Schwankende Ansichten: Zur Geschichte einer Ästhetik des Anders-Sehens in der Literatur und Kunst der Moderne 9783839439937

They make you sway: History and esthetics of alternative forms of a (different) view in literature and painting.

159 72 3MB

German Pages 244 Year 2017

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Schwankende Ansichten: Zur Geschichte einer Ästhetik des Anders-Sehens in der Literatur und Kunst der Moderne
 9783839439937

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung: „In solchen Fällen schwankt die Auslegung“
A. Sehen und Anders-Sehen in Wahrnehmungs- und Kunsttheorien
2. „It is thought twice over in absolutely different psychoses“
3. „[D]en Gegenstand aus seiner gewohnten Wahrnehmung in einen Bereich neuer Wahrnehmung zu transportieren“
B. Malerei und Literatur: Das Prinzip des Anders-Sehens in den Künsten
4. „[C]’est encore une convention qu’il a couchée en joue“
5. Die Ästhetik des Anders-Sehens in literarischen Texten der Moderne
6. Zusammenfassung
7. Literaturverzeichnis

Citation preview

Robert Schade Schwankende Ansichten

Band 19

Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Marie-Luise Angerer, Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.

Robert Schade (Dr.), geb. 1982, hat in Allgemeiner und Vergleichender Literatur an der Universität Potsdam promoviert und war Stipendiat am DFG-Graduiertenkolleg »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung«. Nach Auslandsaufenthalten in Tallinn und St. Petersburg arbeitet er als Lehrer für deutsche Sprache und Kultur am CEFET (Centro Federal de Educação Tecnológica), Rio de Janeiro. Seine Forschungsschwerpunkte sind Russischer Formalismus sowie Wahrnehmungs- und Emotionstheorien.

Robert Schade

Schwankende Ansichten Zur Geschichte einer Ästhetik des Anders-Sehens in der Literatur und Kunst der Moderne

Das Buch ist 2015 als Dissertation im Bereich der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaften an der Universität Potsdam entstanden. Besonders danken möchte ich folgenden Personen, die mich in der Zeit der Dissertation begleitet und unterstützt haben: Den Betreuern der Arbeit Prof. Dr. Gertrud Lehnert und Prof. Dr. Georg Witte, allen Mitgliedern des Graduiertenkollegs Sichtbarkeit und Sichtbarmachung, meiner Familie (vor allem Dieter Schade) sowie Oskar Weiß, Rachele Carini und Patrícia Borde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: elsone / Photocase.de Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3993-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3993-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

1. Einleitung: „In solchen Fällen schwankt die Auslegung“: Eine Wahrnehmungsästhetik des Anders-Sehens | 9

A. S EHEN UND ANDERS-SEHEN IN W AHRNEHMUNGS - UND KUNSTTHEORIEN 2. „It is thought twice over in absolutely different psychoses“: Theorien der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert zwischen Reduktion und Synthese | 29

2.1 Die Geburt des subjektiven Sehens | 29 2.1.1 Die Psychologie des Sehens: Die Sehtheorie Johannes Müllers und das „Schwanken“ bei Hermann von Helmholtz | 42 2.2 Das reine Sehen als reduktionistischer ‚Mythos‘ der Kunsttheorie | 53 2.2.1 Das Entstehen der Vorstellung des reinen Sehens bei John Locke und George Berkeley | 53 2.2.2 John Ruskins „innocence of the eye“ | 63 2.2.3 Die Poetik des Impressionismus als Primitivität des Auges: Jules Laforgues „L’impressionisme“ | 68 2.3 „Psychologically, the synthesis precedes analysis“: Wahrnehmungskritik des Visuellen unter den Prämissen des Zeitlichen, der Bewegung und der Erinnerung | 74 2.3.1 „The law is that all things fuse that can fuse“: William James und der Gedankenstrom als Paradigma des Automatismus | 74 2.3.2 Wahrnehmungskritik durch die Philosophie der durée: Henri Bergsons „La perception du changement“ | 81

3. „[D]en Gegenstand aus seiner gewohnten Wahrnehmung in einen Bereich neuer Wahrnehmung zu transportieren“: Das Verfahren der Verfremdung als künstlerische (Seh-)Störung | 93

3.1 Moderne Wahrnehmungstheorien im Zeichen des Stroms, des Reizschutzes und des Schocks | 93 3.1.1 Ökonomietheorien des Geistes und der Wahrnehmung | 98 3.1.2 Automatismus in Psychologie, Ästhetik und industrieller Produktion | 105 3.2 Die Verfremdungstheorie und Anders-Sehen nach Viktor Šklovskij | 118 3.2.1 Reduktion | 133 3.2.2 Das Prinzip der Kontinuität und die Erprobung neuer Semantiken | 139

B. MALEREI UND LITERATUR: DAS P RINZIP DES ANDERS -S EHENS IN DEN KÜNSTEN 4. „[C]’est encore une convention qu’il a couchée en joue“: Schwankende Ansichten in der Malerei Gustave Caillebottes | 145

4.1 „Les raboteurs de parquet“ | 151 4.2 „Le Pont de l’Europe“ | 156 4.3 „Interieur, femme lisant“ | 160 4.4 „Vue prise à travers un balcon“ | 170 5. Die Ästhetik des Anders-Sehens in literarischen Texten der Moderne | 177

5.1 „Ich kann schielen (mir selbst aufs Näschen schauen): und dann kippen die Wände“: Das Sehen mit dem kindlichen Auge in Andrej Belyjs „Kotik Letajew“ (1917/18) | 186 5.2 „‚The world, what you see of it, seems strange to you?‘“. H. G. Wells’ „The Sleeper Awakes“ (1899): Die Verfremdungsperspektive des Zeitreisenden | 205 5.3 Das Kameraauge als Wirklichkeitsfresser: Luigi Pirandellos „Quaderni di Serafino Gubbio Operatore“ (1925) und die Kritik der technischen Wahrnehmung | 217

6. Zusammenfassung | 231 7. Literaturverzeichnis | 233

1. Einleitung: „In solchen Fällen schwankt die Auslegung“ Eine Wahrnehmungsästhetik des Anders-Sehens

Die Formulierung, einen Gegenstand, einen Menschen oder eine Situation ‚mit anderen Augen zu betrachten‘ kann gewiss als ein sprachlicher Gemeinplatz bezeichnet werden. So kann man sich in der Tat in die Gedanken und Wahrnehmungen eines Kindes zu versetzen versuchen, kann die Welt mit den Augen einer Katze betrachten wollen oder sich einfach optischer oder gar halluzinogener Mittel bedienen, um die Welt zu verzerren oder auf den Kopf zu stellen. Gerade in den Künsten erfreut sich eine solche Formulierung einer großen Beliebtheit. Im Folgenden versuche ich, einer solchen Ästhetik in Theorie und Praxis nachzuspüren. Vor einem Sehen mit anderen Augen oder vielmehr dem Anders-Sehen muss dabei zunächst geklärt werden, was unter der Kehrseite eines solchen Anders-Sehens, d.h. dem gewohnten, alltäglichen Sehen verstanden werden soll, von dem ein solcher Modus der Abweichung sich letztendlich absetzt. Das Verb sehen beschreibt sowohl die Bandbreite zwischen Optik und Kognition, bloßer Wahrnehmung und intellektuellem Denken, als auch eine Flexibilität im Prozess des Sehens, die sich in jedem individuellen Sehvorgang unter jeweils veränderten Verhältnissen ausbildet. Das Sehen verbindet dabei in einem hohen Maße Diskurse aus der Erkenntnistheorie1 und auch weiterführende gesellschaftskritische Fragen 1

Den Zusammenhang von Sehen und Wissen betont Schürmann (2008). Sie nennt den Sehsinn einen „Doppelsinn des Gesichtssinns“ und betont damit den synthetisierenden Charakter des Sehens. Auch Köller (2004) beschreibt Perspek-

10 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

miteinander. Sehen wird dabei als ein von historischen und kulturellen Prämissen abhängiger Interpretations- bzw. Deutungsvorgang nach je eigenen Mechanismen und Schemata verstanden, welche das Geflecht des individuell und gesellschaftlich Sichtbaren formieren. Das Sehen und die Verarbeitung der Wahrnehmungseindrücke sind somit nicht nur psychophysiologisch determiniert, sondern schlechthin in einen kulturellen und gesellschaftlichen Prozess eingebettet, der allerdings nie einfach gegeben und ohne weiteres beschreibbar ist2. Es sind Wahrnehmungsmuster allgemein und das Sehen im Besonderen, welche sich jeweils historisch auf unterschiedliche Weise ausformen und so wiederum Einfluss auf künstlerische Sichtweisen haben (und umgekehrt). Daher ist immer wieder neu zu fragen, als was ein konventionalisiertes oder alltägliches Sehen und Wahrnehmen zu welcher Zeit gesetzt ist, in welchem Beziehungsgeflecht von Wahrnehmung, sozialen Bedingungen und Kunstsystem allgemein das Sehen auftaucht und wovon sich ein solches ‚abweichendes‘ Sehen jeweils absetzt. Insbesondere der historische Diskurs des Sehens steht hier an zentraler Stelle3. Es ist schlechthin eine Historizität von Wahrnehmungsautomatismen und deren Aufbrechen durch Formen des Anders-Sehens, die hier auf mehreren Feldern, wie etwa in Philosophie, Psychologie und vor allem den beiden Künsten Literatur und Malerei zu untersuchen ist. So stellen Braesel et al. fest, „dass Wahrnehmungsprozesse nur über eine konsequente Historisierung und die Rekonstruktion ihrer jeweiligen zeitlichen Ausprägungen bzw. Auffassungen von Wahrnehmungen erschlossen werden können“4. Dies gilt im Übrigen nicht nur für das Sehen, sondern für die Wahrnehmung mit allen Sinnen insgesamt. Das Verständnis der Sinneswahrnehmung ‚Sehen‘ ändert sich im geschichtlichen Verlauf stetig, es fallen im-

tive und Perspektivität als grundlegende Erkenntniskategorien menschlichen Denkens. 2

Vgl. Schürmann 2008, 92f.

3

Wie etwa beispielsweise in den in der Arbeit abgehandelten Werken von Crary (1991; 1999) mit dem Fokus auf Diskontinuitäten im Feld des in seiner Homogenität kritisch hinterfragten Untersuchungsgegenstandes ‚Sehen‘, sowie Jay 1993 mit dessen Annahme einer Pluralität von visual cultures bzw. zu einer Zeit gleichzeitig anwesenden scopic regimes in der Moderne.

4

Braesel et. al 2008, 10. Vgl. auch Crary 1999.

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 11

mer wieder Sicherheiten weg, auf denen sich neue Differenzen ergeben. So kommt es zum Beispiel im 19. Jahrhundert aus empirischer Sicht zu einem Wegfall der Sicherheit von Kants transzendentalen Anschauungsmustern. Es müssen nun neue Fokusse, stabilisierende Auffassungen von Erfahrungssehen gebildet werden (siehe Kapitel 2.1). Dies geschieht etwa im Bereich der Psychologie durch den Rückgriff auf den Empirismus in zeitgenössischen Sehtheorien, im wissenschaftlichen Positivismus und der Entwicklung neuer Modelle, wie etwa unter Berücksichtigung von Bewegung und Veränderung (siehe Kapitel 2.3). Das Sehen, um das es im Folgenden gehen soll, ist im Alltag mit sozial und kulturell vermittelten Gewohnheiten und Automatismen verbunden, die einen jeden Sehvorgang vorstrukturieren und bestimmte Angebote der Semantisierung bereit halten bzw. bereits unmittelbar mit jenen verflochten sind. Es beschreibt damit in der Regel hauptsächlich ein Verhältnis aus dem jeweiligen singulären Vorgang des Sehens und dem Vorwissen, den Mechanismen des vermittelnden Wiedererkennens. Dabei ist bereits im Sehen selbst ein Spielraum angelegt, der für eine Vielzahl an Wahrnehmungs- und Bedeutungsverschiebungen vielfältige Möglichkeiten des immer wieder verschiebbaren Kontrastes und des Ausbrechens aus den strukturierenden Automatismen bereithält. So stellt sich zunächst die Frage nach Gewohnheiten, die jeden selektiv verfahrenden Sehvorgang grundieren und in einem zweiten Schritt bei der Einnahme ungewohnter Perspektiven den Hintergrund bilden, auf dem semantische Irritationen, ein Schwanken zwischen mehreren Alternativen oder gar Brüche auftauchen können. Darüber hinaus können nämlich – vermittelt oder unvermittelt – Unsicherheiten, Erschütterungen von Sehgewohnheiten oder gar physiologische Sehstörungen vorkommen, innerhalb welcher die mit dem Sehen verbundene Produktion von Bedeutung in ein Schwanken zwischen mehreren Optionen gerät. Hierbei kommt es erst durch die so markierte Störung des Gewohnten zu einer Sichtbarmachung und Reflexivwerdung der alltäglichen Wahrnehmungsformen. Erst in einem solchen durch die Einnahme neuer Perspektiven bedingten Schwanken bilden sich Alternativen und Relativierungen fester und konventioneller Sinnstiftungen, die somit sichtbar werden. Es soll im Weiteren mit dem Begriff des Anders-Sehens kein sprichwörtlich fester Ort der Bedeutungsbildung bezeichnet werden, sondern vielmehr eine sich immer veränderbare Dynamik, die mit dem Alltagsleben

12 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

verbunden ist, im Bereich der Künste einen besonderen Platz einnimmt und wiederum die Möglichkeit bietet, ins (Alltags-)Leben zurückzuwirken. Der zeitliche Moment im prozessual verstandenen Sehen bekräftigt dazu die Einwirkung von Erinnerung, Imagination und der Erfahrung, die den Wahrnehmungsprozess im Zusammenspiel mit den anderen Sinnen als eine Art Bündelung grundieren. Die hier im Weiteren zu untersuchende ästhetische Wahrnehmungs- und Denkfigur des Schwankens tritt besonders prominent unter dem Vorzeichen der Moderne und deren sozialen sowie technologischen Veränderungen und perzeptuellen Unsicherheiten im Zeitraum einer umfassenden Umwälzung von Denk- und Wahrnehmungsweisen auf. So beabsichtige ich mit der vorliegenden Arbeit keine vollständige Geschichte des Anders-Sehens zu schreiben, sondern eine kursorische, wenngleich aufeinander aufbauende Untersuchung zu einer aisthetischen und ästhetischen Figur, die in verschiedenen Bereichen wie Psychologie, Ästhetik, Philosophie und Kunsttheorie auftritt. Der Schriftsteller Robert Musil beschreibt die einfache Ordnung der Erzählung, die lineare und kausale Struktur des danach und dann als eine perspektivische Verkürzung und einen Versuch des Menschen, das chaotische, in alle Richtungen gleichzeitig ausufernde Leben narrativ in einer Reihe zu ordnen. Hierbei geht er analog zur sprachlich formierten Narration von einer angestrebten Ordnung des Sehens aus, die dabei automatisch Bedeutungshierarchien herstellt: „Denn der Menge nach ist es ja beiweitem nicht die Hauptvoraussetzung des Glücks, Widersprüche zu lösen, sondern sie verschwinden zu machen, wie sich in einer langen Allee die Lücken schließen, und so, wie sich allenthalben die sichtbaren Verhältnisse für das Auge verschieben, daß ein von ihm beherrschtes Bild entsteht, worin das Dringende und Nahe groß erscheint, weiter weg aber selbst das Ungeheuerliche klein, Lücken sich schließen und endlich das Ganze eine ordentliche glatte Rundung erfährt, tun es eben auch die unsichtbaren Verhältnisse und werden von Verstand und Gefühl derart verschoben, daß unbewußt etwas entsteht, worin man 5

sich Herr im Hause fühlt“ ,

so Ulrich, der Protagonist des „Mann[es] ohne Eigenschaften“. Gegenüber einer solchen vertrauten ‚Häuslichkeit‘ der Wahrnehmung beschreibt eine

5

Musil 2004, Bd.1, 649.

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 13

hier im Folgenden zu entwickelnde Ästhetik des Schwankens eine Form des sich bei der Einnahme ungewohnter Blickwinkel ergebenden, zwischen mindestens zwei Möglichkeiten bewegenden Hin und Her zwischen zwei Wahrnehmungsordnungen innerhalb einer textlichen oder bildlichen Formation – d.h. im Bereich der Malerei und der Literatur. Ein solches Schwanken stellt eine Struktur dar, die die Möglichkeit mehrerer denkbarer Ansichten gibt, welche miteinander zusammenhängen und ineinander übergehen, also als dynamisch und verschiebbar gedacht werden müssen. Dabei kommt es zu einer sonst im ‚Flow‘ des Alltagslebens hinderlichen Komplikation, einer Ambiguität und Verlängerung im Wahrnehmungsprozess – Kontraste werden hier eher sichtbar gemacht als verschleiert. Ein solches prekäres Schwanken ist nicht nur vordergründig auf Mechanismen des Auges und somit eine Psychologie und Physiologie der Wahrnehmung zu beschränken, sondern vermag darüber hinaus auf epistemische, gesellschaftliche und soziale Fragen der Glättung von Widersprüchen und deren Sichtbarmachung in der Kunst zurückzuwirken. Im Folgenden möchte ich ein Prinzip der gestörten alltäglichen Wahrnehmung im Werk Hermann von Helmholtz’ in den Stand einer Ästhetik setzen, welches für Helmholtz selbst sowohl ohne künstlerische Wertigkeit befunden wurde als auch komplett gegen dessen Vorstellung der Funktion und Wirkungsweise der Kunst gerichtet ist. Im psychologischen Abschnitt seines Standardwerkes über die Optik, des „Handbuch[s] der physiologischen Optik“ (1867), beschreibt Helmholtz den Anteil der Gewohnheit, des besten und ‚normalsten‘ Standpunktes zur Übersicht in Bezug auf das menschliche Sehen. Im Gegensatz dazu kommt es bei der Einnahme ungewohnter Blickwinkel zu einer daraus entstehenden Ambivalenz der Deutung des Gesichtsbildes: „Wenn wir nun einmal aus Zwang oder Absicht eine andere Art des Betrachtens der Objekte anwenden, sie also entweder nur indirect erblicken mit den Seitentheilen der Netzhaut, oder nicht mit beiden Augen fixiren, oder mit dem Blicke nicht wandern, oder eine ungewöhnliche Kopfhaltung anwenden, so sind wir nicht im Stande, ebenso genaue Anschauungen zu bilden, wie beim normalen Gebrauche der Augen, und wir sind in solchem Falle in der Auslegung des Gesehenen nicht so geübt, wie in dem früheren Falle. Dadurch entsteht ein grösserer Spielraum in der Deutung, während wir doch in der Regel uns diese Unsicherheit in der Auslegung unserer Sinnes-

14 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

wahrnehmungen nicht klar machen. Wenn wir ein Gesichtsobject vor uns sehen, so müssen wir es in irgend eine bestimmte Stelle des Raums versetzen, wir können es nicht so anschauen, dass seine Lage zwischen verschiedenen Stellen des Raums zweifelhaft bliebe. Wenn nun keine Erinnerungen uns zu Hilfe kommen, so pflegen wir die Erscheinung so zu deuten, wie sie gedeutet werden müsste, wenn wir bei der normalen und genausten Art des Beobachtens denselben Eindruck erhalten hätten. So treten also gewisse Täuschungen in der Wahrnehmung ein, wenn wir den Blick den beachteten Gegenständen nicht zuwenden, sondern sie im seitlichen Theile des Gesichtsfeldes haben, oder wenn wir den Kopf sehr schief halten, oder wenn wir das Object nicht mit beiden Augen zugleich fixiren […] Nun ist nicht selten die Aehnlichkeit eines solchen Gesichtseindruckes mit einem der möglichen Eindrücke des normalen Beobachtens nicht so überwiegend und schlagend, dass nicht mehrfache andere Vergleichungen und dem entsprechende Deutungen jenes Eindrucks möglich wären. In solchen Fällen schwankt die Auslegung entweder so, das derselbe Beobachter nach einander bei unveränderten Netzhautbildern verschiedene Anschauungsbilder vor sich sieht, in welchem Falle das Schwanken leicht zu erkennen ist, oder so, dass der eine Beobachter mehr der einen Vergleichung und Deutung zuneigt, ein anderer der anderen.“

6

Wahrnehmung wird, wie ich später im Kapitel über die Wahrnehmungstheorie Helmholtz’ genauer zeigen möchte, in der Sehtheorie des Naturwissenschaftlers vorrangig als Auslegungs- und Deutungsprozess verstanden. Helmholtz erwähnt in diesem Zusammenhang ein Beispiel, in welchem zwischen zwei Möglichkeiten der räumlichen Situierung eines Objekts hin und her gesprungen wird. In der Regel wird dabei im pragmatischen Handlungsrahmen jene aktualisiert, die sich für praktische Zwecke bewährt hat – so der US-amerikanische Pragmatist William James ganz ähnlich nur einige Jahre später in seinen „Principles of Psychology“ (1890): „when to sensorial space-impressions, believed to come from the same object, differ, then THE ONE MOST INTERESTING, practically or aesthetically, IS 7 JUDGED TO BE THE TRUE ONE“ . Dabei liegt aber vielleicht gerade eine größere Genauigkeit in der vorläufigen Ungenauigkeit, dem ungeübten Probieren, dem Ausloten neuer Spielräume, ob nun im Alltagsleben oder der Kunst.

6

Helmholtz 1867, 442f.

7

James 1950, Bd. 2, 181.

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 15

Eine solche Wahrnehmungsfigur des Schwankens ist, wie bereits angedeutet, von Helmholtz aber mitnichten als künstlerischer Mechanismus formuliert – im Gegenteil: Es steht sogar ganz im Gegensatz zu dem in einem anderen Text zu belegenden Kunstverständnis Helmholtz’, das vielmehr auf einem Ideal an Klarheit, Ordnung und Harmonie der künstlerischen Formen beruht (siehe Kapitel 4). Im Folgenden findet vielmehr eine Verschiebung von einem Modus defizitärer Wahrnehmung zu einem Modus einer anderen, künstlerisch motivierten Wahrnehmung statt. Das Anders-Sehen der Kunst verstehe ich, angelehnt an die spätere Verfremdungstheorie des russischen Formalismus als ein Prinzip einer a) erschwerten, nicht-ökonomischen und b) entautomatisierten Form der Wahrnehmung. Die Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung selbst wird erst durch ein solches Schwanken, die Nichtübereinstimmung von aktueller und erwarteter Wahrnehmung gerichtet, in welchem die Möglichkeit einer aufschimmernden Bedeutungsalternative einen Bruch im Wahrnehmungs- und Bedeutungsautomatismus herbeiführt. So ist insbesondere die Generierung neuer Bedeutungen beabsichtigt und bleibt nicht etwa nur ein bloßes ästhetisches und rein formales Ausprobieren von alternativen Wahrnehmungsformen. Kunst und Wahrnehmung sind dabei immer auch als gesellschaftlich und sozial determiniert zu denken. Sie stehen insbesondere in der Moderne im Zeichen der Funktionalität: „Die Organe fassen kein Sinnliches isoliert auf, sondern merken der Farbe, dem Ton, der Bewegung an, ob sie für sich da ist oder für ein anderes; sie ermüden an der falschen Vielfalt und tauchen alles in Grau, enttäuscht durch den trugvollen Anspruch der Qualitäten, überhaupt noch da zu sein, während sie nach den Zwecken der Aneignung sich richten, ja ihnen weithin ihre Existenz einzig verdanken. Die Entzauberung der Anschauungswelt ist die Reaktion des Sensoriums auf ihre objek8

tive Bestimmung als ‚Warenwelt‘.“

Eine Ästhetik des Schwankens versteht sich als Auflösungsbewegung des von Musil beschriebenen Automatismus der ‚perspektivischen Verkürzung‘9, des Zusammenhaltens der Welt in einer automatisierten und linearen Ordnung, die starre und funktionelle Bedeutungshierarchien produziert,

8

Adorno 2012, 260.

9

Vgl. Musil 2004, Bd. 1, 649ff.

16 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

um die Wahrnehmung für praktische Zwecke handhabbar zu machen. Hier ist demgegenüber eine Störung solcher Sicherheiten und Gewohnheiten beabsichtigt, indem der Zweckcharakter der Wahrnehmung aufgehoben ist. Ein solches Sehen kann dann ebenso wieder ins Alltagsleben zurück wirken und beispielsweise für weiterführende intellektuelle Denkprozesse oder die grundlegende Umkehrung von Figur-Grund-Anordnungen sorgen. Es können so mehrere Alternativen dialogisch aufgezeigt werden. Es soll im Folgenden nach einer theoretischen Fundierung einer Ästhetik des Schwankens durch die Bearbeitung wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischer Schriften (Kapitel 2 und 3) ebenjener auch in Bezug auf die Künste, so in der Malerei und in der Literatur, nachgegangen werden (Kapitel 4 und 5). Hier, in der eigentlichen Hochmoderne, finden vielfältige soziale und technologische Umwälzungen statt, die sich auf menschliche Wahrnehmungs- und Denkweisen auswirken. Die Künste werden in der Folge verstärkt als Felder des Experimentierens mit subjektiven, technologisch und gesellschaftlich bedingten Wahrnehmungsformen verstanden. Die Frage nach Automatismen und klar dechiffrierbaren (narrativen) Ordnungen in einem solchen veränderten Feld des Lebens in der Großstadt, von mechanisierten Arbeitsprozessen, des beschleunigten, nicht mehr zu überblickenden Verkehrs und den überall gegenwärtigen Verhaltensnormen der Ökonomie stellt sich so vermehrt als noch einige Jahrzehnte früher. Der moderne Mensch muss aus einem Übermaß an Reizen diejenigen auswählen, die für seine praktischen Bedürfnisse jeweils entscheidend sind. Seine Wahrnehmung funktioniert unter Gesichtspunkten des Alltäglichen hauptsächlich selektiv, ergänzend und unter ökonomischen Gesichtspunkten. Es wird in der Regel nur das wahrgenommen, was im jeweiligen praktischen Kontext relevant ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so der Medienwissenschaftler Jonathan Crary, wird das aktive und bewegliche Prinzip der Wahrnehmung betont, das sich als ein intelligenter und verschiebbarer Prozess der Aufmerksamkeitssteuerung versteht, „a complex aggregate of processes of eye movement that provisionally built up the appearance of a stable image 10. Diese Zustände gehen als Teil der räumlichen und sinnbildenden Akkomodation der Augen (Abbildung I) ineinander über. Dabei hat der Mensch aller”

10 Crary 1999, 290.

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 17

dings die Möglichkeit, durch Aufmerksamkeitsverschiebungen auf die Auswahl des Wahrgenommenen einzuwirken. Ein solches topologisches Modell von umfassendem Blickfeld und dem fokussierten Blickpunkt wurde zu jener Zeit vor allem in der Theorie der Apperzeption nach Wilhelm Wundt11 beschrieben. Dabei werden neben den stabilisierenden Funktionen nun auch abseitige Formen der Wahrnehmung und insbesondere des Sehens interessant: „[A] normative observer in the late nineteenth century began to be conceptualized not only in terms of the isolated objects of attention, but equally in terms of what is not perceived, or only dimly perceived, of the distractions, the fringes and peripheries that are excluded or shut out of a perceptual field […] part of this new disjunct model of vision was linked to the physiological discovery of the nonhomogeneous nature of the eye itself, with its small area of foveal clarity within a much larger field of peripheral indistinctness.“

12

11 Vgl. Wundt 1874, 524ff. Und weiter: „Sagen wir von den in einem gegebenen Moment gegenwärtigen Vorstellungen, sie befänden sich im Blickfeld des Bewusstseins, so kann man denjenigen Theil des letzteren, welchem die Aufmerksamkeit zugekehrt ist, als den inneren Blickpunkt bezeichnen. Den Eintritt einer Vorstellung in in das innere Blickfeld wollen wir die Perception, ihren Eintritt in den Blickpunkt ihre Apperception nennen“ (ebd., 717f). Dabei sind Aufmerksamkeit und Bewusstsein jedoch nicht deckungsgleich. 12 Crary 1999, 40.

18 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Abbildung I: Akkomodation der Augen in Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik

Quelle: http://books.google.de/books?id=Ih85AAAAcAAJ&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts tritt eine Kunsttheorie auf den Plan, die sich entgegen traditioneller Normen der Ästhetik auf die Störung und das Prinzip der Verfremdung, der Entautomatisierung alltäglicher Wahrnehmungsformen durch Kunst beruft. Es konstituiert sich somit die Kunst als ein Feld jenseits, aber in ständiger Verknüpfung mit den Wahrnehmungsmechanismen des Alltags, die hauptsächlich auf einem ökonomischen und krafteinsparenden Prinzip beruhen. Das Prinzip des Experiments gilt nun sowohl in Bezug auf das Sehen, das sich von Kindheit an nach und nach in die Bahnen gewohnter Bedeutungsstiftungen verschiebt als auch in Bezug auf den Bereich der Kunst. Es wird damit der Versuch bezeichnet, neuartige Beziehungen zwischen den Dingen und der Ausdrucksweise zu stiften, eine Dynamik, die aus veränderten Wahrnehmungsbedingungen und damit verbundenen künstlerischen Versuchsanordnungen entsteht. Die Experimentform der Kunst kann daher als Versuch bezeichnet werden, mit dem Wissen um eine solche Verfestigung auf dieser Grundlage Unsicherheiten zu stiften und drohende Verfestigungen des Denkens und Sehens aufzubrechen.

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 19

Um ein solches den Kunstwerken ‚eigenes‘ Verfahren des dynamisch verfahrenden Schwankens und des damit verbundenen Anders-Sehens beschreiben zu können, möchte ich zudem mit der Theorie und das Verfahren der Verfremdung des russischen Formalisten Viktor Šklovskij arbeiten. Dieser für die Bestimmung der Literarizität grundlegende Kunstgriff des Fremdmachens ist zentraler Bestandteil eines Zugangs zur Kunst, welcher diese sowohl als eine autonome Entität begreift als auch auch gesellschaftlich auf den Lebensalltag des Menschen hin öffnet und insbesondere die Wechselwirkungen zwischen beiden betont. Im Jahre 1916, beinahe genau fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung des Handbuchs zur Optik von Hermann von Helmholtz, gründet sich in Sankt Petersburg die ‚Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache‘ (OPOJAZ: russ. Obchestvo izuchenija poeticheskogo jazyka), die sich auf die flexible Untersuchung des konkreten Materials der Literatur beruft und damit die Grundlagen der damals traditionellen Literaturwissenschaft über Bord wirft. Die Untersuchung des ‚Funktionierens‘ der Literatur und ihrer Verfahren steht, ähnlich der Untersuchung der Funktionsweise eines Autos durch einen Mechaniker, der einen Wagen zerlegt, im Vordergrund der Betrachtungen des Formalismus. Die damit zusammenhängenden formalen literarischen ‚Verfahren‘ der Literatur sorgen dabei für eine generelle Umarbeitung des bereits vorhandenen literarischen bzw. außerliterarischen Materials der ‚Wirklichkeit‘ und die Neuverknüpfung und Anordnung dessen im jeweiligen Kunstwerk. Die Voraussetzung für ein solches vor allem handwerkliches Verständnis des Künstlerischen ist zunächst einmal historisch, d.h. mit der Herauslösung der Kunst aus vormaligen funktionellen und herrschaftlichen (Produktions-)Kontexten, bedingt. Die Kunst verfährt in der Avantgarde nicht mehr nach einem einheitlichen und verbindlichen Stilkanon. Diesen Paradigmenwechsel erläutert Peter Bürger in seiner „Theorie der Avantgarde“ (1974): „Eine solche Rekonstruktion der künstlerischen Produktion setzt nicht nur einen relativ hohen Grad der Rationalität in der künstlerischen Produktion voraus, sondern auch, daß die Kunstmittel frei verfügbar, d.h. nicht mehr in ein System stilistischer Normen eingebunden sind, in dem sich, wenngleich vermittelt, gesellschaftliche Normen niederschlagen.“

13 Bürger 1974, 23.

13

20 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Es soll im Folgenden insbesondere mit Texten aus der Frühphase des Formalismus (etwa von 1915-1920) gearbeitet werden, da hier vor allem in den Schriften Viktor Šklovskijs innerhalb der Bestimmungsleistung der Literarizität analog auf Phänomene der Wahrnehmung und des Alltagslebens verwiesen wird. Šklovskij versteht es in der der frühen Phase des Formalismus zuzordnenden Schrift „Die Kunst als Verfahren“ (Isskustvo kak priem, 1916) als Aufgabe von literarischer Sprache und Kunst, die primäre sinnliche Wahrnehmung eines Gegenstandes, die im praktischen Alltagsleben nur eine geringe Rolle spielt, als ästhetische Erfahrung herzustellen. Nötig ist dafür eine Verschiebung der Wahrnehmung eines Gegenstands aus dem Bereich der Funktionalität des Alltagslebens auf die Ebene des Künstlerischen. Der dadurch gewonnene Fokus auf die zweckfreie Wahrnehmung selbst soll in einem weiteren Schritt innerhalb einer durch die künstlerische Verknüpfung hergestellten Kontinuität integriert werden. Damit wären, so Šklovskij, die Dinge dem Menschen im Gegensatz zur diskontinuierlich und additiv verfahrenden Alltagswahrnehmung und dem damit verbundenen instrumentellen Sehen, erst wieder ‚fühlbar‘. Dies sei aber erst durch ein implizites Moment der Störung des alltäglichen Mechanismus des Wiedererkennens möglich, für welches das künstlerische Verfahren der Verfremdung über die Einnahme ungewohnter Perspektiven sorgt. Das Wesen von Literatur und Kunst bestehe somit in jener Verfremdungsleistung: Einen Gegenstand aus seiner gewohnten Wahrnehmung in einen Bereich neuer Wahrnehmung – und damit in eine veränderte semantische Ordnung – zu transportieren und damit, gemäß des Schwankens zwischen mehreren Bedeutungen, vielfältige Alternativen sichtbar zu machen. So kommt es insbesondere in den frühen Essays der Formalisten zu einem Einkreisen des Phänomens der poetischen Sprache bzw. Literaturhaftigkeit (literaturnost’) in Absetzung zum alltäglichen, praktischen Sprachmodell. Dies fasst Šklovskij in Analogie zur Wahrnehmungstheorie mit einem spezifischen Vokabular aus dem Bereich des Visuellen, genauer: mit der wahrnehmungsästhetischen Prämisse, man sehe den Gegenstand wie zum ersten Mal und erkenne ihn nicht (nur) wieder. Entgegen der ökonomischen Bündelung der Geisteskräfte im alltäglichen Leben, in dem man in der Regel lediglich die ‚nützliche‘ Oberfläche der Gegenstände wahrnimmt, formuliert Šklovskij als Kontrastprogramm die verfremdete Darstellung der Dinge, dessen Verwirklichung die Aufgabe der Kunst sei:

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 21

„Um nun die Empfindung des Lebens wiederzugewinnen, die Dinge wieder zu fühlen, den Stein steinern zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden für die Dinge zu vermitteln, das sie uns sehen und nicht nur wiedererkennen läßt; ihre Verfahren sind die ‚Verfremdung‘ der Dinge und die erschwerte Form, ein Verfahren, das die Wahrnehmung erschwert und verlängert, denn dieser Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß zeitlich gedehnt werden.“

14

Eine solche Fühlbarkeit verweist dabei weniger auf den Bereich der Emotionen, als vielmehr auf die Verlängerung und Gedehntheit der Wahrnehmung, die durch eben jene Verschiebung aus dem Bereich des Gewohnten in einen Bereich der primären Fremdheit zustande kommt. Sie bedeutet die Aufhebung charakteristischer Eigenschaften von Sehautomatismen: der instrumentellen und funktionellen Distanz gegenüber den Dingen und der diskontinuierlichen Wahrnehmung der Welt (etwa über sprachliche oder diagrammatische Abkürzungen). Das Verfahren der Verfremdung (ostranenie) bezeichnet damit auf der einen Seite sowohl ein literarisches Mittel zur Schaffung einer verzögerten, nicht-ökonomischen Wahrnehmungsweise der Dinge über die Herstellung ungewohnter Effekte, als auch darüber hinaus ein generelles Signum der Eigenheit der Kunst. Beispielhaft ist für Šklovskij etwa das Verfahren des Schriftstellers Lew Tolstojs, Gegenstände so darzustellen, als würden sie zum ersten Mal gesehen, etwa aus der verfremdenden Perspektive eines Pferdes in der Erzählung „Der Leinwandmesser“. Šklovskij stellt ein solches durch die Literatur realisiertes künstlerisches Verfahren hauptsächlich automatisierten Wahrnehmungsformen gegenüber, einem Sehen, in dem der Mensch die Dinge unter letzthin pragmatischen Interessen wahrnimmt – etwa im Bereich der Haushaltsarbeit, die ohne den Aufwand an Aufmerksamkeit auf die mechanisch ausgeführte Tätigkeit selbst auskommt. Hier werde die Wahrnehmung letztendlich als ein Mittel zum Zweck aufgefasst, um einen Begriff zu bilden oder eine Handlung erfolgreich und störungsfrei auszuführen – was unter anderem in analoger Weise Merkmal der prosaischen Sprache (gefasst als bloße Vermittlung eines narrativen ‚Kerns‘, eines Gedankens ohne Beachtung der Eigenheit des Mediums: der Sprache) ist. So ist es als ein konstruktiver Kunstgriff zu ver-

14 Šklovskij 1987a, 17f. Meine Kursivierung.

22 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

stehen, das Sehen, das zu einem gewissen und unhintergehbaren Anteil immer auf Mechanismen des Wiedererkennens und der Erfahrung beruht15, zu verkomplizieren. Erst damit kann es überhaupt in seinem Funktionieren, aber auch in seinen jeweiligen Leerstellen, dem Schwanken zwischen Bedeutungen, den blinden Flecken der Wahrnehmung und des Übersehenen thematisch werden. Die in literarischen Texten und Malerei dargestellten Wahrnehmungsordnungen, so möchte ich mithilfe von Šklovskijs Ansatz und auch darüber hinaus mit der Theorie Hermann von Helmholtz’ argumentieren, sind letztlich in der Lage, über Verfahren der Verfremdung sich ergebende Möglichkeiten des Anders-Sehens und schwankende Ansichten zu aktualisieren. Hier kommt es innerhalb von Kunstwerken zu Experimenten mit künstlerischem Sehen, die sich nicht in einem bloßen Abweichungsspiel erschöpfen

15 In ihrem Buch „Sehen als Praxis“ geht Eva Schürmann in ähnlicher Wiese von einer Vielfalt möglicher Sehformen aus und betont die unterschiedlichen Ausformungen des Sehens innerhalb eines „Horizont[es] latenter und möglicher Sichtbarkeit“ (Schürmann 2008, 24), die sich von einem bloß wiedererkennenden Sehen absetzen. Schürmann spricht hier von Wahrnehmungskonventionen einer Gesellschaft, welche das individuelle Sehen innerhalb eines Aushandlungsprozesses mitformen. Es könne demgegenüber ebenso zu ‚kreativen Verschiebungen‘ des üblichen Sehens kommen. Schürmann betont hier vor allem die Verbindung aus Perzeption, mentalen Zuständen, Erwartungen, der Erinnerung und der kreativen Imagination, welche im Zusammenspiel je eigene Sehstile performativ erzeugt. Die individuelle Disposition des Sehenden werde so zu einem Impulsgeber für ein Sehen, das jedes Mal neu erfahren und entfaltet wird: „Der Zwischenraum hält Möglichkeitsspielräume offen, die verhindern, dass Wahrnehmungen sich auf invariante, mechanische, physisch determinierte Vorgänge reduzieren ließen“ (ebd., 76). Auf dem Feld des künstlerischen Sehens könne es so zu kreativen Verschiebungen des Gewohnten kommen, indem unterschiedliche Sehweisen, ungewöhnliche Blickwinkel oder die Wahrnehmung neuartiger assoziativer Verbindungen zur Darstellung kommen. Es werde hier aber keinesfalls das Spiel mit dem Sichtbaren bis zur Willkür oder völligen Arbitrarität getrieben, ganz im Gegenteil erhalte ein solches Erschließen abweichender Optiken auch einen heuristischen und ethischen Wert der Welterschließung.

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 23

müssen, sondern ebenso weit reichende Konsequenzen für intellektuelle Erkenntnisprozesse und auch gesellschaftliche Fragen mit sich bringen. Die Möglichkeiten eines Anders-Sehens lassen sich genau genommen aber erst dann ausmachen, wenn mehrere Wahrnehmungsstile innerhalb eines bestimmten Rahmens (gewohntes Sehen/Anders-Sehen, Tradition/ Verfremdung) kontrastiv verhandelt werden. Entscheidend ist hierfür das Verhältnis zwischen dem Wiederkehren einer Wahrnehmungserfahrung16 und der aktuellen Sinnesempfindung. Hiermit sind bereits die äußeren, wenngleich virtuellen Grenzen des Feldes, in welcher das Schwanken stattfindet, bezeichnet. Dabei beschreibt das Schwanken das wahrnehmungstheoretische Prinzip der Verfremdung, das innerhalb der künstlerischen Ordnung über ein bewegliches Kontrastverhältnis operiert und ein Anders-Sehen erst möglich macht. Das von Šklovskij poetisch genannte Bild vereint dabei dialektisch beide Pole – das Automatisierte dient als Material und als Hintergrund für das Neue: „Im Bild liegt vor: Gegenstand – Erinnerung an seine frühere Bezeichnung – neue Bezeichnung des Gegenstandes und Assoziationen, die mit der neuen Bezeichnung zusammenhängen“17. Verfremdung bezeichnet somit die Entautomatisierung eines 1) gesellschaftlich und kulturell bedingten Wahrnehmungsvorgangs (vor allem in der früheren Phase Šklovskijs: die Kontraste zwischen Literatur und Alltag) und 2) einer Darstellungstradition (in der späteren Phase Šklovskijs: eines

16 Aus dieser Konstellation Wiedererkennen/Überraschung heraus kann auch das Anliegen anderer Arbeiten über die Moderne erklärt werden, welche das Problem genau von der anderen Seite her, des Wiedererkennens nämlich, angehen. Hierzu beispielsweise Wunberg 2001, der die Wahrnehmungsästhetik der Moderne aus der Dialektik von Vergessen und Erinnern beschreibt, wobei das Wiedererkennen und Erinnern immer auch mit einer verstärkten und andauernden Reflexion einhergeht. 17 Šklovskij 1974a, 28. Hier bestehen durchaus Parallelen bzw. eine homologische Beziehung zur Metapherntheorie. Vgl. Gehring (2009, 93ff), die Metaphorisches als differentielle Angelegenheit zwischen einem ‚irritierenden Fokus‘ und einem Rahmen, also letztendlich als eine relationale Beziehung behandelt. Es geht ihr aber dabei nicht nur um eine direkte Interaktion der beiden Komponenten, sondern eine ständige Neubestimmung der beiden Faktoren durcheinander. Vgl. hierzu auch Schürmann 2008, 176ff.

24 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Kontrastes zwischen dem jeweiligen literarischen Text und dem Kanon an Darstellungsformen18). Diese Differenz, so gering sie auch sein mag, besteht übrigens in jedem Wahrnehmungsvorgang – geht man davon aus, dass jeder Wahrnehmungsvorgang und jede Handlung immer auch mechanische, automatisierte Anteile aufweisen, andererseits aufgrund ihrer jeweiligen Singularität aber auch nicht darauf reduzierbar sind. Das Verhältnis zwischen beiden ist prinzipiell unabschließbar und erzeugt unendliche Anschauungs- und Bedeutungsformen. Individuelle und vor allem gesellschaftlich und kulturell codierte Seherfahrungen dienen als Kontrasthintergrund eines Bildes und visueller Codes in Texten19 – sowohl im Kunstwerk selbst, als auch im Produktions- und Rezeptionsakt. So bildet sich ein sich immer wieder neu ergebender Fokus aus, eine neue ‚Fühlbarkeit‘ vor dem Hintergrund des Kanonisierten, nicht mehr Wahrgenommenen. Dies kann der Theorie Šklovskijs nach vor allem als eine totalisierende Aussage zur Avantgardekunst, hier: der klassischen Moderne (1880-1925), verstanden werden, besonders da die Bedingungen dafür erst in einem bestimmten historischen Kontext geschaffen wurden20. Kunst ist, so die Definition Šklovskijs, immer nur in Beziehung und im Kontrast zum Alltagsleben zu verstehen und findet somit sowohl in einem geschichtlichen und sozialen Kontext, als auch innerhalb einer literarischen Tradition, d.h. einer bestimmten (intertextuellen, künstlerischen, semantisch determinierten) Reihe statt. Die Rezeption von Kunstwerken im Sinne einer Rezeptions- oder Wirkungsästhetik spielen dabei immer mit21. Litera-

18 Auch von Renate Lachmann (vgl. Lachmann 1970, 235) so verstanden. 19 So stehen laut Schürmann die Möglichkeiten der Kunst, jene Sehkonventionen zu erweitern bzw. zu überschreiten „im Austausch mit der soziokulturellen Praxis einer jeweiligen historischen Epoche, die kreative Abweichungen selbst dann noch konditioniert, wenn sie überschritten wird“ (Schürmann 2008, 174). Die Sehkonvention muss so also als Hintergrund bewusst sein und wird in der künstlerischen, wenn auch verzerrten Darstellung immer mit aufgerufen. 20 Vgl. Bürger 1974, 23ff. Harald Fricke hingegen begreift das Prinzip von Norm und Abweichung als über die Moderne hinaus gültig für alle Texte und Zeiten. Vgl. Fricke 2002 21 Der dem Formalismus ansonsten eher kritisch gegenüber stehende Psychologe Vygotskij spricht etwa treffend vom Kunstwerk als einem „System von Reizer-

E INLEITUNG : „I N

SOLCHEN

FÄLLEN

SCHWANKT DIE

A USLEGUNG “

| 25

rische Verfahren, wie das der Verfremdung, implizieren einen durch die Komposition bewirkten Effekt auf den Betrachter oder Leser und lassen eine trennscharfe Unterscheidung zwischen produktions-, werk- sowie rezeptionsästhetischen Prämissen kaum zu. Insbesondere die Möglichkeit eines solchen künstlerisch motivierten Anders-Sehens durch und in Literatur und Malerei soll im Folgenden Gegenstand der Untersuchung sein. Durch Kunst und Literatur bedeutet, dass sich die Künste als Feld verstehen, durch die es zu einer Formulierung eines Anders-Sehens durch den Produzenten bzw. bestimmte Verfahren und einer Perspektivübernahme durch den Rezipienten kommen kann. In Kunst und Literatur hingegen, dass ein solches Anders-Sehen explizit Gegenstand innerhalb des jeweiligen Kunstwerks, so etwa als Darstellung einer textoder bildintern dargestellten polyphonen oder polyvisuellen Wahrnehmungsweise, etwa von Protagonisten in erzählender Literatur, sein kann. Ziel ist es, solche wahrnehmungsästhetischen Fragen über ein ‚anderes‘ Sehen als künstlerisches Verfahren a) sowohl wissensgeschichtlich in Wahrnehmungs- und Kunsttheorien, als auch b) exemplarisch in einzelnen Werken von Malerei und Literatur der Moderne zwischen 1870 und den 1920er-Jahren zu untersuchen22. Dabei beziehen sich Theorie und Praxis der Kunst wechselseitig aufeinander. Die Kunst schafft so die Möglichkeit zahlreicher Wahrnehmungsexperimente, die ein Schwanken zwischen verschiedenen Aktualisierungen des Gesehenen evozieren. Zu denken wäre hier im Folgenden etwa unter anderem an folgende nicht erschöpfend aufgeführten Modelle und Motivierungen, die das Prinzip des Anders-Sehens auf unterschiedliche Weise innerhalb der Künste und auch Philosophie oder Kunsttheorien ausbuchstabieren und damit neue Perspektiven und Bedeutungen erzeugen, wie etwa 1) die Denkfigur des kindlichen Sehens, das Sehen 2) eines plötzlich zum Sehen gebrachten Blinden, 3) ein Sehen unter veränderten räumlichen Bedingungen des Subjekts (etwa: Auf dem Kopf stehen, innerhalb veränderter Bedingungen von Geschwindigkeit und Fortbewegung), 4) ein abweichendes Sehen im Affekt, etwa zwischen einem distanzierten Fern-Sehen und einem

regern“ (Vygotskij 1976, 28), das darüber hinaus in einem sozialen Kommunikationszusammenhang steht. 22 Analog der doppelten Zugriffsweise aus diskursanalytisch-kulturhistorischen und literaturwissenschaftlichen Untersuchungen (vgl. Mergenthaler 2002).

26 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

involvierten Nah-Sehen, 5) ein thematisches Sehen der nach vorne getretenen Dinge bzw. eines reflektierten Sehens der ‚Sehdinge‘ wie Brille, Scheiben, Glas, 6) die nicht-menschliche, quasi-‚reine‘ Wahrnehmung eines Apparates, etwa einer Kamera oder eines Mikroskops, 7) das Sehen unter veränderten gesellschaftlichen oder historischen Zuständen, 8) das TraumSehen, 9) ein pathologisches Sehen, das auf körperlichen Defekten oder externen Störungen des Auges beruht, oder 10) die veränderte Wahrnehmung vor oder nach dem Ausbrechen einer psychischen Krankheit (z.B. Objektfragmentierung bei Schizophrenen). Hier werden neue Ordnungen des Denkens und der Klassifizierung erprobt, die konventionalisierten Denkund Wahrnehmungsformen gegenüberstehen.

A. Sehen und Anders-Sehen in Wahrnehmungs- und Kunsttheorien

2. „It is thought twice over in absolutely different psychoses“ Theorien der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert zwischen Reduktion und Synthese

2.1 D IE G EBURT

DES SUBJEKTIVEN

S EHENS

Psychologische Sehtheorien des 19. Jahrhunderts stehen in einer jahrhundertelangen Tradition von Arbeiten, die das Sehen vor allem unter einer physikalischen und physiologischen Perspektive behandelten. Der Diskurs über das Sehen des Menschen verändert sich im 19. Jahrhundert aufgrund von sozialen, wissenschaftlichen und technologischen Umwälzungen1 (z.B. der Erfindung der Fotografie und des Films) sowie von Paradigmenwechseln in den Naturwissenschaften und der Philosophie. Dies wirkt sich auf das Gebiet der Visualität allgemein und die Rezeption und Weiterführung empiristischer Sehtheorien im Gefolge Lockes und Berkeleys im Besonderen aus. Sehen wird von nun an vielmehr vom menschlichen Subjekt her gedacht, von den Begriffen der starren aufklärerischen Klassifikationsordnungen losgelöst und daher weniger repräsentationslogisch begriffen. Auffassungen von Wahrnehmung als einer bloßen Abspiegelung der Außenwelt und eines vorgeordneten Ordnungs- und Logosbegriffs als Regulierungsmechanismus aller Anschauungen werden somit weithin als überholt betrachtet. Das zu Vermittelnde, d.h. der Körper und das Auge des Menschen werden nun zu zentralen Instanzen der Wahrnehmung, wie sich in

1

Zur den verschiedenen Aspekten einer ‚Modernisierung des Sehens‘: Vgl. Cugini 2006; Jay 1993; Crary 1991,1999; Benjamin 1983.

30 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

den vor allem im deutschsprachigen Raum aufkommenden physiologischen Wahrnehmungs- und vor allem Sehtheorien zeigt. Jonathan Crary spricht aus medienwissenschaftlicher Perspektive von einer Wende von den ‚geometrical optics‘ des 17. und 18.Jahrhunderts nach dem Modell der camera obscura hin zu den ‚physiological optics‘2 zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er geht von einer aufkommenden Epistemologie des Sehens aus, die viel subjektzentrierter als zuvor verstanden werden muss. Dies läuft parallel zu Verschiebungen von Konzepten eines ‚objektivistischen‘ Subjekts der Philosophie im Sinne Descartes hin auf ein empirisches – der Verkörperlichung eines kognitiven Subjekts3, das in einer Welt steht, die sich selbst beständig verändert. Es wird hier, im Gegensatz zu einem geistigen, unkörperlichen Subjekt der Transzendentalphilosophie etwa, von einem lebendigen, handelnden Menschen ausgegangen, der, da er sich in dieser Welt bewegt, immer erst unter einer bestimmten Perspektive, die sich nach räumlichen und zeitlichen Maßgaben entfaltet, wahrnimmt. Entscheidend werden somit auch die äußeren, variablen Bedingungen der Wahrnehmung und die vielfältigen Möglichkeiten, die Dinge dadurch jeweils unterschiedlich wahrzunehmen. Der Prozess des Sehens verläuft nun tatsächlich durch die beiden beweglichen und sich akkomodierenden Augen des Menschen und reflektiert die unterschiedlichen psychologischen und physiologischen Bedingungen des Sehvorgangs. Der Mensch selbst, so die zeitgenössische Auffassung, erzeugt, d.h. produziert seine eigene Wirklichkeit, wobei die Sinneswahrnehmungen nicht immer eine unmittelbare Repräsentation der Außenwelt darstellen müssen, wie zur Mitte des 19. Jahrhundert immer wieder festgestellt wird (siehe Kapitel 2.1.1). Die Umkehrung des Referenzverhältnisses erfolgt hier als ein weiterer Schritt. Gegenüber der Vorstellung, das Auge gebe die Gegenstände einfach nur wieder oder bilde diese ab, werden sie als Produkt des Geistes des Menschen, der zudem einen Körper und somit

2

Vgl. Crary 1991, 59ff. Hier nimmt er eine Unterscheidung auf, die schon von Ernst Mach getroffen wird: Dieser unterscheidet in seinen gestalttheoretischen Überlegungen ein optisches (auf Empfindungen beruhendes) von einem geometrischen (intellektuellen) Sehen und konstatiert in diesem Zuge eine Wende zu psycho-physiologischen Auffassungen des Sehens: „Die sinnliche Welt gehört dem physischen und psychischen Gebiet zugleich an“ (Mach 1886, 142).

3

Vgl. Jay 1993, 187.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 31

eigene sinnliche Wahrnehmungsweisen, bestimmte Interessen und das Vermögen der Einbildungskraft besitzt, zunächst einmal erschaffen. Sie werden daher auf einer einerseits psychischen, als auch damit verbundenen physischen Ebene wahrgenommen, also zunächst tatsächlich in individueller, aktiver und prozesshaft ablaufender Weise gesehen. Gottfried Boehm etwa spricht in diesem Zusammenhang von einer „Konjunktur poietischer Modelle“ in der Moderne, resultierend aus dem „Verlust einer sicheren Referenz […], welche dasjenige, was das Auge sieht, mit demjenigen, was die Realität ist, ehedem verbunden hatte“4. Gleichzeitig werden mit einem solchen In-Erscheinung-Treten des Sehens selbst innerhalb der physiologischoptischen Experimentalwissenschaften5 die Bedingungen und Randbereiche des Sehens, auch dessen körperliche und psychische Bedingungen und gegebenenfalls Defekte, für die Forschung interessant. Diese Entwicklung, die Ablösung der Wahrnehmungs- von der Erkenntnistheorie im engeren Sinne, läuft jedoch nicht ohne die damit verbundenen epistemologischen Unsicherheiten ab. Hatte vorher die Zuweisung der Wahrnehmungsdaten zu festen, stabilen Phänomenen der Außenwelt zwar zu einem Weniger an individueller Freiheit im jeweiligen Wahrnehmungsakt gesorgt, wird nun im 19. Jahrhundert die Annahme einer ‚stabilen‘ Wahrnehmung der Dinge fragwürdig. Die Analyse der Wahrnehmung des Menschen hat es nun in den naturwissenschaftlichen Theorien mit flüchtigen und zusammenhanglosen Wahrnehmungsdaten zu tun, die auf eine neue Weise in eine erkenntnisfähige Ordnung gebracht werden müssen – wie etwa die Experimente zur Psychotechnik, Psychophysik und optischen Täuschungen bei Wilhelm Wundt, Gustav Theodor Fechner, Ernst Mach oder Hugo Münsterberg zeigen. Die Idee der Feststellung fester und semantisch eindeutig zuzuordnender Formen innerhalb der menschli-

4

Boehm 1997, 289.

5

Vgl. Cugini 2006. Cugini teilt hier eine erste Phase der noch philosophisch orientierten, deduktiv verfahrenden Physiologie von der eigentlichen experimentalen Physiologie, die sich von 1820-1850 herausbildet, ab. Vgl. ebd., 42ff. Über die epistemologische Wende hin zu den Prinzipien von Selbstbeobachtung und Selbstexperiment bei Purkinje oder Johannes Müller, der ‚subjectiven Empirie‘: Vgl. Müller-Tamm 2008, 156ff und Müller-Tamm 2001.

32 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

chen Wahrnehmung, schlechthin eine stabile Bedingung der Erkenntnis, wird nun historisch unmöglich6. Es gilt von jetzt an, neue Referenzbereiche einer ‚vernünftigen‘ Wahrnehmung der Welt zu erschließen, die in jener Zeit vor allem im psychologischen und physiologischen Bereich vermutet wurden. Wahrnehmung findet der zeitgenössischen Auffassung der Wissenschaften nach also niemals bereits für sich synthetisiert statt, sondern verweigert sich als solche unmittelbar der Stiftung von Erkenntnis. Schon von Immanuel Kant und seinem transzendentalem Standpunkt aus wurde das Vermögen zur synthetischen Einheit der Apperzeption innerhalb einer rein empirischen, begriffslosen Anschauung bestritten. Laut Kant käme es in einem solchen Falle einer kategorienlosen Anschauung lediglich zur Wahrnehmung eines „Gewühle[s] von Erscheinungen“7, in dem kein der Erfahrung bekannter Gegenstand begrifflich erfasst und überhaupt wiedererkannt werde. Einem solchen unmittelbaren, nie fixierbaren ‚Gewühle‘ sieht man sich nach Aufgabe der für solche Synthesen unhintergehbaren philosophischen Annahmen nun tatsächlich gegenüber. Die an den Menschen herantretenden Wahrnehmungen sind nun der einzige Schlüssel, der vielgestaltigen Welt Erkenntnis abzuringen. Die elementarsten Sicherheiten werden in akuter Weise brüchig, auch indem das Moment der Zeitlichkeit eintritt: Woher kann ich mir sicher sein, dass ein Objekt, das ich einen Moment betrachte und dann wieder wegschaue, anschließend noch dasselbe, mit sich selbst identisch geblieben ist und welches Prinzip schließt die Psyche mit der Außenwelt kurz? Dasselbe gilt analog für das Denken: Ist Denken in seinem zeitlichen Verlauf das Denken gleich bleibender Gegenstände? Wie lassen sich die einzelnen Phänomene des Denkens verbinden und in eine Ordnung bringen, die uns zu gesicherter Erkenntnis verhilft? Jonathan Crary konstatiert an diesem Punkt eine fundamentale Verschiebung der Relation von Subjekt und dem visuellen Feld8. An dem Ort der Unmöglichkeit epistemologischer und erkenntnistheoretischer Sicherheiten innerhalb einer Konzeption des subjektiven Sehens setzt Crary das Phänomen der die Wahrnehmung steuernden und regulierenden Aufmerksamkeit an, das er in seinem Buch für das 19. Jahrhundert durchgehend

6

Vgl. Crary 1999, 4ff.

7

Kant 1998, 218.

8

Vgl. Crary 1999, 15ff.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 33

weiterverfolgt. Der Zweig der Psychologie wird sich im Folgenden mit eben solchen Fragen beschäftigen. Auch die im 19. Jahrhundert auf viele Bereiche angewendeten Prinzipien der ‚Ökonomie‘ des Denkens, des Wahrnehmens und Bezeichnens werden in diesem Kontext einer Selektivität des Sehens bedeutungsvoll, um Kontinuität im Denken und die Wiedererkennbarkeit der in ihrem Kern kontingenten Außenwelt zu stiften. Das Subjekt organisiert und konstruiert die Welt demnach in einer für ihn eigenen und schlechthin ökonomisch motivierten Weise. Es ist einem solchen Verständnis nach nicht nur ein bloßer psychologischer Assoziationismus in der Nachfolge des Empirismus, der die Wahrnehmung passiv steuert oder ein behavioristisches Reiz-Reaktions-Schema, vielmehr kann ein dafür zuständiger Wille die Aufmerksamkeit ändern, das heißt an einem Teil die Intensität stärken, an einem anderen Teil hemmen, wenngleich insbesondere im Anschluss daran formulierte Annahmen unbewusster Automatismen in den Wahrnehmungsvorgängen die Reflexivität und Intentionalität einiger solcher Abläufe gleichzeitig in Frage stellen. Die Wahrnehmung kann so bis zu einem gewissen Grad als steuerbar gedacht werden. Damit wird das aktiv seine Wahrnehmungen dirigierende Subjekt allerdings wieder – und das ist die Pointe Jonathan Crarys – verobjektiviert: denn seine Wahrnehmungen werden nun als messbar und von außen kontrollierbar gedacht. Denkt man sich den Wahrnehmungsvorgang nun als einen fortdauernden Strom von Wahrnehmungsdaten, so ist es nötig, ein Prinzip zu denken, das diesen Strom mithilfe gewisser Einschnitte kerbt und es dem Subjekt ermöglicht, Erkenntnis aus diesen Daten zu ziehen um sich in der Welt zu orientieren. Zu einem Gemeinplatz der Zeit wird demnach – mehr oder weniger explizit – die eng mit dem Phänomen der Aufmerksamkeit verbundene Selektivität eines jeden Sehvorgangs, die hier im Folgenden beinahe durchgehend von Helmholtz bis Bergson als ein immerwährendes Moment des individuellen Wahrnehmungsaktes angenommen wird. Durch ein solches selektives Wahrnehmen, bemerkt der Kunstpsychologe Rudolf Arnheim, „zielen und konzentrieren sich denn die Sinne von Anfang an auf diejenigen Kennzeichen der Gegenwart, die das Leben befördern oder hindern“9. Arnheim spricht höheren Organismen ein intelligentes, flexibles Wahrnehmen zu, so dass beispielsweise konstant irrelevante (etwa bewe-

9

Arnheim 1996, 29.

34 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

gungslose, immer gleich ablaufende) Dinge innerhalb des Sehfeldes nicht mehr bemerkt werden. Da solche Vorgänge der Selektion aber für den Menschen nicht immer bewusst ablaufen, sondern das Individuum sich im Folgenden insbesondere in Alltagssituationen auch ohne reflexives Denken und Fragen nach der Gewichtung des Wahrgenommenen zurechtfinden muss, wird nun besonders der Anteil der automatisierten Prozesse an den Wahrnehmungsprozessen aktuell. Diese in der Regel unbewussten Vorgänge dienen dem Ausführen von Alltagshandlungen, die für das reibungslose Funktionieren derselben gar nicht in jedem Fall bewusst ablaufen müssen10. Das Phänomen der Aufmerksamkeit sorgt nun für eine doppelte Bewegung, die zwischen Determinismus und Selbstermächtigung changiert, zu keinem der Pole aber gänzlich umschlägt: Einerseits birgt es automatisierte Anteile in sich, andererseits können diese durch einen mit Anstrengung und Kraftaufwand verbundenen Aufmerksamkeitswechsel reflexiv gemacht und verändert werden. Eine Annahme von automatisierten Anteilen des Wahrnehmungsvorgangs ist für die zu verfolgende Geschichte eines Anders-Sehens und insbesondere in Hinblick auf die Verfremdungstheorie des Russischen Formalismus interessant und pikant, auch da das Sehen einerseits Teil maschineller Arrangements ist und oftmals paradoxerweise sowohl mit mechanischen Vorgängen verglichen wird, andererseits gleichzeitig nicht vollständig damit verrechnet werden soll. Ästhetische Theorien verfahren im 19. Jahrhundert in ihrer Gewichtung zwischen einem alltäglichen, automatisierten Wahrnehmen und einer hier auftauchenden Forderung nach einem künstlerischen und emphatischen Wahrnehmen vielfach dualistisch11 und betonen die gegen die alltäglichen, gewohnheitlichen Mechanismen gerichtete Funktion der Kunst und des Kunstsehens, wie im Folgenden in ausgewählten Schriften Jules Laforgues oder auch Henri Bergsons gezeigt werden wird. Ziel ist innerhalb eines Großteils der Theorien des Anders-Sehens nicht etwa eine intentionale Nicht-Selektivität des Visuellen und ein damit ein umfassendes, alles gleichbeleuchtendes Sehen, sondern vielmehr eine Anders-Selektion, die reflexive Aufmerksamkeitslenkung auf die oftmals ausgeblendeten, unbe-

10 Vgl. Crary 1999, 40. 11 Vgl. ebd., 46.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 35

wussten und automatisierten Anteile der Wahrnehmung. So konturiert sich hier eine Kritik an automatisierten Wahrnehmungsprozessen sowohl für den Bereich des Alltagslebens als auch für den Bereich der Wissenschaften. Diese wahrnehmungskritischen Schriften haben in der Regel den Anspruch, vor allem durch eine Methode der bildenden Kunst der ‚Welt der Dinge‘ so nahe wie möglich zu kommen und künstlerische Effekte zu erzielen, indem sie Wahrnehmungskonventionen in ihrem Funktionieren bloßzulegen und aufzubrechen versuchen. Eine erst an diesem historischen Punkt auftretende kulturtheoretische und ästhetische Konstruktion eines aktiv von gewöhnlichen Wahrnehmungsmustern abweichenden Sehens erlebt Anfang des 19. Jahrhunderts eine populäre Rezeption. So eröffnet sich in der ästhetischen Moderne seit 1800 nicht nur in der Romantik ein breites Spektrum an Gegenbewegungen zu den von der Aufklärung ausgerufenen und hauptsächlich unter epistemologischen Interessen stehenden klassifikatorischen und begrifflichen Sehformen12. Hier stellen etwa Wahrnehmungsweisen wie das kindliche Sehen, die Traumwahrnehmung, der Wahnsinn, Trance und Rauscherfahrungen ästhetische Alternativen dar. Dazu werden zugleich auch die sonst übersehenen medialen ‚Nebenprodukte‘ des selektiv verfahrenden Wahrnehmungsprozesses interessant, wie etwa retinale Nachbilder, die Peripherien des Sehfeldes, der blinde Fleck oder auch das Adergeflecht des Auges – und gar vereinzelt analog gesetzt zu den menschlichen Vermögen von Phantasie und Gedächtnis13. Die Möglichkeit einer Wahrnehmung, die nicht nur transitiv, rationalisierbar und im Sinne von effektiven Handlungsabläufen konsumierbar ist, scheint hier als Möglichkeit auf. Das Experimentieren mit visuellen Phä-

12 Vgl. Brüggemann 2007, 140. Etwa dem Sehen nach dem Dispositiv der Zentralperspektive (Siehe Jay 1993). So auch Imdahls in dem Aufsatz „Kunstgeschichtliche Bemerkungen zur ästhetischen Erfahrung“ formulierten These einer „Befreiung vom habitualisierten denotativen Sehen“, der „Tendenz nach einer Entbegrifflichung der Welt, der zufolge der Vorrang begrifflicher Erkenntnis durch eine Rechtfertigung der ‚Erkenntnis durch die Sinne‘ in Frage zu stellen und zu durchbrechen sei“ (Imdahl 1996a, 282) im späten 19. Jahrhundert. Er nennt im Folgenden Konrad Fiedler, John Ruskin und Jules Laforgue (siehe Kapitel 2.2) als Theoretiker eines solchen impressionistischen Umschlags des Sehens. 13 Vgl. Müller-Tamm 2001, 158.

36 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

nomenen strahlt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beinahe zwangsläufig in großem Maße auf die Kunst aus: „The relocation of perception (as well as processes and functions previously assumed to be ‚mental’) in the thickness of the body was a precondition for the instrumentalizing of human vision as a component of mechanic arrangements; but it also stands behind the astonishing burst of visual invention and experimentation in 14

European art in the second half of the nineteenth century“ .

Die Folge dessen ist unter anderem eine Neubewertung des Sehens als Prozess des schöpferischen Hervorbringens. Das so modulierte Sehen tritt als bedeutsame, zu (ver-)lernende Aktivität ins Zentrum von Experimenten innerhalb von Kunst und Literatur. In vielen wahrnehmungsästhetischen Texten des 19. Jahrhunderts wird nun insbesondere die Statik der pragmatischen Wahrnehmung, auch befördert durch die Praktiken der positivistischen oder empirischen Wissenschaften, explizit problematisiert. Die Orientierung an einer ‚reinen‘, interesselosen Sinneswahrnehmung vor der Synthese in das Erfahrungsurteil und von diesem Sehen abweichenden Sehformen gewinnt für die künstlerischen Poetiken und Kunsttheorien an Bedeutung. Das Kind und der plötzlich sehende Blinde werden nun mitunter als Figuren einer idealen künstlerischen Sensibilität betrachtet, die gegen erstarrte Formen der Weltauffassung eine Annäherung an die verkümmerte Sinneswelt ermöglichen. In den späteren modernistischen Poetiken wird nun ebenjenes schon genannte frühkindliche Sehen, die erst aus der Perspektive des Erwachsenen erfolgende infance retrouvée, als ein von der standardisierten Normalperspektive abweichender Zustand aufgewertet, wie etwa in Charles Baudelaires (1821-1867) „Le Peintre de la Vie Moderne“ (1863) bemerkt wird. Hier ist eine solche ‚wiedergefundene Kindheit‘ als ein besonderer Wesenszug modernen künstlerischen Schaffens thematisiert: „Remontons […] par un effort rétrospectif de l’imagination, vers nos plus jeunes, nos plus matinales impressions […] L’enfant voit tout en nouveauté ; il est toujours ivre. Rien ne ressemble plus à ce qu’on appelle l’inspiration, que la joie avec laquelle l’enfant absorbe la forme et la couleur […] Mais le génie n’est que

14 Crary 1999, 13.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 37

l’enfance retrouvée á volonté, l’enfance douée maintenant, pour s’exprimer, d’organes virils et de l’esprit analytique qui lui permet d’ordonner la somme de matériaux involontairement amassée. C’est à cette curiosité profonde et joyeuse qu’il faut attribuer l’oeil fixe et animalement extatique des enfants devant le nouveau, quel qu’il soit, visage ou paysage, lumière, dorure, couleurs, étoffes



chatoyantes

15

.

