schlaf: Aufstieg, S. 591.  Schlaf: Aufstieg, S. 603.  Schlaf: Aufstieg, S. 603.  Johannes Schlaf: Die Philosophie der Zukunft. Leipzig: Verlag deutsche Zukunft, o.J. S. 19.  Schlaf: Aufstieg, S. 599 f.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

als Ausdruck eines ,typisch amerikanischen‘ Materialismus markiert. Der Selfmademan wird zum Repräsentanten dessen, was die europäische „Gemeinschaft“ aus ihrer „Bild- und Ideenwelt“¹⁰⁵ ausgeschlossen wissen will: eine Zweck- und Massenkultur, die weder patriotische Gesinnungen noch ein kulturelles Erbe kennt. Derartige Stereotype schließen an eine ins ausgehende neunzehnte Jahrhundert hineinreichende Tradition an. Albrecht Böhme beispielsweise sieht schon 1873 in den „americanische[n] self-made men“ ein Zeichen für die „Oberflächlichkeit und Geringhaltigkeit der americanischen Cultur überhaupt“¹⁰⁶. Zwar erweise sich das Ziel, „aus einer niedern Thätigkeit zu einer höheren aufzusteigen“, als „gesundes Bestreben“ im Gegensatz zur „ungesunde[n] Richtung“ des beruflichen Abstiegs. Die sozialen Aufstiege von Lincoln und Cromwell ‒ die die von Böhme rezensierten Reden und Vorlesungen Friedrich Heckers (1872) explizit als „self-made men“ deklariert hatten¹⁰⁷ ‒ seien jedoch Belege dafür, dass hohe Positionen in Amerika keinerlei profunde Vorbildung voraussetzen, und damit Bekundungen der kulturellen Dürftigkeit Amerikas.¹⁰⁸ Die vom Selfmademan verkörperte Temporalität wird also auf Amerika projiziert, was nicht weiter überrascht. Für die amerikanischen Selbstdefinitionen als ,Land der unbegrenzten Möglichkeiten‘, in dem es jedes männliche Individuum unabhängig von Geburt und Herkunft zu Erfolg bringen kann, ist ein affirmativer Begriff von Potenzialität und Kontingenz konstitutiv. Gerade um die Jahrhundertwende werden diese temporalen Denkfiguren auch für die deutsche AmerikaImagination zentral. Der amerikanischen Gesellschaft werden eine Begünstigung sozialer Mobilität und ein Hang zur permanenten Veränderung zugeschrieben. In Wilhelm von Polenz’ Abhandlung Das Land der Zukunft (1905) bildet die Beobachtung, „dass es der Arbeiterklasse an Abschluss nach oben fehlt, dass ein Aufsteigen möglich und häufig ist“¹⁰⁹, die Grundlage für eine stereotypbeladene Definition des ,amerikanischen Wesens‘. Ausgehend von einem temporalen Verweisungshorizont, der für den Typus des Selfmademans charakteristisch ist, legt Polenz Grundzüge des amerikanischen ,Nationalcharakters‘ fest. ,Den Amerikaner‘ kennzeichnen Polenz zufolge beharrliche Willenskraft, Rastlosigkeit, ein Vorwärtsstreben sowie ein unerschütterlicher Optimismus, den Polenz auf die

 Adolf Halfeld: Amerika und der Amerikanismus: Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers. Jena: E. Diederichs, 1927. S. 50.  Albrecht Böhme: Der Deutschamericaner Friedrich Hecker. In: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Bd. 4, Nr. 27 (1873), S. 7– 11, hier S. 11.  Friedrich Hecker: Reden und Vorlesungen. Neustadt:Verlag der Witter’schen Buchhandlung, 1872. S. 72.  Vgl. Böhme, S. 11.  von Polenz, S. 88.

4.2 Amerika als Spiegelbild (Kellermann)

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Aufstiegsdynamik zurückführt: „Leute, die aus ihrer Mitte Präsidenten, Erfinder, Multimillionäre, Bankdirektoren haben hervorgehen sehn, kennen keine Grenzen für ihre Hoffnungen und Forderungen.“¹¹⁰ Was Amerika und dem amerikanischen ,Nationalcharakter‘ folglich zugeschrieben wird, ist ein emphatisches Möglichkeitsdenken, das fortschrittsoptimistische Perspektiven auf eine offene und gestaltbare Zukunft nach sich zieht. Das für den Selfmademan typische Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont wird damit zum Signum Amerikas erklärt.¹¹¹ Dass der Imaginationskomplex ,Amerika‘ an das Imaginationskonstrukt des Selfmademans gekoppelt wird, hat indes noch einen anderen Grund. Der Aufstieg aus eigener Kraft ist nicht nur das Leitcharakteristikum, das ,dem Amerikaner‘ zugeschrieben wird, sondern spiegelt zugleich, was der deutschsprachige Amerikadiskurs auf die Nation als solche projiziert. Bereits 1865 ist in der Gartenlaube ein Artikel erschienen, der eine explizite Analogisierung zwischen dem Selfmademan und der amerikanischen Nation vornimmt. Abraham Lincoln, der sich „durch eigene Anstrengung und gewissenhafte Pflichterfüllung zu einer der stolzesten Stellen in der Welt hinaufgearbeitet“ habe, sei als „selbstgemachter Mann“ der „beste sinnbildliche Vertreter einer ,selbstgemachten Nation‘“¹¹². Im  von Polenz, S. 88.  Die Annahme einer amerikatypischen Zukunftsoffenheit ist noch in der Gegenwart für amerikanische Selbst- und Fremdbeschreibungen charakteristisch. So schreibt beispielsweise Ulfried Reichardt der amerikanischen Kultur eine eminente Vergangenheitsunabhängigkeit und Zukunftsorientierung zu. Diese Zeitwahrnehmung, die Reichardt unter Rückbezug auf Koselleck erkundet, sei für die amerikanische Modernität konstitutiv. In Amerika habe sie sich zuallererst artikuliert, bevor sie Einzug in den europäischen Kulturraum gefunden habe. Dessen vergangenheitsbezogenes Zeitdenken habe die amerikanische Zukunftsorientiertheit indes nur eingeschränkt revolutionieren können: „My claim, then, is that the crucial factor for the success of the American model is a specifically American conception of time which can be observed in the individual, social, and national realm. It can be summed up in a shift from the past (including memory and tradition) to the future as the main and dominant modality of time which organizes and, importantly, legitimizes life and action. I want to argue that the shift from the past to the future as the frame of orientation which can be observed in Europe since the 18th century and which Reinhart Koselleck has reconstructed as the basic structure of modernity, appeared early in New England and then the United States and that it took shape and became dominant in the form of constituents of mentality in America more consistently and with a greater and wider influence than in Europe.“ Ulfried Reichardt: The „Times“ of the New World: Future-Orientation, American Culture, and Globalization. In: Fluck, Winfried; Claviez, Thomas (Hrsg.): Theories of American Culture, Theories of American Studies. Tübingen: Narr, 2003. S. 247– 265, hier S. 249 f. Hervorhebung im Original.  Adolph Donai: Am Sarge eines wahren Republikaners. Amerikanische Original-Correspondenz der Gartenlaube. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt. Nr. 22 (1865), S. 348 – 350, hier S. 350.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

frühen zwanzigsten Jahrhundert, wenn sich Amerika zur wirtschaftlichen und technischen Großmacht entwickelt, scheint das Land für aufstiegs- und kontingenzemphatische Beschreibungen prädestiniert. Über die räumliche Orientierungsmetaphorik, die der Vorstellung vom Aufstieg zugrunde liegt, wird die Modernisierung Amerikas beschrieben. Bei Ludwig Goldberger zum Beispiel heißt es: Die Entwicklung der amerikanischen Kupferindustrie war vielleicht noch viel rapider und typischer für die amerikanischen Verhältnisse; unaufhaltsam und ungestüm hat sie sich in merkwürdig kurzer Zeit aus den bescheidensten Umfängen emporgehoben und sich zum weitaus bedeutendsten Faktor der Weltproduktion emporgeschwungen.¹¹³

Nach dieser Argumentation ist es nicht nur der einzelne Mann, der Selfmademan, der sich emporschwingt, sondern die gesamte amerikanische Industrie, die einen Aufstieg erzielt. Der von Goldberger thematisierte Aufschwung Amerikas wird Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bekanntlich kontrovers diskutiert. Die dabei entstehenden Perspektiven auf Amerika sind von denen des neunzehnten Jahrhunderts in signifikanten Hinsichten verschieden. Anstelle des politischen Systems rücken wirtschaftliche und technische Entwicklungen in den Vordergrund – Entwicklungen, die Amerika als Inbegriff der ökonomisch-technischen Moderne beschreibbar machen.¹¹⁴ Auch die Funktionen der Amerika-Imagination verschieben sich. Verband sich im neunzehnten Jahrhundert mit der imaginären Topographie der ,neuen Welt‘ ein „Wunsch nach räumlicher Transzendierung“ der als defizitär wahrgenommenen europäischen Lebensverhältnisse, so rückt im zwanzigsten Jahrhundert die Auffassung Amerikas als „Vorwegnahme der europäischen Zukunftsentwicklung“ in den Vordergrund.¹¹⁵ Die Vormachtstellung Amerikas wird zum Anlass genommen, die ökonomischen, technischen, gesellschaftlichen und medialen Umbrüche im eigenen Land zu reflektieren. Mit der in diesem Zusammenhang aufscheinenden Äquivalenzsetzung von Amerika, Kapitalismus und Moderne wird auch der Selfmademan in einen neuen Beschreibungskontext eingepasst. Die etablierte Funktion des Selfmademans, ökonomisch-anthropologische Erscheinungen einer sich formierenden Moderne

 Ludwig Max Goldberger: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Beobachtungen über das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten von Amerika. Berlin: Fontane & Co, 1903. S. 19.  Vgl. Egbert Klautke: Unbegrenzte Möglichkeiten. „Amerikanisierung“ in Deutschland und Frankreich (1900 – 1933). Wiesbaden: Franz Steiner, 2003. Vgl. außerdem Frank Becker: Amerika und Amerikanisierung im Deutschland des 20. Jahrhunderts – ein Überblick. In: Becker, Frank; Reinhardt-Becker, Elke (Hrsg.): Mythos USA: „Amerikanisierung“ in Deutschland. Frankfurt a. M.: Campus, 2006. S. 19 – 47.  Vgl. Ulrich Ott: Amerika ist anders: Studien zum Amerika-Bild in deutschen Reiseberichten des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 1991. S. 26.

4.2 Amerika als Spiegelbild (Kellermann)

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verhandelbar zu machen, wird beibehalten, doch verschieben sich die nationalidentitären Projektionen, mittels derer diese modernediagnostische Funktion erzielt wird: Es ist die Auseinandersetzung mit Amerika, über die die Reflexion der ,neuen Zeit‘ verläuft.¹¹⁶ Welche narrativen Implikationen damit verbunden sind, lässt sich exemplarisch anhand von Bernhard Kellermanns Roman Der Tunnel (1913) demonstrieren. Mit seinem Protagonisten Mac Allan lässt der „prognostische[] Zeitroman“¹¹⁷ einen Selfmademan in Erscheinung treten, dessen Aufstiegsweg mit dem leitmotivisch thematisierten Durchbruch der Moderne in Bezug gesetzt werden kann.¹¹⁸ Der Protagonist, der durch technische Innovationen ein globales Prestige gewinnt, versinnbildlicht durch diesen Aufstieg den Aufschwung der amerikanischen Nation, der in deutschsprachigen Abhandlungen der Zeit immer wieder thematisiert worden ist. Diese metonymische Funktion ist in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans zwar nicht neu, doch ändert sich bei Kellermann das Ausmaß der Transformationen, die verhandelt werden. Der Durchbruch der Moderne vollzieht sich als globaler Entwicklungsprozess. Der Tunnelbau, der von Mac Allan initiiert wird und seinen weltweiten Ruhm begründet, ist ein Weltprojekt sui generis. ¹¹⁹ Durch den Tunnel sollen interkontinentale Vernetzungen  An dieser Beschreibungstradition partizipieren mehrere Romane des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. In verschiedenen Varianten wird das selfmade-Sujet als ethnifiziertes Reflexionsmedium der ,neuen Zeit‘ instrumentiert. Ein Beispiel ist Franz Kafkas Roman Der Verschollene, der das selfmade-Narrativ auf doppelte Weise demythisiert. Nicht nur läuft die Abstiegsgeschichte Karl Roßmanns dem Mythos von Amerika als Land der unbegrenzten Möglichkeiten entgegen. Durch die Figur des Onkels, der eine prototypische Aufstiegskarriere durchlaufen hat, wird der Typus des Selfmademans als Träger eines ausbeutenden kapitalistischen Systems markiert. Wie sich im Laufe der Erzählung herausstellt, ist der Aufstiegsweg des Onkels durch eine skrupellose Ausbeutung befördert worden, die noch in der diegetischen Gegenwart die Angestellten zu Maschinenmenschen degradiert. Vgl. Franz Kafka: Amerika. In: Brod, Max (Hrsg.): Franz Kafka. Gesammelte Werke. Berlin: Fischer, 1976.  Harro Segeberg: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer, 1987. S. 198.  Sämtliche Ereignisse des Romans kreisen um den Untergang der ,alten Welt‘. Maud, die Vertreterin Europas, wird von der breiten Masse in Amerika gesteinigt; der transatlantische Tunnelbau verschafft der amerikanischen Kultur unbeeinträchtigten Zugang nach Europa. Sprachlich fallen eine Reihe von Anglizismen und Amerikanismen ins Auge, die die Vorstellung einer ,Amerikanisierung‘ auf lexikalischer Ebene bestätigen: Immer wieder ist die Rede von Tunnelmen, Claims, Shares, Pacemakern, Roof Gardens und Cities. Vgl. in diesem Zusammenhang Deniz Göktürk: Künstler, Cowboys, Ingenieure… Kultur- und mediengeschichtliche Studien zu deutschen Amerika-Texten 1912– 1920. München: Fink, 1998. S. 98.  Wie Markus Krajewski eingehend beschrieben hat, werden um 1900 zahlreiche Projekte entwickelt, die allesamt das Präfix ,Welt‘ im Titel tragen und sich programmatisch dem „künftigen Fortschritt zum Wohl der gesamten Menschheit“ verschreiben. Vgl. Markus Krajewski: Restlosig-

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entstehen und die transatlantische Mobilität befördert werden. Die Durchführung des Projektes selbst spannt Personengruppen aus zahlreichen Ländern ein, hat einen internationalen Güter-, Waren- und Informationstransfer zur Folge und bildet durch ihre logistischen, medialen, finanziellen und industriellen Vernetzungseffekte eine weltumspannende Dimension aus. Diskursiviert wird die erzählte Globalität über einen parataktischen Stil, der das Bewusstsein einer globalen Konnektivität syntaktisch spiegelt. Auch verbalisiert ein expressionismustypischer Reihungselan das Totalitätsdenken, das die Imagination der ,ganzen Welt‘ bedingt: Das hunderttausendköpfige Arbeiterheer rekrutierte sich aus Amerikanern, Franzosen, Engländern, Deutschen, Italienern, Spaniern, Portugiesen, Mulatten, Negern, Chinesen. Alle lebenden Idiome schwirrten durcheinander. Die Bataillone der Ingenieure bestanden zum größten Teil aus Amerikanern, Engländern, Franzosen und Deutschen. Bald aber strömten Scharen von Volontären aller technischen Hochschulen der Welt herbei, Japaner, Chinesen, Skandinavier, Russen, Polen, Spanier, Italiener. An verschiedenen Punkten der französischen, spanischen und amerikanischen Küste, der Bermudas und der Azoren erschienen Allans Ingenieure und Arbeiterhorden und begannen wie an den Hauptbaustellen zu wühlen. […] Die Eisenhütten und Walzwerke von Pennsylvania, Ohio, Oklahoma, Kentucky, Colorado, von Northumberland, Durham, Südwales, Schweden, Westfalen, Lothringen, Belgien, Frankreich buchten Allans ungeheure Bestellungen. […] In Schweden, Russland, Ungarn und Kanada wurden Wälder niedergemäht. Eine Flotte von Frachtdampfern und Segelschiffen war ständig zwischen Frankreich, England, Deutschland, Portugal, Italien und Azoren, zwischen Amerika und den Bermudas unterwegs, um Material und Arbeitskräfte nach den Baustellen zu transportieren.¹²⁰

Mit der additiv erzeugten Vorstellung der ,ganzen Welt‘, die an demselben Projekt partizipiert – ein Projekt, das wiederum die globale Vernetzung stärken soll –, steht der Roman im Zeichen einer Denklinie, die um 1900 eine aktuelle Brisanz besitzt. Wie Markus Krajewski gezeigt hat, führt der Ausbau informationsund verkehrstechnischer Netzwerke im ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert zur Herausbildung eines komplexen „Medienverbundsystem[s]“¹²¹, dem Weltverkehr, der ökonomische und technische Entwicklungen in eine globale Dimension erhebt. Folge sei eine Neudimensionierung des technisch-ökonomischen Fortschrittsdenkens, das sich zunehmend auf die imagi-

keit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt a. M.: Fischer, 2006. S. 12– 16, Zitat auf S. 16. Hervorhebung im Original.  Bernhard Kellermann: Der Tunnel. Fischer: Berlin, 1913. S. 81 f.  Markus Krajewski: Die Welt und das Nichts. Projektemacher um 1900. In: Krajewski, Markus (Hrsg.): Projektemacher: Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns. Berlin: Kadmos, 2004. S. 162– 181, hier S. 178.

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nierte ,ganze Welt‘ zentriere und diese durch weit dimensionierte Großprojekte zu transformieren suche. Teils realisierte, teils gescheiterte Projekte wie die Einführung einer Weltzeit und Weltsprache, eines Weltgeldes und Weltpostvereins lassen einen „neugewonnenen Anspruch auf globale Reichweite“¹²² und eine veränderte Vorstellung von Welt aufscheinen. Durch die neue Logistik und Infrastruktur sei „der geistige Gesichtskreis der Menschen über die ganze Erde ausgedehnt worden“¹²³, schreibt Max Roscher in seiner 1911 erschienenen Studie Die Kabel des Weltverkehrs, die von einem „Übergang von der früheren lokalisierten zur Weltwirtschaft“¹²⁴ ausgeht. Ein solches Weltbewusstsein wird in Kellermanns Roman literarisch produktiv. Die neue Welt, deren Anbruch der Roman schildert, ist damit nicht nur eine amerikanisierte, sondern allen voran eine globalisierte Welt. Ihr Träger und Begründer ist ein Weltprojektemacher – ein Typus, der um 1900 Konjunktur hat.¹²⁵ Mac Allan wird damit in doppelter Weise auf ein modernetypisches Diskontinuitätscredo abgestimmt. Zunächst signalisiert sein retrospektiv eingeblendeter Aufstiegsweg eine vergangenheitsunabhängige Konzeptualisierung der Zeitkategorie ,Gegenwart‘. Dass der Selfmademan zugleich als Projektemacher in Erscheinung tritt, verstärkt den temporalen Index der Figur. Wie der Selfmademan steht der Projektemacher für ein Diskontinuitätsund Zukunftsdenken.¹²⁶ Laut Krajewski markiert die Position des Projektemachers „den Übergang zwischen kritischer Zwangslage und einer noch unentschiedenen, zu gestaltenden Zukunft.“¹²⁷ Auch dem Projektemacher wohnt somit eine narrative Struktur inne, die auf eine modernetypische Temporalität hinausläuft:

 Krajewski, Die Welt und das Nichts, S. 165.  Max Roscher: Die Kabel des Weltverkehrs. Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht, 1911. S. 166.  Roscher, S. 147.  Vgl. Krajewski: Die Welt und das Nichts. Dass der Protagonist aus Kellermanns Der Tunnel dem Typus des Projektemachers, wie ihn Krajewskis Sammelband konzeptualisiert, entspricht, hat bereits Benjamin Bühler festgestellt. Vgl. Benjamin Bühler: Zukünftiges Zukunftswissen in modernen Utopien: Bernhard Kellermann, Karl Ettlinger, Franz Werfel und Alban Nicolai Herbst. In: Yearbook for European Jewish Literature Studies 3 (2016), S. 163 – 182, hier S. 169 f.  „Der Projektmacher verläßt sich gerade nicht auf eine eingefahrene Laufbahn, sein Weg beschreibt überhaupt keine sich kreisförmig schließende Bahn, sondern führt in eine offene, kontingente Zukunft“, schreibt Georg Stanitzek in seiner Analyse des Projektmachers, den er mit Derrida als Element einer antidifferenziellen Subversionslogik liest. Vgl. Georg Stanitzek: Der Projektmacher. Projektionen auf eine „unmögliche“ moderne Kategorie. In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 65/66, Jg. 17: Zukunft des Politischen (1988), S. 135 – 146, Zitat auf S. 142.  Krajewski: Die Welt und das Nichts, S. 24.

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Der Projektemacher befindet sich in einem eigentümlichen Schwebezustand, er operiert im epistemologischen Dazwischen einer ungesicherten Ordnung und des kanonisierten Wissens.¹²⁸

Dass dem Projektemacher ein temporaler Propositionskern innewohnt, der ihn mit dem Selfmademan legiert, zeigt sich besonders deutlich, wenn man eines der diskursiven Gründungsmomente des Projektemachers in den Blick nimmt. Ein eigentümlicher Schnittpunkt nämlich verbindet den Typus des Projektemachers mit dem verzeitlichten Konzept der Gegenwart, wie es sich im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert profiliert.Wie Johannes F. Lehmann gezeigt hat, geht die sattelzeitliche Konstruktion von Gegenwart als synchrone Einheit veränderlicher Verhältnisse mit ihrer interventionistisch angelegten Erkenntnisstiftung Hand in Hand.¹²⁹ Plausibilität für den Sinn und die Notwendigkeit dieser Erkenntnisstiftung werde unter anderem durch die Polizeiwissenschaft geschaffen, die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts eine tiefgreifende Erforschung gegenwärtiger Verhältnisse projektiert: Die Obrigkeit müsse „beständig bemühet seyn, den gegenwärtigen Zustand des Staats gründlich und zuverlässig zu erforschen“¹³⁰, heißt es in den 1759 erschienenen Grundsätzen der Policey-Wissenschaft von Johann Heinrich Gottlob Justi.¹³¹ Kurz zuvor hat derselbe Verfasser seine Gedanken von Projecten und Projectmachern (1754) veröffentlicht – Gedanken, die die Vorstellung einer permanenten Veränderlichkeit und gestaltbaren Zukunft auf den individuellen männlichen Lebenslauf projizieren. Ein jeder Mann wird von Justi dazu aufgerufen, zum Projektemacher der eigenen Biographie zu werden, die durch das Schmieden und Realisieren von Plänen gesteuert werden könne und müsse. In einem konsultativ anmutenden Appellgestus entwirft Justi ein Bild lebensgeschichtlicher Kontingenz, Zukunftsoffenheit und Gestaltbarkeit: Besonders ist es nöthig, daß wir über die Lebensart oder Handthierung, die wir erwählen wollen, gleich Anfangs ein ausführliches Project machen. […] Aus diesem Anschlage muß nun der Endzweck und das Vorhaben unserer künftigen Lebensart, welche zu erreichen wir uns gegründete Hoffnung machen können, festgesetzet werden. […]. Das heißt einen wohl überlegten Plan und Project seines Lebens machen, und wenn man nach einem solchen Plane alle seine Bemühungen einrichtet, wenn man den einmal bezeichneten Weg beständig vor Augen hat, und weder zur Rechten noch zur Linken davon jemals ausweichet; so müßte

 Krajewksi: Die Welt und das Nichts, S. 24.  Vgl. Lehmann: „Literatur der Gegenwart“ als politisches Drama der Öffentlichkeit, S. 202.  Johann Heinrich Gottlob von Justi: Grundsätze der Policey-Wissenschaft. 2. Auflage. Göttingen: Vandenhoeck, 1759. S. 296.  Vgl. dazu Lehmann: „Literatur der Gegenwart“ als politisches Drama der Öffentlichkeit, S. 202 f.

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das Glück auf eine besonders grausame und heimtückische Art mit uns umgehen, wenn wir nicht unser vorgestecktes Ziel erreichen wollten.¹³²

Der Projektemacher, wie ihn Justi beschreibt, ist folglich ein Selfmademan avant la lettre: ein handlungsmächtiges männliches Subjekt, das seine Zukunft selbst gestalten kann.¹³³ Ein solcher Konnex von Selfmademan und Projektemacher wird in Kellermanns Der Tunnel literarisiert und zum Medium eines temporalitätsbezogenen Statements: In der globalisierten neuen Zeit, in der eine permanente zeitliche Veränderung die Regel ist, ist ein jeder ermächtigt, die individuelle und kollektive Zukunft planvoll zu gestalten. Nicht umsonst tritt der Protagonist beruflich als Ingenieur in Erscheinung. Gerade der Ingenieur steht wie der Selfmademan für eine gezielt und kontrolliert hervorgebrachte Veränderungsdynamik. In welchem Ausmaß temporale Denkfiguren den Erzählverlauf bestimmen, zeigt sich in einem zentralen Narrationsmuster. Die Pläne des Protagonisten werden durch ein katastrophisches Ereignis, die Tunnelexplosion, durchkreuzt. Mit dieser Katastrophenerzählung wird die im Selfmademan und Ingenieur veranschaulichte Zeitlichkeit teils affirmiert, teils unterbunden. Auf der einen Seite bestätigt die Katastrophe die Idee des radikalen Hiatus von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf der anderen Seite wird die Idee der Planbarkeit von Zukunft durch die Katastrophe suspendiert. Mit der Tunnelexplosion, bei der tausende Menschen ihr Leben verlieren, tritt an die Stelle der systematischen Veränderungskraft, die Ingenieursfigur und Selfmademan versinnbildlichen, eine  Johann Heinrich Gottlob von Justi: Nachricht, Von einem sonderbaren Projectmacher, nebst einigen Gedanken von Projecten und Projectmachen. In: Ders.: Neue Wahrheiten zum Vortheil der Naturkunde und des gesellschaftlichen Lebens der Menschen. Leipzig: Breitkopf, 1754. S. 536 – 560, hier S. 538 f.  Ein ähnliches Subjektideal entwirft Kleist in seinem Lebensplan-Konzept, wobei aufklärerische Vernunft- und Autonomiegedanken deutlich zum Tragen kommen. In intertextueller Anleihe an Lessings Nathan der Weise (vgl. Schneider: Geburt und Adoption bei Lessing und Kleist, S. 27) entwirft der Kleist’sche Lebensplan das Bild eines Subjekts, das eigenständig und vernunftgeleitet sein Leben gestaltet und seine Zukunftsziele umsetzt: „Ein freier denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt; oder wenn er bleibt, so bleibt er aus Gründen, aus Wahl des Bessern. Er fühlt, daß man sich über das Schicksal erheben könne, ja, daß es im richtigen Sinne selbst möglich sei, das Schicksal zu leiten. Er bestimmt nach seiner Vernunft, welches Glück für ihn das höchste sei, er entwirft sich seinen Lebensplan, und strebt seinem Ziele nach sicher aufgestellten Grundsätzen mit allen seinen Kräften entgegen. Denn schon die Bibel sagt, willst Du das Himmelreich erwerben, so lege selbst Hand an.“ Heinrich von Kleist: An Ulrike von Kleist, Mai 1799. In: Reuß, Roland; Staengle, Peter (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. Bd. II: Erzählungen, Kleine Prosa, Gedichte, Briefe. München: Hanser, 2010. S. 557– 564, hier S. 559.

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kontingente Destruktion. Was die Erzähldynamik in Gang hält, ist folglich ein Spannungsfeld von Zeitkonzepten: Dem durch Selfmademan und Ingenieur veranschaulichten Bild der steuerbaren Zukunft läuft das durch die Tunnelexplosion markierte Bild der unvorhersehbaren Zäsuren entgegen. Derartige Verschränkungen von selfmade-Narrativ, Katastropheninszenierungen und Ingenieurtypus führen eine ins späte neunzehnte Jahrhundert hineinreichende Erzähltradition fort. Sie finden sich schon in Elisabeth Werners Die Alpenfee und Wilhelmine von Hillerns Der Gewaltigste und schlagen in der Regel stets dieselbe Richtung ein: Der männliche Ingenieur und Selfmademan wird durch ein katastrophisches Ereignis mit einer vermeintlich übermächtigen Veränderungskraft konfrontiert und gelangt in die archetypische Position des männlichen Helden: Es kommt zu einem Kampf gegen die widrigen Mächte der Natur und des Schicksals. Je tragischer und einschneidender die einbrechenden Katastrophen sind, desto gigantischer ist der Triumph, den der männliche Heroismus schließlich davonträgt. In Kellermanns Roman gestaltet sich diese Erzählung anders. Zwar gelingen Mac Allans Tunnelprojekt und der davon erhoffte Auftakt einer ,neuen Zeit‘ am Ende, doch rückt die Katastrophenerzählung die Opfer des technisch-modernen Fortschritts in den Vordergrund. Geschildert wird ein Projekt der Welterneuerung, das in seiner Technikbegeisterung und in seinem Fortschrittsoptimismus den Wert des einzelnen Menschenlebens herabsetzt und gigantische Todeszahlen in Kauf nimmt. Die grundlegende Ambivalenz der Erzählung erstreckt sich auf ihre temporale Logik. Durch Motivwiederholungen und die symmetrische Anordnung einzelner Handlungselemente wird innerhalb des narrativen Syntagmas eine paradigmatische Erzählorganisation deutlich, die die zeitliche Konnotation der Aufstiegsfigur umschlagen lässt. Obgleich die Vorgeschichte Mac Allans einen als ,Früher‘ markierten Kontrastzustand zu den Verhältnissen der diegetischen Jetztzeit konstruiert, zeigen sich mehrere Erzählelemente, die der Dichotomie von Anfangs- und Endzustand zuwiderlaufen und damit nicht nur das Narrationsschema des Aufstiegs, sondern auch das in die Aufstiegserzählung eingelagerte Fortschrittsnarrativ unterminieren. Wie aus der Bezeichnung des Bergwerks als „Uncle Tom“ hervorgeht, kreist die Vorgeschichte um das sklavisch eingeengte Dasein, das der Protagonist vor seinem Aufstieg zu bewältigen hatte. Dieselben Semantiken tauchen im späteren Erzählverlauf erneut auf, wenn es heißt, der „Schöpfer des Tunnels“ sei nunmehr „zu seinem Sklaven geworden.“¹³⁴ Auch das zentrale Ereignis der Vorgeschichte, die Explosion des Bergwerks, bei der der Protagonist Vater und Bruder verliert, wird durch die spätere Tunnelkatastrophe, in deren Folge seine Frau und Tochter ums Leben kommen, gespiegelt. Weitere

 Kellermann, S. 386.

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Beispiele für Wiederholungen und Variationen sind der Aufstieg Mac Allans, der im Aufstieg S. Woolfs negativ gespiegelt wird, und der Konzertbesuch, mit dem der Roman einsetzt und endet. Dass Elemente der Vorgeschichte durch analoge Ereignisse im späteren Geschehen wiederkehren und der Rückblick den anschließenden Handlungsverlauf antizipiert, suggeriert nicht nur einen Einbruch des Zyklischen in das progressiv und teleologisch ausgerichtete Modell der Aufstiegsnarration, sondern verleiht der Modernitätsikone Mac Allan einen tragisch-mythischen Zug. Der Protagonist, der durch sein gigantisches Tunnelprojekt und seine Städtekreationen als exemplarische Verkörperung eines produktiv-schöpferischen Demiurgen erscheint und alle vormodernen Irrationalitäten, unter anderem den Aberglauben, dezidiert ablehnt, scheint unbewusst ein vorherbestimmtes Schicksal auszuagieren. Der Vergangenheitsindex verstärkt sich durch die epische Konnotation des Protagonisten. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass Mac Allan innerhalb der erzählten Welt als „Odysseus der modernen Technik“¹³⁵ gilt. Der Typus des Selfmademans wird hier zum Bezugspunkt einer Metaperspektive. Mit der Einbindung epischer Anspielungen setzt der Roman seinen Protagonisten in Bezug zu einer vermeintlich romanfremden Gattung und lässt damit eine inhärente Paradoxie der Figur zutage treten. Obgleich die Figur in ihrer technischen Innovativität und globalen Denkweise topische Modernitätsinsignien trägt, weist sie Merkmale auf, die ihrer Modernität entgegenstehen. Die wiederholt eingestreuten Anspielungen auf die Gattung des Epos machen es explizit: Der Platz fiktiver Selfmademen wie Mac Allan, die keine Reflexionsausuferungen oder inneren Konflikte kennen, gegen die Natur zu kämpfen haben und die Welt durch ihre heroischen Taten in Atem halten, ist nicht der moderne Roman, sondern das Epos.¹³⁶

 Kellermann, S. 398.  Der Roman schließt damit implizit an das tradierte, im achtzehnten Jahrhundert wurzelnde Gattungsmodell an. Bereits von Blanckenburg hat anstelle von Taten das „Seyn des Menschen“ zum Hauptgegenstand des Romangenres erklärt. Vgl. Blanckenburg, S. 17– 19. Im Anschluss an Blanckenburg deklariert auch Karl Morgenstern, „dass die Epopöe den Helden mehr nach außen wirkend, bedeutende äußere Veränderungen in der Welt hervorbringend zeigt; der Roman aber mehr die Menschen und Umgebungen auf den Helden wirkend“. Karl Morgenstern: Ueber das Wesen des Bildungsromans (1820). In: Steinecke, Hartmut (Hrsg.): Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane. Tübingen: Narr, 1984. S. 51– 53, hier S. 51. Bekanntlich ist die Differenzierung zwischen tatmächtigen Helden der Epopöe und dem Inneren zugewandten Romanprotagonisten ein gängiges Element der über weite Strecken im Zeichen der Epostheorie stehenden Romanpoetik des neunzehnten Jahrhunderts. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts kontrastiert Vischer, anknüpfend an die geschichtsphilosophisch perspektivierte Gattungspoetik Hegels, die Taten des epischen Helden mit den inneren Konflikten des Romanprotagonisten: „[…] der Roman

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Während sich auf struktureller Ebene eine Anachronisierung des Selfmademans andeutet, forcieren sprachliche Gestaltungsweisen die modernistische Konnotation der Figur. Über weite Strecken vollzieht sich die histoire-Bildung über modernistisch konnotierte Verfahrensweisen. Montagetechnik und Polyfokalität prägen den Erzähldiskurs ebenso wie Formen filmischen Erzählens, die schon zeitgenössischen Rezensent*innen ins Auge gefallen sind:¹³⁷ In einer 1913 erschienenen Romankritik weist Kurt Pintus darauf hin, dass einzelne Erzählsequenzen übergangslos und wie literarisierte Stummfilmszenen aneinandergereiht werden.¹³⁸ Auch Pintus’ Beobachtungen zur Erzählgestaltung treffen zu. Immer wieder nimmt die Erzählinstanz einen vogelperspektivisch anmutenden Standort ein, der im Anschluss durch Bewusstseinsberichte und innere Monologe durchbrochen wird. Auf stilistischer Ebene fällt ein Telegrammstil ins Auge, der in seinem nüchternen und sprunghaften Duktus auf die Erzählhaltung der Neuen Sachlichkeit vorausweist.¹³⁹ Akkumulationsfiguren und parenthetische Einschaltungen spiegeln syntaktisch die dargestellte Reizüberflutung. Vor allem die präsentisch erzählten Beschreibungen der Tunnelarbeiten suggerieren ein simultanes, unablässiges und schnelles Einströmen neuer Eindrücke: Heute eine sandige Heidefläche mit einer Heerschar von buntfarbigen Pflöcken, morgen ein Sandbett, übermorgen eine Kiesgrube, ein Steinbruch, ein ungeheurer Kessel aus Konglomeraten, Sandsteinen, Tonen und Kalk, und zuletzt eine Schlucht, in der es wimmelte wie von Maden. […] Hornsignale: Staub wirbelt empor, ein steinerner Koloß neigt sich vornüber, stürzt, zerfällt, und Knäuel von Menschen wälzen sich in die Staubwolke, die emporjagt. Die Bagger kreischen und jammern, die Paternosterwerke winseln und rasseln unaufhörlich,

trägt in weit engerem Sinne den Charakter des Sittenbildlichen, als das Epos; der Held ist nicht handelnd, er macht auf dem Schauplatze der Erfahrung seinen Bildungsgang, worin die Liebe ein Hauptmotiv ist und Conflicte der Seele und des Geistes an die Stelle der That treten.“ Vischer: Aesthetik, S. 1307. Dass noch im frühen zwanzigsten Jahrhundert Vorstellungen von Innerlichkeit die Romantheorie bestimmen und eine Differenzierung zwischen Roman und Epos nach sich ziehen, zeigt die 1916 erschienene Theorie des Romans von Georg Lukács. Im „Weltzeitalter des Epos“ gebe es „noch keine Innerlichkeit, denn es gibt noch kein Außen, kein Anderes für die Seele.“ Georg Lukács [1916]: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Paul Cassirer, 1920. S. 10. Der moderne Roman dagegen – so die an Hegel anschließende Argumentationslinie – schöpfe seinen Erzählgehalt aus der Erfahrung eines „Eigenwertes der Innerlichkeit“. Vgl. Lukács, S. 86.  Vgl. Segeberg, S. 190.  Vgl. Kurt Pintus: Bernhard Kellermann: Der Tunnel. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 5, 1 (1913), S. 164 f., hier S. 164.  Vgl. Göktürk, S. 100.

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Krane schwingen, Karren sausen durch die Luft, und die Pumpen drücken Tag und Nacht einen Strom von schmutzigem Wasser durch mannsdicke Röhren empor.¹⁴⁰

Für die expressionistisch anmutende Zeichenfülle, die die Rede der Erzählinstanz produziert, ist die zitierte Passage repräsentativ. Fast der gesamte Erzähldiskurs konstituiert sich über parataktische Satzkonstruktionen, Asyndeta und einen sprunghaft-elliptischen Stil, der die Erzählgeschwindigkeit beständig steigert. Einmal erzeugte Bilder, Bedeutungen und Sinnzusammenhänge werden übergangslos durch neue ersetzt, sodass sich die discours-Ebene den modernediagnostischen Aussagekern der histoire zu eigen macht. Die sprachlichen Markierungen bilden nur eine Facette der modernediagnostischen Erzählebene, die den Roman kennzeichnet und eng mit dem temporalen Unterbau des selfmade-Narrativs verknüpft ist. Auf paradigmatische Weise fügen sich die zeitlichen Kategorien, die das selfmade-Narrativ fundieren, in das Modernebild ein, das der Roman entwirft (und zugleich unterläuft): In der amerikanischen und globalisierten Welt regieren allein Gegenwart und Zukunft. Der Roman mobilisiert damit ein Beschreibungsmuster, das in zeitgenössischen Amerika-Abhandlungen meist als Kristallisationsfläche antiamerikanischer Stereotype fungiert. Von der zukunftsfixierten Gegenwartserfahrung wird auf eine Kulturlosigkeit geschlossen. Ernst von Wolzogen beispielsweise zeichnet in seiner 1912 erschienenen Abhandlung Der Dichter in Dollarica das Bild Amerikas als Ort der „unbedingten Gegenwart“¹⁴¹, dem durch die fehlende Vergangenheitsbindung auch die kulturelle Fortschrittsmöglichkeit abgehe: Drüben in dem Märchenlande der absoluten Gegenwart fehlten […] die großen Philosophen, Künstler und Dichter, die Verkünder einer neuen Sittlichkeit und einer neuen Religion, die kühnen Umwerter und gefährlichen Fackelträger – sie mussten fehlen, weil sie drüben noch nicht vorhanden sind, diese Kulturblüten schwer von dem Honig einer glorreichen Vergangenheit.¹⁴²

Eine radikale Fokussierung auf die Jetztzeit mache ,den Amerikaner‘ zum Kulturbanausen und begründe seine materialistische Gesinnung.¹⁴³ Als positiven

 Kellermann, S. 79.  Ernst von Wolzogen: Der Dichter in Dollarica. Blumen-, Frucht- und Dornenstücke aus dem Märchenlande der unbedingten Gegenwart. Berlin: Fontane & Co, 1912. S. X.  von Wolzogen, S. 283.  Die Annahme eines Zusammenhangs von (vermeintlich amerikatypischer) Gegenwartszentrierung und hedonistischer Lebenseinstellung ist um 1900 keineswegs neu. Bereits Alexis de Toqueville spricht von einer „amour exclusif du présent“ – einer ausschließlichen Liebe zur

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Gegenpol führt Wolzogen ein als deutsch markiertes kulturelles Wissen an, das Hand in Hand mit einem Vergangenheits- und Überzeitlichkeitsbewusstsein geht: Und wenn die Kinder der absoluten Gegenwart zu uns herüberkommen, so wandeln sie wie in einem Museum einher: alles, was für uns lauter lebendige Quellen ewiger Werte bedeutet, sind für sie ausgestopfte Kuriositäten, patinierte Schildereien, bleiche Spirituskonserven – sie gehen staunend oder lächelnd vorbei und fragen hie und da: „Wieviel kostet das?“¹⁴⁴

Eine ähnliche Gegenüberstellung von amerikanischer und europäischer Kultur findet sich in Kellermanns Roman. Schon der Erzähleinstieg kontrastiert eine europäische Kulturaffinität mit einem amerikanischen Materialismus. Während Mac Allans Ehefrau Maud deutsche ,Wurzeln‘ hat und die Konzertmusik genießt, wird der amerikanische Protagonist als Materialist gekennzeichnet, dem die Musik völlig entgeht: Er maß mit den Blicken die Dimensionen des ungeheuren Saales aus, dessen Decken- und Logenringkonstruktion er bewunderte. Er überflog das flimmernde, vibrierende Fächermeer im Parkett und dachte, daß „viel Geld in den Staaten sei und man hier so etwas unternehmen könne, wie er es im Kopf hatte“. Als praktisch veranlagter Mensch unternahm er es, die stündlichen Beleuchtungskosten des Konzertpalastes abzuschätzen. Er einigte sich auf rund tausend Dollar und verlegte sich hierauf auf das Studium einzelner Männerköpfe. Frauen interessierten ihn gar nicht.¹⁴⁵

Auf den ersten Blick scheint der Roman an dieser Stelle ein etabliertes Stereotyp zu reproduzieren. Nahezu identisch hatte acht Jahre zuvor von Polenz die Charakterzüge des als Typus konstruierten Amerikaners beschrieben: Er ist geneigt, in erster Linie nach Zweck und Nutzen einer Sache zu fragen. Größe und hoher Preis, den er auch jedermann gern erfahren lässt, imponieren ihm. Darüber übersieht er leicht das, was nicht gewogen oder gemessen werden kann, die innere Schönheit und Harmonie von Menschen und Dingen. Für das Transcendentale hat er noch keine Organe entwickelt, und der tiefste Sinn der Kunst ist ihm bisher unerschlossen geblieben.¹⁴⁶

Gegenwart, die sich mit hedonistisch-materialistischen Lebensansprüchen verbinde und das Produkt einer demokratischen Gesellschaftsordnung sei. In dieser Ordnung seien weder Vergangenheit noch Zukunft bindend, sondern der oder die Einzelne erfahre ausschließlich die ephemere Jetztzeit: „Je pense que les ambitieux des démocraties se préoccupent moins que tous les autres des intérêts et des jugements de l’avenir: le moment actuel les occupe seul et les absorbe. Ils achèvent rapidement beaucoup d’entreprises, plutôt qu’ils n’élèvent quelques monuments très-durables; ils aiment le succès bien plus que la gloire.“ de Toqueville, S. 172.  von Wolzogen, S. 278.  Kellermann, S. 12 f.  von Polenz, S. 77.

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So deutlich die Parallelen zu Kellermanns Erzählung auch sein mögen, so signifikant sind die Unterschiede. Kellermanns Roman bindet das stereotypisierte Beschreibungsmuster ein, lässt es jedoch zugleich als unzulänglich erscheinen. Anstatt dem amerikanischen Pragmatismus eine europäische Kulturaffinität entgegenzustellen, zeigt der Roman eine Verbindungslinie auf. Eine durch Maud fokalisierte Gedankenrede legt eine Analogie nahe: Während des Konzerts erscheint es ihr, „als ob Macs Werk ebenso groß sei wie jene Symphonien, die sie heute gehört hatte, ebenso groß – nur ganz anders.“¹⁴⁷ Der konjunktivische Modus ist typisch für die Erzählweise des Romans, der zwar zu eindrücklichen Bildern und emphatischen Beschreibungen tendiert, jedoch von eindeutigen Positionierungen weitgehend absieht. Sprachlich markierte Relativierungen verdeutlichen, dass der Roman trotz seiner ethnischen Codierungen nicht auf eine Stereotypreproduktion zu reduzieren ist. Dass trotz dieser Relativierungen etablierte Beschreibungsmuster einbezogen werden, ist weniger auf einen normativen Impetus zurückzuführen als auf das zeitdiagnostische Erzählinteresse des Romans und seine metaperspektivische Erzählanlage: Reflektiert werden nicht nur die Insignien einer ,neuen Zeit‘ und deren Mentalität, sondern die Art und Weise, in der sich diese ,neue Zeit‘ diskursiviert. Zu dieser Metaperspektive trägt vor allem eine medienbezogene Erzählebene bei, die den Roman bestimmt.¹⁴⁸ Illustriert wird der Anteil, den mediale Inszenierungen am Durchbruch einer neuen, als amerikatypisch geltenden Mentalität haben: Von der Battery herauf kam ein Reklameluftschiff mit weichem Surren der Propeller und zwei großen Augen, eulenhaft. Und auf dem Bauch der Eule erschienen abwechselnd die Worte: Gesundheit! – Erfolg! – Suggestion! – Reichtum! – Pinestreet 14!¹⁴⁹

Dass der Roman in seinem modernediagnostischen Erzählfokus nicht nur einen Mentalitätswechsel beschreibt, sondern zugleich auf dessen mediale Bedingungen Bezug nimmt, grenzt ihn sowohl von den vorherigen Aufstiegserzählungen als auch von den Beschreibungen von Polenz’ und Wolzogens ab. Wenn Kellermanns Roman Bilder der Moderne produziert, so geschieht dies mit einer Reflexivität, die die Zeitbilanz immer wieder an die eigene Medialität rückbindet.¹⁵⁰  Kellermann, S. 43.  Vgl. zu den metamedialen Inszenierungen des Romans Robert Leucht: Dynamiken politischer Imagination. Die deutschsprachige Utopie von Stifter bis Döblin in ihren internationalen Kontexten, 1848 – 1930. Berlin/Boston: de gruyter, 2016. S. 270 – 272.  Kellermann, S. 53.  Deniz Göktürk hat darauf hingewiesen, dass Kellermanns Roman neben der Geschichte vom transatlantischen Tunnelbauprojekt auch eine „Evolutionsgeschichte des filmischen Mediums“ erzählt. Das eigentliche Thema des Romans sei die Erzeugung und Vermarktung technischer

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Auch erzählerisch fällt ein Bruch mit etablierten Formen des Modernenarrativs ins Auge. Über die eindringliche Rede der Erzählinstanz fließen modernekritische Zeitdiagnosen explizit in den Erzähldiskurs ein. Charakteristisch dafür ist ein Bericht über den wahrgenommenen Kulturverfall: Die alten Kulturen waren bankrott, und die Masse war kaum der Beachtung wert: etwas Kunst, etwas Religion, Christian Science, Heilsarmee, Theosophie und spiritistischer Schwindel – kaum genug, um den seelischen Bedarf einer Handvoll Menschen zu decken. Ein bißchen billige Zerstreuung, Theater, Kinos, Boxkämpfe und Varietés, wenn der sausende Treibriemen auf ein paar Stunden stillestand – um das Schwindelgefühl zu überwinden. […] Das Leben war heiß und schnell, wahnsinnig und mörderisch, leer, sinnlos. Tausende warfen es fort.¹⁵¹

Mit dem Verweis auf die hedonistischen Bedürfnisse und den kulturellen Niedergang der Masse schließt der Roman zwar an bekannte antiamerikanische Auffassungen an,¹⁵² doch birgt dieser Anschluss ein tiefergreifendes Deutungspotenzial in sich. Dargestellt werden nicht nur Symptome eines kulturellen Verfallsprozesses, sondern Zusammenhänge, die nach der Erzähllogik des Romans die moderne Gesellschaft definieren. Die hedonistischen Bedürfnisse der Masse, die die Erzählinstanz zum Thema macht, werden mit dem erzählten Medienboom in Verbindung gebracht, der wiederum die globalen Vernetzungen und das technische Weltprojekt mitbedingt.¹⁵³ Eine eigentümliche Dimension der zeitdiagnostischen Reflexivität besteht folglich darin, dass modernekritische Beschreibungsmuster aufgegriffen und verdichtet werden, um größere zeitspezifische Zusammenhänge darzustellen. Veranschaulicht werden verschiedene Faktoren, von der Globalisierung über die Massenmedien bis hin zum technischen Projektfieber, die in ihrem Zusammenspiel ein verdichtetes Bild der ,neuen Zeit‘ ergeben. Dieser zeitdiagnostische Impetus wird durch die Metaperspektive der Erzählung selbst zum Gegenstand der Reflexion. Über eine fingierte intermediale Referenz führt die Erzählung vor, wie das Tunnelprojekt als Schauplatz zeittypischer Tendenzen inszeniert und wahrgeNeuheiten durch eine zunehmend global vernetzte Massenmedienkultur. Vgl. Göktürk, S. 96 und 106, Zitat auf S. 96.  Kellermann, S. 120 f.  Auch von Polenz hatte Amerika die Fähigkeit abgesprochen, eine geistig-kulturelle Tiefe zu erreichen. Grund dafür seien die angespannten, momentzentrierten und entsprechend oberflächlichen Verhältnisse des amerikanischen Lebens: „Das amerikanische Leben hat wohl Aufregungen, es ist intensiv und hochgespannt, aber es fehlt ihm der Feuchtigkeitsgehalt fruchtbarer Anregungen, es ist arm an allem, was zum Gemüt spricht. In so trockener Luft können wohl kluge Gedanken gefasst, aber nicht leicht tiefe Ideen geboren werden.“ von Polenz, S. 79.  Es ist die Sensationslust einer breiten und globalen Masse, die das Tunnelprojekt medial verwertbar macht und zudem die Finanzierung des Projekts bedingt.