Das Kind betrachte, so Baudelaire, alles unter einer unvoreingenommenen Perspektive. Für ihn ist vieles noch nicht zum Begriff verfestigt, die meisten Dinge betrachte es wie zum ersten Mal, als seien sie ihm vollständig neu. Es sehe Lichter, Farben und die Oberfläche von Textilien als ein ekstatisch schillerndes Wechselspiel. Die wiederum vor allem visuell markierte Wahrnehmungsweise des Kindes müsse, um ästhetisch wirksam zu sein, wie Baudelaire mit der Formulierung der ‚männlichen Organe‘ angedeutet, aber zudem in eine bestimmte künstlerische Ordnung gebracht werden – was wiederum auf das Vermögen intellektueller Fähigkeiten und den analytischen Geist des Menschen hindeutet. Die Überformung durch kulturelle sowie historische Denk- und Wahrnehmungsschemata muss nun zunächst im Sinne einer archaischen Rückwendung an die reine Sinnlichkeit und den als ekstatisch erlebten Moment partiell ‚verlernt‘ werden. Die Geburt des Künstlers als Kind erfolgt nachträglich und muss zudem aus einer bestimmten Weise angeleitet sein. Dem Verstand kommt es dabei schließlich zu, die chaotischen vorbegrifflichen Werte und Eindrücke zu ordnen und in eine gefestigte ästhetische Komposition zu überführen. Mein Vorgehen besteht nun für das folgende Kapitel darin, zwei wahrnehmungstheoretische und -ästhetische Ansichten innerhalb des 19. Jahrhunderts methodisch auseinanderzuhalten, die einen grundlegenden Paradigmenwechsel markieren und den späteren Text Viktor Šklovskijs gleichsam argumentativ durchziehen. Diese im Folgenden zu explizierenden zwei Strömungen sind aber, trotz aller grundlegenden Polarität, auf eine konstitutive Weise miteinander verflochten. So möchte ich zunächst den 1) aus dem Empirismus des 18. Jahrhunderts hergeleiteten Strang (der 1850er-1880er Jahre) eines reinen, präsentischen Sehens nachverfolgen. Dieser vor allem innerhalb von Kunsttheorien

15 Baudelaire 1976, 690.

38 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

formulierte Diskurs besteht in einer reduktionistischen Zergliederung der Wahrnehmung in einzelne, separierbare Wahrnehmungselemente, wie beispielhaft vorgeführt durch das reine Sehen des aufklärerischen MolyneuxProblems. Darunter ist zu verstehen, dass aus der zeitlichen und eigentlich ungeteilt ablaufenden Wahrnehmung mit allen Sinnen, das für die Wahrnehmungsgewohnheiten zentral ist, der Sehsinn isoliert und eine immanente Wahrheit – und oft auch Natürlichkeit – innerhalb des ‚reinen‘ Sehens propagiert wird16. Eine solche Annahme führt zur Auffassung eines für die visuelle Kunst, Malerei und Bildhauerei prominenten sowie atemporalen und ‚unschuldigen‘17 Sehens (etwa bei John Ruskin und Jules Laforgue), einem Sehen das aus einem ganzheitlichen – oftmals auch semantischen – Zusammenhang isoliert wird (Kapitel 2.2). Dies geschieht hauptsächlich durch eine Art der analytischen Zergliederung von solchen Wahrnehmungsautomatismen, in welchen die Sinne, vor allem der Seh- und Tastsinn, zusammenwirken und die Wahrnehmung über Muster der Wiedererkennung von ganzheitlichen Gestalten vor sich geht. Vergessen und Verlernen von Wahrnehmungs- und Darstellungskonventionen, das gezielte Nicht-Erkennen unter Ausschaltung der Erinnerungsbilder, stehen hier im Mittelpunkt eines solchen unschuldigen oder primitiven Sehens. Dem gegenüber gehe ich 2) von einem diesem zunächst entgegengesetzten Denkstrang in der Philosophie und Psychologie (der 1890er-1910er Jahre) aus, der sich ebenfalls bis in zeitgenössische Kunsttheorien hinein erstreckt. Dieser betont im Gegensatz zum empiristischen oder zeitgenössischen positivistischen Denken die Auffassung des kontinuierlichen und ungeteilten Flusses der Wahrnehmung (etwa durch Henri Bergson, William James und John Dewey – Kapitel 2.3). Auch hier findet ein Anknüpfen an Ideen von John Locke, insbesondere dessen Auffassung der Dauer statt. Es ist insbesondere das Denken des alltäglichen, zur Gewohnheit gewordenen und quasi-mechanischen ‚Fließens‘ des Wahrnehmens und Denkens, das hierbei etwa von dem Psychologen und Philosophen William James betont wird. Mechanismen der Erinnerung und das Gerichtetsein der Wahrnehmung auf die Zukunft evozieren ein anderes, dauerndes Verständnis von

16 Dies ist es bezogen auf Wahrnehmungsfragen hauptsächlich, was Hansen-Löve 1978 als die ‚phänomenalistische Reduktion‘ des frühen Formalismus bezeichnet. 17 Hierzu Lamer 2009.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 39

Zeitlichkeit und bringen noch dazu, wie etwa bei Henri Bergson, den Begriff des Lebens ins Spiel, der sich von der Vorstellung einer mechanisch ablaufenden reinen Wahrnehmung ohne dazugehörige individuelle Erinnerungsbilder absetzt. Ich und Welt sind, wie auch die einzelnen Empfindungen, somit in einem einzigen Strom aus ungeteiltem Vor- und Nachher verbunden und nur noch künstlich daraus herauszupräparieren. Ein unschuldiges Auge, das Abtrennen eines reinen Wahrnehmungsvorganges von der Erinnerung, der Gewohnheit und dem Denken ist zur leblosen Chimäre geworden und wird in der Regel als Signum der Entfremdung und des Mechanischen gelesen. Das Sehen kann hierbei nicht aus dem dauernden, ungeteilten Strom der Wahrnehmung isoliert werden, da der ganze, sich bewegende, handelnde Mensch einbezogen wird und zudem keine Sinnesleistung zu hervorzuheben oder überhaupt isolierbar ist. Nur so wird Bewegung im Denken und in der Wahrnehmung denkbar. Einzelne Phänomene innerhalb der Wahrnehmung werden gefärbt durch den Gesamtzusammenhang, in dem sie auftauchen und erhalten eine dynamische, in die Vergangenheit und auf die Zukunft hin gerichtete Bedeutung. Unter der Einsetzung des zeitlichen Moments können mitunter sowohl automatische, dahinfließende Wahrnehmungen und Denkformen, wie etwa bei William James, als auch das Phänomen der ständigen Veränderlichkeit der Dinge, der ungeteilten Kontinuität des Lebens bei Henri Bergson, das nach dessen Argumentation auch Leitfigur seiner wenigen Bemerkungen über die Kunst sein soll, verstanden werden. Ein solches Denken von ungeteilten Ganzheiten nach dem Modell der musikalischen Melodie wird von dem französischen Philosophen dem räumlich verfahrenden und zergliedernden Denken der positivistischen Wissenschaften sowie der pragmatisch motivierten Wahrnehmung gegenübergestellt. Ein Denken der Zeitlichkeit und der Mechanismen der Erinnerung in Bezug auf die Sinnesorgane ist aber zu diesem Zeitpunkt nicht gänzlich neu. Es findet beispielsweise schon in Johann Purkinjes „Beiträge[n] zur Kenntnis des Sehens in subjectiver Hinsicht“ von 1819 Berücksichtigung. Hier beschreibt Purkinje das Prinzip der Nachbilder18, die als erinnerte Bilder auch nach dem eigentlichen Seheindruck nachwirken und im Gegensatz zu retinalen Nachbildern, die einen materiellen Ort im Auge besetzen,

18 Vgl. Purkinje 1819, 166ff.

40 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

durch die Einbildungskraft des Menschen und somit intentional gerichtet sind – so dass etwa das Blinzeln die Kontinuität des Sehens nicht unterbricht. Schon Purkinje gibt dabei im Abschluss seiner Untersuchung zu denken, dass eine Abtrennung der einzelnen Sinnesorgane von der Gesamtheit des Menschen für allerlei „Narrheit und Verrücktheit“19 sorgen könne. Diese immer wieder unterschiedlich gesetzten Spannungen zwischen reinen und verbundenen Wahrnehmungen, zwischen der analytischreduktionistischen Zergliederung und dem fließenden Strom des Lebens, den unreflektierten Automatismen und lebendig erfahrener Kontinuität, offenbaren die Vielfältigkeit und Aktualität wahrnehmungskritischer Schriften im 19. Jahrhundert. Eine solche Trennung der beiden genannten Auffassungen ermöglicht somit letztlich die Unterscheidung zweier Arten des Denkens, der Aufmerksamkeitslenkung und der Wahrnehmung, wie auch William James dazu anmerkt: „The thing thought of is unquestionably the same, but it is thought twice over in absolutely different psychoses, – once as an unbroken unit, and again as a sum of discriminated parts. It is no tone thought in two editions, but two thoughts of one thing“20. Diese sich zunächst gegenüberstehenden Diskurse der der Wahrnehmungskritik überkreuzen sich aber in einigen nicht unwichtigen Punkten. So spielt in beiden wahrnehmungskritischen Diskursen das Prinzip der Reflexivität eine große Rolle: Dadurch, dass das Funktionieren alltäglicher, unbewusster Wahrnehmungsvorgänge jeweils kritisch hinterfragt wird, werden diese durch die Forderung nach einer abweichenden Wahrnehmung zuallererst sichtbar. Zum anderen werden paradoxerweise in beiden Fällen zum Teil dieselben Künstler erwähnt, die stellvertretend für die jeweilige Auffassung (etwa der Ablehnung der klassischen geometrischen Zentralperspektive in der Malerei) stehen: So ist es etwa der Maler William Turner, der für beide Richtungen der Argumentation eingenommen wird – einerseits innerhalb der Theorie des unschuldigen Auges von John Ruskin, als auch andererseits in der wahrnehmungskritischen Schrift „La perception du changement“ von Henri Bergson, die hingegen das Moment des Beweglichen, Veränderlichen innerhalb einer jeden Wahrnehmung betont. Die Voraussetzungen, auf denen beide Diskurse aufbauen, versuche ich mit der Thematisierung der zunächst für die meisten Kunsttheorien und das

19 Ebd., 174. 20 James 1950, Bd. 1, 489.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 41

Verständnis der Selektivität jeden Wahrnehmungsvorganges eminent wichtigen psychologischen Sehtheorien, hauptsächlich derjenigen von Hermann von Helmholtz (2.1.1) zu schaffen. Folgende Fragen sollen dabei jeweils im Mittelpunkt der einzelnen Untersuchungen dieses Kapitels stehen: Wie wird das Sehen selbst beschrieben, wo sind die Grenzen des Sehens zu ziehen, beispielsweise: Gehört der Teil der Erinnerungen, des Denkens innerhalb einer Wahrnehmung ebenfalls noch zum Sehen selbst? Wird von einer dem Wahrnehmungsvorgang inhärenten Selektivität ausgegangen und was genau unterliegt der ökonomischen Arbeit innerhalb des Sehvorgangs? Wird Sehen als ein zu erlernendes Sehen gefasst und welche Anteile der Wahrnehmung sind bereits vorstrukturiert? Sind reine Wahrnehmungen, das heißt die Trennung des Sehens vom Tastsinn und dem Fluss der Zeit innerhalb der jeweiligen Theorie denkbar? Wie werden automatisierte Anteile bei jedem Sehvorgang gefasst, was wird dabei jeweils übersehen und wie sähe jeweils ein Anders-Sehen aus und wie wird es in seiner ästhetischen und bedeutungsschaffenden oder -verändernden Funktion bewertet? Zunächst ist die wissenschaftliche Ausgangslage in der Mitte des 19. Jahrhunderts günstig für die analytische Trennung der einzelnen Sinnesleistungen. Dies kann man zwar als ein ähnliches Phänomen bereits im Empirismus beobachten, nur wird sie im 19. Jahrhundert mit der beginnenden Zeitalter der empirischen Psychologie bereits unter experimenteller Beobachtung der Wahrnehmungsorgane durchgeführt. Die Empfindungen des Menschen werden jetzt messbar gemacht, wie sich an den quantitativen Wahrnehmungsstudien Fechners und Herbarts beobachten lässt. Dies korrespondiert mit den innerhalb der Wahrnehmungstheorien angestellten Einzeluntersuchungen der Sinne und Organe des Körpers. Beispielhaft kann das Werk Ernst Machs genannt werden, der eine Dekomposition zusammenhängender Objekte und Entitäten vornimmt, um auf das zerfallende Prinzip der Synthesen aufmerksam zu machen und ein neues, nur durch Gewohnheiten und Ökonomien verbundenes Konzept des Zusammenhangs der Wahrnehmungsdaten zu schaffen. Zusammengesetzte Vorstellungen, wie beispielsweise der Begriff vom ‚Ich‘, dienen der Theorie Machs zufolge hauptsächlich einer Ökonomie des Denkens und damit des Wiedererkennens grundlegender Einheiten. Atomistische Theorien des Empirismus werden hier wieder aktuell. Vielfach, wenn auch nicht bei Mach, geht damit wiederum eine Loslösung des Gebietes des Sehens von den anderen Sinnes-

42 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

leistungen, vor allem des im 18. Jahrhundert dominierenden Tastsinnes, einher. Es kommt nun vielerorts zu einer immer stärker sich formierenden Autonomie des Sehens, einer ideellen Konstruktion, bei welcher die Hilfswerte des korrigierenden Tastsinns in ihrer Signifikanz wegfallen und das Auge leichter Irrtümern verfalle: „The loss of touch as a conceptual component of vision meant the unloosening of the eye from the network of referentiality incarnated in tactility and its subjective relation to perceived space“21. Nicht umsonst beschäftigt man sich im 19. Jahrhundert intensiv mit optischen Täuschungen (welche die Wahrnehmung aufgrund vorheriger, d.h. zeitlich vermittelter, Eindrücke verzerren) und entoptischen Phänomenen, die auftauchen sowie wieder vergehen und welche sich genau aus einem reinen Sehen und der impliziten Abwendung vom Tastsinn schöpfen. 2.1.1 Die Psychologie des Sehens: Die Sehtheorie Johannes Müllers und das „Schwanken“ bei Hermann von Helmholtz Der Einfluss der physiologischen und psychologischen Theorien über das Sehen, etwa von Johann Purkinje, Johannes Müller und vor allem Hermann von Helmholtz auf die verschiedensten Problembereiche, wie das der Aufmerksamkeit und das damit verbundene Phänomen der Selektivität innerhalb eines jeden Wahrnehmungsvorganges, ist bis weit ins Neunzehnte und bis zum Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts hinein spürbar, etwa bis in die Theorien William James’. Hierbei ist der Einfluss dieser und anderer deutscher Wissenschaftler vor allem in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch international maßgeblich22. Diese Forschungen auf dem Gebiet der Optik sind im Anschluss von hoher Wichtigkeit für künstlerische Fragestellungen, in welchen an die Entdeckungen im Bereich der Physiologie und Psychologie des Sehens angeknüpft wird, die sich von den im 18. Jahrhundert entworfenen Theorien eines unkörperlichen und unvermittelten Wahrnehmens absetzen. So ist nach Crary das Aufkommen von Theorien des subjektiven Sehens, „the notion that our perceptual and sensory experience depends less on the nature of an external stimulus than on the composition and functioning of our sensory apparatus […] one of the conditions for the historical emergence of notions of autonomous vision, 21 Crary 1991, 19. 22 Vgl. Cugini 2006, 35ff.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 43

that is, for a severing (or liberation) of perceptual experience from a necessary relation to an exterior world“23. Im Hinblick auf die ‚poietische Wende‘, das Aufgeben der Vorstellung von einer stabil erfahrbaren Außenwelt unabhängig von der sinnlichen Erfahrung, ist der Einfluss des Physiologen und Biologen Johannes Müller (1801-1858) von einiger Bedeutung. In seiner Schrift „Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen“ aus dem Jahre 1826 bemerkt Müller die aktive und immanente Erzeugung der visuellen Empfindungen des Menschen aus der Leistung der Sinnesorgane selbst. Müller behandelt das Funktionieren des Auges zunächst unter einer auf das nach außen abgeschlossene und organische Wirken beschränkten Perspektive. Das Auge erhalte demnach ausschließlich mannigfaltige ‚Reize‘ aus einer für die Untersuchung vernachlässigbaren Außenwelt – und auch im Zusammenspiel mit der weiteren organischen ‚Innenwelt‘ –, die es ausschließlich nach seinen eigenen Gesetzen, das heißt im Falle des Gesichtssinns, in Licht- und Farberscheinungen umwandelt: „Es ist gleichviel, wodurch man das Auge reize, mag es gestoßen, gezerrt, gedrückt, galvanisirt werden, oder die ihm sympathisch mitgetheilten Reize aus andern Organen empfinden, auf alle diese verschiedenen Ursachen, als gegen gleichgültige und nur schlechthin reizende empfindet der Lichtnerve seine Affection als Lichtempfindung […] Die Art des Reizes ist also in Beziehung auf die Lichtempfindung überhaupt ein durchaus Gleichgültiges, sie kann nur die Lichtempfindung verändern. Einen andern Zustand als Lichtempfindung in der Affection, oder Dunkel in der Ruhe giebt es für die Sehsinnsubstanz nicht.“

24

Müller nimmt insbesondere eine Eigentätigkeit der schon genannten Tiefenschicht der ‚Sehsinnsubstanz‘ an, die unabhängig von äußeren Einflüssen Schauplatz für allerlei phantastische Gesichtserscheinungen, d.h. leuchtende Bilder, sich verändernde Figuren oder vielgestaltige Muster sein kann. Solche Phänomene werden nicht etwa erst auf der äußeren Netzhaut wahrgenommen, sondern auf einer viel weiter im Inneren des Auges liegenden Ebene. Die Unterscheidung der phantastischen von tatsächlich existierenden Phänomenen sei nun mitunter laut Müller gar nicht einfach

23 Crary 1999, 12. 24 Müller 1826, 5.

44 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

durchzuführen und könne letztlich nur dem Verstand zukommen. So könnten etwa selbst noch Blinde, die in früher Jugend in der Lage zu sehen waren, solchen aus der Sehsinnsubstanz kommenden Gesichtserscheinungen ausgesetzt sein. Der Physiologe geht neben den von außen kommenden Reizen ebenso von einer Wirkung der anderen Sinnesleistungen und anderer Organe des Körpers auf den Sehsinn aus: Heftige Verdauungsbeschwerden etwa könnten beispielsweise leuchtende Lichteffekte im Augeninneren hervorrufen. Es kommt hier zu einer systemischen Abschließung des organischen und geistigen Wirkens von äußeren Einflüssen. Über Fragen nach Erkenntnisproduktion oder die Generierung von Wissen über die Außenwelt schweigt sich Johannes Müllers hingegen aus. So sei es bei der von Müller vorgetragenen Betrachtungsweise „für den Sinn gleich, ob seine Affection von innen oder außen erregt werde, das Auge sieht in beiden Fällen Licht und Farben“25. Dem Verstand komme es im Folgenden zu, den Gesichtserscheinungen ein Mehr oder Weniger an Objektivität zuzuschreiben. Im Gegensatz zu nativistischen Theorien ist hier eine Umkehrung der Prämissen von Wahrnehmung auf ein verkörperlichtes, durch die jeweiligen Umstände bedingtes Subjekt beabsichtigt. So werden, wie auch Helmholtz in Bezug auf das Auge bestätigt, nur auf verschiedene Weisen spürbare Wirkungen auf der Netzhaut wahrgenommen, niemals Abbilder äußerer Objekte. Es gibt somit auch keine zwingende Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der inneren Empfindung eines Reizes und der äußeren Einwirkung durch einen Gegenstand – daher ist die Ablösung mimetischer Poetiken nach der Aufgabe von Kants Epistemologie nun auch philosophisch begründet. Das Sehen wird somit, wie Annika Lamer zusammenfasst, „neu definiert als die Fähigkeit, Sinneswahrnehmungen zu erfahren, die nicht notwendigerweise einen Bezugspunkt in der äußeren Welt haben“26. Gleichzeitig kommt es aber durch eine solche Abschließung der Leistungen eines Sinnesorgans neben einer revolutionären Sicht auf das Funktionieren des Auges auch zu einer Loslösung des Sehens aus dem Prozess des Lebens, der intellektuellen Erkenntnisproduktion und aus dem ganzheitlichen Wirken der Sinne, die zudem noch vor allem das Hören und Tasten umfassen. Im Folgenden spielt auch verstärkt der psychologische Faktor

25 Ebd., 47. 26 Lamer 2009, 31.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 45

beim Sehen eine entscheidende Rolle: „Bis 1860 kam die von den meisten Physiologen geteilte Erkenntnis hinzu, dass die Konzentration auf optische und nervliche Aspekte zur Erklärung der Wahrnehmungsprozesse zu kurz greife, und der Anteil der Psyche an den Wahrnehmungsprozessen wurde vermehrt in physiologisch-optische Untersuchungen einbezogen“27. Einer der einflussreichsten deutschen Naturwissenschaftler, Hermann von Helmholtz (1821-1894), verbindet in seinen Schriften, dem in Königsberg gehaltenen Vortrag „Ueber das Sehen des Menschen“ (1855) und der Rede „Die Tatsachen in der Wahrnehmung“ (1878) philosophische und naturwissenschaftliche Positionen über das menschliche Sehen im Anschluss an die Erkenntnisphilosophie Immanuel Kants. Die damit verbundene Auffassung, die Dinge richteten sich nach unserer Erkenntnis, ist hier spezifisch wahrnehmungstheoretisch, nicht aber transzendentalphilosophisch zu verstehen. Der überlieferten Tradition des Gegensatzes von empiristischen und nativistischen Theorien nach spricht sich Helmholtz zunächst klar für erstere und deren Auffassung von einer ursprünglichen tabula rasa des Geistes aus: Das Sehen eines Menschen muss, wie schon vorher von John Locke und George Berkeley angenommen, zunächst über das allmähliche Gewinnen von Erfahrungswerten erlernt werden. Helmholtz setzt sich demgegenüber aber in nicht unerheblicher Weise von den vorherrschenden Gemeinplätzen des Empirismus ab. Sehen wird von Helmholtz, wie vor allem im „Handbuch der physiologischen Optik“ (1867) im Kapitel „Die Lehre von den Gesichtswahrnehmungen“ dargelegt wird, im Unterschied zum Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts und vor allem den Nativisten, als eine Vermittlungsleistung des Subjekts selbst bestimmt, in der insbesondere der Mechanismus des Medialen in den Mittelpunkt des Interesses tritt. Helmholtz geht dabei zunächst von einer klassischen Zweiteilung von erkennendem Subjekt und einem erkannten Objekt der Außenwelt aus. Wie schon Johannes Müller nimmt er an, dass das Sehorgan, das er auch als einen ‚Apparat‘ bezeichnet, selbständig Eindrücke hervorbringt. Das Vermittelnde selbst produziert somit die Bedingungen der Objekte erst mit. Die von ihm angenommenen Gegenstände der Außenwelt werden demnach nicht einfach im Inneren des Menschen dupliziert. Vielmehr sei es so, „[d]ass die Art unserer Wahrneh-

27 Cugini 2006, 61.

46 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

mungen ebensosehr durch die Natur unserer Sinne, wie durch die äusseren Objecte bedingt“28 sei. Wahrnehmen ließen sich somit nur gewisse regelmäßige Wirkungen der Außenwelt auf den Körper und das Bewusstsein (wovon Helmholtz in expliziter Weise aber kaum spricht). So treten durch physische Einflüsse, wie Druck auf das Auge – ganz im Anschluss an Müller – zunächst Lichteffekte im Sehfeld auf: „dass die Mittel, durch welche wir im Auge Lichtempfindung erregen, Stoss, Druck, mechanische Misshandlung oder elektrische Ströme, wenn sie auf irgend einen Nervenapparat wirken, immer dessen Thätigkeit erregen; wir nennen sie deshalb Reizmittel für die Nerven“29. Das vermittelnde Medium der Sinnesnerven wird so mit einer ihm immanenten medialen Eigentätigkeit versehen, die eine repräsentationslogische Auffassung vom Sehen und dessen Transparenz letztendlich unmöglich macht. Täuschungen der Sinne können demnach bei jedem Wahrnehmungsvorgang auftauchen und werden auch trotz eines besseren Wissens nicht immer aufgelöst. So dreht sich beispielsweise bei Schwindel, Betrunkensein oder Fieber das Gesichtsfeld, ohne dass dies die äußeren Objekte auch tun oder dies vom Menschen überhaupt beeinflusst werden kann. Es würden also, so Helmholtz, vom Menschen lediglich die Wirkungen auf das Sinnesorgan wahrgenommen – und eben nicht die Gegenstände der Außenwelt in ihrer unmittelbaren Gegebenheit. Die Wahrnehmung der Welt richtet sich damit immer nach dem organischen Wesen des Wahrnehmenden. Es existiert somit zumindest in der Theorie eine unendliche Anzahl von Anschauungsbildern. Die Vorstellung eines einzelnen, gleich bleibenden und isolierten Körpers hingegen kann nur im Bereich des Begrifflichen, das heißt im intellektuellen Wiedererkennen bestehen. Diese Wirkungen auf das Sehorgan dienen gleichsam als geistiges Zeichen bzw. wie Helmholtz genauer ausführt, als Symbole für das, was sich in der Außenwelt abspielt30. Im Gegensatz zu älteren Sehtheorien bedeutet Sehen für Helmholtz die Wahrnehmung eines Subjekts mit zwei beweglichen Augen, die sich der Umwelt anpassen können und sich je nach Interesse akkomodieren. Die Art

28 Helmholtz 2006, 99. In der Rede von 1878 spricht er davon, dass von der ‚Art des Apparats‘, d.h. von unseren Organen abhänge, wie etwas als Wirklichkeit erlebt werde. Vgl. Helmholtz 1878, 115. 29 Helmholtz 2006, 96. 30 Vgl. Helmholtz 1867, 442.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 47

der visuellen Wahrnehmung beschreibt Helmholtz in Analogie zur camera obscura zunächst aber als ein bloßes Registrieren der Eindrücke auf der Netzhaut, ein „Aggregat farbiger Flächen im Gesichtsfelde“31. Dies alleine wäre noch kein Sehen im eigentlichen Sinne, sondern decke lediglich den physiologischen Bereich der Sehtheorie ab. Immer sei das Auge zudem von Erfahrungswerten und Gedächtnisresten früherer Erfahrungen geleitet: „Das gegenwärtige Bild ruft in uns wach die Erinnerung an alles, was in früheren Gesichtsbildern Aehnliches sich gefunden hat, und auch an alles, was von sonstigen Erfahrungen mit diesen früheren Gesichtsbildern regelmässig verbunden war, also zum Beispiel die Anzahl von Schritten, die wir machen müssen, um an einen Menschen heranzukommen“32. Nach Helmholtz besteht die Wahrnehmung aus einem Zusammenspiel aus Vorstellung (Gedächtnisbildern, nicht-aktuellen, aus der Erfahrung gewonnenen Daten) und Perzeption (den aktuell wahrgenommenen ‚Rohdaten‘). Dabei setzt sich die aktuelle Wahrnehmung, das Anschauungsbild, jeweils aus Perzeption und Vorstellung zusammen, ohne dass die jeweiligen Anteile darin für den Menschen bewusst geschieden werden würden. Der so erfahrene Sinneseindruck erlaubt an diesem Punkt keine analytische Trennung von vergangener Erfahrung und aktueller Perzeption mehr. In den meisten Fällen liegt die Hauptquelle der Wahrnehmung der Auffassung Helmholtz’ nach aber in der Erinnerung und Erfahrung33. Es kommt nun, im Gegensatz etwa noch zur Position Müllers, die Psychologie als weiterer vermittelnder Faktor bei dem Nachvollzug des Prozesses des menschlichen Sehens ins Spiel. Es ist also insbesondere der Erwachsene, im Gegensatz zum erfahrungsärmeren Kind, bei welchem das auf Wiedererkennen beruhende Sehen weitgehend Überhand genommen hat. Als ein prägnantes Anschauungsbeispiel für die Gewichtung der jeweiligen Anteile des Sehens dient Helmholtz die Orientierung einer Person in einem dunklen, aber ihm bereits bekannten Zimmer: Hier verschiebt sich das Sehen von den eigentlichen sinnlichen Wahrnehmungsdaten, das lediglich Blindheit verspricht, auf die bloße Vorstellung von den Dingen hin. So könne man etwa in dem Zimmer befindliche Gegenstände schon anhand kleinster Anhaltspunkte wieder finden, wenn man auch nur eine ungefähre

31 Helmholtz 1921, 122. 32 Helmholtz 1867, 632. 33 Vgl. ebd., 437.

48 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Ahnung von ihrem Aufenthaltsort hätte. Recht wenig werde in diesem Falle im eigentlichen Sinne gesehen. Vielmehr werden die Dinge hier zu einem großen Teil anhand der kleinsten erkennbaren Zeichen lediglich wiedererkannt34. Die erwähnten Erfahrungswerte sind jedoch angelernt und erworben, was sich am deutlichsten bei Wahrnehmungen der nicht intuitiv erfassten räumlichen Entfernung zeigt – nicht angeboren, wie es der Nativismus des 17. Jahrhunderts noch annahm. Dennoch herrscht keine vollständige Klarheit, denn sie sind eben auch nicht durch die Vernunft eingegeben bzw. willkürlich steuerbar. Zentral für ein solches auf Erfahrung beruhendes Sehen ist Helmholtz’ Auffassung eines automatisierten und schlechthin unbewussten Schlusses (in Helmholtz späteren Schrift von 1867 als ‚inductiver‘ Schluss bezeichnet), das heißt dem unbewussten Einfluss von Erfahrung und Gewöhnung auf das Sehen: „nur durch Schlüsse können wir überhaupt das erkennen, was wir nicht unmittelbar wahrnehmen […] Vielmehr hat er [der unbewusste Schluss, R.S.] mehr den Charakter eines mechanisch eingeübten, der in der Reihe der unwillkührlichen Ideenverbindungen eingetreten ist, wie solche zu entstehen pflegen, wenn zwei Vorstellungen sehr häufig miteinander vorgekommen sind“35. Als zwei innerhalb der Wahrnehmung miteinander assoziierte Vorstellungen, von denen Helmholtz hier spricht, nennt er erstens die Empfindung innerhalb der Sehnerven und zweitens die dazu gehörige äußere Ursache, die in der Regel gemeinsam und für den Menschen unauflöslich verknüpft auftreten. Beide werden demnach durch mehrfaches Aufeinandertreffen miteinander assoziiert und nachträglich als eine verknüpfte Vorstellung gespeichert36. So wird etwa die Verbindung

34 Vgl. ebd., 436. 35 Helmholtz 2006, 112. 36 Hier ist die Nähe zu den Auffassungen von Automatismen der Wahrnehmung durch die Empiristen Locke (und dessen Auffassung der habits) und Berkeley mit dessen Begriff der Assoziation, etwa zwischen Empfindungen des Seh- und Tastsinnes, auffällig. Helmholtz nimmt den Vergleich vorweg, wenn er bemerkt, dass nach Berkeley die induktiven Schlüsse, der Einfluss der Erfahrung auf die aktuelle Wahrnehmung nicht vom Subjekt bemerkt werden (vgl. Helmholtz 1867, 455). Er kritisiert aber dessen idealistische Prämisse, das Objekt müsse mit seiner Vorstellung gleichartig und somit nicht mehr als ein geistiges Wesen sein.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 49

zwischen einem visuellen Eindruck, der innerhalb des Sehapparates verortet wird und der dazu gehörigen äußeren Örtlichkeit eines Objektes nur durch langjährige Einübung offenbar – und werden somit überhaupt Bedeutungen und Orientierung ermöglicht. Nur so könne räumliches Sehen funktionieren, das vom Menschen durch wenige Hinweise unbewusst erschlossen werden muss. Die physiologisch und psychologisch grundierte Sehtheorie Helmholtz’ bietet somit eine Antwort auf die übergeordnete Frage nach den Möglichkeiten von Bedeutung und Erkenntnis. Helmholtz’ semiotische Einlassungen seiner Sehtheorie beschreiben sowohl eine eher symbolische als ikonische bzw. abbildliche Auffassung vom Zeichencharakter der Sehdaten und fragen darüber hinaus nach der Möglichkeit von Bedeutungsschaffung im alltäglichen Leben des Menschen: „his ontology is a physics, but his epistemology is a semiotics. His theory of unconscious inferences is finally an attempt to provide a regulated, differential system of meaning in spite of our remove from direct experience of the world“37, so Jonathan Crary. Allein über einen solchen unbewusst ablaufenden Mechanismus kann sich das Sehen, vor allem das räumliche Sehen, nach und nach perfektionieren. Dies geschehe laut Helmholtz über das willentliche Experimentieren seit den frühesten Kindertagen: „Erst indem wir unsere Sinnesorgane nach eigenem Willen in verschiedene Beziehungen zu den Objecten bringen, lernen wir sicher urtheilen über die Ursachen unserer Sinnesempfindungen“38. Dies werde etwa durch die Veränderung der Wahrnehmungsweise eines Gegenstandes, also zum Beispiel Bewegung oder eine Veränderung der Umstände bewirkt, unter denen ein sich dann im Verlauf immer konstanter darbietender Gegenstand wahrgenommen wird. Nur darüber bilden sich Erfahrungen, die als Erinnerungen und verbleibende ‚Gedächtnisreste‘39 immer wieder in dieser Weise für aktuelle Wahrnehmungen abgerufen und nutzbar gemacht werden können. Doch auch hier wird das Experimentieren nicht unbedingt als ein Modus reflexiven Denkens verstanden. Die daraus gewonnenen Erfahrungswerte erscheinen, so Helmholtz, im Laufe der Zeit als so ‚natürlich‘, dass die eigentliche Vermitteltheit der Welt durch die konstant ablaufenden

37 Crary 1999, 321. 38 Helmholtz 1867, 452. 39 Vgl. Helmholtz 1921, 125.

50 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Wahrnehmungsmechanismen verschleiert wird. Die medialen Bedingungen des Sehens und die Vorgänge der Bedeutungsproduktion werden in der Regel nicht thematisch. Die theoretisch als unendlich gedachten Wahrnehmungsformen werden vielmehr im Ausbilden von Sehgewohnheiten qualitativ wie quantitativ reduziert und erhalten den Schein von Objektivität, indem das Bekannte immer wieder mechanisch auf aktuelle Wahrnehmungen angewendet wird. Diese eigentlichen, reinen Empfindungsdaten, die Helmholtz an diesem Punkt systematisch und als Negation der erfahrenen Wahrnehmungsweise annehmen muss, werden somit nicht mehr gesehen. So stellt er fest, „dass wir ausserordentlich gut eingeübt sind, aus unseren Sinnesempfindungen die objectiven Beschaffenheiten der Objecte der Aussenwelt zu ermitteln, in der Beobachtung der Empfindungen an sich aber vollständig ungeübt“40. Dies verhindert jener mechanisch wirkende Schluss, der die von ihm angenommene reine Wahrnehmung beständig überschreibt. Das alltägliche Sehen wird von Helmholtz, so ist zu erkennen, als ein durchgehend selektiver und handlungsdienlicher, schlechthin also automatisierter Prozess verstanden, so „dass wir von unseren Sinneswahrnehmungen beim unbefangenen Gebrauch der Sinne nur das berücksichtigen, was uns Aufschluss über die Aussenwelt giebt“41. Alles andere, was keine Bedeutung für die Formierung eines äußeren Objekts hat und zudem nicht in ein der Wahrnehmung eigenes, auch zeitlich verstandenes Kausalitäts- oder Relationsverhältnis einzugliedern sei, werde schlechthin vernachlässigt und ignoriert. Doch auch die Auffassung vom Sehen selbst wird weiter verkompliziert. So werde weiterhin mitnichten alles registriert, was auch gesehen werde. Wie Helmholtz feststellt, würden die innerhalb des Sehfeldes unfokussierten Objekte erst als binokulares Doppelbild registriert, wenn man tatsächlich seine Aufmerksamkeit darauf richtet, was aber so gut wie nie bemerkt werde. Auch das Vorhandensein des blinden Flecks bleibt unbeachtet, da das Gehirn diese Leerstelle selbständig und automatisch um eine sich fortschreibende Form und Farbe fortführt und so das NichtGesehene nach seinen ihm eigenen Gesetzen ergänzt. Auch das bloße Wissen um optische Täuschungen ist noch nicht gleichbedeutend mit deren Auflösung, wie sich in den Phänomenen optischer Täuschungen zeigt. Als Vermittlung für Erkenntnis bleibt dem Menschen allerdings kein anderes

40 Helmholtz 1867, 434. 41 Helmholtz 2006, 109.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 51

Mittel als seine eigene Wahrnehmung. Dieser setze gerade mithilfe dieser sinnlichen Erfahrungen sein Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens als Bedingung der Begreifbarkeit der Welt. Der in der Relation von Wahrnehmung und Wissen eigentlich prekäre Modus der Wahrnehmung bleibt letztlich konstitutiv für die Zusammenstellung einer uns umgebenden ‚Wirklichkeit‘. Nimmt man die vielen Einzelbeobachtungen zusammen, so fällt auf, dass hier bereits ein unwillkürlicher Wahrnehmungsautomatismus auf vielen Ebenen des alltäglichen Sehens formuliert ist. Diesen kritisiert zu Recht auch Jonathan Crary, indem er die mechanische und starre Wirkungsweise des unbewussten Schlusses und der allgemeinen Symboltheorie im System von Helmholtz brandmarkt42. Doch eine solche Kritik kann sich nur auf einen Teil der insgesamt komplexen und teilweise widersprüchlichen Aussagen Helmholtz’ in seiner späteren Phase beziehen. Denn auch Helmholtz skizziert neben dem wenigstens teilweise als aktiv aufgefassten Experimentcharakter der menschlichen Wahrnehmung bereits die Möglichkeit einer Art des Anders-Sehens. Etwa wenn er schreibt, dass man die vor sich angeordneten Objekte beispielsweise „nur indirect erblicken mit den Seitentheilen der Netzhaut, oder nicht mit beiden Augen fixieren, oder mit dem Blicke nicht wandern, oder eine ungewöhnliche Kopfhaltung anwenden“43 könnte. So könne man sich durch die Einnahme solch ungewöhnlicher Blickwinkel von der mechanistischen Auffassung des induktiven Schlusses befreien. Hier entstünden Ambivalenzen und Ambiguitäten des Sehens, die im Falle gewöhnlicher Wahrnehmung und den Regeln der Gestalttheorie nach in bekannte Muster überführt werden. Gelänge dies aufgrund von veränderten Bedingungen des Wahrnehmungsvorgangs hingegen nicht, so finde nach Helmholtz ein Schwanken44 (siehe auch in Kapitel 1) zwischen verschiedenen Interpretationen der Anschauung bzw. zwischen Vorstellung und Perzeption statt. Bei einer ungewöhnlichen Haltung des Kopfes würden beispielsweise insbesondere die identifizierten Objekte unklar wahrgenommen und könnten nicht in vertraute Gestalten übersetzt werden. So

42 Vgl. Crary 1999, 321f. 43 Helmholtz 1867, 439. 44 Vgl. Helmholtz 1867, 440.

52 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

kann sich der Mensch beispielsweise drehen, auf den Kopf stellen, einen starren Blick einnehmen, aus dem Augenwinkel schauen und damit die ‚Außenwelt‘ eigenständig, wenngleich nur minimal, verändern. Hier spielt entgegen den vorherrschenden, immer gleich ablaufenden Mechanismen insbesondere eine andere – und vor allem reflexive – Aufmerksamkeitslenkung eine Rolle, in welchem der Einfluss von Gewohnheit, Einübung und Erfahrung bis zu einem gewissen Grade minimiert sind: „Wie durch Erfahrung und Einübung, die unter veränderten Umständen [auch beispielsweise bei einer Krankheit des Auges, R.S.] angestellt sind, die Beurtheilung der Sinnesempfindungen verändert und den neuen Bedingungen angepasst werden kann, so dass man theils lernt, Einzelheiten der Empfindung, die sonst nicht beachtet werden, und keine Anschauung vom Objekt erzeugen, für eine solche nutzbar zu machen“45. An einem Ort der Störung des gewöhnlichen, zielorientierten und unbewussten Sehens kann die Wahrnehmung zu einem gewissen Teil selbstreflexiv und das Wirken des gewohnten, mechanischen Schlusses auf die Außenwelt gestört werden. Insgesamt handelt es sich in diesem Fall um eine aktive, durch den menschlichen Willen gesteuerte Wahrnehmungslenkung, die neben den unwillkürlichen und automatischen Schlüssen des Bewusstseins ebenfalls über das Sein der Dinge mitbestimmt. Erst innerhalb des Schwankens zwischen zwei Aktualisierungen von Bedeutung kann überhaupt das Auftreten eines irgendwie ‚Neuen‘ oder ‚Anderen‘ im Gegensatz zum Gewohnten gedacht werden. Es ist genau diese Differenz zwischen den automatisch ablaufenden Schlüssen und dem selbständigen Hintergehen derselben, dieser von Helmholtz als ‚Spielraum in der Deutung’46 bezeichnete Bereich des Ungeübten und Unbegrifflichen, der für die Kunst im Folgenden interessant werden wird und für grundlegende Verschiebungen sorgt. So kann auch das Verhältnis zwischen Zeichen und dessen Interpretation in einem produktiven Schwanken und Oszillieren verbleiben und das dadurch hervorgerufene zeitweilige Zurückgeworfensein auf die Materialität des Wahrgenommenen verschiedene Lesweisen ermöglichen: Das Schwanken ist hier immer mit einer Auffassung einer Dynamik des Hin und Her, der aktiven Zerstörung automatischer Schlüsse und der (Neu-)Produktion von Bedeutung verbunden. Doch auch Helmholtz bringt dies noch nicht mit künstlerischen Ver-

45 Helmholtz 1867, 431. Meine Kursivierung. 46 Vgl. Helmholtz 1867, 439.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 53

fahren in Verbindung, ganz im Gegenteil: Zu einer gegenläufigen Anwendung der physiologisch orientierten Kunsttheorie durch Helmholtz selbst („Optisches über Malerei“, 1876) und seiner Forderung nach Klarheit und Symmetrie soll in Kapitel 4 näher eingegangen werden. Zunächst möchte ich jedoch einen Schritt zurück machen und auf den Mythos des reinen Sehens eingehen, der sich im 17. und 18. Jahrhundert ausbildet und für die folgende Diskussion sowohl über Wahrnehmungstheorien des 19. Jahrhunderts allgemein als auch über die Möglichkeit eines anderen Sehens von einiger Relevanz ist.

2.2 D AS REINE S EHEN ALS REDUKTIONISTISCHER ‚M YTHOS ‘ DER K UNSTTHEORIE 2.2.1 Das Entstehen der Vorstellung des reinen Sehens bei John Locke und George Berkeley Die Vorstellung eines reinen Sehens beginnt mit der Dunkelheit und einem Augenaufschlag, auf den erste und konfuse Eindrücke von Licht und Farben folgen. In „Naissance de la Clinique“ (1963) bezeichnet Michel Foucault das plötzliche, durch eine Augenoperation ermöglichte Sehen des Blindgeborenen als eine der faszinierendsten Denkfiguren für die Philosophen der Aufklärung. Es ist insbesondere das Phänomenen des ‚Fremden‘, mit der man sich zu dieser Zeit intensiv beschäftigt. So galten laut Foucault „le spectateur étranger dans un pays inconnu et l’aveugle de naissance rendu à la lumière“47 als die größten Mythen der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird etwa in den Figuren des Wilden und des Kindes der Ursprung der zivilisatorischen Entwicklung 47 Foucault 1963, 64. Mit dem Gedankenspiel des fremden Beschauers des unbekannten Landes beschäftigen sich unter anderem Schriften von Montaigne („Über die Kannibalen“), Voltaire („Micromegas“, „Zadig“, „Essais sur les moeurs“ und „Des sauvages“) und Chateaubriand. Hierin sieht Ginzburg (1999) ebenfalls eine Kontinuität mit der Verfremdungstheorie Šklovskijs, die sich über bestimmte literarische Techniken in den Schriften Tolstojs vermittelt und vor allem in der gesellschaftskritischen Lesart der Verfremdungstechnik anklingt, wie etwa bei Brecht.

54 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

vermutet und zugleich mit einem ‚reinen‘ Sehsinn analog gesetzt, der einen zentralen Faktor im Denkmodell der Aufklärung einnimmt. Diese rückwärts vorgenommene ‚Geburt der Wahrheit‘ resultiere, so Foucault, aus dem Ausstieg aus der kulturellen Überformung des Menschen und der Einnahme eines reinen, naiven Blickes auf die Dinge. Dies stellt letztlich eine Realität dar, die sinnlich erfahrbar oder wenigstens vorstellbar sei: „Quand il a dénoué ses parantés vieilles, l’oeil peut s’ouvrir au ras des choses et des âges; et de tous les sens et de tous les savoirs il a l’habileté de pouvoir être le plus malhabile en répétant agilement sa lontaine ignorance“48. Solche Ursprungsfiguren sind im Denken Foucaults zunächst sowohl erkenntnistheoretisch als auch epistemologisch zu verstehen und rufen offenbar auch einen wahrnehmungstheoretischen Hintergrund auf. Die Geschichte einer ‚Sichtbarwerdung‘ des Sehsinns beginnt nicht erst mit der Zeit der Aufklärung. Es bildet sich hier zunächst aber ein eigenständiger Diskurs der visuellen Wahrnehmung und der Leistungen der anderen Sinnesvermögen heraus. Das philosophische Programm des Empirismus beschreibt die Hinwendung zu den Bedingungen der Wahrnehmung des Menschen und das Aufgeben der Auffassung eines bloß rezeptiven Wiedererkennens der universellen, angeborenen ‚natürlich’ gegebenen Ideen (gemeinhin als Nativismus49 bezeichnet). Dieser Paradigmenwechsel auf die sinnlichen Erkenntnisbedingungen des menschlichen Subjekts darf sowohl als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur modernen Erkenntnisphilosophie als auch in Bezug auf spätere Wahrnehmungsästhetiken und die Kunsttheorien des Modernismus gelten. Die einzelnen Sinnesleistungen, so auch der Sehsinn, werden innerhalb der Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie analytisch von einander getrennt und deren spezifische Wirkungskraft innerhalb der daraus zusammengesetzten Erkenntnisleistung des Menschen, die zudem einer geschichtlichen Genese unterliegt, unter-

48 Foucault 1963, 64. 49 Der Nativismus, vertreten etwa von Descartes (vgl. Jay 1993, 69ff) und Leibniz, besagt, dass bestimmte Bilder, die sich bereits im Geist des Betrachters befinden, bei der Anschauung des jeweiligen Gegenstands direkt erzeugt werden. Sehen repräsentiert bzw. aktualisiert einer solchen Auffassung nach nur die universellen Ideen, die schon von Geburt an vorhanden sind. Das Sehen findet somit nicht als ein Aushandlungsprodukt zwischen Bewusstsein, Erinnerung, Imagination und Körper, sondern vielmehr nur innerhalb des Geistes statt.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 55

sucht. Innerhalb der Aufklärung bleibt hier das Paradigma des Fortschritts maßgeblich: Wahrnehmung wird als Entwicklung begriffen, die letztendlich auf ein Subjekt hinausläuft, das rationale Erkenntnis produziert. Die für spätere ästhetische Fragen zentrale Problematik des plötzlich die Augen aufschlagenden Blinden und der ursprünglichen kindlichen Wahrnehmung geht zurück auf John Lockes „Essay concerning Human Understanding“ (1690). Hier versucht Locke, erkenntnistheoretische Fragen im Gegenlicht des Nativismus neu zu stellen und diesen zu widerlegen. Der damals vorherrschenden Vorstellung von angeborenen Ideen setzt Locke den Gedanken eines eigenständigen Erwerbs der menschlichen Vernunft aus den Sinneserfahrungen entgegen. Dem entspricht eine Art genetische Entwicklungslogik der Wahrnehmung von einer ersten, zerstreuten und unverbundenen Wahrnehmung hin zu einem erfahrenen und distinkten Wahrnehmen von Unterschiedenem. Die allmählich sich ausbildende Erfahrung wird hier mit der Gewinnung von Erkenntnis gleichgesetzt. Im „Essay“ bekämpft Locke zunächst die Auffassung von den angeborenen Ideen des Nativismus, indem er den Geist des Menschen bei der Geburt als einen leeren Behälter auffasst, der nach und nach von außen mit Ideen, das heißt Sinneseindrücken von materiellen und immateriellen Dingen, gefüllt wird. Die am Beginn eines solchen Erfahrungsprozesses stehende Wahrnehmung eines Kindes geht beispielsweise zunächst noch ohne feste und klare Ideen und übergeordnete Vorstellungsmuster vor sich. Die an der Oberfläche dahinfließenden Eindrücke haben an diesem Punkt der menschlichen Entwicklung noch keine fest eingeprägten Erinnerungsspuren hinterlassen: „yet like floating Visions, they make not deep Impressions enough, to leave in the Mind clear and distinct lasting Ideas, till the Understanding turns inwards upon it self, reflects on its own Operations, and makes them the Object of its own Contemplation“50. So besitzt beispielsweise ein Blinder in Analogie zum Kind weder die angeborenen Ideen von Licht, noch von Farben. Diese müssten sich vielmehr, sollte er plötzlich sehen können, erst nach und nach über die sich wiederholenden Sinneserfahrungen selbst herleiten. Die Leistung des reinen Sehsinns, der bloßen visuellen Wahrnehmung unabhängig von jeglicher Erfahrung und dem Zusammenspiel mit den an-

50 Locke 2008, 57.

56 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

deren Sinnen, verdeutlicht Locke an folgendem Beispiel: Eine Kugel müsste über den Sehsinn, wäre die erfahrungsgemäße Zusammenarbeit mit dem Tastsinn ausgeschaltet, nur als flächiges Gebilde mit unterschiedlichen Licht- und Farbabstufungen, letztendlich also als zweidimensionale Scheibe wahrgenommen werden. Die Vorstellung einer reinen Wahrnehmungsleistung trennt Locke kategorisch von einem gewohnheitsmäßigen Sehen ab. Dieses funktioniert innerhalb eines ganzheitlichen Verstandesurteils und unter der Voraussetzung einer Zusammenarbeit aller Sinne. Hier, im bereits erfahrenen Sehen, würde die Kugel ohne weitere Probleme als dreidimensionale und plastische Figur erkannt werden. Das menschliche Sehen erfolgt so immer innerhalb von Parametern der bereits gemachten Erfahrungen und in Verbindung mit den anderen Sinnesqualitäten, vor allem dem Tastsinn. Die Ausbildung von Gewohnheiten der Wahrnehmung würde nun aber jene genuinen Unterschiede zwischen den Einzelsinnen verwischen: „doing things, by a custom of doing, makes them [die Vorgänge des Geistes, R.S.] often pass in us without our notice. Habits, especially such as are begun very early, come, at last, to produce actions in us, which often escape our observation“51. Ein solches gewohnheitsmäßiges Erkennen und Sehen entfaltet sich letztlich unbemerkt und unreflektiert – so wie etwa bei der Betrachtung eines Gegenstandes die kurzen Intervalle der Dunkelheit beim Blinzeln gar nicht bemerkt werden. Die ‚rein‘ visuellen Wahrnehmungen von Licht und Farbe hingegen werden durch das nachträgliche Urteilsvermögen unbewusst verändert, so dass die ‚reine’ Wahrnehmung von der Idee des Gegenstandes kaum bewusst geschieden werden kann. Rein visuelle Wahrnehmungserfahrungen könne es demnach in der Realität der menschlichen Erfahrung nicht geben, da Sehen letztendlich immer ein erfahrenes Sehen sei bzw. durch allmähliche Übung darauf hinausläuft. Zu jeder fokussierenden Wahrnehmung, d.h. der Erkenntnisproduktion, gehören also Leerstellen des Bewusstseins, zerstreute Bereiche, die Teil der Wahrnehmung sind, aber aufgrund der ausgebildeten Gewohnheiten jeweils kaum reflektiert werden. Die Erfahrung und die erworbenen Fähigkeiten lassen demgegenüber in ihrer letztendlichen Verknüpfung die Wahrnehmung der einzelnen, isolierten Sinnesqualität für die Erkenntnisleistung weitgehend wertlos erscheinen. Ein solches eingeübtes Sehen ist somit für Locke das für die Er-

51 Ebd., 86.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 57

kenntnisfähigkeit letztlich zentrale Sehen, da nur hier klare Vorstellungen entstehen können. John Locke skizziert die Problematik der Trennung eines erfahrenen von einem reinen, unerfahrenen Sehen – und deren jeweiligen Beziehungen – anhand eines Gedankenspiels, welches die Philosophen des 18. Jahrhunderts noch über viele Jahrzehnte hinweg beschäftigen sollte. Er behandelt innerhalb des Kapitels über die Wahrnehmungen („Of Perception“) die von dem irischen Wissenschaftler und Politiker William Molyneux (1656-1698) in einem Brief gestellte Frage, ob ein plötzlich sehender Blindgeborener eine Kugel von einem Würfel, die beide vor ihm liegen, durch das bloße Sehen unterscheiden könne. Eine solche Unterscheidung war dem Blinden selbstverständlich vorher nur durch den Tastsinn möglich gewesen. Gleichzeitig als heuristisches Modell und als Figur der Verunsicherung dient hier das Gedankenspiel des an den Augen operierten Blinden, der die Welt am Nullpunkt seiner Sinneserfahrungen zum ersten Mal zu Gesicht bekommt. Der Brief vom 7. Juli 1688 von Molyneux an Locke bleibt zunächst unbeantwortet und wird erst am 2. März 1692 von Locke wieder aufgenommen. Locke beantwortet die Frage im Anschluss, wie auch Molyneux selbst, negativ. Keinesfalls könne der plötzlich Sehende Blinde über den jungfräulichen Sehsinn die beiden vor ihm liegenden Dinge unterscheiden: „I shall here insert a Problem of […] Mr. Molineux, which he was pleased to send me in a Letter some months since; and it is this: Suppose a Man born blind, and now adult, and taught by his touch to distinguish between a Cube, and a Sphere of the same metal, and nighly of the same bigness, so as to tell, when he felt one and t' other, which is the Cube, which the Sphere. Suppose then the Cube and Sphere placed on a Table, and the Blind Man to be made to see: Quaere, Whether by his sight, before he touch'd them, he could now distinguish, and tell, which is the Globe, which the Cube. To which the acute and judicious Proposer answers, Not. For, though he has obtain'd the experience of, how a Globe, how a Cube affects his touch; yet he has not yet attained the Experience, that what affects his touch so or so, must affect his sight so or so; or that a protuberant angle in the Cube, that pressed his hand unequally, shall appear to his eye as it does in the Cube. I agree with this thinking Gent. […] in his answer to this Problem; and am of opinion that the Blind Man, at first sight, would not be able with certainty to say, which was the Globe,

58 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

which the Cube, whilst he only saw them: though he could unerringly name them by his touch, and certainly distinguish them by the difference of their Figures felt.“

52

Locke kommt zu diesem Schluss, da sich Seh- und Tastsinn beim Blindgeborenen aufgrund von fehlender Erfahrung noch nicht aufeinander beziehen lassen und diese auch nicht in einem Verhältnis einer bereits bestehenden ‚natürlichen‘ Harmonie zueinander stehen. Der jeweilige Seh- und Tasteindruck von Kugel und Würfel kann nicht in einer gemeinsam hergestellten Vorstellung zusammengeführt werden. Dennoch bleibt das Problem in dieser und anderer Form virulent, gerade da in ihm die Beziehung zwischen einem erfahrenen und einem durch das Gedankenspiel des Blinden fremden Sehens verhandelt wird. Das Molyneux-Problem wird in ähnlicher Weise auch einige Jahre später von George Berkeley in seinem „Essay towards a New Theory of Vision“ (1709) aufgegriffen. Darin knüpft Berkeley in seiner ebenfalls empiristischen Theorie an Fragestellungen Lockes an, wenn er sich gegen die Tradition einer mathematisch-geometrischen Auffassung vom Sehen, wie etwa in den optischen Schriften von Kepler, Descartes oder Newton positioniert. Berkeley stellt in seinem „Essay“ konsequenter noch als Locke die Frage, was der Sehsinn unmittelbar und unabhängig von den anderen Sinnen erfasst. Die einzelnen Sinnesleistungen werden von Berkeley im Unterschied zu Locke als völlig inkommensurabel gedacht, so dass das Sehen eine eigenständige Wirklichkeit der Dinge, unabhängig von einer festen äußeren Objektwelt und den anderen Sinnen, hervorbringt. Seh- und Tastsinn sind somit nur willkürlich, nicht notwendigerweise oder durch Ähnlichkeit miteinander verbunden. Lediglich die Gewohnheit53 suggeriert, so Berkeley,

52 Ebd., 84f. 53 Kritik erfährt Berkeley von Bergson in „Matière et Mémoire“, der einen grundlegenden Parallelismus von Seh- und Tastsinn annimmt. Alle Sinne seien demnach extensiv, d.h. an der Ausdehnung und somit Räumlichkeit beteiligt, nicht nur der Tastsinn. Vgl. Bergson 1991, 350f. Auch William James nimmt an, dass das Sehen an sich schon immer eine räumliche Komponente in sich trage, die von gegenseitigen Suggestionen von Breite und Tiefe innerhalb des Sehens ausgebildet werde (vgl. James 1950, Bd. 2, 212ff). Locke spricht hier in Bezug auf dasselbe Phänomen von dem Prinzip der ‚Assoziation‘. Später wird Helmholtz,

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 59

die jeweilige Zuordnung eines Wahrnehmungseindrucks zu einem Gegenstand der Außenwelt. Vor allem die Verbindung zwischen Seh- und Tastsinn spielt bei Berkeley in seiner Schrift über das Sehen eine herausgehobene Rolle, wenn dieser aufzeigt, dass Entfernungen und Größe von Gegenständen nicht im eigentlichen Sinne gesehen, sondern dem Sehsinn nur vom Tastsinn ‚suggeriert‘ und somit erst zusammen mit diesem wahrgenommen werden. Berkeley bezieht sich wiederum auf das von Molyneux gestellte Problem des Blinden, wenn er annimmt, die Daten von Entfernung und Größe der Gegenstände seien als reine Ideen des Tastsinns zu verstehen. Der ehemals Blinde des Molyneux-Problems würde, wenn er plötzlich wieder sehen könnte, „not consider the ideas of sight with reference to, or as having any connexion with, the ideas of touch“54. So beschreibt Berkeley den von ihm angenommenen erfahrungslosen Blick, ein eigentliches Sehbild unabhängig vom Tastsinn, als primitive und gegenstandslose Visualität von konfusen Farben und Formen. Der jungfräuliche Sehsinn wäre für den Operierten etwas vollständig Fremdes, für das er keine Begriffe finden und mit denen er nichts aus seiner Erfahrung Stammendes assoziieren könnte: „[T]he ideas of sight are all new perceptions, to which there be no names annexed in his mind: he cannot therefore understand what is said to him concerning them: and to ask of the two bodies he saw placed on the table, which was the sphere, which the cube? were to him a question downright bantering and unintelligible; nothing he sees being able to suggest to his thoughts the idea of body, distance, or in general of anything he had already known.“

55

Die Vorstellungen des Seh- und des Tastsinns wären bei dem plötzlich Sehenden, so Berkeley, noch nicht durch Gewohnheit miteinander assoziiert und würden innerhalb völlig unverbundener Reihen ablaufen. Ein NeuSehen der Welt durch den Blinden würde ein solches schon von Locke angenommenes erfahrenes Sehen komplett hintergehen bzw. als dessen Nullpunkt markieren. So würde etwa der Blindgeborene, wenn er plötzlich sähe,

wie gezeigt, in Bezug auf dasselbe Phänomen von unbewussten oder ‚induktiven‘ Schlüssen innerhalb der erfahrenen Wahrnehmung sprechen. 54 Berkeley 2007, 29. 55 Ebd., 49.

60 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

ganz anders über die Größenverhältnisse von Gegenständen urteilen als der geübte Seher. Er würde die Vorstellungen des Gesichtsinns nicht in Relation zum Tastsinn betrachten können – so dass er folglich „would judge his thumb, with which he might hide a tower or hinder its being seen, equal to that tower, or his hand“56. Ähnlich wie Locke begreift Berkeley als eigentliche Qualitäten des Sehsinns nur, wie er mehrmals in seinem Essay betont, „lights and colours, with their several shades and variations“57. Der reine Seheindruck, der wiederum erst über die Vorstellung des operierten Blinden denkbar wird, kann so von diesem auch nicht mit bereits existenten Vorstellungen aus der Erfahrung verknüpft werden und bleibt letztendlich konfus und erkenntnisunfähig. Auch Berkeley beantwortet die Frage nach einer vorhergehenden Ordnung der Sinne letztendlich negativ und trennt ein solches ‚reines‘ Sehen von einem begrifflichen Wahrnehmen und die durch die Erfahrung geordnete Zusammenarbeit der Einzelsinne. Bei dem gewohnheitsmäßigen Sehen arbeiten die verschiedenen Sinne über einen Assoziationsmechanismus zusammen – während der Einzelsinn, d.h. im Falle des Gesichtssinns das Sehen von Farben, übersehen wird: „The customary and close connexion that has grown up in our minds between the objects of sight and touch; whereby the very different and distinct ideas of those two senses are so blended and confounded together as to be mistaken for one and the same thing . 58 Das heuristische Gegenstück zu einem solchen erkenntnisfähigen Sehen stellt dabei das Gedankenspiel des Blinden des Molyneux-Problems dar, dessen Sehen einen Gegensatz zum erfahrenen, regelmäßigen Sehens darstellt und damit in besonderer Weise die Funktionsmechanismen der Wahrnehmung erst veranschaulicht: „In order to disentangle our minds from whatever prejudices […], nothing seems more apposite than the taking into our thoughts the case of one born blind, and afterwards, when grown up, made to see”59. Dieser plötzlich sehende Blinde nähme, im Gegensatz zum alltäglichen Sehen, in welchem die Empfindung einer Idee nur der Kategorisierung dieser unter einen umfassenden Begriff dient, die Dinge in einer



56 Ebd., 29. 57 Ebd., 47. 58 Ebd., 29. 59 Ebd., 33.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 61

gänzlich neuen Weise wahr. Es entsteht hier das Gedankenspiel eines ‚anderen‘ Sehens, einer schlechthin fremden Logik der Dinge, die sich auch bestehenden sprachlichen Konventionen widersetzen müsste: „[T]hat a man born blind, would not at first reception of his sight think the things he saw were of the same nature with the objects of touch, or had anything in common with them; but that they were a new set of ideas, perceived in a new manner, and entirely different from all he had ever perceived before: so that he would not call them by the same name, nor repute them to be of the same sort with anything he had



hitherto known.