4.2 Amerika als Spiegelbild (Kellermann)

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nommen wird. Die Verfahrensweise des Romans und sein zeitdiagnostisches Deutungspotenzial werden damit offengelegt: Edison Bio zeigte die ganze Bibel der modernen Arbeit. Und alles mit einem bestimmten Ziel: dem Tunnel! Und die Zuschauer, die sich vor zehn Minuten an einem schauerlichen Melodrama ergötzt hatten, fühlten, daß all die bunten, rauchenden und dröhnenden Bilder der Arbeit, die die Leinwand zeigte, nichts anderes waren als Szenen eines weitaus größeren und mächtigeren Dramas, dessen Held ihre Zeit war.¹⁵⁴

Die spezifische Perspektive des Romans, der zeitdiagnostische Beschreibungsmuster aufeinandertreffen lässt und metaperspektivisch reflektiert, bestimmt auch die Darstellung des Selfmademans. Mehr noch als zuvor erschienene Erzählungen lässt Kellermanns Roman ersichtlich werden, dass die Konkretisierung des selfmade-Narrativs unweigerlich zu Erzählbeständen aus dem grand récit ,Moderne‘ führt, wobei Gesellschafts- und Subjektbilder ebenso wie Imaginäres und Realhistorisches zusammenfließen. Thematisiert werden Ausmaße der Kraftmobilisierung, Prozesse der Technisierung und ,Amerikanisierung‘ sowie der Durchbruch der Massenmedien. Diese Symbolfunktion des Selfmademans wird wiederum erzählimmanent transparent gemacht. So wird nicht nur auf das Kräftepotenzial des Selfmademans Bezug genommen, sondern zugleich auf dessen mediale Präsentation als Träger eines Energie- und Kraftideals. Vonseiten der dargestellten Medien und Öffentlichkeit wird der Selfmademan als Inbegriff menschlicher Kraft gefeiert: Der Konferencier: „Solch ein Kohlenjunge war Mac Allan, der Erbauer des Tunnels vor zwanzig Jahren.“ Ein ungeheurer Jubel bricht los! Der menschlichen Energie und Kraft jubelt man zu – sich selbst, seinen eigenen Hoffnungen! In dreißigtausend Theatern führte Edison Bio die Tunnelfilme täglich vor. Es gab kein Nest in Sibirien und Peru, wo man die Filme nicht sah. So war es natürlich, daß all die Höchstkommandierenden des Tunnelbaus ebenso bekannt wurden wie Allan selbst. Ihre Namen prägten sich dem Gedächtnis des Volkes ein wie die Namen von Stephenson, Marconi, Ehrlich, Koch.¹⁵⁵

Deutlich zeigt sich hier das differenzierte Licht, in das der Selfmademan bei Kellermann gerückt wird. Die Aufstiegsnarration fungiert nicht nur als Handlungselement, sondern dient zugleich als Mittel, den Akzent von der erzählten Ereigniskette auf mediale Konstruktionen und Wirkungspotenziale zu verschieben. Mit dieser Zusammenführung von Handlungsebene und Medienreflexion wirft Der Tunnel eine Doppelperspektive auf den Selfmademan, den die Erzählung nicht nur

 Kellermann, S. 173.  Kellermann, S. 174.

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als Verkörperung von Handlungsmacht und Willenskraft darstellt, sondern zugleich in seiner Funktion als Träger dieser Ideale präsentiert.¹⁵⁶ Mac Allans Aufstieg wird als Teil der kollektiven Imagination markiert, in dem sich die Wunschvorstellungen der amerikanischen Bevölkerung verdichten: Sie wußten, daß er mit zwölf Jahren Pferdejunge in einer Kohlengrube war und daß er sich im Laufe von zwanzig Jahren aus einer Tiefe von achthundert Metern unter der Erde bis empor auf den Roofgarden des Atlantic gearbeitet hatte. Das war etwas. […] Vor ihren Augen schien sich das seltene Schauspiel abzuspielen: einer kam den Glasberg herauf zu ihnen, gesonnen, seinen Platz zu beanspruchen und zu verteidigen.¹⁵⁷

Innerhalb der erzählten Welt stellt der Aufstieg folglich sowohl ein realisierbares Geschehen dar – dies akzentuiert der retrospektive Einschub, der die Aufstiegsgeschichte beglaubigt – als auch ein Produkt medialer Inszenierungen. Für die damit verbundene Glorifizierung des Selfmademans bietet die Erzählung wiederum selbst eine Erklärung an. Die an den Mythos ,Selfmademan‘ gekoppelte Heldenfabrizierung wird als mediales Phänomen dargestellt, das auf die eskapistischen Bedürfnisse einer dekadenten Gesellschaft reagiert. Über die Aufstiegsgeschichte eines heroischen Selfmademans soll der breiten Masse imaginativ eine Geschichtsmächtigkeit erfahrbar werden, die ihr im Allgemeinen vorenthalten bleibt: Selbst unfruchtbar, stürzten sie sich von jeher auf fremde Ideen, um sich daran zu erwärmen, zu entflammen und über die eigene Dumpfheit und Langeweile wegzutäuschen. Sie waren ein Heer von Zeitungslesern, die dreimal täglich ihre Seele mit den Schicksalen unbekannter Menschen heizten. Sie waren ein Heer von Zuschauern, die sich stündlich an den tausendfältigen Kapriolen und tausendfältigen Todesstürzen ihrer Mitmenschen ergötzten, in dumpfem Grimm über die eigene Ohnmacht und Bettelarmut.¹⁵⁸

In seinem medienreflexiven Erzählstrang führt der Roman nicht nur vor Augen, wie das selfmade-Narrativ für eine eskapistische Rezeptionshaltung instrumentiert wird. Zugleich lässt er das breite Deutungspotenzial hervortreten, das dem Selfmademan innewohnt. Der Selfmademan wird als Projektionsfläche antikapitalistischer Modernekritiken herausgestellt. Anstatt über das selfmade-Narrativ Kritik am kapitalistischen System zu üben, macht der Roman ebendiese Repräsentationsfunktion des Selfmademans thematisch:

 Vgl. Leucht, S. 271.  Kellermann, S. 61.  Kellermann, S. 120.

4.2 Amerika als Spiegelbild (Kellermann)

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Die Arbeiterpresse der fünf Kontinente zeichnete Mac Allan als das blut- und schmutzbesudelte Gespenst der Zeit mit Menschenköpfen im Maul und gepanzerten Geldschränken in den Händen. Er wurde täglich von den Rotationspressen aller Länder zerfleischt. Sie brandmarkten das Tunnelsyndikat als die schamloseste Sklaverei aller Zeiten, als die unerhörteste Tyrannei des Kapitalismus.¹⁵⁹

Dass der Roman potenzielle Deutungen seines Protagonisten mitreflektiert, verdeutlicht die Metaperspektive der Erzählung. Wirft man einen Blick auf zeitgenössische Deutungen des Romans, so stellt sich der Eindruck ein, dass die Erzählung ihre eigenen Lesarten antizipiert. Werner Sombart beispielsweise kommt zu einer ähnlichen Deutung wie die fingierte internationale Arbeiterpresse: Der Protagonist wird als Inbegriff des kapitalistischen Verfalls gedeutet. In Mac Allan sieht Sombart den exemplarischen Beweis für die psychopathologischen Folgeerscheinungen des kapitalistischen Systems: Alle Lebenswerte sind dem Moloch der Arbeit geopfert, alle Regungen des Geistes und des Herzens dem einen Interesse: dem Geschäft zum Opfer gebracht. Das hat wiederum in geschickter Weise uns Kellermann in seinem Tunnel-Buch geschildert, wenn er von seinem Helden, der eine kraftstrotzende Vollnatur gewesen war, am Schlusse sagt: „Schöpfer des Tunnels war er zu seinem Sklaven geworden. Sein Gehirn kannte keine andere Ideenassoziation mehr als Maschinen, Wagentypen, Stationen, Apparate, Zahlen, Kubikmeter und Pferdestärken. Fast alle menschlichen Empfindungen waren in ihm abgestumpft.“¹⁶⁰

Die Deutung der Figur als Inkarnation des kapitalistischen Geistes verkennt nicht nur die immanente Reflexivität der Figurenkonstruktion. Ihr entgeht zugleich, dass Kellermanns Roman seinen Protagonisten von einem ökonomischen Bezugshorizont entkoppelt.¹⁶¹ Die kapitalismuskritische Perspektive des Romans richtet sich weniger auf Mac Allan als auf den jüdischen Syndikatsleiter S. Woolf sowie den Hauptfinanzierer des Tunnels, den amerikanischen Millionär Lloyd, dessen monsterisierte Körperlichkeit der Perhorreszenz kapitalistischer Finanzmacht einen symbolischen Ausdruck verleiht.¹⁶² Auch in diesem Zusammenhang bleibt die Perspektive des Romans indes ambivalent. Die Beschreibung Lloyds steigert sich so sehr ins Groteske, dass ihr abschreckendes Wirkungspotenzial ins Gegenteil verkehrt wird. In ihrer satirischen Steigerung und extremen Häufung

 Kellermann, S. 253.  Sombart: Der Bourgeois, S. 229.  Franziska Schößler spricht von einer Trennung zwischen der technisch-organisatorischen Seite des Tunnelprojekts und seinem ökonomischen Aspekt. Vgl. Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 261.  Vgl. Schößler: Börsenfieber und Kaufrausch, S. 260.

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erzeugen die dämonisierenden, animalisierenden und monsterisierenden Bilder Effekte des Lächerlichen und Absurden, wodurch die Seriosität des Porträts Abstriche erfährt: Lloyds Gesicht erinnerte an eine Bulldogge. Die unteren Zähne standen ein wenig vor, die Nasenlöcher waren runde Löcher und die tränenden, entzündeten kleinen Augen standen wie schräge Schlitze in dem braunen, ausgetrockneten und bewegungslosen Gesicht. […] Eine ekelhafte Flechte hatte Lloyds Hals, Gesicht und Kopf zernagt und ausgetrocknet und die tabakbraune Haut und die eingeschrumpften Muskeln über die Knochen gespannt. Die Wirkung von Lloyds Gesicht war fürchterlich, sie ging vom Erbleichen bis zur Ohnmacht und nur starke Nerven vermochten den Anblick ohne Erschütterung zu ertragen. Lloyds Gesicht war der tragikomischen Larve einer Bulldogge ähnlich und verbreitete gleichzeitig den Schrecken eines lebendigen Totenkopfes. Es erinnerte Allan an Indianermumien, auf die sie bei einem Bahnbau in Bolivia gestoßen waren.¹⁶³

Die groteske Überzogenheit dieser Beschreibung lässt eine Ambivalenz hervortreten, die für Kellermanns Roman charakteristisch ist. Auf der einen Seite reproduziert der Roman mitunter eins zu eins die Schreckensbilder der Zeit samt ihrem antikapitalistischen und antiamerikanischen Unterbau. Auf der anderen Seite lenken hyperbolische Häufungen und Steigerungen das Augenmerk auf die Artikulationsform dieser Schreckensbilder, die in ihrer suggestiven Rhetorizität hervortreten. Dieses Verfahren prägt auch den Erzählstrang um S. Woolf, der neben dem Bild des Ewigen Juden¹⁶⁴ die Stereotype des jüdischen Emporkömmlings und Verwandlungskünstlers zur Geltung bringt und dabei fast das gesamte Spektrum des antisemitischen Beschreibungsarsenals abdeckt: S. Woolf kennzeichnen Profitsucht – „Er war ein Geldgenie, er roch das Geld auf Meilen Abstand“¹⁶⁵ –, ein obsessives Aufstiegsstreben, moralische Skrupellosigkeit, strategische Assimilationen, Wolllust und dekadente Ausschweifungen – „Seine überreizten Nerven brauchten Orgien, Exzesse, Zigeunermusik und Tänzerinnen zur Betäubung“¹⁶⁶ –, eine asthmatische Erkrankung und übermäßige Körperfülle. Orientalisierende Körperbeschreibungen schließen die Aufstiegsambitionen der Figur mit dem Stereotyp der jüdischen Unersättlichkeit kurz:

 Kellermann, S. 30 f.  Das Stereotyp des beständig wandernden Juden bildet das Leitmotiv der eingeschobenen Aufstiegsnarration. Die Figur bewegt sich von einem Ort zum anderen, ohne einen festen Sitz ergattern zu können. Ihr Ende nehmen die rastlosen Migrationsbewegungen in Amerika, wo sich die Aufstiegsambitionen S. Woolfs realisieren können.  Kellermann, S. 166.  Kellermann, S. 280.

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Weshalb sollte es nicht möglich sein, daß seine Stellung eines Tages einer absoluten Beherrschung des Syndikats gleichkäme? S. Woolf legte die orientalischen Augendeckel über seine schwarzen, glänzenden Augen und seine fetten Wangen zitterten. Das war der kühnste Gedanke, den er in seinem Leben gedacht hatte, und dieser Gedanke hypnotisierte ihn.¹⁶⁷

Eine Reihe von grotesken Übersteigerungen, die die Körperbeschreibungen durchziehen, verbinden Degenerationsvorstellungen mit antisemitischen Ressentiments, die sich in suggestiven Bildern der jüdischen Maßlosigkeit, orgiastischen Triebhaftigkeit und physischen Monstrosität äußern: Jedes Blatt Papier, das er in die Hand nahm, zeigte den fetten Abdruck seines Daumens, trotzdem er hundertmal am Tage die Hände wusch. Er schied ganze Tonnen Talg aus und wurde trotzdem immer fetter.¹⁶⁸

Mit der hyperbolisch überzogenen Korpulenzdarstellung greift der Text auf grassierende antisemitische Körperstereotype zurück und reaktualisiert eine affektrhetorisch intendierte Sprache des Monströsen. Diese bekundet sich auch in Zoomorphismen – „zottiger Büffelschädel“¹⁶⁹, „shark“¹⁷⁰, „schnaufend und rasselnd wie ein Nilpferd“¹⁷¹ –, die die Überdimensionalität und dekadente Entartung des Körpers apostrophieren. Bereits der Name der Figur steht im Zeichen einer Monsterisierung. Der Name ,S. Woolf‘ assoziiert den jüdischen Aufsteiger mit einem Raubtier, das als klassischer Widersacher des Menschen und Sinnbild des Bösen gilt.¹⁷² Das Wolfsmotiv verbildlicht nicht nur das Unkontrollierbare und Gefahrverheißende, das der Figur zugeschrieben wird, sondern auch ihre wechselhafte Identität und Assimilation. S. Woolf, der seine Sprache und Erscheinung stets an die Verhältnisse seiner Umgebung anpasst und sich beständig selbst metamorphisiert, erscheint in diesem Sinne als gestaltwandlerischer Wolfsmensch oder Werwolf, wie ihn theriantropische Mythen und Sagen konzipieren. Darüber hinaus weist die Konnotation des Wölfischen auf das rechtswidrige Verhalten der Figur voraus, in dem sich eine in der normativen Rechtsterminologie wurzelnde Assoziation des Wölfischen und Kriminellen niederschlägt. Die

 Kellermann, S. 172.  Kellermann, S. 166 f.  Kellermann, S. 280.  Kellermann, S. 265.  Kellermann, S. 265.  Vgl. zum Wolfssymbol Heiko Hiltmann: ,Guter Wolf ‒ böser Wolf‘: Die Ambivalenz norröner Wolfsbilder und ihrer persönlichkeitsstiftenden Funktion im europäischen Vergleich. In: Ulrich, Miorita; Rentiis, Dina de (Hrsg.): Animalia in fabula. Interdisziplinäre Gedanken über das Tier in der Sprache, Literatur und Kultur. University of Bamberg Press, 2013. S. 143 – 174, hier S. 167.

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Aufstiegsambitionen der Figur verleiten sie zu Spekulationsgeschäften, die das gesamte Tunnelprojekt gefährden und die erzählte Weltordnung, die bereits die Explosion zeitweilig zerstört hatte, ein zweites Mal ins Wanken bringen, sodass sich in dem Erzählstrang um S. Woolf das antisemitische Narrativ jüdischer Weltusurpation konkretisiert. Die Überzogenheit und Vehemenz, mit der antisemitische Rhetoriken und Narrative in die Erzählung eingebunden werden, verdeutlichen einmal mehr den ambivalenten Charakter ihrer ethnischen Codierungen. In ihrer Häufung und grotesken Evidenz entwickeln die Beschreibungen eine Schlagkraft, die den antisemitischen Impetus mit einer metaperspektivischen Bezugsrichtung durchsetzt: Kellermanns Roman reproduziert nicht nur antisemitische Ressentiments, sondern macht zugleich deren Artikulationsform transparent. Gerade der Modus des Grotesken und die damit verbundene Verfremdung des Vertrauten führt sprachlich-narrativ vor Augen, wie ethnische Codierungen und Ausschlüsse funktionieren. So unverhohlen die Figur in dem Roman stigmatisiert wird, so uneindeutig ist folglich die Perspektive des Romans, der antisemitische Beschreibungsmuster mit einem solchen Übertreibungsgestus aufnimmt, dass ihr Einbezug Züge des Satirischen annimmt. Dass der antisemitische Duktus durch seine groteske Übersteigerung relativiert wird, ändert indes nichts an den Zuschreibungen, die der Roman vornimmt. Der Ambivalenz der erzählerischen Gestaltung steht die Schematizität der Diegese gegenüber. Die gesteigerte Rationalität und das asketische Berufsethos Mac Allans, der anstelle des Geldes der Arbeit huldigt und dem der Charakter S. Woolfs „fremd und wenig sympathisch“¹⁷³ erscheint, kennzeichnen ihn als Gegenfigur zum jüdischen Aufsteiger.¹⁷⁴ Vor dem Hintergrund dieser Polarisierung lässt sich noch einmal ausdrücklich das diskursive Feld benennen, in dem sich das selfmade-Narrativ nach der Jahrhundertwende hauptsächlich bewegt: eine dichotomisch ausgerichtete Ordnung, die strukturell verschränkte Imaginationen und Ideologeme über Amerika, das Jüd*innentum und die Moderne produziert und

 Kellermann, S. 119.  Es zeigt sich hier nicht nur die bekannte Ausdifferenziertheit von Emporkömmling und Selfmademan, sondern die operative Eigenständigkeit antisemitischer und antiamerikanischer Beschreibungsmuster (vgl. hierzu Klautke, S. 336). Nichtsdestotrotz sind beide Stereotypkomplexe durch ihren temporalen Verweisungshorizont strukturell legiert. Sowohl im Bild des amerikanischen Selfmademans als auch im Topos des jüdischen Emporkömmlings ist ein temporalitätszentriertes Erzählschema wirksam. Suggeriert wird das Anbahnen einer Zukunft, die sich von der Vergangenheit fundamental unterscheidet, einen unaufhaltsamen Bruch mit Herkunftslinien vollzieht und kategorisch auf die Legitimationskraft der Vergangenheit verzichtet.

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dabei temporale Kategorien, die ihre Wurzeln in der Sattelzeit haben, in einen ethnifizierenden Darstellungskontext einbindet. Von den zuvor erschienenen Romanen sticht Der Tunnel nicht nur aufgrund seines ambivalenten Umgangs mit ethnischen Codierungen hervor. Die erzählerische Moderne-Imagination selbst wird von Elementen bestimmt, die in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans neu sind. Was die erzählte Moderne bei Kellermann auszeichnet, ist ein globaler Fordismus,¹⁷⁵ dessen Manifestation auf die „virile[n] Kältephantasien“¹⁷⁶ der Neuen Sachlichkeit vorausweist. Auch in Kellermanns Roman ist die Vorstellungsbildung zur ,neuen Zeit‘ folglich mit der androzentrischen Imagination eines neuen Menschentypus verbunden. Der dabei konturierte Männlichkeitsentwurf weicht allerdings von den Neumenschvisionen Frenssens und Schlafs fundamental ab. An die Stelle lebensreformerischer Subjektentwürfe, die auf die Dekadenzvorstellungen des Naturalismus reagierten, treten „Männerphantasien von stählernem Willen, von Naturbeherrschung, Durchsetzungskraft und Penetration“¹⁷⁷, die sich in der Figur des Ingenieurs verdichten.¹⁷⁸ Besonders die Körperbeschreibungen inszenieren den Protagonisten als ,Stahlnatur‘ und ,Kraftnatur‘ und mobilisieren damit faschistoid anmutende Männlichkeitsvorstellungen. Mac Allans Augen sind „kühn und klar, stählern und blinkend wie jenes Allanit, das dem Diamanten nur um einen Grad an Härte nachstand“¹⁷⁹; seine Arme gleichen denen eines „trainierten Tennisspielers und Fechters“¹⁸⁰, in seiner Statur ist er „breit und stark gebaut wie ein Boxer.“¹⁸¹ Energie- und Kraftideale verbinden sich mit dem, was kurze Zeit später, im Kontext der Neuen Sachlichkeit, zum Signum der ,kalten persona‘ avanciert:  Thorsten Unger hat darauf hingewiesen, dass in die Figurenzeichnung Mac Allans Züge des realhistorischen Ingenieurs Henry Ford einfließen. Vgl. Thorsten Unger: Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur. Texte dreier Jahrhundertwenden. In: Brogi, Susanna et al. (Hrsg.): Repräsentationen von Arbeit. Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen. Bielefeld: transcript, 2013. S. 59 – 86, hier S. 72. In Anbetracht von Mac Allans sozialem Aufstieg, der von ihm eingeführten Arbeitsteilung und Zeitmessung sowie der kontinuierlich angestrebten Effizienz- und Leistungssteigerung scheint dieser Vergleich durchaus berechtigt.  Göktürk, S. 82.  Göktürk, S. 103.  Zur geschlechtlichen Codierung der technisch-konstruktiven Arbeit und zur Verbindung von Ingenieurs- und Männlichkeitskonzept im frühen zwanzigsten Jahrhundert vgl. Tanja Paulitz: Kämpfe um hegemoniale Männlichkeiten in der Ingenieurkultur um 1900. In: Brunotte, Ulrike; Herrn, Rainer (Hrsg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in Wissenskulturen um 1900. Bielefeld: transcript, 2007. S. 257– 270.  Kellermann, S. 60.  Kellermann, S. 60.  Kellermann, S. 12.

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Selbstimmunisierung, Kontrolle und „Disziplinierung der Affekte“¹⁸². Schon der junge Mac Allan, der sich nach der Bergwerkexplosion „[e]iskalt vor Energie“¹⁸³ den Weg nach oben bahnt, weist in seinen Eigenschaften auf die neusachliche Kältelehre voraus.¹⁸⁴ Auch in diesem Zusammenhang jedoch ist die Perspektive des Romans komplexer, als es zunächst den Anschein hat. So wird die Kälte-Assoziation metaphorisch unterbunden. Der Bericht über Mac Allans Kindheit wird von einer Wärmesemantik durchzogen: [D]er erste Eindruck, der in seinem Gedächtnis haften geblieben war, war Feuer. Dieses Feuer stand nachts an verschiedenen Stellen am Himmel, wie feurige Köpfe auf dicken Leibern, die ihn schrecken wollten. Es kam aus Öfen gegenüber heraus in der Gestalt glühender Gebirge, auf die glühende Männer von allen Seiten Wasserstrahlen richteten, bis alles in einer großen weißen Dampfwolke verschwand.¹⁸⁵

Nicht nur auf sprachlicher Ebene, sondern auch auf histoire-Ebene tragen mehrere Elemente dazu bei, das Bild der ,kalten persona‘ zu revidieren. Mac Allan vernachlässigt seine Familie zugunsten seines Projekts, doch tritt er mitnichten als bindungsunfähiger und kaltblütiger Egoist in Erscheinung, wie es in den naturalistischen Aufstiegserzählungen der Fall gewesen war. Was bei den naturalistischen Aufsteigern Geldstreben verbunden mit moralischer Indifferenz gewesen war, ist bei Mac Allan ein obsessiver Ehrgeiz, ein Weltprojekt erfolgreich umzusetzen. Maud und Edith fallen schließlich nicht der Skrupellosigkeit des Aufsteigers zum Opfer, sondern der Brutalität einer hasserfüllten und rachsüchtigen Masse. Dass die Erzählung dennoch auf ein neues Subjektmodell Bezug nimmt, zeigt sich, wenn man die Beschreibung von Mac Allans Assistenten, dem deutschen Ingenieur Strom, betrachtet. Nicht zu Unrecht verweist Harro Segeberg auf die „,faschistischen Verwertungsangebote‘“¹⁸⁶ des Romans, die in der Figurenzeichnung Stroms – dessen Name schon Programm ist – deutlich hervortreten:

 Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994. S. 57.  Kellermann, S. 98.  Dass der Kältekult bereits um 1900 virulent gewesen ist und mit der Herausbildung eines neuen Männlichkeitstypus korreliert, zeigt Inge Stephan in ihrer exemplarischen Georg HeymLektüre.Vgl. Inge Stephan: Eisige Helden. Kältekult und Männlichkeit in den Polarphantasien von Georg Heym. In: Brunotte, Ulrike; Herrn, Rainer (Hrsg.): Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in Wissenskulturen um 1900. Bielefeld: transcript, 2008. S. 271– 285.  Kellermann, S. 83.  Segeberg, S. 205.

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Kaltblütig auch auf verlorenem Posten noch ausharrend, verkörpert dieser Strom schon 1913 mit seiner gegen sich selbst und gegen andere gerichteten Kälte und Menschenverachtung eine alsbald in Deutschland rege nachgefragte und von den Freikorps der Weimarer Zeit in die Waffen-SS des Zweiten Weltkrieges weitervermittelte soldatische Führernatur.¹⁸⁷

Der Durchbruch der Moderne, den Kellermanns Roman schildert, steht folglich im Zeichen einer soldatischen Männlichkeitsvorstellung, die in den darauffolgenden Jahren eine einschneidende Wirksamkeit entfaltet. Anstatt jedoch diese Männlichkeitsvorstellung als positive Norm zu setzen, bezieht sie der Roman vornehmlich als Mittel einer Zeitkritik mit ein. Anhand von Strom, den die Erzählung ausdrücklich als „kühlen Menschen“¹⁸⁸ tituliert, veranschaulicht der Roman ein neues Männlichkeitsmodell, das erzählerisch nicht affirmiert wird, sondern im Zeichen suggestiver Wirkansprüche steht: Als „kaum mehr menschenähnlich“¹⁸⁹ erscheint Strom sogar dem Protagonisten, der selbst als eine Art Übermensch dargestellt wird. Ausgehend vom Bild der ,kalten Männlichkeit‘¹⁹⁰ schreibt die Erzählung Bilder einer kampfdurchzogenen Moderne fort. Die genderisierte und ethnifizierte Dynamik von „Elimination und Inkorporation“¹⁹¹, die das Erzählsystem bestimmt, lässt die soldatisch-kühle Männlichkeit als einzig zukunftsfähige Subjektivität erscheinen. Mit der ihr eigentümlichen Radikalität führt die Erzählung vor, wie Figuren, die von dieser Männlichkeitsnorm abweichen, aus der erzählten Welt verwiesen werden. Mit der Steinigung Mauds wird das Ende einer als weiblich markierten Gefühlskultur in Szene gesetzt, mit dem Suizid S. Woolfs die (Selbst‐)Zerstörung eines als jüdisch gekennzeichneten Spekulant*innentums imaginiert. Was sich schon in den antiaristokratischen Aufstiegs- und Untergangserzählungen des Bürgerlichen Realismus abgezeichnet hatte, wird folglich in Kellermanns Roman fortgeführt und kritisch reflektiert. Die im achtzehnten Jahrhundert wurzelnde Idee eines „Synchronisationszwang[s] mit der Zeit“¹⁹² wird mit geschlechterdifferenzierenden und ethnisch codierten Ausschlussmechanismen korreliert. Nach der Erzähllogik des Romans können nur männliche Kraft- und Stahlnaturen den Anforderungen der Zukunft genügen, wohingegen

 Segeberg, S. 204.  Kellermann, S. 389.  Kellermann, S. 389.  Zum Zusammenhang von konstruierter Männlichkeit und Kälte vgl. Monika Szczepaniak: „Helden in Fels und Eis.“ Militärische Männlichkeit und Kälteerfahrung im Ersten Weltkrieg. In: Colloquia Germanica 43 (2010), S. 63 – 77.  Segeberg, S. 196.  Lehmann: ,Die Verhältnisse haben sich nun mal geändert.‘, S. 288. Hervorhebung im Original.

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weibliche und jüdische Figuren keine Überlebenschance besitzen. Diese sozialdarwinistische Logik wird bei Kellermann jedoch weder an emphatische Berufungen auf das ,Recht des Stärkeren‘ gekoppelt noch in sentimentalische Verlustgeschichten eingelagert. Anstatt eindeutig Position zu beziehen, bedient der Roman verschiedene Codierungen, die sich in ihrer Verschränkung gegenseitig unterlaufen. Neben der Melodramatik, die im Erzählstrang um Maud mitschwingt, steht eine dynamische Intensität, die die ausdrucksstarken Beschreibungen des Tunnelbaus bestimmt. Auch der auf Rasanz und Direktheit zielende Stil des Romans lässt darauf schließen, dass es weniger um propagandistische Normsetzungen geht als um eindringliche Beschreibungen wahrgenommener Zeittendenzen. Der interventionistische Zugriff auf die Gegenwart, der die Imaginationsgeschichte des Selfmademans bisher vornehmlich bestimmt hatte, weicht damit einem genuin literarischen Zugriff. Ausgelotet wird nicht das mobilisierende, sondern das literarische Potenzial der Gegenwartskonstitution. Die Erzählinstanz avanciert zu einer emphatischen Chronistin ihrer Zeit, die das Diskursivieren der modernetypischen Dynamik elanvoll auskostet. Der dabei eingenommene Beobachtungsmodus ist vornehmlich ein Modus zweiter Ordnung: Eindringlich beschrieben werden Wahrnehmungen und Perspektiven, die die erzählte ,neue Zeit‘ regieren. Dies zeigt sich unter anderem in der Art und Weise, in der die drastischen Ausschlussmechanismen illustriert werden. Anhand von Mac Allans Agenten – „kalte, erfahrene Burschen mit dem raschen Blick von Sklavenhändlern“¹⁹³ – führt die Erzählung eine Perspektive vor, die männliche Individuen auf ihre jeweiligen Kraftpotenziale reduziert: Sie sahen durch die Kleider hindurch das Knochengerüst ihres Mannes, seine Muskeln und Sehnen. An der Stellung der Schultern, an der Beuge der Arme erkannten sie seine Kraft. […] Was grau war und schwächlich, was die mörderische Arbeit New Yorks schon ausgesogen hatte, das ließen sie liegen.¹⁹⁴

Mit einem Beschreibungselan der zweiten Ordnung, dessen versachlichende Tendenz mit einer markanten Eindringlichkeit interferiert, reflektiert der Roman folglich die Mechanismen einer Moderne, in der sich eine soldatische und leistungsstarke Männlichkeit Bahn bricht.

 Kellermann, S. 72.  Kellermann, S. 72.

4.3 Kollektivaufstieg und Stahlfiktion (Herzog)

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4.3 Kollektivaufstieg und Stahlfiktion (Herzog) Wie sich gezeigt hat, sind in der Imaginationsgeschichte des Selfmademans mit Kellermanns Der Tunnel am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch einmal neue Akzente gesetzt worden. Das ,lange neunzehnte Jahrhundert‘ nimmt kurz darauf sein Ende, doch geht die literarische Diskursgeschichte des Selfmademans weiter. Gerade zur Zeit des Ersten Weltkriegs sind mehrere Romane erschienen, die die bestehenden Erzähllinien in modifizierender Form fortführen. Was Kellermanns Roman mit einem eigentümlichen Beschreibungselan und aus einer Metaperspektive heraus vorgeführt hatte, wird dabei zum Ausgangspunkt offenkundig normativer Darstellungen. Der Selfmademan wird zur Projektionsfläche von Männlichkeitserzählungen, die sich auf einem körper- und willenszentrierten Kraftideal und einem Leistungscredo gründen. Der Konnex zwischen dem Selfmademan und dem Imaginationskomplex ,Amerika‘ wird dabei suspendiert. Patriotisch stilisieren eine Reihe von Erzählungen den Typus des ,Mannes eigner Kraft‘ zum Träger deutscher ,Nationaltugenden‘ und forcieren dabei eine Funktionsdimension, die der Figur zeitgleich auch in der sammelbiographischen Literatur und Ratgeberliteratur zuteil wird: Der zum deutschen Nationaltypus deklarierte Selfmademan wird als männliche Subjektivationsnorm gesetzt. Welche Erzählstrategien damit verbunden sind, soll im Folgenden anhand von Rudolf Herzogs Roman Die Stoltenkamps und ihre Frauen (1917) erkundet werden. Wie Kellermanns Der Tunnel gehört Herzogs Roman zu den Bestsellern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts.¹⁹⁵ Bereits Herzogs zuvor erschienenen Familien- und Industrieromane sind auf breite Resonanz gestoßen und gelten, wie aus einer 1909 erschienenen Rezension hervorgeht, als rundum gesunde Kunst – keine krankhafte, in der sich vor noch gar nicht so langer Zeit der konsequente Naturalismus gefiel; gesunde Kunst, die das Leben lieben lehrt, die Kräfte des Gesamtorganismus unseres Volkes – und konzentriere er sich auch im Mikrokosmos der Familie – wie die Kräfte des Einzelnen in all ihrer Schönheit offenbart; gesunde Kunst, die die Tat oder auch nur den Willen zur Tat in ihre Rechte einsetzt und alle schwächliche, neurasthetische Halbheit zum Tempel hinausjagt.¹⁹⁶

Was der Rezensent im Hinblick auf Herzogs früheres Romanwerk belobigt, lässt sich auch auf Die Stoltenkamps und ihre Frauen beziehen. Im Vordergrund des Romans steht die Aufstiegsgeschichte Fritz Stoltenkamps, die mit der überge Für eine Einordnung des Romans im literarischen Gesamtwerk Rudolf Herzogs vgl. Pascal Jardin: L’œuvre de Rudolf Herzog. Littérature populaire et idéologie allemandes (1900 – 1938). Paris: CNRS histoire, 1997.  O.V.: Rudolf Herzog. In: Ueberall. Zeitschrift des Deutschen Flottenvereins 10 (1909), S. 37 f.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

ordneten Erzählachse ,Familie‘ – die wiederum mit der Erzählachse ,Staat‘ korreliert – enggeführt wird. Diese Kollektivitätsthematik wirft auf den Selfmademan ein neues Licht. Fritz Stoltenkamp korrespondiert dem ideologisch besetzten Ideal eines modernen zoon politikon, der Teil einer ,Gemeinschaft‘ ist und durch seine Leistungen das Wohl der Familie – als pars pro toto des Staates – zu befördern sucht. Der antigenealogische Propositionskern, der das selfmade-Narrativ bisher wesentlich geprägt hat, schlägt damit um. Der Protagonist nimmt zwar, wie es ihm zu Erzählbeginn aufgetragen wird, „sein Leben in die Hand […], um es […] selbst zu gestalten“¹⁹⁷, doch ist er in seinem Arbeits- und Leistungsethos nicht auf das eigene Vorwärtskommen, sondern auf den Aufstieg seiner Familie bedacht. Herzogs Roman steht damit auch gattungstechnisch in einer anderen Tradition als die meisten zuvor erschienenen Romane. Während diese in der Regel das individualzentrierte Strukturmodell des Bildungsromans beibehalten hatten, ist Herzogs Roman ein Familienroman, der Vertreter*innen dreier Generationen in Erscheinung treten lässt. An die Stelle des ,Mannes eigner Kraft‘ tritt der gemeinschaftliche Weg zum Aufstieg qua kollektiver Kraftmobilisierung: „Unsere Familie“, sagte Margarete, „hat sich […] von unten heraufgearbeitet. Großvater Fritz Stoltenkamp war sehr stolz darauf und betonte, daß der Erfolg immer nur von der Tüchtigkeit und Zähigkeit eines Menschen abhängig sei.“¹⁹⁸

Mit dem familialen Erzählkontext, der das selfmade-Sujet bei Herzog bestimmt, sind die Weichen für die oppositionelle Tendenz des Romans gestellt. Wenn nämlich die Stoltenkamps durch ihre familieneigene Gussstahlfabrik einen Aufstieg erzielen, so entfaltet sich ein Handlungsgang, der ein intertextuelles Statement setzt. Wie bereits der zeitgenössischen Leser*innenschaft ins Auge gefallen ist, bewegt sich der Roman in unverhohlener Opposition zu Thomas Manns Buddenbrooks. ¹⁹⁹ Narrationsmuster und Semantiken, die Manns Roman organisieren, werden in den Stoltenkamps ins Gegenteil verkehrt. Aus Untergang wird Aufstieg, aus Scheitern Erfolg, an die Stelle der Effeminisierung tritt die erstarkte Männlichkeit, an die Stelle der Dekadenz die vitale Gesundheit; aus Neurasthenie wird Willenskraft, aus physischer Labilität Stärke. Angesichts dieser Umkehrungen und angesichts des unmittelbaren Kriegskontexts ist es nicht verwunderlich, dass Herzogs Roman von einem Rezensenten als Zeichen eines literarischen Fortschritts gegenüber den Buddenbrooks gedeutet worden ist:²⁰⁰

   

Rudolf Herzog [1917]: Die Stoltenkamps und ihre Frauen. Berlin: Vier Falken Verlag, o. J. Herzog, S. 434. Vgl. hierzu Vijayakumaran: Aufstieg statt Untergang. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption des Romans Niemann, S. 54.

4.3 Kollektivaufstieg und Stahlfiktion (Herzog)

433

Unwillkürlich drängt sich dem Leser ein Vergleich mit Thomas Manns „Buddenbrooks“ auf. Aber scheidet man von dieser Geschichte des Niedergangs und der Vermorschung eines einst stolzen Geschlechts nur mit wehmütig niederdrückenden Gefühlen, so jubelt und klingt hier in diesem Epos des glanzvollen Aufstiegs alles von ursprünglicher Kraft und bodenständiger Tüchtigkeit, von Treue, Kampf und Sieg. Und solche innerlich ganz gesunde, starke Bücher tun uns jetzt not.²⁰¹

Der Kontrast zu den Buddenbrooks sticht in der Tat hervor und lässt sich als Effekt negativer Spiegelungen deuten. Dem nuancierten Sensorium und der damit verbundenen physischen Labilität – den Verfallsindizien der Buddenbrooks – stehen die naive Gesinnung und körperliche Stärke Fritz Stoltenkamps gegenüber, der „straff an Leib und Seele“²⁰² ist und dem jegliche Wirklichkeitsflucht fremd ist: „Was er vorschlug“, heißt es an einer Stelle, „waren keine Traumgebilde und Hirngespinste, das hatte irdisches Knochengerüst und stand mit beiden Beinen auf der Erde.“²⁰³ Wie Mac Allan ist Fritz Stoltenkamp eine „Kraftnatur“²⁰⁴, die es durch unermüdliche und disziplinierte Arbeit zum Erfolg bringt. Sein Aufstiegserfolg erscheint als Produkt einer als gesund markierten Lebenskraft, die in der produktiven Arbeit kanalisiert wird: „Aus jeder Arbeit, die er vornahm, entsprang eine neue, regte ihn an, sie auf der Stelle zu bewältigen, verscheuchte die Müdigkeit und schenkte ihm Gewissheit.“²⁰⁵ In Abgrenzung zu den Buddenbrooks revitalisiert folglich Herzogs Roman die anthropologisch-ideologische Utopie des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts: Imaginiert wird ein vitales und gesundes männliches Individuum, das Ermüdungserscheinungen überwinden kann, ein optimales Kraftpotenzial entwickelt und dieses zur produktiven Arbeit aktiviert. Der präfigurative Bezug zu nationalsozialistischen Körperidealen ist dabei kaum zu übersehen. Nicht umsonst handelt es sich bei dem Familienunternehmen der Stoltenkamps um eine Stahlfabrik. Eisen- und Stahlsemantiken durchziehen den Roman und weisen auf die nationalsozialistische ,hart-wie-Kruppstahl‘-Formel voraus. Das Männlichkeitsideal, das dabei konstruiert wird, verbindet das Bild des homo oeconomicus mit dem des homo militaris. Die erfolgreichen Unternehmensleiter erscheinen als Leitbilder einer soldatischen Männlichkeit, die das „neue Deutschland“ mitbegründen soll:

 tz: Herzog, Rudolf, Die Stoltenkamps und ihre Frauen. In: Literarisches Zentralblatt für Deutschland. Beiblatt: Die schöne Literatur (1917), S. 331.  Herzog, S. 288.  Herzog, S. 103.  Herzog, S. 410.  Herzog, S. 132.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

Wie Generale und Führer an der Front, so unablässig, verantwortungsvoll und den Erfolg erzwingend, arbeiteten die starken Leiter der Stoltenkampschen Werke und Führer der Betriebe an der Unbesiegbarkeit des Heeres und der Flotte […]. In selbstloser Hingabe, in Zähigkeit und Treue wuchsen sie empor zu den stählernen Männern, deren das neue Deutschland bedurfte.²⁰⁶

Deutlich zeigt sich hier, wie das ökonomiezentrierte Männlichkeitsbild, das sich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts profiliert hat, in einer militärisch semantisierten Männlichkeitserzählung aufgeht und nationalidentitäre Apotheosen auf ein neues, postdekadentes und genuin männliches ,Deutschtum‘ nach sich zieht.²⁰⁷ Bestärkt wird das Ideal stählerner Männlichkeit durch verschlüsselte Bezugnahmen auf dessen paradigmatische Trägerschaft. Zwar seien in dem Roman die Namen geändert worden, doch treten die Figuren „in ihrer Charakteristik so klar hervor, dass man sofort erkennt, die Stoltenkamps sind die Krupps“, heißt es in einer zeitgenössischen Rezension zu Herzogs „Krupp-Roman“²⁰⁸. Hans-Werner Niemann vermerkt Ähnliches: Dem Roman, der den Unternehmer zum „Garanten nationaler Macht und Größe“ stilisiere, habe das Krupp’sche Unternehmen als Vorbild gedient.²⁰⁹ Die Referenzangebote, die der Text durchgängig einstreut, sind von solch plakativer Evidenz, dass einem zeitgenössischen Rezensenten die Klassifizierung als Schlüsselroman fragwürdig erscheint: „Wo der Schlüssel dem Leser förmlich in die Hand gedrückt wird, kann von einem Schlüsselroman kaum mehr die Rede sein.“²¹⁰ Das Ideal der Stahlnatur wirkt sich folglich auf den fiktionalen Status des Romans aus, in dem sich ein beständiges Spiel mit Fiktionalitäts- und Faktualitätssignalen abzeichnet.²¹¹ Während die ausbleibende Namensidentität, Bewusstseinsberichte und Gedankenzitate sowie direkte Redeanteile die Fiktivität  Herzog, S. 458.  Der Protagonist wird dabei zum Sprachrohr einer präfaschistisch anmutenden Denkart, die auf eine Machtzunahme des Deutschen Reiches hofft und den Schlüssel zu dieser Machtzunahme in einer ökonomischen Vorrangstellung sieht: „[…] Deutschland wird groß und mächtig werden, wenn es sich auf die Erstarkung seines Wirtschaftslebens besinnt und dadurch seine Mannbarkeit in allen Knochen spürt.“ Herzog, S. 108.  Richard Woldt: Ein Krupp-Roman. In: Die Neue Zeit. Wochenschrift der Deutschen Sozialdemokratie. Bd. 36, Nr. 17 (1918), S. 405 – 407, hier S. 406.  Vgl. Niemann, S. 51 f., Zitat auf S. 51.  Robert F. Arnold: Rudolf Herzog, Die Stoltenkamps und ihre Frauen. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 10 (1919), S. 542 f., hier S. 543. Hervorhebung im Original.  Für eine fiktionstheoretische Konzeptualisierung des Schlüsselromans vgl. das Kapitel „Schlüsselromanlektüren als Herausforderung der Fiktionstheorie“ in Johannes Franzen: Indiskrete Fiktionen. Theorie und Praxis des Schlüsselromans 1960 – 2015. Göttingen: Wallstein, 2018. S. 29 – 98.

4.3 Kollektivaufstieg und Stahlfiktion (Herzog)

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der erzählten Ereignisse und Figuren hervorheben, provozieren die Anspielungen auf Krupp eine referenzialisierende Lektüre. Letzteres ist vor allem deshalb relevant, weil die Referenzialisierbarkeit die fiktive Figur Fritz Stoltenkamp einmal mehr auf den Typus des Selfmademans abstimmt. Der ,Mythos Krupp‘ nämlich durchwandert um 1900 mehrere Textsorten, die den Unternehmerpionier als Selfmademan par excellence darstellen und dabei das selfmade-Narrativ mit einer suggestiven „Romantik der Härte“²¹² durchsetzen. Neben den Biographien über Krupp, die um die Jahrhundertwende in großer Anzahl erschienen sind, sind es Ratgeberschriften, die den ,Kanonenkönig‘ über pathetische Aufstiegsemphasen zum Helden der Arbeit und Selbsthilfe stilisieren. Ausgangspunkt dabei ist eine immer wieder zitierte Selbstaussage Krupps über die entbehrungsreichen Verhältnisse seiner Jugendzeit und die soziale Not, aus der er sich herauszukämpfen hatte: Ich sollte laut Testament für Rechnung meiner Mutter die Fabrik fortsetzen, ohne Kenntnis, Erfahrung, Kraft, Mittel und Kredit. Von meinem vierzehnten Jahre an hatte ich die Sorge eines Familienvaters, und die Arbeit bei Tage, des Nachts Grübeln, wie die Schwierigkeiten zu überwinden wären. Bei schwerer Arbeit, oft Nächte hindurch, lebte ich oft bloß von Kartoffeln, Kaffee, Butter und Brot, ohne Fleisch, mit dem Ernste eines bedrängten Familienvaters, und 25 Jahre lang habe ich ausgeharrt, bis ich endlich bei allmählich steigender Besserung der Verhältnisse eine leidliche Existenz errang. Meine letzte Erinnerung aus der Vergangenheit ist die so lange dauernde drohende Gefahr des Unterganges und die Überwindung durch Ausdauer, Entbehrung und Arbeit, und das ist es, was ich jedem jungen Manne zur Aufmunterung sagen möchte, der nichts hat, nichts ist, und was werden will.²¹³

Herzogs Roman, der mit seinem aufopferungsbereiten, diszipliniert arbeitenden und ausdauernden Protagonisten ebenjene Selbstaussage Krupps zur Narrationsgrundlage macht, partizipiert damit an einer Beschreibungstradition, die den Industriepionier als „Manne der eisernen Energie“²¹⁴ glorifiziert. Die mobilisierende Tendenz, die dabei anklingt, ist besonders in den Ratgeberschriften kaum

 Senne und Hesse, S. 137.  Teilweise mit leichten Variationen zitiert wird diese Aussage unter anderem in Hermann Frobenius: Alfred Krupp. Ein Lebensbild. Dresden/Leipzig: Verlag von Carl Reißner, 1898. S. 22; Diedrich Baedeker: Alfred Krupp und die Entwickelung der Gußstahlfabrik zu Essen. Essen: Baedeker, 1889. S. 15 f.; Gustav Koepper: Das Gußstahlwerk Fried. Krupp und seine Entstehung. Essen: Günther & Schwan, 1898, S. 20; Wilhelm Berdrow: Buch berühmter Kaufleute. Männer von Tatkraft und Unternehmungsgeist in ihrem Lebensgange geschildert. Berlin: Springer, 1905, S. 252; Schaumburg, S. 152; Hermann Schöler: Helden der Arbeit. Lebensbilder großer Männer des deutschen Wirtschaftslebens. Berlin: Otto Elsner, 1921. S. 129; Zobeltitz: Vierzig Lebensbilder, S. 530.  Frobenius, S. 17.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

zu übersehen. In vielen Fällen wird die Aufstiegs- und Erfolgsgeschichte Krupps in eine Reihe von Beispielserzählungen eingebunden, die den männlichen Leser von der alleinigen Bedeutung der eigenen Leistung überzeugen sollen. Reinhold Gerlings Gymnastik des Willens (1905) beispielsweise stellt Krupp in eine Reihe berühmter Persönlichkeiten – von Newton über Molière bis hin zu Haydn –, die zu prototypischen Selfmademen stilisiert werden. Die seitenlange Liste kann hier nur ausschnittweise zitiert werden: Die meisten Persönlichkeiten sind aus den Hütten der Armut hervorgegangen. […] Alfred Krupp, der berühmte Kanonenkönig, begann seine Laufbahn in dem ärmlichen Arbeiterhause, das sein Vater bewohnt hatte, unter schweren Sorgen und Entbehrungen. Heinrich Schliemann, dereinst ein armer Kontorbeamter, lernte unter Hunger und Entbehrungen fremde Sprachen, füllte die Lücken seiner Bildung aus und begann unter dem Hohngelächter der Gelehrtenwelt seine Ausgrabungen des alten Troja, die seinen Weltruhm begründeten. So geht die Reihe jener Männer der Tat bis auf die Gegenwart.²¹⁵

In Wilhelm Berdrows Ratgeberschrift Seines Glückes Schmied (1907) wird eine ähnliche Auflistung in eine suggestive Fragekette eingebettet: Standen nicht Krupp und Stephenson am Amboß? Drehte nicht Carnegie, der Milliardenkönig, einst die Spulen an der Spinnmaschine? War nicht Faraday ein Buchbindergeselle? Wer hat sie unter die Männer des Erfolgs gehoben, wenn nicht die eigene Kraft?²¹⁶

Dass Herzogs Roman ein ähnlich mobilisierendes Wirkungsziel verfolgt, macht seine schlüsselromantypische Fiktionsgestaltung deutlich. Insofern es – geht man auf das Referenzangebot ein – der zur literarischen Figur hypostasierte Alfred Krupp ist, um den sich die Aufstiegsnarration zentriert, wird der geschilderte Erfolgsweg als einstmals realisiertes und damit umsetzbares Lebensmodell authentifiziert.²¹⁷ Ebenso wie die Referenzialisierbarkeit der Figur verstärkt ihre Fiktivität das normative Wirkungspotenzial. Wenn ein fiktives Geschehen, mit Gottfried Gabriel gesprochen, „den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und auf diese Weise – zu einem exemplarischen Besonderen geworden – einen allgemeinen Sinn aufweist“²¹⁸, so wird mit der Fiktionalisierung der Krupp’schen Geschichte eine „exemplifikationserfassende Rezeptionshaltung“²¹⁹ provoziert,  Gerling, S. 38 – 40.  Berdrow: Seines Glückes Schmied, S. 13.  Das Aufstiegssujet geht hier mit einer ähnlichen Ausblendung zeitspezifischer Verhältnisse einher, wie es in der zeitgenössischen Ratgeberliteratur der Fall ist. Vgl. dazu Helmstetter, S. 79 sowie Kapitel 2.3 in diesem Buch.  Gottfried Gabriel: Erkenntnis. Berlin/Boston: de Gruyter, 2015. S. 131.  In terminologischer Anleihe an Franzen, S. 59.