60

Entscheidend ist, dass eine solche Differenz von gewohnter Wahrnehmung und einer fremden Wahrnehmung durch die analytische Trennung der Sinne, vor allem von Seh- und Tastsinn, ermöglicht wird. Das erkenntnisfähige Wahrnehmen mit allen Sinnen muss analytisch aufgebrochen werden, um dessen unterliegende Mechanismen aufzudecken. Eine solche funktionale Trennung der Sinne steht hier stellvertretend für ein analytisches Verfahren der Zerlegung im Zeitalter der Aufklärung allgemein. Die Auftrennung von Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalten, das Zerlegen zusammengehöriger Komplexe des Sinnesgeflechts in Einzelvorstellungen erfolgt unter dem Vorzeichen einer Vereinzelung der Sinne und dem damit verbundenen „Verlust an Wahrnehmungstotalität“61. Zudem ist die bei Berkeley anklingende Analogsetzung von Wahrnehmung und (Mutter-)Sprache auffällig: Die fremde Wahrnehmung wird mit einer Fremdsprache analog gesetzt, bei welcher man das bloße Wortmaterial als Klang oder Rhythmus empfindet, die zunächst ungewohnt erscheinen. Eine solche Analogie wird im 18. Jahrhundert häufig bemüht, denn die sich ausbildenden Wahrnehmungsfähigkeiten werden oftmals mit dem Erlernen einer Sprache gleichgesetzt. Ein Gedankenexperiment62 des fremden Sehens

60 Ebd., 46. 61 Utz 1990, 23. 62 Es bleibt im 18. Jahrhundert keineswegs bei bloßen Gedankenspielen über die Wahrnehmungsweise operierter Blinder, schon bald werden solche Fälle auch im wissenschaftlichen Kontext der Zeit empirisch untersucht. Eines der ersten medizinischen Experimente im Anschluss an eine Blindenoperation wird im Jahre 1728 von dem englischen Mediziner William Cheselden durchgeführt. Der

62 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

setzt allerdings die im 18. Jahrhundert geläufige Konstruktion eines vor allem unbeweglich gedachten Subjekts voraus. In einer solchen Stillstellung ist eine Loslösung der Einzelsinne voneinander leichter durchzuführen. Im erfahrenen Leben, das Fluchtpunkt einer jeden der ‚Erzählungen‘ ist, d.h. bei komplexen motorischen Anforderungen wirken die Sinne zusammen und sind kaum in einer solchen Form zerlegbar, wie später mehrfach, unter anderem bei Bergson und James (siehe Kapitel 2.3) unter dem Primat eines vielmehr stärker zeitlich verstandenen Verlaufs der Wahrnehmung und des Denkens betont wird. So kann zusammengefasst werden, dass im Zeitalter der Aufklärung in verschiedensten Formen eine Entwicklung gezeichnet wird, die, ganz der

von seinem Grauen Star geheilte und anschließend sehende junge Patient könne, so stellt Cheselden im Anschluss an die Operation fest, die Wahrnehmungen des Sehsinnes und des Tastsinnes nicht in kohärenter Weise miteinander verknüpfen. Dieser kann die Begriffe, die er von den Dingen bisher über den Tastsinn gebildet hatte, nicht auf die ihm ungewohnten Daten des Gesichtssinns beziehen (vgl. Cheselden 1727/1728, 447f). Der Patient sei, so stellt Cheselden fest, ohne die Möglichkeit des Ertastens und der Bewegung im Raum zunächst weder in der Lage, den äußeren Umriss eines Gegenstandes, noch dessen genaue Größe zu erkennen und von anderen Gegenständen zu unterscheiden. So scheinen diesem zunächst auch die Wahrnehmungen von Entfernung und Größenverhältnissen über den Sehsinn Probleme zu bereiten. Eine der kuriosesten Erkenntnisse ist sicherlich, dass der operierte Blinde den Distanzsinn des Sehens analog zum ‚Nahsinn‘ des Tastens versteht. Es scheint der distanzüberwindende Blick für den Patienten noch über die Kategorien des Tastsinns vermittelt, so dass er alles Gesehene an der Oberfläche seiner Haut vermutet: ”When he first saw, he was so far from making any Judgment about Distances, that he thought all Objects , whatever touch d his Eyes [...] did his Skin (ebd., 448). Cheselden schildert die



Euphorie des ersten Sehens nach einer anfänglichen Phase der Unsicherheit. Das Neuerlernen des Umgangs mit der Welt versetzt den Knaben allmählich in eine ausgelassene Stimmung über die Frische und die Neuheit der nun gewonnenen Eindrücke. Die philosophischen Hypothesen über das Molyneux-Problem scheinen sich im 18. Jahrhundert demnach auch in der empirischen Forschung zu bestätigen. Das Sehen des vormals Blinden wird zu einem der meistbesprochenen Probleme der Zeit.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 63

empiristischen Logik folgend, immer vom reinen und unerfahrenen Sehen (das aufgrund mangelnden Zugriffs durch den sehenden Blinden des Molyneux-Problems imaginiert wird) zum erfahrenen, distinkten Sehen führt. In diesem alltäglich sich bewährenden, erfahrenen Sehen werden in der Regel die Leistungen aller Wahrnehmungsorgane zusammengesetzt, wenngleich oftmals nicht als konkret und reflexiv einzufangendes Vermögen. Die faszinierende Vorstellung des blinden Sehenden des Molyneux-Problems dient hier dazu, eine Ursprungsfigur aufzuzeigen, um die Vorstellung zu klären, wie der Anfang der Geschichte der Wahrnehmung bzw. die Möglichkeit einer imaginären Regression zu denken wäre. Diese gilt dabei selbst als defizitärer, regressiver Modus der Wahrnehmung, wie auch das Sehen des Kindes, das zunächst als erste zu überwindende Entwicklungsstufe des rationalen Subjekts verstanden wird. Das naive Sehen kann daher im eigentlichen Sinne keine Erkenntnis produzieren. 2.2.2 John Ruskins „innocence of the eye“ Der für Bestrebungen der Malerei nach einer visuellen Autonomie kanonisch gewordene Begriff des ‚unschuldigen Auges‘ stammt von dem Philosophen und Kunsttheoretiker John Ruskin (1819-1900). Dieser verortet eine ‚natürliche Optik‘ des reinen Sehens im Unterschied zu den Vorläufern des 17. und 18. Jahrhunderts erstmals im Zusammenhang mit der Malerei. Das Phänomen der Wahrnehmung spielt nach Ruskin in der Kunst und besonders für den Künstler eine zentrale Rolle – und ist insbesondere als Argument gegen die traditionelle Auffassung von Kunst als einem zu erlernenden Handwerk zu verstehen. In dem Lehrbuch „The Elements of Drawing“ (1856/57), das, wie Ruskin im Vorwort zu seinem Buch schreibt, für Kinder von mindestens zwölf bis vierzehn Jahren vorgesehen ist, tritt die These von einem Sehen jenseits des Begrifflichen im Zusammenhang mit Übungen für die Leser des Buches auf. Ruskin beschreibt die Möglichkeit einer ‚Unschuldigkeit des Auges‘ im Sinne einer rein visuell legitimierten Wahrnehmung jenseits jeglicher Erfahrung des Intellekts und allen anderen benachbarten Sinnen (besonders dem Tastsinn, der, wie erwähnt, die normierte Wahrnehmung von Größenverhältnissen und die gegenseitige Isolierung von Gegenständen bewirkt), dem begrifflichen Denken und bildexternen Referenzen. Ziel ist für Ruskin die Verfeinerung und Filterung der Wahrnehmung, die Konzentration auf das Sehen selbst innerhalb eines individu-

64 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

ellen und unvorhersagbaren Sehvorgangs. Die immer wieder in diesem Zusammenhang zitierte Erwähnung des unschuldigen Auges versteckt Ruskin allerdings in einer Fußnote, wobei er den eiligen und pragmatisch orientierten (!) Leser des Buches diese sogar auffordert, zu übersehen: „The perception of solid Form is entirely a matter of experience. We see nothing but flat colours; and it is only by a series of experiments that we find out that a stain of black or grey indicates the dark side of a solid substance […] The whole technical power of painting depends on our recovery of what may be called the innocence of the eye […] a sort of childish perception of these flat stains of colour, merely as such, without consciousness of what they signify, – as a blind man would see them if suddenly gifted with sight.“

63

So nimmt er in einer solchen wahrnehmungspsychologischen Volte Anleihen an den Erfahrungsbegriff des Empirismus und die konkrete Abgeschlossenheit eines Gegenstandes64 in Umrisslinien, welche nach Ruskin bereits im künstlerischen Sehen des Malers hintergangen werden muss. Im Gegensatz zum alltäglichen Wahrnehmen, das auf den zusammengeführten Erfahrungswerten aller Sinne, der Erinnerung und des Intellekts basiert, ruft Ruskin für die Malerei ein Zurückgehen hinter die intellektuellen und synthetisierenden Fakultäten des Geistes aus. Dies könne zunächst anhand der Wiederentdeckung eines rein optischen, vermeintlich unvoreingenommenen gegenwärtigen Blicks geschehen – vergleichbar dem des plötzlich se-

63 Ruskin 1971, 27. 64 Schon Berkeley zeigt, dass die Wahrnehmung oftmals mit Begriffen verbunden ist. Im begrifflichen Sehen würden die Ideen von den Dingen immer mit einer Zahl, in der Regel der Eins, willkürlich verknüpft und somit Einheiten vorausgesetzt. So ist ein Haus immer ein Haus, eine abgeschlossene, wenngleich zusammengesetzte – und sprachlich ausdrückbare – Einheit, die sich von dem sie Umgebenden distinkt abhebt. Der Blinde hingegen „ […] when grown up, made to see, would not in the first act of vision parcel out the ideas of sight into the same distinct collections that others do, who have experienced which regularly coexists and are proper to be bundled up together under one name. He would not, for example, make into one complex idea, and thereby esteem an unit, all those particular ideas which constitute the visible head or foot“ (Berkeley 2007, 39). Vgl. auch Helmholtz 1867, 446.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 65

henden Blinden. Ruskin greift wiederum das Molyneux-Problem auf, wenn er annimmt, ein operierter Blinder würde, ähnlich des Kindes, Gegenstandswerte nicht voneinander unterscheiden können. Dieser würde nur nicht-perspektivisch gebündelte und instabile Farb- und Lichtdaten zu sehen bekommen – und somit, an einem Nullpunkt der Sinneserfahrung, rein visuelle Eindrücke unabhängig von begrifflichen Werten registrieren. Ruskin stellt das zunächst mit der Auffassung eines subjektiven Sehens beweglich gedachte Subjekt wiederum fest: Mit der Ausschaltung des Tastsinns und der Ausblendung der Fähigkeit zum stereoskopischen Sehen wird der Betrachter als ein immobiles Subjekt gefasst. Die Ausschließung des Tastsinns generiert somit als Ausgangspunkt für die Malerei ein flaches, zweidimensionales und rein optisch motiviertes Bild. Wäre eine solche Sehweise tatsächlich einnehmbar, könne das Zeichnen, so Ruskin, die Übersetzung von der stereoskopischen Sehweise zur monoskopischen Sichtweise, kein Problem darstellen. Ruskin trennt das Wahrnehmen des ‚Wirklichen‘, ein ‚natürliches‘ Sehen, von jenem anhand des Wissens ab, das nur auf einem nachträglichen und künstlichen Interpretationswert beruht. Das Missverständnis der Vermischung von Tast- und Gesichtssinn, Wissen und Sehen möchte Ruskin daher behoben wissen: „having once come to conclusions touching the signification of certain colours, we always suppose that we see what we only know, and have hardly any consciousness of the real aspect of the signs we have learned to interpret“65. Der Maler hingegen müsse sein jeweiliges Sehen auf den momentanen Wahrnehmungseindruck einschränken, der zudem mit der Wahrnehmungsweise des Kindes assoziiert ist: „a highly accomplished artist has always reduced himself as nearly as possible to this condition of infantine sight“66. Dieser könne die Farben der Natur sehen, ‚wie sie wirklich sind‘ und sei dabei nicht auf ein nachträgliches ‚Interpretieren‘ der reinen Sehdaten angewiesen. Der Künstler empfange auf seiner Netzhaut reine Sichtbarkeitswerte der Gegenstände, die hauptsächlich als ungegenständliche Farberscheinungen, weniger durch Linien begrenzte Gestalten bzw. schon als Zeichen sichtbar werden. Die Einengung der visuellen Aufmerksamkeit auf genau diese Phänomene ist die zentrale Forderung an den jungen Künstler. Hierbei soll idealerweise nichts im Vorhinein gewusst, alles muss im

65 Ruskin 1971, 28. 66 Ebd.

66 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

emphatischen Sinne tatsächlich gesehen werden: „it is therefore impossible to say beforehand what colour an object will have at any point of its surface, that colour depending partly on its own tint, and partly on infinite combinations of rays reflected from other things“67. Die es umgebende Welt präsentiere sich dem Auge unter diesen Voraussetzungen zuallererst als malerisches „arrangement of different colours variously shaded“68. Die exakte Wiedergabe der Farbe ist hier vorherrschend69. Ruskin empfiehlt als eine Art Übung der veränderten Wahrnehmungslenkung, in dem Gegenstand einer Buchseite zunächst nicht mehr als einen weißen Farbfleck, in einem Tisch (oder eben, in die reduktionistische Beschreibungssprache übersetzt: „this other thing near you, which by experience you know to be a table“70) nicht mehr als einen braunen Farbfleck zu erkennen, also letzthin das bloße Registrieren visueller Eindrücke unter Ausschaltung alles Gewussten zu vollziehen. Die Darstellung klarer Konturen, von Entfernungen und dreidimensionalen Eindrücken kann nach Ruskin nicht Bestandteil einer solchen Malerei sein. Eine Imitation der Wirklichkeit – und somit des stereoskopischen Sehens – durch die Malerei sei einer solchen Auffassung nach ohnehin nicht möglich, sondern nur in dem Bereich ihrer eigenen künstlerischen Möglichkeiten, nämlich der Wirksamkeit auf einer zweidimensionalen Fläche. Eine solche reduktionistische Erfahrungslosigkeit des Sehens positiviert das von Kant erwähnte ‚Gewühle der Erscheinungen‘ als eine künstlerische Wahrnehmungs und Darstellungsweise – dies aber auf Kosten der Bedeutung der dargestellten Gegenstände. Das für Ruskin ideale künstlerische Subjekt ist damit aus allen alltäglichen, lebensweltlichen und semantischen Bezügen befreit. Genau dies bedeutet ihm das Einnehmen eines ungewöhnlichen Standpunktes, der ähnlich im zeitgenössischen Diskurs des 19. Jahrhunderts an anderen Stellen auftaucht. Eine deviante Wiedererkennungsstörung bezeichnet beispielsweise der um 1870 geprägte Begriff der Agnosie, der ein in dieser Zeit diskutiertes Krankheitsbild darstellt. Laut Jonathan Crary „it described a purely visual awareness of an object, that is, an

67 Ebd., 56. 68 Ebd., 27. 69 Vgl. ebd., 135. 70 Ebd., 28.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 67

inability to make any conceptual or symbolic identification of an object, a failure of recognition, a condition in which visual information was experienced with a primal strangeness“71. So beschreibt etwa Georges Crouigneau in seiner Étude clinique et expérimentale sur la vision mentale (1884) pathologische Wiedererkennungsstörungen der so genannten psychischen Blindheit (cécité psychique), die nicht etwa in einem mangelnden Funktionieren des Sehorgans begründet sind, sondern in einer fehlenden Mobilisierung der Erinnerungsbilder72. Die an der Krankheit Leidenden würden zwar Gegenstände sehen, diese nicht aber wiedererkennen, Laute hören, diese aber nicht verstehen – so dass sie sich in den alltäglichsten Situationen bisweilen „dans la situation d’un homme tombé au milieu d’une peuplade sauvage, d’un pays inconnu“73 wiederfänden. Es können somit Krankheitsbilder der Agnosie in einem zweiten Schritt zu einem Akt der primär ästhetischen Widerständigkeit gegen automatisierte und konventionalisierte Wahrnehmungsweisen der Welt werden74. Ruskins Theorie des unschuldigen Auges steht zwar in dem übergeordneten Zusammenhang eines angenommenen Kunstfortschritts und stellt sich gegen die Vorurteile und Darstellungskonventionen der Tradition. Darüber, in einer reduktionistischen Filterung einer reinen Wahrnehmung, einer Aufmerksamkeitslenkung hin zu bürgerlich-kontemplativen Phänomenen des ‚rein Optischen‘, so lässt sich abschließend sagen, geht die Kunsttheorie Ruskins allerdings kaum hinaus. Noch bleibt eine solche Malerei der Ausdrucksfunktion von ‚Wirklichkeit‘ vorbehalten, geht es Ruskin doch über die Propagierung einer veränderten Wahrnehmung letztendlich immer beispielsweise um eine ‚gute und richtige Darstellung‘ der Landschaft oder einer Ganzheitlichkeit des Sujets. Ruskin präsentiert zudem einige Prinzipien der Komposition, die auf eine formalistische Richtung der Malerei zumindest hindeuten. Als Beispiel für eine solche progressive Malerei sieht er insbesondere die Malerei William Turners, in welcher Gegen-





71 Crary 1999, 94f. Bei William James wird dies zudem als eine ,mental



blindness , ein loss of associations between optical sensations and what they





signify (James 1950, Bd.1, 48) bezeichnet. 72 Vgl. Crouigneau 1884, 13f. 73 Ebd., 14. 74 Vgl. Crary 1999, 95.

68 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

ständlichkeit durch die Abwesenheit von begrenzenden Linien weitestgehend ausgeschlossen ist, in dessen Kompositionen vielmehr unklar abgegrenzte und diffuse Farbeindrücke75 vorherrschen, die sich stufenweise in ihrer Stärke und Farbigkeit verändern. 2.2.3 Die Poetik des Impressionismus als Primitivität des Auges: Jules Laforgues „L’impressionisme“ Schon bei John Ruskin klingt ein Verständnis von Wahrnehmung als einer flüchtigen, fragmentarischen und transitorischen impression an. Eine solche Auffassung und die damit verbundene Darstellung einer Ausschließlichkeit der visuellen Wahrnehmungsreize ohne eine damit verbundene stabile äußerliche Referenz sind ebenfalls zentrale Momente des malerischen Programms des Impressionismus. Hier wird genau jene Darstellung der Momenthaftigkeit, des Ausschnitts aus einem zeitlichen Kontinuum, als zentrale ästhetische Forderung an das Bild gestellt. Der Impressionismus knüpft damit programmatisch an Ruskins These nach der Wahrnehmung mit dem unschuldigen Auge und der Prämisse des rein sinnlich-immanenten Wahrnehmungsausdrucks an. Er steht somit in einer Kontinuitätslinie mit dem Prinzip einer Hervorbringung von Welt aus den sinnlichen Vermögen des Ich jenseits aller konventionellen Semantiken und des begrifflichen Vorwissens. Der Impressionismus beinhaltet eine Vorstellung von Sehen, das entgegen dem wiedererkennenden Sehen eine ‚reine‘ Wiedergabe von visuellen Eindrücken impliziert. Dies geschieht hauptsächlich über die Methode der

75 Die Bilder Turners haben zu vielfältigen Reaktionen veranlasst, die auch teilweise absurde Erklärungen für den Stil Turners nicht ausschließen. Peter Geimer (2005) etwa zeichnet in seinem Aufsatz “Getrübte Blicke. William Turner in augenärztlicher Behandlung” eine solche nach. So konstatiert der Augenarzt Richard Liebreich bei Turner eine im Alter von fünfundzwanzig Jahren eingetretene Linsentrübung, was sich, so Liebreich, vor allem in dessen Spätwerk auf die Bildwelten auswirke. Ein solcher ‚optischer Defekt‘ führe in den Bildern Turners zu einer ‚Zerstreuung der Lichtstrahlen‘. Geimer konstatiert hier zu Recht das Hauptproblem einer solchen These: So nimmt Liebreich im Wirken Turners keinerlei imaginative oder gesteuerte künstlerische Tätigkeit an, vielmehr sei alles schlechthin direkter Effekt dieses pathologischen Sehens.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 69

analytischen Reduktion, aber eben auch schon dem anschließenden Versuch einer Synthetisierung des Bildaufbaus im Bewusstsein des Bildbetrachters – und bildet damit eine Brücke zum nächsten Kapitel. Die Methode der Impressionisten und Neoimpressionisten beschreibt der Experte des russischen Formalismus, Aage Hansen-Löve, als einen Vorläufer der späteren Verfremdungstheorie Šklovskijs – und zwar als Rekonstruktion eines vorrationalen, rein retinalen und damit konventionelle Sehweisen und Darstellungstraditionen der Malerei verfremdenden Wahrnehmungsprozesses76. Sie bestehe darin, „alle Eindrücke (impressions) in ihrer unmittelbaren Frische noch vor ihrer rationalen und funktionalen Transformation (Auswahl, Neukombination etc.) ‚abzufangen‘ und assoziativ zu montieren. Dieses unmittelbare Eindrucksbild verfremdet jenes Bild das wir uns aufgrund unserer Erfahrung, des Vorwissens, der konventionellen psychologischen Konditionierung von den Dingen gemacht haben. Die von Šklovskij […] zum Prinzip erhobene ‚Entautomatisierung der Wahrnehmung’, die das Ziel jedes V-Effekts ist, hat der Impressionismus im wörtlichen Sinn optisch rea77

lisiert“ .

Dies trifft zunächst auf das Prinzip der primären Wahrnehmungslenkung als einer Ausblendungsleistung zu, in welcher sich die Verfremdungstheorie allerdings im Weiteren nicht erschöpft (siehe Kapitel 3). Der Literat des Symbolismus und Theoretiker des französischen Impressionismus, Jules Laforgue (1860-1887), nimmt in seiner im Kontext der damaligen Lebenswissenschaften stehenden Schrift „L’impressionisme“ (1883) Bezug auf physiologische Sehtheorien der Zeit. Seiner Auffassung vom Impressionismus als einer vorrangig mit Farbqualitäten verbundenen und praxisorientierten Form der Malerei liegt die Forderung nach einer neuen Weise des Sehens zugrunde, die sich der Natur und Natürlichkeit der Dinge annähern soll. In seiner Theorie des Impressionismus und deren physiologischer Grundlage beschreibt er die ‚Verabsolutierung der natürlichen Rezeptionsmechanismen des Sehens‘78, ein Sehen, das nicht in der Lage ist, ge-

76 Vgl. Hansen-Löve 1978, 61. 77 Ebd., 62. 78 Imdahl 1996a, 283.

70 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

genständliche Werte voneinander zu unterscheiden und daher vor allem die Farben und ihre Relationen ‚sprechen‘ zu lassen. Die Entstehung der visuellen Künste und ihre Beurteilung sollen sich nach Laforgue zunächst nur aus eben jenem retinalen, primitiven und vor allem aber ‚lebendigen Sehsinn ergeben, der hier den absolut prominentesten Platz im Sinnesgefüge des Künstlers zugesprochen bekommt. Laforgue sieht dies vor allem in der Freilichtmalerei verwirklicht, in der die Dinge in kürzester Zeit, innerhalb von fünfzehn Minuten, in ihrer jeweiligen Atmosphäre festgehalten werden. Der impressionistische Maler versuche so, das Auge in ein Medium der unreflektierten, unbegrifflichen Wahrnehmung zurückzubilden. Ziel sei ein Malen nach der Maßgabe des ‚reinen‘ Sehens, das hauptsächlich von der Assoziierung mit dem Vermögen des Tastsinns und der ganzheitlichen Erfahrungsleistung der Sinne – sowie vom Wissen, der Erinnerung und der Erkenntnis – abgetrennt ist. Zeichnerische Konturen, Bildtiefe und Perspektive werden von Laforgue als überflüssige Konstrukte abgewertet, welche die Formen der Natur künstlich zu binden versuchen und nicht durch die angestrebte ‚Primitivität‘ und ‚Lebendigkeit‘ des Auges motiviert sind. Die ‚Evolution des Auges‘ ist somit hauptsächlich in rückwärtiger Richtung zu verstehen – zurück zum Zustand eines unzusammenhängenden, naiven Wahrnehmens der Dinge: „il faut redevenir primitif en se débarrassant des illusions tactiles“79. Der ideale Impressionist habe die optische Ausbildung der Akademien (beispielsweise hinsichtlich der Linienführung, der Farbe und Zentralperspektive) und alle vorher gesehenen Gemälde der künstlerischen Tradition hinter sich zu lassen – es gelte daher, das Vergessen zu erproben. Er sei einer solchen Auffassung nach „un peintre moderniste qui, doué d’une sensibilité d’œil hors du commun, oubliant les tableaux amassés par les siècles dans les musées, oubliant l’éducation optique de l’école […] à force de vivre et de voir franchement et primitivement dans les spectacles lumineux“80. Impressionistisches Sehen bedeutet somit eine Wahrnehmung am Nullpunkt der Tradition, des Wissens und des Begrifflichen. Dabei schwingt die empiristische Idee eines kindlichen Sehens mit, was auch etymologisch gestützt wird: Das Wort naiv stammt vom lateinischen nativus, ’

79 Laforgue 1979, 136. 80 Ebd., 133.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 71

zur Geburt gehörend, ab. Das ‚natürliche‘ und lebendige Auge81 gebe die Natur so wieder, ‚wie sie ist‘ und solle nichts anderes als die Rezeption des Lichtes, die vibrations lumineuses, nachvollziehen, die nun viel eher als die theoretisch hinzugedachte Linie die Formen der Dinge neu konstituieren sollen. Laforgue spricht gar beinahe platonisch von den drei ‚Illusionen‘ der Malerei, die durch physiologische Gewöhnung und die malerische Tradition bedingt seien: Dazu gehören erstens das Vorherrschen der Zeichnung (hauptsächlich ihrer Konturen), die ihre Ursache in einem habitualisierten Zusammenwirken des Seh- mit dem Tastsinn hat, zweitens die normierende Zentralperspektive und drittens die künstliche Beleuchtung im Atelier. Die Antwort auf die Frage nach dem Ausbrechen aus diesen vorherrschenden Illusionen, dem Entkommen durch den von akademischen Traditionen und Theorien verstellten Ausgang der platonischen Höhle bzw. des geschlossenen Ateliers des Künstlers, bietet in jeglicher Hinsicht das Phänomen der lebendigen, natürlichen Farbe und ihrer dynamischen Eigenlogik. Alles in der Natur, so Laforgue, sei ein unendlich sich bewegender Strom von stetig sich ändernden, in beinahe musikalischen Symphonien schillernden Farboszillationen, denen sich das Auge wieder annähern müsse. Das primitive, impressionistische Sehen ist so der Logik Laforgues nach paradoxerweise das analytisch am weitesten Fortgeschrittene, da es fragmentarisierte Farbund Lichtwerte verarbeiten könne und die sie stabilisierenden Illusionen der theoretischen Gegenstands- und Begriffsbildung der akademischen Malerei als bloße zu vernachlässigende Hilfswerte erkenne: „[U]n œil naturel oublie les illusions tactiles et sa commode langue morte : le dessin-contour et n’agit que dans sa faculté de sensibilité prismatique. Il arrive à voir la réalité dans l’atmosphère vivante des formes, décomposée, réfractée, réfléchie par les êtres et les choses, en incessantes variations. Telle est cette première caractéristique de l’œil impressionniste.“

82

81 Wie auch Ruskin operiert Laforgue mit der Zuschreibung des ‚natürlichen‘ Auges und bestätigt so die vorherrschende dualistische Auffassung des Sehens zwischen falscher Konvention und dem natürlichen, reinen Sehen. 82 Ebd., 136.

72 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Laforgue formuliert zwar das Prinzip des Beweglichen auf mehreren Ebenen, vor allem auf derjenigen der Farbe und ihrer Veränderlichkeit, dabei ist es aber ein analytisch aus der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnisproduktion herauspräparierter Sinn – das reine, primitive Sehen – welches paradoxerweise der Ort eines solchen Denkens der Bewegung sein soll. Die Farbvibrationen werden demnach wiederum nur auf Kosten der Stillstellung und Isolierung eines einzigen menschlichen Sinnesvermögens aufgewertet. Eine solche emphatische Logik des ersten Blicks in der Kunsttheorie ist gegen Ende des Jahrhunderts vielerorts anzutreffen. So konstatiert schon der österreichische Schriftsteller Hermann Bahr im Jahre 1890 euphorisch ein neues Verständnis von Wissenschaft und der Psychologie, die sich auf die Malerei und Literatur im besonderen Maße auswirken werde. Diese ‚neue Psychologie‘ werde nämlich, so Bahr, „aus dem Verstande in die Nerven verlegt“83. Gegen die Reizschwelle des Bewusstseins ströme eine Vielzahl von sensuellen Wirbeln und Strömungen an, die die alleinige Vormachtstellung des Bewusstseins gefährden. So erfasse Bahr zufolge das bewusste Denken nur einen Bruchteil der Empfindungen. Daher müssten „die Erscheinungen auf den Nerven und Sinnen, noch bevor sie in das Bewusstsein gelangt sind, in dem rohen und unverarbeiteten Zustande“84 von der Kunst verarbeitet werden. Dieser Reduktionismus kann nun viel eher gezeigt, als tatsächlich ausgesagt werden. Auch das impressionistische Bild, bei Monet oder Pissarro etwa, konstituiert sich so als ein System von ineinander wirkenden, vibrierenden Farben und instabilen Lichtwerten, und zwar laut dem Kunsttheoretiker Max Imdahl als ein solches, „das die formangebenden, auf den Gegenstand verweisenden und mithin ein vor allem wiedererkennenden Sehen beanspruchenden Werte der Zeichnung, des Lichtes, der Modellierung oder der Perspektive auflöst, das heißt optisch zerstreut“85. Phänomene von Farbe und Licht, obgleich sie nicht mehr an Gegenstände gebunden sind, werden nun anstelle der Linie Träger der sich neu verteilenden Bild- und Gegenstandswerte innerhalb des Bildfeldes. Das Bild wird unter dem Aspekt einer ständigen

83 Bahr 1890a, 509. 84 Bahr 1890b, 574. 85 Imdahl 1996b, 311.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 73

Veränderlichkeit der Dinge dargestellt und der Bewegung des Fließens angenähert. Dies repräsentiert ebenjene Forderung Bergsons (wie im Kapitel 2.3 zu sehen sein wird), die Beweglichkeit der Dinge in das für sich gesehen starre Bildmedium zu übertragen und es dem Betrachter zu überlassen, die vibrierenden Farb- und Lichtwerte immer wieder neu zusammenzusetzen86. Dieser Anspruch der objektiven Wahrheit der Methode unterstreicht die Forderung der Impressionisten und vor allem von Jules Laforgue, die Welt so wiederzugeben, wie sie sich dem Ideal nach unmittelbar und in voller Lebendigkeit auf dem Auge abzeichne. Das ‚reine‘ Sehen ist hierbei lediglich ein analytisches Instrument dieser im Freien stattfindenden Malweise. Es stellt ein unverzichtbares theoretisches Hilfs- und Organisationsmittel bei der Programmbildung des Impressionismus dar, dessen Produkte nicht etwa kausal aus einem solchen Sehen als einer tatsächlichen Wahrnehmungsrealität heraus abgeleitet sind87. Ein solcher Kult des Momenthaften enthält sich des Weiteren ganzheitlichen Fragen nach dem Erkenntniswert der Kunst. Verlernen und Vergessen gehören zu den Grundbedingungen des auf die Primitivität seines Auges verwiesenen Malers. Dabei kommt es aus der Perspektive der Tradition zur Irritation vorherrschender Darstellungs- und Wahrnehmungsmuster. Es besteht aber gleichwohl die Gefahr der Verfestigung und Konventionalisierung ebensolcher Verfremdungen bisher gewohnter Darstellungsmodi. Auch der Schriftsteller Joris-Karl Huysmans beschäftigt sich in seiner Kritik der „L’exposition des Independants“ im Jahre 1880 mit den ausgestellten Bildern des Impressionismus, die er in den Jahren zuvor fast ausschließlich positiv bewertete. Er bemängelt vor allem das Skizzenhafte, Unfertige der Bilder, in denen die Konturen verschwimmen und bei welchen er eine Krankheit und Monomanie des Auges feststellt, die ihm mittlerweile über-

86 Dieser rezeptionsästhetische Ansatz in Bezug auf impressionistische Kunst wird auch von Gombrich vertreten: „It is the point of impressionist painting that the direction of the brushstroke is no longer an aid to the reading of forms. It is without any support from structure that the beholder must mobilize his memory of the visible world and project it into the mosaic of strokes and dabs on the canvas before him. The image […] is only ‚conjured up‘ in our minds“ (Gombrich 2000, 202). 87 Vgl. Lamer 2009, 13.

74 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

spannt erscheint88. Huysmans vergleicht in diesem Zusammenhang einige der Impressionisten in polemischer und vielleicht auch übersteigerter Weise mit Hysterikern und Nervenkranken und diagnostiziert bei ihnen eine allgemeine Degeneration des Auges. Laut Huysmans beherrschten nun die ‚incurables‘ das Geschehen der Zeit, die von stärker ausgeglicheneren, gelehrteren und gesunderen Theorien abgelöst werden sollten. Huysmans spricht sich hier insbesondere gegen das impressionistische System von taches aus, das zum Eindruck eines bloßen sensualistischen ‚l’aplomb’ beitrage89 und schon gar nicht mehr die Aufmerksamkeit der Betrachter der Zeit zu ergreifen vermag. Dem sei Huysmans zufolge hingegen ein Maler entgangen, der in Kapitel 4 genauer untersucht werden soll: Gustave Caillebotte.

2.3 „P SYCHOLOGICALLY , THE SYNTHESIS PRECEDES ANALYSIS “: W AHRNEHMUNGSKRITIK DES V ISUELLEN UNTER DEN P RÄMISSEN DES Z EITLICHEN , DER B EWEGUNG UND DER E RINNERUNG 2.3.1 „The law is that all things fuse that can fuse“: William James und der Gedankenstrom als Paradigma des Automatismus Im Denken des US-amerikanischen Philosophen und Psychologen William James (1842-1910) spielt der Sehsinn für sich genommen keine zentrale Rolle. In seinem zweibändigen Hauptwerk, den „Principles of Psychology“ (1890), beschäftigt sich James mit den psychologischen Mechanismen, die dem alltäglichen menschlichen Leben und Denken zugrunde liegen. Das 88 Vgl. Huysmans 1883, 89. 89 Ein Jahr später, im Salon von 1881, spricht er wieder in einem wohlwollenderen Ton über die Impressionisten und hier besonders über Pissarro, der nach Huysmans das impressionistische Stadium des Erwachsenseins und der Gesundheit einläutet. Nach dem Zustand der Aphasie ‚sprächen‘ sie nun kohärenter, wenngleich Monet für Huysmans derjenige ist, „qui a le plus contribué à persuader le public que le mot ‚impressionisme‘ désignait exclusivement une peinture demeurée à l’état de confus rudiment, de vague ébauche“ (ebd., 268).

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 75

Buch ist dabei – wie James dem Text voranstellt – aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive verfasst. Ausgangspunkt ist die Physiologie des menschlichen Körpers, vor allem des Gehirns und die deskriptive Arbeit am Phänomen des menschlichen Denkens. Denken bedeutet für James, so bemerkt er in seinem grundlegenden Kapitel „The Stream of Thought“, jenes eines individuellen und letzthin auch alltäglichen menschlichen Bewusstseins. Dieses ist dabei immer auf äußere Objekte gerichtet und verfährt insgesamt nach selektiven, dem jeweiligen praktischen Interesse des Menschen folgenden Mechanismen90. In seiner Auffassung des Gedankenstroms ändert sich das Denken des Menschen aufgrund sich verändernder (auch körperlicher) Bedingungen stetig, verläuft aber innerhalb eines unablässig fließenden Stromes und wird insgesamt als bruchlos und kontinuierlich aufgefasst. Immer ist das Gleichgewicht der Teile des Gehirns und die damit zusammenhängende Ökonomie der Kräfte der Ausgangspunkt der kaleidoskopartig verfahrenden Wahrnehmung und des Denkens: „as the brain changes are continuous, so do all these consciousnesses melt into each other like dissolving views. Properly they are but one protracted consciousness, one unbroken stream“91. Einzelne Inhalte des Denkens sind hier innerhalb des Stroms miteinander verbunden und erhalten somit durch das Eingebundensein in diesen Flow eine neue Kontur. Auch die von James im Laufe seiner Argumentation immer wieder als Analogon für das Funktionieren des menschlichen Geistes genannte Apparatur der ‚dissolving views‘92 (Siehe Abbildung II), also scheinbar sukzessive ineinander übergehende Bilder, die mit einer etwas komplexeren Laterna Magica erzeugt werden konnten, ist für das Prinzip des Kontinuierlichen – und vielleicht auch des Automatischen – aufschlussreich. Hier kann eines der zwei Einzelbilder von einem Mechanismus abgeblendet werden, während das andere allmählich auf einer Projektionsfläche aufgeblendet wird. Einzelne statische Punkte oder Abschnitte des Denkens können – in Übertragung des Modells auf Wahrnehmung und Denken – einer solchen

90 Vgl. James 1950, Bd. 1, 225. 91 Ebd., 247f. Auch Dewey betont den ökonomischen Charakter des kontinuierlichen Stromes der Wahrnehmungen (vgl. Dewey 1891, 35). 92 Dabei waren insbesondere um 1870 Bewegungsbilder populär. Vgl. http:// www.academia.edu/1078611/An_Old_Way_of_Dissolving_Views.

76 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Auffassung nach in keinem Fall trennscharf unterschieden werden. Die Bilder gehen dabei ineinander über und werden nicht in einem Nacheinander montiert. Abbildung II: James Wylde: Laterna Magica zur Erzeugung von dissolving views

Quelle: http://www.academia.edu/1078611/An_Old_Way_of_Dissolving _Views

Das Denken als einen ablaufenden ‚stream‘ versieht James zunächst ohne eine bestimmte Wertung. Er stellt diesen vielmehr nur als einen völlig alltäglichen, prozessualen Mechanismus des Denkens vor. Gegenüber dem eher summarisch gefassten Prinzip der ‚duration‘ bei Locke93 bestimmt das

93 Die Frage danach, wie sich die einzelnen Elemente des Denkens verbinden, also der Auffassung von Bewegung, der Kontinuität im Denken und in der Wahrnehmung jenseits reiner, statischer Ideen stellt sich in John Lockes „Essay“. Locke geht dabei von einzelnen ideas aus, die sich durch eine rein additive Prozedur zu complex ideas verbinden können. Diese lassen sich jeweils immer auf die ursprünglichen einfachen und unteilbaren Inhalte zurückführen. Fange man nun an, zwischen diesen aufeinander folgenden Elementen Einteilungen zu treffen, ist nach Locke das Phänomen der Dauer erfasst. Das Problem der Dauer ist für den englischen Philosophen aber zunächst lediglich über den Gedankenstrom des Individuums – also innerhalb des Menschen selbst – und nicht anhand der Beobachtung äußerer Phänomene zu fassen. Die reine Dauer selbst ist laut Lo-

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 77

Prinzip der transitiven Beziehungen zwischen den einzelnen benennbaren Zuständen des Denkens die Argumentation des pragmatistischen Philosophen. Er knüpft zwar an Lockes Beschreibung des Aufeinanderfolgens einzelner Ideen an, viel entscheidender sind aus seiner Sicht aber die Zwischenräume und Verbindungsmechanismen des die einzelnen Teile rhythmisch übergreifenden Denkprozesses94. Diese können mitunter auch bloß nebulöse, noch ungebildete Vorstellungen sein, wie wenn jemandem etwas auf der Zunge liegt. James postuliert hier ähnlich der Auffassung Bergsons95 (siehe 2.3.2) ein umfassendes Prinzip der Beweglichkeit über die ständige Änderung, das Pulsieren der Wahrnehmungsgestalten im Denken. Ein solches Denken, das auf einer unteilbaren Kontinuität der Wahrnehmungs- und Denkinhalte beruht, könne nun selbst durch Phänomene des Schockhaften oder Augenblicklichen nicht außer Kraft gesetzt werden. Das Bewusstsein knüpft in einem solchen Falle beide Momente so zusammen, als hätte es keinen Bruch gegeben, so dass das Bewusstsein an sich immer (wie auch bei der Wahrnehmung durch die Sinne) in einer Kontinuität funktioniert bzw. diese in jedem Fall wiederherstellt: „the changes from one moment to another in the quality of the consciousness are never absolutely abrupt 96. Qualitative Änderungen treten bei William James lediglich als immanente Kontraste, niemals als absoluter Bruch mit dem Vorangegangenen auf. Diese Kontraste – die zudem vom Menschen in der Regel gar nicht als



cke von jeglichen äußeren Maßen und räumlichen Abständen zu unterscheiden. Vgl. Locke 2008, 108ff. 94 Hier sind es insbesondere, auf das sprachliche Denken bezogen, die Relationen zwischen den Wörtern und dem Begrifflichen selbst, die Übergänge und Bereiche zwischen den Begriffen, die eine Aussage tönen, Präpositionen, die mehrere Wörter miteinander verbinden. 95 In einem Brief an Bergson aus dem Jahre 1902 berichtet James über die Lektüre ”

von „Matière et mémoire : „The Hauptpunkt acquired for me is your conclusive demolition of the dualism of object and subject in perception. I believe that the ,transcendency’ of the object will not recover from your treatment, and as I myself have been working for many years past on the same line, only with other general conceptions than yours, I find myself most agreeably corroborated” (James 1926, 179). 96 James 1950, Bd. 1, 237.

78 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

solche bemerkt werden – sind nun sowohl in zeitlicher und räumlicher Hinsicht zu finden. Neben sukzessiven Kontrasten zwischen aufeinander folgenden Inhalten des Denkens gebe es zudem simultane und räumliche Kontraste zwischen den gleichzeitig ablaufenden Inhalten des Denkens. Beispielhaft steht hierfür die visuelle Wahrnehmung: „A visual image is modified not only by other sensations just previously experienced, but also by all those experienced simultaneously with it, and especially by such as proceed from contiguous portions of the retina“97. Wahrnehmung und Denken erfolgen immer zeitlich, in einem Fluss, der zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht trennscharf unterscheiden lässt. Die bloßen, gegenwärtigen Elemente des Denkens (sensations) und der Wahrnehmung sind als solche somit in der Regel nicht feststellbar. Jegliche Wahrnehmung findet in einem kaum zu teilenden Gemisch ähnlich der Apparatur der dissolving views statt, in welchem die unterschiedlichen Teile aufeinander einwirken und sich eins aus dem anderen ergibt. Das Denken als ein ‚stream of thought‘ läuft somit in einem einzigen Kontinuum aller Sinne, von Sehen und Hören, Tasten und Riechen ab. Gegenüber den analytischen Bestrebungen des Empirismus, die Einzelsinne und die ideas getrennt voneinander zu betrachten, formuliert James ein Prinzip des Denkens, in dem alle Sinne miteinander in Beziehung und in einer unablässigen zeitlich verfahrenden Wechselwirkung stehen. Die Sinneswahrnehmung ist per se räumlich ausgerichtet, das Bestreben nach Lokalisation der Phänomene innerhalb jeder Wahrnehmung bereits gegeben. Zu leben heißt somit, in den meisten Fällen solche analytisch zu treffenden Abgrenzungen, wie etwa zwischen den Einzelsinnen oder den einzelnen Bestandteilen eines Gegenstandes, unbewusst zu übersehen: „any number of impressions, from any number of sensory sources, falling simultaneously on a mind WHICH HAS NOT YET EXPERIENCED THEM SEPERATELY, will fuse into a single undivided object for that mind. The law is that all things fuse that can fuse, and nothing separates except what must“98.

97 James 1950, Bd. 2, 14. 98 James 1950, Bd. 1, 488. Ähnlich spricht Dewey von einem ‚train of experiences’ und betont die Tendenz des Denkens, immer auf eine Totalität gerichtet zu sein (vgl. Dewey 1891, 96): „The analytic recognition of separate elements is a later process. Psychologically, synthesis precedes analysis“ (ebd., 99).

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 79

Die Inhalte des Denkens, so James, sind demnach keine atomistischen und voneinander separierbaren Teile, sondern bereits in höherem Maße synthetisierte Verbindungen, die darüber hinaus nicht nur als bloße Additionen der Einzelqualitäten zu fassen sind. So unterscheidet James (ähnlich der Machschen Differenzierung zwischen elementaren Empfindungen und synthetischen, gewohnheitlichen Empfindungsbündeln – siehe 3.1.2) in grundlegender Weise die sensations, die einfachen, unverbundenen Wahrnehmungswerte wie ‚heiß‘, ‚kalt‘, ‚rot‘, etc. – die in der Regel, außer in der Kindheit, gar nicht im reinen Sinne bemerkt werden – von den lebensweltlich erfahrenen perceptions, den schon mit anderen räumlichen und zeitlichen Inhalten verbundenen, zudem bewusst empfundenen Wahrnehmungen, die als solche zusammen mit den nervlich-physiologischen Bestandteilen Teil eines Gedankenstromes sind, in dem jedes Wahrnehmungselement auf das andere einwirkt. Der Philosoph Christian von Ehrenfels leitet mit seinem im selben Jahr wie James’ Werk erschienenen Aufsatz „Ueber ‚Gestaltqualitäten‘“ (1890) die beginnende Theorie der Gestaltpsychologie ein. Ehrenfels geht in seiner Argumentation zunächst von einer Formulierung Ernst Machs über das unmittelbare psychische Empfinden aus. Dieser bemerkt das Gegebensein von ganzheitlichen Ton- und Raumgestalten unabhängig von den einzelnen konkreten Elementen, aus denen diese bestehen. So erscheint uns zum Beispiel ein Baum, obwohl er sich aus Zweigen, Ästen, einem Stamm und Blättern zusammensetzt, immer schon als ein vollständiges Ganzes und somit als ein begrifflich fassbarer Gegenstand: eben als DER Baum, ohne dass wir dazu die einzelnen Bestandteile nach und nach ins Bewusstsein heben müssen. Solche ganzheitlichen Gestalten sind aber als ‚mehr‘ zu verstehen als die Summe der Einzelteile, in der Verknüpfung entsteht eine neue Qualität – so werden zum Beispiel in einer Melodie die Einzeltöne in der Regel vom Hörer nicht unterschieden und auch nicht einfach additiv zusammengesetzt. Die Gestaltqualitäten können sich nun, so nimmt Ehrenfels an, zudem über mehrere Sinnesbereiche und als Zusammensetzung von physischen und psychischen Elementen erstrecken: Eine Verschmelzung der einzelnen Sinnesqualitäten in ein ganzheitliches Wahrnehmungsgeflecht wäre damit zumindest denkbar. Ehrenfels argumentiert ähnlich wie James gegen die empiristische Vorstellung von zunächst einzelnen, unverbundenen ‚ideas‘, wie etwa bei John

80 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Locke. Diese angenommenen einzelnen Elemente bleiben aber dennoch grundlegend für die analytische Betrachtung der sythetisierten Gestalten: „Unter Gestaltqualitäten verstehen wir solche positive Vorstellungsinhalte, welche an das Vorhandensein von Vorstellungscomplexen im Bewusstsein gebunden sind, die ihrerseits aus von einander trennbaren (d.h. ohne einander vorstellbaren) Elementen bestehen“99. So gibt es einerseits Gestaltqualitäten, die mehrere Sinnesleistungen umfassen, wie etwa Bewegung oder andererseits beispielsweise bloß optische, wie die von Farben. Die Gestaltqualitäten gehen dabei, ähnlich wie Mach annimmt, über ein Prinzip des Automatischen, des einfachen und unreflexiven Gegebenseins der zusammenhängenden Gestaltqualitäten vor sich, so „dass wir in zahlreichen Fällen der Auffassung von Gestaltqualitäten von einer eigenen Thätigkeit überhaupt Nichts erfahren, in anderen eine solche Thätigkeit sich als Ergänzung der Grundlage der Gestaltqualität und nicht als Erzeugung dieser oder jener erweist“100. Der eigene Spielraum in der Wahrnehmung ist damit selbst beschränkt, da eine Organisation in Gestalten in der Regel unbewusst stattfindet. Auch bei William James vollzieht sich der Gedankenstrom zunächst über das Prinzip der zu einem gewissen Teil als Mechanismus ablaufenden Gewohnheit. Das Bewusstsein sei „nothing jointed ; it flows. A ‚river or a ‚stream are the metaphors by which it is most naturally described“101. Ein solches Fließen versteht sich aber auch, wie James später im Kapitel über „Attention“ anführt, als ein unkompliziertes Fließen des Denkens, das mehr oder weniger automatisch abläuft und wobei in der Regel kein Energieaufwand aufgebracht werden muss. Bewusste und unbewusste Zustände des Denkens gehen beständig und vor allem unbemerkt ineinander über. Das Denken als Kontinuität ist aber, dies bleibt festzustellen, eng mit automatisierten und nicht-reflexiven Wahrnehmungsformen verknüpft – wenngleich der Mensch im Ganzen, so James, gerade nicht als ein Automat im Sinne einer mechanischen Anthropologie funktioniert. Denken und Wahrnehmen geschehen in einem zeitlichen Kontinuum, das sich aufgrund von Gewohnheiten und Erwartungen nach bestimmten Regeln und Mustern ausbildet, die in gewissen Situationen aber auch, ob gewollt oder ungewollt, auf’



99

Ehrenfels 1890, 262.

100 Ebd., 287. 101 James 1950, Bd. 1, 239.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 81

gebrochen werden können. Auf das aber eben nur dem Menschen zugestandene Prinzip der Störung einer solchen mechanisch ablaufenden Wahrnehmung bei William James möchte ich aber darüber hinaus noch genauer in dem Kapitel über die habits eingehen (siehe Kapitel 3.1.2). 2.3.2 Wahrnehmungskritik durch die Philosophie der durée: Henri Bergsons „La perception du changement“ Jonathan Crary zufolge existiert am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine große Anzahl von Versuchen, das schwankende physische Subjekt in all seinen körperlichen Existenz- und Bewegungsformen in den Status einer Epistemologie zu überführen102. Auch der Philosoph Henri Bergson (18591941), eigentlich nicht im engeren Sinne und so wenig wie William James ein visueller Denker103, beschäftigt sich um die Jahrhundertwende unter anderem mit dem Phänomen der Wahrnehmungsleistung des Menschen, um eine Philosophie des Lebens, das heißt des Beweglichen, Intuitiven und Veränderlichen zu entfalten. Hiermit nähert sich Bergson bewusst den zeitlich verlaufenden Prozessen des Lebens an, die eng mit dem menschlichen Körper und dem Bewusstsein zusammenhängen. Bergson empfindet vor allem die zeitgenössischen lebensfernen Einteilungen und Zergliederungen der Wissenschaften sowie der positivistischen Philosophie als unbefriedigend. Das Projekt einer solchen für Bergson zu schaffenden alles umspannenden, auf der Dauer (durée)104 basierenden Philosophie knüpft an Ideen von

102 Vgl. Crary 1999, 56. 103 Der Sehsinn ist bei Bergson nicht der zentrale Sinn, vielmehr geht er in „Matière et Memoire“ von einem vorgängigen grundlegenden Parallelismus aller Sinne aus. Hiermit kritisiert er auch explizit die These des Empirismus George Berkeleys, der eine bloß willkürliche Assoziation der jeweiligen Sinne, so auch von Seh- und Tastsinn annimmt. Insbesondere der Hörsinn (Melodie und Musik) ist hingegen in Bergsons Argumentation immer wieder leitend, vor allem durch die synthetische, nicht-additive Weise des Hörens, die Entfaltung der Melodie, der Befreiung der dauernden Zeit aus dem Primat des räumlichen Sehens. 104 Vgl. Bergson 1991. Der Begriff soll hier nicht umfassend erläutert werden. Wichtig für den Zusammenhang ist aber, dass Bergson etwa die Bewegung

82 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

John Locke über das Phänomen der ‚duration‘ an und schreibt dessen Auffassung in vielfältiger Weise fort um vor allem um: So ist Bergsons Dauer zu denken als ein ungeteilter Fluss, in welchem Erinnerungsspuren auf das aktuelle Handeln des Menschen einwirken und immer als ein Rückgriff auf bereits Erfahrenes zu verstehen sind. Zudem beschreibt Bergson in einer Überwindung des philosophischen Dualismus die Ausgedehntheit der Wahrnehmung auf die Phänomene der Außenwelt. In dem wahrnehmungstheoretisch orientierten Buch „Matière et Memoire“105 (1896) geht Bergson zunächst von der menschlichen Erfahrung als Teil des umfassenden und alles umspannenden Prinzip des Lebens selbst aus. So wird die Beziehung zwischen Ich und Welt bei Bergson nicht dualistisch, sondern vielmehr in einer Art Teilhabe der beiden Komponenten, die in konstitutiver Weise zusammengedacht werden, behandelt. Der für den Menschen zentrale Leib, an dem sich die Außenwelt bricht, ist somit immer schon Teil der Umwelt. Es findet hier keine räumliche Gegenüberstellung zweier klar getrennter Welten statt, wie etwa im Sinne einer Auffassung des ‚unbewussten‘ oder ‚inductiven‘ Schlusses bei Helmholtz, die Bergson sogar explizit kritisiert. Übergreifend attackiert er vor allem das Prinzip der Zerlegung und Zerstückelung von Bewegung, die bloße formale Rekonstruktion des menschlichen Lebens in der Wissenschaft und einer bestimmten Tradition der Philosophie – für Bergson eine Zerstörung der eigentlich ausschlaggebenden continuité indivisée des menschlichen Bewusstseins und Lebens, eines Prinzips, zu dem schlechthin zurückgekehrt werden soll: „Ce serait de nous replacer dans la durée pure, dont

und die Veränderung (und damit Zeit generell) als einen kontinuierlich fließenden Übergang und unteilbar betrachtet. Zeit ist nach Bergson nicht aus statischen Zuständen des inneren Lebens additiv zusammengesetzt, sondern ein fließendes Gebilde, welches in der von ihm emphatisch gefassten ästhetischen Anschauung auch als ein solches wahrgenommen, und nicht zerteilt werden soll. So operiert sie durch das Vermögen des Gedächtnisses aber bewahrend, d.h. die Dinge ziehen nicht einfach ohne das Hinterlassen einer Spur vorüber. 105 Als u.a. wahrnehmungstheoretische und vor allem -kritische Schrift (besonders das Kapitel IV) scheint es auch Crary zu begreifen: „As Walter Benjamin and a few others understood, Bergson’s book was a major response to the general standardization of experience and automation of perceptual response at the turn of the century“ (Crary 1999, 318).

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 83

l’écoulement est continu, et où l’on passe, par gradations insensibles, d’un état à l’autre: continuité réellement vécue, mais artificiellement décomposée pour la plus grande commodité de la connaissance visuelle“106. Alle Dinge sind einer solchen Auffassung nach miteinander innerhalb eines ungeteilten Kontinuums verbunden und nur in unmerklichen Abstufungen voneinander unterschieden. Es existieren innerhalb des Bewusstseins keine festen und funktionalen Abgrenzungen, die den Fluss der Dauer künstlich zerteilen. Die Materie der Welt und der Geist des Menschen sind immer als dynamisch auseinander hervorgehend und in Kontakt zueinander zu verstehen. Der Begriff der Wahrnehmung (perception) ist bei Bergson nur innerhalb dieser Konstellation zu denken. Jeder Wahrnehmungsvorgang ist somit de facto vor allem von einem zunächst in Latenz verbliebenen Erinnerten durchsetzt, das die rein aktuelle Wahrnehmung erst auf ein bestimmtes Interesse hin nützlich macht und dieser dessen Erfahrungen zur Seite stellt. Eine reine Wahrnehmung (perception pure) ohne den Einfluss von Erinnerung und auch den Empfindungen kann zwar als ein momenthafter Zusammenfall mit der Materie theoretisch gedacht werden, kommt aber in der gelebten Realität nicht vor. Vielmehr sei die eigentliche Wahrnehmung, so Bergson, oftmals gänzlich durch Erfahrungswerte ersetzt oder mindestens damit vermischt. Nach einer ersten, einigermaßen ursprünglichen Wahrnehmung einer Sache, eines Gegenstands oder einer Person funktioniere die menschliche Wahrnehmung immer bereits über ein ökonomisch motiviertes Wiedererkennen und dessen vermittelnde Mechanismen. Bergson verdeutlicht dies anhand des mehrmaligen Zusammentreffens mit einer Person, die bereits bei dem zweiten Treffen wiedererkannt werde: „Je rencontre une personne pour la première fois: je la perçois simplement. Si je la retrouve, je la reconnais, en ce sens que les circonstances concomitantes de la perception primitive, me revenant à l’esprit, dessinent autour de l’image actuelle un cadre qui n’est pas le cadre actuellement aperçu. Reconnaître serait donc associer a une perception présente les images donnés jadis en contiguïté avec elle [...] Une perception renouvelée ne peut suggérer les circonstances concomitantes de la

106 Bergson 1991, 322.

84 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

perception primitive que si celle-ci est évoquée d’abord par l’état actuel qui lui ressemble.“

107

Den Menschen ‚wie zum ersten Male‘ zu sehen, ist nun unmöglich geworden: Das Wiedererkennen, das der aktuellen Wahrnehmung einen vermittelnden Rahmen verleiht, ist somit nicht mehr aus dem Erkenntnisprozess auszuschließen. Dies dennoch tun zu wollen hieße hingegen, das Prinzip des menschlichen Lebens und Bewusstseins zu verkennen sowie einen lebensfernen und in gewisser Weise blinden Mechanismus einer reinen Wahrnehmung zu propagieren. Laut Bergson sind dabei zweierlei Arten einer solchen Erinnerung zu unterscheiden: Die erste ist einem automatischen, motorischen Mechanismus geschuldet, die zweite, eigentliche Erinnerung ist mit Aufmerksamkeit (das heißt bei Bergson: einer gesteigerten Mobilisierung von Erinnerungsbildern) versehen und kann sich ebenso vom momentanen Zweck des Wiedererkennens emanzipieren. Wahrnehmung erfolgt somit von einer bestimmten Idee aus und ist immer schon intellektuelles Wiedererkennen mit Interpretation, eine Verschmelzung von aktueller Wahrnehmung und den virtuellen Erinnerungsbildern, die nicht im reinen Zustand verfügbar sind. Ohne ein solches Erinnerungsbild bliebe die Wahrnehmung zusammenhanglos und schlechthin mechanisch (und liefe nach einem ReizReaktionsmuster ab) – ohne aktuelle Wahrnehmung hingegen das aktualisierte, sonst in der Potentialität des Virtuellen vorhandene Erinnerungsbild schlechthin wirkungslos und ohne jeglichen Bezug nach Außen. Beide Phänomene entwickeln in ihrem gegenseitigen Aufeinanderangewiesensein eine ständige fließende, ungeteilte Dynamik des Bewusstseins und ergeben so eine Art ‚Stromkreis‘ der Wahrnehmung. Problematisch für das Phänomen der menschlichen Wahrnehmung und seiner Defizite ist demnach nicht die Unreinheit ursprünglich reiner Wahrnehmungsleistungen (diese sind eben faktisch unmöglich), als vielmehr der Auswahlcharakter der leiblich vermittelten Wahrnehmungen aus der materiellen ‚Bilderwelt‘ – also eine Verlagerung auf das Problem ‚falscher‘ oder einseitiger Konditionierungen. Wahrnehmen bedeutet so für Bergson immer ein selektives Auswählen von handlungsrelevanten Informationen aus einer unendlich gedachten Bilderwelt: „que ma perception consciente ait

107 Ebd., 235f.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 85

une destination toute pratique, qu’elle dessine simplement, dans l’ensemble des choses, ce qui intéresse mon action possible sur elles“108. Das Leben des Menschen nimmt erst hier, trotz aller Armut einer solchen bewussten selektiven Wahrnehmung, persönliche Formen an und deutet somit neben allen verzerrenden Effekten ebenfalls die Möglichkeit einer persönlichen Freiheit und Indeterminiertheit an, die gegen automatisierte und mechanische Formen des Lebens ansteht. Die Schrift „La perception du changement“ aus dem Jahre 1911 problematisiert wiederum ebenjene Annahme der Oberflächlichkeit des Wahrnehmungsgeschehens im Alltag. In diesem geht Bergson noch pointierter auf den Begriff der Wahrnehmung ein, auch in Hinblick auf die Kunst, die in „Matière et mémoire“ innerhalb seiner Argumentation ausgespart bleibt. Bergson konstatiert eine kollektive Krise in Bezug auf die Wahrnehmung von Veränderungen, wie etwa der Bewegung. Wie vorher schon in „Matière et mémoire“, behandelt er das Phänomen unter der Prämisse der von ihm unterstellten Wahrnehmungsweise des Menschen, des inneren Erlebens und Erfahrens der durée. Bergson nimmt an, dass die immerwährende Veränderung von und an Gegenständen, wie etwa Bewegung, zwar leichthin konstatiert, diese aber nicht in angemessener Weise vom Individuum wahrgenommen werde. Das begriffliche Denken vergleicht Bergson in „Évolution créatrice“ (1907) mit der Illusion des kinematographischen Mechanismus, d.h. der Aneinanderfügung einzelner, für sich unbeweglicher Momentbilder, die eine Bewegung nur illusionistisch reproduzieren: „Mais, préoccupé avant tout des nécessités de l’action, l’intelligence, comme les sens, se borne à prendre de loin en loin, sur le devenir de la matière, des vues instantanées et, par la même, immobiles [...] Ainsi se détachent de la durée les moments qui nous intéressent et que nous avons cueillis le long de son parcours“109. Dies begründet er mit den praktischen Notwendigkeiten der menschlichen Lebenswelt, die den Menschen soweit konditionieren, dass er nur auf die für eine Handlung nützlichen Reize unter dem Tragen von ‚Scheuklappen‘ aufmerksam wird: Die Wahrnehmung wird so verstanden als ein instrumentelles Hilfsmittel, welches „isole dans l’ensemble de la réalité, ce qui nous intéresse ; elle nous montre moins les choses mêmes que le parti que nous

108 Ebd., 361. 109 Bergson 1908, 296.

86 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

en pouvons tirer. Par avance elles les classe“110. Bergson spricht hier, indem er an die bereits erwähnte Armut der transitiven Wahrnehmungsleistung anknüpft, von schémas artificiels, also Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten, die uns die Realität, fernab von jener in „Matière et memoire“ formulierten Zone der Indeterminiertheit, als eine solche statische und fragmentierte Welt erscheinen lassen. Die allgemeine Krise der Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen wird zudem dadurch verschärft, dass die Philosophie eine Eingrenzung oder gar Ersetzung der Wahrnehmung durch begriffliche und abstrakte Konzepte vornehme. Ein solches Denken, das im alltäglichen Leben der praktischen Handlungen und im sozialen Kontext zwar unentbehrlich ist, sei, so Bergson, an die Stelle des lebendigen und ganzheitlichen Wahrnehmens getreten und schränke auf diese Weise die elementaren Empfindungsvermögen des Menschen ein. Im Prozess der Begriffsbildung würden die qualitativen Unterschiede des inneren Lebens eliminiert und auf diese Weise ein Großteil der ursprünglichen, niemals wirklich registrierten Wahrnehmungen ausgelöscht. Das gewohnte Denken läuft ähnlich der kinematographischen Methode (l’artifice du cinématographe) ab, da es Bewegung und Veränderung innerhalb eines „mouvement impersonnel, abstrait et simple, le mouvement en général“111 rekonstruiert, wie Bergson ein paar Jahre früher schon in „L’évolution créatrice“ schreibt. Hiermit scheint Bergson auch auf die Methode der Chronofotografie (Abbildung III) anzuspielen, die Ende des 19. Jahrhunderts Bewegung aus sequentiellen Einzelbildern zusammenzusetzen versucht – wenngleich sie dabei einige Annahmen über Bewegung sichtbar macht und revolutioniert.

110 Bergson 1911, 12f. 111 Bergson 1908, 330. Über die Unangemessenheit dieses Vorwurfs von Bergson an das Kino: Vgl. Didi-Huberman 2004. So geht Didi-Huberman bei der von Bergson kritisierten kinematographische Methode weniger vom Kino im engeren Sinne als vielmehr von einer apparativen Anordnung aus: „On comprend



alors en quoi la ‚cinématographie désigne moins un instrument spécifique qu’une instrumentalisation très générale“ (Didi-Huberman 2004, 30).

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 87

Abbildung III: Étienne-Jules Marey: Course de l’homme. Chronofotografie (1883)

Quelle: http://longstreet.typepad.com/.a/6a00d83542d51e69e2017744136670970dpi

Das intuitive Erkennen des Menschen, so Bergson, könne hingegen nicht durch das rationelle Denken, sondern nur durch die ebenso konsequente Hinwendung an das Bewusstsein und damit die Dauer ermöglicht werden112. Das Erfassen der Veränderung und die Erweiterung und Vertiefung der Wahrnehmung sind nun Aufgabe des mit solchen sinnlichen Gebilden operierenden Künstlers – vor allem des Malers. Bergson erwähnt unter anderem William Turner, der wie auch Jean-Baptiste Camille Corot, die „vision brillante et évanouissante perdue dans la foule des ces visions également brillantes, également évanouissantes“ festhalte, welche „semblables à des ‚dissolving views’, se recouvrent dans notre expérience usuelle, par leur interférence réciproque, la vision pale et décolorée que nous avons habituellement des choses“113. Bezeichnenderweise demaskiert Bergson an dieser Stelle das Funktionieren der ‚dissolving views‘ als flüchtig auftauchende und wieder verschwindende Bilder, die im Gegensatz zur Malerei nicht fixiert werden können und in ihrer Überlagerung als bloße Ausgleichsprodukte oder Durchschnittsbilder das tatsächliche Prinzip der un-

112 Vgl. Bergson 1911, 7. 113 Ebd., 10f

88 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

vorhersagbaren, gelebten Bewegung lediglich mechanisch simulieren. Erst der Künstler vermag es, mit den standardisierten Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zu brechen, die unmittelbare Wahrnehmung der Bewegung und der Veränderung zu registrieren und künstlerisch zu realisieren. So mache der ideale Künstler diese Differenz zwischen alltäglicher und künstlerischer Wahrnehmung erst sichtbar. Er lasse das Unsichtbare aufscheinen, das was üblicherweise nicht wahrgenommen werde: „L’art est donc là pour nous montrer qu’une extension de nos facultés de percevoir est possible“114. Eine Isolierung dessen, was sich in der alltäglichen Wahrnehmung vielfach, gleich jenen ‚dissolving views‘ überdeckt, bleibe im Gegensatz zur Philosophie innerhalb der Kunst aber lediglich auf die erweiterte Oberfläche der Wahrnehmungen beschränkt. Die Vorstellung einer auf Gewohnheit und Begrifflichkeit beruhenden visuellen Erfahrung, in welcher „l’oeil a pris l’habitude de découper, dans l’ensemble du champ visuel, des figures relativement invariables qui sont censées alors se déplacer sans se déformer“115 ist für Bergson nicht mit der idealen künstlerischen und philosophischen Sensibilität vereinbar. Es gebe schlechthin keine Wahrnehmung, in der sich nicht beständig alles verändere. Auch die feststehenden Konzepte von Gegenstand und Figur müssen nach Bergson als dynamische und veränderliche Begriffe verstanden werden. Eine Malerei, die diese ästhetische Forderung einlöst, nimmt die Farbe, das Licht und die Gegenstände (und auch Figuren) als bewegliche und fließende Phänomene wahr und inszeniert so eine Wahrnehmung, die als ständig in Bewegung und niemals begrifflich fixierbar vorgestellt wird. Ziel ist somit eine andere Aufmerksamkeitssteuerung, um dem ‚wahren‘, in ihrem Kern beweglichen Wesen der Dinge näher zu kommen. Damit ist die Malerei dem Paradigma der Musik angenähert – eine Melodie stelle eine ebenso unteilbare und reine Veränderung dar wie das von ihm geforderte Anschauungs- und Kunstbild und unterliegt einer ständigen Instabilität und der Abwesenheit von festen, isolierten Formen der Anschauung. Die der menschlichen Wahrnehmungspsychologie als eigentliches Grundmerkmal unterstellte Dauer, der fließende Charakter der Perzeption,

114 Ebd., 11. 115 Ebd., 24.

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 89

könne nicht aus räumlich aufeinander folgenden und somit unbeweglichen und separierbaren Einzelteilen nach und nach zusammengesetzt werden. Auch die Philosophie habe sich vielmehr an der Umstellung der Aufmerksamkeit von der automatisierten Wahrnehmung nach praktischen Gesichtspunkten auf das sinnliche und damit bewegliche Denken hin zu orientieren: „Il faut revenir à la perception directe, immédiate, du changement et de la mobilité“116. Ziel einer solchen Wahrnehmungsrevolution ist das déshabituer der gewohnten Wahrnehmungsweisen auch für das alltägliche Leben. Das bedeutet nicht, sich vom Leben abzuwenden und in einen Bereich des Imaginären zu flüchten, sondern vielmehr die vielfältigen sinnlichen Eindrücke in einer anderen Weise als durch die üblichen Kondition(ierung)en aufzunehmen, die Wahrnehmung in andere Bahnen zu lenken – und zwar als eine solche, die als hauptsächliches Merkmal dasjenige einer ständigen Veränderlichkeit der Dinge in sich trägt. Dies wirke, so Bergson, nicht zuletzt auch auf das alltägliche Leben zurück. Sehen würde somit als ein Sehen der Kontinuität aufscheinen, das immer Vorhergesehenes beinhaltet und auf zukünftig zu Sehendes gerichtet ist. James und Bergson überschneiden sich in ihren grundlegenden Annahmen über die Zeitlichkeit und Kontinuität des Denkens und Wahrnehmens, unterscheiden sich aber in der Bewertung der Aufmerksamkeit als reflexivem Akt. Auf der Grundlage eines Denkens der Kontinuität könnte man nun bei Bergson – entgegen den Auffassungen William James’ über den von ihm als mechanisch aufgefassten Gedankenstrom etwa – von einer Kritik der analytischen Bestrebungen des Empirismus und seiner Nachfolger, die ein reines, erinnerungs- und zeitloses Denken propagieren, sprechen. Im Gegensatz zu James, der ein solches Denken und Wahrnehmen als zeitlichen, quasi-mechanischen Gedankenstrom ohne den Aufwand geistiger Energie als das Prinzip des Automatismus selbst begreift, spricht Bergson hier umgekehrt, durch den Fokus auf das Bewegliche und Veränderliche, von einer Befreiung von einem statischen Auffassen der Dinge. So sorgt der für Alltagshandlungen nicht unbedingt positiv gedachte reflexive Moment bei James etwa für ein Stillhalten des Stroms und eine Möglichkeit der analytischen Gliederung, dem Hervortreten der einzelnen Bestandteile des Be-

116 Ebd., 18. Beispielsweise gegen das Konzept Avenarius’: Philosophie als Denken gemäß des kleinsten Kraftmaßes.

90 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

wusstseins, während das reflexive Moment bei Bergson eher auf das Prinzip des ungeteilten Zusammenhangs der Dinge innerhalb eines Stroms des lebendigen Erfahrens verweist. Das Stillstellen des Stromes in einer so fixierten Form hingegen bedeutet für Bergson vielmehr die falsche Verfestigung von Bewegung innerhalb eines Durchschnittbildes: „Ce qui est réel, c’est le changement continuel de forme : la forme n’est qu’un instantané pris sur une transition. Donc, ici encore, notre perception s’arrange pour solidifier en images discontinues la continuité fluide du réel“117. Erst auf dieser Grundlage einer gedachten Kontinuität, einer ausgedehnten und in die Vergangenheit reichenden Wahrnehmungserfahrung ist zuallererst, wie James formuliert, eine Art Schockerfahrung, das Außerkraftsetzen des Erlebens der Dauer und die Verfremdung einer solchen ganzheitlichen Wahrnehmung durch den Einfluss eines Unerwarteten, plötzlich in die Struktur Einbrechenden, vorstellbar. Bergson befürwortet solche Phänomene des Diskontinuierlichen hingegen in keiner Weise für die Kunst, wie er neben den dissolving views auch die ‚illusion cinématographique‘, die Illusion von Bewegung durch die rasche Abfolge von unbewegten, vereinzelten Bildern (vues instantanées), die noch dazu völlig unpersönlich sind und Kontinuität nur artifiziell herstellen, ablehnt: „His model of a composite yet utterly indissoluble perception in which past and present coexist is an imaginary imposition of unity on contents that are irrreducibly dissociated. In a sense it is an impossible countermodel of dissociation: a synthesis of all the fragments of lived time into an experience of wholeness so rich and intense as to be an antidote to forms of alienation or reification in a contemporary social world.“

118

Eine künstlerisch wirkungsvolle Dekomposition organischer Bewegungsformen oder das Außerkraftsetzen der dauerhaften Beschaffenheit des menschlichen Bewusstseins119 durch eine Schockwirkung oder Dissoziie-

117 Bergson 1908, 327. 118 Crary 1999, 327. 119 So wie das von Paul Virilio in seiner „Ästhetik des Verschwindens“ formulierte Verfahren zum ‚frischen‘ Sehen der Welt, einen künstlerischen ‚Desynchronisierungseffekt‘, den er von einem eigentümlichen Aussetzen des Bewusstseins, sogenannten Absenzen, bei Kindern ableitet. Dieser funktioniere als

„I T IS THOUGHT

OVER IN ABSOLUTELY DIFFERENT PSYCHOSES “

| 91

rungserfahrung können durch die Theorie Bergsons nicht gedacht werden (siehe auch die Kritik von Benjamin an Bergson). Schon passive oder automatische Aufmerksamkeitsformen sind bei Bergson, wie Crary bemerkt, insgesamt ausgeblendet, da sie dem Prinzip des Lebens nur in Form eines nicht-lebendigen Mechanismus gegenübertreten120. Trotz all dieser Paradoxien zwischen moderner dissoziativer Erfahrung und dem organischen Versöhnungsgedanken, den die Dauer in sich trägt – oder vielleicht gerade deswegen – muss von einem starken Einfluss Bergsons auf die künstlerische Moderne und insbesondere auf den russischen Modernismus (und damit auch Formalismus) ausgegangen werden, wie im folgenden Kapitel genauer untersucht werden soll. So ist es insbesondere die Beziehung von Leben und Kunst, das Prinzip einer aktiven, handlungsförmigen und reflexiven Einstellung zu Kunst und Leben, das von Bergson zur formalistischen Theorie Viktor Šklovskijs führt: „Bergson’s philosophy appealed to post-1905 Russian modernists interested [...] in new modes of

analoger Verfremdungseffekt im Film durch den Einsatz von Montagetechnik oder des Stoptrickverfahrens bei dem Filmemacher Méliès. So werden beispielsweise zwei Filmstreifen, auf denen in einigem zeitlichen Abstand derselbe Ausschnitt aufgenommen wurde, wieder zusammengeklebt: „Die technischen Zufälle hatten die desynchronisierenden Umstände der pyknoleptischen Krise reproduziert. Méliès […] macht dasselbe wie das Kind, wenn es die beiden Erlebnissequenzen vor und nach der Krise zusammensetzt und so jede auffällige Unterbrechung der zeitlichen Dauer beseitigt, nur ist hier der ‚Zwischenraum‘ so groß geworden, daß der Wirklichkeitseffekt radikal modifiziert wird“ (Virilio 1986, 17). Auch Viktor Šklovskij lehnt später das Einwirken des diskontinuierlichen Film-‚Tricks‘ auf die Literatur ab (vgl. Šklovskij 1974a, 40). 120 Bryony Randall bemerkt das unterschiedliche Verständnis von William James und Henri Bergson in Bezug auf das Phänomen der Abwesenheit von Aufmerksamkeit. Während diese bei James für eine Verschmelzung aller Eindrücke sorge, würde es bei Bergson genau das entgegengesetzte Phänomen nach sich ziehen: das der Vereinzelung und Verräumlichung der sonst als unteilbaren Strom wahrgenommenen Eindrücke (vgl. Randall 2007, 38f). Eine ‚Versöhnung‘ der beiden Ansichten findet sich bei John Dewey, bei dem es heißt, dass die Aufmerksamkeit in flexibler Weise sowohl Inhalte des Denkens zusammenbringt als auch analytisch trenne (vgl. Dewey 1891, 143f).

92 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

artistic perception by which to tap into the élan vital of the Dionysian flux and thus to discover the true essence of life“121. Der Anspruch Bergsons, Wahrnehmung und das Sehen grundlegend anders als in der vom Alltag verstellten Realität zu verstehen und zu der veränderlichen Essenz der Dinge vorzudringen, ist trotz der differenten Struktur der Erinnerung allerdings nicht mit dem Konzept einer stärker dialektisch orientierten Verfremdungsästhetik wesensgleich, da der Anspruch der Theorie Bergsons und somit der Kunst auf ein klareres, durch die Intuition vermitteltes Erkennen des vielmehr absolut gedachten ‚Wesens der Dinge‘ gerichtet ist. Das Auseinanderhalten von alltäglichen, mechanisch-formelhaften, automatisierten122 und den fließenden, beweglich und entautomatisiert gedachten Wahrnehmungsformen ist bei Bergson schlechthin in einer Figur des Dualismus gedacht, der noch das gesamte 19. Jahrhundert durchzieht.

121 Fink 1999, 25. Hier wird im Folgenden (ebd., 129) eine explizite Beziehung zwischen der Wahrnehmungstheorie Bergsons und der Verfremdungstheorie Šklovskijs verfolgt. 122 Das Problem der Automatisierung stellt sich zudem dezidiert in Bergsons Aufsatz über „Das Lachen“ (Le rire). Hier spricht Bergson vom Mechanismus und Automatismus des Menschen, der Grundlage seiner Komiktheorie ist. Alles mechanische, starr angewandte und unlebendige ist Zielscheibe der Komik, die eine soziale Funktion, das Lachen, beinhaltet.

3. „[D]en Gegenstand aus seiner gewohnten Wahrnehmung in einen Bereich neuer Wahrnehmung zu transportieren“ Das Verfahren der Verfremdung als künstlerische (Seh-)Störung

3.1 M ODERNE W AHRNEHMUNGSTHEORIEN IM Z EICHEN DES S TROMS , DES R EIZSCHUTZES UND DES S CHOCKS Das Phänomen des Automatismus im menschlichen Denken und Wahrnehmen tritt im 20. Jahrhundert, vor allem im Denken des Russischen Formalismus, in eine neue Denkordnung ein, die nicht mehr dualistisch (wie im 19. Jahrhundert, etwa bei William James oder Ernst Mach), sondern als Kontrastierung zweier sich gleichzeitig gegenüber stehender Denkformen angeordnet ist. Die beispielsweise von Bergson formulierten Dualismen von ‚falschen‘ und schematischen Wahrnehmungsgewohnheiten auf der einen, dem ‚richtigen‘ Auffassen der Dauer des Bewusstseins auf der anderen Seite, werden nun zu einer dynamischen Theorie des Kontrastes zwischen Formen automatisierter Wahrnehmung und deren Störungen: Das Automatisierte und Mechanische wird ferner benötigt, nicht bedingungslos im Sinne eines Ausschlusses verneint, um auf diesem Hintergrund ein Schwanken zwischen jener automatisierten und einer neuen, davon abweichenden Wahrnehmungsweise auszulösen.