4.3 Kollektivaufstieg und Stahlfiktion (Herzog)

437

wodurch der Text den Selfmademan Fritz Stoltenkamp einmal mehr als ein zur Nachahmung anempfohlenes Leitbild herausstellt. Die Bezugnahmen auf Krupp rücken Herzogs Roman nicht nur in eine Nähe zu zeitgenössischen Erfolgsratgebern. Es zeichnen sich zugleich Parallelen zur biographischen Literatur ab. Der Erzählstrang um Fritz Stoltenkamp, der nach dem Tod des Vaters die Leitung der verschuldeten Fabrik übernimmt, deren kontinuierliche Expansion durchsetzt, Methoden zur Massenproduktion von Stahl entwickelt, zum alleinigen Teilhaber des Unternehmens wird und Kanonenmodelle und Gussstahlwalzen zur Münzprägung fabriziert, rekonstruiert detailgetreu, was zeitgenössische Krupp-Biographien geschildert haben. Besonders deutlich sind die Parallelen zu einer 1916 erschienenen Biographie von Gustav Koepper. Der Aufstieg Krupps wird als Kausalursache historischer Ereignisse präsentiert, sodass sich die Ebenen der Aufstiegs- und Zeitgeschichte überlagern. Gleich zu Erzählbeginn weist der Biograph selbst auf diese Überschneidung hin: Denn hier haben wir nicht allein das Schicksal eines eigenartigen Menschen vor uns, das durch Tatkraft und Willensstärke aus niedrigen Anfängen zur Höhe empor geführt wird, nein, wie sehen mehr in diesem Leben: die ungeahnte Entwicklung der deutschen Eisenindustrie, den Aufschwung des Verkehrs, die Fortschritte der modernen Waffentechnik und nicht zuletzt die Anfänge und den siegreichen Fortgang eines Zeitalters, das mit Recht als das soziale betrachtet werden kann.²²⁰

Die doppelte Modellierbarkeit des Krupp’schen Lebenslaufs als Geschichte eines individuellen Aufstiegs und Ausdruck zeitprägender Entwicklungen gibt auch dem Erzähldiskurs bei Herzog sein Gepräge. Ein Referieren historischer ,Fakten‘ setzt die Aufstiegsgeschichte in Bezug zur politischen und wirtschaftlichen Geschichte des Deutschen Reiches. Der Familienroman ist also auch ein historischer Roman, der ein referenzialitätsbeanspruchendes Panorama vergangener Epochen und der eigenen Zeit entwirft. Schlaglichtartig lässt die Erzählinstanz politische Wendemarken der deutschen Geschichte Revue passieren: In der Darmstädtischen Kammer verlangte Heinrich von Gagern die Errichtung einer deutschen Zentralgewalt mit Volksrepräsentation. In einer Versammlung zu Heidelberg wurde ein Siebenerausschuss gewählt, der alle früheren und gegenwärtigen Landtagsmitglieder aufforderte, sich am 30. März zu einer Versammlung in Frankfurt am Main einzufinden. […] In Wien stürzte das Volk den verhaßten Metternich, in München erzwang es die Abdankung des Königs Ludwig, in Berlin kämpfte es auf den Barrikaden, bis König Friedrich Wilhelm IV. versprach, sich an die Spitze der deutschen Bewegung zu stellen. In Stadt und Land loderten die Brände auf, am heftigsten in den einst Napoleonischen Ländern Rheinlands und West-

 Gustav Koepper: Alfred Krupp. Ein Lebensbild für das deutsche Volk. Leipzig: Hesse & Becker, 1916. S. 7.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

falens, und in der Paulskirche zu Frankfurt am Main erfolgte am 18. Mai die feierliche Eröffnung der ersten deutschen Nationalversammlung.²²¹

Was zu Beginn wie eine Kontextualisierung der Aufstiegsgeschichte im politischen Geschehen erscheint, mutiert gegen Ende zu einer kriegsglorifizierenden Agitation. Eine suggestive Bildsprache lässt einzelne Länder zu Akteuren eines vorwärtseilenden Kriegsgeschehens werden: England las in der Bibel. In derselben Bibel, aus der es den Völkern Asiens und Afrikas vorzulesen pflegte, bevor es sie mit dem Knüppel niederschlug. […] Es sprach: „Demütigt euch, Deutsche, vor Gott und hebt euch hinweg von den Meeren und Märkten der Welt, auf denen ihr uns zum Ärgernis wurdet.“ Und es ließ seine Schiffsgeschütze laden und sperrte die See. […] Im Südosten marschierte Serbien auf, blinzelte die Sphinx Rumänien nach einer Liebesumarmung des russischen Ungetüms. Im Süden wartete Italien auf seine Stunde, forderte stete Bewachung und zog Korps auf Korps zur Beobachtung auf sich ab. Und im fernen Weltmeer streckte Japan wie ein Polyp seine Fangarme. Deutschland zählte die Gegner nicht mehr, es marschierte.²²²

Eine Engführung von Aufstiegs- und Zeiterzählung ergibt sich nicht nur daraus, dass neben die Aufstiegsgeschichte stilisierte Zeitbilder gestellt werden. Eine offenkundige Metonymisierung führt beide Ebenen strukturell zusammen. Auf suggestive Weise parallelisiert der Roman Aufstieg und Wachstum von Familie und Fabrik mit der Machtausdehnung des Kaiserreichs.²²³ Gegen Ende der Erzählung wird die pars-pro-toto-Relation explizit offengelegt: Vom Kleinsten zum Größten war das Vaterland geschritten, in der zähen und unermüdlichen Arbeit seiner Fürsten und Völker, wie Fritz Stoltenkamp seinen Weg geschritten war und sein Werk.²²⁴

Die retrospektive Analogisierung von Reichs-, Familien- und Fabrikgeschichte schreibt auf deklarativer Ebene aus, was für den Roman charakteristisch ist. Das Erzählsystem konstituiert sich über eine metonymische Legierung von individueller Aufstiegsgeschichte und kollektivbezogenen Erfolgsvisionen, was sich auf

 Herzog, S. 249.  Herzog, S. 452 f.  Vgl. Heinz Hillmann: Der Abstieg einer Kaufmannsfamilie im Fortschrittsjahrhundert und der Aufstieg einer Unternehmerfamilie. Thomas Mann, Buddenbrooks, Verfall einer Familie (1901) und Rudolf Herzog, Die Wiskottens (1905). In: Hillmann, Heinz; Hühn, Peter (Hrsg.): Lebendiger Umgang mit den Toten – der moderne Familienroman in Europa und Übersee. Hamburg University Press, 2012. S. 171– 221, hier S. 210.  Herzog, S. 453.

4.3 Kollektivaufstieg und Stahlfiktion (Herzog)

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mehreren Ebenen niederschlägt: auf Handlungsebene, da das Aufstiegssujet Zeit-, Familien- und Fabrikgeschichte zusammenführt, auf Ebene der Makrostruktur, die zwischen den Konventionen des historischen Romans, Familien- und Zeitromans changiert, sowie auf erzähltechnischer Ebene, wo sich eine ähnliche Dynamik abzeichnet: Auf die unvermittelte Figurenrede, die in der individuellen Aufstiegsgeschichte dominiert, folgen nullfokalisierte Berichte der Erzählinstanz, in denen die kollektiven Aufstiege von Familie und Reich geschildert werden. Während sich der Erzähldiskurs insofern in verschiedene Darstellungseinheiten aufspalten lässt, ergeben sich in der semantischen Grundstruktur des Textes Kohärenzen. Eine leitmotivisch eingestreute Stahlsemantik verbindet die Geschichte des Deutschen Reiches mit dem Aufstieg der Familie Stoltenkamp und der Entwicklung der Fabrik. Der Stahl, der als Bindeglied der Narrationsstränge fungiert, wird dabei sowohl in seiner primären Bedeutungsdimension als auch in seiner ideologisch behafteten Symbolfunktion aufgerufen. Zum einen stellt der Stahl einen Kernbaustein der Handlung dar, der die denotative Bedeutungsdimension von Stahl als Herstellungsprodukt und Materialgrundlage von Kanonen als Erzählfundament dient: Es ist die Stahlfabrikation, die die Familie Stoltenkamp zum Erfolg führt und die Kriegsführung ermöglicht. Zum anderen lässt die Erzählung über das Stahlsymbol den ,Mythos Krupp‘ zum pars pro toto deutscher Stärke, Kraft und Übermacht werden. Vor allem in den kriegsverherrlichenden Verweisen auf das im Krieg realisierte Kollektivprimat wird die primäre Bedeutung des Sinnbilds ,Stahl‘ von dessen symbolischem Gehalt überlagert: Der Einzelne geht „unter in der Allgemeinheit, um sich als ein untrennbar Stück des Stahl gewordenen deutschen Wesens und Willens wiederzufinden“²²⁵. Ein Lobgesang auf das „neue Deutschland, das im Schmelzbau des Schicksals von Schlacken befreit und zu Stahl geworden war“²²⁶, bringt die Aufstiegsgeschichte(n) zum Abschluss und zelebriert mit kriegsprogandistischem Pathos die Unbesiegbarkeit des Deutschen Reiches. Während derartige Passagen die symbolisch-konnotative Funktion von Stahl als Zeichen von Stärke, Unnachgiebigkeit und Macht mobilisieren,²²⁷ stützen sich andere Erzählsequenzen – in denen freilich auch die symbolische Bedeutungsdimension mitschwingt – wiederum auf die denotative Bedeutung von Stahl als herzustellendem Material, das in der Kriegstechnik zum Einsatz kommt:

 Herzog, S. 458.  Herzog, S. 461.  Zur Symbolfunktion des Lexems ,Stahl‘ vgl. Susanna Layh: Stahl. In: Butzer, Günter; Jacob, Joachim (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: Springer, 2012. S. 421 f.

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4 Perspektiven auf die neue Welt

Deutschland besann sich auf das Eisen seiner Erde, auf den Stahl, zu dem seine Tüchtigsten das Eisen gehärtet hatten und geschärft. […] Millionen griffen zum deutschen Stahl und zogen singend hinaus, für das Vaterland zu streiten und zu sterben.²²⁸

Der Stahl nimmt in Herzogs Roman also eine Doppelfunktion ein. Einerseits fungiert er als Leitsymbol, andererseits als Handlungselement. Erzähltaktisch setzt der Roman damit bei ebenjener Relation von Denotativität und Konnotativität an, die für die Symbolbildung charakteristisch ist. Wenn im Symbol immer auch das „Rudiment einer natürlichen Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat“²²⁹ sichtbar wird, so wird dieses semiotische Naturalitätssignum in Herzogs Roman narrativ beglaubigt. Folge ist eine ideologisch motivierte Geschlossenheitsevokation: Was die Stahlisotopie symbolisch indiziert, wird auf Handlungsebene gespiegelt; was sich auf Handlungsebene vollzieht, wird durch die symbolische Bedeutungsebene bekräftigt. In einer tautologisch anmutenden Spiegelung lässt der Roman Handlungs- und Symbolebene verschmelzen und präsentiert seinen Erzähldiskurs als quasi-mythisches Ganzes, in dem Zeichen und Bedeutung eine untrennbare Einheit bilden.

 Herzog, S. 453.  Vgl. die Aussage Saussures: „Le symbole a pour caractère de n’être jamais tout à fait arbitraire; il n’est pas vide, il y a un rudiment de lien naturel entre le signifiant et le signifié. Le symbole de la justice, la balance, ne pourrait pas être remplacé par n’importe quoi, un char, par exemple.“ In: Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale. Édition critique par Rudolf Engler. Wiesbaden: Otto Harrassowitz, 1989. S. 154.

Der Selfmademan: Ausblick und Rückblick

1 Fortführung und Ende einer Erzähltradition Mit der ideologischen Vereinnahmung ist eine der Leittendenzen, die das selfmade-Narrativ zur Zeit des Ersten Weltkriegs prägt, erfasst worden. Der Selfmademan avanciert zum Träger ideologisierter Erzählgefüge, die auf Modellbildung und Mobilisierung zielen. Diese interventionistische Funktion bestimmt die Imaginationsgeschichte des Selfmademans noch über die Zeit des Ersten Weltkriegs hinaus, wenn Erzählliteratur, Ratgeber- und Biographieliteratur den Selfmademan einstimmig als Subjektivationsnorm setzen. „Die nächste Zeit wird die Zeit sein, in der der Mann herrscht, der sich selbst gemacht hat,“¹ postuliert Gustav Großmann in seinem 1927 erschienenen Erfolgsratgeber. In den drei Jahre zuvor erschienenen, von Georg Asmussen herausgegebenen Lebenserinnerungen (1924) des Unternehmers Ernst Voß hatte eine emphatische laudatio auf den Aufstieg ein Plädoyer für eine positive Eugenik eröffnet: Es ist in dieser Zeit viel die Rede vom „Aufstieg der Begabten“. Man möchte mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft die Begabten aus der Masse auswählen und sie dann hegen und züchten. Man hat darin recht: Deutschland braucht überragende Männer!²

Obgleich es in den 1920er Jahren zu Rediskursivierungen des selfmade-Sujets kommt, lässt sich der Erste Weltkrieg als Zäsur in der deutschsprachigen Diskursgeschichte des Selfmademans betrachten. In der Folgezeit kommt es zwar zu Fortschreibungen, doch basieren diese gerade im literarischen Diskurs entweder auf radikalen Zuspitzungen (I), Inversionen (II) oder Revitalisierungen (III) von Elementen und Funktionen, die für das selfmade-Narrativ im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert kennzeichnend gewesen sind. Um diese Beobachtung zu plausibilisieren, werden nachfolgend zentrale literarische Entwicklungslinien des selfmade-Sujets nach dem Ersten Weltkrieg exemplarisch umrissen.

Radikalisierungen Als Beispiel für eine radikale ideologische Instrumentierung des Figurentypus kann der 1929 erschienene Aufstiegsroman Kilian Krafft von Alfred Bohnagen

 Großmann, S. 21.  Ernst Voß: Lebenserinnerungen und Lebensarbeit des Mitbegründers der Schiffswerft von Blohm & Voß. Hg. von Georg Asmussen. Berlin: Flemming & Wiskott, 1924. S. 108. https://doi.org/10.1515/9783110766134-010

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1 Fortführung und Ende einer Erzähltradition

gelten, der die Imaginationsgeschichte des Selfmademans in eine faschistische Bewegung überführt. Handlungsgang und Kernsujet lassen sich schnell zusammenfassen. Entfaltet wird eine prototypische Aufstiegsnarration. Der Verlust des Vaters und die damit verbundene finanzielle Not zwingen den Titelhelden, den schon die keltische Urform seines Vornamens als ,Kämpfer‘ ausweist, in den praktischen Bereich überzutreten und in einer Porzellanfabrik „von ganz unten herauf [zu] beginnen“³. Überzeugt davon, dass jeder „seines eigenen Glückes Schmied“⁴ sei, steigt Kilian Krafft, der auch seinem Nachnamen alle Ehre macht und sich im Besitz einer „unbändige[n] Kraft“⁵ sieht, vom mittellosen Lehrling zur führenden Kraft in der Porzellanindustrie auf. Selbstgefällig kann er am Ende von sich sagen: „Ich bin glücklich, mein Ziel erreicht zu haben, das empfinde ich eben jetzt erst ganz […]. Aus eigener Kraft, es hat mir niemand geholfen dabei!“⁶ Der Erfolgsweg der Figur nimmt jedoch ein abruptes Ende. Der Selfmademan, der durch einen Unfall seine Arbeitskraft einbüßt, lehnt die ärztliche Behandlung ab, setzt sich über eine Schonungsanweisung hinweg und geht freiwillig in den Tod. Unter Berufung auf eine vermeintliche Kollektivgefährdung durch die ,Untüchtigkeit‘ des Einzelnen weist die Figur das Sterben als unentrinnbare Pflicht aus: Alle die sechshundert Arbeiter, die wir jetzt beschäftigen, und die hundert Angestellten und Hilfskräfte sehen zu mir empor, weil ich ihnen in meiner Überzeugung ein Beispiel gebe. Meine erste Handlung in diesem Betriebe war […] Versetzungen vorzunehmen, die Kräfte zu verteilen, Untüchtige zu entfernen und woanders einzusetzen, wo sie das Ganze nicht gefährden konnten. Dasselbe soll in diesem Betriebe meine letzte Handlung sein; ich bin untüchtig geworden, darum werde ich mich selbst entfernen. Meine erste Handlung tat ich voll guter Hoffnung und aus Überzeugung, für diese Überzeugung soll meine letzte Handlung der Beweis sein. Ich werde für diese Überzeugung sterben!⁷

Aus dem Selfmademan wird an dieser Stelle ein selbststilisierter Märtyrer. Die Überzeugung, für die er in den Tod geht, rührt von einer Vorstellung her, in der sich selfmade-Narrativ und Euthanasiegedanke treffen: dem Glauben an die Pflicht zur Kraftmobilisierung. Indem die Figur nach dem Verlust ihres Kräftepotenzials den Tod herbeiführt, vollzieht sie eine Selbstausschaltung, die Adolf

 Alfred Bohnagen: Kilian Krafft. Der Aufstieg eines Mannes unserer Zeit. Leipzig: Koehler & Amelang, 1929. S. 67.  Bohnagen, S. 135.  Bohnagen, S. 215.  Bohnagen, S. 135.  Bohnagen, S. 244.

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Jost schon 1895 als Pflicht des ,Untüchtigen‘ dargestellt hat. In seiner Abhandlung Das Recht auf den Tod schreibt Jost: Derjenige […], der in der Lage ist, in einer unheilbaren schmerzhaften Krankheit sich dem Leben zu entziehen, […] entledigt sich nicht nur seiner Qualen, sondern er befreit auch die menschliche Gesellschaft von einer nutzlosen Last, er erfüllt mit dem Selbstmorde sogar eine Pflicht.⁸

Die Vorstellung von einer Todespflicht des ,unnützen‘ Subjekts wird von Bohnagens Protagonisten geteilt und über ein Kernelement der nationalsozialistischen „Moral“⁹ plausibilisiert. Ausdrücklich stellt der Protagonist den eigenen Tod als Notwendigkeit dar, die aus seiner Rolle als Mitglied und Leiter eines Kollektivs resultiere: „Ich wäre zeitlebens ein halber Führer gewesen, wenn ich an mir hätte herumdoktern wollen. Meine Krankheit wäre mir bald wichtiger gewesen als meine Arbeit und meine Pflicht; sie hätte mich selbstsüchtig gemacht, nur für meine Erhaltung zu leben und die Erhaltung der vielen anderen Leben in Gefahr zu bringen. Der Führer, der das erkennt, der stirbt in seiner Pflicht, wie ich.“¹⁰

Den Ausgangspunkt der euthanastischen Programmbekundung bildet folglich ein Gedanke, der für die nationalsozialistische Ideologie konstitutiv ist: die Unterordnung des Einzelnen unter ein Kollektiv. Dass der Protagonist für dieses Kollektiv den Tod auf sich nimmt, bezeugt ebenjene Haltung, die vier Jahre vor dem Erscheinen des Romans im ersten Band von Mein Kampf zum „wahre[n] Idealismus“¹¹ deklariert worden ist.¹² Auch hier stellt ein Rettungsnarrativ den Märty-

 Adolf Jost: Das Recht auf den Tod. Sociale Studie. Göttingen: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, 1895. S. 37.  Zu den moralischen Plausibilisierungsstrategien nationalsozialistischer Texte vgl. den von Wolfgang Bialas und Lothar Fritze herausgegebenen Band Ideologie und Moral im Nationalsozialismus.  Bohnagen, S. 247 f.  Hitler, Bd. 1, S. 775.  In welchem Ausmaß Bohnagens Erzählung faschistischen Kerngedanken das Wort redet, zeigt sich auch in ihrer führerkultischen Semantik. Dem zum Unternehmer aufgestiegenen Protagonisten wird eine Funktion zugeschrieben, die fünf Jahre nach Erscheinen des Romans durch das nationalsozialistische Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (1934) tatsächlich für Unternehmensleiter eingeführt worden ist. Als Betriebsführer hat Kilian Krafft die absolute Befehlsgewalt inne: „Er war überall der ordnende Leiter, der irrtumlose Ratgeber – der wegsichtende Kopf des Ganzen“ (Bohnagen, S. 215), heißt es an einer Stelle. Das fiktive Unternehmen, in dem der Einzelne durch seine Leistungen und seine Kraftmobilisierung zur Führungskraft aufsteigen kann, lässt sich als pars pro toto einer Gesellschaft lesen, die alle Macht dem Kraftvollen und Leis-

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rertod als notwendig dar, um die ,fortschrittliche‘ Entwicklung der ,Gemeinschaft‘ zu gewährleisten: In der Hingabe des eigenen Lebens für die Existenz der Gemeinschaft liegt die Krönung alles Opfersinnes. Nur dadurch wird verhindert, daß das, was Menschenhände bauten, Menschenhände wieder stürzen oder die Natur für sich vernichtet. Gerade unsere deutsche Sprache aber besitzt ein Wort, das in herrlicher Weise das Handeln nach diesem Sinne bezeichnet: Pflichterfüllung; das heißt, nicht sich selbst genügen, sondern der Allgemeinheit dienen; dies ist Pflicht.¹³

Wenn der leistungsunfähig gewordene Protagonist bei Bohnagen die Ideale der Gemeinschaft, Aufopferung und Pflicht aufgreift, so setzt er – ganz im Sinne der nationalsozialistischen Plausibilisierungsmuster – den Kollektivgedanken mit euthanastischen Ideologemen in Verbindung. Den zuvor erschienenen Aufstiegserzählungen steht der Roman dabei freilich näher, als es zunächst den Anschein hat. Dass nur der leistungsfähige und produktiv für die ,Gemeinschaft‘ arbeitende Mann ein Recht auf Überleben habe, ist ein im späten achtzehnten Jahrhundert wurzelnder Gedanke, der sich schon in den poetischen Sanktionierungen realistischer Romane abgezeichnet hat – man denke an die Tode Veitel Itzigs und Bernhard Ehrentals in Soll und Haben sowie an den Tod fast aller aristokratischen Figuren in Lewalds Von Geschlecht zu Geschlecht und Spielhagens Hammer und Amboß. Was das selfmade-Narrativ in all diesen Texten zum Ausdruck bringt, ist die Vorstellung, dass allein die produktive Kraftmobilisierung ein Leben in der ,neuen Welt‘ ermögliche. Dieser Gedanke wird in Bohnagens Roman ins Extreme gesteigert. Im Einklang mit der euthanastischen Ideologie macht Kilian Krafft nicht nur die Chance zum Überleben, sondern das Recht auf Leben zum Thema. Dieses Recht gebührt nur demjenigen, der sich als ,Mann eigner Kraft‘ beweist und als solcher dem allgemeinen ,Fortschritt‘ dient, und es geht verloren, wenn dieser ,Mann eigner Kraft‘ die Fähigkeit zur Kräfteaktivierung einbüßt.

tungsfähigen verleiht. Bezeichnenderweise wurde dieses Gesellschaftsbild zwei Jahre zuvor im zweiten Band von Mein Kampf dargelegt und unter dem Schlagwort des „Persönlichkeitsprinzips“ beschrieben. Programmatisch heißt es in der Schrift: „Der völkische Staat hat für die Wohlfahrt seiner Bürger zu sorgen, indem er in allen und jedem die Bedeutung des Wertes der Person anerkennt und so auf allen Gebieten jenes Höchstmaß produktiver Leistungsfähigkeit einleitet, die dem einzelnen auch ein Höchstmaß an Anteil gewährt. […] Die beste Staatsverfassung und Staatsform ist diejenige, die mit natürlichster Sicherheit die besten Köpfe der Volksgemeinschaft zu führender Bedeutung und zu leitendem Einfluß bringt.“ Hitler, Bd. 2, S. 1139. Hervorhebung im Original.  Hitler, Bd. 1, S. 773 ff.