94 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Dabei sind vor allem gesellschaftliche und industriell-technologische Faktoren und das damit verbundene Moment des den kontinuierlichen Strom durchbrechenden Schocks stärker als in den stärker nach außen abgeschlossenen Wahrnehmungstheorien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzurechnen. Die dadurch hervorgerufenen unerwarteten Brüche und Diskontinuitäten innerhalb der Wahrnehmung „might also have the capacity for revivifying or expanding the limits of thought or cognitive awareness. In fact the perceptual shock […] is one of the forms of modern knowledge through which the disconnected nature of reality can be directly apprehended”1, so Jonathan Crary. Moderner Erkenntnisgewinn wird somit nicht mehr nur über Prinzipien von Kontinuität oder der gleich bleibenden Erfahrung möglich, sondern ebenso durch die kontrastive Störung und Verfremdung automatisierter Bewusstseinsprozesse. Das Problem von automatisierten Anteilen innerhalb des Wahrnehmungsvorgangs stellt sich aufgrund von Umwälzungen der Moderne im Feld des Visuellen, auch unter den Bedingungen des Lebens in der modernen Großstadt, noch einmal verstärkt: Der Einfluss von Fotografie, Reklamebotschaften, Erschütterungen durch das beschleunigte Verkehrswesen2 oder der aufkommenden Massenkultur führen dem Menschen ein Übermaß an Bildern und Eindrücken vor Augen, die mit den gewohnten Mechanismen der menschlichen Wahrnehmung kollidieren oder sich gegenseitig überlagern, ein anderes Verständnis des Zeitlichen nach sich ziehen und Prozesse der ökonomischen Wahrnehmungslenkung umso stärker erforderlich machen. Erfahrungen von bisher unbekannten Geschwindigkeiten, hochkomplexen Informationsflüssen und die Ermöglichung neuer Perspektiven (z.B. die Luftbildfotografie oder bisher unbekannte Bewegungsstudien) haben zudem einen immensen Einfluss auf das Geflecht aus Wahrnehmung, Bewusstsein und Sprache im Alltagsleben. Diese gehören dabei immer weniger den selbst gesetzten und mit individueller Erfahrung gesättigten Bedingungen an. Der Platz des Subjekts im Kraftfeld der Moderne wird somit von energieökonomischen Bedingungen bestimmt, die eine unbändige Aufwandsleistung jedes Einzelnen und seiner Wahrnehmungsorgane erfordern, wie etwas überzogen auch Robert Musil in seinem „Mann ohne Eigenschaften“ feststellt:

1

Crary 1999, 315.

2

Vgl. Schivelbusch 1993.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 95

„Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich […] eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas braucht, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut.“

3

Der Mensch tritt in ein Feld quasi-berechenbarer Energiemengen ein, die seine Wahrnehmung und sein Denken bestimmen. Unter anderem Wissenschaftler der angewandten Psychologie, wie etwa Hugo Münsterberg, beschäftigen sich tatsächlich mit dem Zusammenhang von messbarer Wahrnehmung (u.a. auch Augenbewegungen) und den äußeren Umgebungsreizen, um diese gegenseitigen Einflussnahmen für Werbung, industriellrationalisierte Arbeitsprozesse und die nationale Wirtschaftsökonomie nutzbar zu machen. Als Signum der modernen Seinsweise beschreibt Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Über einige Motive bei Baudelaire“ den modernetypischen Schock als Durchbrechung des menschlichen Reizschutzes. Die Moderne wird von ihm beschrieben als die Epoche des Kapitalismus, der Fabrikarbeit, der Fotoapparate und rasselnden Telefone, der Tagespresse mit ihren zusammenhanglosen Nachrichten und den „optische[n] Erfahrungen“ des Straßenverkehrs als einer „Folge von Chocks und Kollisionen“4. Hieraus leitet Benjamin vor allem die Verminderung der Erfahrung und der Integrität des Bewusstseins in der Moderne, als grundlegende Zusammenhanglosigkeit und Diskontinuität der vormals synthetisch zusammengebundenen Wahrnehmungsdaten, ab. Diese könnten nun dadurch, dass der auf der Oberfläche tätige Reizschutz ständig damit beschäftigt sei Außenwirkungen abzuschirmen und auf lauernde Schocks vorzubereiten, nicht in die Tiefenschicht der Erfahrung eingehen. Der Arbeiter kommuniziert sowohl im alltäglichen Lebenskontext als auch im rationalisierten Arbeitsleben immer mehr über Abkürzungen und Zusammenfassungen, die als bloße, temporär interessengeleitete Zeichen fungieren und ihm in der massenförmigen Gesellschaft oder im immer komplexer werdenden Arbeitsprozess

3

Musil 2004, Bd. 1, 12.

4

Benjamin 1992, 126.

96 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

zur kurzfristigen Orientierung dienen5. Die für den individuellen Betrachter zusammenhanglose Mechanisierung des Verkehrs und des repetitiven und unüberblickbaren Arbeitsprozesses, die damit verbundene Möglichkeit, „eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulösen“6, schlägt als ein automatisiertes, reflektorisches Verhalten auf die Psyche des Subjekts zurück. Das Phänomen des Stromes wird in dieser Zeit sowohl Signum großstädtischer Verkehrsabläufe und der Zeichenproduktion als auch des inneren Bewusstseins, das zu einem Großteil auf automatisierten und mechanisierten Anteilen beruht, die ohne bewusste Steuerung auskommen (siehe Kapitel 3.1.2). Das Alltagsleben wird so in vielen Bereichen von automatisierten und mechanischen Verhaltensweisen dominiert, die kaum mehr zum Bewusstsein kommen müssen. Mit einer verstärkten Selektivität der Wahrnehmung, der Filterung der Wahrnehmungsdaten an der Oberfläche des Bewusstseins, erhöht sich jedoch ebenfalls die Intensität, die von einbrechenden Schocks oder Störungen der gewohnten Abläufe ausgeht. Je höher der Anteil der Automatismen im großstädtischen und modernen Alltagsleben, desto höher erscheint auch die Gefahr des einbrechenden Schockmoments. So rekonstruiert Wolfgang Schivelbusch den Begriff des Schocks und beschreibt dessen kontrastive Wirkung als einen Riss oder eine Störung als gerade an jenem Punkt am größten, je „dichter das Gewebe von Mechanisierung, Disziplinierung, Arbeitsteilung usw.“7 ist. Das damit zusammenhängende und gleichfalls auf dem Prinzip einer durchbrechenden Störung gleich bleibender Vorgänge beruhende literarische Verfahren der Verfremdung nimmt Viktor Šklovskij in dem Aufsatz „Literatur und Kinematograph“ (1923) auf. So stellt er kritisch über seine Zeit fest, man lebe schlechthin „wie mit Gummi überzogen“. Der Ausweg aus der mangelnden ‚Fühlbarkeit‘ der Welt und der Abwesenheit eines

5

Etwa über das Prinzip einer ‚maschinellen Sprache‘, vertreten beispielsweise durch den sowjetischen Befürworter des Taylorismus und Lyriker Alexej Gastev. Dies bezeichnet bei jenem eine Sprache, die sich in eindeutigen technischen Bedeutungen ohne jegliche Konnotationen erschöpft. Vgl. Bailes 1977, 378.

6

Benjamin 1992, 126.

7

Schivelbusch 1993, 141.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 97

dementsprechenden Kunstwollens besteht nun darin, „den Gegenstand mit einem neuen Namen zu benennen. Um einen Gegenstand zu einem Faktum der Kunst zu machen, muß er aus der Zahl der Fakten des Lebens herausgenommen werden“8. Der Begriff des Lebens, der von Šklovskij verwendet wird, ist wiederum der des Alltagslebens (byt), das seinem Verständnis nach zu einem großen Teil auf unbewussten Automatismen beruht. Ziel der Verfremdung ist es demgegenüber, sich die Welt über eine selbst induzierte künstlerische Störung wieder in die eigene Fühlbarkeit ‚zurückzuholen’ und reflexivere Verhaltens- und Denkweisen zu ermöglichen. In einer Welt der Warenproduktion, der ständig wechselnden Moden, der immer wieder neu erhobenen Forderung nach Innovation ermöglicht insbesondere das Vermögen einer steuerbaren, aktiven Aufmerksamkeit einen Anker an verbleibenden Erfahrungen von Einzigartigkeit und Subjektivität gegenüber den ständig gleichförmig ablaufenden Prozessen, den allgegenwärtigen Strömen und der Zirkulation der miteinander weitgehend austauschbaren Zeichen9. Das Umlenken der erfahrenen, gewohnten Wahrnehmungen durch eine Aufmerksamkeitsumstellung wird nun Teil der folgenden von Šklovskij genannten künstlerischen Entautomatisierungstechniken, die nur in ständiger Korrespondenz zu sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen zu denken sind. Die so für die Moderne zentrale kontrastive Konstellation von industrieller Gleichförmigkeit bzw. Serialität der Bewegungsabläufe (dem Ablaufen des Stromes, dem Rauschen des Verkehrs, der aus lauter Gewöhnung schon nicht mehr gehört wird) und der Erfahrung der Störung (dem Einbrechen des Neuen, Überraschenden, Diskontinuierlichen) ermöglicht im Folgenden eine Aufmerksamkeitssteigerung und vor allem -umlenkung, die durch das Verfahren der Verfremdung vermittelt wird. Dabei ist es gerade der Einbruch des Unerwarteten, der für das größte Potential an Aufmerksamkeit sorgt: „A shock of surprise is one of the most effectual methods of arousing attention. The unexpected in the midst of routine is accentuated. The very contrast between the two rivets attention“10. Der Schock wird letztendlich gegen seine eigene, passivische Herkunft gewendet, in seiner existentiellen Stärke abgemildert und ermöglicht durch eine

8

Beide Zitate: Šklovskij 1974a, 27

9

Vgl. Crary 1999, 126.

10 Dewey 1891, 127.

98 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

intellektuelle Arbeit ein Umlenken und Anders-Sehen der Abläufe des gewohnten und depravierten Lebens, das von einem Schutzmantel überzogen ist und das ‚Fühlen‘ der Dinge in ihrem organischen Zusammenhang verunmöglicht hat. Im Folgenden sollen sowohl grundlegende Fragen nach der Aufmerksamkeit und der psychologischen Zurichtung des Menschen in den zeitgenössischen Diskursen einer dem modernen Leben zugrunde liegenden Ökonomie der Geisteskräfte (3.1.1), als auch den Automatismen der Wahrnehmung (3.1.2), die ebenfalls Gegenstand der Ästhetik des Anders-Sehens sind, näher beleuchtet werden. 3.1.1 Ökonomietheorien des Geistes und der Wahrnehmung Die im 19. Jahrhundert zum Gemeinplatz gewordene Annahme einer Selektivität und eines Pragmatismus der Wahrnehmung ist mit einem Prinzip verwandt, das eng mit alltäglichen Wahrnehmungs- und Handlungsweisen zusammenhängt: jenem der Ökonomie des Denkens und des Wahrnehmens. Darauf beruhen insbesondere automatisierte Vorgänge des täglichen Lebens, die so gleich bleibend ablaufen, dass darauf kaum Aufmerksamkeit bzw. Energie verwendet wird und letztlich auch gar nicht werden muss. Ein solches Prinzip wird beispielsweise schon von Hermann von Helmholtz formuliert, der wie gezeigt davon ausgeht, dass vom Menschen lediglich jene Zeichen wahrgenommen werden, die ihm Aufschluss über die Außenwelt geben. Alles weitere hingegen werde schlechthin ignoriert, da es nicht für die Ansicht und Objektivität eines Gegenstandes nutzbar gemacht und somit kaum in die Kategorie des Zeichens erhoben werden könne. Hier kommt es zum einen immer noch zu der in der Nachfolge von Kant aufgeschobenen philosophischen Fragestellung, wie der chaotisch ablaufende Wahrnehmungsprozess synthetisiert werden kann, zum anderen sind solche Forderungen der Ökonomie in industrielle, urbane und wirtschaftliche Kontexte eingebettet, welche den Menschen als einen homo oeconomicus und die rationalisierten Arbeitsabläufe vorrangig unter Fragen nach der Einsparung von Energie, sowie Geistes- und Muskelkraft betrachten. So soll das ubiquitäre Prinzip der Ökonomie im Folgenden in zeitgenössischen philosophischen, ästhetischen und psychologischen Kontexten aufgesucht werden.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 99

In seiner „Philosophie als Denken der Welt gemäss dem Princip des kleinsten Kraftmasses“ (1876) beschreibt Richard Avenarius die Ökonomie des Geistes als ein maßgebliches Verfahren des philosophischen Denken, das seine Berechtigung ebenfalls für ästhetische Fragen und die Arbeitsteilung im praktischen Leben hat. Das vorrangige Ziel dieser Wissenschaft, so nimmt Avenarius an, sei zuallererst die Herstellung von möglichst klaren und eindeutigen Begriffen. Diese über das Singuläre hinausweisenden Begriffsbildungen und Repräsentationen verhelfen dem Denken so auf lange Sicht zu einem ökonomischen und effizienten, d.h. krafteinsparenden Verlauf. Zentral ist hier das Prinzip des Verstehens über ein System des Begrifflichen, das sich über eine Klasse von zu beobachteten Objekten hinweg erstreckt und diese unter einer kategorialen Einheit zusammenhält. Das innerhalb einer philosophischen Theorie zu Apperzeptierende werde in der Folge unter diesem Begriff – wie Avenarius genauer ausführt: einer ‚Centralvorstellung‘ (z.B. das ‚Tier’ für Hunde, Katzen oder Gänse) – subsumiert. Die Leistung vorheriger Erkenntnisse kann so, ganz analog zu einer organischen Ersparung des Kraftaufwandes durch sich wiederholende Bewegungsmuster, auf das aktuelle Denken angewendet werden. Eine solche Analogie aus dem Bereich der Physiologie steht ganz im Zeichen der Psychophysik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und ist bei weitem nicht zufällig: Ganz so wie man etwa durch gewisse automatisierte Gewohnheiten, beispielsweise bei gleich bleibenden und gewohnten Abläufen des täglichen Ankleidens, sowohl geistige als auch körperliche Energie einspart oder die Arbeitsleistung auf Muskeln verschiebt, die den geringsten Aufwand an Kraft beanspruchen11, wird das Prinzip des Aufwandes der geringsten Mittel auch in geistiger Hinsicht verwendet. Kommen etwa neue Eindrücke innerhalb des Denkens eines Subjekts hinzu, werde in der Regel versucht, diese unter jene bereits gebildete Zentralvorstellung einzuordnen. Die Flexibilität des Denkens ist hier, wenngleich in jedem Fall vorhanden, auf ein Mindestmaß an Aufwand und höchste Effektivität zurückgeschraubt. Ein solches Prinzip der ‚Beharrung‘ fasst Avenarius bereits als ein generelles Phänomen der menschlichen Wahrnehmung: „Die Aenderung, welche die Seele ihren Vorstellungen bei dem Hinzutritt neuer Eindrücke ertheilt, ist eine möglichst geringe; oder mit anderen Worten: Der Inhalt unserer Vorstellungen nach einer neuen

11 Vgl. Weber 1995, 181ff.

100 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Apperception ist dem Inhalt vor derselben möglichst ähnlich“12. Die Wahrnehmung ist damit dem bloßen Wiedererkennen, der Wiederholung eines Vorhergehenden angenähert. Auch die mit dem Leben in einer Großstadt zusammenhängenden Ermüdungserscheinungen des vielfach und bis zur Erschöpfung attrahierten menschlichen Bewusstseins können, so zeitgenössische Theorien, durch dessen immanente Schutzfunktionen und die damit verbundene Ökonomie der Wahrnehmung kompensiert werden. Dies leitet Georg Simmel etwa in seiner Schrift „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) aus der Konditionierung des Subjekts durch die großstädtischen Lebensabläufe ab und formuliert zugleich das zu jener Zeit ubiquitäre Prinzip der Ökonomie der Geisteskräfte angesichts der ungeschützten Konfrontation mit den überall drohenden Schocks der Großstadt: „Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualität sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. Der Mensch ist ein Unterschiedswesen, d.h. sein Bewußtsein wird durch den Unterschied des augenblicklichen Eindrucks gegen den vorhergehenden angeregt; beharrende Eindrücke, Geringfügigkeit ihrer Differenzen, gewohnte Regelmäßigkeit ihres Ablaufs und ihrer Gegensätze verbrauchen sozusagen weniger Bewußtsein, als die rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder, der schroffe Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfaßt, die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen.“

13

Der Großstadtmensch muss den ‚Verbrauch‘ seiner Ressourcen im städtischen Alltagsleben und in mechanischen Arbeitsprozessen demnach ökonomisch einteilen: In wenigen Momenten müssen Zeichen erfasst, Situationen angemessen eingeschätzt und Phänomene klassifiziert werden, die nie zur Gänze verfügbar sind. All dies drängt sich dem Bewusstsein auf, das sich der Mechanismen der ‚Beharrung‘, des kategorialen Wiedererkennens und des Ausbildens von Erwartungen gegen ein Übermaß an singulären einströmenden Reizen – und damit großen Unterschiedsbeträgen – behilft. Dieses ökonomische Prinzip bedeutet neben einer Erleichterungsfunktion aber ebenfalls Abstumpfung gegen die eintreffenden Reize. So wird bei-

12 Avenarius 1876, Vorwort III. 13 Simmel 2006, 8f.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 101

spielsweise der Verkehr, der aus unzähligen Reizen der unterschiedlichen Sinne besteht, als konstantes Rauschen erlebt, als ein gleichmäßig ablaufender Strom, Gesichter ziehen als Einheitsphysiognomien vorüber. Der Großstädter wird von Simmel zu einem blasierten Subjekt erklärt, das sich den singulären Eindrücken im Alltagskontext versagt. Für das Denken des Ökonomieprinzips sind auch im Denken Richard Avenarius’ insbesondere Anleihen aus der Wahrnehmungstheorie aufschlussreich. So werden etwa, wie Avenarius anführt, frühere Wahrnehmungen soweit wie möglich für das Verstehen neuer Eindrücke dienstbar gemacht, gewohnte Vorstellungen auf neu hinzukommende Eindrücke angewendet. Insbesondere das Prinzip der Gewohnheit spielt hier eine große Rolle, da bereits bekannte Erfahrungen abrufbar sind und somit innerhalb eines Wahrnehmungs- oder Handlungsprozesses so wie wenig wie möglich Energie aufgewendet wird. So werden „in einer gewohnheitsmässigen Apperception […] 1) nicht mehr Vorstellungen zur Apperception herangezogen, als nöthig sind; 2) die geeigneten Vorstellungsmassen sogleich ergriffen, ohne erst durch Nachdenken (durch weitere, vermittelnde Apperceptionen) gesucht zu sein; und endlich 3) werden die solcherart beschränkten und beschafften appercipirenden Vorstellungsmassen nicht einmal in allen ihren Theilen zu vollem Bewusstsein gehoben, wie sich am deutlichsten bei der Ausführung 14

complicirter, aber gewohnheitsmässiger Bewegungen zeigt“ .

In diesem Kontext ist nun neben dem den Automatismus bestärkenden zweiten Punkt besonders der darauf folgende dritte Punkt interessant: Laut Avenarius gehen solche mechanischen Abläufe – er nennt sie woanders auch Vorstellungsreihen – meistens unreflektiert und somit unbewusst vor sich. Die Ausführung einer Handlung innerhalb des gewohnten, eingeübten und immer gleich bleibenden Ablaufes minimiere die Bewusstwerdung eines solchen Vorganges15.

14 Avenarius 1876, 8. 15 So macht Avenarius im Folgenden einen wichtigen Unterschied zwischen dem philosophischen Begreifen, das zwar aus einer Ersparung, aber auch einer gleichzeitigen Mehrleistung besteht und dem bloßen Wiedererkennen, das eine bloße Formierung einer neuen auf dem Grunde der alten Vorstellung bezeichnet. Während erstere eine Unterordnung unter einen Begriff, der verallgemeinert und

102 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Der Philosoph Ernst Mach knüpft in seinen zehn Jahre später veröffentlichten „Beiträge[n] zur Analyse der Empfindungen“ (1886) explizit an das Ökonomieprinzip Richard Avenarius’ an. Mach setzt, wie schon Avenarius, die von ihm angenommenen Mechanismen des Denkens und der Wahrnehmung mit der wissenschaftlichen Kategorisierung in Beziehung16: „Die grössere Geläufigkeit, das Uebergewicht des Beständigen gegenüber dem Veränderlichen“, so Mach, „drängt zu der theils instinctiven theils willkürlichen und bewussten Oeconomie des Vorstellens und der Bezeichnung, welche sich in dem gewöhnlichen Denken und Sprechen äussert“17. Ein solcher Mechanismus sorge neben der Wahrnehmung auch im Denken und im System der Wissenschaften für eine gewisse Beständigkeit und der Einheitlichkeit der sprachlichen Begriffe. Das Prinzip des ökonomischen Wiedererkennens laufe bereits, wie er in der „Untersuchung der Sinne“ weiter

angewendet werden kann, bedeutet, bezieht sich zweitere bloß auf die Einzelvorstellung selbst und erschöpft sich damit in der momentanen Tilgung der (zeitlichen oder phänomenalen) Differenz aus aktueller Perzeption und der Wahrnehmungserfahrung (vgl. ebd., 13ff). 16 So sind für Ernst Mach auch ganzheitliche metaphysische Konzepte wie das Ich oder der individuelle Körper zunächst einmal als solche zwar notwendig für das Denken, aber eigentlich unbeständige Vorstellungen, die wiederum aus komplexen Bestandteilen zusammengesetzt sind. Die Welt besteht Mach zufolge zunächst nur aus elementaren Gedankeninhalten und Empfindungen, die noch vor allen stabilen Körpern und festen Begriffen existieren (vgl. Mach 1886, 28). Diese übergeordneten Begriffe und Konzepte seien lediglich unter dem Vorzeichen einer grundlegenden Denkökonomie sinnvoll. Eigentlich instabile, aus diversen einzelnen Elementen bestehende Konzepte erhalten so den Charakter der für eine Lebenspraxis unhintergehbaren Festigkeit. Es verbinden sich hier sowohl Annahmen aus der von mir heuristisch geschiedenen ersten Strömung, derjenigen eines (oft als natürlich angenommenen, aber ungewohnten) reinen Sehens, indem Mach zunächst das Vorhandensein reiner Empfindungskomplexe annimmt, als auch der zweiten, indem Mach auf ein ungeteiltes Kontinuum zwischen den eigentlich unverbundenen Auffassungen eines Bewusstseins und der Welt, dem Seh- und dem Tastsinn im Alltagsleben aufmerksam macht. Dies findet zudem im Kontext der Annahme von alltäglichen, erworbenen Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten statt. 17 Ebd., 2f.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 103

ausführt, auf physiologischer und psychischer Ebene ab: So setzen sich innerhalb der Wahrnehmung aus den eigentlich analytisch trennbaren einzelnen Empfindungen ganzheitliche Anschauungsformen synthetisch18 zusammen. Es werden somit feste und stabile Gestalten aufgrund der Erfahrung gebildet, ohne die Sichtung und analytische Trennung der einzelnen Komponenten der Wahrnehmung tatsächlich für einen jeden einzelnen Gegenstand durchzuführen. Mach nimmt ferner an, dass die Existenz reiner Empfindungskomplexe über ein analytisches Vorgehen jedoch denk- und vorstellbar wäre. Im alltäglichen Denken und Wahrnehmen, das nach Prinzipien der Ökonomie, das heißt schlechthin nach nicht-analytischen und nicht-reflexiv ablaufenden Wahrnehmungsformen verfährt, sei eine elementare Unterscheidung zwischen den Sinnesvermögen, sowie zwischen Geist und Welt hingegen gar nicht notwendig und werde – wie schon James bemerkt – überwunden. Es wird hier gegenüber der analytischen Betrachtungsweise von einem übergreifenden, ganzheitlichen Sinnengeflecht, den Sinnen im Zusammenspiel, ausgegangen. So treten etwa die Empfindungen des Auges „im normalen psychischen Leben nicht isoliert auf, sondern mit den Empfindungen anderer Sinne verknüpft […] Erst die absichtliche Analyse löst aus diesen Complexen die Gesichtsempfindungen heraus“19. So geht Mach von im Laufe der Evolution (und nicht etwa im Kulturleben des Menschen) erworbenen ‚Lebensgewohnheiten‘ des Gesichtssinns aus: manche Dinge werden im eigentlichen Sinne gar nicht gesehen und daher schlechthin übersehen. Dies geschehe gemäß dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit und der Sparsamkeit: „diejenigen Functionen, welche am häufigsten zusammen ausgelöst werden, werden auch zusammen auftreten, wenn nur eine allein angeregt wird“20. Solche Konditionierungen des Sinnesorgans sind zwar notwendig für Denken und Orientierung, mitunter im höheren Geistesleben des Menschen aber nicht unbedingt hilfreich. Eine Ökonomie des Denkens kann außerhalb des Rahmens der alltäglichen und institutionellen Gewohnheiten daher durchaus aufgebrochen werden: „In besondern Fällen aber, in welchen es

18 Zu dieser problematischen Konstellation der Empfindungen zwischen Analyse und Synthese: Vgl. Sommer 1996, v.a. 103ff. 19 Mach 1886, 79. 20 Ebd., 90.

104 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

sich nicht um praktische Zwecke handelt, sondern die Erkenntniss [sic!] Selbstzweck wird, kann sich diese Abgrenzung als ungenügend, hinderlich, unhaltbar erweisen“21. Die Suche nach einer reinen Erkenntnis in der Philosophie steht so dem praktischen Leben und dem common sense in grundlegender Weise entgegen. Diese Wechsel der Perspektive, das Aufgeben von Gewohnheiten des Wahrnehmens und des Denkens könnten somit für eine neue Art der Erkenntnis sorgen. Die dargestellte Ökonomie-These wird von Richard Avenarius in einer etwas längeren Fußnote22 zudem auf die Kunst appliziert: Hier wendet er es unter anderem auf künstlerische Formen an, deren Harmonie durch Entsprechung von aufgewendeter Kraft (in Bezug auf die Verhältnisse der Formen des Kunstwerks) und einer gewohnheitlichen Aufwandsleistung des rezipierenden Subjekts gewährleistet ist. Alles soll „Mittel zum Zwecke“23, demjenigen nämlich der Repräsentation von Gefühlswerten, sein. Die Differenz zwischen Form und Rezeptionsaufwand sollte im Sinne der Harmonielehre weder zu groß, noch zu klein ausfallen: so droht im ersten Falle eine Unterforderung, im zweiten eine Überreizung und Verwirrung des Rezipienten. Der Bezug des Prinzips der Wahrnehmungsökonomie zur Kunst steht zu diesem Zeitpunkt schon in einer gewissen Tradition. In dem Aufsatz „Philosophy of Style“ (1852) behandelt Herbert Spencer die literarische, poetische Sprache vor allem unter dem Primat der Energie- und damit Aufmerksamkeitseinsparung des Lesers. Mit so wenigen Wörtern wie nötig, so Spencers These, sollen so viele Gedanken wie möglich ausgedrückt werden. Sprache dient dabei hauptsächlich dem Ausdruck von Informationen oder Emotionen, ursprünglich hindere sie diese im Gegensatz zu bloß vermittelnden Zeichen durch ihren semiotischen und semantischen Überschuss sogar. Im Sinne der Effektivität sei das Ziel, den Aufwand des Lesers auf den kleinstmöglichen Betrag zu reduzieren24. So dienen etwa die sinnvolle Wortstellung, geringe Silbenzahl und Sprachfiguren der Auffassung Spencers nach dazu, eine Idee noch deutlicher und kräftiger, d.h. ef-

21 Ebd., 17. 22 Vgl. Avenarius 1876, 71ff. 23 Ebd., 72. 24 Vgl. Spencer 1892, 4.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 105

fektiver und mit geringen Mitteln, auszudrücken – ähnlich der krafteinsparenden Funktion einer Stenographieschrift auf der Ebene der Materialität der Schrift. Viktor Šklovskij argumentiert mit seiner Verfremdungstheorie in diesem Zusammenhang gerade für das der Ökonomie der Kräfte entgegengesetzte Prinzip des Nicht-Harmonischen, die erschwerte Form (siehe 3.2). Die Erwartungstäuschung, d.h. das Nicht-Aufgehen zweier Werte, das Verstörende sowie das Prinzip, unnötige Kraft aufzuwenden werden als grundlegende und bewusst un-ökonomische Verfahren der Kunst betrachtet. Šklovskij argumentiert im Gegensatz zu Spencer etwa für die Kunst als einen Ort, an dem das automatische Ablaufen alltäglicher, habitueller und pragmatischer Wahrnehmungen der konkreten Lebenswirklichkeit einen Kontrapunkt erhält. In dem alltäglichen pragmatischen Handlungsrahmen ist nicht nur das geistige Begreifen das Ziel (das in der Kunst durch Zerlegungen sonst ganzheitlicher, zusammengehöriger Einheiten problematisiert werden soll25), sondern ein auf der psychologischen und physiologischen Ebene störungsfreier, energiesparender Vollzug einer Handlung. So bleibt ein solches Ökonomieverständnis von begrifflichem Denken, transitiv verstandener Wahrnehmung und künstlerisch hervorgerufener Harmonie ein grundlegendes Prinzip, gegen das die Verfremdungstheorie und die ihr unterliegende Ästhetik des Schwankens im Weiteren argumentiert und die Kunst ihrem Wesen nach aufbegehrt. 3.1.2 Automatismus in Psychologie, Ästhetik und industrieller Produktion Das Prinzip des Automatismus erfährt in der Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts im obskuren Umfeld von von Hypnose, Trance und Mesmerismus eine enorme Bedeutung, was sich in zahlreichen zeitgenössischen Schriften niederschlägt26. Neben den Automatismen im Bereich der Wahr-

25 Vgl. Šklovskij 1966, 38 26 So etwa in William Benjamin Carpenters „Mental Physiology“ (1874), Henry Maudsleys „Physiology of Mind“ (1876) oder auch Pierre Janets „Automatisme Psychologique“ (1889). Doch auch schon früher wird der Begriff des Automatismus in Bezug auf gewohnheitliche Handlungen des Menschen gebraucht, wie beispielsweise bei Thomas Reid oder in David Hartleys „Observation on man“

106 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

nehmung und deren Störung möchte ich im Folgenden die Bandbreite des Vorkommens der Automatismen in zeitgenössischen Diskursen aufzeigen. Hier ist mit Automatismus ein Begriff bezeichnet, der zwar aus der Terminologie des Mechanischen stammt, nicht aber impliziert, der Mensch sei mit einer Maschine gleichzusetzen und somit einem vollständigen Determinismus unterlegen. Automatismus27 bedeutet im Folgenden vielmehr eine in erlernten und gewohnten Handlungen vorkommende verselbständigte Reihung von Elementen des Bewusstseins, die lediglich eines initialen Reizes bedürfen und sodann einfach ‚fortfließen‘. Diese kommen, einmal in Gang gesetzt, ferner ohne den Aufwand an Kontrolle oder bewusstem Denken aus. Dabei sind lediglich bestimmte Abläufe der Handlung automatisiert, wie etwa beim Autofahren, Rezitieren eines Gedichts oder dem Spielen eines Musikinstruments – ein Aufmerksamkeitswechsel erscheint zu jeder Zeit möglich, wenngleich er in den meisten Fällen aufgrund seiner Unter-

(1791). Dugald Stewart formuliert in „Elements of the Philosophy of the Human Mind“ (1792-1827) das Prinzip der gewohnheitsmäßigen Handlungen (habits), die zwar bewusst und intentional ablaufen, aber aufgrund der zu schnellen Ausführung der Handlung nicht ins Gedächtnis eingehen. Stewart lehnt aber dabei den Begriff des Automatismus – und damit die vollkommene Abwesenheit willentlicher Kontrolle – ab: „I cannot help thinking it more philosophical to suppose, that those actions which are originally voluntary, always continue so; although, in the case of operations which become habitual in consequence of long practice, we may not be able to recollect every different volition“ (Stewart 1822, 61). Die mit dem Gedächtnis verschaltete Aufmerksamkeit wird in den meisten Fällen kaum benötigt, sorgt aber dafür, dass Einteilungen innerhalb des ablaufenden Stroms getroffen werden können, die sonst aus zu kleinteiligen und damit unsichtbaren Bewegungen bestehen. Hierbei verweist Stewart auf analoge



optische Praktiken: if our powers of attention and memory were more perfect than they are, so as to give us the same advantage in examining rapid events which the microscope gives for examining minute portions of extension, they would enlarge our views with respect to the intellectual world, no less, than that



instrument has with respect to the material (ebd., 63). 27 Bei Bublitz et al. (2010) werden Automatismen als „Abläufe, die sich einer bewussten Kontrolle weitgehend entziehen“ (Bublitz/Marek/Steinmann/Winkler 2010) und in einer Spannung zum Konzept des technischen Automaten stehen (und dieses überschreiten), gedacht.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 107

brechung des Handlungsflusses und der letztendlichen Unproduktivität unerwünscht bleibt. So bedeutet automatisch nach Jonathan Crary zwar im weitesten Sinne ‚unbewusst‘, allerdings etwas gänzlich anderes als das , dunkle, geschichtete Unbewusste der Freud schen Tiefenpsychologie 28. Beispielhaft für den Automatismus steht in Hinblick auf die Verfremdungstheorie die Auffassung des US-amerikanischen Philosophen und Psychologen William James’ über die Gewohnheiten (habits) des menschlichen Denkens und Wahrnehmens. Das Prinzip der Selektivität der Wahrnehmung und das Problem der Aufmerksamkeit sind, wie schon für Helmholtz, auch für das Denken James’ zentral. Bereits in Kapitel 3.3 habe ich das Prinzip des kontinuierlichen Gedankenstroms in den von ihm verfassten „Principles of Psychology“ (1890) erwähnt. Dass das Denken des Menschen innerhalb des Bewusstseinsstromes kontinuierlich und unteilbar zusammenhängend abläuft, bedeutet demnach allerdings nicht, dass alle Inhalte gleichmäßig beleuchtet würden. Die Objektivität einer Sache werde, so James, durch selektive Wahrnehmungsleistungen ‚hergestellt‘, etwa durch eine Durchschnittsgröße, bevorzugte Ansichten, Farben und gleich bleibende Perspektiven: „Thus perception involves a twofold choice. Out of all present sensations, we notice mainly such as are significant of absent ones ; and out of all the absent associates which these suggest, we again pick out a very few to stand for the objective reality par excellence. We could have no more exquisite example of selective industry. That industry goes on to deal with the things thus given in perception. A man’s empirical thought depends on the things he has experienced, but what these shall be ”

is to a large extent determined by his habits of attention.

29

So stellt James fest, dass wir die meisten Dinge unseres täglichen Umgangs nicht nur selektiv gewichten, sondern manche äußere Einflüsse gar komplett ausblenden30. Nicht nur würden lediglich einige Merkmale von Gegenständen ausgewählt, darüber hinaus würde ein Großteil der Wahrnehmungsinhalte gar im Sinne einer Wahrnehmungsökonomie gänzlich unterdrückt. So könnten wir beispielsweise das Ticken einer Uhr oder die auftre-

28 Vgl. Crary 1999, 79. 29 James 1950, Bd. 1, 286. 30 Vgl. ebd., 284.

108 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

tenden Straßengeräusche nach einiger Zeit der Gewöhnung kaum mehr bemerken31. Die allmähliche Gewöhnung an konstant sich darbietende Gegenstände ist zunächst gleichbedeutend mit der Zunahme von Unaufmerksamkeit. Dieser Akt der gewohnheitlichen Aufmerksamkeitsleistung läuft im Sinne eines jeweiligen menschlichen Interesses ab, so zum Beispiel durch Fokalisierung oder Konzentration32, die gleichbedeutend mit einer in manchen Fällen unbewussten Schwerpunktsetzung auf wenige bestimmte Merkmale eines Gegenstandes sind33. Dabei formen die bereits vor der Wahrnehmung liegenden Einstellungen und Erwartungen, die das Ergebnis von sich ausbildenden Gewohnheiten sind, die eigentliche Wahrnehmung in jedem ablaufenden ‚Strom‘ mit. Wie bereits dargestellt, ist es insbesondere James’ Auffassung der Gewohnheiten, die in diesem Kontext von Interesse sind: „actions originally prompted by conscious intelligence may grow so automatic by dint of habit as to be apparently unconsciously performed. Standing, walking, buttoning and unbuttoning, piano-playing, talking […] may be done when the mind is absorbed in other things“34. Bei diesen im Falle des Bewusstseinsstromes zwar unbewussten, aber intelligenten Tätigkeiten erfolgt kaum ein Energieverlust, da sie durch keinen reflexiven oder kommunikativen Akt aufgebrochen werden. Diese Handlungen sind nach James im Alltags- und Arbeitsleben weitestgehend unverzichtbare Bestandteile sich wiederholender Handlungen. James zieht in dem Kapitel über die „Habits“ wiederum eine Analogie aus dem Bereich der Mechanik heran. Hier ist es die plasticity von festen Körpern, die sich nach einer anfänglichen Widerständigkeit des Materials nach äußeren Einflüssen formen und anpassen35 und dadurch ‚eingefahrene Wege‘, d.h. partielle Automatismen, ermöglichen. Analog verhalte es sich demnach mit psychologischen Prozessen: Das Gehirn, die Nervenstränge oder auch die Muskeln formen sich ebenso plastisch durch sich wiederho-

31 Vgl. ebd., 455. 32 Vgl. ebd., 404. 33 Als Gegenteil ist dabei ein Zustand der ‚Zerstreutheit‘ (James führt neben distraction auch das deutsche Wort mit auf) anzunehmen, in dem beinahe alle Wahrnehmungsinhalte gleichmäßig beleuchtet werden. 34 James 1950, Bd. 1, 5. 35 Vgl. ebd., 105.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 109

lende Vorgänge – es muss im Folgenden immer weniger Kraft aufgewendet werden, um bestimmte lineare Wege des Denkens zu beschreiten. Die ursprüngliche Widerständigkeit des Organs wird somit überwunden, so dass eingeübte Wege des Denkens und Wahrnehmens entstehen können. Innerhalb des Automatismus spielen zudem ökonomische Abwägungen eine bedeutende Rolle. Mit der expliziten Übertragung von physiologischen (die ‚Arbeit‘ der Muskeln und der Nervenzellen) auf psychologische Prozesse geht das Prinzip der Einsparung geistiger Energien einher. Gewohnheiten reduzieren daher über körperliche und geistige Mechanismen des Wiederholens und Wiedererkennens den Aufwand an muskulärer bzw. geistiger Energie: „habit simplifies the movements required to achieve a given result, makes them more accurate and diminishes fatigue 36. Zudem verringerten sie das dafür benötigte bewusste Denken37. Bei Handlungen etwa, die nach mehrmaligem Wiederholen und Üben ausgeführt werden, würde so lediglich ein Anfangsreiz genügen, um den Rest der Handlung mechanisch fortfließen zu lassen – wie etwa beim Aufsagen eines auswendig gelernten Gedichts, dem Laufen oder dem Klavierspielen, bei dem die einzelnen Schritte ohne weitere Reflexion auf den jeweils Vorhergehenden folgen. John Dewey beschreibt solche gewohnheitlichen, assoziativseriellen Tätigkeiten ganz ähnlich als „a connection of ideas or acts that, if one be presented, the rest of the series follow without the intervention of consciousness or the will“38. Diese Gewohnheiten sind, bezogen auf den Menschen, mitnichten gänzlich determiniert oder als vollständig unflexible Mechanismen zu verstehen. Eine Reihung von miteinander assoziierten Elementen verläuft nur solange automatisiert, bis eine Störung einen Wechsel der Aufmerksamkeit verursacht. Ein expliziter Aufmerksamkeitswechsel – und damit die Störung des Automatismus – vermag den Gedankenstrom jederzeit in eine andere Richtung zu lenken. Würde etwa beim Laufen, einem hochgradig automatisierten Vorgang, ein plötzlich auftretendes Hindernis erkannt, würde der Mensch – jenseits aller Slapstick-Komik – seine Schritte nicht einfach fortsetzen, sondern vielmehr reflektieren, ob und wie er das Hindernis überwinden möchte. Im Gegensatz zu einem Automaten, der keine alternativen ”

36 Ebd., 112. 37 Vgl. ebd., 114. 38 Dewey 1891, 112.

110 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Handlungsformen bei einer Störung der Mechanik ausbildet (und dem weithin deterministischen Äquivalent, etwa bei Thomas Huxleys Conscious-automata Theorie39 oder in der Dystopie von Wells’ Roman – siehe 5.2) ist der Mensch daher nicht als eine Maschine oder ein Automat zu verstehen, da er ein Bewusstsein für Fehler und ein Vermögen dafür besitzt, bei einem eventuellen Fehlgehen oder einer Störung des Automatismus flexibel nach Lösungen zu suchen. Die Störung geschieht in jedem Fall aber auf Kosten der Ökonomie des Handlungs- oder Denkvorgangs. Im Kapitel „The Stream of Thought geht James analog auf das Problem der Sprache ein. Er vergleicht das mechanische Fließen des Denkens mit den Bestandteilen eines Satzes, die einen bestimmten Sinn formen, ohne dass die einzelnen Bestandteile in der Regel genauer analysiert werden:



„Usually the vague perception that all the words we hear belong to the same language and to the same special vocabulary in that language, and that the grammatical sequence is familiar, is practically equivalent to an admission that what we hear is sense. But if an unusual foreign word be introduced, if the grammar trip, or if a term from an incongruous vocabulary suddenly appear […], the sentence detonates, as it were, we receive a shock from the incongruity, and the drowsy assent ”

is gone.

40

Das mechanische Dahinfließen innerhalb eines gewohnten Vokabulars einer Sprache kann etwa durch ein Fremdwort, welches das automatisierte Verstehen des Satzflusses aus dem Gleichgewicht bringt, aufgehoben werden. Es erfolgt eine Art Schockerfahrung, da das Wort nicht in bisher gewohnte Verbindungen zu integrieren ist. Denken und die Sprache werden durch den Einbruch des die Erwartung und die Assoziation hemmenden Wortes aus den gewohnten Bahnen geworfen. Ein solches psychologisches Prinzip der Verfremdung, der Störung eines weithin automatischen Vorganges sprachlicher Prozesse ist analog auf optische Phänomene anwendbar, die über visuelle Automatismen, das Ausblenden immergleicher optischer Areale und gewohnter Assoziationen ablaufen. Dies kann durch vielerlei Experimente mit dem Sehen hervorgerufen werden, in welchen ge-

39 Thomas Huxley: On the Hypothesis that Animals are Automata, and Its History (1874). 40 James 1950, Bd.1, 262.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 111

wohnte Bedeutungsaktualisierungen fraglich werden und die Prozesse der Sinnbildung Schwanken geraten. Auch James’ Beispiel des Starrens auf ein gedrucktes Wort, das dadurch nach und nach seinen gewöhnlichen Sinn verliert, legt dies nahe. Doch wie lässt sich eine solche alternative Wahrnehmungsweise bewusst hervorrufen? Dies könne sich James zufolge etwa dadurch herstellen lassen, indem man die Dinge im wörtlichen Sinne anders als gewöhnlich ansehe, etwa wenn man (wie schon in Hermann von Helmholtz’ Konzept des Schwankens) eine Landschaft auf dem Kopf stehend betrachten würde: „Perception is to a certain extent baffled by this manoeuvre ; gradations of distance and other space-determinations are made uncertain ; the reproductive or associative processes […] decline“41. Ein Element wird hier aus einer gewohnheitlich ablaufenden Reihe, d.h. der gewöhnlichen körperlichmotorischen Bedingungen, herausgenommen und erhält in seiner Neukontextualisierung ein anderes Ansehen. Erst durch die Veränderung der gleichmäßigen und weitgehend konstanten Umstände der Wahrnehmung und seiner assoziativen Folgeoperationen könne das sonst im Sinne der Handlungsziele ablaufende Denken in seiner Mechanisierung und Gleichförmigkeit vor Augen treten. Innerhalb eines solchen Anders-Sehens wäre eine tastende Regression in die kindliche Wahrnehmungsweise wiederum möglich, in der im Gegensatz zum Automatismus bzw. dem rationalistischen Denken das Laufen koordiniert erlernt, das Gedicht Zeile für Zeile memoriert und das Klavierspiel Ton für Ton bewusst und unter dem Aufwand geistiger Energie eingeübt werden müsste42. Auch laut John Dewey kommt es zum Aufwand an Kraft (effort), wenn die Gewohnheit irritiert wird und es zur Inkompatibilität, zu einem Konflikt zwischen zwei Zuständen, einem aktuellen und einem erwarteten kommt: „We are conscious of being attentive only when our attention is divided, only when there are two centres of attention com-

41 James 1950, Bd. 2, 81. An anderer Stelle beschreibt James das Einnehmen eines möglichst normalen Standpunktes für die Selektion der richtigen Anschauung aus der Vielzahl der möglichen Wahrnehmungsbilder (vgl. ebd., 239). Im Gegensatz zu Helmholtz nimmt James aber ursprüngliche Raumwahrnehmungen an – nicht alles in der Konstituierung räumlicher Vorstellungen beruht somit erst auf Erfahrung und dem Wirken des unbewussten Schlusses. 42 Dewey 1975, 163.

112 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

, peting with each other“. Hier ist es ebenjener Punkt des Helmholtz schen Schwankens, der als Ausgangspunkt der Verfremdung interessant wird. Ein solches Anders-Sehen geht demnach im Gegensatz zum habituellen und ökonomischen Automatismus mit einem Mehraufwand an Energie einher. Der Schritt zurück kostet Kraft. Die Unterscheidung des automatisch ablaufenden Gedankenstroms von einer Wahrnehmung, die erst über die Einnahme ungewöhnlicher Standpunkte erfahren werde, ist bei James aber nicht als eine wertende zu verstehen – vielmehr stellt er die Nützlichkeit der Gewohnheiten und Automatismen im Leben des Menschen heraus und fokussiert auf das Produkt der Handlung oder des Bewusstseinsakts, das in jedem Fall letztendlich als intelligent zu bezeichnen ist. Eine solche Kraft, die zum reflexiven Aufbrechen der automatischen Anteile des Denkens und der Wahrnehmung nötig wäre, solle idealerweise vielmehr für den Arbeitsprozess und deren höherwertige, kompliziertere Abläufe zur Verfügung gestellt werden. Die Theorie des amerikanischen Philosophen steht somit unter dem Primat der intelligenten und effektiv motivierten Logik der Produktion, wenngleich auch noch nicht im Umfeld der später im Kontext von Fordismus und Taylorismus aufkommenden biomechanischen Theoreme, die auf eine „reduction of surplus movement“43 im Arbeitsprozess und eine mechanische und automatische Zurichtung oder gar eine ‚Dressur‘ des Arbeiters44 angelegt sind. Die hier diskutierten Auffassungen des Automatismus ähneln zwar auf den ersten Blick denen der auf Einsparung und Rationalisierung gemünzten Arbeitsprozesse des Fordismus und Taylorismus. Jene sind jedoch nicht mehr der Steuerung auf einer höheren Ebene zugänglich, da der Arbeiter lediglich ausführender Teil im Räderwerk des höheren Organismus ist und die äußeren Zwänge als Selbstzwänge unhinterfragbar internalisiert hat.

43 Vgl. Pocknee 2013 (ohne Paginierung). 44 Die von Gramsci geübte Kritik an der ‚Dressur‘ des Arbeiters ist hier rich-



tungsweisend, der in seinem Aufsatz Americanismo e fordismo die durch bru-



talen (Selbst-)Zwang ausgeführte psycho-physische Anpassung an die neue industrielle Ordnung (vgl. Gramsci 1975, 2146), die neuen Arbeitsmethoden und -bedingungen der Arbeiter, beschreibt. Diese ‚Dressur‘ sei nur durch die Disziplinierung auf der Ebene des Privatlebens, d.h. der sexuellen Regulierung durch das Familienleben und das Alkoholverbot zu erreichen, wie Gramsci in Bezug auf den Fordismus der 1920er-Jahre analysiert.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 113

Eine weitere Stoßrichtung der Verfremdungstheorie könnte somit das Aufbegehren gegen entfremdete Arbeitsprozesse und damit verbundene internalisierte Selbstzwänge darstellen. Den Zusammenhang zwischen den neuen industriellen Arbeitsformen und der Weise zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen45 behandelt Antonio Gramsci in seinem Aufsatz „Americanismo e fordismo“ (1934). In der jüngsten Phase der Industrialisierung, des Taylorismus, sei es eine zentrale Aufgabe, den Arbeitern die maschinellen und automatischen Verhaltensweisen anzutrainieren und dabei die bisherigen traditionellen Arbeitsbedingungen zu überwinden, die bis hierhin eine aktive Leistung der menschlichen Intelligenz, der Phantasie und der selbständigen Initiative des Arbeiters46 zur Grundlage hatten. Diese Automatismen der in mehrere kleinteilige Prozesse unterteilten rationalisierten Arbeitsabläufe bedeuten vor allem eine Kraftersparung bei der auf mehreren Ebenen gleichzeitig zu leistenden Arbeit: „mit häufiger Wiederholung einer Leistung stellt sich allmählich die Fähigkeit ein, sie auch ohne jene bewußte Inanspruchnahme des Willens und der Aufmerksamkeit für die erforderlichen Einzelfunktionen des psychophysischen Apparates, schließlich sogar besser ohne Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf sie, zu vollziehen“47, wie Max Weber in seiner Studie „Zur Psychophysik der industriellen Arbeit“ (1908/09) bemerkt. Ziel sei es, ein psychophysisches Gleichgewicht des Arbeiters zu induzieren, um ihn so effektiv wie möglich zur Arbeit, zum täglichen und verlässlichen Abrufen der Automatismen, gebrauchen zu können. Damit könne die hier gesparte Energie bereits, wie bereits William James ausführt, für andere, gleichzeitig auszuübende Tätigkeiten verwendet werden. Insbesondere die industrielle Psychotechnik, die sich exemplarisch in Hugo Münsterbergs Buch „Psychologie und Wirtschaftsleben“ (1913) zeigt, hat die optimale wechselseitige Anpassung von Arbeiter, Maschine und Produktionsprozess im Rahmen der allgemeinen Wirtschaftlichkeit im Blick. Hier wird das Verhältnis zusätzlich durch empirische Experimente reguliert. Dabei ist es insbesondere die hierarchische Organisierung und Optimierung der Bewegungen des Arbeitsprozesses jedes einzelnen für die jeweilige Arbeit aufgrund seiner Disposition ausgewählten Menschen, die

45 Vgl. Gramsci 1975, 2164. 46 Vgl. ebd., 2165. 47 Weber 1995, 177.

114 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

im Mittelpunkt des Interesses der im Dienste der Nationalökonomie stehenden Psychophysik liegt. Im Sinne der Psychophysik werden psychologische Mechanismen des Menschen dabei als berechenbar, messbar und von außen steuerbar gesetzt. Die Ausbildung von energiesparenden Automatismen und wiederholbaren Mechanismen bei den arbeitsteiligen Prozessen steht dabei an erster Stelle dieser so genannten ‚angewandten‘ Psychologie. Automatismen bezeichnen in diesem Zusammenhang „Gewöhnungen höherer Ordnung“48, beispielsweise die Assoziation zwischen einem visuellen Eindruck und der Bewegung zum Tastenanschlag beim Schreibmaschineschreiben: Diese „gefestigte Verbindung zwischen Reiz und Bewegung“49 erinnert nicht zufällig an eine Nutzbarmachung der beinahe zeitgleich formulierten Theorie der bedingten Reflexe Pavlovs50 oder Helmholtz’ Theorie des unbewussten Schlusses. Der Arbeiter ist dabei soweit konditioniert, dass mindestens einer seiner meist untergeordneten Arbeitsprozesse ohne den Aufwand an Bewusstsein, d.h. energiesparend, automatisiert und kettenförmig ablaufen kann. Ziel ist die größtmögliche Steigerung der Arbeitsleistung des tätigen Menschen. Hier regrediert der Mensch selbst teilweise zu einer Maschine, wie Münsterberg an dem Beispiel eines Arbeiters anschaulich beschreibt, der zwei kombinierte Arbeiten gleichzeitig und beinahe schlafwandlerisch bewältigt: „So sah ich einen Arbeiter, der dauernd mit einer komplizierten technischen Leistung beschäftigt war, die scheinbar seine volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Trotzdem vollbrachte er die zunächst erstaunlich wirkende Leistung, an einer danebenstehenden automatischen Maschine jedesmal einen Hebel zu bewegen, sobald ein bestimmtes Rad 50 Umdrehungen gemacht hatte. Bei all seiner Arbeit zählte er die Umdrehungen, ohne sich noch irgend einer Zahlvorstellung bewußt zu werden. Ein System motorischer Reaktionen hatte sich in ihm ausgebildet, das unter der Schwelle des Bewußtseins arbeitete und nur, wenn es zum fünfzigsten Akte kam, den bewußt-psychischen Impuls erweckte, die Hebelwirkung auszuführen.“

48 Münsterberg 1913, 92. 49 Ebd., 105. 50 Vgl. Pavlov 1972, 53ff. 51 Münsterberg 1913, 124.

51

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 115

Mensch und Maschine scheinen in dem slapstickhaften Beispiel in einem einzigen ‚organischen‘ Arbeitsrhythmus miteinander verschmolzen zu sein, der Mensch hat die Anforderungen der Maschine vollständig internalisiert und reagiert maschinenhaft. Bei diesen oder ähnlichen automatisierten Handlungen können, so macht Jonathan Crary in seinem Buch über die Frage der Aufmerksamkeit deutlich, sowohl Konzentration und Auflösung als auch normative und pathologische Verhaltensweisen unbemerkt ineinander übergehen und sind nicht als Gegensätze, sondern vielmehr als ein unauflösbares Kontinuum zu denken52. Die Vermeidung von Störungen (des Gesichtsfeldes) – und damit der energieverausgabenden Unterbrechung des Automatismus, des dahinfließenden Stromes – sind aber in solchen komplexen Abläufen laut Münsterberg unbedingt zu gewährleisten. So soll es am Ende, so Münsterberg, zur „vollkommene[n] Entlastung des Arbeiters von jedem eigentlichen Überlegungsprozeß“53 kommen. Dies bedeutet letztlich etwas qualitativ Anderes als die Automatismen im Sinne James, die durch einen aktiven Aufmerksamkeitswechsel des Subjekts innerhalb von selbständig gelernten Alltagshandlungen zu jeder Zeit aufgebrochen werden können. Die Thesen Taylors sorgten auch in der Sowjetunion der 1910er/20er Jahre, der Zeit der Industrialisierung und der avisierten Produktionssteigerung für allerhand Diskussion54. Während Wissenschaftler und Lyriker wie Alexej Gastev die radikale Ökonomisierung in den Bereichen von Produktion und Gesellschaft befürworteten und gar – auch hinsichtlich der Kunst –

52 Vgl. Crary 1999, 47, 51, 60. 53 Münsterberg 1913, 142. So auch Adorno in den „Minima Moralia“: „Quickes Reagieren […] stellt nicht Spontaneität wieder her, sondern etabliert die Person als Meßinstrument, disponibel und ablesbar für die Zentrale. Je unmittelbarer es seinen Ausschlag gibt, desto tiefer hat in Wahrheit Vermittlung sich niedergeschlagen: in den prompt antwortenden, widerstandslosen Reflexen ist das Subjekt ganz gelöscht. So sind denn auch die biologischen Reflexe, Modelle der gegenwärtigen gesellschaftlichen, gemessen an Subjektivität ein Gegenständliches, Fremdes: nicht umsonst heißen sie oft ‚mechanisch‘“ (Adorno 2012, 264).“ 54 Alexander Bodganov und die Anhänger verschiedener Organisationen kritisierten vor allem die starke Hierarchisierung zwischen Arbeitern und spezialisierten Experten und die damit verbundene Rolle des einfachen Arbeiters, der nun noch stärker ausgebeutet werde. Vgl. Bailes 1977, 380ff.

116 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

propagierten (wie etwa auch der Konstruktivismus), wurde diese von Formalisten wie Šklovskij, aus unterschiedlichen Gründen abgelehnt. Gastevs Projekt stellte das einer Automatisierung und Maschinisierung des Einzelnen sowie des Kollektivs und deren Aufgehen in technischen Abläufen dar, bis hinein in physiologische, volationale und psychologische Strukturen55. Im Jahre 1920 wurde für die Optimierung der nationalen Arbeitsleistung das Zentralinstitut für Arbeit (CIT: Centralnogo instituta truda) in Moskau gegründet. Gastev plante dazu ebenfalls das sowjetische Bildungssystem zu reformieren, um eine noch schnellere und rationellere Vorbereitung auf die Fabrikarbeit zu ermöglichen und experimentierte zeitgleich mit einer rein sachlichen, maschinellen Sprache, die sich für Anleitungen und die pragmatische Übertitelung mehrerer aufeinander folgender Arbeitsschritte eignete. Das enge Zusammenarbeiten von Wissenschaft und den Künsten war in jener Zeit ohnehin in starker Form zu beobachten. Laut Margarete Vöhringer muss man den Taylorismus, wie er in der Sowjetunion rezipiert wurde, zumindest der Programmatik nach als Versuch zur Schaffung eines zwar kollektivistischen, gleichzeitig aber ‚aufgeklärten Proletariers‘56 sehen – dafür stehen die vielfältigen Kontroversen über die Stellung des kollektiv eingebundenen Arbeiters und seiner Interessen und Bedürfnisse. Der bei der angeleiteten Organisation von maschineller Arbeit mit den körperlich-geistigen Automatismen zusammenhängende Rhythmus stellt dabei einen zentralen Faktor der effektiven Synchronisation von Mensch und Maschine dar. Hier kommt es zur bestmöglichen Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft und des ‚natürlichen’ Bewegungsrhythmus, indem Bewegung innerhalb des Arbeitsprozesses unter dem Primat der Ersparnis und Erleichterung, kurz: der Arbeitsökonomie, experimentell optimiert werden soll. So kann Hugo Münsterberg lakonisch bemerken: „Die rhythmische Tätigkeit bedeutet notwendigerweise psychophysische Ersparnis“57. Die Arbeit soll bis zu einem gewissen Teil rhythmisiert ablaufen, was letztendlich der besseren Verteilung der Arbeitslasten und der optimalen Nutzung der menschlichen Arbeitskraft zugute kommen sollte. Jede einzelne, auch die nebensächlichste Bewegung ist dabei so zweckhaft wie möglich. Bewe-

55 Vgl. Zielinski 2002, 265. 56 Vgl. Vöhringer 2007, 10. 57 Münsterberg 1913, 97.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 117

gung findet immer schon mit der gleichzeitigen oder der darauf folgenden Bewegung koordiniert und jeweils auf ein Endziel gerichtet statt. Auch auf der geistigen Seite des Arbeitsprozesses spielt der Rhythmus eine entscheidende Rolle, der durch Töne und Lautgestalten, die bei der Arbeit entstehen, hervorgerufen wird. Die Anstrengung einer Arbeit kann dabei dadurch minimiert werden, „dass an Stelle der vom Willen geleiteten die automatische (rein mechanische) Bewegung gesetzt wird“58. Der Rhythmus dient hier als Mittel zur effektiven Ausführung eines Arbeitsprozesses innerhalb des regelmäßig verlaufenden und zentral geplanten Arbeitsalltags. Zudem kann der Rhythmus, wie Herbert Spencer feststellt, auch in Bezug auf die Ästhetik von grundlegender Bedeutung sein. Spencer behandelt ihn unter dem Prinzip der geistigen Energieeinsparung, allerdings in Bezug auf die Sprachkunst – die Poesie und ihre Metrik. In der streng prosaischen Sprache müsse laut Spencer auf jede Silbe eines Wortes oder Satzes Aufmerksamkeit verwendet werden. Er setzt dem die mit dem Rhythmus verbundene Leichtigkeit der Poesie, den „comparative ease with which words metrically arranged can be recognized“59, entgegen. Hierbei kann sich der Geist des Rezipienten, indem er das Gehörte oder Gelesene mühelos aufnimmt, bereits auf die kommenden Einheiten einstellen und darauf vorbereiten. Das immerwährende Einlösen der Erwartung erleichtere es dem Zuhörer, seine Energien gleichmäßig zu verteilen und damit den Aufwand an einer ständig in ungewisser Erwartung verbleibenden Aufmerksamkeit einzusparen. So werde die Störung des begünstigten Automatismus vermieden: „Much as the bottom of a flight of stairs, a step more or less than we counted upon gives us a shock; so, too, does a misplaced accent or a supernumerary syllable“60. Viktor Šklovskij bezeichnet eine solche Auffassung, die Nutzung des Rhythmus für eine gleichmäßig ablaufende Tätigkeit in „Kunst als Verfahren“, als einen für die Verfremdungstheorie zu negierenden prosaischen Rhythmus, worunter er beispielsweise, ähnlich wie schon Karl Bücher, den Rhythmus von Arbeitsliedern versteht: „Der prosaische Rhythmus, der Rhythmus des Arbeitsliedes, des Wolgaschlepperliedes, ersetzt einerseits das Kommando ‚Hau – ruck‘, andererseits erleichtert er die Arbeit, die auf

58 Bücher 1899, 25. 59 Spencer 1892, 33. 60 Ebd., 34.

118 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

diese Weise automatisch abläuft“61. Hierbei ist keinerlei Aufwand an Aufmerksamkeit oder Willensimpuls nötig oder erwünscht. Demgegenüber stellt er den poetischen Rhythmus des Kunstwerks, der den prosaischen durchbricht, indem er gegen seine Gesetze der Ökonomie und Zweckhaftigkeit verstößt. Der poetische Rhythmus ist somit nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern vielmehr Gradmesser einer künstlerischen Verknüpfungsund Anordnungstechnik, die sich erst auf der Ebene des dem Alltag gegenüberstehenden Kunstwerks zeigt. Die hier beschriebene psychologische Automatismus-Theorie James’ oder die produktionstheoretische Automatismusauffassung Gramscis werden noch nicht als ‚Hintergrund‘ eines ästhetischen oder künstlerischen Verfahrens der Entökonomisierung und -automatisierung des Wahrnehmungsgeschehens gefasst, wenngleich das Prinzip eines Aufbrechens der Automatismen bei James bereits angelegt ist. Diesem zweiten Verständnis möchte ich hingegen im Folgenden in der Auseinandersetzung mit dem Anders-Sehen der Verfremdungstheorie nachgehen.

3.2 D IE V ERFREMDUNGSTHEORIE UND ANDERS -S EHEN NACH V IKTOR Š KLOVSKIJ Viktor Šklovskij muss sich in dem Aufsatz „Kunst als Verfahren“ (Isskustvo kak priem, 1916) zunächst von den Gemeinplätzen der Literaturwissenschaft absetzen, um seine Theorie der Verfremdung im Diskurs des frühen Formalismus zu etablieren. So geht er insbesondere mit der vorherrschenden normativen Ästhetik und der biographistischen Methode hart ins Gericht. Dabei sind es in seiner Argumentation insbesondere zwei negative Prinzipien, die das Verfahren der Verfremdung terminologisch zusammenhalten: 1) Das Prinzip des nicht-ökonomischen Charakters der Kunst, und 2) der Entautomatisierung der alltäglichen und gewohnheitlichen Wahrnehmung. Beide Prinzipien stehen unter einem sowohl ästhetischen, als auch übergreifenden lebensphilosophischen und kulturkritischen Interesse.

61 Šklovskij 1987a, 32.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 119

Šklovskij setzt sich hier zunächst vor allem von dem Bildverständnis des Literaturwissenschaftlers Alexander Potebnja62 ab, welches jener für die Literaturtheorie unter der Möglichkeit zu Klassifikation und Denkökonomie diskutiert. Das dem Symbol nahe stehende Bild begreift Potebnja als ein Mittel des praktischen und klassifizierenden Denkens, letztlich einer Vereinfachung. So schafft es das Bild, einen abstrakten oder komplexen Begriff zu verdichten, weshalb es jederzeit – mit jeweils historisch und kulturell unterschiedlichen Aktualisierungen – abrufbar sei. Das von Šklovskij im Folgenden als prosaisch bezeichnete Bild unterliegt den Gesetzen der , Ökonomie der Geisteskräfte und damit dem Spencer schen Primat einer Einsparung geistiger Energien in der Kunst. Ein solches Prinzip der Ökonomie, des glatten Vollzugs kognitiver Prozesse soll für die Wahrnehmung hingegen aus dem künstlerischen Prozess verbannt werden63. Bestimmend für die Definition der Literarizität sei, so Šklovskij, vielmehr der spezifische Gebrauch des Bildes als Leistung des Poetischen, nicht dessen Vorhandensein in der Kunst als bloßes ‚Denken in Bildern‘: Gegenüber dem prosaischen Bild stellt er das Modell des poetischen Bildes, das auf einem nicht-ökonomischen Charakter der Wahrnehmung beruht. So erhält der Begriff des Bildes in den frühen und auch späteren Schriften Šklovskijs ei-

62 Renate Lachmann beschreibt den Bildbegriff (obraz) Potebnjas als einen aus der vorrangig ‚intellektualistischen‘ Tradition Belinskijs stammenden, der von Potebnja zudem synonym mit Symbol (simvol) verwendet wird. Vgl. Lachmann 1982. Es sind jedoch darüber hinaus auch einige Ähnlichkeiten mit der Theorie Šklovskijs zu bemerken. 63 Hier erfolgt eine explizite Kritik Šklovskijs an Herbert Spencer: „Die Gedanken über die Ökonomie der Kräfte als Gesetz und Ziel des Schaffens, die für einen Sonderfall der Sprache, die ‚praktische‘ Sprache, von Berechtigung sein mögen, wurden aus Mangel an Kenntnissen über den Unterschied zwischen den Gesetzen der praktischen und denen der poetischen Sprache auch auf letztere übertragen“ (Šklovskij 1987a, 15f). Genau aus dem Bestreben Šklovskijs, diese glatten Prozesse der Wahrnehmung aus der Kunst auszuschließen sowie die Möglichkeit einer Rückwirkung des Verfahrens auf lebensphilosophische Annahmen und neue Bedeutungsmöglichkeiten lassen die Kritik des Psychologen Lev Vygotskijs an Šklovskij, der diesem eine sensualistische Einseitigkeit und vor allem Hedonismus (die Empfindung angenehmer Gegenstände!) unterstellt (vgl. Vygotskij 1976, 57ff), meiner Ansicht nach als recht haltlos erscheinen.

120 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

nen zentralen Platz innerhalb seiner sowohl literatur- als auch wahrnehmungsästhetischen Prämissen, was zum Verständnis der Verfremdungstheorie als eines vor allem sprachlichen Phänomens unerlässlich ist. Den Ort der dialektischen Vermittlungsleistung zwischen Leben und Kunst stellt in der späteren Theorie Šklovskijs ebenjenes Bild dar: „Ein Bild (Tropus) ist die ungewöhnliche Benennung eines Gegenstandes, d.h. die Benennung mit einem ungewohnten Namen. Ziel dieses Verfahrens ist, den Gegenstand in eine neue semantische Reihe zu versetzen“64. Der über bloße materielle oder imaginative Bilder hinausweisende und vor allem paradoxal und produktionsästhetisch gedachte Bildbegriff umfasst das Schwanken zwischen zwei semantischen Bereichen oder Wahrnehmungsordnungen, die innerhalb einer im Bild vermittelten Konstellation, ähnlich der von Simmel beschriebenen bedrohlichen und schockhaften „Zusammendrängung wechselnder Bilder“ (siehe 3.1), aufeinander treffen und sich nicht eindeutig auflösen lassen. Der hier verwendete Begriff des Bildes steht somit einer Denk- oder Handlungsfigur näher als klar abzugrenzenden sprachlichen oder visuellen Phänomenen, wenngleich beide mit in den semantischen Bereich hineinspielen. Diese Logik der Kontrastherstellung, des Gegen-Stellens als ‚Ordnung des Sowohl-als-auch‘ beschreibt der Medienphilosoph Dieter Mersch als ein genuines Denken im Visuellen65, oder auch künstlerisches Denken. Die Form des Literarischen bestehe laut Šklovskij in der Anordnung solcher Kontraste66, der Artikulation von Paradoxien durch die Kunst und ihrer formalen und technischen Verfahren. Im Gegensatz etwa zur Auffassung des späteren russischen Formalismus möchte ich den Begriff der Verfremdung weniger in Bezug auf die makroskopische Evolution des Systems Literatur über das Prinzip der Ablösung von Formen durch eine syntagmatisch gefasste Automatisierung und deren Aufbrechen durch neue Verfahren67, damit um

64 Šklovskij 1987b, 55. 65 Vgl. Mersch 2014, 64ff. 66 Auch Hugo Münsterberg beschreibt, wenngleich unter gänzlich verschiedenen Prämissen, Kontrastphänomene als Faktoren von Mechanismen der Reklame und Werbung, welche die Aufmerksamkeit in besonderem Maße reizen (vgl. Münsterberg 1913, 158). 67 Im späteren Formalismus entwickelt sich die Verfremdungstheorie Šklovskijs genau in eine solche historisierende Richtung des Prinzips der literarischen Evo-

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 121

systematische literaturhistorische Fragen des Formalismus selbst beleuchten, als vielmehr ein differenzierteres Verständnis für das ästhetische und aisthetische Verfahren der Verfremdung selbst. Texte von Šklovskij werden von mir hauptsächlich in seiner ersten Phase, d.h. etwa bis zu seiner Exilzeit in Berlin (ab 1922) behandelt. Daher rücken vor allem wahrnehmungstheoretische Einlassungen in den Vordergrund der Definition der Literarizität und des poetischen Bildes. Šklovskij formuliert als allgemeines Gesetz der Wahrnehmung und als spezielles der Prosasprache (in welchem die Anschauung durch Symbole und Abkürzungen ersetzt werde), „daß zur Gewohnheit gewordene Handlungen automatisch ablaufen“68. Ist ein Gegenstand mehrfach Objekt der Wahrnehmung geworden, geht die Frische des ersten Wahrnehmungseindrucks verloren und wird von den Prinzipien des begrifflichen Wiedererkennens und der Erfahrung überformt. Er kann nicht mehr im eigentlichen Sinne gesehen oder gefühlt werden: „Mehrmals wahrgenommene Dinge nehmen wir allmählich nur noch wiedererkennend wahr: Wir stehen ihnen gegenüber, sehen sie aber nicht, sondern wissen nur davon“69. Die beispielsweise im Prozess der Industriearbeit auftretende Monotonie durch Wiederholungen erklärt in ähnlicher Weise, aber mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen Hugo Münsterberg damit, „daß schnell aufeinanderfolgende ähnliche Eindrücke die Tendenz haben, einander zu hemmen oder miteinander zu verschmelzen […] daß das Erleben eines Eindrucks die psychische Disposition für dieses bestimmte Erlebnis zunächst einmal erschöpft hat und der psychophysische Apparat daher zunächst unfähig wird, den gleichen 70

Eindruck noch einmal aufzufassen.“

lution. Hier ist das Prinzip der Automatisierung bestimmter Elemente und der wechselseitigen Abhängigkeit von konstruktivem Prinzip und Material vor allem auf werkimmanenter Ebene bestimmend – wie vor allem bei Jurij Tynjanov (vgl. Tynjanov 1877, Striedter 1988, XXIV; Hansen-Löve 1978, 227ff), später auch unter Hinzuziehung soziologischer und gesellschaftlicher Aspekte. 68 Šklovskij 1987a, 16. 69 Ebd., 18. 70 Münsterberg 1913, 121.

122 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Das Denken in ökonomischen Kategorien ist dabei in ganz unterschiedlichen Kontexten, wie etwa Alltags-, Arbeitsleben sowie der Kunst vorherrschend. Das pragmatische Wiedererkennen (uznavanie) funktioniert letztendlich ‚algebraisch‘, so dass der Gegenstand nur noch anhand von Einzelmerkmalen und für einen kurzen Zeitabschnitt registriert wird. Läuft die wiederholte Wahrnehmung eines Gegenstandes auf eine solche Weise automatisiert und ökonomisiert ab, werden individuelle und kontextuell übergreifende Eigenschaften innerhalb der singulären Anschauung übersehen. Den Ausweg aus einer solchen begrifflich-rationellen Stillstellung der Anschauung stellt das künstlerische Verfahren des ostranenie als einer veränderten und dynamischen Fokussetzung, vermittelt durch das poetische Bild, dar. Das Verfahren der Verfremdung kann nicht nur als ein mögliches Verfahren unter anderen verstanden werden, sondern ist darüber hinaus im übergeordneten Sinne grundlegend für die Kunst als Kunst und Einstellung: „Um nun die Empfindung des Lebens wiederzugewinnen, die Dinge wieder zu fühlen, den Stein steinern zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Ziel der Kunst ist es, ein Empfinden für die Dinge zu vermitteln, das sie uns sehen und nicht nur wiedererkennen läßt; ihre Verfahren sind die ‚Verfremdung‘ der Dinge und die erschwerte Form, ein Verfahren, das die Wahrnehmung erschwert und verlängert, denn dieser Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß zeitlich gedehnt werden.“

71

Verfremdung findet dort statt, wo es im weitesten Sinne ein poetisches Bild gibt und vor allem erst innerhalb der und durch die bildliche(n) Konstellation selbst. Die Auffassung der Kunsthaftigkeit von Kunst ist in der Frühphase des Formalismus bei Šklovskij zu einem großen Teil an dem Prinzip eines Anders-Sehens, einer Störung des Wiedererkennens und der gewohnten Abläufe der Wahrnehmung orientiert. Das Kunstmittel der Verfremdung hat (im Gegensatz etwa zu Ruskins Auffassung eines ‚natürlichen‘, ‚reinen‘ Sehens und des Primats der Farbe) keine für alle Zeit gültige Dimension und zielt auf keinen Fluchtpunkt hinaus, sondern umfasst dynamische sprachliche und auch bildliche Verfahren, um eine standardisierte Sehweise aufzubrechen. Grundlegend ist hierbei vor allem die Einstellung des Produzenten und Rezipienten, immer auch eine andere Bedeutung zu

71 Šklovskij 1987a, 17f.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 123

aktualisieren. Dies läuft nach dem ständig evolutionierenden Differenz- und Kontrastverhältnis von Norm und Normabweichung72 ab. Das Verfahren der Verfremdung bezeichnet demnach eine künstlerische Entautomatisierung von Wahrnehmung und ein Erschweren des ökonomischen Ablaufs des Wahrnehmungsvorgangs. Eine Kritik an den zeitgenössischen technologisch und kulturell determinierten Wahrnehmungs- und Denkkonventionen bildet hier das Anliegen für eine dialektische Denkbewegung. Die im Folgenden etwas genauer zu beschreibende Verfahrensweise besteht aus zwei Schritten: Erstens, das aktive Aufbrechen des Automatismus, die Hemmung der gewohnten Wahrnehmung durch die zunächst reduktionistische künstlerische Perspektivierung. Dabei wird das Vorwissen eingeschränkt und die übliche Perspektive bewusst verzerrt, in Form der Diskontinuität, der Störung des Wiedererkennens oder des Bruchs. Sowie zweitens, die Integration in eine umfassendere Kontinuität – denn nur so wird der auf der Ebene der Alltagswahrnehmung auseinandergenommene und durch die Kunst wieder zusammengeführte Gegenstand im eigentlichen Sinne zum Thema der Wahrnehmung und wird dadurch erneut gesehen. Dabei zeigen die unterschiedlichen Sehweisen immer auch die ursprünglichen Konditionierungen und Ordnungen des Sehens und Denkens mit, die sonst im Dunkeln verbleiben. Die primäre Zerstörung der gewöhnlichen Abläufe des Denkens, Handelns und Wahrnehmens und von Darstellungskonventionen ist somit Voraussetzung für die Herausbildung einer neuen organisch zusammenhängenden Ordnung und einem veränderten in-

72 Vgl. Lachmann 1970, 249. Dies übernimmt Šklovskij, wie bemerkt wird, von dem Prinzip der Differenzqualität im Werk Broder Christiansens („Philosophie der Kunst“, 1909) – genauer aus dem Kapitel über das ästhetische Objekt. Die Differenzempfindung beschreibt hier die „Abweichung von einem Gewohnten, von einem Normalen, von einem irgendwie geltenden Kanon“ (Christiansen 1909, 118), wie beispielsweise Abweichungen von Sprachgewohnheiten oder vom gewohnten Rhythmus in der Dichtung. Jede Abweichung von der Naturform etwa bezeichnet Christiansen bereits als eine bestimmte Stilisierung (vgl. ebd., 122). Diese empfundene Differenzqualität wird von Christiansen allerdings als ein nicht-sinnliches Phänomen verstanden. Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Christiansen und dem Formalismus: Vgl. Gerigk (ohne Jahresangabe).

124 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

tellektuellen Verhalten den Dingen gegenüber. Diese zwei Schritte möchte ich im Folgenden nacheinander erläutern. Zunächst kommt es zu einer Erfahrung von Diskontinuität, wo der gewohnten Regel nach gleichmäßig verlaufende, nicht aber bewusst wahrgenommene Assoziationen vorherrschen. Ein solcher Denkakt ist ein essentieller Teil des Verfremdungsverfahrens, das verschiedene Techniken der Verschiebung und Dekontextualisierung umfasst: Etwa das Heraustrennen eines Gegenstandes aus einem bestimmten gewohnten Kontext bzw. einer psychologisch-assoziationistischen Verknüpfungsreihe und das Einfügen des Alltagsmaterials in einen neuen Kontext. Dabei kommt es zu einer künstlerischen An- und Umordnung desselben. Šklovskij nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise das Verfahren des Schriftstellers als grundlegend, „einen Gegenstand in eine neue Reihe zu versetzen, kurz, ihn aus seiner Kategorie herauszulösen“73 – damit das Sehen für eine kurze Zeitspanne vom Wiedererkennen abzutrennen und ein produktives Schwanken zwischen mehreren Lesarten zu evozieren. Šklovskij beschreibt im Folgenden ein literarisches Verfahren Lev Tolstojs, Dinge nicht beim ihrem gewohnten Namen zu nennen, sondern in einer Weise zu beschreiben, als sähe und erlebe man sie zum ersten Mal – und nehme sie so dekontextualisiert, aus einer verschobenen Perspektive heraus wahr. So zitiert er Ausschnitte aus Texten des Schriftstellers, in denen etwa über die Vermittlung der Perspektive eines Pferdes Auffassungen von den menschlichen Eigentumsverhältnissen kritisch hinterfragt werden („Leinwandmesser“) oder Textstellen aus der russischen Literaturtradition, in denen erotische Situationen sprachlich verfremdet dargestellt werden, um ihnen den Eindruck des Neuen, Nicht-Klischeehaften zurückzugeben. Dabei kann im Zuge einer solchen Neuordnung auch der Gegenstand selbst in seine Einzelteile zerlegt werden: „Das praktische Denken tendiert zur Zusammenfassung, zur Schaffung allumfassender Formeln. Die Kunst hingegen […] versucht, selbst das zu zerlegen, was als Allgemeines und Einheitliches erscheint“74. Bezüge zur Gestalttheorie sind hier offensichtlich. Gewohnt erlebte Gegenstände und Wahrnehmungsgestalten werden durch das Verfahren der Verfremdung aufgebrochen, neu zusammengeführt

73 Šklovskij 1987b, 55. 74 Šklovskij 1966, 38.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 125

und in ihrer Selbstverständlichkeit als ganzes, kompaktes und immer wieder abrufbares Bild hinterfragt. Ebenfalls kann bisher Unverbundenes oder Unzusammenhängendes entgegen den bisherigen Konventionen verbunden oder verschmolzen werden. In einem solchen Raum der Möglichkeiten, des semantischen Schwankens zwischen verschiedenen Interpretationen und Wahrnehmungsordnungen, in dem Konventionen und Automatismen (noch) nicht greifen, können die neu gewonnenen Anordnungen und Wechselbeziehungen des künstlerischen Materials experimentell erprobt werden. Hierbei ist insbesondere der Mechanismus des Schwankens aufschlussreich, bei dem verschiedene semantische Angebote möglich sind. Das zwischen zwei Ordnungen schwankende, blinde Tappen des MolyneuxProblems wird hier als eine experimentelle Art der Erkenntnis und der Zerstörung des intellektuellen status quo aufgewertet. Diese Arbeit der Konstruktion aus dem Schwanken heraus darf allerdings nicht als bloßer Selbstzweck verstanden werden – von einem solchen einseitigen Verständnis her sind auch die Vorwürfe an Šklovskijs Methode zu erklären. Die Terminologie steht zunächst in einer wahrnehmungsästhetischen Traditionslinie Ruskins oder Bergsons, wenn Šklovskij etwa als Ziel der Kunst ausgibt, eine „besondere Wahrnehmungsweise des Gegenstandes zu bewirken“, und zwar so „daß wir ihn ‚sehen‘ und nicht nur ‚wiedererkennen‘“75. Die Wahrnehmung wird zur zentralen Kategorie der Kunst, wenn durch die sprachliche und optische Verzerrung oder die Veränderung des als vertraut Erlebten das alltägliche Denken verfremdet wird. Die literarische, poetische Sprache wird von Šklovskij daher als „gebremste, verbogene Rede“76 bezeichnet, da sie das ökonomische Wiedererkennen bewusst erschwert. Gleich der Fremdsprache, die auch Berkeley und James stellvertretend für das Prinzip der Verfremdung anführen, sorgt sie für das Aufbrechen des prosaischen Rhythmus und einen Aufmerksamkeitswechsel. Das Prinzip der erschwerten Form (zatrudnennaja forma) dient somit der Steigerung und Verlängerung des Wahrnehmungseindrucks. Nur durch die Vermittlung der Kunst sei im Anschluss daran das Fühlen77 (oscucenie)

75 Šklovskij 1987a, 25. 76 Ebd., 31. 77 Der Begriff osčutimost bedeutet hier vor allem eine sensuelle, physische, vorbewusste Wahrnehmbarkeit und nicht etwa Fühlen im Sinne von Gefühl oder Emotion (vgl. Hansen-Löve 1978, 53).

126 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

der Form sowie das Sehen (videnie) der Dinge jenseits ihrer gewohnten Kategorien wieder möglich. Kunst kann so entgegen William James’ Auffassung eines ungehindert ablaufenden Bewusstseinsstroms etwa als ein „gewundener Pfad“78 verstanden werden, ein Hin und Her, eine ständige Hemmung und Umleitung gewohnter Wege des Denkens und der Wahrnehmung – letzthin als erschwerte intellektuelle Arbeit. Das Fühlen tritt in den Bereich einer verlängerten Erfahrung – so kann auch die Formulierung des Formalisten verstanden werden, den Stein wieder ‚steinern‘ zu machen, also Wahrnehmung, Erleben und Wort wieder enger zusammenzubinden. Hierbei kommt es entgegen der Theorien von Ökonomie und dem energieeinsparenden Wiedererkennen zu einem bewusst in Kauf genommenen erhöhten Energieaufwand. Anschließend an eine solche Reduktionsperspektive findet nun eine Integration in ein neues ‚Erleben‘ der Dinge statt, ein Erleben und Erkennen auf einer höheren Stufe. Die erschwerte Wahrnehmung stellt, so Šklovskij, eine ‚wahre‘ Kontinuität der Weltwahrnehmung her, da die Dinge jenseits des Automatismus auf der Ebene der künstlerischen Verknüpfung wieder bewusst wahrgenommen werden. So wird 2) auf der Ebene des Künstlerischen eine Erfahrung von Kontinuität evoziert, wo hingegen im Alltagsleben in der Regel bewegungslose Abstraktion, bloße Zusammenfassung und der Automatismus – kurzum: das reduzierte Leben vorherrschen. Eine solche gestufte Wahrnehmung der neu verketteten Elemente ist sowohl Ziel des zweiten Schrittes des Verfremdungsverfahrens als auch Resultat einer späteren Phase im Denken des Formalisten79. Ein zusätzlicher Fokus liegt nun auf der Ebene der Materialität des Wortes: „Der Weg der Kunst ist ein gewundener Pfad, auf dem der Fuß die Steine spürt, ein Pfad mit Hin und Her. Wort gesellt sich zu Wort, das Wort fühlt das Wort, wie die Wange die Wange. Die Worte werden voneinander getrennt, und statt eines einzigen Komplexes, des automatisch ausgesprochenen Wortes, das herausgeschleudert wird

78 Šklovskij 1966, 28. 79 Auf diese Verlagerung im Denken des Formalisten zu textinternen Figuren, der Verschiebung des primären Verfremdungsmodells als bloßes Abweichungsphänomen zu Phänomenen der textinternen Anordnungen, wie etwa Serialität, von Wiederholungen und Stufungen macht Anke Hennig aufmerksam: Vgl. Hennig 2002, 263f.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 127

wie eine Tafel Schokolade aus einem Automaten, entsteht ein Wortklang, ein Wort, das klar gegliederte Bewegung ist.“

80

Der bergsonianischen Bewegungs-Metapher Šklovskijs nach wird so aus einem mechanischen Laufen als Addierung von Schritten erst ein bewusstes Schreiten, oder gar Tanzen81, so wie auch der Satz im Kontext des Poetischen nicht einfach eine additive, automatische Verknüpfung von Einzelwörtern oder Gedanken ist – sondern vielmehr, eine nach Klang, Syntax und Semantik synthetisierte „künstlerische Struktur“82 mit einer dynamischen Bedeutung. Dazu bedarf es zunächst des Durchbrechens des alltäglichen Ablaufes des Denkens und der Wahrnehmung, oder, um bei der Bewegungs-Metapher zu bleiben: des produktiven Stolperns, um in einem späteren Schritt neue Bedeutungen abseits des üblichen Weges auszuloten. Die gewohnte Anschauungsweise weicht einer beweglichen und immer wieder neu einzurechnenden Perspektive, aus der heraus unkonventionelle Ordnungen des Denkens und Handelns ermöglicht werden. Die künstlerische Wahrnehmung tritt somit in eine neue, durch die verfremdete Ordnung motivierte und nun fühlbar gewordene Nähe zum Leben: „die Sehweise einer solchen Wahrnehmung wird zum Ziel des Künstlers, und ‚künstlich‘ wird es so geschaffen, daß es die Wahrnehmung hemmt, sie möglichst verstärkt und verlängert, damit der Gegenstand nicht in seiner Räumlichkeit, sondern gewissermaßen in seiner Kontinuität wahrgenommen wird“83. Der Vergleich mit der (gegliederten und bewusst erlebten) durée Bergsons wird in der Folge von Šklovski noch weiter ausbuchstabiert: Die Welt des Kontinuierlichen sei eine Welt des Sehens, die nichtkontinuierliche Welt eine Welt des Wiedererkennens, die aus sprachlichen Abkürzungen, verfestigten Formen und unzusammenhängenden Momentbildern besteht. Dies fasst Šklovskij nun als Prinzip des Lebendigen und Beweglichen im Gegensatz zum Automatismus bzw. zum Signum der Zeit gewordenen Automaten, der den Strom des Lebens in seine Einzelteile zerlegt, um dieses dann als ein kompaktes, zusammengesetztes und fertiges Instant-

80 Šklovskij 1966, 28f. 81 Vgl. ebd., 38. 82 Lotman 1993, 26. 83 Šklovskij 1987a, 30.

128 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Produkt auszuwerfen – ohne dabei eine Möglichkeit von lebendiger und dynamischer Erinnerung und Erfahrung zu stiften. Die Rückwirkung auf das Alltagsleben wird hierbei meiner Ansicht nach in den meisten Lesarten des Frühformalismus nur ungenügend berücksichtigt. Die Verfremdungstheorie ist bei allen gegenteiligen Beteuerungen, auch von Seite Šklovskijs selbst, immer an das bedeutungshafte Leben des Menschen gebunden – ob man dabei so weit gehen muss, von einer voraussetzungsreichen ‚wahren‘ Kontinuität zu sprechen, bleibt letztendlich aber sehr fragwürdig. Insgesamt bleibt gerade aber der Zusammenhang der beiden Phasen von Diskontinuität und der tatsächlichen Kontinuität bei Šklovskij rätselhaft und merkwürdig unverbunden84. Insbesondere der zweite, synthetische Teil des Verfahrens, der bei Šklovskij lediglich anklingt, erinnert, wie bemerkt, stark an Bergsons Lebensphilosophie und deren Ziel einer klareren, unverstellteren Erkenntnis der Dinge durch die Veränderung der Wahrnehmungssteuerung, des Prinzips der Überschreitung des Alltagslebens als eines Verfahrens des Anders-Sehens (siehe 2.3.2). Ein kritischer Blick auf die Methodologie und das sprunghafte und assoziative argumentative Vorgehen Šklovskijs muss dabei immer eingerechnet werden. James M. Curtis zählt in seinem Aufsatz drei Aspekte auf, die Viktor Šklovskij in „Kunst als Verfahren“ von der Lebensphilosophie Bergsons übernimmt: erstens die Kritik am ökonomischen Bildbegriff85, zweitens die Verbindung von habituellen und automatisierten Wahrnehmungsabläufen sowie drittens die Nähe des Wiedererkennens zu mathematischen, algebrai-

84 So weist Peter Bürger in seiner Avantgarde-Theorie beispielsweise ebenfalls auf den Schock als einen Aufruf zur „Veränderung der Lebenspraxis des Rezipienten“ (Bürger 1974, 108) hin, bekennt aber zugleich, dass die Richtung der Verhaltensänderung in Manifesten der Avantgarde oftmals unspezifisch und die Dauerhaftigkeit derselben fraglich bleibt. , 85 Auch Didi-Huberman (vgl. Didi-Huberman 2004) diskutiert den Bergson schen Bildbegriff in Anlehnung an Bergsons durch die experimentale Methode und Intuition sich annäherndem Weltverständnis gegenüber festen Systemen: Das Bild (l’image) und die Intuition erweitern den Bereich der Wahrnehmung im Gegensatz zur starren Klassifikationslogik der positivistischen Wissenschaften in Bezug auf Differenzen, Nuancen und das Prinzip der Bewegung.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 129

schen Verfahren (der Verräumlichung und Quantifizierung des Lebens)86. Die explizite, wenngleich oberflächliche Bergson-Rezeption Šklovskijs erfolgt jedoch noch nicht in „Kunst als Verfahren“, sondern erst in seiner späteren Schrift „Literatur und Kinematograph“ (1923), wo er Bergsons Argumentation gegen das Kino, das eine Illusion von Bewegung erzeuge, wiederholt. Er stellt ferner die Kunst dem nicht-intuitiven Denken – und damit auch dem Kino gegenüber: „Menschliche Bewegung ist eine kontinuierliche Größe, das menschliche Denken ist etwas diskontinuierliches, in der Art einer Reihe von Stößen, einer Reihe von endlos kleinen Abschnitten, klein bis zur Kontinuität. Die Welt der Kunst, die Welt der Kontinuität, die Welt des kontinuierlichen Wortes, der Vers kann nicht in Betonungen zerlegt werden, er hat keine betonbaren Punkte, er hat einen Wendepunkt der Kraftlinien […] Die kontinuierliche Welt ist eine Welt des Sehens. Die diskontinuierliche Welt ist eine Welt des Erkennens. Das Kino ist ein Kind der diskontinuierlichen Welt. Der menschliche Gedanke hat sich eine neue, nichtintuitive Welt nach seinem Bilde und Ebenbilde geschaffen.“

87

Die Kunst wird hier wiederum als Bereich des kontinuierlichen, lebendigen und bewusst erlebten Wahrnehmens verstanden, während das rationelle Denken und die ausschnitthaften Bilder des Kinos nur diskontinuierlich ablaufen und eine ungeteilte Bewegung lediglich simulieren. Auch das zentrale Kontrastpaar Sehen und Wiedererkennen, das er nun auch auf das Phänomen des Kinos überträgt, wird wieder aufgenommen. Šklovskij beschreibt die Welt der Kunst als eine Welt der Kontinuität, des bewussten Sehens im Gegensatz zum diskontinuierlichen Wiedererkennen, was er zudem mit einer – zugegebenermaßen ungerechten – Kritik an mechanischen Bewegungsillusionen, genauer: dem apparativen Teil des Kinos, verbindet. Später, in seinem Aufsatz „Die grundlegenden Gesetze der FilmEinstellung“ behandelt er die filmische Bewegung und dessen Tiefenwir-

86 Vgl. Curtis 1976, 113f: „the formalists clearly associated the three corresponding binary pairs – seeing and recognition, continuity and noncontinuity, deautomatization and automatization – with Bergson“ (ebd., 113). Curtis zeigt zudem an vielen weiteren Beispielen den Einfluss Bergsons auf Šklovskij und den Russischen Formalismus allgemein. 87 Šklovskij 1974a, 35.

130 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

kung bereits etwas detaillierter: Da das psychologische Erkennen von Bewegung und Räumlichkeit in Filmbildern immer über Routinen und Konventionen funktioniert, denkt er hier die Parameter von Bewegung, Tiefe und Wiedererkennen bei Räumlichkeitswerten zusammen88. Neben den Gemeinsamkeiten ist aber zudem auf markante Unterschiede zwischen den beiden Positionen zu verweisen. So wäre von Bergson vor allem das Verfremdungspotential des primären Schock- oder Dekompositionsmoments kaum zu vertreten, das nicht Teil seines auf dem gleich bleibenden Prinzip der Dauer beruhenden Bewusstseins sein kann89. Aus einer solchen Verkennung der Gegensätze zwischen Šklovskij und Bergson kann

88 Vgl. Šklovskij 2005a, 215. Auffällig ist hier wiederum die Ähnlichkeit der Grundsätze seiner Wahrnehmungstheorie mit derjenigen von Helmholtz’. So behandelt er die Wahrnehmungsgesetze des Bewegungs-Sehens im Film gemäß , der Helmholtz schen Theorie des Gesehenem als Zeichen für die Außenwelt als psychologische, weniger als physiologische Prozesse und gibt ein Beispiel, das in seiner quasi-automatischen Vervollständigung von Gesehenem an Helmholtz Theorie des inductiven Schlusses erinnert: „Im Wald ist ein Baum zu sehen, der, wenn er weit genug entfernt ist, einem Menschen gleicht. Wir zeichnen nun für uns das Fehlende hinzu und sehen die Bekleidung des Menschen und sein Werkzeug, weil wir mit uns selbst übereingekommen sind, ihn als Menschen zu sehen“ (ebd., 216). Nach diesem Prinzip der automatisierten Vervollständigung funktioniert für ihn das Prinzip des Bewegungs-Sehens und der Wahrnehmung von Räumlichkeit im zweidimensionalen Filmbild. 89 Zudem ist bei Bergson das Individuum ohne äußerliche und gesellschaftliche Einflüsse gedacht. Paradigmatisch daher die Kritik Walter Benjamins: „Seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts stellte sie [die Philosophie, R.S.] eine Reihe von Versuchen an, der ‚wahren‘ Erfahrung im Gegensatze zu einer Erfahrung sich zu bemächtigen, welche sich im genormten, denaturierten Dasein der zivilisierten Massen niederschlägt. Man pflegt diese Vorstösse unter dem Begriff der Lebensphilosophie zu rubrizieren. Sie gingen begrifflicherweise nicht vom Dasein des Menschen in der Gesellschaft aus“ (Benjamin 1992, 104). Benjamin nennt die durée Bergsons polemisch eine „schlechte Unendlichkeit des Ornaments“ (ebd., 139). Ein berechtigter Vorwurf, der aber (meines Erachtens in diesem Falle zu Unrecht) auch in der Kritik der formalistischen Methode erhoben wurde, da das gesellschaftliche Außen, zumindest bezogen auf die Verfremdungstheorie, sehr wohl ein grundlegender Faktor des Verfahrens ist.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 131

die etwas überhöhte Feststellung Curtis’ erklärt werden, Šklovskij sei auf, grund eines ähnlichen Kunstverständnisses der Vertreter des Bergson schen Denkens in Russland90. Der relativ kurze Text „Kunst als Verfahren“ bleibt jedoch gerade wegen seiner Unschärfen und argumentativen Sprünge offen für vielfältige Zuschreibungen. Die verwendeten Begriffe stammen aus der Anfangsphase des Formalismus und sind noch nicht in eine systematische Theorie der literarischen Evolution eingebettet. Šklovskij mäandert in seiner frühen Schaffensphase zwischen einer allgemeinen, unhistorischen Theorie der Kunst und der Theoretisierung eines literarischen Verfahrens. Kunst, Literarizität und Verfremdung werden dabei vielfach gleichgesetzt. Die hier von mir rekonstruierten wahrnehmungspsychologischen Prämissen sind zudem in seinen Texten weithin undifferenziert und werden bis auf zahlreiche literarische Beispiele nicht weiter systematisch oder begrifflich vertieft91. Vielleicht ist es aber gerade eine solche Offenheit der Begriffe, welche Freiräume für die Literatur und Produktionslogiken schafft, ohne die Auffassung literarischer Verfahren einseitig zu begrenzen und endgültig zu systematisieren. So bemerkt Barney Latimer in seinem Aufsatz Shklovsky the Postmodernist (1999) „that his writing is all the richer for the connections it leaves itself ‚open’ 92. Und in der Tat: Er zeigt mehr, deutet an, schafft Denkräume und Verbindungen, als dass er seine Theorie bis ins Letzte begrifflich oder streng argumentativ ausführt. Noch weiter geht die Literaturwissenschaftlerin Renate Lachmann, die in Hinblick auf eine metatheoretische Pointe der Schriften Šklovskijs salopp feststellt: „die Sprunghaftigkeit seiner Gedankenführung, die auf Konsequenz verzichten kann, sowie die Neigung zu extremer Formulierung, zu abrupten Schlüssen, zu Aphorismen, wirken gemessen an der Norm literaturwissenschaftlicher Abhandlungen selbst wie ‚Verfremdungen‘“93. Hier







90 Vgl. Curtis 1976, 115. 91 Vgl. Lachmann 1970, 237 und Striedter 1988, XVII. 92 Latimer 1999 (ohne Seitenangabe). Ähnlich scheint es im Übrigen um die Anknüpfungen Šklovskijs an wissenschaftliche, d.h. vor allem psychologische Diskurse bestellt zu sein. Dass der Umgang der formalistischen Theoretiker mit der deutschen Assoziationspsychologie eher partiell und unsystematisch erfolgte, stellt auch David Romand fest (vgl. Romand 2010, 530). 93 Lachmann 1970, 238.

132 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

ist das von mir herausgestellte kontrastive Denken teils auch in den Argumentationsbrüchen und -sprüngen spürbar, wenngleich mir die These Lachmanns etwas überzogen erscheint. Šklovskij hebt sich in seinem Aufsatz aber ohnehin von dem späteren System der Formalisten ab, da er sich nur mit einem singulären literarischen Verfahren beschäftigt, wenngleich es gleichsam als ein Meta-Verfahren verstanden wird – die Auffassung von Literatur als Evolutionssystem ist bei ihm an dieser Stelle nur in schwach ausgeprägten Ansätzen entwickelt (wie später zum Beispiel in Tynjanovs Theorie des literarischen Kunstwerks und des evolutionierenden Formenwandels). Lachmann hält sie ganz im Gegenteil zu Hansen-Löve gar für generell unvereinbar mit der formalistischen Methode94, da keine Einbettung des Verfahrens in übergreifende Funktionszusammenhänge erfolgt. Im Jahre 1930 schließlich schwört Šklovskij der formalistischen Methode unter dem Druck der stalinistischen Wissenschaftspolitik ab, wie in dem Aufsatz „Denkmal zur Erinnerung an einen wissenschaftlichen Irrtum“95 als einer Selbstanklage, wenngleich in einigermaßen ambivalenter Form, festgehalten ist. Etwa vierzig Jahre später distanziert sich Šklovskij in „Provesti o proze“ (1966) unter dem Druck der sowjetischen Wissenschaftsdoktrin von seiner Konzeption des einseitig formalistisch geprägten Verfremdungsbegriffs, wenngleich viele Komponenten der ursprünglichen Theorie letztendlich erhalten bleiben96. Als Problem des Formalismus galt zu Recht Šklovskijs reduktionistischer Methode geschuldete proklamistische Auffassung von der generellen Sujetlosigkeit der Kunst und der Autonomie der Literatur jenseits allen Gesellschaftlichen. So kommt auch die Einschätzung Erlichs über das Verfahren der Verfremdung zustande, es ginge Šklovskij in Bezug auf die zahlreichen Beispiele aus der Literatur Tolstojs „nicht um die ideologischen Folgerungen dieses Kunstmittels“97. Dagegen möchte ich hier im Folgenden die strukturell im Modus der Verfremdung angelegte Beziehung von Leben und Kunst, Kunst und Alltag und die daran anschließende Möglichkeit einer semantischen und politischen Veränderung, die auf die Praktiken und Epistemologien der Lebenswelt zurückwirkt, betonen.

94 Vgl. ebd., 241. 95 Vgl. Šklovskij 1974b. 96 Hierzu etwa Rossbacher 1977, 1039; Lachmann 1970, 244. 97 Erlich 1964, 196.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 133

3.2.1 Reduktion Das Prinzip der Reduktion findet im Folgenden auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen Anwendung: 1) Auf der Ebene der reduzierten Perspektive, die einen ungewöhnlichen und fremden Standpunkt in wahrnehmungstheoretischer oder intellektueller Hinsicht markiert. Sowie 2) Auf der Ebene der Zurückführung des literarischen Texts auf das Material, d.h. die Sprache, die Konstruktionsprinzipien und den Wortklang. Viktor Šklovskij versteht jedes literarische Werk zunächst als eine bestimmte Form. Damit meint er die Anordnung des zunächst außerliterarischen Materials, d.h. der Fabel, von Wörtern und Bildern in einer spezifisch literarischen Ordnung. Der Fokus auf das Wortmaterial selbst wird hierbei im Gegensatz zu jeglichem Inhalt als die eigentliche Grundlage der Literarizität verstanden, wenngleich in der späteren Phase des Formalismus die Wechselwirkung mit außerliterarischen Reihen, d.h. auch gesellschaftlichen oder sozialen Umständen anerkannt wird. Form ist somit das immer veränderbare Verhältnis, allgemein verstanden als innerliterarisches „Kompositionsgesetz eines Gegenstandes“98. Die Verschiebbarkeit der Verhältnisse und die Dynamik der Form sind unerlässliche Faktoren, das eigentliche Prinzip der Verfremdungstheorie als einer Theorie des Lebendigen und Beweglichen. Wichtiger noch als die Struktur und Veränderbarkeit des jeweiligen Wahrnehmungsautomatismus ist für den Formalismus das Sichtbarmachen der Konstruktion, der Bauprinzipien von Literatur sowie aus der Sicht der Produktionsweise literarischer Texte der Erschwerung der im Alltag ökonomisch funktionierenden Wahrnehmungsweise. Das Kunstwerk wird bei Šklovskij als eine bewusst organisierte und konstruierte Maschine verstanden, die paradoxerweise in der Lage ist, das Gefühl des Lebens zu erneuern und das Alltagsleben zu überbieten. Dies geht zunächst gänzlich unabhängig von dem thematischen Eigenwert des literarischen Sujets vor sich, denn auch ganz alltägliche Beschreibungen, beispielsweise über Haushaltsführung, könnten ein automatisiert gewordenes Literaturgenre im Sinne des Kontrastprinzips auffrischen99. Gegen die Logik des Bildes bei Potebnja stellt Šklovskij die Dynamik des Gegensatzpaares Automatisierung und Entautomatisierung: Worauf es ankomme, sei

98 Šklovskij 1966, 61. 99 Vgl. Šklovskij 1987b, 39f.

134 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

der durch den Künstler bewusst und absichtlich100 herbeigeführte „Wechsel des Gesichtspunkts, die neuartige Darbietung einer Sache, ihre Zusammenstellung mit neuem Material, neuem Hintergrund“101. Ein solches immer wieder neu zu schaffendes Kontrastprinzip ist somit sowohl auf der Ebene der Produktion, als auch auf der Ebene der Struktur des Kunstwerks und der Rezeption beispielhaft. Dies wird in einer späteren Phase des Formalismus stärker auf das immanente Literatursystem und die diachrone Abfolge der literarischen Formen bezogen: „[E]in Kunstwerk wird vor dem Hintergrund anderer Kunstwerke und im Zusammenhang mit ihnen wahrgenommen. Die Form eines Kunstwerks wird durch sein Verhältnis zu anderen, vor ihm existierenden Formen bestimmt […] Nicht nur die Parodie, sondern jedes Kunstwerk überhaupt wird als Parallele und Antithese zu irgendeinem Muster geschaffen. Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt zum Ausdruck zu bringen, sondern um eine alte Form zu ersetzen, die ihren künstlerischen Wert verloren hat.“

102

Die Verfremdungstheorie verbindet daher sowohl produktionsästhetische (die bewusste Konstruktion eines Gegensatzes mit dem Fokus auf das künstlerische Verfahren), textorientierte (das Kunstwerk als ein Attraktionssystem sowie selbst auf mehreren Ebenen Träger des Kontrasts) und rezeptionsästhetische (der Bezug auf die Wahrnehmungsweise des Rezipienten und seine Erwartungen) Aspekte und kann als ein Mittel zum ‚Dirigieren‘ und der Neueinstellung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit in einem bestimmten historischen, kunstimmanenten und kulturellen Kontext verstanden werden. Die Reduktion eines Textes auf bestimmte formale Kunstgriffe und Anordnungsmuster steht dabei gegenüber dem zu vernachlässigenden Sujet im Vordergrund. Es erfolgt hier die analytische Trennung des Zeichens in Material (der Laut, der Text, die Bildoberfläche) sowie in Bedeutung und die damit verbundene Reflexion der Medialität (des Sehens, Sprechens oder Hörens

100 Schon Broder Christiansen spricht in Bezug auf die Differenzqualität von der „Absicht des Künstlers auf eine bestimmt fühlbare Abweichung von der Naturform“ (Christiansen 1909, 122). 101 Šklovskij 1987b, 54. 102 Šklovskij 1966, 35.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 135

selbst). Daher ist mit dem Moment der Verfremdung als eines AndersSehens und der Aufmerksamkeitsverschiebung immer auch ein NachVorne-Treten des Medialen im Gegensatz zum bloß auszusagenden und transparenten Sinn oder Inhalt verbunden103. Durch die Betonung der Konstruiertheit, des Gemachtseins der Literatur anhand bestimmter Verfahren und des dialektisch vermittelnden Bildes kommt es nach Maßgabe des Formalismus sowohl zu einem a) Sichtbarwerden, der Entblößung des konkreten ‚Materials‘, als auch b) zu einer Sichtbarmachung der gewöhnlichen Sichtweise (der automatisierten Weise zu sehen, der kanonischen Darstellungsweise) durch die Störung, die erschwerte Form, was sich wiederum paradigmatisch in Erzähltexten sowohl über die Art der Konstruktion oder das Erzählen als auch über die Wahrnehmungsstruktur der Figuren ausführen lässt. Dabei tritt oftmals die Werkstruktur und die Einbindung bestimmter formaler Verfahren, wie das der Verfremdung, in Gegensatz zu ideologischen und thematischen Inhalten und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Konstruktionsprinzipien, die ästhetische ‚Gemachtheit‘ des Werkes jenseits dessen bloßen Aufgehen in Handlung, linearer Erzählform und Inhalt. Dieser Aufmerksamkeitswechsel auf die Gemachtheit, das Ausstellen der Kunst als eines eigenständigen Vokabulars und einer Arbeit der Neuverkettung der einzelnen Bestandteile eines Textes geschieht unter anderem durch die Umformung und Hemmung des linearen Handlungsablaufs des außerliterarischen Materials, wie etwa durch literarische Retardation (Begebenheiten werden im Gegensatz zur fabula in die Länge gezogen), durch Abschweifungen, Unterbrechungen oder die mehrfachen redundanten und damit nicht erwartbaren Wiederholungen innerhalb eines Textes, die jenseits psychologischer Formeln oder außerliterarischer Gesetze operieren, die etwa das Handeln der Protagonisten erklären. Die optische und wahrnehmungsästhetische Orientierung des Frühformalismus ist mehrfach, am eindringlichsten wohl von dem Slawisten Aage

103 Vgl. Bürger 1974, 109. Bürger spricht hier von einem durch das avantgardistische Kunstwerk hervorgerufenen „neuen Typus der Rezeption“ (ebd.). Louis Sass nennt in einem gänzlich anderen Kontext die Tendenz, auf das Medium der Repräsentation zu fokussieren, gar ein Charakteristikum des schizophrenen Denkens. Vgl. Sass 1992, 157.

136 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Hansen-Löve betont worden104, der die erste historische Phase des Formalismus selbst als ein Reduktionsmodell bezeichnet und deren Vorläufer im Symbolismus und der avantgardistischen Kunst ausführlich erläutert werden. Hansen-Löve gibt in diesem Zusammenhang die umfassende zeitgenössische und auch später erfolgende Kritik an dem „Reduktionismus“105 der frühen Phase des Formalismus wieder. Dem Formalismus werden in diesem Zusammenhang vor allem bloß additive (Kunst als die Summe der Verfahren), sensualistische (die wahrnehmungsästhetische Immanenz) und negativistische (die Bestimmungen der formalistischen Begriffe als hauptsächlich negative und parasitäre) Tendenzen vorgeworfen. Ein Wandel der üblichen Aufmerksamkeit hin zu einer so wenig wie möglich pragmatischen Einstellung auf die Phänomenalität der Gegenstände, ihre Anordnung und Konstellation, ist hierfür in jedem Falle unerlässlich, und zwar als ein „intellektuell und auch ideologisch orientierte[r] Primärakt des vorsätzlichen Reduzierens der Perspektive, des gezielten ‚Nichterkennens‘“106 oder Nichtverstehens. Diese reduzierte Perspektive kann in Negationen des gewohnten, eingeübten Denkens und Wahrnehmens bestehen – etwa durch Wahrnehmungsträger wie das Tier, den Wahnsinnigen oder das Kind, die in ihrer Eigenart die übliche Perspektive bewusst verzerren, stören oder verfremden. Hierbei kommt es bei der Störung der Automatismen zu einer sprachlich vermittelten Hemmung der üblichen assoziativen Operationen des Denkens und der Wahrnehmung. Das Schwanken im Sinne Helmholtz’ und das darauf folgende Anders-Sehen wird durch ein solches primäres Störungsmoment des Vorwissens, das Aufgeben von Sicherheiten im Wahrnehmungsvorgang evoziert. Die primäre visuelle Wahrnehmung steht somit oft an der ersten Stelle als Prinzip eines autonomen ästhetischen und poetischen Denkens und der veränderten Sicht auf die Welt. Auf den Bezug zum Strang des reduktionistischen Prinzips der Wahrnehmung, wie etwa der impressionistischen Malerei im 19. Jahrhundert107, ist bereits zudem mehrfach aufmerksam gemacht worden.

104 Vgl. Hansen-Löve 1978, 65. 105 Ebd., 175ff. 106 Ebd., 225. 107 So stellt Aage Hansen-Löve drei Postulate des Impressionismus zusammen, die im Folgenden für die formalistische Verfremdungstheorie anschlussfähig

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 137

Auf die Verbindungslinie der Verfremdung zu Zuständen psychologischer Pathologien möchte ich hier nur nebenbei aufmerksam machen. Das von Louis Sass im Zuge seines Buches „Madness and Modernity“ erwähnte Phänomen der Wahrnehmungsfragmentierung bei schizophrenen Patienten weist in eine ähnliche Richtung wie das Aufbrechen der gewohnten psychischen Assoziationen und das verfremdende Herausnehmen eines Gegenstandes aus der gewohnten Gedanken- und Assoziationsreihe. In diesem Zustand der Vereinzelung, „[o]bjects normally perceived as parts of larger complexes may seem strangely isolated, disconnected from each other and devoid of encompassing context; or a single object may lose its perceptual integrity and disintegrate into a disunity of parts“108. Schizophrene sähen etwa in menschlichen Gesichtern, wie Sass in Fallstudien beschreibt, zwar die Einzelteile, würden sie aber nicht mehr als eine zusammenhängende Ganzheit erkennen. Vielmehr würden extrem fokussierte Details bemerkt, jedoch jeweils auf Kosten des Gesamtzusammenhangs. Die gewohnheitlichen Automatismen und Mechanismen des Alltagslebens sind im Zustand einer schizophrenen Erkrankung oftmals gehemmt. Sass beschreibt dies im Gegensatz zu den traditionellen Theorien über Schizophrenie aber weniger als ein Defizit, als vielmehr – dem künstlerischen Verfahren der Verfremdung analog – als ein anderes Denken: „One might describe the central feature of the schizophrenic mind as a disconnectedness, an unmooring from practical concerns and accepted practices that allows consciousness to drift in unexpected and unintended directions“109. Als Zeitpunkt des Auftauchens des Begriffs der Schizophrenie als Krankheitsbild gilt im Übrigen das Jahr 1908 und wird etwas eingehender 1911 mit Ernst Bleulers Schrift „Dementia Praecox oder die Gruppe der

geworden sind und beide auf der Basis ähnlicher struktureller Prinzipien verbinden: 1) Auf wahrnehmungsästhetischer Seite das Postulat der Unmittelbarkeit, das ein Neu-Sehen bewirken soll, 2) auf der Verfahrensseite das Prinzip der Dekomposition vorgegebener Kontexte bzw. Gestalten in ihre konstruktiven Elemente und die perspektivisch nicht mehr motivierte Präsentation dieser Bestandteile in einer Anordnung sich verselbständigender Montageregeln und 3) das Postulat der Entgegenständlichung, wie etwa in der abstrakten Kunst. Vgl. ebd., 62f. Hier nur leicht im Wortlaut verändert. 108 Sass 1992, 49f. 109 Ebd., 127.

138 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Schizophrenien“ behandelt. Bleuler betont in seiner Schrift die Störung, jedoch auch die damit zusammenhängende erhöhte Flexibilität der Gedankenassoziationen bei Schizophrenen110 hinsichtlich ihrer Wahrnehmungen, verbalen Äußerungen und schriftlichen Aufzeichnungen. Das so typische und nicht festgelegte Driften, die Flexibilität des Denkens gegenüber mechanischen Denk- und Wahrnehmungsautomatismen, die zuallererst Orientierung, Sicherheit und Klassifikation versprechen, erinnert wiederum an , das Helmholtz sche Konzept des Schwankens, hier als „vacillation among widely divergent perspectives or orientations“111. Dies findet als Bewusstsein mindestens zweier gleichzeitiger Möglichkeiten statt, das heißt wiederum innerhalb eines Kontrastverhältnisses, in welchem alternative Bedeutungssetzungen ermöglicht werden. Der hier betonte wahrnehmungsästhetische Aspekt wird zu einem Potentialitätsraum für die im Folgenden sich ergebenden Semantiken. Die Zerstörung von Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten bedeutet mehr als nur ein selbstzweckhaftes Spiel mit dem Aufbrechen konventioneller Formen der Wahrnehmung. Daher sehe ich letztendlich keine Übereinstimmung mit der These Lachmanns, das Wahrnehmungsprinzip in der Verfremdungstheorie sei bloßer Selbstzweck112. Ich gehe im Gegenteil davon aus, dass ein inhärentes Widerstandspotential der Kunst, wenn auch nicht immer explizit, bereits im Werk des frühen Šklovskij angelegt ist. Dies geschieht vor allem durch die Kritik an und dem gleichzeitigen reflexiven Sichtbarmachen von gesellschaftlich vermittelten Automatismen der Wahrnehmung sowie dem Wirken einer nicht-ökonomischen Auffassung des Wahrnehmungsprozesses durch und auch in der Kunst. Die Anwesenheit des Gesellschaftlichen würde ich zudem etwa schon auf einer über die Theorie Šklovskijs hinaus erweiterten, d.h. historisch, gesellschaftlich und kulturell motivierten Wahrnehmungstheorie (dem erlernten Automatismus entgegengesetzten Prinzip der Störung, der Diskontinuität) und der generellen Wechselwirkung zwischen Kunst und Leben113, d.h. dem Einwirken der

110 Vgl. Bleuler 1988, 10ff. 111 Sass 1992, 130. 112 Vgl. Lachmann 1970, 237. 113 So ist auch Hansen-Löve der Ansicht, dass „die Auffassung, die formalistische V-Ästhetik strebe nicht nach einer neuen Weltsicht […], durch zahlreiche Äußerungen der Formalisten zu widerlegen“ (Hansen-Löve 1978, 221) sei.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 139

neuen, widerständigen Semantiken auf die zeitlich und kontextuell gebundene Lebenswelt, annehmen. 3.2.2 Das Prinzip der Kontinuität und die Erprobung neuer Semantiken Das Verfahren der Verfremdung beruht auf dem Prinzip des Schwankens, das bereits in dem Funktionieren des poetischen Bildes als einer Transferleistung zwischen zwei semantischen Ebenen angelegt ist. Die dialektische Bewegung schafft eine Wahrnehmungserfahrung, in der sich Gewohntes und Neues erst gegenseitig bedingen, indem sie sich beständig gegeneinander verschieben: „Der Dichter vollzieht eine semantische Verschiebung, er zieht den Begriff aus der Reihe, in der er sich gewöhnlich befindet, heraus und setzt ihn mit Hilfe des Wortes (der Trope) in eine andere Bedeutungsreihe, wobei wir die Neuheit dessen spüren, daß sich der Gegenstand in einer neuen Reihe befindet“114. Eine solche seriell angeordnete Reihe (rjad’) ist mit der Auffassung des assoziationistischen Funktionierens der menschlichen Psyche vergleichbar115. Bezogen auf das Sujet kann grundsätzlich alles in diese andere Reihe und somit in miteinander zusammenhängende Assoziationsketten geraten. Um den Strom bzw. die alltägliche Wahrnehmungsweise zu hemmen, ist jedoch eine spezifische literarische Kompositionsenergie notwendig: Ziel des Bildgebrauchs ist es, „den Gegenstand aus seiner gewohnten Wahrnehmung in einen Bereich neuer Wahrnehmung zu transportieren, Ziel also ist eine spezifische semantische Veränderung“116, so Šklovskij. Die Schaffung einer neuen Bedeutung wird als Ziel des Verfahrens nicht grundlegend negiert, wie Kritiker des Formalismus immer wieder behaupten, sondern steht mit der künstlerischen Form in einem dynamischen Wechselverhältnis. Ähnlich fasst dies auch Hansen-Löve, der trotz seiner heuristischen Trennung der ersten Reduktionsphase von den späteren Phasen des Formalismus annimmt, „daß semantische und wahrnehmungspsychologische Re-

114 Šklovskij 1974a, 28. 115 Diesen Zusammenhang legt auch David Romand in seiner Studie über den Russischen Formalismus und den Einfluss der kognitiven Psychologie nahe. Vgl. Romand 2010, 526. 116 Šklovskij 1987a, 29.

140 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

geln einander bedingen“117. Die Rückwirkung des Verfahrens auf die Alltagswahrnehmung und immer wieder erfolgende Neubestimmung von Vorder- und Hintergrund sowie die daraus entstehenden Bedeutungsverschiebungen und intellektuellen Folgeoperationen müssen meines Erachtens bei der Beschäftigung mit der Verfremdungstheorie immer mitgedacht werden. So verstehe ich die unterliegende wahrnehmungspsychologische Grundlage, die sich gesellschaftlich, historisch und kulturell bedingten Wahrnehmungsautomatismen und deren Überschreitungen öffnet, als einen begriffsoffenen und in vielen Fällen richtungweisenden Weg für literarische Texte der Zeit, noch vor der stärker kunstimmanenten Orientierung des späteren Formalismus. Das Kontrastprinzip der Verfremdung kann sowohl als Produktionsverfahren als auch immanentes Merkmal literarischer Texte zugleich hervortreten und in dem Kurzschluss von Sehen und Bedeuten sowohl auf sprachliche, bildliche, als auch sprachbildliche Muster appliziert werden. Das Prinzip des Anders-Sehens tritt in der literarischen Moderne als Verfahren der Perspektivverschiebung auf, wenn auf der einen Seite gesellschaftliche Wahrnehmungskonventionen und auf der anderen Seite abweichende Wahrnehmungsoptiken sowie die Darstellung von naiven oder pathologischen Sehweisen aufeinanderprallen. Das Verfahren dieser visuellen Verfremdungsleistung besteht etwa darin, dass die primär-vorrationelle Optik (des Kindes, des Blinden oder sonst wie ‚optisch‘ Beeinträchtigten) als literarische Verfahren zur Möglichkeit zu Perspektivwechseln genutzt werden, um die Welt zu verfremden118 und alternative Sehweisen als ethische und künstlerische Sichtweisen zu etablieren, die neue Bedeutungen erschließen. Hierbei treten sonst unbeachtete Seiten oder Details der Dinge hervor, verkehren sich verfestigte Verhältnisse von Gegenstand und Hintergrund, da die üblichen Kategorisierungen und Synthetisierungen nicht mehr ineinander greifen. Ein solches experimentelles Kontrastprinzip wird so durch die Literatur ständig aktualisiert und in Bewegung gehalten. Dabei können vielfältige Effekte erzielt werden: „Die ‚Deformation‘ einer Beschreibung durch die Spezifik des gewählten (verengten, verschobenen) Gesichtspunktes (des Kranken, Wilden, Fremden, Träumenden,

117 Hansen-Löve 1978, 50. 118 Vgl. Striedter 1988, XXXIVf.

D AS V ERFAHREN

DER

V ERFREMDUNG

ALS KÜNSTLERISCHE

(S EH -)S TÖRUNG | 141

Trunkenen, Reisenden, Rasenden etc.) kann noetische (z.B. pädagogische), komische, oder ästhetische Ziele verfolgen. In ihrer primär ästhetischen Funktion wird die V-Perspektive zu einem konstruktiven Prinzip, das der im Kunstwerk (v.a. in der Moderne) aufgebauten Welt gegenüber der empirischen Wirklichkeit generell einen Sonderstatus einräumt.“

119

Dies, die spezifische Bedeutungsproduktion durch die Kontrastästhetik literarischer Texte, um eine „Widersprüchlichkeit der Wahrnehmungen“120 zu erzeugen und das Verfahren der verfremdenden Beschreibung soll im Kapitel 5 in Hinblick auf ausgewählte Werke Gegenstand der Untersuchung sein.

119 Hansen-Löve 1978, 23. 120 Šklovskij 2005a, 211.

B. Malerei und Literatur: Das Prinzip des Anders-Sehens in den Künsten

4. „[C]’est encore une convention qu’il a couchée en joue“ Schwankende Ansichten in der Malerei Gustave Caillebottes

Der französische Maler Gustave Caillebotte (1848-1894) ist als Maler von Stillleben, Porträts, Landschaften und Pariser Stadtansichten vor allem in seinem Heimatland Frankreich und den Vereinigten Staaten bekannt geworden, weniger allerdings in Deutschland. Neben einer realistischen, akademisch geprägten Malweise sind in seinem Werk ebenso durch den Impressionismus inspirierte Bilder zu verzeichnen. So stellte Caillebotte etwa bei den impressionistischen Sammelausstellungen unter der Rubrik der Impressionisten, namentlich der Indépendents, aus und erhielt aufgrund seiner oftmals verstörenden, aber dennoch weithin als realistisch geltenden Ansichten die unterschiedlichsten, darunter positive wie negative, Kritiken. Kirk Varnedoe bemerkt in seiner Studie über den französischen Maler1 eine paradoxe Situierung des Werkes Caillebottes zwischen impressionistischer Avantgarde und der akademischen Tradition, die sich im Gegensatz zum Impressionismus noch an der klassischen perspektivischen Malerei orientiert. Mehrfach und nachdrücklich wird zudem auf die Einflüsse der Fotografie auf seine Malerei hingewiesen, einer zur damaligen Zeit relativ neuen technischen Entwicklung: Die Gemälde Caillebottes, so der programmatische Text für den Ausstellungskatalog anhand der 2012/13 in Frankfurt am Main stattfindenden Ausstellung „Gustave Caillebotte: Ein Impressio-

1

Vgl. Varnedoe 2000.

146 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

nist und die Fotografie“ erschließen „den engen Zusammenhang von Malerei und Fotografie in der Herausbildung eines neuen Sehens“. Und weiter: „Mit Aufsicht, Schrägsicht, Nahaufnahmen und Objektfragmentierung setzt Caillebotte Stilmittel ein, die auf verblüffende Weise denjenigen des ‚realistischen Mediums‘ der Fotografie ähneln“2. Der Einfluss der Fotografie wirkte in der Zeit Caillebottes tatsächlich sowohl inspirierend als auch verstörend auf die traditionelle Malerei und auf das Verständnis des Kunstcharakters beider Medien – es sei hier nur an die Diskussion des Kunststatus der Fotografie im 19. Jahrhundert erinnert. Ein solcher Einfluss der Fotografie auf die Malerei darf am Allgemeinen und bei Caillebotte nicht als ein direkter und ungebrochener Einfluss verstanden werden, dafür erscheint das Kalkül in seinen Bildern zu offensichtlich und die ‚fotografischen Verfahren‘ innerhalb der Komposition der Bilder zu bewusst eingesetzt. Vielmehr scheint Caillebotte mit den Darstellungsmitteln der Fotografie zu experimentieren und damit neue Wahrnehmungsmöglichkeiten für das traditionelle Medium des Tafelbildes zu erschließen. So soll im Folgenden dem Einfluss der Fotografie3 auf das Werk Caillebottes nur am Rande der Argumentation nachgegangen werden.

2 3

Sagner 2012, 17. In dem Aufsatz „Spannungen, Entladungen. Evolutionen und Revolutionen kollektiven Sehens“ von Matthias Bruhn ist von einem ebensolchen Einfluss der Fotografie auf das Feld des Sehens die Rede. Die frühe Fotografie bringt eine Erneuerung bzw. Modernisierung des Sehens mit sich und verändert die kollektiv gültigen gesellschaftlichen Sehkonventionen. So weitet sich durch den allmählichen Einzug der Fotografie in das alltägliche Leben des Menschen auch der Begriff der Wahrnehmung von bloß anthropomorphen Wahrnehmungsformen hin zu einer übergreifenden visuellen Kultur aus: „‚Wahrnehmung‘ ist das Ergebnis dieses Zusammenwirkens von Technik, Kultur, und Intellekt, das sich stetig verändert, gerade weil es auf Grundlagen beruht, die sich bildlich äußern und damit kollektiv und unerwartet weiterentwickeln können“ (Bruhn 2008, 18). Das Feld des Visuellen erweitert sich hier in grundlegender Weise in medientheoretischer Hinsicht. Laut Bruhn dienen Bilder, d.h. klassische Gemälde, als Austragungsort solcher Problemfelder. Besonders die von der visuellen Revolution der Moderne durch die Fotografie betroffene Malerei kann als Experimentierfeld angesehen werden, in welchem bisher ungesehene Bewegungsformen produziert und reproduziert werden – und mit den neuen Formen des Sehens

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 147

Es ist unter anderem eine neue Wahrnehmungsweise der durch den Stadtplaner Eugène Haussmann umgestalteten Großstadt Paris in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich in Caillebottes Bildern zeigt und sowohl ein verändertes Sehen der städtischen Abläufe als auch die Einnahme von vorher kaum vorstellbaren Perspektiven wie Draufsichten, Sturzperspektiven, Vogelperspektiven auf mehr oder minder stark frequentierte öffentliche Plätze ermöglicht. Caillebotte thematisiere, so Sagner, „in seinen Bildern ein neues Sehen, das die moderne Welt, die Großstadt mit ihren Bewohnern und das stadtnahe Land jenseits alter Darstellungskonzepte begreift. Er thematisiert die Wahrnehmung des modernen Individuums“4. Es sind vor allem Bilder aus dem relativ engen Zeitraum der 1870er und 1880er Jahre, welche die Wahrnehmungsweise innerhalb der Großstadt, bürgerliche Innenräume oder auch Situationen aus Arbeit und Freizeit zum Thema haben und in denen durch verschiedene künstlerische Verfahren verfremdete Ansichten präsentiert werden. Eine solche Inszenierung von Wahrnehmung kann dabei als verstörend und verfremdend sowohl in Bezug auf im Alltagsleben gültige Wahrnehmungs- als auch, vielleicht noch prägnanter, kanonische Darstellungsweisen der Kunst gelten. Dabei verbleibt der Eindruck der Bilder oftmals in einem Schwanken zwischen realistischen, konventionellen Ansichten und verfremdeten, verzerrenden Effekten: „None of Caillebotte’s pictures seems as faithful to visual reality as in the tightly detailed paintings of 1875-77. At the same time, none seems so consistently peculiar, even bizarre, in spatial structure: looming foregrounds, tiny backgrounds, and exaggerated convergences. This hybrid nature […] is the direct result of Caillebotte’s control. The pictures are deliberately true, and deliberately abnormal. Based on the methods of objective realism, they distort the world, in a personal fashion that looks simultaneously to the past and the future of painting.“

5

Einige übergreifende und markante Kompositionsmerkmale seiner Bilder, die das Anormale der Einschätzung Varnedoes nach ausmachen, sollen hier vorab genannt werden: Oftmals dynamisch zulaufende, verzerrte Perspekti-

und der Wahrnehmung experimentiert wird. Ähnlich fasst dies auch Martin Jay in „Downcast Eyes“ (vgl. Jay 1993, 133). 4

Sagner 2012, 19.

5

Varnedoe 2000, 20.

148 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

ven, die Isolierung ungewöhnlicher Details des Bildgegenstandes, die Anordnung von Gegenständen im extrem betrachternahen Vordergrund des Bildes, kalkulierte geometrische Kompositionen mit langen, geraden Linien und Diagonalen, die sich dynamisch und quer durch das Bild ziehen und auf der Motivebene die Auswahl bis dato ungewöhnlicher Sujets und Umarbeitungen herkömmlicher Darstellungsformen. Dabei ist die Situierung Caillebottes im Kontext der französischen realistischen Malerei des 19. Jahrhunderts erwähnenswert, die bereits einige Voraussetzungen für seine Bilder schafft. So gehörten Experimente mit dem Visuellen, wie etwa der Einnahme ungewöhnlicher Perspektiven und der Umgang mit ungewohnten Sujets, wie etwa bei Gustave Courbet oder Edgar Degas, zum Bestandteil eines grundlegenden Wandels des Malereiverständnisses der Zeit. Vulgäre Sujets aus der Arbeitswelt der gesellschaftlich weniger privilegierten Schichten, anstößige Bildinhalte und die Einnahme verzerrter Blickwinkel erneuerten die akademische Malerei von Grund auf. Gründe dafür sind sicherlich auch in gesellschaftlichen und sozialen Transformationen zu suchen – so spricht etwa Jonathan Crary von einer beginnenden modernen visuellen Massenkultur ab den späten 1870er Jahren6, die sich ebenfalls in den Künsten zeigt. Dabei spielen insbesondere auch damit zusammenhängende individuelle, kulturelle als auch kunstspezifische Wahrnehmungsmechanismen, wie bereits im Kapitel 3.1 angeführt, eine ausschlaggebende Rolle für einen Bruch im jahrhundertealten System der Malerei um die Jahrhundertwende. So spricht Crary beispielsweise von einem „breakdown of normative attentiveness“7, einer mit der kapitalistischen Arbeitsproduktion und der Kultur des Spektakels zusammenhängenden Dissoziationserfahrung des modernen Menschen, die sich beispielsweise in den Gemälden Manets verbildliche. Die Aufmerksamkeit verliere hier zeitweilig ihre synthetisierende Funktion und das Vermögen zur gleich bleibenden selektiven Wahrnehmung, was sich in den untersuchten Werken an unterschiedlichen Phänomenen der Malweise oder der Figurenkonstellation zeige. Das für die Kunst zentrale Prinzip eines Schwankens der visuellen Wahrnehmung und der damit zusammenhängenden Bedeutungsproduktion, das für andersartige Gewichtungen sorgt als die alltäglichen und pragmatischen Zielstellungen des Sehens und Wahrnehmens und ihre aktive Neujus-

6

Vgl. Crary 1999, 12.

7

Ebd., 105.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 149

tierung im Sinne einer Verfremdungsästhetik tritt hier in den Vordergrund meines Interesses. Es kommt durch ein solches Prinzip des semantischen Schwankens, welches einen weiteren Bedeutungsumfang als lediglich physiologische Sehprozesse betreffend besitzt, zu einem dynamischen Differenzverhältnis des Sehens, das sich in verschiedenen Kontrastmechanismen innerhalb der Bilder austariert. So möchte ich einerseits aus einer Perspektive zeitgenössischer wahrnehmungstheoretischer Schriften argumentieren, um die Grundlagen zu klären, auf der sich Caillebotte als ein Prototyp eines Künstlers schwankender Ansichten in der Malerei herausstellt. Caillebotte arbeitet, so die These, mit bewusst kalkulierten formalen Verfahren um herkömmliche Konventionen zu erschüttern. Dabei ist es insbesondere der durch Störungen herkömmlicher Wahrnehmungs- und Darstellungskonventionen hervorgerufene ambige und kontrastive Charakter der Bilder Caillebottes, der eine eindeutige Auflösung von räumlichen oder semantischen Sehangeboten erschwert und das bloße Wiedererkennen von sowohl alltäglich einzunehmenden Wahrnehmungserfahrungen als auch gültigen Darstellungskonventionen, wie etwa der Zentralperspektive, behindert. Dies unterstützen eine ganze Reihe kompositorischer Kniffe Caillebottes, denen er sich bedient, wie etwa der einer räumlichen Zweiteilung innerhalb der Bilder, der Störung der konventionellen Zentralperspektive, der irritierenden Verhältnisse zwischen den Figuren oder dem radikal modifizierten Verhältnis von Nähe und Ferne sowie rhythmischer und arhythmischer Phänomene im Bild. Es ist hier eine eigenartige und für Caillebotte typische Weise, die neuen Möglichkeiten von Wahrnehmungssteuerung, das Medium der Fotografie und die Tradition der zentralperspektivischen Malerei ins Bild zu setzen und gleichzeitig zu brechen. Caillebottes Malstil zeichnet sich dadurch aus, dass er die Gesetze der Zentralperspektive in einigen seiner Bilder zwar in der üblichen Weise befolgt, wenngleich aber so, dass sie bewusst von den bisher gültigen Darstellungskonventionen abweichen. Er benutzt diese Konventionen schlechthin, wie man diese laut den Lehrbüchern über perspektivische Malerei des 19. Jahrhunderts nicht benutzen solle8. So befindet sich beispielsweise der Betrachterstandpunkt in einigen von Caillebottes Bildern im Gegensatz zum kanonischen Verständnis der perspektivischen

8

Varnedoe nennt als Lehrbücher über die Perspektive beispielsweise Armand Cassagnes „Traité Pratique de Perspective“ von 1858. Vgl. Varnedoe 2000, 22.

150 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Sehpyramide zu nah am Bildgegenstand bzw. ist der Bildausschnitt zu breit gewählt oder es gibt gar mehrere (und manchmal gar für mehrere Figuren unterschiedlich gewählte) Fluchtpunkte. Figuren und Gegenstände im Vordergrund des Bildes wirken mitunter übermäßig groß und die dahinter angeordneten Gegenstände nehmen entgegen der räumlichen, binokularen Seherfahrung allzu rasch in der Größe ab. Es entsteht dabei ein enorm weit ausgeschnittener Blickwinkel, ähnlich wie bei der Fotografie durch ein Weitwinkelobjektiv. Zudem ist das Zentrum der Bilder Caillebottes oftmals stark auf einer Seite des Bildes, nicht auf dessen eigentliche Mitte hin angelegt. Die oftmals breit angelegten Zwischenräume zwischen den Figuren oder Gegenständen innerhalb des Bildes verzerren zudem den homogenen Eindruck der Bilder und lassen die räumliche Relation und das persönliche Verhältnis der Figuren untereinander unsicher und instabil erscheinen. Insbesondere das Verhältnis der im Vordergrund angeordneten Gegenstände und Figuren zu ihrem Hintergrund sind durchgehend bemerkenswert und mitunter nicht ohne Bedeutung für ihr wechselseitiges Verhältnis. Varnedoe konstatiert etwa eine Dialektik und ein Oszillieren zwischen Nähe und Ferne, was er letztendlich auch als eine zwischen Transparenz und Opazität des Bildmediums begreift9. Dies gilt sowohl für Innenräume, in welchen sich oftmals Ausblicke in Außenräume, d.h. meistens städtische Räume eröffnen, als auch für öffentliche Stadträume, in denen die Figuren oder Gegenstände, wie etwa Gerüste, sehr nah im Bildvordergrund stehen und den Raum abrupt abschließen. Die hier genannten Phänomene können als grundlegende kompositorische Merkmale der Bilder Caillebottes herausgestellt werden. So spricht Varnedoe etwa von einem vorherrschenden und für den Kontext dieser Arbeit relevanten Interesse Caillebottes an visuellen Ambiguitäten10. Dieses Schwanken zwischen rein optischen und geistigen, auf Erfahrung beruhenden Formen der Wahrnehmung und Bedeutungsproduktion ist tatsächlich für viele von Caillebottes Werken aufschlussreich. Die meisten Bilder wirken, wie schon festgestellt, in einem hohen Maße realistisch und erhalten erst über eine genaue Betrachtung den Effekt einer kalkulierten Störung, einer Zerstreuung der Wahrnehmung an den Rändern oder blinden Flecken des Blickfeldes. Dabei bleiben die Bilder aber trotz aller Irritationen wei-

9

Vgl. ebd., 16.

10 Vgl. ebd., 19.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 151

testgehend in sich kohärent. So bemerkt Varnedoe über die Räumlichkeit bei Caillebotte: „The fascination of the space results neither wholly from what is correct nor wholly from what is wrong, but from the almost undetectable, subliminal conjunction of the two“11. Der formalistische Begriff des künstlerischen Verfahrens ist daher bei Caillebotte tatsächlich angebracht: Die Bilder bestechen durch Struktur und Kalkül, geplante geometrische Konstruktionen und zielen auf einen Effekt des Schwankens, die Verblüffung durch bestimmte optische Arrangements, die zunächst auf einem Mechanismus des Wiedererkennens der Dinge beruhen, davon aber in einigen Punkten abweichen, Unschärfen produzieren und in einem solchen Oszillieren zwischen den Lesweisen neue Bedeutungen und wiederum alternative Leseweisen ermöglichen. Im Vokabular Šklovskijs kann man von einem unökonomischen Bild sprechen, einem Bild, bei dem die automatisierte visuelle Wahrnehmung der Dinge, das einfache Durchblicken in einen Illusionsraum erschwert ist. Daraus können jeweils neue Bedeutungen abseits von bewährten Wahrnehmungskonventionen entstehen. Das Gemachtsein der Malerei und deren Wirken über bestimmte Verfahren werden durch die Störungsmomente, die ein bloßes Durchblicken des Bildes verhindern, ebenfalls betont.