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Inversionen Die eigentümliche Dialektik des selfmade-Narrativs, dessen zugrunde liegendes Weltbild und Subjektmodell Selbstbestimmung und Pflichtvollzug zugleich verlautbaren, wirkt folglich in radikaler Form auch nach dem Ersten Weltkrieg fort. In den späten 1920er und frühen 1930er Jahren steigt jedoch auch die Anzahl der Romane, in denen etablierte Funktionsebenen des selfmade-Sujets ihre Wirksamkeit verlieren. Im Kontext feministischer Bewegungen entstehen populäre neusachliche Romane, in denen das selfmade-Sujet mit den herrschenden Erzählparadigmen der Zeit kurzgeschlossen wird und seine tradierten Propositionskerne einbüßt. Über das selfmade-Narrativ setzen die jeweiligen Texte genderpolitische Statements, wobei sie den Konnex von Männlichkeit, Gestaltbarkeit und Kraftmobilisierung, der die Imaginationsgeschichte des Selfmademans seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts geprägt hat, durchbrechen. Exemplarisch dafür ist Vicki Baums „stilbildende[r] Neue-Frau-Roman“¹⁴ stud. chem. Helene Willfüer (1928), der das selfmade-Narrativ für eine Modellierung moderner Weiblichkeit instrumentiert. Klassische Handlungselemente des Aufstiegsromans werden in Helene Willfüer auf eine weibliche Figur projiziert. Die anfangs mittellose Studentin, die gleich zu Erzählbeginn ihren Vater verliert, avanciert zur Leiterin eines Pharmazie-Unternehmens. Im Laufe dieser Aufstiegsgeschichte werden Willensstärke, Selbsthilfe-Credo und Kälte-Habitus ihrer männlichen Konnotation enthoben. Briefliche Selbstaussagen erwecken den Anschein, als habe die Figur die Selbsthilfe-Appelle zeitgenössischer Ratgeber und Kollektivbiographien verinnerlicht und auf die eigene Lebenssituation projiziert: „Ich muß mir jetzt beweisen, daß die Kraft in mir steckt, mit dem Leben fertig zu werden, allein und unter eigener Verantwortung.“¹⁵ Während sich Helene das männlich konnotierte selfmade-Ideal zu eigen macht, ist das männliche Figurenarsenal des Romans von diesem Subjektivationsziel weit entfernt. Wie Kai Marcel Sicks herausgestellt hat, sind männliche Figuren in der diegetischen Welt nur als „Abwesende oder sich selbst Auslöschende präsent.“¹⁶ Helenes Vater ist schon vor der Handlungszeit verstorben, ihr Geliebter nimmt sich das Leben, auch Ambrosius versucht sich umzubringen; der Buchhändler Kranich stirbt an Tuberkulose, Helenes Kommilitone erkrankt an Syphilis und verschwindet von da an aus der erzählten Welt, der Pharmazeut  Andrea Capovilla: Entwürfe weiblicher Identität in der Moderne. Milena Jesenká,Vicki Baum, Gina Kaus, Alice Rühle-Gerstel. Oldenburg: Igel, 2004. S. 79. Hervorhebung im Original.  Vicki Baum: stud. chem. Helene Willfüer. Berlin: Ullstein, 1928. S. 209.  Kai Marcel Sicks: Stadionromanzen. Der Sportroman der Weimarer Republik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2008. S. 116.

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Köbellin stirbt an Altersschwäche. Die einzige männliche Figur, die gegen Ende der Erzählung unversehrt ist, ist Helenes Sohn Valentin, dem schon die lateinische Wortherkunft seines Vornamens (valere: gesund sein, stark sein) eine gesunde und kräftige Disposition attestiert. In diesem von männlicher Dekadenz geprägten Umfeld agiert Helene als Pionierin eines vitalistisch regenerierten Zeitalters. Das von Helene entdeckte Mittel Vitalin erhöht auf pharmazeutischem Wege das Ausmaß an „Lebenskraft und organischer Aufbaufähigkeit“ und bewirkt eine „Neubelebung erschlaffter Organismen“¹⁷. Der vitalistische Bezugsrahmen, der sich in diesem Zusammenhang abzeichnet, steigert die genderdiskursive Subversionstendenz des Romans: Es ist die Neue Frau, die einer als männlich markierten Dekadenz ein Ende setzen und die Regeneration der Moderne in die Wege leiten soll.¹⁸ Mit dieser Regenerationserzählung und der damit verbundenen Differenzierung von gesund und krank revitalisiert der Roman diskursive Grundfiguren, die den Aufstiegsroman schon um 1900 geprägt haben. In die tradierten Erzähllinien fügt sich der Roman dennoch nur bedingt ein. In ihrer genderpolitischen und neusachlichen Imprägnierung sind die Bezugsfelder, in denen sich das selfmade-Narrativ bei Baum bewegt, von denen früherer Aufstiegsromane grundlegend verschieden. An die Stelle der männlichen Subjektwerdung tritt ein „utopische[s] Frau-Sein in der Moderne“¹⁹, anstelle der Notwendigkeit produktiver Kraftmobilisierung wird die

 Baum, S. 270.  Forciert wird dieser oppositionelle Impetus durch die Symbolsprache des Textes, die sich gleichermaßen dem Kampf gegen angestammte Weiblichkeitserzählungen verschreibt. Dass Helene gegen Ende des Romans inmitten einer paradiesischen Küste Früchte schält, bindet die Figur zunächst in das tradierte biblische Weiblichkeitsnarrativ ein. Dieses wird in einem zweiten Schritt programmatisch subvertiert. In die märchenhafte Schlussszene lagert sich eine Genesis-Motivik ein, die den Sündenfalltopos genderpolitisch umschreibt. Nicht Helene lässt sich durch eine Frucht verführen, sondern Ambrosius: „Ambrosius fand ein Orangenbäumchen, das über und über behängt war mit den goldenen Bällen seiner Früchte. Er konnte der Verführung nicht widerstehen, brach eine der Orangen von den Zweigen, fühlte ihre kühle Haut genußvoll in seiner Handfläche und atmete den bitterzarten Duft der Schale.Weiterschlendernd, entschloß er sich, in die Frucht zu beißen, und empfing den kalten, unreifen und sauren Geschmack als etwas, das zu der Frische dieses Morgens gehörte.“ Baum, S. 290. Die Neuerzählung der Ursünde mit einer männlichen Figur als Protagonistin lässt die gendersubversive Stoßrichtung des Textes kulminieren. Zugleich verleiht sie den beiden Handlungsträger*innen einen urtümlich-generativen Charakterzug. Wie Adam und Eva werden Helene und Ambrosius zu Stammeseltern, von denen die Menschheitsgeschichte ihren Ausgang nimmt. Der konstruierten neuen Weiblichkeit wird so ein allumfassender Modellanspruch unterlegt: Die Neue Frau, wie sie Helene verkörpern soll, bildet die Keimzelle für eine neue Menschheitsgeschichte.  Sicks, S. 120.

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Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Mutterschaft thematisiert sowie die Vereinbarkeit von „Sentiment und Sachlichkeit“²⁰. Vicki Baums Helene Willfüer ist in der Weimarer Republik nicht der einzige Roman, der das selfmade-Sujet in neusachliche Darstellungskontexte überführt und dabei mit etablierten Erzähldeterminanten des Aufstiegsromans bricht. Mehrere Romane der späten 1920er und frühen 1930er Jahre machen die Aufstiegsambitionen weiblicher Figuren zum Thema. Der Fokus liegt dabei jedoch nicht auf der unbezwingbaren Kraft, mit der die Defizite der Gegenwart überwunden und eine verbesserte Zukunft in die Wege geleitet werden sollen, sondern auf den Grenzen, die dem weiblichen Aufstiegs- und Emanzipationsstreben gesetzt werden. Figuren, die nach Aufstieg streben, wie die Protagonistin aus Christa Anita Brücks Roman Schicksale hinter Schreibmaschinen (1930), müssen sexuelle Übergriffe und andere Diskriminierungen erleiden und können den rigiden Machtstrukturen der Erwerbswelt kaum entfliehen. In Brücks Roman wird das selfmade-Sujet zum Ausgangspunkt einer Desillusionierung, die die ausweglos erscheinenden Verhältnisse des Angestelltenbetriebs aufdeckt. Zu Beginn wird die Figur noch von einem Streben nach Aufstieg und Kraftmobilisierung erfüllt: „Ich will vorwärtsstreben, ich will nicht mehr arbeiten, bloß um zu verdienen, ich will Freude in der Arbeit suchen und über das Elend der einfachen Angestellten hinaus mir ein menschenwürdiges Leben zu gestalten versuchen. Alle körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte will ich anspannen bis zum äußersten, um dieses Ziel zu erreichen.“²¹

Vehement widersetzt sich die Figur dem Vorschlag, sich durch eine Eheschließung aus der finanziellen und sozialen Notlage zu befreien, und insistiert auf ihrem Recht auf Aufstieg und ihrer Fähigkeit zur Selbsthilfe: „Jeder Mensch soll das Recht haben, vorwärts zu wollen, und ich danke meinem Schöpfer, daß er mir die Befähigung dazu gab. Wie würde es wohl heute um mich stehen, wenn die höhere Berufung zur Ehe das einzige wäre, an das ich mich hätte klammern können, als ein Tag mir beide Eltern nahm und zehn weitere im Tempo der Inflation den Rest unseres Vermögens?“²²

Angesichts des geschilderten Auf-sich-selbst-Gestelltseins und der prekären Lage befindet sich die Figur in derselben Ausgangslage wie die fiktiven Selfmademen

 Vgl. Kerstin Barndt: Sentiment und Sachlichkeit: Der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik. Köln: Böhlau, 2003.  Christa Anita Brück: Schicksale hinter Schreibmaschinen. Berlin: Sieben-Stäbe-Verlag, 1930. S. 24 f.  Brück, S. 37.

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des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, doch bleibt ihr deren Erfolgsweg verschlossen. Im Zeichen schwindender Arbeitsplätze, zunehmender Konkurrenz und steigender wirtschaftlicher Not vor allem im Bereich der Angestellten gerinnt die Aufstiegsambition immer mehr zur Abstiegsangst. Hatte die Figur zunächst einen Posten abgelehnt, der ihr aufgrund geschlechtsbedingter Ausschlussmechanismen „keinerlei Aufstiegsmöglichkeiten bietet“²³, so ist sie in der Folgezeit immer mehr der drohenden Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Ausbeutungen und Diskriminierungen durch männliche Vorgesetzte, die sie in sämtlichen Betrieben und Positionen ertragen muss, rauben ihr schließlich den einstigen Willen zum Aufstieg: „Der wahre Wille zum Aufstieg ist ja längst in mir zerbrochen. Ich fühle es wohl.“²⁴ Ein Gegenbild zu Brücks Anti-Aufstiegsroman liefert Irmgard Keuns Roman Gilgi ‒ eine von uns (1931).²⁵ Auch Keuns Erzählung lässt sich in die Reihe der Romane stellen, die im Zeichen neusachlicher Erzählparadigmen – allen voran die Neue Frau und Angestelltenkultur – den selfmade-Topos fortschreiben. Dieses Fortschreiben ist auch bei Keun primär desillusionistischer Natur, doch hängt die Desillusionierung nicht mit der Machtlosigkeit der weiblichen Protagonistin gegenüber ihrem männlichen Vorgesetzten zusammen, sondern mit allmählichen Veränderungen ihrer Einstellung zum Leben und zu sich selbst. Zu Beginn steht die Figurenzeichnung noch ganz im Narrationskontext des Selfmademans – vor allem dann, wenn Gilgis Aufstiegsambitionen präsentiert werden: „Ich will arbeiten, will weiter, will selbständig und unabhängig sein – ich muß das alles Schritt für Schritt erreichen. Jetzt lern’ ich meine Sprachen – ich spar’ Geld – vielleicht werd’ ich in ein paar Jahren eine eigene Wohnung haben, und vielleicht bring ich’s mal zu einem eigenen Geschäft.“²⁶

Auch das Ideal der Mobilisierung eigener Kraft, das für den Selfmademan zentral ist, wird der Protagonistin in den Mund gelegt:

 Brück, S. 32.  Brück, S. 255.  Kerstin Stüssel hat auf die intertextuellen Bezugslinien hingewiesen, die Keuns Erzählung mit Brücks Roman verbinden und Stüssel zufolge einen „komplexen Zusammenhang von Literatur, Bürowelt und Umstellungen der Geschlechtercharakteristika“ zur Geltung bringen. Vgl. Kerstin Stüssel: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart. Tübingen: Niemeyer, 2004. S. 222– 224, Zitat auf S. 224.  Irmgard Keun: Gilgi – eine von uns. Köln: Universitas Deutsche Verlags-AG, 1931. S. 65.

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„Es macht mir Freude, was zu schaffen. Wenn mir heut’ einer eine Million schenkte, ich – würd’ sie nehmen, hätt’ aber gar nicht so furchtbar viel Spaß dran. Es macht mir Freude, aus eigener Kraft weiterzukommen.“²⁷

Das selfmade-Narrativ wird in Keuns Roman nicht nur im Zeichen genderpolitischer Subversionstendenzen fortgeführt und transformiert, sondern auf eine reflexive Ebene erhoben.²⁸ Wie die Neue Frau, die der Roman als mediales Produkt entlarvt,²⁹ wird der Typus des Selfmademans als Erzählkonstrukt markiert. Gilgis Aussage „es ist doch schön, sein Leben wie eine sauber gelöste Rechenaufgabe vor sich zu haben“³⁰ erinnert an die Aussage Sabine Schröters in Freytags Soll und Haben, „O es ist traurig, das Leben in ein solches Rechenexempel aufzulösen“³¹, – ein Satz, auf den schon Kretzers Meister Timpe angespielt hat. Der Protagonistin wird also ein Satz aus dem modellbildenden Kaufmannsroman des neunzehnten Jahrhunderts in den Mund gelegt, wobei die Aussage ins Gegenteil verkehrt wird. Inversionen dieser Art sind für die Erzählanlage des Romans charakteristisch. Fast alle intertextuellen Verweisungen dienen als Ausgangspunkte einer programmatischen Neukontextualisierung. Eine solche Neukontextualisierung erfährt auch das selfmade-Narrativ. Propositionskerne des selfmade-Ideals, wie sie sich in Freytags Roman abzeichnen, werden in Keuns Roman in ganz anderen Zusammenhängen eingeblendet und allmählich ad absurdum geführt. Was Keuns Roman schildert, ist ein sukzessives Brüchigwerden bürgerlicher und neusachlicher Rationalitätsnormen und, damit verbunden, eine konfliktbehaftete Suche nach einem weiblichen Standort. Nicht zuletzt führt der (anti‐)genealogische Subtext des Romans dazu, dass ein zentraler Propositionskern des selfmadeNarrativs an Wirksamkeit verliert. Im Gegensatz zu früheren – männlichen – Selfmademen, die der Gedanke vereint, dass nicht die Herkunft, sondern die Leistung den Lauf des Lebens bestimme, wird sich Gilgi immer mehr der Determination durch die Vergangenheit gewahr. Ihre Suche nach der Mutter suspendiert nicht nur das paternale Erzählparadigma, das den Aufstiegsroman prägt, sondern führt die Protagonistin zu der Erkenntnis, dass gegenwärtige und zu-

 Keun, S. 65.  Maren Lickhardt hat auf den „bewusst epigonale[n] Habitus“ hingewiesen, der den Roman prägt und kritisch-spielerische Illusionsbrüche zur Folge hat. Immer wieder lenken intertextuelle Versatzstücke, Zitate und Anspielungen das Augenmerk auf die Medialität und Konventionalität des Dargestellten. Vgl. Maren Lickhardt: Irmgard Keuns Romane der Weimarer Republik als moderne Diskursromane. Heidelberg: Winter, 2009. S. 56 – 80, Zitat auf S. 56.  Vgl. Lickhardt, S. 54– 60 sowie S. 83 – 97.  Keun, S. 66.  Freytag: Soll und Haben, S. 269.

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künftige Verhältnisse weniger dem Verdienst geschuldet sind als dem sozialen Milieu: Nur nicht die Nase so hoch tragen, nur nicht immer denken, es wäre so ganz und gar eignes Verdienst, wenn man was Besseres ist. Wenn die Krons sie nun nicht adoptiert hätten, wenn sie von der Täschler aufgezogen worden wäre, hinten in der Thieboldsgasse, wenn sie – man lieber gar nicht dran denken—³²

Der Entwicklungsprozess, den Gilgi durchläuft, besteht folglich auch in einer Abkehr vom anfänglichen meritokratischen Standpunkt: „Die Tatsache, daß die Menschen mit höchst ungleichen Chancen ins Leben starten, wackelt erst ein bisschen – dann steht sie fest.“³³

Revitalisierungen Wie der kursorische Blick auf Helene Willfüer und Gilgi ‒ eine von uns zeigt, entfaltet der Topos vom Aufstieg aus eigener Kraft noch in den späten 1920er und frühen 30er Jahren, wenn die Debatten um die Neue Frau literarisch produktiv werden, seine Wirksamkeit.Von einem Fortwirken des selfmade-Sujets, wie es sich Mitte des neunzehnten Jahrhunderts etabliert, kann jedoch allenfalls bedingt die Rede sein. Der Neue-Frau-Roman bindet das selfmade-Sujet in völlig andere Kontexte ein, als es in Aufstiegsromanen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts der Fall gewesen ist. Die Imaginationsgeschichte des Selfmademans als Kristallisationsfläche von Männlichkeitsidealen, Kraftappellen und Gestaltbarkeitsvorstellungen ist damit dennoch nicht an ihrem Ende angelangt. Während der Neue-Frau-Roman mit Erzählkonstanten des Aufstiegsromans bricht, setzen Texte, die nach dem Ende der Weimarer Republik erschienen sind, zum Teil wieder bei etablierten Funktionsdimensionen des Selfmademans an. Ein Beispiel dafür ist der 1941 erschienene Roman Zwanzig Jahre Arbeit von Georg Oedemann, der die Aufstiegskarriere eines Unternehmers schildert. Wie die Vorrede ankündigt, referiert die vermeintlich fiktive Figur Richard Merkel auf den realhistorischen Unternehmer Richard Hartmann, der schon paratextuell als Selfmademan markiert wird: Was diesen Mann auszeichnete, seine handwerkliche Sicherheit, die Klarheit des Denkens, rastlose Schaffenslust und der unbeugsame Wille, allen Widerständen zum Trotz das ferne

 Keun, S. 53.  Keun, S. 78.

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Ziel zu erreichen – diese hervorragenden Eigenschaften gereichen auch dem Richard Merkel meines Buches zur Ehre. Auch er fängt als einfacher Schlosser im Elsaß an, wandert in jungen Jahren quer durch Deutschland hinüber ins Erzgebirgische, arbeitet sich dort zum Gesellen empor, zum Meister, zum selbständigen Unternehmer, bis er endlich seinen Jugendtraum, Deutschland Lokomotiven zu bauen, verwirklichen kann.³⁴

Fast der gesamte Erzähldiskurs liest sich wie eine nostalgische Reminiszenz an die ökonomische Welt des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Nicht nur die Fokussierung auf eine Unternehmerpersönlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts eröffnet eine historische Verweisungslinie. Mit unverhohlener Epigonalität schließt der Roman an Elemente an, die den Aufstiegsroman des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts geprägt haben. Zu Beginn steht der Aufbruch vom Land in die Stadt, der die Initialzündung des Aufstiegs bildet. Im Laufe des Aufstiegsprozesses muss sich der Protagonist immer wieder gegen ,Fortschrittsverweigerer‘ durchsetzen und als ,schöpferischer Zerstörer‘ einen Kampf gegen eine reaktionäre Opposition führen, aus dem er schließlich als triumphaler Sieger hervorgeht.³⁵ Fortschritt siegt über die Tradition, Zukunft über die Vergangenheit, die Stadt über das Land, die Kraft über die Herkunft. An die Stelle semantischer Neubesetzungen und transformierender Aktualisierungen tritt damit das topische Arsenal diskursiver Grundfiguren, was für die Imaginationsgeschichte des Selfmademans aufschlussreich ist: Wie Oedemanns Roman zeigt, werden schematisierte Propositionsgehalte, die sich im neunzehnten Jahrhundert herausgebildet haben, noch in Aufstiegsromanen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs mobilisiert, doch büßt das selfmade-Narrativ seine literarische Implikationskraft ein. Was Zwanzig Jahre Arbeit zutage treten lässt, ist das Festhalten an einer Leiterzählung, die in nurmehr epigonaler Form entfaltet wird. Hatte der Selfmademan im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert auf mehreren Ebenen Traditionsbrüche und Transformationen ausgelöst – man denke an die Opposition gegen den Bildungsroman in Soll und Haben oder an die inklusionsemphatischen Moderneerzählungen Lewalds und von Hillerns – so kommt es nun zu trivialen Reproduktionen etablierter Schemata. Dies gilt nicht nur für den Aufstiegsroman, sondern auch für das Genre der Sammelbiographie. Noch 1946 hat Wilhelm Fronemann einen Band unter dem Titel Aus eigener Kraft. Lebensbilder führender Männer herausgegeben, der um die sozialen Aufstiege von

 Georg Arthur Oedemann: Zwanzig Jahre Arbeit. Ein Handwerksbursch wird Lokomotivbauer. München: Braun & Schneider, 1941. S. 5 [Vorwort].  Vgl. zum radikalen Fortschrittscredo des Romans Sebastian Graeb-Könneker: Autochthone Modernität. Eine Untersuchung der vom Nationalsozialismus geförderten Literatur. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1996. S. 277– 280.

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Ernst Abbe, Albert Ballin, Benjamin Franklin und Robert Mayer kreist und sich – wie schon aus dem Titel hervorgeht – in die im neunzehnten Jahrhundert mit Spamer einsetzende sammelbiographische Traditionslinie einreiht.³⁶ Die epigonale Stoßrichtung, die die Imaginationsgeschichte des Selfmademans schließlich einschlägt, verdeutlicht seine suggestive Wirkungskraft. Als Symbolfigur moderner Männlichkeit, als Träger eines Kraftideals und Reflexionsfigur der zukunftsoffenen Gegenwart bündelt und vernetzt der Selfmademan Leiterzählungen der Moderne, die gerade durch ihre permanenten Rediskursivierungen ihre suggestive Kraft entfalten. Worauf das selfmade-Narrativ abzielt, ist keine Beschreibung konkreter Lebensumstände und einzelner Persönlichkeiten, sondern eine universale Deutung von Wirklichkeit. Zu deren Beglaubigung bedarf es weniger einer Neuakzentuierung als einer Wiederholung. Gerade seine zunehmende Epigonalisierung macht deutlich, dass sich der Selfmademan im Zuge seiner Populärwerdung um 1900 als topisches und kulturell archiviertes Erzähl- und Imaginationsprodukt instituiert hat.

 Wilhelm Fronemann; Karl Friedrich Schmid (Hrsg.): Aus eigener Kraft. Lebensbilder führender Männer. Ernst Abbe/Albert Ballin/Benjamin Franklin/Robert Mayer. Frankfurt a. M.: Siegel-Verlag Otto Müller, 1946. Zu Erzählinhalt und -stil der Sammelbiographie vgl. von Zimmermann, S. 176.