4.1 „L ES

RABOTEURS DE PARQUET “

In Caillebottes wohl bekanntestem Gemälde „Raboteurs de parquet“ (1875) (Abbildung IV) sind in ihrer Tätigkeit befindliche Parkettschleifer, die den abgenutzten Parkettboden von einem bürgerlichen Innenraum abziehen, dargestellt – eine harte und ausdauernde Arbeit, die hier, eher unüblich und für viele Kritiker der Zeit unverständlich, von Caillebotte ins Bild gesetzt wird. Die Darstellung von Sujets wie den arbeitenden Parkettschleifern ist jedoch nicht gänzlich ungewöhnlich in der französischen Malerei des Realismus zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in welcher immer wieder Vorgänge aus dem Arbeitsleben aufgegriffen werden – man denke etwa an Gustave Courbets Steineklopfer oder Jean-Francois Millets Ährenleserinnen12. Das dargestellte Sujet ist im Gegensatz zu den meisten überhöhenden oder idea-

11 Ebd., 25f. 12 Vgl. Sagner 2009, 66f.

152 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

lisierten Darstellungen hier aber besonders nüchtern dargestellt13. Das den Vorgang auf diese Weise präsentierende Bild wurde von Zeitgenossen gar als vulgär gebrandmarkt. Neben solchen ablehnenden Äußerungen, die sich vor allem auf das Thema des Bildes beziehen, ist es ebenfalls die formale Anordnung, die Irritationen bei den Betrachtern hervorrief. Hier sind vor allem die auf die Füße des Betrachters hin stürzende Perspektive, das von Varnedoe konstatierte, immer wieder aufgerufene und problematische Verhältnis von Nähe und Ferne (bzw. von Innen- und Außenräumen), der asymmetrische Bildaufbau und die Existenz zweier perspektivischer Fluchtpunkte auffällig. Auch Varnedoe14 erklärt den Schockeffekt des Bildes mit einer übermäßigen Gedehntheit des Vordergrundes, dem sehr scharfen Zulaufen der Fluchtlinien auf einen imaginären Punkt hinter der Wand und der beschleunigten Verkleinerung des Größenverhältnisses von vorne auf die Bildtiefe hin. Bemerkenswert ist hier zunächst die perspektivische Anrichtung: So scheinen die Arbeiter beinahe aus dem Bild und auf den Beschauer hin zu gleiten, da das Parkett enorm abschüssig wirkt und im Bildhintergrund jäh und sehr verkürzt an der Wand ein Ende findet. Der dargestellte Innenraum, übrigens mit derselben auffälligen Wand wie im Bild „Interieur, Femme lisant“ (1880) (Abbildung VII), wird durch ein mit einem Gitter abgeschlossenes Balkonfenster (ähnlich dem in „Vue prise à travers un balcon“, 1880) beleuchtet, hinter welchem sich wiederum die Silhouette einiger Gebäude und damit der Ausblick auf einen offenbar städtischen Außenraum abzeichnet. Somit sind die Rücken der drei oberkörperfrei tätigen Arbeiter vom Fenster her beleuchtet, auch der Boden der linken Seite des Bildes ist stärker als der rechte Teil illuminiert. Das Bild erscheint zudem bei genauerem Hinsehen wie aus zwei vereinzelten malerischen Konstruktionen zusammengesetzt: Der linke Teil reicht etwa bis zum rechten Abschluss des Balkonfensters und beinhaltet den links postierten Arbeiter, der rechte Teil beginnt mit dem rechten Arm des mittleren Arbeiters und zeigt die zwei Parkettschleifer, deren Arme auf den Bildvordergrund und zudem in einem 45°-Winkel auf den Parkettboden zulaufen. Der rechte, größere Teil des Bildes wirkt wie das eigentliche Zentrum des Bildes, da sich hier die Linien des Parketts in einem imaginären Fluchtpunkt, der offenbar hinter der Wand liegt, treffen. Der linke,

13 Vgl. ebd., 68. 14 Vgl. Varnedoe 2000, 3.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 153

kleinere Teil des Bildes wirkt nicht so stark nach unten hin angeschnitten, vielmehr scheint alles, vor allem die erkennbaren Linien des Abschleifvorgangs nach links und daher seitlich aus dem Bildzentrum heraus zu streben. So entstehen praktisch zwei gleichzeitig und nebeneinander anwesende Fokussetzungen und ein Schwanken zwischen zwei unterschiedlichen Raumauffassungen. Auffällig ist ebenfalls die räumliche Anordnung der Arbeiter. Zwischen dem linken Arbeiter und den beiden rechten als eigentlichen Zentrums des Bildes befindet sich ein großer Zwischenraum, der am stärksten beleuchtet ist und die räumliche Relation zwischen den Arbeitern zusätzlich verunklart. Das Bild, so Varnedoe, „exhibit[s] a strong tension between a dominant spatial rush toward the center of vision and a simultaneous sidelong reach toward the yawning space of the rest of the picture“15. Man könnte hier von zwei Fluchtpunkten sprechen, die nicht eigentlich in einer einzigen Interpretation zustande kommen und ein ständiges Schwanken zwischen zwei Ansichten produzieren. So gibt es mehrere, nicht unbedingt gänzlich unvereinbare, aber zumindest insgesamt irritierende Einzelansichten innerhalb des Bildes. Selbst die Wand scheint davon betroffen zu sein: so scheint der Teil links von dem Balkonfenster gar etwas nach hinten verschoben im Gegensatz zum Teil der Wand rechts davon. Auch die Arme der Arbeiter scheinen übermäßig verlängert und gar zum Betrachter hin verzerrt zu sein. Die ausgestreckten Arme der nach vorne gebeugten Parkettarbeiter verlängern den Bildvordergrund zusätzlich in die Tiefe, da sie auf den ebendiesen zulaufen, die Körper der Arbeiter vom Bildvordergrund bis weit über die Mitte des Bildes reichen lassen und somit den Raum hinter den Figuren und vor der Wand stauchen. Alles hat den Eindruck, als würde es sich, je näher am Bildvordergrund, in die Länge und auch in die Breite verzerren.

15 Ebd., 31.

154 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Abbildung IV: Gustave Caillebotte: Raboteurs de parquet (1875), Musée d’Orsay, Paris

Quelle: https://www.google.com/culturalinstitute/beta/asset/the-floor-planers/0wH XxVpb7UjLNA?hl=de

Bemerkenswert sind zudem die repetitiven Elemente, die die Bildkomposition im Ganzen strukturieren: So zum Beispiel die Wand mit den immer wiederkehrenden gerahmten Rechtecken, das ornamentale Balkongitter, die Streifen auf dem Parkett bis hin zu den Figuren selbst, die wie eine Ausführung oder gar unterschiedliche Bewegungsphasen desselben Menschen, beinahe Doppelgängern gleich, anmuten. Auch Kirk Varnedoe konstatiert Caillebottes „mesmerizing fascination with pattern“16. Diese Wiederholungen, die das Bild und den Arbeitsablauf in Hinblick auf eine Ökonomie der effektiven Arbeitsleistung zu strukturieren scheinen, erzeugen zunächst einen Eindruck von Harmonie und rhythmischer Wiederholung. So spricht auch Šklovskij bezogen auf die Literatur von einem prosaischen, gleich bleibenden Rhythmus als einem automatisierenden Faktor literarischer Texte17. Ähnlich wie in den Schriften Taylors, Büchers oder Münsterbergs 16 Ebd., 54. 17 Šklovskij 1987a, 32.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 155

scheint die Arbeit und die Bewegung der „Raboteurs“ in kleine, hier nebeneinander dargestellte Einheiten eingeteilt zu sein, schlechthin also rhythmisiert abzulaufen. Ein solcher Begriff des Rhythmus kann auf bildräumliche Phänomene angewendet werden, in welchen einige Elemente den Eindruck von zusammenhängender bildlicher Kohärenz vermitteln. Der auf der Ebene des Sujets evidente Rhythmus scheint aber auf den bereits genannten Ebenen gestört zu sein. Auf der Ebene der Gestaltformen wird so durch die weitgehende Teilung des Bildes jeweils nur eine mögliche Ansicht aktualisiert, die durch jeweils einen Fluchtpunkt zustande kommt. Der prosaische, ökonomische Rhythmus greift bei einer solchen Teilung des Ansichtsraumes und einer damit verbundenen Störung der Harmonie und des Gleichmaßes nur noch bedingt. Einem solchen Prinzip gegenüber steht ebenfalls das weite und ungleiche Auseinanderliegen der einzelnen Figuren, die sich so gar nicht innerhalb einer Auffassung eines prosaischen Rhythmus des Arbeitsvorganges eingliedern lassen. Ein solches ökonomisches Prinzip der geringsten Anstrengung scheint hiermit in mehrfacher Hinsicht, sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Formebene, verletzt und erschwert zu sein. Das Nicht-Aufgehen eines einheitlichen Raumeindrucks in den Bildern Caillebottes durch eine kompositorisch angelegte unmögliche, kontrastive Kombination der einzelnen rhythmischen und jeweils nur für sich zusammenhängend und kohärent anmutenden Faktoren erzeugt einen solchen Effekt der erschwerten Wahrnehmung. So scheint die Welt der Arbeit hier aus den Fugen zu geraten, die rhythmische Struktur der Arbeit unterliegt einer Auflösungsbewegung auf der Formebene.

156 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

4.2 „L E P ONT

DE

L’E UROPE “

Abbildung V: Gustave Caillebotte: Le Pont de l’Europe (1876), Musée du Petit Palais

Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Le_Pont_de_l%27Europe#/media/File-: Caillebotte-PontdeL%27Europe-Geneva.jpg

Wiederkehrende, sich fortschreibende Muster spielen ebenfalls in Caillebottes „Le Pont de l’Europe“ (1876) (Abbildung V) eine wichtige Rolle. Hier sind es insbesondere ein zu einer Brücke gehörendes Eisengerüst und ein Geländer, die neben dem Eindruck des Repetitiven vor allem durch ihr Zusammentreffen innerhalb des großformatig angelegten (124,7 x 180,6 cm) Bildes überraschende Eindrücke entstehen lassen. Bilder des städtischen Lebens und dessen räumlicher Arrangements gehörten zu Caillebottes großen Interessen. Als Pariser Bürger von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts befand er sich in einer Zeit des größten Umbruchs der französischen Metropole. Die Umgestaltung und Neuordnung durch den Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann war einer der markantesten Zeitsprünge für die Entwicklung von Paris zu einer modernen Großstadt. Die rechtwinklige Anordnung der Straßen und die Konstruktion von großzügig angelegten Boulevards gehörten zu den wichtigsten städtebaulichen Änderungen in den Jahren von 1859 bis 1870. Dieser radikale Umbau von Paris

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 157

im Sinne einer größeren Übersicht und Transparenz18 wurde aber nicht nur positiv von den Zeitgenossen aufgenommen. Als einer der größten, wenngleich verspäteten Kritiker der städtebaulichen Entwicklung durch den ‚Zerstörer‘ Haussmann gilt Walter Benjamin, der in seinem „Passagenwerk“ reaktionäre politisch-strategische Gründe für die Umgestaltung der Stadt in dieser Zeit vermutet. Die Verbreiterung der Boulevards beispielsweise sei der Rezeption Benjamins nach vor allem als Sicherung gegen den drohenden Bürgerkrieg und die Volksaufstände erfolgt: „Haussmanns urbanistisches Ideal waren die perspektivischen Durchblicke durch lange Straßenfluchten“19. Es ist das Ideal einer Übersicht, eines fokussierenden Sehens ohne unscharfe Ränder, das hier städtebaulich umgesetzt ist. Das Resultat sei aber oftmals genau das Gegenteil von einer solchen ideologischen Anordnung gewesen, nämlich „to intensify visual uncertainty and confusion“20. Diese Entwicklung ist unter anderem auf dem Bild Caillebottes zu bemerken, in welchem eine tatsächlich existierende, sehr breit gebaute Brücke, der Pont de l’Europe, zu sehen ist, der über den Pariser Bahnhof St.Lazare führt. Hinter dem Gerüst auf der rechten Seite des Bildes lässt sich ein Teil des Bahnhofsgeländes ausmachen, ganz am Ende des Gerüstes zieht eine Dampfwolke auf, wahrscheinlich von einem der darunter fahrenden Züge. Auf dem Bürgersteig sind mehrere Passanten zu beobachten: ein Mann, der auf der rechten Seite am Geländer lehnt und starr auf die Eisenbahnenschienen blickt, ein Hund der vom Betrachter her ins Bild läuft und den man nur von hinten sieht sowie ein Mann mit Zylinder, der mit einer etwas versetzt hinter ihm laufenden Frau mit einem Sonnenschirm zu sprechen scheint – was aber etwas ambivalent bleibt, da die Frau ein paar Schritte hinter ihm läuft. Im Hintergrund befinden sich noch weitere Figuren (unter anderem ein weiterer am Geländer stehender Mann) und der eigentliche Place de l’Europe, der aber kaum zu sehen ist, da er von dem Mann mit Zylinder und der Frau, die auf den Betrachter zulaufen, beinahe vollständig verdeckt wird. Das Bild wird insgesamt durch dynamisch durch das Bild verlaufende Diagonalen organisiert, insbesondere diejenige des Geländers und jene des

18 Vgl. Jay 1993, 117. 19 Benjamin 1983, 56. 20 Jay 1993, 118.

158 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Brückengerüstes, die übermäßig stark aufeinander zulaufen. Die Wirkung der rasant konvergierenden Diagonalen ist aber unter anderem durch den realen Schauplatz selbst bedingt. So verlief die Straße21 (und somit sowohl das Geländer der Brücke als auch der Bürgersteig) zur Zeit Caillebottes tatsächlich in die Höhe ansteigend. Daher liegt hier im eigentlichen Sinne, zieht man die räumliche Erfahrung des Originalschauplatzes heran, keine ausschließlich durch Caillebotte vorgenommene Verzerrung der Bildanordnung vor: „Caillebotte carefully exploited the steep uphill slant of the road at this point on the bridge […] in order to produce a misleadingly sharp apparent convergence of perspective, based on a system of two vanishing points“22. Die Verzerrung liegt also demnach nicht nur in dem extrem rasanten Zulaufen der beiden Diagonalen begründet, sondern unter anderem in dem Arrangement der eigentlich realistisch dargestellten Szenerie (siehe Abbildung VI). Die entstehenden zwei Fluchtpunkte (erstens der des Bürgersteigs bzw. des Geländers, und zweitens des Gerüstes) werden jeweils durch den Rauch und das Paar verdeckt, so dass es tatsächlich nach einem Zusammentreffen der Diagonalen in einem Fluchtpunkt aussieht23. Das Geschehen erscheint wie mit einem Weitwinkelobjektiv aufgenommen: Der Betrachterstandpunkt befindet sich wiederum sehr nah am Bild selbst, während sich die im Hintergrund liegende Szenerie extrem rasant verkleinert. Ein solcher somit entstehender weiter Ausschnittswinkel ist vergleichbar einer fotografischen Aufnahme mit einer kurzen Linse. So erklärt auch Kirk Varnedoe die verzerrte perspektivische Darstellung: „The distortions created in the process [der Fotografie mit einem Weitwinkelobjektiv, R.S.] are exactly those of the paintings: the foregrounds are now splayed and enlarged, the backgrounds diminished, the convergences made to seem more acute, and the overall sense of space profoundly altered“24. Der extrem breite ‚Aufnahmewinkel‘ scheint zudem nach rechts verschoben, das Gerüst auf der rechten Seite des Bildes scheint unmäßig zum Betrachter hin verlängert und vergrößert. Es nimmt dadurch einen enormen Raum ein, so dass der vermeintliche Fluchtpunkt zudem viel weiter auf der linken Seite liegt. Die Diagonale des Brückengeländers läuft im Bildvor-

21 Vgl. Varnedoe 2000, 28. 22 Ebd., 73. 23 Vgl. ebd., 28. 24 Ebd., 21.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 159

dergrund viel schärfer nach rechts zur Seite zu als dies die linke Diagonale des Bürgersteiges tut. Varnedoe geht nun sogar so weit zu behaupten, das erste Kreuz des Brückengeländers und der Mann, dessen Kopf sich direkt in der Mitte dessen befindet, würden ein unabhängiges, zweites Bildzentrum bilden. So käme es zur eigentlichen Formierung von zwei unterschiedlichen Ansichten, die beide jeweils in zwei Köpfen als Fluchtpunkten münden. Zwei Einzelperspektiven würden somit zusammen das Gesamtbild erzeugen: die eine Sicht hin auf den Kopf des Mann mit dem Hut, die andere, seitlich angeschnitten auf den Kopf des am Geländer lehnenden Mannes hin25. Varnedoe spricht hier von einer ‚multiplication of viewpoints‘, die sich nicht mehr auf nur ein einziges zentrales räumliches Arrangement beziehen lassen. Soweit, zu einer Annahme einer gänzlichen Trennung der beiden Ansichten, würde ich allerdings an dieser Stelle gar nicht gehen. Vielmehr scheint es, dass sich die rechte Seite des Bildes nicht eigentlich als Ansicht vereinzelt, sondern vielmehr in einem extrem verzerrten Weitwinkel aufgenommen scheint, der an ein ständiges Schwanken, der Differenz zwischen einem fokussierten und einem unfokussierten Sehen denken lässt – und sich ständig zwischen Verbindung und Kohärenz, Trennung und Auflösung hin und her bewegt. Während eine Ansicht in ihrer Verständlichkeit hervortritt, tritt wiederum die andere zurück. So stellen beispielsweise die Schattenwürfe des Brückenkonstrukts durchaus eine Verbindung zwischen den beiden von Varnedoe analytisch getrennten Ansichten her – eine Verbindung, die allerdings niemals beide Lesweisen gleichzeitig überzeugend begünstigt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass gerade durch eine solche Unsicherheit in der räumlichen Aktualisierung des Bildes durch den Rezipienten ein Übersichtsideal und jegliche Apotheose der neu gestalteten Stadt Paris durch Haussmann ad absurdum geführt wird. Denn auch hinter dem Brückengeländer liegt das chaotische Bahnhofsgelände, das sich der Ordnung entzieht, die Figuren bleiben in ihren Beziehungen weitestgehend rätselhaft und der Raum konstituiert sich nach seinen eigenen, idiosynkratischen Gesetzen. Vielleicht setzt Caillebotte dem Ideal einer panoptischen Stadt einen phantasmatischen Entwurf derselben entgegen, in welchem die Rätselhaf-

25 Vgl. ebd., 32.

160 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

tigkeit, das Verschwommene, Spekulative und Vage räumlicher und menschlicher Beziehungen domininieren. Abbildung VI: Auguste Lamy: Brückenkonstruktion des Place de l’Europe, Stich, publiziert in: L’Illustration, 11. April 1868

Quelle: http://roland.arzul.pagespersoorange.fr/etat/paris/gares/saint_lazare_1868.jpg

4.3 „I NTERIEUR ,

FEMME LISANT “

In dem Bild „Interieur, femme lisant“ von Gustave Caillebotte (Abbildung VII), das erstmals bei der fünften Ausstellung der Impressionisten im Jahre 1880 der Öffentlichkeit gezeigt wurde, ist es vor allem das Faktum der Alltäglichkeit und des Häuslichen, das in den Mittelpunkt der Darstellung rückt und Schauplatz eigentümlicher visueller und alternativer Bedeutung schaffender Effekte ist. Zu sehen ist im Vordergrund eine seitlich auf einem Stuhl sitzende, Zeitung lesende Frau. Links daneben, im Hintergrund des Bildes, befindet sich ein Mann, der in lässiger Haltung auf einem Sofa liegt und ein Buch liest. Die winzig erscheinende Figur des Mannes scheint förmlich in dem riesigen Sofa zu verschwinden und an dem diagonal aufgestellten Kissen allmählich aus dem Bild heraus zu gleiten. Das Fehlen einer Horizontlinie, die darstellerische Aussparung des Fußbodens und der nicht definierte Mittelgrund zwischen den beiden Figuren lassen den Kopf des

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 161

Mannes nun unmittelbar an die Hand und die Zeitung der Frau grenzen – so als befänden sich beide Figuren auf ein und derselben Tiefenebene. Die irritierenden Größenverhältnisse treten durch diese Komposition noch schärfer hervor: Der Kopf des Mannes erscheint nun sogar kleiner als die geballte Hand der Frau. Dabei besteht sowohl eine enorme Diskrepanz in dem Größenverhältnis von Mann und Frau als auch zwischen dem liegenden Mann und dem schon beinahe gebirgigen Sofa, auf das er gebettet ist – so dass es zu einem eigenartigen Oszillieren in der Auflösung des räumlichen Seheindrucks kommt. Der Raum zwischen der lesenden Frau und der noch hinter dem Mann angeordneten Wand, die den gesamten Bildhintergrund einnimmt, erscheint somit enorm gestaucht. Die Figur des Mannes müsste also, nimmt man die Erfahrung perspektivischen Sehens und auch perspektivischer Malerei zu Hilfe, aufgrund seiner geringen Größe viel weiter in der Tiefe des Raumes, hinter der Wand nämlich, angeordnet sein. Die große Frau im Vordergrund wirkt dabei beinahe wie an eine unsichtbare Scheibe gepresst. Ihre Wange, die sich etwas heller als die übrigen darum liegenden Hautpartien abzeichnet, scheint gar an dieser Scheibe festzukleben. So ist anzunehmen, dass sie im unmittelbaren, nicht weiter nach vorne zu verschiebenden Vordergrund, der sehr nahe dem Augenpunkt des Betrachters liegt, angeordnet ist. Dies unterstreicht noch dazu den Eindruck der Flächigkeit des Bildes, den die Anwendung der Perspektive der üblichen Auffassung nach eigentlich vergessen lassen soll26.

26 Vgl. Panofsky 1980, 99.

162 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Abbildung VII: Gustave Caillebotte: Intérieur, Femme lisant (1880), Privatsammlung, Paris

Quelle: http://enfinlivre.blog.lemonde.fr/2011/05/08/caillebotte-interieur-femmelisant/

Wie bereits erwähnt, ist es die Größe der im extremen Vordergrund angesiedelten Figuren, die bei der Betrachtung dieses und anderer Bilder Caillebottes ins Auge fällt. Die dahinter liegenden Gegenstände nehmen mit zunehmender Entfernung vom Vordergrund allzu rasch in ihrer Größe ab und wirken im Gegensatz zum Bildvordergrund sehr klein27. In einem Traktat über die Zentralperspektive von Armand Cassagne (1866) etwa wird dem Leser der Ratschlag eines optimalen Abstandes zwischen dem Augenpunkt des Betrachters und dem dargestellten Gegenstand gegeben. Ziel sei, so zeigt die folgende Illustration aus dem Abschnitt „La distance“ (Abb. VIII),

27 Varnedoe bemerkt, dass „foreground elements loom up, screen our view, while background elements flee away, diminished into unreachable distance“. Varnedoe 2000, 16.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 163

die allmähliche, graduelle Verkleinerung der Gegenstände und die Verringerung des Sehwinkels mit zunehmender Bildtiefe.

Abbildung VIII: Armand Cassagne: Traité practique de perspective

Quelle: https://archive.org/stream/traitepratiquede00cass#page/16/mode/2up

Ist ein Gegenstand zu nah am Betrachter positioniert, gerät der Sehwinkel zu breit, was sich ungünstig auf das Arrangement der Gegenstände dahinter auswirkt. Dies ist somit nicht nur unvorteilhaft für den Malakt, in dem der Künstler seinen Kopf ständig in alle Richtungen bewegen muss um den gesamten Gegenstand aufzufassen, sondern ebenfalls für die harmonische Wirkung des perspektivisch angelegten Gemäldes auf den Betrachter: „Une distance bien prise contribue beaucoup, dans un tableau, à l’harmonie de l’ensemble, et l’on ne saurait trop insister sur ce point“28. Die so jeweils harmonisch angeordneten Gegenstände sollen der Ansicht Cassagnes nach jeweils mit einem Blick umfasst – und damit in klarer, übersichtlicher Weise gesehen – werden können.

28 Cassagne 1866, 17.

164 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Caillebotte hingegen lässt den perspektivischen und ungestörten Durchblick innerhalb des Arrangements nicht aufgehen. Auch in „Intérieur, femme lisant“ liegt der Augenpunkt der normativen Auffassung der Zentralperspektive nach zu nahe an der Figur der Frau. Dies führt zu einer Behinderung des perspektivischen Durchschauens auf einen Fluchtpunkt hin, und wird zudem durch die Wand verstärkt, die zu weit im Bildvordergrund angeordnet ist. All diese kompositorischen Merkmale tragen damit zum allgemeinen Eindruck einer erschwerten Wahrnehmung bei. So kann schon Helmholtz in Anlehnung an Cassagne konstatieren, „dass perspectivische Zeichnungen, die von einem dem Gegenstande zu nahen Standpunkte aus aufgenommen sind, so leicht einen verzerrten Eindruck machen“29. Dies wird auch in der Kritik des Schriftstellers Joris-Karl Huysmans deutlich, der in seiner Bildbeschreibung das unverständliche, verstörende Moment der ungewohnten perspektivischen Darstellungsweise und der damit verbundenen irritierenden Größenverhältnisse betont. Er verweist in seiner Kritik auf ebenjenen eigentümlichen visuellen Effekt, den das Gemälde bei ihm auslöst: „Au fond, par un bizarre et incompréhensible effet de perspective, un monsieur apparaît, microscopique, couché sur un divan, lisant un livre, la tête posée sur un coussin qui semble énorme ; au premier plan, une femme vue de profil, lit un journal. Ici, l’ennui désoeuvré du premier intérieur que nous venons de voir n’est plus ; ce couple n’a rien à se dire ; mais il accepte, sans révolte, avec une douceur résignée, la situation qu’a faite la permanence du contact, l’habitude ; il tue le temps, placidement enfoncé dans une lecture qui l’interesse ; étant donné l’intelligence, au point de vue de l’art, du monde que représente M. Caillebotte, il y a meme lieu de croire que la femme lit le Charivari ou l’Evenement et que le mari fait ses délices d’un Delpit quelconque. En tous cas, ils s’occupent, sans pose pour la galerie, sans cette attitude des gens dont on prépare le portrait.“

30

Das Bild trifft demnach eine Aussage über Geschlechterpositionen und kehrt die im 19. Jahrhundert üblichen Zuschreibungen ins Gegenteil um: Die Frau ist im Vordergrund, ein Journal lesend, und in erschreckender Größe in Szene gesetzt, der Mann im Hintergrund mikroskopisch klein dar-

29 Helmholtz 1876, 62. 30 Huysmans 1883, 109f.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 165

gestellt und im wahrsten Sinne des Wortes gleichzeitig sowohl in ein Buch Delpits als auch in das Sofa versunken, beinahe tagträumerisch und selbstvergessen – so gar nicht im Sinne eines zu jener Zeit üblichen ‚Hausherren‘. Jeder der beiden geht dabei seiner eigenen Tätigkeit nach, ohne die Andeutung eines Gesprächs oder auch nur eines Blickes, der Verständigung signalisiert. Die Gewohnheit des Zusammenlebens hätte, so Huysmans, die beiden isolierten Eheleute nur umso tiefer in ihre jeweilige Lektüre vertieft. Einen ähnlichen malerischen Effekt, fern von einer solchen Thematik der Geschlechterrollen, hatte Caillebotte schon ein Jahr vorher in seinem Selbstporträt (Abb. IX) ins Bild gesetzt. Auch hier, im Atelier Caillebottes und mit dem Maler selbst im Vordergrund, erscheint wiederum der Mittelgrund zwischen ihm und der auf dem Sofa sitzenden Figur ausgespart. Die auf dem Sofa sitzende männliche Figur erscheint ebenfalls etwas zu klein, wenngleich sie im Gegensatz zum „Intérieur“ noch von der Figur im Vordergrund, des Malers selbst, teilweise verdeckt wird. Auch Viktor Šklovskij spricht in seinem spät verfassten Aufsatz „Über Konventionen“ über die Verschränkung verschiedener Darstellungskonventionen in der Malerei. Er nennt in diesem Zusammenhang die bedeutungsmäßige Hierarchie, wie sie etwa in der Ikonenmalerei auftritt. Diese könne innerhalb der (nicht wahrgenommenen, da kanonisierten und bloß wiedererkannten) Darstellungskonvention der Zentralperspektive plötzlich wiederkehren31. Hierbei würden stärker Bedeutung tragende Figuren und Gegenstände im Gegensatz zu den übrigen Teilen des Bildes einfach vergrößert dargestellt. Eine solche Bedeutungshierarchie ist meines Erachtens für das Interieur-Bild denkbar, für das Selbstporträt allerdings fragwürdig. Ob Caillebotte in seinem Selbstporträt seine eigene Rolle als Künstler gegenüber seinem auf dem Sofa sitzenden Bruder Martial dermaßen überhöht darstellen wollte, darf wohl bezweifelt werden. Jedenfalls kommt es in dem Interieur-Bild zu einem Umschlag auf der Bedeutungsebene, der nicht zu übersehen ist: Der Mann ist, wie mehrfach bemerkt wurde, in seiner Rolle als Hausherr zu einer zu vernachlässigenden Größe geschrumpft, er wirkt verletzlich und lächerlich, während die Frau den Bildausschnitt dominiert. Eugène Veron, der zu seiner Zeit eine physio-psychologisch motivierte Ästhetik vertritt, lenkt in seiner Kritik über die fünfte Ausstellung der „Indépendants“ im Jahre 1880 in der Zeitschrift L’art den Blick zunächst auf

31 Šklovskij 1973, 43ff.

166 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

die zeitgenössischen Nicht-Kritiker, das laienhafte Publikum und beschreibt den Effekt, den das Bild „Intérieur, femme lisante“ auf diese ausübt. So heißt es dort über das Bild: „M. Caillebotte a une Scène d’intérieur qui amuse beaucoup les visiteurs. Une grosse femme à la joue lie de vin, fleurie de poudre de riz, est assise et lit. A côté d’elle, sur un canapé qui touche à sa chaise, est couché un homme qui lit également. Cet homme, le mari sans doute, est réduit à des proportions infinitésimales; sa langeur totale, des pieds à la tête, équivaut à peine à la largeur de la tête de sa femme. On a beaucoup ri du petit mari de M. Caillebotte. Est-ce à dire que M. Caillebotte ignore à ce point les lois de la perspective ? Non, mais c’est encore une convention qu’il a couchée en joue. Evidemment, quand il a fait son tableau, l’exiguité du local l’a forcé à se placer trop près de la femme, et il n’a pas voulu corriger le défaut apparent que lui imposait la verité des choses. Une feuille de saule 32

peut cacher le monde, si on la rapproche suffisament de l’oeil. [...]“ .

Das Bild hätte die Besucher der Ausstellung, wie Veron mehrfach betont, zum Lachen gereizt. Auffallend und belustigend scheint insbesondere der Größenunterschied zwischen der Frau im Vordergrund des Bildes und ihres winzigen Ehemannes zu sein, der gerade so groß wie deren bloßer Kopf erscheint. Relativ sprunghaft und nur assoziativ das Prinzip der Größenverhältnisse aufnehmend, beschäftigt er sich durch den Einschub eines Satzes mit den Mechanismen des Sehens bzw. genauer: des Blindwerdens. Ein Weidenblatt könne, würde es dem Auge nur ganz nahe gebracht, somit die ganze Welt verdecken. Damit führt er eine dem allmählichen Kleinerwerden der Gegenstände mit zunehmender Entfernung gegenläufige Bewegung ein: Ein Gegenstand wird mit zunehmender Nähe so groß, bis er bezeichnenderweise die ganze wahrnehmbare Welt verdeckt und endlich mit dem Augenpunkt zusammenfällt. Beide Gegenstände, Blatt und Auge würden sich mit zunehmender Nähe schließlich berühren, der ideale Abstand zwischen Auge und Gegenstand wäre hier vollständig suspendiert. Das Auge als Distanzsinn würde damit von einer befremdlichen Nähe befallen und eine jede distinkte Setzung eines Fokus verunmöglichen. Das normierte System der Zentralperspektive, das einen idealen Abstand von Betrachter und Objekt und die tiefenräumliche Gruppierung der Gegenstände auf der Bild-

32 Zit. nach Berson 1996, 317.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 167

fläche voraussetzt, wird durch einen solchen Vergleich aus den Angeln gehoben bzw. von Caillebotte parodistisch überzeichnet33. Ein entsprechendes kindliches ‚Verfahren‘ zur Ummodellierung der gewohnten Weltwahrnehmung hin auf eine regressive Ablösung des vormals erfahrenen Sehens erwähnt Hermann von Helmholtz in seinem „Handbuch der physiologischen Optik“ (1867). Hier kommt er an einer Stelle auf einen seiner Kindheitseindrücke zu sprechen: „Ich selbst entsinne mich noch, dass ich als Kind an einem Kirchthurm (der Garnisonskirche zu Potsdam) vorübergegangen bin und auf dessen Gallerie Menschen sah, die ich für Püppchen hielt, und dass ich meine Mutter bat sie mir herunterzulangen, was, wie ich damals glaubte, sie können würde, wenn sie den Arm ausstreckte“34. Auch für das Bild Caillebottes wäre man fast dazu geneigt anzunehmen, die Frau könne in der Vergessenheit der Distanz ihren kleinen Mann wie eine Handpuppe am Schopf packen und einfach vom Sofa heben oder sogar gänzlich aus dem Bild heraus bugsieren. Der Vergleich mit einer Puppe wird in Bezug auf das Bild Caillebottes auch in den Kunstkritiken explizit erwähnt, wie in ihren Kritiken neben Paul Mantz, Dalligny35 auch Henri Trianon (in Le Constitutionnel, 1880) bemerkt, für den der Mann „ressemble à une poupée, à un jouet d’enfant“36. Hermann von Helmholtz versteht ein solches reines, mechanisches Sehen, das Größenabstände lediglich naiv und erfahrungslos registriert, zunächst als das künstlerisch ‚exaktere‘ Sehen. Demgegenüber steht in exemplarischer Manier das erfahrene Sehen37. Hier sind die Größen der Gegenstände und ihre Entfernungen voneinander innerhalb eines normierten Systems bestimmt, beruhen auf Erfahrung und werden lediglich wiedererkannt. Dem Maler diene ein solches Sehen, wie Helmholtz anführt, zur Darstel-

33 Zum Verhältnis der Verfremdungstheorie und der manieristischen Malerei, die eine Verzerrung des zentralperspektivischen Kanons nach sich zieht: Vgl. Hansen Löve 1978, 30ff. 34 Helmholtz 1867, 624. 35 Vgl. Berson 1996, 274. 36 Zit. nach ebd., 314. 37 Dies bedeutet bei Helmholtz: nach dem Mechanismus des unbewussten Schlusses, das heißt eingeübten, festen und unausbleiblichen Assoziationen von aktuellen Wahrnehmungen und den auf Erfahrung beruhenden Gedächtnisresten (siehe 2.1.1).

168 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

lung idealisierter Sujets – und sei damit insgesamt höher zu bewerten. Helmholtz plädiert in seinen vagen Ausführungen über die Malerei für die Deutlichkeit des Dargestellten durch perspektivische Hilfsmittel und einen richtig gewählten Standpunkt38. Genau eine solche Deutlichkeit und Verständlichkeit, d.h. die Gewohnheit mathematisch konstruierter und gleichmäßiger Distanzen, wird von Caillebotte – mit weit reichenden Konsequenzen – gestört. Die bloße Annahme eines reinen Sehens, eines Sehens mit dem unschuldigen Auge würde in Hinsicht auf die Malerei Caillebottes jedoch meiner Ansicht nach zu kurz greifen, da sowohl die jeweils gültigen Darstellungstraditionen (wie in diesem Fall die zentralperspektivische und akademische Malerei) als auch die außerästhetische Wahrnehmung (hier etwa das prekäre Verhältnis von Mann und Frau im Modus des häuslichen und bourgeoisen Zusmmenlebens) kaum in ein solches Hintergehen von Konventionen und Gewohnheiten im Kontext moderner Kunsttheorien – und ein Erzeugen neuer Bedeutungsmöglichkeiten auf der Inhaltsebene – einbezogen werden. Das von Helmholtz ausgerufene „mühelose Spiel der Kunst“39, des „leichte[n], harmonische[n], lebendige[n] Fluss[es] unserer Vorstellungsreihen“40 – schlechthin der Automatismus der Wahrnehmung in Bezug auf die Rezeption von Kunst wird hier, auch durch die Verunmöglichung des auf einen Blick mühelos erfassten Bildes, nachhaltig verunsichert. So spielt Caillebotte in dem Bild „Intérieur, femme lisant“ mit Konventionen, die sowohl dem Alltags-, als auch dem Kunstsehen angehören, wie die Kritiken verdeutlichen. Das übliche, graduelle Kleinerwerden der Gegenstände und Figuren mit steigender Bildtiefe, die Gewöhnung an Darstellungskonventionen der Malerei und das bloße Wiedererkennen der Größenverhältnisse – damit das Verhältnis der Geschlechterordnung im Bereich des bürgerlichen Alltagslebens – werden vor allem in Bezug auf die räumlichen Relationen hinterfragt. Die Sehgewohnheiten des Betrachters werden weithin verunsichert, da die Darstellung eines solchen erwartbaren und handlungsförmigen Sehens, in dem Verhältnisse zwischen Personen und Gegenstände hauptsächlich wiedererkannt und identifiziert werden, über den Evozierung eines bewusst hervorgerufenen flächigen, aperspektivischen Seheindrucks unter-

38 Helmholtz 1876, 63. 39 Ebd., 96. 40 Ebd., 97.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 169

laufen wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich somit zunächst auf die Darstellungsweise: Es findet ein eigentümliches Schwanken zwischen (mindestens) zwei möglichen Perspektiven oder Ansichten statt. Der Seheindruck, der über das Bild evoziert wird, könnte, würde man sich auf ein solches Gedankenspiel einlassen, gewissermaßen der eines fotografischen Apparates41 oder gar eines Kindes im Sinne Helmholtz’ sein, welches die elementaren Raum- und Größenverhältnisse noch nicht durch Erfahrung und in Bezug auf seinen im Raum bewegenden Körper herstellen kann. Eine solche Verfremdung des Gewohnten im Medium der Malerei kann Wahrnehmungs- und Darstellungskonventionen hinterfragen, indem sie diese abbildet und gleichzeitig durch Momente der Störung aufbricht. Der Betrachter ist hier, so zeigen die Urteile der Kritiker, irritiert und immer wieder auf das Zu-Sehende selbst angewiesen, in welchem sich jedes Wiedererkennen oder die Berufung auf ein ‚richtiges‘ Sehen und Vorwissen als nutzlos in Hinblick auf die Herstellung eines kohärenten Bildeindrucks herausstellt. Somit wird ferner eine neue Bedeutung erst erschaffen – in diesem Fall ein Sehen, das die etablierten bürgerlich-familiären Strukturen durch die Umkehrung der häuslichen Hierarchien und gewohnten Darstellungstraditionen hinterfragt, was vor allem durch die verstörende Figurenanordnung unterstützt wird, die mehrere Lesweisen begünstigt.

41 Das Bild ist, so scheint es, nur durch das Dispositiv der Fotografie denkbar (vgl. Lamer 2009, 162f) – in der Alltagswahrnehmung erscheinen nahe Gegenstände kleiner, fernere Gegenstände hingegen größer als auf einer Photographie. Eine Kamera hätte aber hier viel näher an dem Körper der Frau positioniert sein müssen, um den Größenkontrast zwischen der Zeitung und dem Kopf des Mannes so immens erscheinen zu lassen. So bemerkt Jay, dass „the flattening of space in Impressionism […] has also been derived from the breakdown of perspectivalism in photography“ (Jay 1993, 137). So lag auch der Schwerpunkt der 2012/2013 in der Frankfurter Schirn statt gefundenen Ausstellung von Bildern Caillebottes mit dem Titel „Gustave Caillebotte – Ein Impressionist und die Fotografie“ auf dem Verhältnis von Malerei und Fotografie.

170 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Abbildung IX: Gustave Caillebotte: Autoportrait au chevalet (1879)

Quelle: https://fr.wikipedia.org/wiki/Autoportrait_au_chevalet#/media/ File:G.Caillebotte_-_Autoportrait_au_chevalet.jpg

4.4 „V UE

PRISE A TRAVERS UN BALCON “

Ein gänzlich anderer, wenn auch gleichsam verzerrter Eindruck entsteht durch Caillebottes „Vue prise à travers un balcon“ (1880) (Abbildung X). Dieses Bild, welches von den hier besprochenen Gemälden am ehesten Züge der impressionistischen Malerei aufweist, zeigt ein im Kontext realistischer Malerei sehr ungewöhnliches Arrangement. Zu sehen ist ein dezent gezeichnetes typisches Balkongitter42, hinter dem sich recht unaufdringlich eine alltägliche Situation auf einer diagonal hinter dem Gitter entlangführenden städtischen Straße abzeichnet: abgebildet sind eine fahrende Kutsche samt Pferd, einige durch kräftigere Striche angedeutete Passanten und an den Rändern der Straße hervorschimmernde Gebäude. Das Sichtfeld ist aber von dem Gitter, das sich über den ganzen Ausschnitt legt, und einer

42 Auch Walter Benjamin scheint in seinem „Passagenwerk“ in „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“ die Bedeutung der Balkongitter aus Eisen im Pariser Stadtbild aufgefallen zu sein. Vgl. Benjamin 1983, 231.

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 171

Balkonpflanze, deren Blätter von rechts unten in den Bildausschnitt drängen, teilweise verstellt. Es kommt dadurch zu einer seltsamen Konstellation und einer ungewohnten Relation zwischen einer dem Betrachter sich befremdlich aufdrängenden Nähe (der Nicht-Opazität des Gitters und der Pflanze) und einer nicht detailliert zu sehenden Ferne. Hier ist insbesondere der physiologische Akt der Akkomodation aufschlussreich, wie ihn Hermann von Helmholtz in seiner Schrift „Ueber das Sehen des Menschen“ begreift. Man könne, so Helmholtz, nicht gleichzeitig ferne und nahe Gegenstände deutlich sehen. Durch die Akkomodation der Augen werde jeweils entweder das räumlich Nahe, oder das räumlich Ferne fokussiert: „Die eigenthümliche Veränderung, welche im Zustande des Auges vor sich geht, um bald ferne, bald nahe Gegenstände deutlich zu sehen, nennt man die Accomodation oder Adaptation des Auges für die Entfernung des Objects“43. So muss das Auge in Bezug auf Nähe und Ferne eine bestimmte Kraft zur Akkomodation aufwenden, um seinen Fokus jeweils auf einen der beiden Bereiche zu richten. Aufgrund von Erfahrungswerten über Größen und Distanzen tritt hierbei ein Teil des Bildausschnitts in den Fokus, während sich ein anderer, meistens an den Rändern des Bildfeldes liegender, optisch zerstreut. Das Moment der Zerstreuung kann sich darüber hinaus auch auf größere Teile des Sichtfeldes erstrecken und zu einem letztlich zu großen Teilen unfokussierten Sehen, und somit zu einer Störung des Wiedererkennens in ebenjenen Bereichen, beitragen. Diese Unschärfebereiche können nun für visuelle Zweideutigkeiten in Bezug auf räumliche Wiedererkennungsmechanismen oder übliche Bedeutungszuschreibungen sorgen. Während man im alltäglichen Leben und in der Regel aus einem pragmatischen Interesse durch das Gitter hindurch blickt und man es mithin gar nicht bemerkt bzw. in Bezug auf die Darstellungsweise die Thematisierung des Balkongitters lediglich der Markierung eines Betrachterstandpunkts dient, findet hier eine Hervorhebung desselben statt. Es tritt eigentümlich in den Vordergrund und wird, jenseits einer alltäglichen, instrumentellen Wahrnehmung oder der bloßen Markierungsfunktion, auffällig und tritt eigenwertig in den Fokus. Der eigentlich auf die räumlich fernen Dinge gerichtete Blick wird gebrochen und auf die Bedingungen der Wahrnehmung und bildlichen Herstellung von Tiefenwirkung

43 Helmholtz 1867, 92.

172 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

selbst hingelenkt, indem ein Schwanken zwischen Nah- und Fernsicht angeregt wird. Abbildung X: Gustave Caillebotte: Vue prise à travers un balcon (1880), Van Gogh Museum, Amsterdam

Quelle: https://www.google.com/culturalinstitute/beta/asset/view-from-a-balcony/8g HrHH2Xl-O5cw?hl=de

Der Philosoph Martin Heidegger behandelt in seinem existentialontologischen Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) das Problem der ‚Räumlichkeit des In-der-Welt-seins‘. Hier beschreibt er die räumliche Orientierung des Menschen und den vertrauten, d.h. immer zeitlich gegebenen Umgang mit Gegenständen, dem ‚Zeug‘, im Alltag. Das ‚In-der-Welt-sein wird begleitet von den zwei konstitutiven Bewegungen: Erstens dem der Ent-Fernung, letztlich entgegen dem alltäglichen Verständnis von ‚Entfernung‘ die Bewegung hin zur Nähe und Überspringen der Ferne, vor allem durch die Verbindung der Dinge zur menschlichen Hand und dem Bereich der menschlichen manuellen Tätigkeiten. Und zweitens dem der räumlichen Ausrichtung, der Bezug auf den menschlichen Leib, etwa die Bezogenheit auf rechts und links vom Leib in Bezug auf die Welt. Heidegger schreibt ’

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 173

dem Dasein dabei eine Tendenz zur Nähe, das heißt auf die Dinge des täglichen Umgangs zu. Diese Nähe bezeichnet nun aber etwas gänzlich von objektiven Abständen unterschiedliches, und damit (Ver-)Messbares. Das Nahe ist vielmehr das, was sich im praktischen und alltäglichen Gebrauch als relevant herausgestellt hat und ist mitnichten das, was sich objektiv und empirisch am nähesten zum Leib befindet: „Das vermeintlich ‚Nächste‘ ist ganz und gar nicht das, was den kleinsten Abstand ‚von uns’ hat. Das ‚Nächste‘ liegt in dem, was in einer durchschnittlichen Reich-, Greif- und Blickweite entfernt ist. Weil das Dasein wesenhaft räumlich ist in der Weise der Ent-fernung, hält sich der Umgang immer in einer von ihm je in einem gewissen Spielraum entfernten ‚Umwelt‘, daher hören und sehen wir zunächst über das abstandmäßig ‚Nächste‘ immer weg. Sehen und Hören sind Fernsinne nicht auf Grund ihrer Tragweite, sondern weil das Dasein als entfernendes in ihnen sich vorwiegend aufhält. Für den, der zum Beispiel eine Brille trägt, die abstandmäßig so nahe ist, daß sie ihm auf der ‚Nase sitzt‘, ist dieses gebrauchte Zeug unweltlich weiter entfernt als das Bild an der gegenüber befindlichen Wand. Dieses Zeug hat so wenig Nähe, daß es oft zunächst gar nicht auffindbar wird. Das Zeug zum Sehen […] hat die gekennzeichnete Unauffälligkeit des zunächst Zuhandenen. Das gilt zum Beispiel auch von der Straße, dem Zeug zum Gehen. Beim Gehen ist sie mit jedem Schritt betastet und scheinbar das Nächste und Realste des überhaupt Zuhandenen, sie schiebt sich gleichsam an bestimmten Leibteilen, den Fußsohlen, entlang. Und doch ist sie weiter entfernt als der Bekannte, der einem bei solchem Gehen in der ‚Entfernung‘ von zwanzig Schritten ‚auf der Straße‘ begegnet. Über Nähe und Ferne des umweltlich zunächst Zuhandenen entscheidet das umsichtige Besorgen. Das, wobei dieses im vorhinein sich aufhält, ist das Nächste und regelt die Ent44

fernungen“ .

Hierbei liegt mein Fokus hauptsächlich auf den Implikationen, die dies, trotz aller Abweichung von Heideggers philosophisch-existenzialem Ausgangsinteresse und seiner Terminologie, auf den Sehsinn und die damit verbundene ‚Fühlbarkeit‘ der Gegenstände ausübt. Neben der von Heidegger angesprochenen verfremdenden Thematisierung des instrumentellen

44 Heidegger 2006, 106f.

174 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Zeugs45 (das Prinzip ‚etwas um zu…‘ wird gestört) kommt es in Caillebottes Gemälde zur paradoxen Sichtbarmachung der ‚Unauffälligkeit des Zuhandenen‘, also der ungewohnten Fokussierung auf das Gitter als Teil des bewohnten Raums – aus Heideggers Begrifflichkeit übersetzt: einer Reflexivmachung des Seh- und Sinnstiftungsprozesses selbst. Bei der Akkomodation des Auges treten nämlich räumlich nahe Gegenstände, die nicht im Aufmerksamkeitsfokus liegen, in der Regel zurück und verbleiben in unscharfen Bereichen. So beispielsweise beim Blick durch Gitter, Fenster, Zäune, Scheiben und eventuellen Flecken, Schlieren oder Rissen darauf. In der Regel werde somit das Alltäglichste, räumlich Näheste, nicht bemerkt oder gar gefühlt, sondern darüber hinweg- oder durchgeblickt. So bringt auch schon Helmholtz das Beispiel der Kleidung an, die nicht auf der Haut gefühlt wird, sondern lediglich dann, wenn die Aufmerksamkeit darauf gelenkt werde. Das ‚Überfliegen‘ einer solchen Nähe ist der Begrifflichkeit Šklovskijs nach ein Teil des alltäglichen Automatismus der Wahrnehmung. Die Dinge werden durch die vertraute Nähe nicht eigentlich bemerkt, da darüber in der Regel hinweggesehen wird. Die hier thematisierte Nahakkomodation der Augen, das Gerichtetsein auf nahe Gegenstände, ist als physiologische Bewegung der Aufmerksamkeit zu betrachten, auf einen bisher zerstreuten Bereich des Sehens wiederum zu fokussieren. Die Aufwendung einer gewissen Energie führt zu einer besonderen ‚Fühlbarkeit‘ des sonst einfach Durchblickten. Das Verfahren der Verfremdung besteht nun in diesem Fall

45 Vgl. ebd., 75: „Imgleichen ist das Fehlen eines Zuhandenen, dessen alltägliches Zugegensein so selbstverständlich war, daß wir von ihm gar nicht erst Notiz nahmen, ein Bruch der in der Umsicht entdeckten Verweisungszusammenhänge. Die Umsicht stößt ins Leere und sieht erst jetzt, wofür und womit das Fehlende zuhanden war“. Das Zeug wird durch eine Störung oder ins Leere-Gehen einer Erwartung entgegen der vertrauten habituellen Wahrnehmung erst so thematisch und rückt in den Aufmerksamkeitsfokus. Heidegger betont den vertrauten Umgang mit den Dingen in der Welt als Handelnder. Der „Charakter einer unauffälligen Vertrautheit“ (ebd., 104) wird erst somit, mit dem Fehlen oder NichtFunktionieren des Dings durchbrochen und als Störung markiert. Auch bei Helmholtz wird in ganz ähnlicher Weise das Beispiel des eigenen vertrauten Zimmers im Dunklen aufgerufen, in dem nichts gesehen wird und die Dinge doch wiedererkannt werden (vgl. Helmholtz 1867, 436)

„[C]’ EST

ENCORE UNE CONVENTION QU ’ IL A COUCHEE EN JOUE “

| 175

darin, eine solche Fokussierung umzukehren, das eigentlich Ferne in eine ungewohnte Nähe zu ziehen und das Unsichtbare in das Thema der Sichtbarkeit zu rücken. Das in der Reihe des Ent-fernten Befindliche wird dabei in die Reihe des Entfernten und damit fremd Gewordenen transportiert und somit semantisch verändert. Genau dies geschieht im Bild Caillebottes. Dies kann ferner zu einer Thematisierung des Bildstatus des Bildes selbst beitragen, indem es auf die Flächigkeit des Bildes und seine Medialität verweist. Ein solches Spiel mit der Peripherie des Aufmerksamkeitszentrums ist nach Jonathan Crary besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts aktuell: Die Beschäftigung mit Streuungen, Rändern, Peripherien in Bezug auf den Betrachter speist sich aus physiologischen Entdeckungen und scheint auch in der Kunst von einigem Interesse für Experimente mit der Wahrnehmung zu sein46. So kann für die Bilder Caillebottes übergreifend von einem unökonomischen Bildverständnis ausgegangen werden, einem poetischen Bild, bei dem die gewohnte Wahrnehmung, die Ausrichtung von fokussiertem und zerstreutem Sehen der Dinge irritiert wird. Es findet ein Schwanken zwischen zwei oder mehreren möglichen räumlichen Ansichten und damit auch der Bedeutungsproduktionen statt. Das Prinzip der erschwerten Form47 und der Erwartungstäuschung über die Ästhetik eines oder mehrerer gleichzeitig möglicher räumlicher und semantischer Aktualisierungen dominiert gegenüber solchen Forderungen an die Kunst, lediglich harmonische und rhythmische Formen zu (re)produzieren. Die eindeutige Wiedererkennbarkeit der Gegenstände im Bild, das reibungslose Umfassen des Gemäldes mit einem Blick und die Harmonie der Formen sind in dem Gemälde Caillebottes über teilweise gegenläufige und ungewohnte Mechanismen von Fokussierung und Zerstreuung erschwert. Dabei ist insbesondere die Verschränkung von einer Störung gewohnheitlicher, ökonomisch ablaufender Wahrnehmungsmechanismen mit dem Aufbrechen von Darstellungstraditionen im Werk Caillebottes zu beobachten. Gerade die Alltäglichkeit des Sujets des häuslichen Zusammenlebens von Mann und Frau in „Intérieur, femme lisant“, dient als Hintergrund, auf dem solche Störungen vielleicht besonders wirksam auftreten und wiederum neue Bedeutungen oder Bedeutungsumkehrungen erzeugen. Hiervon sind letztlich auch die Reaktionen des Publikums

46 Vgl. Crary 1999, 40. 47 Šklovskij 1987a, 18

176 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

und der Kritiker angesteckt: die sozial und gesellschaftlich bedingten Irritationen über das Bild Caillebottes und die Inkongruenzen innerhalb der Darstellung scheinen kaum auflösbar zu sein. Eine Störung des Illusionismus, das Nichtaufgehen des Eindrucks, macht letztendlich erst eine ästhetische Erfahrung im Sinne der modernen Verfremdungstheorie möglich. Hierbei wird neben dem Sehen als emphatische Wahrnehmung auch das ‚Gemachtsein‘ des Kunstwerks, durch das nicht nur hindurchgeblickt wird, ins Licht der Aufmerksamkeit gerückt.

5. Die Ästhetik des Anders-Sehens in literarischen Texten der Moderne

Wie gezeigt, beruht das Verfahren der Verfremdung auf der wahrnehmungsästhetischen Figur des Schwankens, in welchem es durch die Einnahme ungewohnter Blickwinkel jeweils zu einem Oszillieren zwischen zwei wahrnehmungstheoretischen und semantischen ‚Reihen‘ kommt. Diese ungewöhnlichen Blickwinkel können durch die Regression in kindliche Wahrnehmungsmuster, den Blick durch technische Apparate, emotionale Ausnahmesituationen oder physische und psychische Krankheiten eingenommen werden. Hierbei bleibt das bewegliche Hin und Her zwischen herkömmlichen, alltäglichen und den durch neue Perspektiven entstandenen alternativen Bedeutungsmöglichkeiten bestimmend. Dies ist nun ebenso auf literarische Texte und die Wahrnehmungsmuster der handelnden Figuren auf der diegetischen Ebene anwendbar. So kommen für die literarische Tradition in der (Hoch-)Moderne noch grundlegendere Verschiebungen der traditionellen Perspektivierung und Textstrukturierung hinzu: Die konventionell psychologisch motivierten, monologisch und ‚zentralperspektivisch‘ erzählten Wahrnehmungsformen innerhalb literarischer Texte des traditionellen Realismus werden vielfach aufgebrochen. Das multiperspektivische Erzählen im Roman (und auch zeitgleich als Anordnungsprinzip in der Malerei) wird ausschlaggebender Faktor moderner Texte – wobei ich Moderne als einen Überbegriff verstehe, der unterschiedliche Strömungen wie Symbolismus, Futurismus oder Dadaismus übergreift. Hier ist es das Möglichkeitsdenken jenseits der durch die ‚Realität‘ vorgegebenen gleich bleibenden Wirklichkeitsmuster, welches Ästhetiken der Multiperspektivität und des Anders-Sehens antreibt.

178 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Dies hat sicherlich unter anderem seinen Grund darin, dass es, wie bereits erläutert, in der Moderne neben der philosophischen Erkenntniskrise zudem zu einer Umschichtung der gewohnten visuellen Paradigmen kommt, in der die Erfahrungen sowie Unsicherheiten mit neuen Wahrnehmungsformen und -medien wie Fotografie, Film, dem beschleunigten städtischen Verkehr oder zirkulierenden Reklamebotschaften in verschiedenen Darstellungsformen der Künste artikuliert werden. Hierbei ist es vor allem die Literatur, die als Experimentier- und Aushandlungsfeld auch gegenläufiger und zeitlich versetzter kultureller und gesellschaftlicher Problematiken von Bedeutung ist: „Literatur kann aus diesem Zusammenhang als ein sozialer Ort verstanden werden, den Kulturen erzeugen, um eine Schnittstelle zu haben, an der sowohl neue Leitunterscheidungen des Wahrnehmens und Darstellens erst ausgehandelt und ausprobiert werden können als auch eine Folgenabschätzung durch Simulation der lebensweltlichen Konsequenzen vollzogen, als auch zur allgemeinen Anschauung gebracht werden kann, was sich in den Spezialdiskursen der Wissenschaften isoliert hat. Literatur kann solcherart eine konstitutive Rolle bei der Installierung neuer Formen des Wahrnehmens und Darstellens zuwachsen, sie vermag die (Re-) Kontextualisierung durch Anwendung und die Einübung in den Umgang mit diesen Formen zu leisten.“

1

Der aus den Naturwissenschaften und auch aus der empiristischen Tradition stammende Begriff des Experiments2 erfährt im Weiteren eine gewisse Konjunktur, indem naturwissenschaftliche Praktiken und künstlerische Arbeitsweisen verschränkt werden. Dabei kommt es weniger auf die Präsentation von konkreten Ergebnissen, als vielmehr auf den erzählerischen Verlauf solcher Gedankenspiele an. Jede angestrebte Erkenntnis muss sich pro-

1

Frank 2009, 385.

2

Auch in der Sehtheorie Helmholtz’ spielt das Experiment in Bezug auf Wahrnehmungsfragen eine wichtige Rolle: „Jede unserer willkürlichen Bewegungen, durch die wir die Erscheinungsweise der Objekte abändern, ist als ein Experiment zu betrachten, durch welches wir prüfen, ob wir das gesetzliche Verhalten der vorliegenden Erscheinung, d.h. ihr vorausgesetztes Bestehen in bestimmter Raumordnung, richtig aufgefaßt haben“ (Helmholtz 1921, 128). Zur „Experimentalästhetik“ der Moderne auch Vietta 2001, 36.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 179

zessual bzw. über eine narrative ‚Versuchsanordnung‘ anschaulich herleiten und -stellen lassen, wobei ebenjene Prozessualität, der Versuchsvorgang selbst, sein Gelingen oder Scheitern, immer mitgezeigt wird. Der Roman wird so vielfach zum Aushandlungsfeld von Gedanken- oder Wahrnehmungsexperimenten, die bloße individuelle Kontexte überschreiten und auch soziale Fragestellungen aufnehmen. Silvio Vietta nennt in seiner „Ästhetik der Moderne“ (2001) als grundlegende Schlagworte der modernen Ästhetik Subjektivität, Reflexivität und Experiment3. Diese greifen zunächst aus kunstfremden Kontexten wie etwa den Naturwissenschaften in das Feld der Künste ein. Vietta beschreibt die Textualität der sinnlichen Wahrnehmung als eines der sechs sich überschneidenden Textualitätsmuster moderner Literatur4: „Moderne Literatur schildert nicht mehr Wirklichkeit ‚an sich‘, sondern evoziert Wirklichkeit in den Brechungen jener subjektiven Bewusstseinsakte, in denen sie zur Sprache kommt und zu Literatur wird“5. Die erzählte literarische Welt entsteht erst aus der sich vollziehenden sowohl subjektiven als auch kulturell vermittelten Wahrnehmung heraus, ist also weder von vornherein außerhalb des Textes vorhanden, noch wird sie mimetisch einfach abgebildet. Die Wahrnehmung der Protagonisten und die sprachliche Vermitteltheit dieser textlichen Realitäten erhalten vielmehr eine ganz eigene Bedeutung – auf der Ebene der Figurenwahrnehmung vor allem innerhalb von personalen Erzählformen bzw. solchen mit interner Fokalisierung6. Vietta betont hier den Möglichkeits- und Vorstellungsraum, den die Subjektivität als eine Echokammer des Gesellschaftlichen bietet: „Moderne Literatur als eine im Vorstellungsraum angesiedelte fiktionale Realität kann […] imaginativ, assoziativ oder collagehaft Räume und Zeiten verbinden, die im Referenzsystem ‚Welt‘ zu weit auseinanderlägen, um derart kombinatorisch verbunden zu werden“7. Das Prinzip des Zusammenstellens von weit Auseinanderliegendem ist ferner auch für das Verfahren der Verfremdung grundlegend. Zwei miteinander verbundene kontrastive Aspekte stehen in der Moderne

3 4

Vgl. ebd., 181. Vgl. ebd., 8f. Hier steht die sinnliche Wahrnehmung neben Emotion, Erinnerung, Assoziation, Imagination und Reflexion.

5

Vietta 2001, 44.

6

Vgl. Genette 1998, 134ff.

7

Vietta 2011, 45.

180 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

hierbei für das Verorten einer Ästhetik des Anders-Sehens durch und in literarische(n) Texte(n) besonders im Vordergrund: Erstens das plötzlich sich artikulierende Neue und zweitens das landläufigen Vorstellungen gegenüber plötzlich auftauchende Fremde. Die Behauptung des Neuen bedeutet zunächst innerhalb der makroskopischen Literaturgeschichte den (vermeintlichen) Austritt eines singulären Werkes aus der Tradition, dann, zweitens, die Forderung an das Kunstwerk, die Erfahrungen von Neuheit und Fremdheit innerhalb des literarischen Textes selbst zu evozieren. Beide Aspekte sollen in Hinsicht auf eine Ästhetik des Schwankens und das Anders-Sehen im Folgenden kritisch beleuchtet werden. Zunächst ist es das gegenwärtige Neue, das im Kontext moderner, vor allem avantgardistischer Literatur immer wieder hervorgebracht werden soll. Der belgische Philosoph und Literaturtheoretiker Paul de Man versucht daher in seinem Essay “Literary History and Literary Modernity”, das Verhältnis von Moderne und der Geschichte (und damit von Erinnerung und Vergessen), neu zu justieren. Modernen Darstellungsformen in der Literatur und vor allem den historischen Avantgarden, so De Man, gehe es häufig darum, eine absolut gegenwärtige Jetztzeit und Singularität zu evozieren, alle Erinnerung an Vorheriges – bezogen auf das Kunstwerk: die gültigen Wahrnehmungsweisen und Darstellungstraditionen – auszulöschen, um somit genuin Neues hervorzubringen. Dies spielt künstlerischen Darstellungsformen zu, die vertraute Wahrnehmungsformen in radikaler Weise für den Bereich der Kunst negieren – auch da die Literatur selbst in der Ablösung der Paradigmen der normativen Nachahmungsästhetik in der Moderne nicht mehr funktionell als Aufbewahrungsort von Geschichte und Wissen fungiert8. Eine solche Tendenz zur inszenierten Erfahrungslosigkeit zeigt sich auf der Inhaltsebene in der Anwesenheit von epiphanischen Augenblicksmomenten und strukturell auf der Ebene der Eliminierung einer linearen Zeitvorstellung in der Literatur, die genau einen solchen Ausstieg aus einer historischen Zeit anzeigen oder aber, als generelle Wahrnehmungsprämisse – indem der Schritt zurück zu einer ‚reinen‘, ins Erfahrungslose taumelnden singulären Wahrnehmung inszeniert wird. So kann De Man hier in Anlehnung an Baudelaires Auffassung des modernen Geistes feststellen:

8

Vgl. Wunberg 2001, 28ff.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 181

„The human figures that epitomize modernity are defined by experiences such as childhood or convalescence, a freshness of perception that results from a slate wiped clear, from the absence of a past that has not yet had time to tarnish the immediacy of perception (although what is thus freshly discovered prefigures the end of this 9

very freshness)“ .

Dies geht mit einem Ausstieg aus der Geschichte einher, der letztendlich aber illusorisch und unmöglich bleibt. Es sei, so De Man, ein solcher Impuls zur Geschichtslosigkeit immer mit der eigentlich negierten Geschichte und Erfahrung verbunden, denn er bleibe einerseits in der Dauer und ausgedehnten Zeit der Sprache und ihrer Anordnungen gefangen, als auch verwoben mit dem Netz von Texten, Intertexten und Prätexten, auf die er reagiert und ohne die er kaum verständlich werden würde. Die Darstellung von reinen, ursprünglichen Erfahrungen an der Grenze zum Unsagbaren kann demnach nur vor dem Hintergrund der Tradition ästhetisch wirksam werden. Auch die avantgardistische Moderne ist, so lautet das Fazit De Mans, letztlich Teil eines historischen, zeitlichen Prozesses und damit vor allem die Behauptung eines paradoxalen Gefüges zwischen immanentem Anspruch und tatsächlicher Verortung. Eine solche Verschiebung von herkömmlichen und gewohnten Bedeutungssetzungen kann als eine paradigmatische Denkfigur der Literatur und Malerei der Moderne10 beschrieben werden, wie es etwa Herbert Grabes in seiner „Ästhetik des Fremden“ nahe legt – hier ist es zweitens das Fremde, das ebenso kontrastiv funktioniert. Mit dem Ende der Nachahmungsästhetik in der Moderne, so Grabes, verlagere sich im Laufe der Funktionsverschiebung der Literatur das Interesse auf die Herstellung von Neuem in Bezug auf das Gewohnte, so „dass das Präsentierte oder die Art und Weise der Präsentation (oder beides) sich irgendwie von dem unterscheidet, was aus der lebensweltlichen Erfahrung und die sie leitenden kulturellen Normen

9

De Man 1989, 157.

10 Für Harald Fricke ist das Modell der Abweichung für die Literatur überzeitlich und über den Bereich des europäischen Abendlandes hinaus gültig. Vgl. Fricke 2002. Zur modernen Kontrastästhetik bei Heinrich Heine: Vgl. Höhn 2009. Kontrast hier als ein „Gegensatz zweier Dinge, die sich gegenseitig hervorheben“ (ebd., 3), der für Störung und Irritation sorgt – und somit ein kritisches Verfahren darstellt.

182 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

bekannt und vertraut ist oder sich nicht ganz in den Rahmen des traditionellen Bereichs der schönen Literatur und Kunst einfügt“11. Eine solche ‚Ästhetik des Fremden‘ operiert mit Mechanismen der Erwartungstäuschung des Rezipienten. Doch erscheint es mir sinnvoller, den bei Grabes zunächst eher statisch anklingenden Begriff des Fremden darüber hinaus stärker zu dynamisieren: Mit dem Begriff der Ver-Fremdung tritt im Folgenden der produktionsästhetische Moment einer aktiven Herstellung der Fremdheiten stärker hervor. Dies geschieht über vielfältige künstlerische Verfahren, in denen die Wirkung des Kunstwerks einen kalkulierten Kunstgriff voraussetzt, der das Spektrum alltäglicher Wahrnehmungsweisen und des herrschenden Kunstkanons irritiert und um diverse Darstellungs- oder Wahrnehmungsformen erweitert. So stellt etwa Aage Hansen-Löve fest, dass das damit zusammenhängende Prinzip der Verfremdung als „das zentrale ästhetische und philosophische Prinzip der modernen Kunst und ihrer Theorie“12 gelten kann. Perspektivische Vielfalt, strukturelle Offenheit und Uneindeutigkeit werden zu Kennzeichen modernistischer Kunst und Literatur und wirken idealerweise verfremdend in Hinsicht auf gültige Wahrnehmungsstrategien. So besteht in einer Kontrastästhetik für den modernen Schriftsteller „die Aufgabe darin, Risse und Brüche so in seine Schreibweise zu integrieren, dass sie gewöhnliche Wahrnehmungen durchkreuzen, vertraute Illusionen zerstören und überholte Zustände in Bewegung, wenn nicht zum Tanzen […] bringen“13. Diese dynamischen Kontraste als Grundlage einer Ästhetik des AndersSehens sind aber weiterhin, wie ich im Folgenden zeigen möchte, als Kontraste von Bedeutung, die einen literarischen Text nicht nur in seiner Literarizität als Abgrenzung nach außen hin (im Sinne des Differenzmodells, etwa in Hinblick auf den Alltag und alltägliche Wahrnehmungsformen), sondern auch auf der diegetischen Ebene strukturieren können. Es geht mir in diesem Kapitel vielmehr vor allem um die Konstruktionsweise konkreter literarischer Texte.

11 Grabes 2004, 13. 12 Hansen-Löve 1978, 19. 13 Höhn 2009, 10.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 183

In der literarischen Moderne kommt es zu vielfach motivierten Darstellungen der Multiperspektivität im Sinne einer generell relativierenden Sichtweise auf eine fragmentarisch verstandene, in ihrer Komplexität nicht mehr adäquat zu erfassende Welt. Die Möglichkeiten des Sehens und ihre Darstellungen vervielfachen sich selbst innerhalb des einzelnen Werkes als verschiedene diegetische Ordnungen oder Sichtweisen, auch in Hinblick auf die Wahrnehmungsstrukturen der Figuren literarischer Texte. Durch die textuelle Inszenierung einer verdoppelten und auch mehrfach potenzierten oder gebrochenen Wahrnehmung tritt neben eine gewohnte Sichtweise häufig eine abweichende als deren Erweiterung, Relativierung oder auch Sichtbarmachung hinzu. So wird nach Juri Lotman „der ‚Blickpunkt‘ überhaupt erst von dem Augenblick an zu einem spürbaren Element der künstlerischen Struktur, wo die Möglichkeit auftaucht, ihn innerhalb der Erzählung […] zu wechseln“14. Dieses „Nebeneinander heterogener Elemente“15 wird zum Kompositionsprinzip moderner Literatur, des Films und von Malerei. Die Literatur fungiert so als ein Gegendiskurs gegen die monologische und monoperspektivische Vermittlung der Welt, die die subjektive Wahrnehmung um die Darstellung ungewohnter Perspektiven bereichert, indem sie diese erzählerisch, das heißt räumlich und zeitlich, aktualisiert. Als Hintergrund des Anders-Sehens wirken neben der Funktion ‚neutraler‘ Figuren oft auch routinierte Wahrnehmungsmuster ein und desselben Protagonisten, bei dem sich im Anschluss verschiedene Weisen der Weltwahrnehmung im Laufe der Handlung abwechseln und kontrastieren können. Durch die Darstellung von Handlungen auf der Zeitebene bestehen innerhalb des literarischen Textes somit die Möglichkeit der Ausbuchstabierung des (mehrfachen) Wechsels der dominanten Wahrnehmungsweise und deren jeweilige zeitliche und räumliche Verschiebungen innerhalb von solchen Anordnungen. Der Fokus liegt hier auf der Verfremdung von Wahrnehmungsmodi des Alltags durch die Literatur – und zwar nicht nur als Literatur und Literaturhaftigkeit selbst, sondern auch explizit als Muster des

Schwankens innerhab einzelner literarischer Texte. In der Schrift mit dem provokanten Titel „Literatur ohne Sujet“ (1921), die bereits in der zweiten Phase des Formalismus anzusiedeln ist, zeigt Viktor Šklovskij als zentrales Verfahren der Erzählliteratur die

14 Lotman 1993, 374. 15 Ebd., 393.

184 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Schaffung von Kontrasten auf, welches durch die Wahl eines jeweiligen Sujets lediglich ‚motiviert‘ werde. Hierbei könne beispielsweise die rhetorische Figur des Oxymorons durch zwei entgegengesetzte und nicht miteinander vereinbare Wahrnehmungsweisen eines Protagonisten oder durch weitere auf der Motivebene liegende Gegensätze, die den Text strukturieren, erzählbar gemacht werden. Durch diese Motivierung träten aber die eigentlichen Konstruktionsprinzipien der Literatur in den Hintergrund. Ein bloßes Sich-Zeigen der Verfahren, wie der Titel des Aufsatzes andeutet, kann es hingegen nicht geben, wenn es sich um erzählende Literatur mit einem bestimmten Sujet handelt. Die konstruktiven Verfahren müssen wie das notwendige Fleisch, als Polsterung16 auf dem blanken Skelett in jedem Fall durch die außerliterarische Wirklichkeit motiviert und glaubhaft gemacht werden, wobei das Gemachtsein der Literatur in der Regel hinter dem zu erzählenden Inhalt verdeckt wird. Hier möchte ich im Folgenden das Sehen, die Semantiken des Sehens der Protagonisten/der Helden literarischer Texte selbst als ‚motivierte‘ oder lebendige Verfahren untersuchen – und damit einen weiteren Aspekt modernistischer Texte betonen. Bisher spielten für die Untersuchung insbesondere die generellen Fragen der frühen Phase des Formalismus, der wahrnehmungsästhetischen Orientierung von Kunst und Literaturhaftigkeit innerhalb des Differenzmodells eine zentrale Rolle. Die Wahrnehmung des Helden als Verfremdungsverfahren stellt jedoch in der zweiten Phase des Formalismus ein weiteres Interesse der beteiligten Theoretiker dar. So betont Jurij Tynjanov die konstruktive Funktion eines Elements im Zusam-

16 Wolfgang Schivelbusch beschreibt in seinem Buch über die Eisenbahnreise das kulturhistorische Prinzip der Polsterung als Reduktion der industriellen Erfahrung. Die damit verbundenen Erschütterungen und Schocks werden, etwa durch die Polsterung und Abdeckung mechanischer Konstruktionen, durch das Bürgertum verdeckt. Zur Jahrhundertwende allerdings „beginnt sich die Konstruktion wieder zu emanzipieren“ (Schivelbusch 1993, 202) und führt zur Abwendung von der Polsterung um den Beginn des Ersten Weltkriegs herum (Bauhaus!). Analog zu der von Schivelbusch beschriebenen Ent-Polsterung findet um dieselbe Zeit interessanterweise und vielleicht nicht zufällig ein Sichtbarwerden der Konstruktion literarischer Texte im Russischen Formalismus statt.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 185

menhang mit anderen Elementen innerhalb eines literarischen Textes17, aber auch in Bezug auf das Gesamtsystem der Literatur. Es müssen, so Tynjanovs Anliegen, insbesondere auch die innertextlichen Strukturen literarischer Werke untersucht werden. Die zweite Phase des Formalismus beschäftigt sich nun mit den tatsächlichen Konstruktionsverfahren literarischer Texte: In den Mittelpunkt „treten nun der literarische Held als Transformator und das System der Heldpositionen als komplexe multiperspektivische ideologische Ordnung“18. Dies geschieht auf vielerlei Weisen, von denen im Folgenden einige ausgewählte vorgestellt und in ihrer die Weltwahrnehmung (in Hinblick auf alltägliche, normierte und kanonisierte Wahrnehmung) verfremdenden Eigentümlichkeit genauer spezifiziert werden sollen. Dafür werde ich im Folgenden drei auch formell ganz unterschiedliche Romane untersuchen: den modernistisch-wahrnehmungstheoretischen Roman „Kotik Letajew“ von Andrej Belyj, die Dystopie „The Sleeper Awakes“ von H.G. Wells und den kulturkritischen Roman „Quaderni di Serafino Gubbio Operatore“ von Luigi Pirandello, in welchen die Bildproduktion und die Einnahme einer auf unterschiedliche Weise verfremdeten Optik durch Experimente an Wort und Bild vorherrschen. Hier liegt der Abweichungshintergrund der verfremdeten Wahrnehmung jeweils innerhalb des Helden selbst und nicht so sehr im Gegensatz verschiedener Protagonisten – obwohl dies aus formalistischer Sicht weithin unerheblich ist. Diese Beispiele können auch metapoetologische Positionen verhandeln, indem sie versuchen, bestimmte optische und semantische Verfahren in Erzählstrategien zu vermitteln, die in allen Fällen nah an der menschlichen Wahrnehmung orientiert sind und mit dieser experimentieren, in einigen Fällen aber auch darüber hinausgehen (z.B. der über das bloße Auge hinausweisenden Kamerawahrnehmung im Roman Pirandellos). Es werden so über das Verfahren der Verfremdung als wahrnehmungsästhetischer Kategorie die unterschiedlichsten Möglichkeiten des Sehens vorgeführt. Hierbei ist es selbstverständlich auch die stilistische und sprachliche Markierung der Perspektive als Differenz, Schwanken und Kontrast, die in der jeweiligen Diskussion der Texte ein Gegenstand der weiteren Untersuchung sein soll.

17 Vgl. Tynjanov 1967, 41. 18 Hansen-Löve 1978, 285.

186 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

5.1 „I CH KANN SCHIELEN ( MIR SELBST AUFS N ÄSCHEN SCHAUEN ): UND DANN KIPPEN DIE W ÄNDE “: D AS S EHEN MIT DEM KINDLICHEN AUGE IN ANDREJ B ELYJS „K OTIK L ETAJEW “ (1917/18) Die erschriebene Kindheit kann mit gutem Grund als poetisches Experimentierfeld der Moderne gelten. So können in literarischen Texten, die von der Kindheit handeln, über die Inszenierung kindlicher Perspektiven neue Wahrnehmungsweisen erprobt und durchgespielt werden. Gegenüber vormodernen Texten, wie zum Beispiel dem Bildungsroman, bei dem die Kindheit in der Regel in einer entwicklungslogischen und kontinuierlich verlaufenden Beziehung zum Erwachsensein steht, wird in der Moderne vielmehr die „Diskontinuität zwischen der kindlichen Perspektive und der Sicht der Erwachsenenwelt“19 betont. Bemerkenswerterweise wird die Diskontinuität auch zu einer erzählerischen Grundfigur, in der immer wieder die Paradoxie des Erzählens über die Kindheit aufscheint, denn es ist in der Regel der Erwachsene, der die Kindheitsperspektive rückblickend einnimmt. Walter Benjamin bemerkt in seiner „Berliner Kindheit um 1900“ über die Figur der Kindheitsgeschichte aus der Perspektive des erwachsenen Schriftstellers: „So kann ich davon träumen, wie ich einmal das Gehen lernte. Doch das hilft mir nichts. Nun kann ich gehen; gehen lernen nicht mehr“20. Die Inszenierung der Kindheit bleibt somit immer künstlich und nur aus der Perspektive des Erwachsenen in die Vergangenheit gerichtet, letzthin ein erzählerisches Konstrukt. Eine ähnliche Paradoxie stellt Hermann von Helmholtz für den erfahrenen Sichtpunkt in Rechnung: Ist einmal der ‚richtige‘, auf Erfahrungen beruhende Seheindruck gebildet, kann die Perspektive der einstmaligen, vielleicht unklaren Anschauung nicht mehr eingenommen werden21. Dabei dient der Kontrast zwischen einer ‚erfahrungslosen‘ und einer erfahrungsgesättigten Wahrnehmung dazu, neue Effekte zu erzielen und bisher unkartierte Grenzbereiche der Wahrnehmung auszuloten. So ist das Prinzip der kindlichen Wahrnehmung, etwa in den Werken Walter Benjamins, Ossip Mandelstams oder Viktor Šklovskijs zu verstehen. Hierzu nennt Annette 19 Simonis 2002, 230. 20 Benjamin 2012, 97. Vgl. auch Voutta 2006, 178. 21 Vgl. Helmholtz 1867, 437.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 187

Simonis in ihrem Aufsatz „Avantgardistische Kindheiten“ verschiedene poetische Strategien moderner Texte, die zu einem Perspektivwechsel und zum Experimentieren mit Wahrnehmungsweisen genutzt werden können: Etwa erstens eine andersartige Raum- und Zeiterfahrung des Kindes, was sich auch auf sprachlich-syntaktische und metaphorische Schreibweisen auswirkt, zweitens die ungewohnte Optik und Perspektive des Kindes, die Verfremdung des Alltäglichen und drittens die Verknüpfung oder Diskontinuität zwischen einzelnen Erfahrungen bzw. Textabschnitten22. Hier ist von textlichen und künstlerischen Problematiken die Rede, wobei im Folgenden in Anschluss an Gérard Genette jeweils die Problematik des Erzählers (der Stimme) von der des Aktanten (der Wahrnehmungsweise) unterschieden werden soll23. So kann beispielsweise zum einen mit einer erwachsenen ‚Stimme‘ (oder Sprechweise) über Kindheit erzählt als auch zum anderen die kindliche Perspektive über die kindliche Stimme selbst, die Inszenierung einer kindlichen Sprache eingefangen werden. Hier möchte ich des Weiteren die Heterogenität der Sprache und vor allem die negative Struktur der poetischen Sprache betonen. Die Literaturtheoretikerin Julia Kristeva beschreibt in „La révolution du langage poétique“ (1974) die Diskontinuitäten im sprachlichen Bereich des Menschen. Dabei macht sie auf den Unterschied zwischen der denotativen Bedeutungs- und Repräsentationsebene der Sprache auf der einen und den diesem immer unterliegenden „différents matériaux sémiotisables – la voix, les gestes, les couleurs“24 auf der anderen Seite aufmerksam. Grundlage ist die Geschichtlichkeit des Subjekts, die einen immerwährenden Prozess der Sinngebung formiert und eine gleichzeitige Scheidung und Verbindung zwischen einer semiotischen (vorsprachlichen, vordenotativen) und einer symbolischen Funktion (Bezeichnung, Aussage) der Sprache zu ihrem Ursprung hat. Das individuelle Semiotische, obwohl zeitlich vorgängig, kann ähnlich der paradoxen Figur der Kindheit nur nachträglich über sein Einbrechen in die Struktur der Sprache, die bereits gesellschaftlichen Einflüssen unterliegt, eingefangen werden. So kann die Sprache der Kunst in vielen Weisen und innerhalb einer geschichtlichen Diskontinuität ‚sprechen‘,

22 Vgl. Simonis 2002, S. 231f. Hier minimal im Wortlaut abgeändert und verdichtet. 23 Vgl. Genette 1998, 115ff. 24 Kristeva 1974, 28.

188 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

nicht zuletzt kann sie über das Differenzprinzip ein kindliches Sprechen und Wahrnehmen in ständiger Beziehung auf eine Alltagssprache oder das System des Begrifflichen inszenieren. Beide Ordnungen können, da die Grenze beständig im Schwanken begriffen ist, zu jeder Zeit ineinander übergehen und erzeugen ein Feld ständiger Bedeutungskonstitutionen und -verschiebungen über ebenjenen Kontrast. Kristeva wählt hierfür den Begriff der transposition, „cette possibilité du procès signifiant de passer d’un système de signes en un autre, de les échanger, de les permuter“25. In Bezug auf Texte, die Kindheit zu ihrem Gegenstand haben, kann sich die Artikulation der kindlichen Seh- und Wahrnehmungsökonomie der symbolischen Bedeutungsebene der Sprache bis zu einem gewissen Maße entziehen, indem sie jedoch gleichzeitig auf diese angewiesen bleibt, die sich als ihr ständiger Hintergrund definiert. Diese Artikulation der Triebe basiert auf einer Differenz zur lebensweltlichen Wahrnehmung und kann durch eine Abweichungsfigur, das Überschreiten eines normativen Sprachmodells inszeniert werden. Ebenso kann eine solche Figur in Bezug auf Wahrnehmung wirken: Die Begehrensstruktur eines anderen Sehens kann das automatisierte, erlernte Sehen beständig unterlaufen und kreuzen. Viktor Šklovskij beschäftigt sich in seinem Aufsatz „Ornamentale Prosa. Andrej Bely“ (Ornamentalnaja proza. O teorija Andrei Belyj, 1929) nicht zufällig mit dem Kindheitsroman „Kotik Letajew“ des russischen Symbolisten Andrej Belyj (1880-1934), den er – wenngleich er einige Jahre früher in „Kunst als Verfahren“ gegen dessen symbolistische Theorien argumentiert – als den interessantesten Schriftsteller seiner Zeit bezeichnet. Er weist hier zunächst auf dessen direkte Beeinflussung durch den Anthroposophen Rudolf Steiner hin, einen Autor, den Belyj an mehreren Stellen als seinen Lehrer bezeichnet und von dem er einige Gedanken, wie etwa das Prinzip der Eurythmie auf der Ebene der Sprach- und Ausdruckstheorie aufgreift. Šklovskij macht weiterhin darauf aufmerksam, dass die aus dem Bereich des Außerliterarischen kommende Zielstellung Belyjs, die anthroposophische Lehre künstlerisch zu verarbeiten, letztendlich von den immanenten literarischen Verfahren und dem literarischen Material überformt

25 Ebd., 60.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 189

werde26 – für deren letztendliche Autonomie er den Begriff der ‚ornamentalen Prosa‘ einführt. Unter dem Gesichtspunkt des Vorranges der literarischen Verfahren (in diesem Falle dem der Verfremdung) diene die Darstellung des kindlichen Bewusstseins lediglich als eine psychologische ‚Motivierung‘ und Verkörperung, um die Welt mit sprachlichen Mitteln zu verfremden und dem Leser wechselnde Sichtweisen auf diese anzubieten27. Letztendlich führt Šklovskij hier die formalistische Evolutionstheorie vor, zu der er im Gegensatz zu seiner frühen Schrift „Kunst als Verfahren“, später neigt: Kunst verändert sich demnach durch die wechselweise und unvorhersagbare Ablösung verschiedener Verfahren, nicht durch den direkten Einfluss außerliterarischer ‚Reihen‘, also gesellschaftlicher oder kultureller Entwicklungen. Im Folgenden versuche ich, die möglichen formalistischen, symbolistischen, als auch psychologischen Lesweisen28 des Romans zu berücksichtigen. Andrej Belyj wird in der Forschung vielfach als ein Autor angesehen, der, obwohl er der symbolistischen Strömung angehört, der Avantgardebewegung des russischen Kubofuturismus zumindest vorangegangen ist. Indem Belyi in „Kotik Letajew“ versucht, die Wahrnehmung eines drei- bis fünfjährigen Kindes über die Reflexionen des bereits erwachsenen Erzählers29 sprachlich zu formieren und dessen Wahrnehmung der Welt aus ebenjenen Voraussetzungen eines noch vorbegrifflichen und weithin ‚unschuldigen‘, wenngleich mythisch verhafteten Bewusstseins abzuleiten, steht er den antitraditionalistischen Thesen des russischen Futurismus nahe. Belyj stellt mit seinem Roman eine Art Gedankenexperiment an, indem er einen Blick

26 So schreibt Šklovskij: Die Versuche Belyjs, „eine künstlerische Parallele zu außerkünstlerischen Weltanschauungen zu schaffen, gelingen nur mühsam. Das Kunstwerk krümmt oder begradigt die Linie nach seinen eigenen Gesetzen“ (Šklovskij 1987c, 88). Und weiter: „die Kunst ist nicht der Schatten eines Dinges, sie ist selbst ein Ding – eine Sache“ (ebd., 89). Er fordert vom Künstler ferner, ein ironisches und distanziertes Verhältnis zum ‚Material‘ einzunehmen. 27 Vgl. Šklovskij 1987c, 90 und auch Striedter 1988, XXXIVf. 28 Aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive mit Rekurs auf das Modell Jean Piagets bespricht den Roman Hart 1972. Er nennt den Roman hierbei eine „modern psychological novel“ (Hart 1972, 322). 29 Vgl. Mayr 2001, 296.

190 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

auf die Dinge inszeniert, der aus der Vorstellung eines schlechthin Unsichtbaren – der Wahrnehmung und deren sprachlichen Formulierung eines weithin begrifflosen Kindes – eine Art vermittelter Sichtbarkeit darstellt, die bereits in eine bestimmte sprachliche Ordnung eingegangen ist. Auch Belyj deutet in seinem Roman explizit auf „das Bewußtsein eines Kontrasts“30 in der Anordnung der Erzählung und im Bewusstsein des Kindes hin. Der kleine Kotik versteht seine Versuche mit verschiedenen Wahrnehmungsformen als eine solche Experimentanordnung: „[M]eine Märchen sind im Grunde wissenschaftliche Übungen im Beschreiben und Beobachten von Eindrücken, die beim Erwachsenen verkümmern; diese Eindrücke leben fort im Erwachsenen; doch bleiben sie jenseits der Schwelle seines bewußten Gesichtskreises; das Bewußtsein des Erwachsenen ist besetzt von anderen Eindrücken: ist hineingezogen in ihren Kreis; Erschütterung, die das Bewußtsein losreißt von gewohnten Gegenständen, taucht es bisweilen in den Kreis der Gegenstände al31

ter Eindrücke; so – kehrt die Kindheit zurück.“

Hierbei wird die Figur der kindlichen Perspektive aktualisiert, die latent im Erwachsenen vorhanden ist und der Erzähler somit nun in einer archäologischen Arbeit aus den Tiefen zu bergen versucht. Es ist eben dieser Kontrast, der „Doppelblick“32 zwischen dem Selbst des erwachsenen Erzählers und dem Kindheitssubjekt auf der Wahrnehmungsebene, der in der Forschung immer wieder betont wird33 und der die dem Roman unterliegende Ästhetik des Schwankens bedingt. Ein Bruch über die Inszenierung einer kindlichen Sprache erfolgt hingegen nicht34, wenngleich der Roman auch auf sprachli-

30 Belyj 1993, 44. „сознанье контраста“ (Belyj 2011, 1091). 31 Belyj 1993, 150. „мои сказочки, собственно говоря, суть научные упражнения в описаний и наблюдении впечатлений, которые отмирают у взрослых; впечатления эти хивут и во взрослых; но хивут за обычного кругозора

сознания;

сознавание

взрослого

занято

кругом

иных

впечатлений: в них втянуто; потрясение иногда, отрывая сознание от обычных предметов, погружает его в круг предметов былых впечатлений; и – возвращается детство“ (Belyj 2011, 1143). 32 Voutta 2006, 182. 33 Vgl. ebd., 178; Mayr 2001, 296; 34 Vgl. Mayr 2001, 303, Hart 1972, 321.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 191

cher Ebene durch seine rhythmische, gebrochene, im Bereich der Schriftbildlichkeit eigenwillige Form im Druckbild und die Interpunktion auffällt. Die Faszination für das Vorbegriffliche führt am Beginn der Handlung bis in die Tiefen des Pränatalen Kotiks, das nach der anthroposophischen Lehre verstandene Eingebundensein in archetypische, kosmologische Strukturen und geometrische Formen (die nach dem Verständnis der Anthroposophie Rudolf Steiners später beim Erwachsenen verdrängt und in die Vorstellungswelt verschoben werden35), sowie im Folgenden zu Spekulationen über die sukzessive Formierung eines Bewusstseins im Laufe der sich entwickelnden Reife des Protagonisten. Analog zum Größerwerden Kotiks ist hierbei das Durchlaufen der verschiedenen Entwicklungsstadien der Menschheit mitzudenken. Der Kontrast zwischen den vorgeburtlichen Spuren des Mythos sowie der Archetypen und der praktischen Lebenswirklichkeit, die diesen Mythos nach und nach verdrängt, wird immer wieder thematisiert. So ist vor allem die beschriebene visuelle Wahrnehmung Kotiks mit einer hohen Bedeutungsdichte aufgeladen, wie auch Monika Mayr in ihrem Kapitel über die visuellen Beschreibungsstrukturen36 des Romans die vielfältigen optischen Phänomene treffend zusammenfasst, die im Folgenden noch weiter expliziert werden sollen. Dabei ist wiederum die literarische Form des Experiments ausschlaggebend: „Er entdeckt die Bedingtheit des Sehens durch Sehbedingungen: die Perspektive alias ‚Bündelung des Blicks‘ […], deren Brechung in Spiegeln und spiegelnden Glasvitrinen, deren Manipulation durch Blinzeln, Schielen, Augenreiben. Die Bedingtheit des Sehens besteht nicht nur in optischen Täuschungen des Ersteindrucks, der dann vom Verstand korrigiert wird. Mannigfaltige Sehbedingungen (von denen die Normalsicht am wenigsten erwähnenswert scheint) lassen einen Fluchtpunkt gar nicht erst zu. Das Kind experimentiert mit seiner entstehenden Perspektive, der Erzähler führt zur reduzierten Kinderperspektive als zusätzliche Brechungsphänomene

35 Vgl. Steiner 1947, 41f. Das menschliche Vermögen zur Vorstellung wird hier von Steiner als Bild und Beweis des vorgeburtlichen Daseins verstanden. 36 Mayr stellt fest, dass die Schaffung eines vom jungen Protagonisten selbst hervorgebrachten visuellen Codes, das Zugrundeliegen der geometrischen Formen wie Kugel und Kreis, die allem zugrunde liegen, ein größeres Gewicht hat als die Deskriptionen innerhalb des Romans (vgl. Mayr 2001, 304).

192 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Grenzformen und Randbereiche des Sehens ein, die in perpetuierter Form sogar krankhaft wären.“

37

Der Roman beginnt mit einem Rückblick des 35jährigen Erzählers, der sich zur Introspektion in die Bergwelt der Schweiz zurückgezogen hat, auf seine Zeit als drei- bis fünfjähriges Kind. Er tritt von dort aus die imaginäre Erinnerungsreise an, sieht die Ereignisse rückwärts ablaufen und verfolgt seine Gedanken „bis zurück zum ersten Aufblitzen des Bewußtseins; zerschlagen ist das Eis: der Wörter, der Begriffe, der Bedeutungen“38. Ein solches inszeniertes vorsprachliches Bewusstsein muss, ganz im Sinne der Verfremdungstechnik, reduktionistisch hinter das verfestigte Instrumentarium der Begriffe, Erfahrungen und Bedeutungen, die durch das Eis symbolisiert werden, zurückgehen. Die Erinnerung hängt jedoch vom Auftauchen ebenjener fixierten, distinkten Bilder in der Erinnerung ab. Diese Bilder betreffen die Zeit Kotiks in der Großstadt Moskau und die Wohnung, in der er mit seiner Familie lebt, Ausflüge der Familie auf das Land, die Zerrissenheit des Kleinen zwischen seinem Mathematiker-Vater und seiner sich um seine Entwicklung sorgenden Mutter und die Personen, denen er als Kind begegnet: dem Arzt der Familie, dem Kindermädchen, dem Nachbarn oder den Universitätskollegen seines Vaters. Die schärfere Fokussierung auf die Einzelbilder geht im Laufe des Älterwerdens Kotiks mit Verdichtung und Ichbildung einher, dagegen wirkt das Prinzip der Zerstreuung, das im Roman immer wieder als verflüssigendes Moment aufscheint, als ständige Bedrohung der Festigkeit. Die „Schwelle des Bewusstseins – schwankt“39, so der Erzähler am Beginn des Romans. Die Perspektive ist demnach eine dynamische, sich ständig innerhalb dieser beiden Pole entwickelnde: Die Entwicklung Kotiks beschreibt den langsamen Abfall von dem vorbegrifflichen und auf das Kosmologische verweisende Wesen der Laute und Rhythmen. Es wird im Folgenden eine doppelte Perspektivik geschaffen, in der das sprachliche Vermögen des erwachsenen Erzählers mit dem frühkindlich Erlebten und der vorbegrifflichen Wahrnehmung des Kindes verschränkt wird und das eine erst durch das andere hervorgebracht (und pro-

37 Ebd., 311f. 38 Belyj 1993, 10. „до первой вспышки сознания; сломан лед: слов, понятий и



смыслов“ (Belyj 2011, 1074)

39 Belyj 1993, 14. „порог сознания – шаток (Belyj 2011, 1076).

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 193

duktiv als Kontrasthintergrund genutzt) wird. Es wird offenbar, dass eine solche Wahrnehmung aus eben jener Perspektive des Erinnernden inszeniert und motiviert ist, da sie ohnehin ansonsten sprachlich nicht darstellbar bliebe. Den Ausgangspunkt dieser Geschichte von Geburt und Bewusstseinsbildung des Protagonisten bildet eine Perspektive auf die Welt, die Mayr als eine „synthetische Perspektive ohne Räumlichkeitskonzeption“40 beschreibt, in der unmittelbar nach der Geburt zweidimensionale, flächige Schemata das Bewusstsein Kotiks dominieren. In der Tat kreist dessen Bewusstsein am Anfang seiner Psychogenese um ausdehnungslose Punkte, ein raum-, zeit- und sprachloses Kontinuum, in dem sich erst nach und nach in der Bildung des Bewusstseins der Punkt zu einer Kugel ausdehnt: Von einer eindimensionalen Betrachtungswelt kommt es zur Bildung einer zweidimensionalen. So können überhaupt erst Trennungen und somit Bilder, Gedanken von Etwas, eine Vorstellung vom Ich und viel später Sprache ermöglicht werden. Es herrscht an diesem Punkt eine völlige Unterschiedslosigkeit: Eindimensionalität, das Nichts und die Null bedingen die Möglichkeit seiner Erkenntnis. Anschlussfähig scheinen in diesem Punkt abgesehen von den anthroposophischen Annahmen zudem einige zeitgenössische psychologische Theorien über die Kindheit, den Nullpunkt der Erfahrung und der Entwicklung des Menschen. So bemerkt William James in den „Principles of Psychology“ (1890) über das erste Wahrnehmen der Welt, dass „[t]o the infant, sounds, sights, touches and pains, form probably one unanalyzed bloom of confusion“41. Dies stellt sich dem Kind, das noch kein Bewusstsein für die für seine Sinne abwesenden Dinge hat, als das Allumfassende dar: „The first sensation which an infant gets is for him the Universe“42. Die allmähliche Ausbildung von Wiedererkennungs- und Unterscheidungsmechanismen über ein sich herausbildendes selektives Interesse beschreibt auch John Dewey (1891): „The child’s experience has no perspective, no recognition of varying importance. The equal value of all is the same lack of value in

40 Mayr 2001, 295. 41 James 1950, Bd. 1, 496. 42 James 1950, Bd. 2, 8.

194 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

each. But finally, from the mere force of repetition, this background and foreground of psychical life is created […] Distinctions arise“43. Am Beginn der Entwicklung des Kindes jedoch ist die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, Innen- und Außenwelt nicht existent und wird auch in der Beschreibung des Wahrgenommenen verflüssigt – das Ich ist gleichzeitig das Nicht-Ich und zunächst – im Gegensatz zu den genannten Theorien – bei Belyj in den gesamten Kosmos und den archetypischen Kontext eingebunden, der schlechthin ‚gefühlt‘ werden kann: „Das Beschriebene ist – nicht Bewußtsein, es sind – kosmische Berührungen“44. Diese Wahrnehmungen sind allerdings noch diffus und ungeordnet, die Gedanken Kotiks werden von ihm bzw. dem erwachsenen Erzähler-Kotik als Wirbel bzw. Schwarm bezeichnet und können nicht begrifflich oder in Form von distinkten Bildern fixiert werden. Die Erinnerungen an den vorkörperlichen Zustand, das Meer der ständig aufwallenden Mythen und das ständige Pulsieren der kosmischen Bewegungen, bleiben im Folgenden immer als Spur präsent und vermischen sich sogar mit aktuell Wahrgenommenem. Ganz ähnlich ist auch das körperliche Sensorium nur ein instabiles Fundament der Weltwahrnehmung, da zunächst nur das existiert, was tatsächlich unmittelbar gesehen wird. Die verfremdete Weltwahrnehmung wird so durch die Anbindung an ein unentwickeltes Bewusstsein und einen ebensolchen Körper im Frühstadium der Entwicklung motiviert, der die Wahrnehmungsdaten noch nicht über den souveränen Zusammenschluss mit den übrigen Sinnen bzw. über Erfahrungswerte im Kontext einer stabilen Außenwelt verbinden kann. Die Wahrnehmung Kotiks läuft entlang der Linie der kosmologischen Entwicklung, die innere Welt ist, ganz der anthroposophischen Lehre gemäß, die eigentliche und pränatale Welt des Kosmos und des Alls, aus der er durch die sukzessive Entwicklung seines Bewusstseins verdrängt wird, deren Formen und Spuren er aber immer wieder in ihr wiedererkennt. Die kindliche Auffassung von Sprache verweist in einer solchen Parallelisierung von Onto- und Phylogenese daher auch analog auf den Zustand der Sprache am Beginn der kosmischen Entwicklung. Die Unterscheidung zwischen innerer Welt und äußerer Welt ist zunächst nur in geringem Maße



43 Dewey 1891, 124f.

44 Belyj 1993, 107. „описанное – не сознание, а – ощупи космосов (Belyj 2011, 1122).

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 195

existent: „- Passagen, Zimmer, Korridore erinnern uns an unseren Körper, bilden uns unseren Körper vor; erweisen uns unseren Körper; sie sind – Organe…des Alls“45. Das Selbstbewusstsein kann hier nur in Form eines organisches Fließens zwischen Innen und Außen bestimmt werden, der Körper wird als Raum des Kosmischen benannt: „Mir war die Welt – Empfindung…nicht einmal der Organe meines Körpers, sondern - - eines peitschenden, reißenden und seltsam schneidenden Pochens, mit mir verschweißter, mich mit sich ziehender, nach allen Seiten flügelhändige Blitze entladender Pulse“46. Die äußerliche Welt stellt sich ihm als das vom Körper abgefallene dar, Bruchstücke, die sich aber nach und nach in strengeren Konturen (geometrischen Figuren, Normen) und der Genese identischer und wiedererkennbarer Personen wie seinen Eltern, dem Kindermädchen oder des Ich verdichten. Das, was als ursprüngliche ‚Wirklichkeit‘ bezeichnet wird, ist nicht jene äußere Welt, sondern der Ort, von dem Kotik kommt, an dem nichts unterschieden ist, an dem Gesten, Rhythmen und vorbegriffliche Laute vorherrschen, die noch nicht zu Begriffen oder Bildern verdichtet sind. Diese Welt bleibt als ständiger Kontrasthintergrund seiner nachgeburtlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen präsent. Die noch nicht klar erfolgte Trennung zwischen beiden Welten macht sich ebenfalls in der späteren Entwicklung des Jungen bemerkbar: Kotik hat mit zunehmender Reife die Fähigkeit erworben, sich zwischen beiden Welten zu bewegen, der vorkörperlichen Vergangenheit zu erinnern, indem er die wahrgenommenen Räume immer wieder als mit Bruch- und Leerstellen versehen imaginiert (wie etwa die Spalte im Bücherregal seines Vaters), die in die andere Welt führen. Ein anderer Ausweg aus der schmerzhaften Genese des Ichs und des Bewusstseins stellt sich ihm dar, indem er visuell ex-

45 Belyj 1993, 24. „Переходы, комнаты, коридоры напоминают нам наше тело, преобразуют нам наше тело; это – органы тела…“ (Belyj 2011, 1081) 46 Belyj 1993, 43. „мне был мир ощущением… даже не органов тела, а - бьющих, рвущих и странно секущих биений, в меня впаянных, меня тянущих за собой, развивающих во все стороны от меня крылорукие молнии пульсов“ (Belyj 2011, 1091). Dies ist im Übrigen auch in der Neuen Phänomenologie und seinem Begriff des Leibes angelegt: Die ‚primitive Gegenwart‘, auf die neben den Tieren auch die Säuglinge beschränkt seien, erlaubt keine identifizierende Unterscheidung in Körper und Außenwelt, meinen Körper/andere Körper oder Körper und Seele (vgl. Schmitz 2011, 23ff).

196 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

perimentiert. So deutet er das physiologisch erklärbare Phänomen der flimmernden Lichteindrücke bei Druckausübung auf die geschlossenen Augen als einen Wiedereintritt in die mythologische Welt vor der Geburt. Dies führt zu einer weiteren abweichenden, zerstreuten Perspektive fernab von der ‚Normalsicht‘: „ –ich schließe die Augen; reibe sie mit dem Fäustchen; und in den geschlossenen Augen entsteht ein Zentrum – – gelblila, pulsierend, licht! – – und ein Beben von Blitzen, die in Spiralen dem Zentrum entgegenfliegen, mir sprühen als funkelnde Punkte, zerstiebt in den Metamorphosen röstberedter Fackeln […] ich reibe die Augen mit den Fäustchen, das lichte Gewandt vibriert; vorüber sausen Sternchen und entfalten Schweife von lichtem Gefunkel – rings um das lila Zentrum; und aus den Fackeln fliegen: Bilder und Ebenbilder der Zimmer; das sind – Zimmer des Kosmos; das sind – die verborgenen Zimmer […] – ich stürze mich hinein, in diese Glieder fliegender Spiralen und in den Rhythmus des funkelnden Pulses (den eigenen), wo ich – 47

– war vor der Geburt!...“

Der nach innen und auf die Bedingungen des Sehens gerichtete Seheindruck Kotiks mit geschlossenen Augen besteht aus beweglichen Phänomenen von Licht und Farben. Wiedererkennbare Formen bilden sich, ziehen vor dem inneren Auge vorüber und zerstieben wieder ins Nichts. Hermann

47 Belyj 1993, 83. „ – свои глазки закрою я; их потру кулачками; и возникнет в закрыттых глазах моих центр - - желто-лиловый, бьющийся, светлый! - - и трепеты молний, из центра летящих спиралями и исходящих мне точками блесков, дробимых метаморфозами красноречивейших светочей […] я потру кулачками глаза; и светлая риза колеблется; по ней катятся звездочки и развивают хвосты светлых блесков – вокруг лилового центра; и из светочей вылагаются: образы и подобия комнат; это – комнаты космоса; это – таимые комнаты […] – я бросаюсь туда, в эти звеня летящих спиралей и в ритм пульса блесков (мои собственный), где я - - был до рождения!..“ (Belyj 2011, 1109f).

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 197

von Helmholtz etwa beschreibt das Phänomen der Nachbilder bzw. den ‚Lichtstaub‘, der bei geschlossenen Augen sichtbar ist, in ähnlicher Weise als „allerlei wunderliche krause, gesternte oder streifige verschiedenfarbige Figuren, die fortdauernd wechseln, und ein phantastisches regelloses Spiel aufführen“. Diese würden „heller und schöner gefärbt, wenn man das Auge reibt oder wenn erregende Getränke oder Krankheiten das Blut zum Kopfe treiben“48. Belyj benutzt mit seinen Blitzen, Sternchen oder Spiralen ähnliche Ausdrücke für die eigentlich ungegenständlichen Formen, die vor Kotiks innerem Auge vorübertreiben. Der vorbewusste und vorbegriffliche Kosmos als eine mögliche Welt, die in eigentlich rational erklärbaren physiologischen und eigenständig hervorgerufenen Zuständen gefühlt und wahrgenommen wird, kann somit als markierte Abweichung von der ‚normalen‘, herkömmlichen Wahrnehmung gedacht werden und wird im Zeichen des Schwankens zwischen zwei Welten evoziert. So sieht Kotik beispielsweise, während ihm sein Vater von Adam und Eva vorliest, unter seinen Lidern das aufschimmernde Adergeflecht als einen alten Baum49, der mit dem sich ausformenden Apfel als Sündenmotiv seine Vertreibung aus dem Paradies anzeigt. Die Formierung eines Bildes50 wird vom erwachsenen Kotik als erste Stufe des Wachstums verstanden, wenngleich davor liegende Phänomene der Erinnerung hauptsächlich auf anderen sensuellen Ebenen liegende Berührungen und Gerüche sind. Diese Bilder treten am Anfang noch als ungeordnete Bilderwirbel auf – später dann als erste Verdichtungen. Auch mit zunehmender Erfahrung und Festigkeit der Wahrnehmung fließt das Strömen und das Wirbeln immer noch in aktuelle Perzeptionen ein und bleibt als Wahrnehmungshintergrund präsent – so betrachtet Kotik durchs Fenster die faszinierende Figur des Schornsteinfegers: „Wie er dort – auf dem Schornstein, weit weit weg, sich abzeichnet als gebogene Kontur; die Sonne blitzt und blendet; der Schnee auf dem Dach diamantet aus großen Augen; in der Luft hängt – Schneegestöber, Sprühschnee fliegt auf: Sprüh-

48 Helmholtz 2006, 95. 49 Vgl. Belyj 1993, 184. 50 Der etymologische Zusammenhang zwischen Bild und Bildung besteht übrigens auch im Russischen (obraz-obrazovanie)

198 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

schnee wirbelt weiß und gelassen in luftigen Scharen“51. Hier unterliegt das Strömen, der Wirbel des Schnees immer noch der Bildproduktion des Bewusstseins Kotiks, wenngleich es schon zu gegenständlichen Beschreibungen kommt, welche auf eine stärkere Festigkeit in der Wahrnehmung schließen lassen. Insgesamt spielt das ständige Schwanken zwischen dem Wirbel, der Diffusion der Dinge und dem Prinzip des Festen, Statischen, eine entscheidende Rolle im Roman. Diese werden durch die Begriffe roj (Fließen, Schwärmen, Gesten, Musik, Werdendes) und stroj (Formen, Bilder, Begriffe, Gewordenes) bestimmt52. Das Werdende muss erst durch einen Entwicklungsprozess hindurch, der im Roman entfaltet wird. Am Beginn herrscht noch das Denken des Flüssigen, der flüssigen Zeit, des roj vor: „alles schwärmt“53. Die Instabilität der Dinge, das dynamische Werden kann ganz im Sinne der Veränderung und Beweglichkeit Bergsons verstanden werden: „Ich begann im Da-Sein zu leben, im Gewordenen (wie ich zuvor im Werden lebte); hier halte ich den Faden der Ereignisse; nicht alles ist mir noch geworden; vieles hält für einen Augenblick; und dann – fließt es fort“54. Die Objekte sind ganz wie die Ich-Vorstellung und die Identität des Protagonisten einer dauernden Veränderung des Fließens unterworfen. Dadurch dass die Dinge nicht in stabiler Weise wiedergesehen werden, beschränkt sich die Wahrnehmung Kotiks auf unverbundene und zerstreute Wahrnehmungswerte, welche zunächst diffuse und instabile Eindrücke hervorbringen. Mit fortlaufender Entwicklung des Bewusstseins allerdings werden von ihm bestimmte feste Gebilde und Formen wiedererkannt und erscheinen durch die Erfahrung in der Anschauung stabilisiert. Eine solche Doppelstruktur bemerkt auch Hilary Fink mit dem Hinweis auf Bergson, wenn sie feststellt, dass „[t]he notion of Bergsonian flux, the ceaseless flow

51 Belyj 1993, 50. „как он там, – на трубе, далеко-далеко, выдается изогнутым контуром; солнце блещет слепительно; снег на крыше – глазастый алмазник; присвистнет метелица; и – взлетят снегометры: снегометры бело и пеяро летят переносными стаями“ (Belyj 2011, 1094). 52 Vgl. Groys/Hansen-Löve 2005, 59. 53 Belyj 1993, 68. „все роистя“ (Belyj 2011, 1102). 54 Belyj 1993, 46. „я стал жить в пребывании, в ставшем (как я ранее жил в становлении); в нем держу нить событий; не все еще стало мне; многое установится на мгновение; и потом – утечет“ (Belyj 2011, 1092).

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 199

of Forever-changing reality, constant becoming, plays a major role in the developing consciousness of Kotik Letaev, whose earliest childhood memories focus on perceptions of a world in flux“55 und später von dem gradual loss of his intuitive sense of fluid reality (or time as duration) and subsequent submission to the world of intellect and chronological time, or that of inflexible forms 56 bestimmt wird. Diese Formbeschreibungen sind oftmals typische Verfremdungsverfahren, da die Gegenstände zwar immer als Form beschrieben, nicht aber als ein Gegenstand und damit begrifflich benannt werden57. Die Konstellation Schwarm/Form dient sowohl als Konstruktionsprinzip des Romans als auch als ständige Herausforderung der Bewusstseinsbildung Kotiks, das der erwachsene Erzähler selbst auch zu reflektieren in der Lage ist: „Diese Formation ist mir vertraut; sie wirkt dem Schwarm entgegen; die Form fesselt den Schwarm; die Form ist Festung in der Formlosigkeit; alles übrige – fließt “ 58. Nach und nach findet nun bei Kotik ein Abrücken von der pränatalen Welt und den kosmischen Denkstrukturen statt. Die Wahrnehmungsleistung wird nun mit einer gewissen Ordnung versehen und festigt sich: „Allmählich aber verwand ich die kosmischen Berührungen; die Reihen meiner ‚Fühlungen‘ wurden mir: Reihen von Begriffen […] zu Unsinn zerschellen die Fieberträume; und aus den zerrinnenden Winden – ergibt sich mir: Sinn“59. Beide Wahrnehmungsordnungen werden demnach im Übrigen auch explizit als unterschiedliche Reihen des Bewusstseins verstanden, können sich aber immer kreuzen oder ineinander übergehen. Im Sinne der Ästhetik des Schwankens bedeutet dies, etwas im Sinne der Verschiebungslogik als etwas anderes zu sehen. Das Vorgeburtliche kann so immer dekontextualisiert und im Kontext des Alltäglichen betrachtet, das Alltägliche



’”



55 Fink 1999, 52. 56 Ebd., 53. 57 Vgl. Mayr 2001, 343. 58 Belyj 1993, 64. „Этот строй мне знаком; противопоставлен он рою; строй оковывал рой; строй – твердыня в бесстроице; все осталное“ (Belyj 2011, 1100). 59 Belyj 1993, 107. „но ощупи космоса медленно преодолевалися мною; и ряды моих ‚въятий‘ мне стали: рядами понятий […] в бестолочь разбиваются бреды; и из толока – толчеи – мне слагается: толк“ (Belyj 2011, 1122).

200 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

hingegen im Kontext archetypischer, kosmologischer Bedeutungsreihen gesehen werden: So wird Papa mitunter zum Feuerschmied Hephaistos, die Kinderfrau zur allgegenwärtigen Alten, der Bernhardiner zum Löwen, Onkel Wassja zum Reptil, etc. Eine verfremdende Bilderfahrung stellt für Kotik Letajew die Erinnerung an ein Ereignis dar, bei welchem er in der Hundeschnauze eines Bernhardiners namens Leo fälschlicherweise einen Löwenkopf erkennt60. Obwohl er sich dies später als eine Täuschung eingesteht, hat sich das Bild des Löwen bereits so stark verdichtet, dass er es auch als Erwachsener nicht mehr los wird: „die Unwahrscheinlichkeiten des Fiebertraums haben sich dem Wahrscheinlichen eingeprägt […] Fieberträume – sind Fakten; und Träume sind Wirklichkeit; nach zwanzig Jahren steht wieder der Löwe vor mir“61. Die verdoppelte, fieberhafte Wahrnehmung wird hier explizit vom Erzähler aufgewertet und sowohl als Mittel der Verfremdung als auch der ursprünglichen Weltwahrnehmung unter dem Zeichen eines nicht durch Wahrnehmungsautomatismen rationalisierbaren Lebens aufgewertet. Auch das Wörtlichnehmen von Wortbedeutungen sorgt für zusätzliche Verfremdungseffekte jenseits der angestellten Sehexperimente. So wird zum Beispiel ‚in Ohnmacht fallen‘ von Kotik als Fallen durch den Fußboden oder das ‚Entbrennen für den Champagner‘ als tatsächliches Entzünden des Menschen verstanden. Dass also der Löwen-Bernhardiner gerade Leo (russ. lev: Löwe) heisst, dürfte einen ähnlichen Effekt der semantischen Verschiebung bewirken62. Die Sprache bringt hier die Handlung, die Benennung die Dinge erst hervor. Die Formierung von Sinn und der damit zusammenhängende Beginn eines stabilen, fokussierten Sehens bedeutet für Kotik allerdings gleichzeitig Veräußerlichung des inneren Kerns, das Von-sich-selbst-Abrücken und

60 Dies könnte auch mit den verschobenen Proportionen des kindlichen Betrachters zusammenhängen. Monika Mayr (vgl. Mayr 2001, 354) macht aber darauf aufmerksam, dass im Roman die ‚normalen‘ Proportionen weitgehend vom verzerrenden Verfahren der Verfremdung, wie etwa in der Malerei Caillebottes, verschont bleiben. 61 Belyj 1993, 32. „невероятности бреда мне врезаны в вероятное; сон стал фактом; понял я до конца: бреды – факты; и сны суть действителность; через двадцать лет сызнова Лев стоит предо мною“ (Belyj 2011, 1085). 62 Vgl. Hart 1972, 325f.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 201

die damit verbundene Aufgabe der gefühlten Objekte und Räume, was ein gewisses statisches Moment der Form- und Ichwerdung impliziert: „Ereignisse und Gegenstände haben sich von meinen Gedanken gelöst; die Wirkung meines Denkens in den Gegenständen, die Metamorphose der Gegenstände durch mein An-sie-Denken – all das ist vorbei […] Alles liegt außer mir: wimmelt, lebt – außerhalb meiner; und – ist unbegreiflich“63. Die persönliche Bildung Kotiks bedeutet hier immer auch permanente Formen-Bildung. Gesetze und Regeln bestimmen das Leben und seine Wahrnehmung in zunehmendem Maße – er beginnt sich für die Mathematik, bestimmte geometrische Grundformen wie Kugel und Kreis zu interessieren, die er von der vorgeburtlichen Struktur seines Bewusstseins her zu kennen glaubt. Von nun an existiert eine Welt der klaren begrifflichen und räumlichen Trennungen: „Hier – ist das ‚Ich‘…Und dort ist – ‚die Fliege‘“64. Der stroj strukturiert und kontrolliert von nun an immer stärker die Eindrücke des jungen Kotik und verdrängt das Fließen und die vorbegrifflichen, gestischen und musikalischen Spuren, die aber wohlgemerkt nicht gänzlich ausgelöscht sind und bei starken Affekten oder geistigen Erfahrungen Kotiks immer wieder aktualisiert werden, indem die begriffliche Welt, das Ich und die homogenen Räume kurzzeitig wieder auseinander fallen und sich entmaterialisieren. Die Gegenstände und die Außenwelt unterliegen dabei im affektiven Zustand des Protagonisten einer ständig drohenden Metamorphose. Später stellt ein Kippspiel für ihn eine Möglichkeit dar, zwischen ‚realer‘ und visuell-experimenteller Welt, zwischen schwarmhaftem und formhaftem Sehen immer wieder hin und her zu schwanken. So kann Kotik über das Anstellen visueller Experimente wie Blinzeln, Kopfneigen und Schielen einen kindlichen Lustgewinn durch die temporäre Destruktion des stroj gewinnen, indem die so in bestimmten Formen konstruierte Welt immer wieder dekonstruiert werden kann – und sich jeweils eine alternative Wirklichkeit ergibt:

63 Belyj 1993, 110. „все события и предметы от мысли моей отвалились; действия мысли в предметах, метаморфоза предметов при моей о них мысли – все тепер это кончилось […] все лежит вне меня: копошится, живет, – вне меня; и оно – непонятно“ (Belyj 2011, 1123). 64 Belyj 1993, 110. „вот он ‚я‘...А вот – ‚муха‘“ (Belyj 2011, 1123).

202 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

„Ich kann schielen (mir selbst aufs Näschen schauen): und dann kippen die Wände – kleben mir am Näschen; mit dem Finger durchstoße ich sie: leicht und luftig durch die Wand mein Finger […] Ich blinzele: – – alle Wände fliegen an ihren Platz; und dort sind sie – fest. So ist die Wirklichkeit, die mich umgibt: sie festigt sich; in Erfahrungen lerne ich; ich schiebe die Wirklichkeit hin und her; das fünfte Jahr umgibt mich mit Erfahrung; da waren Formen und Normen. […] neue Erfahrungen tauchen auf; die Frage der Per65

spektive (die Bündelung des Blicks) bewegt mich“ .

Schielen und Augenreiben dienen hier dazu, Gegenstände experimentell in unterschiedliche semantische Bereiche und Reihen zu verschieben. Das Schielen Kotiks wird von Monika Mayr ebenfalls verstanden als ein verfremdender „Akt selbsttätiger Manipulation der Wirklichkeit des Sehens und der Entblößung ihrer Bedingtheit durch optische Verzerrungen […] Nahe Objekte werden beim Schielen verdoppelt gesehen und aus ihrem visuellen Kontext gerissen (Dekontextierung und Fragmentarisierung)“66. Dadurch, dass Kotik nun selber mit einer stärker begrifflich orientierten Wahrnehmung konfrontiert ist und eine zunehmende Faszination für Perspektive und mehrdimensionale geometrische Figuren wie etwa die Halbellipsenform entwickelt, beginnt er mit dieser zu spielen und sich selbst künstlerisch im Sinne einer Entautomatisierung des allmählich ‚erfahrenen‘ Sehbildes zu betätigen. Dieses Verfahren ist hierbei konsequent an die Perspektive eines Kindes gebunden, das die Dinge der Welt in ihrer Gegebenheit hinterfragt und offen für vielfältige Perspektivwechsel ist. Hieraus ergeben sich neue Bedeutungen, etwa wenn Kotik die Maserungen seiner

65 Belyj 1993, 126. „Я умею скашивать глазки (смотреть себе в носик): и уж стены, бывало, снимаются – прилипают мне к носику; пальчиком протыкаю я их: легко и воздушно сквозь стены проходит мой пальчик […] моргну: - - перелетают все стены на место; и там они – твердыы. Действителность, обстающая мне меня, – такова; отвердевает она; изощряются в опытах; передвигаю действителность; пятилетие обстает меня опытом; мне в трехлетии опытов не было; были строгие строи […] и новые опыты жизни встают; и вопрос перспективы (смещение зренья) мне жив“ (Belyj 2011, 1131). 66 Mayr 2001, 338f.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 203

Kommode mit einem zerstreuten Blick betrachtet und diese sich allmählich zu zwei Figürchen beleben67. So kann durch ein Durchbrechen solcher konstanten begrifflichen Mechanismen ein Wandel der Perspektive einhergehen, welcher dem Denken und generellen Erkenntnisprozessen durchaus förderlich sein kann. Ernst Mach etwa beschreibt in diesem Zusammenhang einen seiner Kindheitseindrücke, in dem er, auf einer großen Anhöhe stehend, nicht verstehen konnte, wie die Menschen unter ihm, da sie ganz klein erschienen, dort hin gelangt seien. Die Existenz eines anderes Weges als den von ihm gesehenen Luftweg beschreibt er als einen revolutionären Sichtpunktwechsel: „Die Gewohnheit, materiell und psychisch stets dieselben Wege zu gehen, wirkt sehr desorientirend. Ein Kind kann beim Durchbrechen einer Wand im längst bewohnten Hause eine wahre Erweiterung der Weltanschauung empfinden, und eine kleine wissenschaftliche Wendung kann sehr aufklärend wirken“68. Die zunächst stattfindende Reduktion, das Experimentieren mit regressiv scheinenden Sehweisen, kann neue Erkenntnisse und Semantiken erschließen, indem sie aus der gefestigten, gegebenen Ordnung neue Wege und Bedeutungen eröffnet. Der Bezug auf die Sprache bleibt letztlich bemerkenswert: Das Problem der (Un-)Aussprechlichkeit der Kindheit geht im Roman eine paradoxe Vereinigung mit einer dem Text unterliegenden Sprachtheorie ein. Dabei ist die Auffassung der Eurythmie von Rudolf Steiner für Belyj richtungweisend69. Laut Steiner befindet sich am Anfang der Genese des Wortes und des Menschen das noch schwarmhaft aufgefasste Wort als bloße Geste, d.h. im Stadium von Mimik, Musik und Klang. Es besitzt an diesem Punkt eine lautliche Komponente jenseits des rationellen, begrifflichen Sinnes und erhält den Anspruch, in diesen Spuren eine universelle kosmische Wahrheit zu transportieren. Auch in seinem Werk „Glossolalija“ vertritt Andrej Belyj die Theorie einer immanenten Wahrheit in Wortklang und Lautgeste: „Erinnerung an die Mimik der alten Welt ist der Rhythmus des Gedankenlebens und der Rhythmus der Lautsprache“70, so Belyj. Im Roman tritt ein solches Verständnis aber innerhalb einer Erzählung auf. Hier entsteht ein

67 Vgl. Belyj 1993, 57. 68 Mach 1886, 11. 69 Vgl. Belyj 2003, 24 (Vorwort). 70 Belyj 2003, 242.

204 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

bereits auf mehreren Ebenen geschildertes produktives Wechselspiel zwischen mehreren Ebenen. Ähnlich äußert sich auch der junge Kotik: „ich denke ohne Worte, mit dem Puls, die Worte pochen in die Pulse, und jedes Wort muß ich schmelzen – in bewegten Fluß: in Gestik, Mimik, Verstehen – heißt Mimik, und das Beben meines Gedankens – - ist rhythmischer Tanz; das unbekannte Wort ist begriffen in der Erinnerung an seine Geste; die Geste – ist in mir“71. Der Laut wird vor allem bildlos gedacht, wobei das Bild dabei im Sinne Platons als Abbild verstanden wird. Die Wahrheit liegt daher nicht im Schein und in jenem Abbild, sondern im schon in allem vorhandenen Laut. In ähnlicher Weise bedeutet das dem entgegengesetzte Wesen des Begrifflichen bei Steiner und Belyj eine bloße Zusammenfügung einzelner Buchstaben und ist damit weniger als das lebendige, gesprochene Wort (zu , verweisen ist auf das ähnliche Konzept der Bergson schen durée)72 – ähnlich wie die sprachlichen Abkürzungen und automatisierten Wiedererkennungsmechanismen im Sinne Šklovskijs. Hier verweisen Tanz und Rhythmus als ein latent vorhandenes Gedächtnis auf die Vergangenheit, das Wort als Geste trägt die Mythen, Archetypen und auf die Geschichte der Menschheit in sich. Auch innerhalb der Erinnerung Kotiks spielt dies bei der Bewältigung seiner Vergangenheit eine Rolle. Die Erinnerung an seine Kinderfrau Raissa Iwanowna findet hauptsächlich in dem Ton (zvuk) und der Musik statt73. Die deutschsprachige Kinderfrau eröffnet ihm eine Faszination für Fremdsprachen, wie etwa das fremde, deutsche Wort: „‚Jakke‘, ‚Jakke‘ – etwas: wollenes, schlangenes; nichts verstehe ich – wunderbar!“74. Der Tanz, das rhythmischen Pulsieren und Fließen, die Lautsprache werden hier der Form, dem Begriff und dem festen Buchstaben übergeordnet. So kann Ko-

71 Belyj 1993, 84f. „мыслю пульсом без слова; слова бются в пульсы; и каждое слово я должен расплавить – в текучесть движений: в жестикуляцию, в мимику; понимание – мимика мне; и трепет мысли моей: -

-

есть

ритмический

танец;

неизвестное

слово

осмысленно

в

воспоминании его жеста; жест – во мне“ (Belyj 2011, 1110). 72 Vgl. Belyj 2003, 176. 73 Vgl. Belyj 1993, 187. 74 Ebd., 160. „‚яккэ‘, ‚яккэ‘ – какое-то: шерстяное, змеевое; ничего не пойму – хорошо!..“ (Belyj 2011, 1148).

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 205

tik sagen: „ein Lesebuch – ist kein Luftballon – - es tanzt, der Ballon; doch schlägst du das Lesebuch auf – lautlos purpurn die Lettern: Lektion… - ohne Ton!“75. Das symbolistische Symbol wird somit vor allem als ein musikalisches Verweisungssystem verstanden, was auf das platonische Eine jenseits aller Begriffe und fester Bedeutungen zurückverweist. Gemäß den Grundlagen des Formalismus stellt auch Viktor Šklovskij fest, dass Gegenstände und Personen innerhalb des Romans hauptsächlich durch Laute und Lautfolgen zusammenhängen76. Der Roman ist in der Tat durch viele Wortspiele und eine durchgehende lautliche Assonanz strukturiert, was hier nicht weiter diskutiert werden kann. Über das auf dem Schwanken zwischen kindlicher und erwachsener Perspektive beruhende Verfahren der Verfremdung wird ein Korrektiv der einseitig vernunftorientierten Welt inszeniert, indem eine Vielzahl möglicher visueller und semantischer Perspektiven und ihre gleichzeitige Kontingenz aufgezeigt werden. Verfremdung und neue Erkenntnis- und Weltverstehensweisen gehen eine eng gefügte Verbindung ein.

5.2 „‚T HE

WORLD , WHAT YOU SEE OF IT , SEEMS STRANGE TO YOU ?‘“. H. G. W ELLS ’ „T HE S LEEPER AWAKES “ (1899):

D IE V ERFREMDUNGSPERSPEKTIVE DES Z EITREISENDEN Der Kulturwissenschaftler Carlo Ginzburg bringt die Verfremdungstheorie des Russischen Formalismus mit der Technik der Selbstbetrachtung des römischen Philosophen Marc Aurel in Verbindung. Bei dieser wird eine jede Sache verkleinert, zergliedert oder in seiner Position innerhalb des Weltganzen befragt, um ein tieferes Verständnis für die Wirklichkeit zu erhalten. So würden „irrige Vorstellungen, für selbstverständlich gehaltene Postulate, durch unsere Wahrnehmungsgewohnheiten trivial und repetitiv gewordene Erkenntnisse“ entlarvt. Und weiter: „Um die Dinge zu sehen, müssen wir sie zuallererst so betrachten, als ob sie keinerlei Sinn hätten: als 75 Belyj 1993, 190. „Букварик – не шарик: – – катается шарик; букварик откроешь –беззвучно пупрурится буква: наука…– – без звука!“ (Belyj 2011, 1164). 76 Vgl. Šklovskij 1987c, 99.

206 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

ob sie ein Rätsel wären“77. Das auf eine neue Erkenntnis zielende AndersSehen steht im Mittelpunkt von Ginzburgs Lesart der Verfremdungstechnik. Die Verfremdung zerstört dabei ein Gefühl für Selbstverständlichkeiten, die als alternativlos gedacht werden. Ginzburg betont weiter, dass „die Verfremdung ein wirksames Mittel gegen eine Gefahr ist, der wir alle ausgesetzt sind: die Wirklichkeit (uns selbst eingeschlossen) als gegeben hinzunehmen“78. Hierbei ist der Blick von Außen, der fremde Blick, der eingespielte Gewohnheiten aufbricht maßgeblich für das Infragestellen des Immergleichen und der bewährten Denk- und Wahrnehmungsordnungen. Diese räumlich verstandene Position des Außenseiters kann des Weiteren über das Motiv der Zeitreise auch um eine zusätzliche temporale Diskontinuität erweitert werden. In dem Roman „The Sleeper Awakes“ (in der ersten Ausgabe von 1899, später in revidierter Version 1910/11) von Herbert George Wells (18661946) sorgt das Prinzip der Zeitreise für die Verrätselung einer Welt, die von den meisten ihrer Bewohner zu einer unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden ist. Der Protagonist des Romans, Graham, wird im Jahre 2100 aus einem zweihundertjährigen tranceartigen Schlaf aufgeweckt. In der Zwischenzeit ist der frühere Sozialist ohne sein Zutun durch die automatische Akkumulation79 seines Kapitals zum reichsten Mann der Erde geworden. Die Macht und die Verfügung über das Geld der Neuen Welt liegen jedoch mittlerweile in den Händen des Staates und des tyrannischen councils (und der so genannten trustees). Eben jene sperren Graham nach seinem Erwachen zunächst in einem verborgenen Raum ein, ohne ihm eine Erklärung für seine gegenwärtige Lage zu geben. Graham ist nun einer der einflussreichsten Männer der neuen Welt geworden und wird von verschiedenen Seiten instrumentalisiert – so vom Sozialdarwinisten Ostrog, der in den folgenden Tagen alsbald eine Revolte gegen die Machthaber anzettelt, Graham entführen lässt, die Mächte des Staates militärisch zurückdrängt und einen Umsturz ins Rollen bringt, was wiederum in eine sich abzeichnende erneute Schreckensherrschaft unter seiner Führung umschlägt. Hierbei wird Graham, der zweihundert Jahre lang als eine im Schlaf befindliche Erlösergestalt der Massen diente und im Folgenden nach und nach die neue

77 Ginzburg 1999, 17. 78 Ebd., 34. 79 Vgl. Wells 2005, 61.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 207

Welt kennen lernen muss, zunächst durch vielfältige sich bietende Zerstreuungen von den Problemen und Bedürfnissen der Bewohner Londons abgelenkt. Graham, der Träger der aus der Perspektive der Neuen Welt archaischen Moral- und Gesellschaftsvorstellungen, schlägt sich in der folgenden Auseinandersetzung auf die Seite des Volkes. Besonders die unteren Gesellschaftsschichten, deren Hoffnungen mit Graham erwacht sind, begehren mit ihm als Heilsbringer gegen die jahrhundertelange Herrschaft auf. In den Tagen nach seinem Erwachen aus der Trance macht Graham irritierende Bekanntschaft mit der Stadt und den Bewohnern der neuen Welt. So zeichnet sich – etwa im Gegensatz zu Edward Bellamys nur einige Jahre vorher publizierter Utopie „Looking Backward 2000-1887“ – in der folgenden Handlung des Romans eine veritable Dystopie ab. Die in der Stadt London lebenden Menschen sind durch raffiniert eingesetzte psychotechnische Maßnahmen im Laufe von zwei Jahrhunderten zu höheren Automaten degeneriert, deren Gedanken und Wahrnehmungen unter dem Deckmantel psychotechnisch induzierter Verbesserungen von den Machthabern weithin manipuliert werden können – vormals individuelle Erfahrungen können beliebig von außen gespeichert und gelöscht werden, die Gewohnheiten und Automatismen der Wahrnehmung sind, da einmal in Gang gesetzt, nicht mehr reflexiv zu brechen. Das Innerste ist nun nach außen gekehrt und abruf- wie auch kontrollierbar: „Little children of the labouring classes, so soon as they were of sufficient age to be hypnotized, were thus converted into beautifully punctual and trustworthy machineminders, and released forthwith from the long, long thoughts of youth. Aeronautical pupils who gave way to giddiness could be relieved of their imaginary terrors. In every street were hypnotists ready to print permanent memories upon the mind. If anyone desired to remember a name, a series of numbers, a song, or a speech, it could be done by this method; and conversely memories could be effaced, habits removed, and desires eradicated – a sort of psychic surgery was, in fact, in general use.“

80

Die Psyche der Bewohner ist mit dem ideologischen Machtapparat verschaltet, die Einzelmenschen im Sinne ihrer jeweiligen Funktion innerhalb

80 Ebd., 154.

208 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

des sozialen Mechanismus für ihren jeweiligen Zweck innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges konditioniert. Automatismen, die günstig für den jeweiligen Arbeitsprozess oder ihre Stellung in der sozialen Ordnung sind, werden jedem der Menschen schon von früh auf induziert. Es herrscht ein ständiges Fließen der sich zu einer ungeheuren Intensität überlagernden Vorgänge der Stadt, die zudem durch maschinelle Apparaturen und externe Aufmerksamkeitstechniken in Gang gehalten werden. Denker wie William James, Gustav Theodor Fechner oder Ambroise-Auguste Liébault werden von den Machthabern hoch geschätzt, insbesondere James’ Auffassung der Wahrnehmungs- und Denkautomatismen wird dystopisch potenziert und zu einer Horrorvorstellung des Menschen als Maschine, der keine Möglichkeit zum selbständigen Verfügen über die Bewusstseinsströme mehr hat. Wahrnehmungen, Wünsche und Denken werden von außen gesteuert und können jederzeit von den Machthabern manipuliert werden. Tendenzen der Psychotechnik und Hypnose sind hier in übersteigerter Weise Realität geworden. Alternative Weisen der Wahrnehmung, die eigenmächtige Umlenkung der Aufmerksamkeit sind nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Die Künste und Religionen befinden sich mittlerweile im Dienste der Werbeindustrie und sind weithin kommerzialisiert, wie Grahams zeitweiliger Begleiter Asano mit Blick auf die riesigen Werbebotschaften versichert. „[N]owadays the competition for attention is so keen“81, bemerkt er, als Graham die übergroß eingeblendeten Werbebotschaften verschiedener Religionsgemeinschaften betrachtet, die um die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner werben. Das Erziehungssystem ist weitgehend auf ein bestimmtes Ziel hin ausgelegt, beginnend bei der mechanischen Aufzucht der Kinder, die kollektiv in dafür bestimmten Einrichtungen von Mutter-Automaten großgezogen werden. Die Bildungseinrichtungen dienen dabei lediglich der effektiven Vorbereitung auf die in den kommenden Jahren folgende Produktionsarbeit. Als größter Künstler der oberen Gesellschaftsschichten – Malerei und Literatur existieren nicht oder spielen zumindest keine bedeutende Rolle mehr – gilt der ‚Kapillotomist‘, ein Friseur und Modeberater, der von den höheren Schichten der Gesellschaft bewundert wird. Die Sprache der Menschen ist weitgehend degeneriert, sowohl in gesprochenem als auch geschriebenem Wort: Es herrscht eine vereinfachte und geglättete phonetische Schreibweise vor. Innerhalb der Ausrufe und Werbebotschaf-

81 Ebd., 175.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 209

ten wird über Abkürzungen kommuniziert. Die Arbeiterklasse spricht ein ins Unverständliche auslaufendes, vulgäres Englisch. Oftmals kann Graham bei seinen Spaziergängen durch die Stadt daher lediglich Bruchstücke des Gesprochenen verstehen. Allgegenwärtige, überall angebrachte babble machines mit ihren simplifizierenden Botschaften, den in der Stadt ständig zu hörenden Ausrufen oder die general intelligence machine mit ihren populistischen Kurznachrichten stellen für die Bewohner der Stadt den einzigen Zugang zum aktuellen Geschehen dar. Bezeichnend dafür sind auch die kurzen Worte, die Graham über die TV-Bildschirme nach dem ersten Aufstand an die Massen richten darf. Statt einer Rede liefert er ein paar Versatzstücke an die Menschen, die lediglich die Bildschirmpräsenz des Erlösers erwarten. Die sozialen Unterschiede hingegen haben sich in der Zwischenzeit nicht aufgelöst, sondern sind vielmehr noch größer geworden – Reichtum steht in der Gesellschaft der neuen Welt immer noch gleichbedeutend für Macht82. Die unterschiedlichen Klassen leben räumlich separiert nebeneinander und unterscheiden sich vor allem durch ihren Habitus, durch Kleidung, Verhalten, Gesten und Sprache – ganz unten herrschen die im maschinellen Räderwerk zerknirschten „pale features, lean limbs, disfigurement and degradation“83 vor. Mehr als ein Drittel der Menschen tragen die blaue Kleidung – das Zeichen für die Klasse der ungebrauchten Individuen, die gänzlich auf staatliche Leistungen und dessen Willkür angewiesen sind und in den geographisch tiefer liegenden Ebenen der Stadt dicht gedrängt und ohne Aussicht auf Veränderungen ihr Dasein fristen. Dabei stehen soziale Stellung und Reproduktion in einem geregelten Verhältnis. Die Frauen der unteren Arbeiterklasse werden in ihrer mechanisierten Arbeitsweise als beinahe entsexualisiert beschrieben, „a class distinctly plain and flatchested“84. Den alten und wohlhabenden Menschen bleibt nach dem Leben in der für die oberen Klassen reservierten Spaßgesellschaft zumindest die Möglichkeit der staatlich organisierten Euthanasie, zur humanen Beendigung ihres Lebens.

82 Vgl. ebd., 59. 83 Ebd., 196. 84 Ebd. Vgl. auch Gramscis Analyse über die Frage der regulierten Sexualität unter fordistischen, auf Automatismen beruhenden Arbeitsbedingungen (vgl. Gramsci 1975, 2148).

210 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Es ist auch der zeitliche Kontrast zwischen den althergebrachten Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten Grahams und den Lebensabläufen der dystopischen Großstadtlandschaft, der den Text und die Wahrnehmung des Protagonisten strukturiert. Beim Erwachen des Schläfers zeigt sich zunächst das eng mit dem Problem der Zeit verbundene James’sche Phänomen des Aufbrechens von Kontinuität im menschlichen Denken: Er wacht ohne Bewusstsein für die zweihundertjährige Zwischenzeit auf, sein Bewusstsein spielt ihm eine bruchlose Kontinuität des Selbst vor – er erkennt sich nach dem Erwachen ohne Weiteres als er selbst wieder. Doch schon in den ersten Momenten verfügt er über keine hinreichende Erklärung dafür, was zwischenzeitlich passiert ist und wo er sich nun befindet. Auch in der darauf folgenden Handlung spürt er immer wieder den Abgrund zwischen den zwei Welten und sehnt sich nach dem Gewohnten. „[T]he gulf between his habits of thought and the ways of the new age“85 erscheint ihm anfangs unüberwindbar. Graham nimmt die alles umfassende Großstadt unter dem Betrachtungsparadigma der Landschaft wahr und damit eine personifizierte Perspektive des 19. Jahrhunderts auf das größtenteils depravierte Leben im Jahre 2100 ein. Das Leben der neuen Welt wird dabei oftmals aus einer erhobenen Sicht, einer panoramischen Perspektive, heraus betrachtet86. Graham blickt von Balkonen und aus dem Flugzeug auf die Stadt oder sieht die Vorgänge auf einem Bildschirm aus der Vogelperspektive an (siehe auch Abbildung XIII). Die allgegenwärtigen Verkehrs- und Zeichenströme dominieren und strukturieren das erhabene, von einer Glaskuppel weiträumig umschlossene Stadtbild. Überall hängen ins Unendliche fortlaufende Kabel, Gerüste und Pfeiler in der Luft, die die verschiedenen, riesig aufschießenden Gebäude miteinander verbinden und Ballons mit Werbebotschaften treiben über der Stadt. Gigantische Beleuchtungsvorrichtungen und Anlagen zur Energiegewinnung, von denen Graham immer nur einzelne, fragmentarische Teile erblicken kann, sind ständig in Bewegung und übertragen die Energieströme von einem Ort zum anderen. Für Graham stellen sich alle diese Eindrücke zunächst unter dem Aspekt einer Überforderung dar, die er mit den Mitteln seiner gewohnten Wahrnehmung kaum begreifen kann: „Not a familiar outline anywhere

85 Wells 2005, 183. 86 Vgl. ebd. 42ff, 72, 119f, 124ff, später auf dem Bildschirm 111ff, aus dem Flugzeug 143f.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 211

broke the cluster of gigantic shapes below“87. Die Menschenmassen der Neuen Welt und die Geschwindigkeit ihrer Abläufe irritieren ihn und nehmen seine Aufmerksamkeit übermäßig in Anspruch. Oftmals nimmt er die einzelnen Bestandteile der Masse nur als bewegliche, kaleidoskopische Flecken wahr, die zwischen konkreter Figuration und Amorphismus hin und her schwanken: „The whole multitude was swaying in congested masses. Individual figures sprang out of the tumult, impressed him momentarily, and lost definition again“88. Erst nach einiger Zeit der Gewöhnung kann er in der sich zu schnell bewegenden, seine Wahrnehmungsfähigkeit überwältigenden Menschenmasse distinkte Einzelmerkmale herausfiltern. Der Kontrast zwischen der Landschaft des 19. Jahrhunderts und den futuristischen Vorgängen der dystopischen Stadt prallen im Bewusstsein Grahams aufeinander und sorgen sowohl für ein ständiges Schwanken zwischen den eigentlich zeitlich getrennten Wahrnehmungsordnungen als auch zwischen Überforderung und zeitweiliger Adaption. Nach und nach gewöhnt er sich an die Neue Welt, wenngleich er immer noch einzelnen, auf ihn einprasselnden Schocks ausgesetzt ist. Schließlich, mit steigender Gewöhnung an die Vorgänge der Großstadt, nimmt er gar seine Rolle als Anführer der unterjochten Massen an.