2 Ökonomie, Verklärung, Gegenwart: Resümee Was sind es nun für Funktionen und Erzählgehalte, die den Figurentypus kennzeichnen? Im ersten Teil der Arbeit wurde versucht, Erzählkonstanten und kontextuelle Bezugslinien herauszustellen, die das selfmade-Narrativ seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt haben und die Subgattung des Aufstiegsromans prägen. Wie sich gezeigt hat, lassen sich drei zusammenhängende Erzähldeterminanten differenzieren. Erstens gehen mit dem Selfmademan subjektivationszentrierte Normsetzungen einher, die von einem (prä‐)darwinistischen Modernebild und einer Kraftvorstellung herrühren. Aufstiegsfiguren, wie sie die deutsche Literatur seit der Jahrhundertmitte konstruiert, stehen weniger für Autonomie und Handlungsmacht als für die Notwendigkeit, die eigene Kraft zu mobilisieren, um so dem Untergang entgegenzuwirken. Zweitens signalisiert die Diskursivierung des Selfmademans eine spezifische Reflexion von Zeitlichkeit. Der Selfmademan macht die temporalen Kategorien der Zäsur und Diskontinuität verhandelbar, die in den jeweiligen Texten auf unterschiedliche Weise bewertet werden, und steht paradigmatisch für die Offenheit und Planbarkeit der Zukunft. In diese Kategorien spielt schließlich eine unverhohlene Genderdiskursivität hinein: Über den Selfmademan werden Bilder und Erzählungen von Männlichkeit lanciert. Diese genderdiskursive Konstruktionsebene macht die Figur zu einem Teil des Krisennarrativs, das Männlichkeit um 1900 mitkonstituiert und auf die Kategorien von Prekarität und Überwindung, Degeneration und Rekonvaleszenz, Pathologie und Normalität abstimmt.¹ Wie die diachrone Perspektive des zweiten Teils gezeigt hat, durchläuft der Figurentypus von der Jahrhundertmitte bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs kontextbedingte Transformationen, die sowohl seine konnotativen Bedeutungen als auch seine Darstellungsformen und Codierungen betreffen. Wie die Imaginationsgeschichte des Selfmademans ist die Verfahrensgeschichte der Figur von heterogenen Tendenzen geprägt, die als Anhaltspunkte verschiedener Phasen gelten können. Die erste Stufe ist die Auskonturierung des Figurentypus im bürgerlichrealistischen Erzählkontext. Anhand von Gotthelfs Uli, der Knecht und Kellers Der grüne Heinrich ist der wirtschaftsanthropologische Bezugsrahmen ersichtlich geworden, in dem der Typus des Selfmademans seit der Jahrhundertmitte steht. Im Einklang mit der deutschsprachigen Franklin-Rezeption verhandeln die Romane Modelle einer wirtschaftsbürgerlichen Subjektivation. Während Gotthelfs

 Vgl. dazu Gregor Schuhen: Crisis? What Crisis? Männlichkeiten um 1900. Eine Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Der verfasste Mann. Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900. Bielefeld: transcript, 2014. S. 7– 20, hier S. 9. https://doi.org/10.1515/9783110766134-011

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Roman diese ökonomische Lebensführung vor dem Hintergrund eines religiösen Wertsystems legitimiert und den Aufstieg mit dem Schema der conversio zusammenführt, zeigt sich bei Keller eine kritische und desillusionistische Haltung zum Typus des Selfmademans, dessen permanente Kraftmobilisierung als todbringendes Verhängnis erscheint. Parallel zu dieser Kritik an bürgerlichen Subjektivationsnormen stehen eine reflexive Moderneerzählung sowie eine poetologische Erzählebene, die den Roman einmal mehr mit den deutschen FranklinBiographien in Verbindung setzen. Die vermeintliche Naivität der ,alten Welt‘, als deren Vertreter der Selfmademan fungiert, wird als Erzählprodukt entlarvt, die Zugehörigkeit zu einer klassischen Ästhetik von einem ex post entlarvten Romantizismus überdeckt. Diese metapoetische Reflexionsebene, die sich in Kellers Roman abzeichnet, wird ein Jahr später in Soll und Haben ausgebaut. Wie Freytags Roman gezeigt hat, fungiert der Aufsteiger um die Jahrhundertmitte nicht nur als Repräsentant bürgerlicher, an Franklin anschließender Subjektivationsnormen, sondern als Träger eines Verklärungsprogramms. Die Aufstiegsnarration, die eine gelingende Sozialisation verlautbart und das Bild der prosaisch gewordenen Lebenswelt negiert, erweist sich als Gegenpol und Komplement zum realismustypischen Entsagungsmotiv und setzt wie dieses ein ebenso poetologisches wie modernediagnostisches Statement: In der ökonomischen Moderne, in der sich Fleiß und Arbeit auszahlen, bilden Poesie und Prosa eine Einheit. Der Konnex von selfmade-Sujet und Verklärungsprogramm bestimmt die literarische Diskursgeschichte des Selfmademans auch in der Folgezeit, wird dabei jedoch unterschiedlich ausgestaltet. In Auerbachs Barfüßele lassen märchenhafte Überformungen und Differenzmarkierungen zwischen Ideal und Wirklichkeit eine desillusionistische Perspektive erkennen, während Pankraz, der Schmoller den bürgerlichen Subjektivationsprozess und die daran gekoppelte poetologische conversio offenkundig als Verlustgeschehen auserzählt: Die Hinwendung zu bürgerlichen Normen fällt wie bei Freytag mit einer Abkehr von einer romantischen Imagination zusammen, die bei Keller jedoch nicht entschädigt wird und in keiner harmonischen Synthese einmündet. Solgers Anton in Amerika wiederum führt in parodistischer Manier die Idee poetischer Verklärung gänzlich ad absurdum und hält der Verklärungsästhetik einen desillusionierten Realismus entgegen. Dessen Protagonist kann logischerweise kein Aufsteiger sein, sondern eine Figur, die sich den wirtschaftsbürgerlichen Subjektivationsnormen entzieht. Obgleich die Erzählungen unterschiedliche poetologische Codierungen des Selfmademans zutage treten lassen, gibt es eine grundlegende Konstante: Immer wieder werden intertextuelle Verweisungslinien zu Freytags Soll und Haben hergestellt. Die Imaginations- und Verfahrensgeschichte des Selfmademans im Realismus liest sich damit auch als heterogen verlaufende Rezeptionsgeschichte von Soll und Haben. Dies gilt auch für Romane, die in der Folgezeit erschienen sind. In

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Anlehnung an Freytags subjektivations- und temporalitätszentriertes Statement markieren Spielhagens Hammer und Amboß und Lewalds Von Geschlecht zu Geschlecht die Mobilisierung der eigenen Kraft, die der aristokratischen Vergangenheitsberufung entgegengestellt wird, als überlebensnotwendigen Akt zeitlicher Synchronisation: Nur, wer das eigene Kräftepotenzial ausschöpft und sich somit über die Gegenwart anstelle der Vergangenheit definiert, bleibt am Leben. Die ,neue Welt‘, deren Anbruch die realistischen Aufstiegserzählungen schildern, wird damit über ein neues Zeitbewusstsein charakterisiert: Das Signum der entworfenen Welten besteht darin, dass sie kein Verharren in genealogisch-familialen Linien und Vergangenheiten zulassen, sondern ihre männlichen Bewohner an die Jetztzeit und Zukunft verweisen. Darwinistische Modernebilder, subjektivationszentrierte Männlichkeits- und Kraftappelle und temporale Differenzmarkierungen, die von einem sattelzeitlichen Gegenwartsbegriff herrühren, fallen so zusammen. Der Selfmademan steht für eine männlich konnotierte Mobilisierung der eigenen Kraft, die den Ausdruck einer Gegenwarts- und Zukunftsorientierung bildet und als Signum einer neuen, bürgerlichen Welt markiert wird. Gerade die realistischen Aufstiegserzählungen lassen damit den engen Nexus aufscheinen, der zwischen einem bürgerlichen Selbstverständnis und energetischen Kraftbegriff sowie zwischen darwinistischen Moderneerzählungen, Männlichkeitsvorstellungen und Zeitbildern besteht. Genderdiskursive, temporale und zeitdiagnostische Verweisungsebenen korrelieren und machen den Selfmademan zu einer Schlüsselfigur der Moderne. Dass sich dieses Imaginationsprodukt ,Moderne‘ von Ausschlussmechanismen herleitet, ist gerade in Hammer und Amboß und Von Geschlecht zu Geschlecht kaum zu übersehen. Die Bereitschaft, die eigene Kraft zu mobilisieren und von der Legitimationsfunktion der Herkunft abzulassen, wird ausschließlich männlichen und bürgerlichen Figuren zugeschrieben, wohingegen aristokratische Figuren den Tod erleiden. An die selbstreferenzielle Berufung auf die eigene Kraft, die für den Selfmademan charakteristisch ist, koppeln sich folglich nicht nur temporale Dichotomien, sondern auch sozial differenzierende Polarisierungen. Durchbrochen werden diese semantisch-diskursiven Engführungen in den 1870er und 80er Jahren, wenn realistische Inklusionserzählungen bestehende Ausschlussmechanismen unterlaufen. In von Hillerns Roman Aus eigener Kraft ist es eine aristokratische und als behindert markierte Figur, die den Normen der Kräfteaktivierung und Vergangenheitsemanzipation gerecht wird. Auch Lewalds Die Familie Darner setzt das selfmade-Narrativ für eine Demontage herkömmlicher Selbstabgrenzungen ein: Anstatt dem Aufstieg eines bürgerlichen homo oeconomicus den Untergang eines Aristokraten oder das Ende eines jüdischen Spekulanten entgegenzustellen, visioniert die Erzählung eine harmonische Verbindung von Aristokratie, Bürger*innentum und Jüd*innentum.

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Bis in die 1880er Jahre erweist sich die Imaginationsgeschichte des Selfmademans folglich als Kristallisationsfläche bürgerlicher Ideologeme, die sowohl die temporalen als auch die genderdiskursiven Bedeutungspotenziale der Figur bestimmen. Vom Selfmademan zu sprechen, bedeutet im deutschsprachigen Realismus, Modelle bürgerlicher Lebensführung zu verhandeln, zeitliche Konformität zu inszenieren und Verhaltensregeln für ein Überleben in der ökonomischen Moderne zu entwerfen. Hinzu kommt die poetologische Ebene, die vor allem in den 1850er und 60er Jahren dominiert: Reflektiert und problematisiert wird ein realistisches Verklärungsdogma, das die Romane und Erzählungen in Kontrast zu einer romantischen Wirklichkeitsflucht setzen. Mit dem Durchbruch naturalistischer Programme wird sowohl der bürgerlichideologischen als auch der poetologischen Reflexionsebene ein vorläufiges Ende gesetzt. Obgleich der Naturalismus in seiner deterministischen Grundausrichtung den selbstbezüglichen Propositionsgehalt des Selfmademans negiert, schreibt er die literarische Diskursgeschichte des Figurentypus fort. Mit den männlichen Protagonisten aus Meister Timpe, Eine Siegernatur und Der Mann ohne Gewissen treten Figuren in Erscheinung, deren Aufstiege metonymisch für den Aufstieg einer neuen Welt stehen und in naturalismustypischen Spiegelungen münden. Das Aufstiegssujet wird zum übergeordneten Metacode, der Handlungsgang und Raumsemantik zusammenführt und auf die topischen Dichotomien von neu und alt, gegenwärtig und vergangen, lebendig und tot abstimmt. Die Moderneerzählungen, die dabei transportiert werden, sind nicht nur von denen des Bürgerlichen Realismus in fundamentalen Hinsichten verschieden, sondern unterscheiden sich auch untereinander. So ist bei Kretzer das Muster der Verlusterzählung leitend: Mit dem Durchbruch der ,neuen Welt‘, der sich durch die Aufstiege Friedrich Urbans und Franz Timpes vollzieht, wird die ,heile Welt‘ der Vergangenheit zerstört. Konnotative Besetzungen, die die realistische Aufstiegserzählung dominiert hatten, kehren sich bei Kretzer um. Die Privilegierung der Zukunft anstelle der Vergangenheit erscheint nicht mehr als bürgerliches Identitätsmerkmal, sondern als Zeichen einer hybriden Selbstermächtigung, in deren Folge das moderne männliche Subjekt paternale Kontinuitätslinien zerbricht und sich am familialen oikos skrupellos verschuldet. Eine andere Perspektive auf den Selfmademan und die von ihm verkörperte Moderne wirft Grottewitz’ Roman, in dem der Aufsteiger zum Protagonisten einer triumphalen Gewinnerzählung avanciert. Die Tendenz zur narrativen Ausschließung, die das realistische selfmade-Narrativ bestimmt hatte, wird dabei beibehalten, ebenso der darwinistische Beschreibungskontext, doch verschieben sich dessen semantische Besetzungen: Anstelle der Opposition von Aristokratie und Bürger*innentum rücken die Dichotomien von Kraft und Schwäche und Gesundheit und Krankheit in den Vordergrund. Das Bild des willensstarken Auf-

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steigers, der unablässig seine Kräfte aktiviert, mobilisiert in seinem thermodynamischen und darwinistischen Verweisungshorizont die topischen Utopien und Ängste der naturalistischen Moderne: Zelebriert wird der Triumph der Kraft über die Dekadenz, der Gesundheit über die Krankheit, der Männlichkeit über die Effemination, der Willensstärke über die Neurasthenie, des Stärkeren über den Schwächeren. Wiederum verschoben wird der Blickwinkel in Kretzers spätnaturalistischem Roman Der Mann ohne Gewissen, der sich nicht nur als Kampfansage gegen eine größenwahnsinnige und amoralische Moderne liest, sondern als normative Metareflexion über naturalistische Erzählprämissen: Dem darwinistischen Metacode, der das naturalistische Erzählprogramm determiniert, wird ein moralischer Deutungsrahmen entgegengestellt. Indem naturalistische Romane den Aufstiegsweg ökonomisch denkender und nach Macht strebender Figuren zum Thema machen, verschärfen sie die gattungsgeschichtliche Umbruchstendenz, die sich seit der Jahrhundertmitte abgezeichnet hatte. An die Stelle des Bildungsromans tritt der Aufstiegsroman, der strukturelle Eigenschaften des klassischen Romangenres aufweist. Der temporale Erzählkern wird ebenso wie die genderdiskursive Konstruktionsebene in modifizierter Form fortgeführt, doch schlägt der Aufstiegsroman eine völlig andere semantisch-diskursive Richtung als der konventionelle Bildungsroman ein. Anstatt Vorstellungen von Individualität und Ganzheitlichkeit zu literarisieren (und zu problematisieren), kreist der Aufstiegsroman um ein ökonomisch fundiertes telos, durch das er Stellung zum Typus des Unternehmers bezieht und im Einklang mit nationalökonomischen Unternehmertheorien, Erfolgsratgebern und Sammelbiographien am „Diskurs über den wirtschaftenden Menschen“² partizipiert. Diese wirtschaftsanthropologische Bezugsebene macht den Aufstiegsroman um die Jahrhundertwende, der Blütezeit des Selfmademans, zu einer Verdichtungsfläche modernediagnostischer Beschreibungsschemata. Der Selfmademan, wie er bei Karlweis, Heinrich Mann und Saudek in Erscheinung tritt, steht paradigmatisch für die ökonomische Modernisierung. Nicht umsonst vollzieht sich sein Aufstieg an den Schauplätzen der ökonomischen Moderne, der Börse und dem Warenhaus, und nicht umsonst fließen offenkundige Fremdcodierungen in die Aufstiegsnarrationen ein. Was der Selfmademan um 1900 verkörpert, sind die ethnifizierten Angstphantasmen einer Zeit, die durch tiefgreifende Umbruchsprozesse ihre sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Fundamente bedroht sieht. Wiederum verdichten sich im selfmade-Sujet diskursübergreifend zirkulierende Deutungsmuster der Moderne, von antisemitischen bis hin zu antiamerikanischen

 Bauer: Ökonomische Menschen, S. 23.

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Beschreibungsschemata, und wiederum bildet der Zeitindex des Selfmademans den Ausgangspunkt für seine konnotativen Besetzungen. Als Figur, die für einen Legitimationsverlust der Herkunft und Vergangenheit zugunsten einer zukunftsoffenen Gegenwart steht, verkörpert der Selfmademan, was stereotypbeladene Moderne-Imaginationen thematisch machen und teils auf Amerika, teils auf das Jüd*innentum projizieren. In diese Traditionslinie lässt sich noch Kellermanns Der Tunnel einreihen, in dem die Aufstiegsnarration ganz im Zeichen suggestiver Amerika-Imaginationen und antisemitischer Stereotype steht, die der Roman jedoch aus einer Metaperspektive heraus reflexiv macht. Während die ethnifizierenden Codierungen des Selfmademans teils in grotesken Übersteigerungen (Im Schlaraffenland, Der Tunnel), teils in Dämonisierungen (Dämon Berlin) münden, zielen lebensreformerisch geprägte Aufstiegsromane darauf ab, die angstumwitterte Moderne zu rehabilitieren. Frenssens Roman Klaus Hinrich Baas stellt dem Bild der Herkunftslosigkeit ein Eingebundensein in ein genealogisches Kontinuum entgegen, während Johannes Schlafs monistischer Roman Aufstieg den Selfmademan als Repräsentant einer regenerierten Moderne inszeniert. In den Erzählfokus des selfmade-Narrativs tritt das ,gesunde‘ neue Menschentum, das die Dekadenzsymptome des Fin de Siècle überwunden hat. Dass sich infolge dieser Umbesetzungen auch der ethnische Code des selfmade-Narrativs wandelt, zeigt sich spätestens in Romanen, die zur Zeit des Ersten Weltkriegs erschienen sind, wie Herzogs Die Stoltenkamps und ihre Frauen. Aus der Symbolfigur des ,Amerikanismus‘ und Jüd*innentums wird ein Träger deutscher ,Nationaltugenden‘, der mit dem Industriepionier Alfred Krupp gleichgesetzt wird und dessen Aufstieg im kriegspropagandistischen Sinne die Siegesfähigkeit des Deutschen Reiches illustrieren soll. Von seiner modellbildenden Ausgestaltung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zu seiner ideologischen Vereinnahmung zur Zeit des Ersten Weltkriegs hat der Selfmademan folglich signifikante Funktions- und Konnotationswandel durchlaufen. Poetologische Verweisungsebenen wurden in ideologische gewandelt, deutsch-bürgerliche Selbstabgrenzungen von antisemitischen und antiamerikanischen Projektionen überlagert und schließlich durch deutschnationale Codierungen ersetzt. So gleichförmig die narrativen und makrostrukturellen Gestaltungsprinzipien der jeweiligen Aufstiegsromane auch sein mögen, so heterogen sind folglich ihre propositionalen Gehalte und ethnischen Codierungsrichtungen. Ähnlich radikal sind die verfahrenstechnischen Transformationen. Stand das selfmade-Narrativ um die Jahrhundertmitte im Kontext einer idealrealistischen Verklärungsästhetik, die auf strukturelle Kohärenz, poetische clôture und Erzählteleologie gesetzt hatte, so wird es in naturalistischen Aufstiegsromanen für totalitätsevokative Metacodierungen und immanente Hermeneutiken instrumen-

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tiert. Verfahrenstechnische Modernisierungen im Sinne idiosynkratischer Routines zeichnen sich in Johannes Schlafs monistischer Ästhetik ab, die mit jugendstilhaften und impressionistischen Formimpulsen korreliert, sowie in Kellermanns Der Tunnel, dessen Sprachgestaltung expressionistische Züge trägt. Die horizontbildende Funktion des Selfmademans besteht folglich nicht nur darin, dass er in seinem Potenzialitätscredo und Leistungsdenken Schlüsselprinzipien der Moderne personifiziert, sondern dass zentrale literarische Programmrichtungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts über ihn verlaufen und seine jeweiligen Gestaltungsformen dominieren. Angesichts der Konformität, mit der sich die Figur in literarische Programmatiken der Zeit einfügt, mag sich die Frage aufdrängen, welchen Mehrwert die figurenanalytische Herangehensweise in sich birgt. Was lässt die Figurenanalyse sichtbar werden, das nicht schon im Hinblick auf die literarischen Normen und Erzählprogramme des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts erschlossen worden ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen die Befunde der einzelnen Textanalysen isoliert betrachtet werden. Gerade die verschiedenen textspezifischen Propositionen und Gestaltungsformen des Figurentypus haben gezeigt, dass sich ausgehend vom selfmade-Narrativ Schlüsse über bestimmte literaturhistorische Tendenzen ziehen lassen. Wie zum Beispiel in der Soll-und-Haben-Analyse herausgearbeitet wurde, schlägt sich das verklärungsästhetische Programm des Bürgerlichen Realismus nicht nur im Entsagungsmuster nieder, das die Realismusforschung gemeinhin als Ausdrucksträger einer semiotischen Aporie beschreibt, sondern im Aufstiegsschema, das auf Handlungsebene ein Einlösen poetologischer Normen markiert. Durch die gattungsbildende Funktion des Selfmademans wurde zudem eine Subgattung erschlossen, die sich kontrastiv zu herrschenden Erzählparadigmen und in Opposition zu kanonisch gewordenen Romanen bewegt. Während realistische Aufstiegserzählungen wie Uli, der Knecht und Soll und Haben Alternativmodelle zum anachronisierten Wilhelm Meister entworfen haben, hat mit Herzogs Die Stoltenkamps und ihre Frauen ein Gegenmodell zu den Buddenbrooks Kontur gewonnen. Der Aufstiegsroman erweist sich damit als Subgattung, die nicht nur Aufschlüsse über die Selbstbeschreibungsmuster der Moderne einschließlich ihrer geschlechtlichen und ethnischen Codierungen bietet, sondern die zugleich auf einer Metaebene dominante literarische Tendenzen verhandelt und sich dabei an Schlüsselwerke der deutschen Literaturgeschichte anlehnt. Dass der Aufstiegsroman um 1900 ökonomische Umbrüche, unternehmerische Erfolge, lukrative Kraftentfaltungen und Dimensionen individueller Gestaltungsmacht zum Thema macht, lässt überdies eine neue Spielart der literarischen Moderneverhandlung hervortreten. Mit dem Aufstiegsroman profiliert sich eine Subgattung, die auf die Herausforderungen der ökonomischen Moderne auf eine

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synthetische und ambivalent anmutende Weise reagiert. Zum einen hält er durch seine strukturelle Orientierung am Bildungsroman an einem klassischen Erzählmuster fest, das um 1900 als unzeitgemäß und wirklichkeitsfremd gilt. Zum anderen macht er Erscheinungen thematisch, die um 1900 textsortenübergreifend als modernetypisch beschrieben werden: ein kapitalistisches Unternehmertum, rigorose Daseinskämpfe, soziale Mobilität und ökonomisch-technische Erneuerungen. Angesichts dieser modernediagnostischen Bezugsebenen grenzt sich der Aufstiegsroman von Subgattungen ab, die um 1900 ebenfalls am grand récit ,Moderne‘ mitschreiben. Weder teilt der Aufstiegsroman die kulturkritische Haltung des zeitgenössischen Weltanschauungsromans, der die Moderne im Zeichen von Verlusterfahrungen imaginiert und durch kontemplative Bildungs- und Klärungsfiktionen zu überwinden sucht,³ noch kennt er die industriefeindlichen Ländlichkeitsfiktionen, die der Heimatroman entwirft. Was der Typus des Selfmademans kenntlich werden lässt, ist folglich ein gattungsbezogener Strukturwandel, in dessen Zeichen sich ein neues modernediagnostisches Erzählmodell Bahn bricht. Dieses Erzählmodell greift zeitgenössische Wissensbestände aus Nationalökonomie und Evolutionstheorie auf, korreliert mit zeitgenössischen Sammelbiographien und Erfolgsratgebern, und grenzt sich intertextuell von kanonisierten Erzählmodellen ab. Abgesehen von der Erschließung gattungsgeschichtlicher Transformationen umfasst der Mehrwert einer figurenanalytischen Betrachtung noch eine andere Komponente. Durch die literarische Diskursgeschichte des Selfmademans konnten Verbindungslinien zwischen einzelnen Erzählungen und literaturgeschichtlichen Konstellationen sichtbar gemacht werden. Wie sich gezeigt hat, partizipieren Soll und Haben und Der grüne Heinrich an derselben Erzähltradition wie Uli, der Knecht – einer Erzähltradition, die später durch von Hillerns Aus eigener Kraft und noch um die Jahrhundertwende durch Frenssens Klaus Hinrich Baas fortgeführt wurde und unter deren Einfluss noch der 1929 erschienene Roman Kilian Krafft steht. Es konnte damit eine literarische Traditionslinie erschlossen werden, in der kanonische und nichtkanonische Romane in einen Dialog treten. Dass Soll und Haben und Kilian Krafft auf dasselbe Narrationsmuster zurückgreifen, mag an der vielgestaltigen Anschlussfähigkeit des selfmade-Narrativs als Muster der Sujetfügung liegen, zugleich aber auch an der Affinität ihrer Erzählziele und ideologischen Projekte: Aufruf zur Kraftmobilisierung und Mannwerdung, Darstellung der Leistungsfähigkeit als Überlebensgrundlage, Suggestion von Fortschritt und Gestaltbarkeit der Zukunft. Ebendiese Erzählelemente werden

 Vgl. dazu Anna S. Brasch: Moderne – Regeneration – Erlösung. Der Begriff der ,Kolonie‘ und die weltanschauliche Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen: V&R unipress, 2017.

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wiederum in anderen Texten kritisch reflektiert oder metaperspektivisch dargestellt, wobei nicht selten groteske, satirische und parodistische Erzählformen zum Tragen kommen. Kräfteaktivierung erscheint als Selbstzerstörung (Keller), Aufstieg als Opportunismus (Solger), Fortschritt als Rückschritt (Kretzer), Zukunftsgestaltung als eskapistische Projektion einer Mediengesellschaft (Kellermann). Das selfmade-Narrativ setzt also Texte zueinander in Bezug, die jeweils anderen Normenhorizonten unterstehen und in propositionaler Hinsicht fundamental verschiedene Richtungen einschlagen. Verbindungslinien werden nicht nur innerhalb des literarischen Systems deutlich, sondern auch auf einer interdiskursiven Ebene. Wie sich gezeigt hat, stehen Aufstiegsromane des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts in einem unmittelbaren Zusammenhang mit zeitgenössischen Sammelbiographien, Einzelbiographien und Ratgebern, mit Unternehmertheorien und Evolutionsabhandlungen. Während sich in realistischen Romanen eine Parallele zu deutschsprachigen Franklin-Biographien abzeichnet, zeigen sich in Romanen, die nach der Jahrhundertwende erschienen sind – allen voran Zobeltitz’ Arbeit und Herzogs Die Stoltenkamps und ihre Frauen – Verbindungslinien zu KruppBiographien, wohingegen die Bezugsrichtung naturalistischer Romane vornehmlich zu nationalökonomischen Unternehmerbildern und Evolutionstheorien führt. Die Imaginationsgeschichte des Selfmademans fällt folglich mit der Geschichte einer Subgattung zusammen, deren erzählkonstitutive Propositionen im selben Zeitraum auch in faktualitätsbeanspruchenden Erzählungen vermittelt werden. Die Geschichte des Aufstiegsromans und die parallel laufende Geschichte des Selfmademans lassen damit nicht nur Kontinuitäten innerhalb des literarischen Systems hervortreten, sondern textsortenübergreifende Zusammenhänge, die ein wesentliches Charakteristikum der Subgattung begründen: Der Aufstiegsroman des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts definiert sich über einen Typus, der zeitgleich im biographischen Diskurs popularisiert wird, in Erfolgsratgebern und Evolutionstheorien als Subjektivationstelos gesetzt wird und darüber hinaus die nationalökonomische Unternehmertheorie durchwandert. Noch dichter wird dieses Bezugsgefüge, wenn man neben der interdiskursiven auch die interkulturelle Ebene hinzuzieht. Der Selfmademan hat im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert bekanntlich vor allem in der amerikanischen Literatur Konjunktur, die seinen Status als Medium der Zeitbilanz und subjektivationsbezogenen Normsetzung allererst begründet hat. Ob und inwiefern die amerikanische Imaginationsgeschichte des Selfmademans mit seiner deutschsprachigen Diskursgeschichte korreliert, wäre noch zu prüfen. Dass es zu unterschiedlichen Akzentsetzungen kommt, geht indes unweigerlich aus den einzelnen Befunden dieser Arbeit hervor. Wenn das deutschsprachige selfmadeNarrativ idealrealistische Verklärungsansprüche einlöst und verhandelt, deutsch-

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nationalen, antiamerikanischen und antisemitischen Codierungen untersteht und Vorstellungen von oikos-Gemeinschaften, monistischer Ganzheit und bürgerlicharistokratischen Versöhnungen festschreibt, so bewegt es sich in kultur- und zeitspezifischen Paradigmen. Für die Frage nach möglichen Verbindungslinien zwischen deutschsprachigen und amerikanischen Aufstiegs- und Erfolgsgeschichten wäre ein komparatistischer Zugriff angebracht, der sich auch auf andere Kulturräume ausdehnen ließe. So wäre etwa nach Interferenzen mit französischen Aufstiegsromanen zu fragen, die besonders in den 1920er und 30er Jahren Konjunktur haben. In Betracht käme etwa Philippe Soupaults Roman Le grand homme (1929), der über die Aufstiegsgeschichte eines Louis Renault nachgebildeten Automobilherstellers eine ähnliche Zeitkritik wie deutschsprachige Aufstiegsromane entwirft,⁴ oder Jean Prévosts Roman Le Sel sur la plaie (1934), dessen Vernetzung von Aufstiegsund Rachemotiv an Karlweis’ Reich werden! erinnert.⁵ Eine mögliche Vergleichsfolie bieten auch englische Romantraditionen, für die – dies hat eine eigens diesem Thema gewidmete Studie von Patricia Alden nachgewiesen – das Narrationsmuster des Aufstiegs zentral ist.⁶ Nicht nur die interkulturellen Bezüge des selfmade-Narrativs ließen sich näher beleuchten. Auch innerhalb der deutschsprachigen Imaginationsgeschichte des Selfmademans gibt es Erzähllinien, die durch die Perspektive dieser Arbeit und deren Eingrenzungen unberücksichtigt geblieben sind. So wurde durch die Beschränkung auf die Erzählliteratur die gattungsübergreifende Präsenz des Selfmademans ausgeblendet. Dieser entfaltet jedoch seine Wirkungskraft auch jenseits von Romanen und Erzählungen. Eine Reihe von Dramen schreibt im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert am selfmade-Topos mit. Das Spektrum reicht von Max Halbes naturalistischem Drama Ein Emporkömmling (1889) über Georg Kaisers expressionistisches Schauspiel Die Koralle (1917) bis hin zu Wilhelm Speyers Lustspiel Der Aufstieg (1919).⁷ Selbst in der Lyrik ist der Selfmademan präsent. So hat etwa Erich Weinert, Mitbegründer des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, 1928 ein sozialutopisches Gedicht unter dem Titel Der Selfmademan verfasst, in dem von der sozialen Grenztransgression, die der Selfmademan erzielt, auf ein allgemeines Ende der Standesunterschiede

 Vgl. dazu Gamper: Der große Mann, S. 374– 380.  Vgl. Philippe Soupault [1929]: Le grand homme. Paris: Gallimard, 2009; Jean Prévost [1934]: Le Sel sur la plaie. Cadeilhan: Zulma, 1993.  Vgl. Patricia Alden: Social Mobility in the English Bildungsroman: Gissing, Hardy, Bennett, and Lawrence. UMI Research Press, 1986.  Vgl. Halbe: Ein Emporkömmling; Georg Kaiser: Die Koralle. Berlin: Fischer, 1917; Wilhelm Speyer: Der Aufstieg. München: Musarion Verlag, 1919.

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geschlossen wird.⁸ Angesichts des unverhohlenen Stolzes des lyrischen Ichs, es nach ,oben‘ geschafft zu haben, scheint indes der Glaube an eine Versöhnung der Stände satirisch intendiert zu sein. Was die lyrische Sprechinstanz in ihrer Selbstpräsentation als Selfmademan sichtbar macht, ist die konformistische Haltung des Aufsteigers, der bestehende Hierarchien und Machtverhältnisse nicht durchkreuzt, sondern durch sein Aufstiegsstreben unterstützt. Zwar ließen sich noch weitere Beispiele für die lyrische Verarbeitung des selfmade-Narrativs anführen, doch ist die Populärwerdung des Selfmademans jenseits der in dieser Studie behandelten Romane weniger der Lyrik als einem Prosagenre geschuldet, das sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als ausdifferenziertes System instituiert:⁹ der Kinder- und Jugendliteratur. Gerade die jugendliterarischen Verhandlungen des Selfmademans zeigen, dass dessen Konnotationen und Funktionen nicht nur von Text zu Text, sondern auch von Textsorte zu Textsorte verschieden sind. Während in den Aufstiegsromanen der Jahrhundertwende meist ein desillusionistischer und kritischer Blick auf das rein monetär motivierte Aufsteigertum geworfen wird, schlägt die Kinderund Jugendliteratur eine ähnliche Richtung wie die Ratgeber- und Biographieliteratur ein – eine Richtung, die sich um die Jahrhundertmitte auch in der bürgerlich-realistischen Erzählliteratur angebahnt hatte: Der Selfmademan erscheint als Träger bürgerlicher Subjektivationsnormen und wird als nachahmenswertes Orientierungsmaß gesetzt. Ein Beispiel ist Hans Dominiks 1909 erschienener und 1921 fortgesetzter Roman John Workmann, dessen Protagonist, wie der Untertitel des ersten Bandes ankündigt, „vom Zeitungsjungen zum Millionär“ aufsteigt.¹⁰ Die Handlungsstruktur folgt dem Muster der Erfolgsromane Horatio Algers und reproduziert durch die Situierung des Geschehens in New York das herkömmliche Bild Amerikas als Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem ausdauernde Arbeit, verbunden mit wohltätigem Handeln, am Ende belohnt wird. Auch die Kinder- und Jugendliteratur hat folglich teil an einem interkulturellen Adaptionsund Konstruktionsprozess, der die deutschsprachige Imaginationsgeschichte des Selfmademans um 1900 textsortenübergreifend bestimmt: Ein amerikanisch kon-

 Vgl. Erich Weinert: Der Selfmademan. In: Gesammelte Gedichte. Hg. von der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik. Bd. 4: Gedichte 1930 – 1933. Berlin: Aufbau Verlag, 1973. S. 163 f. Das 1928 entstandene Gedicht wurde zunächst 1931 unter dem Titel Scheidemann spricht veröffentlicht, dann 1940 unter dem Titel Der Selfmademan. Vgl. Weinert, S. 587.  Vgl. Bettina Hurrelmann: Einleitung. Der vorliegende Band im Kontext der Handbuchreihe. In: Brunken, Otto et al. (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur von 1850 bis 1900. Stuttgart: Metzler, 2008. S. 1– 6, hier S. 1.  Vgl. Hans Dominik [1909]: John Workmann. Vom Zeitungsjungen zum Millionär. Leipzig: Koehler & Amelang, 1925.

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notiertes Selbstbeschreibungsschema wird zu einem Mittel projektiver Selbstdarstellungen. Dominiks Roman ist nicht der erste Jugendroman, in dem diese amerikabezogene Beschreibungsebene zum Ausdruck kommt. Schon 1880 hat Friedrich Brunold in seinem Jugendbuch Willy, der Dampfermaschinist die Aufstiegsgeschichte eines anfangs mittellosen Protagonisten in New York verortet.¹¹ Auch in der erfolgreichen Jugendbuchtrilogie von Friedrich Pajeken, die die Romane Bob der Fallensteller (1890), Bob der Städtegründer (1892) und Bob der Millionär (1894) umfasst, untersteht das Aufstiegsschema einer unverkennbar ethnischen Codierung und wird mit kolonialistisch ideologisierten Erzählmotiven vernetzt.¹² Hermann Brandstaedters preisgekrönter Jugendroman Hindurch zum Ziel (1898) dagegen verortet die Aufstiegsgeschichte seines Protagonisten in Deutschland und nimmt damit die typische Adaptionsstrategie deutschsprachiger Aufstiegsromane vor.¹³ Eine differenziertere Perspektive auf das selfmade-Narrativ kann sich nicht nur aus der Hinzuziehung weiterer Textsorten ergeben, sondern auch aus der Beschäftigung mit Gegennarrationen. Es wäre verstärkt nach den Poetiken des Scheiterns zu fragen, mit denen der Aufstiegsroman in einen Dialog tritt, sowie nach satirischen und parodistischen Erscheinungen des Selfmademans, von denen es gerade im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert eine Reihe gibt. In Betracht kommen zum Beispiel Gottfried Kellers Novelle Der Schmied seines Glückes (1873), die sich in die Reihe satirisch-metafiktionaler Darstellungen einfügt, sowie Kellers Novelle Die drei gerechten Kammmacher (1856), die die Idee vom Aufstieg aus eigener Kraft und das Ideal des Selfmademans mit grotesker Drastik ad absurdum führt.¹⁴ Noch der 1918 erschienene Roman Der Kandidat des Lebens von Erdmann Graeser führt die Imaginationsgeschichte des Selfmade-

 Vgl. Friedrich Brunold: Willy, der Dampfermaschinist. Eine Erzählung für die Jugend. Leipzig: R.F. Albrecht, 1880. Vgl. dazu Gisela Wilkending: Lebens- und Entwicklungsgeschichten für die Jugend. In: Brunken, Otto et al. (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur von 1850 bis 1900. Stuttgart: Metzler, 2008. S. 434– 536, hier S. 479.  Vgl. Susanne Pellatz-Graf: Abenteuer- und Reiseromane und -erzählungen für die Jugend. In: Brunken, Otto et al. (Hrsg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur von 1850 – 1900. Stuttgart: Metzler, 2008. S. 616 – 665, hier S. 663 – 665.  Hermann Brandstaedter [1898]: Hindurch zum Ziel. Leipzig: Kempe, o.J.  Vgl. Gottfried Keller [1873]: Der Schmied seines Glückes. In: Villwock, Peter et al. (Hrsg.): Historisch-Kritische Gottfried Keller-Ausgabe. Bd. 5: Die Leute von Seldwyla. Frankfurt a. M.: Stroemfeld; Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2000. S. 63 – 96; vgl. Gottfried Keller [1856]: Die drei gerechten Kammmacher. In: Villwock, Peter et al. (Hrsg.): Historisch-Kritische Gottfried KellerAusgabe. Bd. 4: Die Leute von Seldwyla. Frankfurt a. M.: Stroemfeld; Zürich: Neue Zürcher Zeitung, 2000. S. 13 – 73.

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mans im Modus satirischer Entlarvung fort und nimmt zugleich in parodistischer Form auf den populären Erfolgsratgeber Hugo Schramm-Macdonalds Bezug, in dem der Typus des ,Mannes eigner Kraft‘ als Leitbild gesetzt wird.¹⁵ Derartige Demontagen bestätigen genauso wie die affirmierenden Darstellungen, was den Analysen dieser Arbeit als Ausgangsbeobachtung vorangestellt worden ist: Das kraftzentrierte, männlichkeitsbezogene und temporal codierte selfmade-Narrativ findet von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert hinein diskursiv verstreute Ausgestaltungen und zieht sowohl in synchroner als auch in diachroner Hinsicht facettenreiche Resonanzeffekte nach sich.

 Vgl. Erdmann Graeser: Der Kandidat des Lebens. Roman einer Jugend. Berlin/Wien: Ullstein, 1918.

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Personenregister Abel, Jakob Friedrich 77 Alberti, Conrad 136, 306 – 310, 334, 338 Alberts, Wilhelm 383 Alger, Horatio 40, 465 Arendt, Hannah 215 f. Auerbach, Berthold 7, 42 f., 137, 203, 206, 219 – 230, 261, 366, 456 Baedeker, Diedrich 435 Bahr, Hermann 79 Balzac, Honoré de 358 Baudelaire, Charles 75 Baum, Vicki 447 – 449 Beer, Johann 5 Beidtel, Ignaz 25 Berdrow, Wilhelm 90, 113 f., 435 f. Berg, Leo 51 f., 306 Bettziech-Beta, Heinrich 178 Blanckenburg, Christian Friedrich von 415 Bohnagen, Alfred 47, 443 – 446 Bölsche, Wilhelm 83 Brackel, Ferdinande von 47 Brahm, Otto 79 f. Brandstaedter, Hermann 466 Brandt, Karsten 94 Brück, Christa Anita 449 f. Brunold, Friedrich 466 Brüschweiler, Jakob 184 Bücher, Karl 129, 336 Burckhard, Max 104 f. Carrière, Moritz 330 f. Castéra, Jean-Henri 179 f. Clay, Henry 4 Comte, Auguste 55 Conrad, Michael Georg 330 f. Conradi, Hermann 49, 393 Crane, Stephen 40 Dahn, Felix 7, 137 Dehn, Paul 349 Dilthey, Wilhelm 132 – 134, 138 f., 143 https://doi.org/10.1515/9783110766134-013

142,

Dix, Arthur 385 Dominik, Hans 465 f. Douglass, Frederick 1 Dühring, Eugen 328 Dunger, Hermann 4 f. Emerson, Ralph Waldo Euripides 238 f.

222

Fallada, Hans 66 Feuchtersleben, Ernst von 284 f. Fontane, Theodor 29, 63, 69 – 73, 208, 210 – 213, 348 Franklin, Benjamin 1 f., 6 f., 13 f., 40, 42, 56, 86, 91, 99, 115, 157, 160, 168, 173, 175 – 181, 184, 187 – 189, 192, 201 – 203, 215 f., 224, 246, 356, 359 f., 454 – 456, 463 Frapan, Ilse 73 Freedley, Edwin Troxell 252 Frenssen, Gustav 8, 20, 378 – 392, 427, 460, 462 Freund, Max 42 Freytag, Gustav 7 f., 13, 31, 44 f., 95, 136 f., 139 – 142, 148, 156 f., 162, 174, 190 – 217, 220, 222, 224, 226, 242, 245 – 251, 253 – 259, 262, 264, 266, 279 – 281, 292, 294, 297, 302, 319, 390, 392, 451, 456 f. Friedrich, Karl 145 f. Frobenius, Hermann 435 Fronemann, Wilhelm 453 f. Frost, John 91 f. Garve, Christian 25 Gebhardt, Wilhelm 91, 111 f., 116 Gerling, Reinhold 112, 114, 436 Gleichen-Rußwurm, Alexander von 5 Goethe, Johann Wolfgang 5 – 7, 16, 113, 120 – 122, 124 – 128, 130 – 136, 138 f., 141 f., 145, 149, 153 – 155, 157, 176, 182, 187, 233 f., 272, 274, 391 Goldberger, Ludwig 408 Gotthelf, Jeremias 2, 14, 154 – 176, 190 – 192, 197, 200, 222, 224, 226, 230, 236, 455

502

Personenregister

Graeser, Erdmann 467 Großmann, Gustav 43 f., 443 Grottewitz, Curt 8 f., 50, 52, 105, 311 f., 321 – 334, 341 – 344, 403, 458 Haeckel, Ernst 110, 323 Halbe, Max 310, 322, 464 Hart, Heinrich 52, 76 f., 273, 277, 305 Hart, Julius 52, 76 f., 273, 277 Hartmann, Eduard von 84 f. Hartung, Johann Adam 239 Hase, Friedrich Traugott 5 f. Hawthorne, Nathaniel 40 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 132, 134 f., 138, 143, 159 f., 193, 336, 373, 415 f. Helfferich, Karl 345 f. Helvétius, Claude Adrien 183 Herder, Johann Gottfried 122 f., 179, 225 Herzog, Rudolf 65, 331, 379, 431 – 440, 460 f., 463 Hillern, Wilhelmine von 32, 80 – 84, 93 f., 105, 219, 272, 279 – 296, 414, 453, 457, 462 Hitler, Adolf 109, 445 f. Holbach, Paul Henry Thiry 269, 328 Hopfen, Hans 64 f. Howells, William Dean 40 Ibsen, Henrik 309 f. Ideler, Carl Wilhelm 285 Jefferson, Thomas 45 f. Jost, Adolf 445 Justi, Johann Heinrich Gottlob Juvenal 87 f.

412 f.

Kafka, Franz 409 Kaiser, Georg 464 Kant, Immanuel 39, 171 Kapp, Friedrich 42, 180 Karlweis 344, 347 – 356, 358, 361 f., 381, 384, 459, 464 Kautsky, Minna 65 – 69, 73 Kell, Julius 160 Keller, Gottfried 13 f., 156 f., 174 – 192, 208, 219 f., 222, 230 – 245, 360, 455 f., 463, 466

Kellermann, Bernhard 33, 84, 379, 405, 409 – 431, 460 f., 463 Keun, Irmgard 450 – 452 Kleist, Heinrich von 59, 275, 413 Knies, Karl 266 f. Koepper, Gustav 435, 437 Koselleck, Reinhart 74, 82, 254, 312, 407 Kretzer, Max 65 f., 129, 310 – 322, 334 – 344, 346, 350, 352, 451, 458 f., 463 Krug, Karl 184, 203 Krüger, Hermann Anders 157 f. Krupp, Alfred 91, 93 f., 98 f., 114, 434 – 437, 439, 460, 463 Kuh, Felix 102 f. Lamprecht, Karl 101, 382 Langbehn, Julius 385 Le Bon, Gustave 367 Lenz, Jakob Michael Reinhold 43 f., 183 Lesage, Alain-René 5 Lewald, Fanny 8, 19 f., 27, 65, 95, 136, 219 f., 253, 255 – 268, 279, 281, 296 – 304, 446, 453, 457 Lewin, Ludwig 147 List, Friedrich 95, 197 Löw, Hans 94 Lublinski, Samuel 49 Lukács, Georg 416 Mann, Heinrich 66, 311, 344, 356 – 361, 365, 384, 459 Mann, Thomas 55 – 58, 61, 117 f., 432 f. Marggraff, Hermann 7 f., 139 Marivaux, Pierre Carlet de 5 Marx, Karl 46 Maupassant, Guy de 358 May, Karl 42 McCabe, James 92 Morgenstern, Karl 415 Möser, Justus 96 f. Mundt, Theodor 16 Nietzsche, Friedrich 323, 328 f. Nordau, Max 48 f., 378 Novalis 156, 146

Personenregister

Oedemann, Georg 53 f., 452 f. Ompteda, Georg von 87 f. Paasche, Hermann 349 Pajeken, Friedrich 466 Petrarca, Francesco 87 Pinner, Felix 107 Pintus, Kurt 416 Ploetz, Alfred 108 f. Pohle, Ludwig 129 f. Polenz, Wilhelm von 363 f., 373 f., 406 f., 418 – 420 Prévost, Jean 464 Riehl, Wilhelm Heinrich 217, 281 f. Roscher, Max 411 Roscher, Wilhelm 267 Rousseau, Jean-Jacques

140 f., 196, 200,

179 – 181

Saudek, Robert 311, 337, 344, 362 – 377, 381, 384, 459 Schad, Johann Baptist 25 Schäffle, Albert 266, 268 Schaumburg, Bruno 93, 435 Schiller, Friedrich 39, 46 f., 77, 186 f., 225, 391 Schlaf, Johannes 26 f., 378 – 380, 393 – 405, 427, 460 f. Schlosser, Friedrich Christoph 202 Schmaltz, Carl G. 192 Schmidt, Friedrich 287 f. Schmidt, Julian 174, 180 f., 193 f., 202, 212 f., 216, 221, 376 Schmoller, Gustav 100, 106, 357 Schöler, Hermann 435 Scholz, Friedrich 285 Schramm-Macdonald, Hugo 39, 113 – 116, 146 f., 467 Schummel, Johann Gottlieb 6 Schumpeter, Joseph 15, 101, 104 f. Seneca 87 Sessa, Karl B. 216 f. Shakespeare, William 244 Siemens, Werner von 91, 93, 99, 114 Simmel, Georg 51, 335 f., 365, 369 f., 398

503

Smiles, Samuel 93 Smith, Adam 45, 267 Solger, Reinhold 136, 219 f., 245 – 253, 456, 463 Sombart, Werner 90, 101, 103 f., 106 f., 129, 320 f., 382 f., 423 Soupault, Philippe 464 Spamer, Otto 92 – 95, 97, 100, 454 Spencer, Herbert 109, 323 Speyer, Wilhelm 464 Spielhagen, Friedrich 2, 95, 219, 253, 268 – 279, 281, 446, 457 Stendhal 28, 322 Stetten, Paul von 96 Stratz, Rudolph 21 f., 26, 52 f., 105 Sudermann, Hermann 310 Taine, Hippolyte 308 Tille, Alexander 8, 45 f., 58, 101 – 103, 108 – 111, 321, 329 Toqueville, Alexis de 252, 417 f. Vischer, Friedrich Theodor 193, 415 f. Voß, Ernst 443

138, 143, 186,

Wagner, Adolph 106 Weber, Max 168 Weinert, Erich 464 f. Werfer, Albert 24 Werner, Elisabeth 42, 50, 84, 105 f., 272, 414 Wickede, Julius von 85 f. Wiedenfeld, Kurt 103, 107 Willkomm, Ernst 297 Wolf, Julius 105 Wolff, Eugen 51, 78 f., 305 f. Wolzogen, Ernst von 417 – 419 Zielesch, Fritz 147 f. Zobeltitz, Hanns von 26 f., 39 f., 42 f., 55 – 65, 91, 97 – 100, 108, 117 f., 133 – 138, 141, 145 – 148, 153, 435, 463 Zola, Émile 309, 341, 347, 358, 366, 369 f. Zolling, Theophil 21, 26, 117 Zoozmann, Richard 113, 270