87 Ebd., 125. 88 Ebd., 81.

212 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Abbildung XI: Illustration der Erstausgabe des Romans 1899

Quelle: http://www.harringtonbooks.co.uk/pictures/34161.jpg

Graham betrachtet aus dieser erhobenen Perspektive die Vorgänge der Stadt gleich dem Blick eines Mediziners in ein geöffnetes Hirn, in welchem die Gedanken- und Gehirnströme zirkulieren. So faszinieren ihn zum Beispiel die die ganze Stadt durchziehenden moving ways, die er von seinem Balkon aus betrachtet: „this roadway was three hundred feet across, and it moved, all save the middle, the lowest part. For a moment the motion dazzled his mind. Then he understood. Under the balcony this extraordinary roadway ran swiftly to Graham’s right, an endless flow rushing along as fast as a nineteenth-century express train, an endless platform 89

of narrow transverse overlapping slats with little interspaces“ .

89 Ebd., 43.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 213

Die hier beschriebenen moving ways haben ihre Vorläufer, wie Wells in seiner prognostischen Schrift „Anticipations“ (1902) ausführt, in sich kontinuierlich durch die Stadt bewegenden mehrspurigen Fahrsteigen unterschiedlicher Geschwindigkeit, die auf einer Pariser Ausstellung im Jahre 1900 der Öffentlichkeit präsentiert wurden90. So versteht Wells das Gedankenexperiment dieser neuen Welt gemeinhin nicht als etwas vollständig Imaginäres oder genuin Neues, sondern vielmehr als Potenzierung, Übertreibung und Anknüpfung an bereits zu seiner Zeit vorhandene Tendenzen, wie er im Vorwort zum Roman schreibt. Diese den Text strukturierende Versuchsanordnung sei zu verstehen als „an exaggeration of contemporary tendencies: higher buildings, bigger towns, wickeder capitalists and labour more downtrodden than ever and more desparate. Everything was bigger, quicker and more crowded; there was more and more flying and the wildest financial speculation. It was our contemporary world in a state of highly inflamed distension“91. Diese von ihm angenommene Kontinuität wird allerdings durch die Zeitreise und die Fokalisierung des aufwachenden Protagonisten um eine Diskontinuitätsfigur erweitert. Frappierend erscheint Graham vor allem die Unmenschlichkeit der Mechanismen und Automatismen, des ständig gleich bleibenden, kaum zu begreifenden Fließens der großstädtischen Abläufe: „the myriad streams of commerce still flowed wide and strong“92. Ganz London ist in den zweihundert Jahren zu einem Konglomerat aus Unternehmen und öffentlichen Orten, zu einem Nicht-Ort geworden, gleich einer riesigen Hotellandschaft, in welcher es einzelne Haushalte, Privatheit und ein Bewusstsein für Geschichte kaum mehr zu geben scheint. Die neue Welt stellt sich, ganz nach der These der Verlängerung bereits bestehender Entwicklungen in Wells’ „Anticipations“, als Zeitalter der Massen, öffentlichen Versammlungen und des Spektakels dar. Hier und überall ist der Ort des einheitlichen Rhythmus und des kollektiven Automatismus, der das ganze Leben der Bewohner gleichschaltet. TV-ähnliche Bewegtbilder, als kinetotelephotographs bezeichnet, können zudem in die ganze Welt übertragen werden: „And there is an optical contrivance we have […] You stand in a very bright light, and they see not you but a magnified image of you thrown on a screen – so that

90 Vgl. Wells 1902, 28. 91 Wells 2005, XIV. 92 Ebd., 173.

214 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

even the farthest man in the remotest gallery can […] count your eyelashes“93. Graham ist in ein Zeitalter der allgegenwärtigen Bildschirme geraten, die für eine ständige Überladung und Überforderung seiner Aufmerksamkeit sorgen. Diese stellen sich auf zweierlei Weisen als Machtapparate dar: Der Tyrann Ostrog verfügt neben der Möglichkeit zur allumfassenden Übermittlung von Propaganda über die Bildschirme und die damit verbundene Übersicht über die gesamte Stadt und die Bewegungen ihrer Bewohner. Bei der Einnahme der unterschiedlichsten Perspektiven spielen daher optische Verfahren eine wichtige Rolle, denn auch die Einnahme ethischer und moralischer Positionen beginnt bei Wahrnehmungsprozessen und damit verbundenen emotionalen Betroffenheiten, wie schon Denis Diderot in seinem „Lettre sur les aveugles“ feststellt. Eine von der Norm abweichende Wahrnehmungsweise der Blinden, so Diderot, müsse auch unterschiedliche Moralvorstellungen hervorbringen. Diderot wirft in diesem Zusammenhang außerdem Fragen nach dem Verhältnis von Sehen und Tastsinn in militärischen Manövern auf94. So spielt im späteren Verlauf von Wells’ Romans der Luftkrieg zwischen den verfeindeten Parteien mehrfach eine bedeutende Rolle. Dies ist ebenfalls in dessen „Anticipations“ ein wichtiges Thema. Hier beschäftigt sich Wells mit der Verschiebung der Kriegssituation vom kompakten, direkten Aufeinandertreffen der Gegner hin zum Luftkrieg, welcher die räumlichen Relationen des Kampfes grundsätzlich verschiebt. Der Krieg wird so zur Frage nach Sehen und Gesehenwerden: „Once the command of the air is obtained by one of the contending armies, the war must become a conflict between a seeing host and one that is blind“95. Im Roman findet dies auf der Ebene des asymmetrischen Konflikts zwischen Machtapparat und den Bewohnern Londons seine Spiegelung.

93 Ebd., 116. 94 „[T]ant nos vertus dépendent de notre manière de sentir et du degré auquel les choses extérieures nous affectent ! […] je ne doute point que […] bien des gens n’eussent moins de peine à tuer un homme à une distance où ils ne verraient gros comme une hirondelle, qu’ à égorger un bœuf de leurs mains. Si nous avons de la compassion pour un cheval qui souffre, et si nous écrasons une fourmi sans aucun scrupule, n’est-ce pas le même principe qui nous détermine ?“ (Diderot 1966, 289). 95 Wells 1902, 195.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 215

Eine paradigmatische Figur des Anders-Sehens, der in der philosophischen Konzeption der Ambivalenz nach Zygmunt Bauman eine zentrale Rolle spielt, kann insbesondere die Figur des Fremden sein, die Graham verkörpert. Die Natürlichkeit ‚objektiv‘ codierter Ordnungen und Ideologien kann erst aus der Perspektive des Fremden, der in eine homogene Gemeinschaft eintritt und diese zu einer Kampfzone macht, in der übliche Ordnungen nicht mehr greifen, überhaupt sichtbar werden: „His gaze solidifies, renders tangible the mode of life which is effective only in as far as it stays transparent, invisible, uncodified“96. Der gefährliche Fremde, der in eine ihm unbekannte Gesellschaft eintritt, ist der personifizierte Schock für die Denkund Wahrnehmungsgewohnheiten und die unhinterfragten Sicherheiten einer Gesellschaft. Neben der Rolle des Erlösers ist Graham, nimmt man ihn als bloßen Zeitreisenden, eben auch ein Fremder in der Zeit: Nach einer langen Ära der Stagnation kommt es erst mit dem erzwungenen Erwachen des ‚Schläfers‘ und seiner eigentlich überlebten sozialistisch-demokratischen Ansichten aus dem 19. Jahrhundert zu einer Revolution der Massen gegen die Zwangssysteme in der Großstadt London. Die anfängliche Konfusion in der Wahrnehmung Grahams (der zerstreuten Wahrnehmung der Massen, der unübersichtlichen Vorgänge der Stadt) ist analog zur gedanklichen Konfusion der Massen der neuen Zeit, die in einem Aufstand gegen die jahrelangen Machthaber mündet97, zu denken. Immer wieder scheint der Wahrnehmungs- bzw. Bewusstseinszustand Grahams in den Gemütszuständen der Masse aufgenommen und gespiegelt zu werden: „his mind was confused and darkened by an incessant tumult, by the cries and enigmatical fragments of the social struggle that was as yet only beginning“98, denn auch die aktuelle Lage der Bewohner Londons kann als konfus und im Schwanken begriffen bezeichnet werden. Bisher lebten die Menschen in einer Art Anästhesie, während sie nun mit umfänglichen Unsicherheiten, die jenseits ihres Verständnisses liegen, konfrontiert werden. Beinahe niemand überblickt in dieser Herrschaftsform des Jahres 2100 in umfassender Weise die Organisation der Stadt und des Staates. Als Normalform, unhinterfragter und fatalistischer geschichtstheoretischer Automa-

96 Bauman 2007, 78. 97 Die Häufigkeit des Ausdrucks confusion im Roman ist sehr auffällig. Vgl. Wells 2005, 43ff, 79f, 81, 84, 85f, 174, 196, 210. 98 Ebd., 174.

216 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

tismus galt für lange Zeit die aristokratische Herrschaft der Wenigen über die vereinzelten Vielen, wie Ostrog in seinen geschichtsphilosophischen Erklärungen ausführt: „this is the second aristocracy. The real one. Those days of gunpowder and democracy were only an eddy in a stream. The common man now is a helpless unit. In these days we have the great machine of the city, and an organization complex beyond his understanding“99. Die unüberschaubare und hochkomplexe Apparatur der Stadt hält den Einzelnen beständig im Zustand von Unwissenheit und Hilflosigkeit. Graham hingegen möchte als paradigmatischer Außenseiter die Dinge in ihrer Eigenheit sehen, was gleichbedeutend für das Wissen über die politischen und sozialen Hintergründe der Neuen Welt steht, das den meisten Bewohnern Londons mit ihren Denkgewohnheiten verwehrt ist. Dafür ist insbesondere der von ihm angestrebte Überblick über die Stadt durch Monitore und aus dem Flugzeug, der nur wenigen gestattet ist, von Bedeutung. Erst der makroskopische Blick über die Weiten von Stadt und Land lässt Graham die Dynamik der Geschichte sinnlich nachvollziehen, die sich, anders als aus der Perspektive von unten, in größeren Zeitabständen begreifen lässt. Das Verschwinden der umliegenden Dörfer Londons und das krakenhafte Ausgreifen der Großstadt können so von Graham aus dieser Distanz genau beobachtet werden. Erst hier erhält er ein übergreifendes Verständnis über die Vorgänge, die ihn in der unmittelbaren Involvierung lediglich irritieren. Graham möchte im Folgenden ein Flugzeugpilot werden, meidet die vielfältigen Zerstreuungen, die die ihn umgebende Welt für ihn bereit hält und stirbt später in einem Kampfeinsatz im Flugzeug gegen Ostrog, der in der Zwischenzeit zu seinem Gegenspieler geworden ist. Insgesamt bietet der Roman also keinen geradlinigen Ausweg aus der geschilderten geschichtstheoretischen Verwicklung. Auch die Herrschaft Ostrogs erfolgt aus egoistischen Motiven und hat als Voraussetzung und Ziel die Unterdrückung der Massen. Das Verfremdungsprinzip des AndersSehens zielt in beide Richtungen: Der Protagonist Graham wirkt einerseits als verfremdendes Korrektiv der neuen Zeitrechnung und zieht sie zuletzt in ein umfassendes Chaos, bietet aber auch die Möglichkeit der Hoffnung und des Widerstands, andererseits verfremdet diese zukünftige Welt mit all ihren Regeln und Normen wiederum Grahams moralische und sinnliche Auf-

99 Ebd., 168.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 217

fassungen und Gewohnheiten, die in der Regel diejenigen des 19. Jahrhunderts bleiben. Das Schwanken zwischen verschiedenen gesellschaftlichen und historischen (Wahrnehmungs-)Ordnungen spiegelt sich in der Konfusion der Massen der neuen Welt, die von Graham kaum zusammenhängend erfasst werden können. In der totalisierenden Perspektivierung und der eher herkömmlichen Erzählhaltung erscheint der Roman weniger modern als der Andrej Belyjs, der stärker über eine idiosynkratische und subjektivierte Perspektive des Protagonisten vermittelt wird. Die Übersichtsperspektive, die ein bewährtes strategisches Mittel von Zeitreise-Texten darstellt, ist hierbei für den Roman weitgehend grundlegend. So ist es nicht etwa, wie in anderen Romanen, ein immaterieller Geist in Bewegung, der einen makroskopischen Blick auf die Welt ansetzt100, sondern ein einzelner Held, der aber durchaus panoramische Techniken des Überblicks und der erhöhten Perspektive auswählt, um das zukünftige Leben und dessen Diskontinuitäten aus einer Makroperspektive zu beschreiben, wenngleich aus einem individuellen Bewusstsein heraus.

5.3 D AS K AMERAAUGE ALS W IRKLICHKEITSFRESSER : L UIGI P IRANDELLOS „Q UADERNI DI S ERAFINO G UBBIO O PERATORE “ (1925) UND DIE K RITIK DER TECHNISCHEN W AHRNEHMUNG Der Schriftsteller Luigi Pirandello (1867-1936) gilt als einer der wichtigsten Künstler der italienischen Moderne abseits des Futurismus. Neben der Abfassung zahlreicher Dramen arbeitete er auch an einigen wenigen Romanen. Hierbei beschäftigte er sich eindringlich mit neuen medialen Entwicklungen und Technologien seiner Zeit, insbesondere mit dem Film. Die erste veröffentlichte Fassung des hier besprochenen Romans erfolgte im Jahre 1915 mit dem Titel „Si gira!“; dann, mit einigen Veränderungen, im Jahre 1925 als „Quaderni di Serafino Gubbio operatore“ (dt.: „Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio“). Die Arbeit und Veröffentlichung der früheren Version des Romans liegt in der ersten, von Pirandello kritisch rezipierten Phase des (damals noch Stumm-)Films101. Erst ab 100 Vgl. Seeber 2003, 76. 101 Vgl. Barnes 1997, 193ff.

218 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Mitte der 1920er Jahre gesteht Pirandello dem Film eine künstlerische Wirkkraft und die Möglichkeit zur Darstellung vielfältiger menschlicher Gemüts- und Wahrnehmungszustände zu. Pirandello schrieb anschließend Drehbücher, bemühte sich um Verfilmungen einiger seiner Werke und positionierte sich immer wieder programmatisch in Bezug auf die Möglichkeiten des jungen Mediums, jeweils auch in Bezug zum benachbarten Medium Literatur. So ist im Folgenden keine Geschichte von Pirandellos Rezeption des Films beabsichtigt, die zudem bereits an vielen anderen Stellen zu finden ist102. Die Haltung Pirandellos zum Film ist in dieser Phase seines Schaffens, der Veröffentlichung des Romans, im Übrigen weniger eindeutig103 als es zunächst den Anschein hat. Der Literaturwissenschaftler Michael Syrimis liest den Roman hauptsächlich als ästhetische Konkretisierung des Humorverständnisses Pirandellos, das sich mit einem schwebenden, dialogisch ausgetragenen Abwägen sich widersprechender Positionen definieren lässt und keine endgültigen und für immer bestehenden Positionen erlaubt: „contradiction, ambivalence, and irresoluteness are the things that Pirandello postulates as life’s ontological principles – and […] of modern life in particular“104. Die für die Theorie des Humors unverzichtbare Reflektion, der Aushandlungsprozess der einzelnen Bilder oder Argumente, erfolgt laut Syrimis jedoch nicht105 innerhalb des Berichts des autodiegetischen Erzählers Serafino Gubbio, sondern kommt nur in Bezug auf extradiegetische Faktoren, wie der Auffassungen der Figur des Autors, Pirandello also, zum Tragen. Ich möchte mich im Folgenden hingegen hauptsächlich auf den Text selbst und die Ästhetik des Schwankens als innerdiegetisches Prinzip beschränken, ohne dabei Aussagen über Pirandello als Autor zu treffen. So ist im Weiteren die Haltung Pirandellos zum Film während des Zeitpunkts der Abfassung des Romans weniger interessant als vielmehr innerdiegetische Fragen, die das Potential haben, eine ästhetische Behandlung der Thematik des technischen ‚Sehens‘ zu leisten und dabei über diesen ‚Umweg‘ wiederum gesellschaftlich und politisch relevant zu werden. Die in der Schrift angelegte Ästhetik des Schwankens soll im Folgenden für den Text strukturgebend sein, wobei

102 Vgl. Schrader 2007, Syrimis 2012. 103 Vgl. ebd., 197ff. 104 Ebd., 19. 105 Vgl. ebd., 239.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 219

es nicht darum geht, letztendliche absolute Wahrheiten aufzufinden, sondern wenigstens darum, ihre vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten herauszustellen106. Der Erzähler Serafino Gubbio erreicht eines Nachts die Stadt Rom und quartiert sich durch die Bekanntschaft mit seinem alten Freund Simone Pau in einem Asyl für Obdachlose ein. Hier trifft er nur kurz später auf einige Angestellte der Filmfirma Kosmograph, die am selben Ort einen Film drehen und bei der er anschließend als Kameramann anfängt. Er begegnet der Schauspielerin Varia Nestoroff, die er von seinem alten Freund, dem Maler Giorgio Colli aus Sorrento her kennt. Dieser hatte wiederum vor einigen Jahren eben wegen jener Nestoroff (und deren Verhältnis mit einem gewissen Aldo Nuti) Selbstmord begangen. Varia Nestoroff ist mittlerweile mit dem Schauspieler Carlo Ferro liiert, der eifersüchtig auf den nun aus heiterem Himmel zur Filmgesellschaft stoßenden Nuti ist. Serafino Gubbio und Aldo Nuti werden derweil bei der Familie Cavalena einquartiert. Gubbio verliebt sich in die junge Tochter der Cavalenas, Luisetta, die eine kleine Rolle in einer Produktion spielt und deren Vater von seiner eifersüchtigen Ehefrau zum allgemeinen Gespött der Leute gemacht wird. Luisetta hingegen ist Feuer und Flamme für den geheimnisvollen und kranken Rückkehrer Nuti, der in Luisetta in einem Fieberwahn zwischenzeitlich seine alte Verlobte erkennt und Luisetta den Kopf verdreht. Eines Tages reist Gubbio in das Landhaus nach Sorrento, das Haus der Mutter und der Schwester des toten Mirellis, die bis zum Tod ihres Bruders kurz vor der Heirat mit jenem Aldo Nuti stand. Das ländliche Idyll scheint für Gubbio zunächst einen Gegenort gegen die städtische Hektik, das oberflächliche und entfremdete Leben der Filmgesellschaft darzustellen. Doch die Idylle trügt, die beiden Frauen sind mittlerweile in eine kleine Wohnung umgezogen und erschrecken Gubbio aufgrund ihres körperlichen und geistigen Verfalls. Gubbio kehrt konsterniert zur Kosmograph zurück, die sich derweil auf besondere Dreharbeiten vorbereitet. So hat die Filmgesellschaft schon vor einiger Zeit einen Tiger vom Zoo erworben, um ihn innerhalb einer Filmszene zu erschießen und ihn und dessen Tod als Einbettung des Realen in die Fiktion des Films zu verwerten. Doch der verzweifelte Nuti, der die Rolle erst kurz vorher von Ferro übernommen hatte, rächt sich und erschießt am Ende erst die Nestoroff mit der Kugel, die eigentlich für den

106 Vgl. ebd., 214.

220 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Tiger bestimmt war und wird dann selbst vom Raubtier zerrissen – eine Szene, die Gubbio kaltblütig mit seiner Kamera einfängt. Der Roman beginnt zunächst mit der einsetzenden Beobachtung des Protagonisten Serafino Gubbio: „Ich beobachte die Leute bei ihren alltäglichsten Geschäften“107. Der autodiegetische Erzähler Serafino stellt sich als ein Betrachter des Lebens der anderen dar, der in seiner Erzählung minutiös beobachtet und dabei auf eine scharfe Präzision seiner Wahrnehmungsfähigkeit rechnen kann. Gubbio vermutet ein Anderes (un oltre) hinter der Oberfläche der Dinge, dem mechanisch gewordenen Alltagsleben, dem in seiner Seinsvergessenheit und Oberflächlichkeit seine Kritik gilt. Das großstädtische und moderne Alltagsleben wird dabei, so Serafino Gubbio, mit der Zeit und zunehmender Beschleunigung immer komplizierter, verwickelter und verstellter: „Ja, auch ich kenne dieses äußerliche, oder besser mechanische Getriebe des Lebens, das uns in lärmender und schwindelerregender Weise zu einer ruhelosen Geschäftigkeit antreibt“108. Das demgegenüber sich entziehende Andere, Flüssige, außerhalb der stabilen Konzepte angesiedelte, das letztlich undarstellbar bleibt, die verborgenen, verdrängten Sehnsüchte und der unter allem schlummernde Wahnsinn, drohen ständig auszubrechen und alles mit sich in den Abgrund des Unvorhersehbaren und auch Undarstellbaren zu reißen. Dieses oltre bleibt aber im Alltagsleben für die meiste Zeit verdeckt. Serafino ist, wie er beteuert, als Kameramann des Filmunternehmens Kosmograph selber Angestellter der ubiquitären Zerstreuungsindustrie, die er in seinen Aufzeichnungen beständig angreift. Dabei problematisiert er ein ums andere Mal seine eigene Position: „ich tue nichts anderes, als der Maschine meine Augen leihen“109. Gubbio begreift seine Tätigkeit lediglich als ein mechanisches, entfremdetes Handeln, in welchem er zum Sklaven der Maschine wird. Es geht in den Aufzeichnungen des Kameramanns daher vor allem um die apparativen Aufnahmetechniken des Films, die ihm ”

107 Pirandello 1997, 5. „Studio la gente nelle sue più ordinarie occupazioni (Pirandello 2013, 43).

108 Pirandello 1997, 6. „Conosco anch’io il congegno esterno, vorrei dir meccanico della vita che fragorosamente e vertignosamente ci affacenda senza requie“ (Pirandello 2013, 44). 109 Pirandello 1997, 8. „io non faccio altro che prestare i miei occhi alla macchinetta“ (Pirandello 2013, 45).

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 221

zugehörige Unterhaltungsindustrie und bezeichnenderweise nicht um dessen performative Aufführung oder dessen ästhetische Verfahren, die im Roman keine weitere Rolle spielen. Serafino Gubbio operiert und reguliert dabei hauptsächlich über numerische Anweisungen, die Kadrierung der Kamera, den Bildausschnitt abmessend und gleichzeitig die Kurbel der Kamera drehend. Dies zieht eine Fragmentierung und Ausschnitthaftigkeit seines Sehens in den Momenten nach sich, in denen er hinter der Kamera steht. Dabei fürchtet er, selbst diese Arbeit könne irgendwann von einer automatisch arbeitenden Maschine ersetzt werden und den Menschen überflüssig machen. Die Phobie, Maschinen können den Menschen ersetzen und sich über kybernetische Kreisläufe selber steuern, wird zur immanenten Bedrohung, die in der Kritik der technischen Wahrnehmung und Determinierung über allem zu schweben scheint. Die Umkehrung des Verhältnisses von Handelndem und Gehandeltem steht auf dem Spiel, der Mensch droht, auf die bloße Hand oder das bloße Auge reduziert, schlechthin vereinzeltes und von allem anderen abgeschnittenes Instrument der Maschine zu werden und sich letztendlich sogar in seiner körperlichen Ganzheit aufzulösen. Das im Roman immer wieder behandelte Schwanken betrifft auf der einen Seite das diskontinuierliche, ausschnitthafte Sehen mit dem zwar ‚objektiven‘, aber eben maschinellen, erinnerungslose Auge der Kamera und, auf der anderen Seite, das ‚natürliche‘ und kontinuierliche Sehen, das auf ein Mehr als das bloße Sehen verweist, nämlich Tiefe, Unschuldigkeit und die menschliche Seele. Dabei ist zunächst fraglich, ob sich diese Differenz innerhalb der Wahrnehmung des Charakters Serafinos und darüber hinaus überhaupt auffinden lässt. Der Protagonist gibt vor, einem solchen mechanischen Sehen bereits so sehr ausgeliefert zu sein, dass er den Unterschied kaum mehr bemerken kann: „Schon beginnen meine Augen […] aufgrund der langen Gewohnheit alles in Form dieser raschen, zitternden und tickenden mechanischen Wiedergabe zu sehen“110. Für eine solche Erkenntnis muss Gubbio allerdings diese Mechanisierung überhaupt reflektieren, was ihn wiederum, nach eigenen Aussagen, von den anderen Menschen, vor allem den anderen Angestellten der Filmfirma, unterscheidet. Hierbei sind, ähnlich der Kritik Bergsons am Kino, die Verfestigung und Diskontinuität

110 Pirandello 1997, 11. „Già i miei occhi […] per la lunga abitudine, cominciano a vedere [...] tutto sotto la specie di questa rapida tremula ticchettante riproduzione meccanica“ (Pirandello 2013, 48f).

222 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

der Dinge durch ein solches Sehen problematisch. An der Oberfläche tauchen die Gegenstände, in Bildern als starre Formen kondensiert, auf und ab, bleiben einen Moment, aus der tatsächlichen Bewegung herausgeschnitten, sichtbar und verschwinden wieder. Am Ende verbleibt „ein stummes Bild“111. Ein ähnliches Problem, wenngleich er sich eher mit der Rezeption des Films beschäftigt, artikuliert Viktor Šklovskij in einem seiner früheren Schriften über den Film, „Die grundlegenden Gesetze der FilmEinstellung“: Dem Film fehlt nach Šklovskij das Prinzip einer primären Verschiebung des Alltagsmaterials, da er zunächst nichts weiter als eine Fotografie, d.h. bloße Kopie der Wirklichkeit ist. Während das Wort bereits das Einnehmen einer bestimmten Perspektive oder Wahrnehmung auf die Welt (und damit immer schon Differenzempfindung und Kontrast) bedeutet, gebe es im Medium des Films auf der unmittelbaren Materialstufe „kein künstlerisches Ereignis“112. Der Film sei quasi monologisch und funktioniere über Mechanismen des Wiedererkennens von Konventionen, wenngleich die Aufnahme durch den Kameramann, wie Šklovskij einräumt, ein bewusst gewählter Akt ist. Dies steht, ganz nach der Kritik Bergsons am Kinematographen (siehe Kapitel 2.3.2) von dessen Rekonstruktion von der Photographie her, auch im Roman Pirandellos dem gleich bleibenden menschlichen Pulsieren, dem Blut, das durch den Körper strömt, gegenüber. Die von der Maschine produzierte Bewegung, eben auch das Kamera-Bild, ist hingegen zusammengesetzt, Moment für Moment räumlich nebeneinander gestellt und verzerrt die lebendige, kontinuierlich verlaufende Wirklichkeit. Ein Leben, das so in Bildern fixiert und statisch formiert – d.h. eine abstrakte Repräsentation von etwas – ist, kann kein Leben im eigentlichen Sinne mehr sein: „Das Leben, das die Maschinen verschlungen haben, das ist jetzt hier, in diesen Bandwürmern, will sagen, in den Filmstreifen, die schon auf Rahmen gespannt sind. Dieses Leben, das keines mehr ist, bedarf jetzt der Fixierung, damit eine andere Maschine ihm die Bewegung zurückgeben kann, die in vielen Momentaufnahmen aufgehoben ist“113. Ähnlich wie bei Šklovskij

111 Pirandello 1997, 85. „soltanto un’immagine muta“ (Pirandello 2013, 117). 112 Šklovskij 2005a, 208. 113 Pirandello 1997, 67f. „La vita ingojata dalle macchine è lì, in quei vermi solitarii, dico nelle pellicole già avvolte ne telaj. Bisogna fissare questa vita,

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 223

und Bergson ist bei Pirandello die anfängliche Kritik am Massenmedium Film und Kino konturiert – als einer dem Leben und der Kunst gegenüberstehende Apparatur zur Verräumlichung eigentlich kontinuierlich gedachter Phänomene. Diese steht zudem gegen Pirandellos Kunstverständnis, gegen das Wort und das unmittelbar wirkende Theater mit lebendigen Schauspielern, in dem ein direkter Kontakt mit dem Publikum ermöglicht wird114. Ein Ausweg – und somit eine Kontrastierung dieser Art der Wahrnehmung mit einer ihr entgegengesetzten – wäre nach der Ästhetik und Poetik Pirandellos über den Humor möglich, der nach Pirandellos Auffassung immer ein sentimento del contrario, ein Kontrastverhältnis zwischen Bildern, beinhaltet: „ogni gruppo d’immagini desta e richiama le contrarie“115. Pi-

che non è più vita, perché un’ altra macchina possa ridarle il movimento qui in tanti attimi sospeso“ (Pirandello 2013, 101). 114 Dies führt fast zwangsläufig, wie in der Forschung immer wieder aufgegriffen (vgl. Klinkert 1997, 180ff) zu Benjamins Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1936) und dem Verlust der Aura. So stellt Gubbio seine Gedanken über das technisch reproduzierte Bild vor, welches den Augenblick der Aufnahme, und das damit verbundene Gleich-Sein mit dem Bild immer weiter in die Ferne rückt: „Die Zeit dort drinnen, in diesem Bild, die schreitet nicht mehr fort, sie entfernt sich nicht mehr von Stunde zu Stunde mit uns in die Zukunft hinein; scheinbar steht sie hier still, aber in Wahrheit entfernt auch sie sich, nur in die entgegengesetzte Richtung: sie versinkt immer mehr in die Vergangenheit, diese Zeit. Und infolgedessen ist das Bild dort ein totes Ding, das sich mit der Zeit immer mehr in die Vergangenheit hinein entfernt: und je jünger es ist, desto älter und ferner wird es“ (Pirandello 1997, 257). „il tempo, da lì, da quel ritratto, non procede più innanzi, non s’allontana sempre più d’ora con noi verso l’avvenire; pare che resti lì fissato, ma s’allontana anch’esso, in senso inverso; si sprofonda sempre più nel passato, il tempo. Per conseguenza l’mmagine, lì, è una cosa morta che col tempo s’allontana man mano anch’essa sempre più nel passato: e più giovane e più diviene vecchia e lontana“ (Pirandello 2013, 266). Das Bild ist somit ohne Aura, zeitlos und tot. Benjamin kannte die erste Version des Romans von Pirandello tatsächlich und nutzte ihn in einer französischen Übersetzung als Material für seine Studie. 115 Pirandello 1908, 156. „Jede Reihe von Bildern erweckt und evoziert ihr Gegenteil“ [Meine Übersetzung].

224 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

randello gibt in seinem Essay über den „L’umorismo“ (1908) ein Beispiel, das den Humor nach seinem Verständnis näher beschreibt: Er nennt das vom Menschen erfundene Teleskop ein „terribile strumento“116, welches der Menschheit vorgaukelt, er könne sich über das Universum erheben, dieses in eine feste, zu beherrschende Form überführen und sich auf dessen Kosten vergrößern. Es ist nun dem sentimento del contrario überlassen, diese Überheblichkeit zu relativieren, indem es dem Menschen seine Kleinheit im Universum verdeutlicht und somit auch die feste Dichotomie von Mensch und Umwelt auflöst. Dies hätte beispielsweise Kopernikus mit der Einführung des heliozentrischen Weltbildes getan. Als das gegenteilige Prinzip zur technischen Wahrnehmung innerhalb des Romans kann sicherlich ein mit der menschlichen Erinnerung vermischtes und auf Formen der Erzählung und der Erfahrung beruhendes Sehen bezeichnet werden, welches das Kamera-Sehen, das erinnerungslos nur die reine Gegenwart aufzeichnet, kontrastiert. Die klaren, sich gegenseitig ausschließenden Gegensätze scheinen aber innerhalb des Romans nicht recht greifen zu wollen. Das moderne Leben in seiner erinnerungslosen Beschleunigung, der Vorliebe für Spektakel, die Schaulust und Hektik der Alltagsbewegung werden immer wieder – und dazu sehr klischeebeladen – mit dem ländlichen, unkapriziösen Idyll, der Möglichkeit einer letztendlich illusorisch bleibenden Erfahrung und der Ruhe der Malerei (die Gemälde des toten Mirellis etwa) kontrastiert. Wenngleich das Eine nicht konsequent gegen das Andere ausgespielt werden kann, sind damit diese zwei Arten zu sehen, wie auch im Roman von H.G. Wells, immer mit unterschiedlichen Vorstellungen von Zeit, Erinnerung und der Geschichte117 verbunden, zwischen denen der Protagonist hin- und herschwankt. Ein solches Prinzip des Schwankens zwischen den beiden Sehformen zeigt sich im Roman bei der Autofahrt einiger Schauspielerinnen des Kinounternehmens, die an Serafino, der in einer Kutsche sitzt, vorbeirasen. Während diese aufgrund der Beschleunigung nur die von der Geschwindigkeit verzehrte und verzerrte Landschaft erblicken, vertieft sich Serafino, als der Wagen bereits vorüber gefahren ist, in die majestätische Natur:

116 Ebd., 182. „ein fürchterliches Instrument“ [Meine Übersetzung]. 117 Zur doppelten Struktur der Zeit im Roman Pirandellos: Vgl. Angelini 1990, 39ff.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 225

„[A]ber was habt ihr schon gesehen? Eine Kutsche rückwärts fahren, als würde sie an einem Faden zurückgezogen; und die ganze Straße sich wie ein Pfeil in einem langen, undeutlichen, gewalttätigen und schwindelerregenden Strich vorwärtsfressen, in die Landschaft hinein. Ich hier dagegen kann mich über meine langsame Fahrt hinwegtrösten, indem ich in aller Ruhe die großen grünen Platanen am Straßenrand betrachte, eine nach der anderen, nicht vorübergerissen wie von eurer Hast, sondern fest in der Erde wurzelnd, wie sie auf einen Luftzug hin violettgetönte, küh118

le Schatten in das Gold der Sonne zwischen den dichten Ästen werfen.“

Die Metaphern des Fadens, des Pfeils und des Sich-Vorwärtsfressen des Automobils verdeutlichen die Neuheit und Überforderung der Geschwindigkeits- und Beschleunigungserfahrung für die Trägheit des menschlichen Auges, noch distinkte Gegenstände unterscheiden zu können. Diese überhöhte Verklärung der Geschwindigkeit, in welcher das Automobil den Kutschenwagen ‚anzusaugen‘ scheint, ruft die zeitgleich artikulierten Geschwindigkeitsfantasien der Futuristen auf, setzt sich aber ebenso in ihrer antimodernistischen Bewertung davon ab119. Das Kino, so der Protagonist Serafino, unterliegt selbst automatisierten Bedingungen: Es ist als bloßer Mechanismus, Täuschung und schlechte Reproduktion als das Gegenteil von echter Kunst zu verstehen, die sowohl beim Künstler als auch beim Betrachter die Fähigkeit zur Kontemplation und Imagination voraussetzt. Serafino, der sich für eine von seinen Mitmenschen abweichende Wahrnehmungsweise rühmt, gilt aufgrund seiner Teilnahmslosigkeit als der perfekte Kameramann: „aufmerksam, gewissenhaft und dabei von vollkommener Teilnahmslosigkeit“120. Er findet sich im

118 Pirandello 1997, 62. „ma che avete veduto voi? una carrozzela dare indietro, come tirata da un filo, e tutto il viale assaettarsi avanti in uno striscio lungo confuso violento vertiginoso. Io, invece, ecco qua, posso consolarmi della lentezza ammirando a uno a uno, riposatamente, questi grandi platani verdi del viale, non strappati dalla vostra furia, ma ben piantati qua, che volgono a un



soffio d’aria nell’oro del sole tra i bigi rami un fresco d’ombra violacea (Pirandello 2013, 96). 119 Vgl. Schrader 2007, 138.

120 Pirandello 1997, 40. „vigile, preciso e d’una perfetta impassibilità“ (Pirandello 2013, 76). Der Begriff der impassibilità ist im Übrigen auch Schlüsselbegriff der Strömung des verismo (vgl. Klinkert 1997, 193).

226 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Moment der Aufnahme auf die Bewegung seiner Hand und die automatisierte Koordination dieser mit seinen Augen reduziert. Den Rest seines Körpers fühlt er desintegriert und allen weiteren Zusammenhängen, dem Gedächtnis, der Imagination und seinen Gefühlen enthoben. Auch im Leben Gubbios außerhalb der Kosmograph schlägt sich dies nieder. Er wird immer mehr von der Logik der Kamera durchdrungen und gerät, nach eigener Aussage, zuweilen selbst zum bloßen, nicht-intentionalen Aufnahmegerät: „In mir bestärkt sich immer mehr die Absicht, ein teilnahmsloser Beobachter sein zu wollen, und dabei kann ich diesen Geist und dieses Herz nur sehr schlecht gebrauchen […] inzwischen merke ich, daß ich mich unwillkürlich von dieser Wirklichkeit packen lasse, die, so wie sie ist, außerhalb von mir bleiben sollte: eine Materie, der ich Form gebe, aber nicht um meinetwillen, sondern um ihrer selbst willen; nur um sie zu betrachten“

121

.

Seine Aufzeichnungen hingegen funktionieren gegenteilig. Serafino unterstellt den anderen Personen psychologische Motivierungen für ihre Handlungen, spekuliert über deren Absichten, kommentiert und versucht, die einzelnen Segmente in eine bestimmte chronologische Ordnung zu bringen. Später, im Leiden um die vergebliche Liebe zu der aus der zerrütteten Familie Cavalena stammende Luisetta, beteuert Serafino Gubbio, sich selbst wieder zu fühlen. Er dreht die Kurbel der Kamera nun mit Gefühl, als Luisetta, die in einer Filmszene mitspielt, vor der Kamera steht. Aber auch dies hält nicht lange an: Mit der Verzweiflung an dem fehlenden Interesse von Seiten Luisettas folgt der Umschlag in die bewährte impassibilità, das dinghafte Schweigen, das als Selbstschutz vor dem Tumult der emotionalen Betroffenheit wirkt. In der letzten Szene des Romans filmt Gubbio die geplante Tötung eines Tigers durch Nuti, die die Hauptszene für einen Film

121 Pirandello 1997, 134. „Data l’intenzione, in cui mi vado sempre più raffermando, di rimanere uno spettatore impassibile, questa mente, questo cuore mi servono male [...] vedo intanto che, senza volerlo, mi lascio prendere da questa realtà, la quale, così com’è, mi dovrebbe restar fuori: materia, a cui do forma, non per me, ma per se stessa; da contemplare“ (Pirandello 2013, 159).

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 227

der Kosmograph darstellt. Diese geht aber schief, während er regungslos die Szene mit seiner Kamera aufzeichnet: „Und ich begann, meine Kurbel zu drehen, mit den Augen auf die Baumstämme im Hintergrund gerichtet, aus denen schon der Kopf des Raubtiers hervorsah, geduckt, als wolle es einen Hinterhalt ausspähen. Dann sah ich diesen Kopf sich leise zurückbewegen, die beiden Vorderpranken fest nebeneinander stehen bleiben, die Hinterpranken sich langsam und leise einziehen und den Rücken sich krümmen, um den Sprung vorzubereiten. Meine Hand gehorchte teilnahmslos dem Tempo, das ich der Bewegung gab, schneller, langsamer, ganz langsam, als ob mein Wille sich – fest, stahlhart, unbeugsam – in mein Handgelenk geflüchtet hätte und dort ganz allein herrsche, so daß mir das Gehirn frei blieb zum Denken, das Herz zum Fühlen; so gehorchte mir die Hand weiter, auch als ich mit Entsetzen sah, wie Nuti nicht mehr auf das Raubtier anhielt, sondern den Lauf des Gewehres langsam dorthin richtete, wo er kurz zuvor zwischen dem Laubwerk einen Sichtkanal freigemacht hatte, und schoß, während die Tigerin sich gleich darauf auf ihn stürzte und vor meinen Augen mit ihm zu einem blutigen Knäuel verschmolz […] und ich hörte, ich hörte, ich hörte immer weiter über diesem Grollen und diesem Keuchen das ununterbrochene Ticken der Maschine, an der meine Hand ganz allein, von selbst weiter die Kurbel drehte.“

122

122 Pirandello 1997, 266f. „E io mi misi a girare la manovella, con gli occhi ai tronchi in fondo, da cui già spuntava la testa della belva, bassa, come protesa a spiare in agguato; vidi quella testa piano ritrarsi indietro, le due zampe davanti restar ferme, unite, e quelle di dietro a poco a poco silenziosamente raccogliersi e la schiena tendersi as arco per spiccare il salto. La mia mano obbediva impassibile alla misura che io imponevo al movimento, più presto, più piano, pianissimo, come se la volontà mi fosse scesa – ferma, lucida, inflessibile – nel polso, e da qui governasse lei sola, lasciandomi libero il cervello di pensare, il cuore di sentire; così che seguitò la mano a obbedire anche quando con terrore io vidi il Nuti distrarre dalla belva la mira e volgere lentamente la punta di fucile là dove poc’anzi aveva aperto tra le frondi lo spiraglio, e sparare, e la tigre subito dopo lanciarsci su lui e con lui mescolarsi, sotto gli occhi miei, in un orribile groviglio [...] udivo, udivo, seguitavo a udire su quel ruglio, su quell’ affanno là, il tichettìo continuo della macchinetta, di (Pirandello 2013, 274f).



cui la mia mano, sola, da sé, ancora, seguitava a girare la manovella

228 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Gubbio filmt die Szene, selber im Käfig des Tigers stehend und frei von Angst oder Instinkt, daher vollständig schweigsamer Bediener der Maschine geworden und kann am Ende seiner Aufzeichnungen mit einer gewissen Ironie konstatieren: „Als Kameramann bin ich jetzt in der Tat vollkommen […] Besser als auf diese Weise könnte ich mich nicht zum Diener einer Maschine machen“123. Serafino Gubbio ist zum perfekten Bestandteil in der Logik der industriellen Produktion der Unterhaltungsmaschinerie mutiert. Die Maschine und ihr Automatismus ist eins mit ihm geworden, er hat sie in einem dreifachen Sinn mit Leben gefüttert: dem durch den Apparat in der Aufzeichnung verschlungenen Leben, dem Leben der getöteten Nuti, Nestoroff und des Tigers, und letztlich auch seines eigenen. Die Maschine verschlingt, vergleichbar der Automatisierung bei Šklovskij, letztendlich das Leben und die Integrität des Körpers, der Gefühle und der Wahrnehmung. Serafino verbleibt in einem entkräfteten, erschöpften Zustand: einem stummen, dinghaften Schweigen und einer existentiellen Apathie – und die Aufzeichnungen brechen ab. Entgegen der These Schraders möchte ich nicht behaupten, dass ein Wandel in den Wahrnehmungsstrukturen vom Anfang zum Ende des Romans, vom aktiven Beobachten (‚ich beobachte‘) zum passiven Registrieren hin einsetzt124. Vielmehr geht es um ähnliche Wahrnehmungsweisen in zwei unterschiedlichen Kontexten: einmal als Beobachter und Verfasser der Aufzeichnungen, das andere Mal im Beruf des Kameramanns als stumme und teilnahmslose Aufnahmemaschine – zwischen beiden Polen schwankt die manipulierbare Aufmerksamkeit Serafinos ständig, eine Wahrnehmungsstruktur, die sich zudem durchgehend im Roman wieder finden lässt. Auswege oder klare Gegenpositionen dazu (wie die Malerei oder die ländliche Idylle) sind nicht überzeugend motiviert, so dass aus klaren Gegensatzpaaren vielmehr ein Denken in sich immer wieder neu ausbildenden Optionen verbleibt, was sich eben auch aus den literarischen Schreibtechniken der Präsentation immer neuer Schichtungen der Wirklichkeit speist. Diese entwerten die unumstößliche Gültigkeit von Gegensatzpaaren und das Übereinstimmen der Erzählerposition mithilfe von Textverfahren, die

123 Pirandello 1997, 263. „Come operatore, io sono ora, veramente, perfetto […] Non potrei meglio di così impostarmi servitore d’una macchina“ (Pirandello 2013, 271). 124 Vgl. Schrader 2007, 144.

DIE Ä STHETIK DES A NDERS-S EHENS IN

LITERARISCHEN

T EXTEN | 229

eindeutige Zuordnungen unterwandern, beispielsweise die Potenz der ‚aufrichtigen‘ Malerei als ein Gegen-Kino, des Idylls als fester Gegenort des Kinematographen.

6. Zusammenfassung

Die Ästhetik des Schwankens als wahrnehmungsästhetische Grundlage der Verfremdungstheorie aktualisiert sich in literarischen Texten und der Malerei in einem dynamischen Kontrastverhältnis, wobei bei einer Einnahme ungewöhnlicher Standpunkte das Schwanken zwischen mehreren Wahrnehmungsordnungen alternative Bedeutungsproduktionen ermöglicht und zu einem veränderten intellektuellen Verhalten gegenüber der Welt aufruft. Alltägliche und automatisierte Wahrnehmungsweisen sowie künstlerische Darstellungskonventionen werden über die Störung automatisierter und weithin ökonomisch verfahrender Denk- und Wahrnehmungsweisen selbstreflexiv. So kommt es insbesondere im Kontext der Moderne und des untersuchten Zeitraums – in einem bestimmten historischen und gesellschaftlichen Kontext also – zu vielfältigen Experimenten mit Wahrnehmung und erst hier zu künstlerischen Verfahren, die das Anders-Sehen als einen die Alltagswahrnehmung entautomatisierenden und einen nicht-ökonomischen Kunstgriff des Fremdmachens in die ästhetische Debatte einbringen. Hierbei ist es die bewusste Übertragung eines Gegenstandes von einer in die andere Denk- und Wahrnehmungsordnung, die das Verfahren der Verfremdung ausmacht. Wahrnehmungstheoretische und -ästhetische Grundlagen , der Zeit, vor allem das Helmholtz sche Konzept des Schwankens, haben sich hierbei als äußerst fruchtbarer wissenschaftsgeschichtlicher Hintergrund des Anders-Sehens herausgestellt, die sich zu Fragen nach dem Aufbrechen von Bedeutungs- und Denkgewohnheiten ausweiten. So ist es möglich, ein solches abweichendes Sehen ebenso in Kunstwerken und literarischen Texten (vor allem über das differenzherstellende Phänomen der Multiperspektivität, des Schwankens und der Wahrnehmungsmuster der Aktanten literarischer Texte) herauszuarbeiten. Dabei

232 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

kommt es zu einer Erweiterung üblicher Sehweisen und Perspektivierungen, gerade wenn diese kontrastiv gegeneinander gesetzt und das Verhältnis erzählerisch oder malerisch explizit ausgeführt wird. Der Sprachwissenschaftler Wilhelm Köller bemerkt etwa, „dass die Kunst nicht die Funktion hat, Realität zu reproduzieren, sondern uns vielmehr dabei helfen soll, Realität auf vielfältige Weise wahrzunehmen“1. Es kann somit ein Anliegen der Künste sein, gegenüber dem pragmatischen Alltagsleben vielfältige mögliche Sichtweisen zu präsentieren: „In der Malerei wie im künstlerischen Sprachgebrauch geht es historisch gesehen letztlich nicht darum, etablierte Sichtweisen und Objektivierungsstrategien zu perfektionieren, sondern vielmehr darum, verfestigte Konventionen zu überwinden und neue Wahrnehmungsweisen von Welt zu entwickeln“2. So besteht durch und in der Literatur und Malerei die Möglichkeit, konventionelle Wahrnehmungs- und Darstellungsmechanismen außer Kraft zu setzen und Denkgewohnheiten aufzubrechen. Jene Sichtweisen sind hier als bereits künstlerisch formulierte Wahrnehmungsweisen zu verstehen, die innerhalb eines Bild- bzw. Textmediums ausgebildet werden und aufgrund ihrer ihnen eigenen Rahmung und Medialität zwangsläufig eine anderweitige Selektierung und Gewichtung von Gesehenem und auch deren Reflexion vornehmen als in der lebensweltlichen Wahrnehmung üblich. Das heißt allerdings auch nicht, dass das Sehen in der lebensweltlichen Praxis immer auch ein bloß konventionelles Sehen sein muss, und umgekehrt, dass das künstlerisch dargestellte Sehen immer ein verfremdendes darstellt. So betrachtet man mitunter auch im Alltag die Welt für Momente ‚mit anderen Augen‘, unter einer veränderten Fokussetzung und Semantik, während in den Künsten allzu oft Gemeinplätze, abgegriffene Metaphern und Bildformeln herhalten und bewährte Weltbilder bestätigen sowie Darstellungstraditionen lediglich weitergeschrieben werden. Eine Einstellung zum AndersSehen ist nicht an einen Ort gebunden und kann sich überall dort artikulieren, wo gewohnte Bedeutungen ins Schwanken geraten.

1

Köller 2004, 26.

2

Ebd. Als eine solche konventionelle Wahrnehmungsweise in der Kunst nennt Köller etwa die Zentralperspektive, mit deren Abweichungen in der Kunst gespielt werden könne.

7. Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main 2012. Angelini, Franca: Serafino e la tigre. Pirandello tra scrittura, teatro e cinema. Venezia 1990. Arnheim, Rudolf: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. Köln 1996. Avenarius, Richard: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Princip des kleinsten Kraftmaßes: Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung. Leipzig 1876. Bahr, Hermann: Die neue Psychologie I. In: Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik, Heft 2, Nr.2 (1890a), S. 507-509. Bahr, Hermann: Die neue Psychologie II. In: Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik, Heft 2, Nr.3 (1890b), S. 573-576. Bailes, Kendall E.: Alexei Gastev and the Soviet Controversy over Taylorism, 1918-1924. In: Soviet Studies, Vol. XXIX, Nr. 3 (1977), S. 373-394. https://doi.org/10.1080/09668137708411134 Barnes, John C.: Per un’interpretazione degli atteggiamenti di Prandello nei riguardi dei cinema. In: Lauretta, Enzo [Hrsg.]: Pirandello e la sua opera. Palermo 1997, S. 193-200. Baudelaire, Charles: Le Peintre de la Vie Moderne. In: Pichois, Claude [Hrsg.]: Baudelaire. Oeuvres complètes. Bd. 2. Paris 1976, S. 683-724. Bauman, Zygmunt: Modernity and Ambivalence. Oxford 2007. Belyj, Andrej: Kotik Letajew. Frankfurt am Main 1993. Belyj, Andrej: Kotik Letaev. In: Ders.: Polnoe Sobranie Sochinenij v dvuch Tomach. 1. Band. Moskau 2011, S. 1071-1176. Belyj, Andrej: Glossolalie. Poem über den Laut. Dornach 2003.

234 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk. Erster Band. Frankfurt am Main 1983. Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire. In: Ders.: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt am Main 1992, S. 101-150. Benjamin, Walter: Berliner Kindheit um 1900. Frankfurt am Main 2012. Bergson, Henri: Matière et Memoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit. In: Ouevres. Paris 1991, S. 159-379. Bergson, Henri: La perception du changement. Oxford 1911. Bergson, Henri: L’évolution créatrice. Paris 1908. Berkeley, George: An Essay Towards a New Theory of Vision. London 2007. Berson, Ruth: The New Painting. Impressionism 1874-1886. Documentation. Bd. 1: Reviews. San Francisco 1996. Bleuler, Eugen: Dementia Praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Tübingen 1988. Boehm, Gottfried: Sehen. Hermeneutische Reflexionen. In: Konersmann, Ralf [Hrsg.]: Kritik des Sehens. Leipzig 1997, S. 272-298. Borderie, Régine: „Bizarre“, „Bizarrerie“. De Constant à Proust. Essai. Grenoble 2011. Braesel, Michaela/Fastert, Sabine/Gottdang, Andrea/Wimböck, Gabriele: Kunst – Geschichte – Wahrnehmung. In: Albrecht, Stephan/ Braesel, Michaela/Fastert, Sabine/Gottdang, Andrea/Wimböck, Gabriele [Hrsg.]: Kunst – Geschichte – Wahrnehmung. Strukturen und Mechanismen von Wahrnehmungsstrategien. München/Berlin 2008, S. 9-26. Brüggemann, Heinz: Walter Benjamin. Über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg 2007. Bruhn, Matthias: Spannungen, Entladungen. Evolutionen und Revolutionen kollektiven Sehens. In: Ders./Hemken, Kai Uwe [Hrsg.]: Modernisierung des Sehens. Sehweisen zwischen Künsten und Medien. Bielefeld 2008, S. 11-24. Bublitz, Hannelore/Marek, Roman/Steinmann, Christina Louise/Winkler, Hartmut: Einleitung. In: Dies. [Hrsg.]: Automatismen. München 2010, S. 9-16. Bücher, Karl: Arbeit und Rhythmus. Leipzig 1899. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main 1974. Cassagne, Armand: Traité pratique de perspective. Paris 1866.

L ITERATURVERZEICHNIS | 235

Cheselden, William: An Account of Some Observations Made by a Young Gentleman, Who Was Born Blind, or Lost His Sight so Early, That He Had no Remembrance of Ever Having Seen, and Was Couch’d between 13 and 14 Years of Age. In: Royal Society of London, Philosophical Transactions, Nr. 35 (1727/1728), S. 447-450. Christiansen, Broder: Philosophie der Kunst. Hanau 1909. Crary, Jonathan: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Massachusetts 1991. Crary, Jonathan: Suspensions of Perception. Attention, Spectacle, and Modern Culture. Cambridge/London 1999. Crouigneau, Georges: Étude clinique et expérimentale sur la vision mentale. Paris 1884. Cugini, Carla: „Er sieht einen Fleck, er malt einen Fleck“. Physiologische Optik, Impressionismus und Kunstkritik. Basel 2006. Curtis, James M.: Bergson and Russian Formalism. In: Comparative Literature, Nr. 28 (1976), S. 109-121. https://doi.org/10.2307/1769653 DeMan, Paul: Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. London 1989. Dewey, John: Psychology. New York/Cincinnati/Chicago 1891. Dewey, John: The Psychology of Effort. In: Ders. : The Early Works, 18821898. Bd. 5: 1895-1898. London/Amsterdam 1975, S. 151-163. Diderot, Denis: Lettre sur les aveugles. A l’usage de ceux que voient. In : Assézat, Jules [Hrsg.] : Ouevres complètes de Diderot I. Nendeln 1966, S. 275-342. Didi-Huberman, Georges: L’image est le mouvant. In: Intermédialités, Nr.3 (2004), S. 11-30. https://doi.org/10.7202/1005466ar Ehrenfels, Christian von: Ueber „Gestaltqualitäten“. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Nr. 14 (1890), S. 249-292. Erlich, Victor: Russischer Formalismus. München 1964. Fink, Hilary: Bergson and Russian Modernism. 1900-1930. Evanston 1999. Foucault, Michel: Naissance de la clinique. Paris 1963. Frank, Gustav: Literaturtheorie und Visuelle Kultur. In: Sachs-Hombach, Klaus [Hrsg.]: Bildtheorien. Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt am Main 2009, S. 354-392. Fricke, Harald: Das Neue. (K)eine Denkfigur der Moderne. Zur Historizität des Abweichungsprinzips. In: Moog-Grünewald, Maria [Hrsg.]: Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne. Heidelberg 2002, S. 311-322.

236 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Gehring, Petra: Das Bild vom Sprachbild. Die Metapher und das Visuelle. In: Danneberg, Lutz/Spoerhase, Carlos/Werle, Dirk [Hrsg.]: Begriffe, Metaphern und Imaginationen in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte. Wiesbaden 2009, S. 81-100. Geimer, Peter: Getrübte Blicke. William Turner in augenärztlicher Behandlung. In: Mayer, Andreas/Métraux, Alexandre [Hrsg.]: Kunstmaschinen. Spielräume des Sehens zwischen Wissenschaft und Ästhetik. Frankfurt am Main 2005, S. 139-165. Genette, Gerard: Die Erzählung. München 1998. Gerigk, Horst-Jürgen: Wer ist Broder Christiansen? http://www.horstjuergen-gerigk.de/aufs%C3%A4tze/wer-ist-broder-christiansen/ (aufgerufen am 17.08.2014) Ginzburg, Carlo: Holzaugen. Über Nähe und Distanz. Berlin 1999. Gombrich, Ernst H.: Art and Illusion. A Study in the Psychology of Pictorial Representation. Princeton 2000. Goodman, Nelson: Languages of Art. An Approach to a Theory of Symbols. Indianapolis/Cambridge 1976. Grabes, Herbert: Einführung in die Literatur und Kunst der Moderne und Postmoderne. Die Ästhetik des Fremden. Tübingen/Basel 2004. Gramsci, Antonio: Americanismo e fordismo. In: Ders.: Quaderni del carcere. Bd. 3. Torino 1975, S. 2137-2181. Hansen-Löve, Aage: Der Russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978. Hart, Pierre: Psychological Primitivism in Kotik Letaev. In: Russian Literature Triquarterly 4 (1972), S. 319-330. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 2006. Helmers, Hermann: Verfremdung in der Literatur. Darmstadt 1984. Helmholtz, Hermann von: Handbuch der physiologischen Optik. Leipzig 1867. Helmholtz, Hermann von: Ueber das Sehen des Menschen. In: Ders: Vorträge und Reden. Bd. 1. Saarbrücken 2006, S. 85-117. Helmholtz, Hermann von: Die Tatsachen in der Wahrnehmung. In: Ders.: Schriften zur Erkenntnistheorie. Berlin 1921, S. 109-175. Helmholtz, Hermann von: Optisches über Malerei. In: Ders.: Populäre Wissenschaftliche Vorträge. Drittes Heft. Braunschweig 1876, S. 55-98.

L ITERATURVERZEICHNIS | 237

Hennig, Anke: Kalauer – Rätsel – Leitmotiv. Die Entfaltungspoetik Viktor Šklovskijs. In: Goller, Mirjam/Strätling, Susanne [Hrsg.]: Schriften – Dinge – Phantasmen. Literatur und Kultur der russischen Moderne I. München 2002, S. 261-281. Highmore, Ben: Everyday Life and Cultural Theory. An Introduction. London/New York 2002. Höhn, Gerhard: „Sauerkraut mit Ambrosia“. Heines Kontrastästhetik. In: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (2009), S. 1-27. Huysmans, Joris-Karl: L’Art moderne. Paris 1883. Imdahl, Max: Kunstgeschichtliche Bemerkungen zur ästhetischen Erfahrung. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Reflexion – Theorie – Methode. Frankfurt am Main 1996a, S. 282-302. Imdahl, Max: Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 3: Reflexion – Theorie – Methode. Frankfurt am Main 1996b, S. 303-380. James, William: The Principles of Psychology. Bd. 1 und 2. New York 1950. James, William: The Letters of William James. Boston 1926. Jay, Martin: Downcast Eyes. The Denigration of Vision in TwentiethCentury French Thought. Berkeley/Los Angeles/London 1993. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998. Klinkert, Thomas: Quaderni di Serafino Gubbio operatore. Riflessioni sull’opera d’arte nell’epoca della sua riproducibilità tecnica. In: Rössner, Michael [Hrsg.]: Pirandello zwischen Avantgarde und Postmoderne. Wilhelmsfeld 1997, S. 180-200. Köller, Wilhelm: Perspektivität und Sprache. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin/New York 2004. https://doi.org/10.1515/9783110919547 Kristeva, Julia: La révolution du langage poétique. Paris 1974. Lachmann, Renate: Die ‚Verfremdung’ und das ‚neue Sehen’ bei Viktor Šklovskij. In: Poetica, Nr. 3 (1970), S. 226-249. Lachmann, Renate: Der Potebnjasche Bildbegriff als Beitrag zu einer Theorie der ästhetischen Kommunikation. In: Dies. [Hrsg.]: Dialogizität. München 1982, S. 29-50. Laforgue, Jules: L’impressionisme. In: Ders.: Mélanges posthumes. Genf 1979, S. 133-145.

238 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Lamer, Annika: Die Ästhetik des unschuldigen Auges. Merkmale impressionistischer Wahrnehmung in den Kunstkritiken von Émile Zola, JorisKarl Huysmans und Félix Fénéon. Würzburg 2009. Latimer, Barney: Shklovsky the Postmodernist: Toward a Political Formalism. In: http://gradnet.de/papers/pomo99.papers/Latimer99.htm (Aufgerufen am 10.10.2013) Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. New York 2008. Lotman, Jurij: Die Struktur literarischer Texte. München 1993. Mach, Ernst: Beiträge zur Analyse der Empfindungen. Jena 1886. Mayr, Monika: Ut pictoria descriptio? Poetik und Praxis künstlerischer Beschreibung bei Flaubert, Proust, Belyj, Simon. Tübingen 2001. Mergenthaler, Volker: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen 2002. Mersch, Dieter: Was heisst ‚Denken im Visuellen’? In: Goppelsröder, Fabian/Beck, Martin [Hrsg.]: Sichtbarkeiten 2. Präsentifizieren. Zeigen zwischen Körper, Bild und Sprache. Zürich/Berlin 2014, S. 17-69. Müller, Johannes Peter: Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung. Koblenz 1826. Müller-Tamm, Jutta: Die „Empirie des Subjektiven“ bei Jan Evangelista Purkinje. Zum Verhältnis von Sinnesphysiologie und Ästhetik im frühen 19. Jahrhundert. In: Dürbeck, Gabriele et al. [Hrsg.]: Wahrnehmung der Natur. Natur der Wahrnehmung. Studien und Geschichte visueller Kultur um 1800. Dresden 2001, S. 153-164. Müller-Tamm, Jutta: Augengespenster, Lügengeschichten und Gesichtswahrheiten. Zur Theorie des Sehens zwischen 1780 und 1830. In: Busch, Werner [Hrsg.]: Verfeinertes Sehen. Optik und Farbe im 18. und frühen 19. Jahrhundert. München 2008, S. 151-164. Münsterberg, Hugo: Psychologie und Wirtschaftsleben. Ein Beitrag zur angewandten Experimental-Psychologie. Leipzig 1913. Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 1 und 2. Reinbek bei Hamburg 2004. Panofsky, Erwin: Die Perspektive als symbolische Form. In: Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft. Hrsg. von Hariolf Oberer und Egon Verheyen. Berlin 1980, S. 99-167.

L ITERATURVERZEICHNIS | 239

Pavlov, Ivan: Die „echte Physiologie“ des Gehirns. In: Ders.: Die bedingten Reflexe. München 1972, S. 52-59. Piecha, Alexander: Wahrnehmung, Emotion und Denken. In: Conceptus XXXIV (2001), Nr. 84. S. 1-6. Pirandello, Luigi: Quaderni di Serafino Gubbio Operatore. Milano 2013. Pirandello, Luigi: Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio. Berlin 1997. Pirandello, Luigi: L’umorismo. Lanciano 1908. Pocknee, David: What is „New“ about „New Fordism“. aces.ricercata.org/nfo/what_is_new_about_new_fordism.pdf. 2013 (aufgerufen am 28.07.2014) Purkinje, Johann: Beiträge zur Kenntniss des Sehens in subjectiver Hinsicht. Prag 1819. Randall, Bryony: Modernism, Daily Time and Everyday Life. New York 2007. Romand, David: Le Formalisme Russe. Une séduction cognitiviste In : Cahiers du monde russe (2010), Vol. 51, Nr. 4, S. 521-546. https://doi.org/10.4000/monderusse.7338 Rossbacher, Peter: Šklovskijs Concept of Ostranenie and Aristotle’s Admiratio. In: MLN, Vol. 92, Nr. 5, Comparative Literature (1977), S. 1038-1043. Ruskin, John: The Elements of Drawing. New York 1971. Sagner, Karin: Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus. München 2009. Sagner, Karin: Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie. In: Dies./Hollein, Max [Hrsg.]: Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie. München 2012, S. 16-33. Sass, Louis A.: Madness and Modernism. Insanity in the Light of Modern Art, Literature and Thought. New York 1992. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1993. Schmitz, Hermann: Entseelung der Gefühle. In: Andermann, Kerstin/Eberlein, Undine [Hrsg.]: Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Berlin 2011, S. 21-33. Schrader, Sabine: „Si gira!“. Literatur und Film in der Stummfilmzeit Italiens. Heidelberg 2007.

240 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Schürmann, Eva: Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Frankfurt am Main 2008. Seeber, Hans Ulrich: Zeit, Raum und der totalisierende Blick in der englischen Literatur um 1900. In: Ders./Griem, Julika [Hrsg.]: Raum- und Zeitreisen. Studien zur Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Tübingen 2003, S. 73-86. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt am Main 2006. Simonis, Annette: Avantgardistische Kindheiten. Moderne Poetik und Anthropologie in den Kindheitsdarstellungen von Andrej Belyj, Ossip Mandelstam und Walter Benjamin. In: Kircher, Hartmut/Klanska, Maria/Kleinschmidt, Erich [Hrsg.]: Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900. Köln/Weimar/Wien 2002, S. 229-248. Sommer, Manfred: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Erfahrung. Frankfurt am Main 1996. Spencer, Herbert: Philosophy of Style. Boston 1892. Steiner, Rudolf: II. Vortrag (22.Aug. 1919) Beginn der Betrachtung des Menschen vom seelischen Gesichtspunkte aus. Die Vorstellung, ein Bild des Vorgeburtlichen; der Wille, der Keim des nachtodlichen Lebens. In: Ders.: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Freiburg 1947, S. 38-55. Stewart, Dugald: Elements of the Philosophy of the Human Mind. Albany 1822. Striedter, Jurij: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution. In: Ders. [Hrsg.]: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1988. S. IX-LXXXIII. Syrimis, Michael: The Great Black Spider on Its Knock-Kneed Tripod: Reflections of Cinema in Early Twentieth-Century Italy. Toronto 2012. Šklovskij, Viktor: Kunst als Verfahren. In: Mierau, Fritz [Hrsg.]: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig 1987[a], S. 11-32. Šklovskij, Viktor: Literatur ohne Sujet. In: Mierau, Fritz [Hrsg.]: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig 1987[b], S. 33-58.

L ITERATURVERZEICHNIS | 241

Šklovskij, Viktor: Ornamentale Prosa. Andrej Bely. In: Mierau, Fritz [Hrsg.]: Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule. Leipzig 1987[c], S. 88-111. Šklovskij, Viktor: Literatur und Kinematograph. In: Flaker, Aleksander/Zmegac, Viktor [Hrsg.]: Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Kronberg 1974[a], S. 22-41. Šklovskij, Viktor: Denkmal zur Erinnerung an einen wissenschaftlichen Irrtum. In: Flaker, Aleksander/Zmegac, Viktor [Hrsg.]: Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Kronberg 1974[b], S. 74-80. Šklovskij, Viktor: Die Beziehungen zwischen den Kunstgriffen des Handlungsaufbaus und den allgemeinen stilistischen Kunstgriffen. In: Ders.: Theorie der Prosa. Frankfurt am Main 1966, S. 27-61. Šklovskij, Viktor: Über Konventionen. In: Ders.: Von der Ungleichheit des Ähnlichen in der Kunst. München 1973, S. 41-64. Šklovskij, Viktor: Die grundlegenden Gesetze der Film-Einstellung. In: Beilenhoff, Wolfgang [Hrsg.]: Poetika Kino.Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus. Frankfurt am Main 2005[a], S. 208220. Šklovskij, Viktor: Die Semantik des Films. In: Beilenhoff, Wolfgang [Hrsg.]: Poetika Kino.Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus. Frankfurt am Main 2005[b], S. 231-234. Tynjanov, Jurij: Das Problem der Verssprache. München 1977. Utz, Peter: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit. München 1990. Varnedoe, Kirk: Gustave Caillebotte. New Haven/London 2000. Veron, Eugène: L’esthetique. Paris 1890. Vietta, Silvio: Ästhetik der Moderne. Literatur und Bild. München 2001. Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens. Berlin 1986. Vöhringer, Margarete: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion. Göttingen 2007. Voutta, Antje: Figurationen des Unwiederholbaren: Literarische Annäherungen an Geburt und frühe Kindheit. In: Lüdeke, Roger/Mülder-Bach, Inka [Hrsg.]: Wiederholen. Literarische Funktionen und Verfahren. Göttingen 2006, S. 173-194. Vygotskij, Lev S.: Psychologie der Kunst. Dresden 1976.

242 | S CHWANKENDE A NSICHTEN

Weber, Max: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. In: Ders.: Zur Psychophysik der industriellen Arbeit. Schriften und Reden 1908-1912. Abteilung I: Schriften und Reden. Bd. 11. Tübingen 1995, S. 150-380. Wells, Herbert George: The Sleeper Awakes. London 2005. Wells, Herbert George: Anticipations. Of the Reaction of Mechanical and Scientific Progress upon Human Life and Thought. London 1902. Wunberg, Gotthart: Jahrhundertwende. Studien zur Literatur der Moderne. Tübingen 2001. Wundt, Wilhelm: Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig 1874. Zielinski, Siegfried: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek bei Hamburg 2002.

Literaturwissenschaft Stephanie Bung, Jenny Schrödl (Hg.)

Phänomen Hörbuch Interdisziplinäre Perspektiven und medialer Wandel 2016, 228 S., kart., Abb. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3438-9 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3438-3

Uta Fenske, Gregor Schuhen (Hg.)

Geschichte(n) von Macht und Ohnmacht Narrative von Männlichkeit und Gewalt 2016, 318 S., kart. 34,99 E (DE), 978-3-8376-3266-8 E-Book PDF: 34,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3266-2

Stefan Hajduk

Poetologie der Stimmung Ein ästhetisches Phänomen der frühen Goethezeit 2016, 516 S., kart. 44,99 E (DE), 978-3-8376-3433-4 E-Book PDF: 44,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3433-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.)

Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 2015, 406 S., kart. 39,99 E (DE), 978-3-8376-3078-7 E-Book PDF: 39,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3078-1

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache — gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen 2015, 300 S., kart. 29,99 E (DE), 978-3-8376-3179-1 E-Book PDF: 26,99 E (DE), ISBN 978-3-8394-3179-5

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 7. Jahrgang, 2016, Heft 2: Transiträume 2016, 220 S., kart. 12,80 E (DE), 978-3-8376-3567-6 E-Book PDF: 12,80 E (DE), ISBN 978-3-8394-3567-0

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de